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Alfred Pritz (Hrsg.)
Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie Ein Literaturführer
SpringerWienNewYork
Univ. Prof. Dr. Alfred Pritz Sigmund Freud PrivatUniversität, Wien, Österreich
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Umschlagbild: GettyImages/Hand reaching up to books on shelf/Stockbyte Satz und Layout: Mag. Judith Martiska, Springer-Verlag Wien Druck und Bindearbeiten: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-25214-7 SpringerWienNewYork
Vorwort
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sychotherapie ist eine Erfahrungswissenschaft, die das eigene subjektive Erleben ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. Bücher können eine psychotherapeutische Beziehung nicht ersetzen, aber ergänzen. Nicht zufällig spricht man auch von Bibliotherapie, also möglicher therapeutischer Wirkung von Literatur. Dabei sind Information, Erlebnisbericht und verdichtete Beziehungsdarstellung von besonderer Bedeutung. Dieser Idee folgt auch dieses Buch. Es soll einen Überblick geben über das wissenschaftliche, aber auch handlungsleitende Schaffen von Autoren aus dem Bereich der modernen Psychotherapie. Die Auswahl der 100 Werke war interessant, aber auch schwierig und ist naturgemäß subjektiv geblieben. Die Autoren von Büchern aus dem deutschen Sprachraum sind überrepräsentiert aufgrund der sprachlichen Nähe jener Kolleginnen und Kollegen, die ich um eine Empfehlung gebeten habe. Der Auswahlvorgang hat sich folgendermaßen gestaltet: Ich bat 30 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, ihre wichtigsten Fachbücher zu nennen. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Schließlich empfahlen sie 374 Bücher. Aus diesen 374 Büchern suchte ich die vorliegenden 100 Meisterwerke aus – manchmal mit schwerem Herzen aufgrund der Fülle der Möglichkeiten. Sie werden als Leserin und Leser vielleicht das eine oder andere Werk vermissen oder überrascht sein, dass ein bestimmtes Werk hier enthalten ist. Ich möchte den Rezensentinnen und Rezensenten der Bücher danken, den KollegInnen und den Studierenden unserer Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien, die mit viel Engagement und Diskussionslust die einzelnen Werke vorstellen. Wichtig war mir, dass verschiedene Sichtweisen und Felder der Psychotherapie dargestellt werden. Mein Ansinnen geht dahin, die Buntheit der Psychotherapie als Stärke zu sehen, als vielfältige Antwort auf das „Weite Land der Seele“(A. Schnitzler). Einige Kriterien, nach denen die Bücher ausgewählt wurden: 1. Grundlegende Werke 2. Übersichtswerke 3. Einführende Werke 4. Monografien 5. Historische Werke 6. Falldarstellungen 7. Selbstzeugnisse
Einige Rezensionen beschäftigen sich mit einem Werk, das mehrere Bände umfasst. Aufgrund der Geschlossenheit dieser Werke haben die Rezensenten diese Bände zu einer Beschreibung zusammengefasst. Das Buch soll den verschiedenen Lesern auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen Eindrücke über das Wesentliche der Psychotherapie vermitteln. Daher haben wir die Rezensionen mit drei Stufen bewertet hinsichtlich der leichten, mittleren und schwereren Lesbarkeit, auch im Hinblick auf den Wissensstand der Leser. Leichte und mittlere Schwierigkeitsgrade sind ohne Weiteres von Lesern zu verstehen, beim schwereren Schwierigkeitsgrad sind meist psychotherapeutische Vorkenntnisse erforderlich, doch wiederum nicht bei jedem Buch. Die Lesbarkeit wird mit folgenden Symbolen gekennzeichnet:
leicht
mittel
schwer
Bei den einzelnen Büchern wird jeweils die aktuellste deutschsprachige Ausgabe angeführt, die in den meisten Fällen auch regulär im Buchhandel lieferbar ist. Bei Titeln, die bereits in mehreren Auflagen bzw. Ausgaben erschienen sind oder bei denen es sich um Übersetzungen handelt, werden auch das Jahr der Erstausgabe, der Originalverlag und der Originaltitel zitiert. Ansonsten werden die fremdsprachigen Originalausgaben angeführt. Mein Dank gilt Frau Monika Millecker, M.A., für die Hilfe bei der Zusammenstellung und der Durchsicht sowie Frau Mag. Renate Eichhorn, die als Lektorin im Springer-Verlag eine wertvolle Hilfe war und ist.
Wien, im August 2007
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Alfred Pritz
Inhaltsverzeichnis Alfred Adler: Der Sinn des Lebens ......................................................... 11 Alfred Adler: Über den nervösen Charakter .......................................... 12 August Aichhorn: Verwahrloste Jugend ................................................ 14 Hermann Argelander: Das Erstinterview in der Psychotherapie............ 17 Virginia M. Axline: Dibs ......................................................................... 18 Michael Balint: Therapeutische Aspekte der Regression........................ 20 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes .................................................. 22 Judith S. Beck: Praxis der Kognitiven Therapie ..................................... 24 Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw, Gary Emery: Cognitive therapy of depression ......................................................... 25 Gaetano Benedetti: Todeslandschaften der Seele ................................... 26 Eric Berne: Spiele der Erwachsenen ...................................................... 28 Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung ............... 30 John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung ................... 33 Oliver Brachfeld: Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft .................................................................... 35 Michael B. Buchholz: Psychotherapie als Profession ............................. 37 Marie Cardinal: Schattenmund .............................................................. 39 Luc Ciompi: Affektlogik ......................................................................... 40 Johannes Cremerius: Die Verwirrungen des Zöglings T. ........................ 42 Johannes Cremerius: Vom Handwerk des Psychoanalytikers ................ 45 Steve De Shazer: Das Spiel mit Unterschieden ...................................... 46 Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften................................................................... 48 Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes ................................... 50 Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit ................................................ 52 Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten ....................... 54 Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit .................................................................................... 56 Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus .......................................... 58 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft ........................................ 59 Jerome D. Frank: Die Heiler ................................................................... 62 Viktor Frankl: ... trotzdem ja zum Leben sagen ..................................... 64 Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen ............................. 66 Sigmund Freud: Die Traumdeutung....................................................... 98 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur ...................................... 70 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens ...................... 71 Erich Fromm: Haben oder Sein .............................................................. 75 Ben Furman: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben ...... 77 Peter Gay: Sigmund Freud ..................................................................... 79 Klaus Grawe / Ruth Donati / Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel ................................................................. 81 Ralph R. Greenson: Technik und Praxis der Psychoanalyse................... 84 Georg Groddeck: Das Buch vom ES ....................................................... 85
Georg Groddeck: Krankheit als Symbol ................................................. 87 Iris Hanika / Edith Seifert: Die Wette auf das Unbewußte .................... 90 Thomas A. Harris: Ich bin o. k. – Du bist o. k......................................... 93 Lucien Israël: Die unerhörte Botschaft der Hysterie .............................. 94 Russell Jacoby: Soziale Amnesie ............................................................ 97 Eva Jaeggi: Und wer therapiert die Therapeuten? ................................. 99 C. G. Jung: Praxis der Psychotherapie.................................................. 100 Frederick H. Kanfer / Hans Reinecker / Dieter Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie ................................................................ 103 Karen Kaplan-Solms / Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse ................. 105 Verena Kast: Die Dynamik der Symbole .............................................. 107 Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus ........................................................................................ 110 Otto F. Kernberg / Birger Dulz / Jochen Eckert (Hrsg.): Wir: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen“ Beruf ....... 111 M. Masud R. Khan: Entfremdung bei Perversionen ............................ 112 Melanie Klein / Joan Riviere: Seelische Urkonflikte ............................ 113 Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst .................................................... 115 Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs … .............................. 117 Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst ..................................................... 119 Michael J. Lambert (Ed.): Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change............................................ 121 Darian Leader: Why do women write more letters than they post? .... 122 Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid ........................................ 124 Michael J. Mahoney: Human change processes ................................... 128 Donald W. Meichenbaum: Kognitive Verhaltensmodifikation............. 130 Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung ........................... 132 Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus ................................................................. 133 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes ...................................... 137 Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern ............................................................... 138 Michael Lukas Moeller: Die Liebe ist das Kind der Freiheit ................. 140 Hans Morschitzky: Psychotherapie Ratgeber ....................................... 141 Tilmann Moser: Lehrjahre auf der Couch ............................................ 143 Maria Selvini Palazzoli / Luigi Boscolo / Gianfranco Cechin / Giuliana Prata: Paradoxon und Gegenparadoxon ............................ 145 Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst ......................................... 148 Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel ............................................................... 150 Frederick S. Perls: Das Ich, der Hunger und die Aggression ................ 152 Nossrat Peseschkian: Psychosomatik und Positive Psychotherapie ...... 153 Hilarion Petzold (Hrsg.): Psychotherapie & Babyforschung Band 2: Die Kraft liebevoller Blicke ................................................. 155 Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit ...... 158
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Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse ....................................................................... 160 Wilhelm Reich: Charakteranalyse ........................................................ 162 Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus........................................ 165 Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse ......................................... 167 Arnold Retzer: Systemische Paartherapie ............................................ 170 Fritz Riemann: Grundformen der Angst .............................................. 172 Erwin Ringel: Selbstschädigung durch Neurose ................................... 173 Carl R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit................................... 175 Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent .......... 178 Johannes Heinrich Schultz: Das autogene Training ............................. 181 Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings ................................ 184 Berthold Stokvis / Eckart Wiesenhütter: Lehrbuch der Entspannung .................................................................................... 186 Gerhard Stumm / Alfred Pritz / Paul Gumhalter / Nora Nemeskeri / Martin Voracek (Hrsg.): Personenlexikon der Psychotherapie ...... 189 Gerhard Stumm / Alfred Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie ................................................................................. 190 Helmut Thomä / Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie.............. 181 Thure von Uexküll / Rolf H. Adler / Jörg Michael Herrmann / Karl Köhle / Wolf Langewitz / Othmar W. Schonecke / Wolfgang Wesiack (Hrsg.): Psychosomatische Medizin .................... 193 Vamik Volkan: Das Versagen der Diplomatie ....................................... 194 Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein ............................... 195 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? ............................ 197 Jürg Willi: Die Zweierbeziehung .......................................................... 198 Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität .................................. 200 Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie ........ 202 Irvin D. Yalom: Existenzielle Psychotherapie ....................................... 203 Irvin D. Yalom: Die rote Couch ............................................................ 205 Jeffrey E. Young / Janet S. Klosko / Marjorie E. Weishaar: Schematherapie ................................................................................ 208
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Alfred Adler: Der Sinn des Lebens #WƂCIG(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG9KGP2CUUGT
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ie Meinung des Individuums vom Sinn des Lebens ist in letzter Linie die Richtschnur für sein Denken, Fühlen und Handeln. Der wahre Sinn des Lebens aber zeigt sich in dem Widerstand, der sich dem unrichtig handelnden Individuum entgegensetzt“ (S. 39). Welche Meinung jeder Mensch vom Leben hat, findet Ausdruck in dessen individuellem Lebensstil. Dieser wurzelt in den drei grundlegenden Adler’schen Mechanismen (dem Minderwertigkeitsgefühl, Streben nach Macht bzw. deren Überwindung und dem Gemeinschaftsgefühl) und der Rückmeldung der Umgebung. Jede Person empfinde sich innerhalb bestimmter Grenzen als minderwertig (Minderwertigkeitskomplex), ist aber gleichzeitig bemüht, dieses Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden. Wie stark das Minderwertigkeitsgefühl ausgeprägt ist und die Art und Weise der Überwindung wird nach Adler schon in frühester Kindheit geprägt. Die Überwindung dieses Gefühls von Minderwertigkeit ist dem Menschen nur in der Gemeinschaft mit anderen möglich. Daraus folgt, dass der gesunde Mensch vor allem ein soziales Wesen darstellt, welches stets im Interesse der Gemeinschaft handelt (vgl. Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“). Wie kommt es nun zu mehr oder weniger gemeinschaftsfreundlichen oder -feindlichen Lebensstilen? Ausschlaggebend sind im Wesentlichen vier gemeinschaftshindernde Kindheitssituationen: Mängel und Schwächen der organischen Ausstattung (sogenannte Organminderwertigkeit) Vernachlässigung und mangelnde Zuwendung Autoritärer Zwang und brutale Unterwerfung Verwöhnung oder Verzärtelung In diesem Buch werden die Wirkung und die Mängel des gegenwärtigen Gemeinschaftsgefühls beschrieben, es werden die Menschenkenntnis und Charakterologie thematisiert und es wird versucht, die Bewegungsgesetze des Einzelnen und der Masse sowie deren Verfehlungen zu beschreiben. Adler war bestrebt, seine Anschauungen und Beobachtungen in einen streng wissenschaftlichen Zusammenhang zu bringen, was ihm auch gelungen ist: Eine immense Zahl von unmittelbaren Erfahrungen, ein System, welches diesen Erfahrungen Rechnung trägt und ihnen nicht widerspricht, konnte er aufstellen: die Individualpsychologie. Ein Werk, welches gut verstehen lässt, welche Fehler und Wünsche die Menschen haben, und die heutige Erziehung kritisch beleuchtet. „Der Sinn des Lebens“ ist ein spannender Führer durch die Individualpsychologie, der mit viel Lust und fundierten Theorien die Grundthemen dieser tiefenpsychologischen Richtung behandelt und der geeignet ist, sich einen Überblick über und einen Einblick in die Theoreme Adlers und der Individualpsychologie zu verschaffen. Er beschreibt den Sinn und Zweck 11
A menschlichen Lebens aus individualpsychologischer Sicht und zeigt die Folgen „falscher Erziehung“ auf, und das, ohne es nötig zu haben, sich hinter einer Mauer von sprachlichen Verklausulierungen zu verschanzen. Lesenswert für Fachleute sowie für Mütter, Väter, erziehende Personen und gesellschaftskritisch interessierte Menschen. Würden alle Pädagogen Adler gelesen haben, wäre die Welt wieder ein Stück besser. Ein wunderbarer Wegweiser und ein Vorbild, dass Tiefenpsychologie verständlich und nachvollziehbar, aber zugleich anspruchsvoll sein kann. Für mich stellt dieses Werk eine der gehaltvollsten Schriften der Tiefenpsychologie dar. Adler hat darin kurz vor seinem Tod alle wichtigen Erkenntnisse der von ihm begründeten Individualpsychologie zusammengefasst. „Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, dass unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden können“ (A. Adler). Dorit Hejze
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter
Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie *IXQP-CTN*GKP\9KVVG#NOWVJ$TWFGT$G\\GN4QNH-ØJP )ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG9KGUDCFGP$GTIOCPP
er Titel des Buches wirkt vielleicht ein wenig irreführend, und das gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch jemand als nervös bezeichnet, der von Unruhe, Zerfahrenheit oder Unsicherheit erfüllt ist. Das ist nicht gemeint, „nervös“ bedeutet hier, im Einklang mit den sprachlichen Gepflogenheiten um 1900, neurotisch. Zum anderen sind mit „Charakter“ keine ererbten Eigenschaften gemeint; vielmehr entwickeln sich nach Adler dessen Grundlagen in der Kindheit und bilden ein Schema aus, das als Ergebnis einer zielgerichteten Einheit verstanden werden kann. Um die Entstehung und Entwicklung des „nervösen Charakters“ geht es im ersten Abschnitt, dem theoretischen Teil des Buches. Ein konstitutives Merkmal aller Kinder ist wegen ihrer Kleinheit und Unbeholfenheit ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit. Verläuft die Entwicklung in normalen Bahnen, so wird es durch ein Streben nach Anerkennung, Wertschätzung und Ebenbürtigkeit kompensiert, während das neurotische Kind danach trachtet, stets oben zu sein, andere hinter sich zu lassen oder sie zu überwältigen. Schwäche wird also im Falle einer normalen Entwicklung in Stärke und beim Neurotiker in vermeintliche
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A menschlichen Lebens aus individualpsychologischer Sicht und zeigt die Folgen „falscher Erziehung“ auf, und das, ohne es nötig zu haben, sich hinter einer Mauer von sprachlichen Verklausulierungen zu verschanzen. Lesenswert für Fachleute sowie für Mütter, Väter, erziehende Personen und gesellschaftskritisch interessierte Menschen. Würden alle Pädagogen Adler gelesen haben, wäre die Welt wieder ein Stück besser. Ein wunderbarer Wegweiser und ein Vorbild, dass Tiefenpsychologie verständlich und nachvollziehbar, aber zugleich anspruchsvoll sein kann. Für mich stellt dieses Werk eine der gehaltvollsten Schriften der Tiefenpsychologie dar. Adler hat darin kurz vor seinem Tod alle wichtigen Erkenntnisse der von ihm begründeten Individualpsychologie zusammengefasst. „Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, dass unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden können“ (A. Adler). Dorit Hejze
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter
Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie *IXQP-CTN*GKP\9KVVG#NOWVJ$TWFGT$G\\GN4QNH-ØJP )ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG9KGUDCFGP$GTIOCPP
er Titel des Buches wirkt vielleicht ein wenig irreführend, und das gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch jemand als nervös bezeichnet, der von Unruhe, Zerfahrenheit oder Unsicherheit erfüllt ist. Das ist nicht gemeint, „nervös“ bedeutet hier, im Einklang mit den sprachlichen Gepflogenheiten um 1900, neurotisch. Zum anderen sind mit „Charakter“ keine ererbten Eigenschaften gemeint; vielmehr entwickeln sich nach Adler dessen Grundlagen in der Kindheit und bilden ein Schema aus, das als Ergebnis einer zielgerichteten Einheit verstanden werden kann. Um die Entstehung und Entwicklung des „nervösen Charakters“ geht es im ersten Abschnitt, dem theoretischen Teil des Buches. Ein konstitutives Merkmal aller Kinder ist wegen ihrer Kleinheit und Unbeholfenheit ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit. Verläuft die Entwicklung in normalen Bahnen, so wird es durch ein Streben nach Anerkennung, Wertschätzung und Ebenbürtigkeit kompensiert, während das neurotische Kind danach trachtet, stets oben zu sein, andere hinter sich zu lassen oder sie zu überwältigen. Schwäche wird also im Falle einer normalen Entwicklung in Stärke und beim Neurotiker in vermeintliche
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A Stärke verwandelt, denn Letztere bindet Ressourcen, welche zulasten der persönlichen und sozialen Entwicklung gehen. Allerdings sind die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit fließend und insofern von relativem Charakter, zumal in beiden Fällen ein fiktives Endziel angestrebt wird. Die Vorstellungen, welche sich ein Kind macht, um in sicherere Bahnen zu gelangen, stimmen nämlich nur ungenau mit der Wirklichkeit überein. Sie treffen die Realität nie ganz, denn man nimmt diese nur selektiv wahr und projiziert eigene Wünsche auf die Vorbilder, denen man nacheifert. Erst recht gilt das für den neurotischen Menschen, der zu strikten antithetischen Wahrnehmungsschemata neigt und die Welt rigoros in ein Unten und ein Oben, in Stark und Schwach einteilt. Im zweiten Abschnitt des Buches, dem praktischen Teil, wird neurotisches Verhalten anhand von Fallbeispielen und weiteren theoretischen Einschüben exemplifiziert, wobei auch immer wieder Parallelen aus der Kulturgeschichte herangezogen werden, um das Gemeinte zu illustrieren. Im ersten Kapitel werden Geiz, Misstrauen, Neid und Grausamkeit thematisiert, in den Folgekapiteln unter anderem Phänomene wie Wahn (Kapitel II), Entwertungstendenz (Kapitel IV), Furcht vor dem Partner (Kapitel VIII) oder der „Familiensinn des Nervösen“ (Kapitel X). Im Sommer 1911 hatte sich Adler von Freud getrennt und den „Verein für freie psychoanalytische Forschung“ ins Leben gerufen, den späteren „Verein für Individualpsychologie“. Und bereits 1912 ist der „Nervöse Charakter“ erschienen, um der neuen Lehre ein eigenständiges Profil zu verleihen. Es handelt sich um das Hauptwerk der Individualpsychologie, wird aber bis heute unterschätzt. Es wurzelt in der Psychoanalyse und geht doch weit über sie hinaus. Mit Freud teilt Adler den immensen Einfluss der Kindheit auf das spätere Leben sowie die Bedeutung des Unbewussten als eines Spiels antagonistischer Kräfte, in dem Fall zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Während aber die Psychoanalyse im Einklang mit den Standards neuzeitlicher Kausalitätsvorstellungen primär auf die aristotelische Wirkursache Bezug nimmt, das heißt auf die Frage nach dem Woher, bezieht Adler auch die in der modernen Wissenschaftstradition marginalisierte aristotelische Zielursache mit ein, die Frage nach dem Wohin, indem er den Zielen und Zwecken menschlichen Verhaltens nachgeht, genauer – und das war ebenfalls neu – der Frage nach dem unbewussten Sinn. Verknüpft ist damit eine das analytische Denken erweiternde ganzheitliche Perspektive, indem der Charakter als zielgerichtete Einheit verstanden wird, die Adler später unter dem Begriff „Lebensstil“ fassen sollte. Die Erkenntnis, dass es sich dabei „um die Eintragung eines unwirklichen abstrakten Schemas in das wirkliche Leben handelt“ (23), betrachtet Adler als Hauptaufgabe seines Werkes, und genau das verleiht ihm auch heute noch Aktualität, denn dahinter steht eine frühe konstruktivistische Theorie, nämlich der Fiktionalismus des Neukantianers Hans Vaihinger. In seiner „Philosophie des Als Ob“, die erst 1911 im Druck erschienen ist, bemüht sich der Autor um den Nachweis, dass alle Annahmen und Theorien die sogenannte Realität nur 13
A in unzulänglicher Weise wiedergeben können. Um sich zu orientieren, müsse man aber „so tun, als ob“ sie wahr wären, und inwieweit sie der Wirklichkeit nahe oder fernstehen, könne nur die praktische Anwendung erweisen. Eine sinnvolle Fiktion sei beispielsweise die Einteilung der Erdoberfläche in Längen- und Breitengrade. Sie existierten nicht eigentlich, aber wenn man so tue, als wären sie vorhanden, könne man sich an ihnen orientieren. In Analogie dazu betrachtet Adler die Vorstellungen des Menschen über die Welt als Fiktionen, und der Unterschied zwischen der gesunden und der neurotischen Persönlichkeit besteht darin, dass jene nützlichere, da realitätsnähere Fiktionen verwendet als diese. Eine solche Sicht ist heuristisch wertvoll und lässt sich darüber hinaus mit der psychoanalytischen Theorie der Abwehrmechanismen verbinden, denn diese sagen implizit aus, dass man bestimmte Aspekte der Realität nicht wahrhaben will und so tut, als existierten sie nicht. Indirekt angesprochen ist damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Rolle und Identität, womit nicht nur Bezüge zur soziologischen Rollentheorie existieren, sondern auch zu den kulturgeschichtlichen Konzepten der Bühnenmetapher (Theatrum Mundi) und des Homo ludens im Sinne Johan Huizingas. Bernd Rieken
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August Aichhorn: Verwahrloste Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud #WƂCIG$GTP*CPU*WDGT 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[ VKUEJGT8GTNCI
ie zehn Vorträge, die August Aichhorn ab 1924 im Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehalten hat, sollen einem interessierten Publikum, das sich mit den Fragen der Fürsorgeerziehung auseinandersetzt, Anregungen und Hilfe bieten. Fürsorgeerziehung wird dann notwendig, wenn es nicht gelungen ist, einem Jugendlichen die seiner Altersstufe entsprechende Kulturfähigkeit zu vermitteln. Was bedeutet das? Durch Erziehung lernen die Menschen, sich unter Triebverzicht den Forderungen der Gesellschaft anzupassen. Hier weisen die verwahrlosten Jugendlichen ein Defizit auf. Wie Symptome zu analysieren sind und welche Ursachen zur Verwahrlosung führen, damit beschäftigt sich August Aichhorn in den ersten fünf Vorträgen. Die Symptome (Stehlen, Einbrechen, Schuleschwänzen usw.) werden ganz im Sinne der Psychoanalyse als Kompromissbildungen zwischen verdrängenden und verdrängten Tendenzen dargestellt. Dabei geht es bei
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A in unzulänglicher Weise wiedergeben können. Um sich zu orientieren, müsse man aber „so tun, als ob“ sie wahr wären, und inwieweit sie der Wirklichkeit nahe oder fernstehen, könne nur die praktische Anwendung erweisen. Eine sinnvolle Fiktion sei beispielsweise die Einteilung der Erdoberfläche in Längen- und Breitengrade. Sie existierten nicht eigentlich, aber wenn man so tue, als wären sie vorhanden, könne man sich an ihnen orientieren. In Analogie dazu betrachtet Adler die Vorstellungen des Menschen über die Welt als Fiktionen, und der Unterschied zwischen der gesunden und der neurotischen Persönlichkeit besteht darin, dass jene nützlichere, da realitätsnähere Fiktionen verwendet als diese. Eine solche Sicht ist heuristisch wertvoll und lässt sich darüber hinaus mit der psychoanalytischen Theorie der Abwehrmechanismen verbinden, denn diese sagen implizit aus, dass man bestimmte Aspekte der Realität nicht wahrhaben will und so tut, als existierten sie nicht. Indirekt angesprochen ist damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Rolle und Identität, womit nicht nur Bezüge zur soziologischen Rollentheorie existieren, sondern auch zu den kulturgeschichtlichen Konzepten der Bühnenmetapher (Theatrum Mundi) und des Homo ludens im Sinne Johan Huizingas. Bernd Rieken
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August Aichhorn: Verwahrloste Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud #WƂCIG$GTP*CPU*WDGT 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[ VKUEJGT8GTNCI
ie zehn Vorträge, die August Aichhorn ab 1924 im Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehalten hat, sollen einem interessierten Publikum, das sich mit den Fragen der Fürsorgeerziehung auseinandersetzt, Anregungen und Hilfe bieten. Fürsorgeerziehung wird dann notwendig, wenn es nicht gelungen ist, einem Jugendlichen die seiner Altersstufe entsprechende Kulturfähigkeit zu vermitteln. Was bedeutet das? Durch Erziehung lernen die Menschen, sich unter Triebverzicht den Forderungen der Gesellschaft anzupassen. Hier weisen die verwahrlosten Jugendlichen ein Defizit auf. Wie Symptome zu analysieren sind und welche Ursachen zur Verwahrlosung führen, damit beschäftigt sich August Aichhorn in den ersten fünf Vorträgen. Die Symptome (Stehlen, Einbrechen, Schuleschwänzen usw.) werden ganz im Sinne der Psychoanalyse als Kompromissbildungen zwischen verdrängenden und verdrängten Tendenzen dargestellt. Dabei geht es bei
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A den verwahrlosten Kindern und Jugendlichen nicht in erster Linie um die Entfernung der Symptome, die durch ein psychisches Kräftespiel bedingt sind, sondern um die Heilung der Erkrankung selbst. Letztlich müssen, sollen anstelle der alten Symptome nicht neue ausgebildet werden, die Ichstruktur neu geordnet werden. Für die Aufdeckung der Ursachen ist es wesentlich, die Gründe für das Tun zu verstehen und diese als Ergebnis eines psychischen Kräftespiels anzuerkennen. Moralische Bewertungen der Handlungen eines Verwahrlosten oder eine Parteinahme für Eltern und die Gesellschaft sind nach August Aichhorn nicht hilfreich. Mit dem Phänomen der Übertragung, der Beziehung des Verwahrlosten zum Erzieher, beschäftigt sich der sechste Vortrag. Die Art, wie sich das Liebesleben der Kindheit gestaltet, ist wesentlich. Das Liebesbedürfnis der später Verwahrlosten wurde entweder zu wenig befriedigt oder, so August Aichhorn, übersättigt. Beide Typen der Verwahrlosung erfordern ein unterschiedliches Handeln der Erzieher, bedeutsam ist jedoch das intuitive Erfassen der Situation. Mehrfach – und so auch hier – grenzt August Aichhorn Psychoanalyse von Erziehung ab. Im siebenten Vortrag beschreibt August Aichhorn die speziellen Bedingungen in den Fürsorgeerziehungsanstalten der Stadt Wien, Oberhollabrunn und Sankt Andrä an der Traisen, deren Leitung er innehatte. In Abgrenzung zu den Anstalten alten Stils, wo Gewalt ständig als Mittel der Beherrschung eingesetzt wird, werden hier die Gruppen der Jugendlichen nach Temperament und Führungsmöglichkeit gebildet. Wesentlich erscheint der Gedanke, dass die Gruppierung selbst in den Dienst der Heilung gestellt werden kann. Die auftretenden Konflikte sollen zur Erreichung der Erziehungsziele eingesetzt werden. Eine Entwicklung der Fähigkeit, die Triebregungen zu unterdrücken und die gesellschaftlichen Normen anzuerkennen, wird angestrebt. Voraussetzung ist hier die Schaffung eines besonderen Milieus, getragen von Zuneigung und Lebensbejahung. Die positive Einstellung des Erziehers zum Leben, in dessen Handlungen die Jugendlichen Zuneigung zu erkennen fähig sind, wird als wesentlich für die Herstellung einer positiven Übertragungsbeziehung erachtet. Im neunten und zehnten Vortrag erörtert August Aichhorn die Bedeutung des Lustprinzips und Ichideals für das soziale Handeln. Die Verwahrlosten werden in ihren Handlungen – bedingt durch Entwicklungsstörungen (Regression, Entwicklungshemmungen) – stark vom Lustprinzip beherrscht. Der Erzieher kann über die positive Übertragung den Jugendlichen neue Identifizierungsmöglichkeiten bieten und so eine Veränderung des Ichideals und der Charakterstrukturen einleiten. Damit ist Erziehung gleichzusetzen mit dem Nachholen individueller Entwicklung. Warum sollte man dieses Buch heute lesen? Darauf gibt es viele mögliche Antworten. Ich beginne mit dem Grundton, der sich durch diese Vorträge zieht: Er ist aufklärerisch im ursprünglichen Sinne des Wortes, möchte ein an 15
A der Thematik interessiertes Publikum zu einem anderen Verständnis für eine soziale Randgruppe bewegen. Die Sprache ist klar und verständlich, psychoanalytische Grundbegriffe werden anschaulich erklärt, Theorie und praktische Beispiele, die zahlreich vorhanden sind, miteinander verknüpft. Der Ton ist lebendig und der kommunikativen Situation des Vortrags angepasst, Einwände und Gedanken der ZuhörerInnen werden als Fragen vorweggenommen, Rekurse auf bereits Bekanntes und Wiederholungen verbinden die Inhalte der einzelnen Vorlesungen genauso wie eine Vorausschau auf Kommendes. Worauf man als LeserIn nicht trifft, sind fertige Rezepte, fixe Regeln im Umgang mit dem Verwahrlosten. Verallgemeinerungen und oberflächliche Schlussfolgerungen sind, so zeigt uns August Aichhorn, hinderlich. Und doch zieht sich ein Gedanke durch die Vorträge, nämlich das Bemühen um das Kind, die Parteinahme für dieses, der Versuch, hinter die Symptome zu blicken und ihm, dem Kind, geleitet vom psychoanalytischen Wissen, anders zu begegnen, als die Erziehungspersonen es üblicherweise taten und heute noch manchmal tun. Auch mehr als 80 Jahre nach dem Erscheinen des Buches erscheint August Aichhorns Einstellung zu den verwahrlosten Jugendlichen politisch und gesellschaftlich provokant. Welche Haltung sein Denken und Handeln prägt, veranschaulicht das folgende Zitat: „Es war uns von allem Anfange an gefühlsmäßig klar, dass wir Knaben und Mädchen und jungen Menschen im Alter von 14 bis 18 Jahren vor allem Freude zu bereiten hatten. Keinem von uns war je eingefallen, in ihnen Verwahrloste oder gar Verbrecher zu sehen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsste … ich erinnere mich noch der Spannung, mit der wir den ersten Zögling erwarteten, und seines Behagens, als wir uns auf ihn stürzten, um ihn zu verwöhnen.“ In den Ausführungen von August Aichhorn trifft man immer wieder auf große Offenheit und Selbstkritik, es wird über Misserfolge und Verzweiflung bei Erzieherinnen genauso berichtet wie über Erfolge. Es ist ein auf die Reflexion des eigenen Tuns abzielendes Buch, das Mut auf psychoanalytische Pädagogik macht. In diesem Sinne ist es für LeserInnen geschaffen, die mit jungen Menschen in unterschiedlichsten Berufen zu tun haben. Ein Geleitwort von Sigmund Freud, in dem er die Leistungen August Aichhorns würdigt, ein Sachregister, eine Kurzbiographie Kurt Eisslers und ein Nachwort Heinrich Mengs und Thomas Aichhorns ergänzen die Ausgabe. Helga Klug
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Hermann Argelander: Das Erstinterview in der Psychotherapie #WƂCIG&CTOUVCFV9KUUGPUEJCHVNKEJG$WEJIGUGNNUEJCHV 'TUVCWUICDG
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as 112 Seiten umfassende Büchlein befasst sich in zwölf Hauptkapiteln mit der Erstellung eines modernen Konzepts des Erstinterviews in der Psychotherapie. Bereits in der Vorbemerkung geht der Autor auf die Erhebung und Verlässlichkeit der Daten ein, die sich aus drei Quellen speisen: die objektiven Informationen (biographische Anamnese), subjektive Informationen (Betonung der gemeinsamen Arbeit mit dem Patienten) und die szenischen oder situativen Informationen (unbewusste Beziehungsdynamik). Die Besonderheit der Ungewöhnlichen Gesprächssituation wird im gleichnamigen Kapitel deutlich. Aufgrund der Rahmenbedingungen als technisches Instrument bekommt der Aufbau und Ablauf des Gesprächs Struktur. Durch die Verwendung konkreter beispielhafter Auszüge aus Erstgesprächen gewinnt der Leser einen nahen Eindruck von der (Wechsel-)wirkung der Gesprächssituation. Sowohl der differenzierte sozialpsychologische Blick über mögliche Schwellenangst für das Aufsuchen eines Psychotherapeuten bei einigen Patienten als auch die Typologie der konsultierenden Personen gelingt in Die Gesprächspartner, ihre Motivation und Aufgaben. Der Autor gibt an, die Typisierung aus einer größeren Zahl von Interviewprotokollen unter der Einbeziehung von bewusster und unbewusster Therapiemotivation einerseits und der Krankheit andererseits gewonnen zu haben, um zu einer groben praktischen Orientierung zu verhelfen. Beim vorgeschickten oder vorgeschobenen Patienten handelt es sich um jene Personen, die nicht aus Eigeninitiative kommen; Argelander erläutert in diesem Zusammenhang das Vorliegen einer „Sozialen Krankheit“ und die Schwierigkeiten in der Behandlung. Der anspruchsvolle Patient ist jener, der bereits im Vorfeld zum Erstgespräch seine Forderungen oder Anliegen vorbringt, im Gegensatz zum (anspruchslosen oder) unergiebigen Patienten, der eine lähmende und abgeschlaffte Atmosphäre ausströmt. Den vierten und letzten Typus bezeichnet Argelander den aufgeklärten Patienten, den unter anderem sein differenzierter Intellekt und ein schwer zugängliches Gefühlsleben auszeichnen. Ferner wird auf die spezifische Interviewdynamik aller Typen bzw. Mischtypen und deren Widerstände eingegangen. Bei der Herstellung der Gesprächssituation werden die Fragen der Technik (des Vorfeldes) unter Miteinbeziehung institutioneller Gegebenheiten, Realitäten des Interviewers, Vorbereitungen der situativen Bedingungen und bestimmte Haltungen als technisches Prinzip erörtert. Schließlich wird die Psychopathologie des Patienten, seine Krankheit und ihre Bedeutung durch Vermittlung beispielhafter Herangehensweisen erläutert, die sich auf die Entwicklung und den Verlauf eines Erstgesprächs auswirken. Argelanders Psycho-Logik (als eine ungewöhnliche Form der Wahrnehmung und des Denkens) bringt eine Analyse der szenisch gestalteten Dynamik der Gesprächssituation, der Gestalt der Gesprächsinhalte und deren Auswirkung 17
A der Gesprächssituation im Sinne der phänomenologischen Intuition fertig, um in strukturierender Weise Unbewusstes aufzuspüren. Ferner gelingt es, auf reale Gegebenheiten und Indikationen unter Einbeziehung der Grenzsituation einzugehen. Das Therapeutische Interview (Fragen und Antworten zum Setting) definiert sich anders als Das Diagnostische Interview, welches sich in zwei Phasen bewegt: Hier kann einmal die Phase zur diagnostischen Erfassung, zur Indikationsstellung und Prognose (inklusive Probehandeln) und jene zur Einleitung der Behandlung genannt werden. Abrundend werden Probleme der Ausbildung und beispielhafte Lösungsansätze (zum Beispiel der Einsatz von Einwegspiegeln) für in Ausbildung zum Psychotherapeuten stehende Kollegen erörtert. Hermann Argelander (1920–2004) gelang es, ein modernes Konzept und Grundlagenwerk des Erstinterviews in der Psychotherapie zu erstellen, um jene individuelle Behandlungskunst zu strukturieren und zu veranschaulichen. Das Erstgespräch fungiert (neben einigen testpsychologischen Untersuchungen) als diagnostisches, indikatorisches und prognostisches Instrument. Infolgedessen empfiehlt Argelander die Durchführung dem berufserfahrenen und gut ausgebildeten Psychotherapeuten vorzubehalten, um den besonderen Stellenwert und die Schlüsselfunktion des Erstkontakts zu verdeutlichen. Aufgrund des gewandten Schreibstils und der ausgezeichneten Beschreibung von inner- und intrapsychischem Fremdgeschehen sowohl als Einstiegslektüre geeignet, dient das Meisterwerk dem (angehenden) Psychotherapeuten auch als unentbehrliche Pflichtlektüre. Im Mittelpunkt steht – mit Hilfe dieser Ästhetik der Gesprächsführung – die Kunst, einen Menschen zu verstehen. Katharina R. Reboly
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Virginia M. Axline: Dibs
Die wunderbare Entfaltung eines menschlichen Wesens /ØPEJGP-PCWT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG&KDUKPUGCTEJQHUGNH $QUVQP*QWIJVQP/KHƂKP
iese Geschichte beschreibt den Weg eines Kindes, dem es möglich ist, durch Psychotherapie zu sich selbst zu finden. Sein Name ist Dibs. Dibs ist ein ungewöhnlicher kleiner Junge, voller Liebe, voller Leidenschaft, voller Freundschaft, aber auch stumm und zurückgezogen. Eingesperrt in sein seelisches Gefängnis, spricht, lacht und spielt Dibs nicht bis zu seinem fünften Lebensjahr. Doch mit sechs Jahren ist er mit einem Mal aufgeweckt und lebensfroh. Dieses Wunder vollbringt Virginia M. Axline, die das Vertrauen des Jungen gewinnt. Indem sie ihm seinen Raum zu Selbstverwirklichung gibt, hilft sie ihm, seine inneren Barrieren zu überwinden. Anfänglich in sehr kleinen Schritten, vertraut sich Dibs
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A der Gesprächssituation im Sinne der phänomenologischen Intuition fertig, um in strukturierender Weise Unbewusstes aufzuspüren. Ferner gelingt es, auf reale Gegebenheiten und Indikationen unter Einbeziehung der Grenzsituation einzugehen. Das Therapeutische Interview (Fragen und Antworten zum Setting) definiert sich anders als Das Diagnostische Interview, welches sich in zwei Phasen bewegt: Hier kann einmal die Phase zur diagnostischen Erfassung, zur Indikationsstellung und Prognose (inklusive Probehandeln) und jene zur Einleitung der Behandlung genannt werden. Abrundend werden Probleme der Ausbildung und beispielhafte Lösungsansätze (zum Beispiel der Einsatz von Einwegspiegeln) für in Ausbildung zum Psychotherapeuten stehende Kollegen erörtert. Hermann Argelander (1920–2004) gelang es, ein modernes Konzept und Grundlagenwerk des Erstinterviews in der Psychotherapie zu erstellen, um jene individuelle Behandlungskunst zu strukturieren und zu veranschaulichen. Das Erstgespräch fungiert (neben einigen testpsychologischen Untersuchungen) als diagnostisches, indikatorisches und prognostisches Instrument. Infolgedessen empfiehlt Argelander die Durchführung dem berufserfahrenen und gut ausgebildeten Psychotherapeuten vorzubehalten, um den besonderen Stellenwert und die Schlüsselfunktion des Erstkontakts zu verdeutlichen. Aufgrund des gewandten Schreibstils und der ausgezeichneten Beschreibung von inner- und intrapsychischem Fremdgeschehen sowohl als Einstiegslektüre geeignet, dient das Meisterwerk dem (angehenden) Psychotherapeuten auch als unentbehrliche Pflichtlektüre. Im Mittelpunkt steht – mit Hilfe dieser Ästhetik der Gesprächsführung – die Kunst, einen Menschen zu verstehen. Katharina R. Reboly
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Virginia M. Axline: Dibs
Die wunderbare Entfaltung eines menschlichen Wesens /ØPEJGP-PCWT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG&KDUKPUGCTEJQHUGNH $QUVQP*QWIJVQP/KHƂKP
iese Geschichte beschreibt den Weg eines Kindes, dem es möglich ist, durch Psychotherapie zu sich selbst zu finden. Sein Name ist Dibs. Dibs ist ein ungewöhnlicher kleiner Junge, voller Liebe, voller Leidenschaft, voller Freundschaft, aber auch stumm und zurückgezogen. Eingesperrt in sein seelisches Gefängnis, spricht, lacht und spielt Dibs nicht bis zu seinem fünften Lebensjahr. Doch mit sechs Jahren ist er mit einem Mal aufgeweckt und lebensfroh. Dieses Wunder vollbringt Virginia M. Axline, die das Vertrauen des Jungen gewinnt. Indem sie ihm seinen Raum zu Selbstverwirklichung gibt, hilft sie ihm, seine inneren Barrieren zu überwinden. Anfänglich in sehr kleinen Schritten, vertraut sich Dibs
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A seiner neuen Begleiterin an, zunehmend öffnet er sich und gibt seine Welt und Erfahrungen preis. Durch die Spieltherapie, völlig ohne Druck, wird Dibs die Möglichkeit gegeben, sich auf seine Weise bemerkbar zu machen. Er fängt an, Selbstvertrauen zu gewinnen, seine Fähigkeiten preiszugeben, und zunehmend beginnt sein Leben sich zu ändern. Nicht nur der Junge, auch seine Eltern beginnen sich zu ändern. Das veränderte Verhalten ihres Sohnes veranlasst Mutter und Vater, die Situation in verändertem Licht zu sehen. Es wird ihnen zunehmend möglich, ihren Enttäuschungen auf anderem Wege zu begegnen. Man verfolgt die spannende und mitreißende Entwicklung einer ganzen Familie. Von Anfang an fühlt man sich dem kleinen Dibs stark verbunden, man spürt seine Isolation, den Wunsch nach echter Anerkennung und Vertrauen. Durch ihre einfache Art zu schreiben schafft es Virginia M. Axline, das Wesen und den Charakter des Jungen einzufangen und greifbar werden zu lassen. Das Buch spricht in einer Sprache, die uns in ihrer echten seelischen Not erschüttert. Der kleine Junge verzaubert in seinem Anderssein den Leser so sehr, dass man nicht aufhören kann zu lesen, um endlich das nächste Kapitel zu erreichen und mehr von der Persönlichkeit und der Entwicklung zu erfahren. Eine bewegende Lebensgeschichte öffnet sich Stück für Stück und die furchtbare Verzweiflung und Not des Buben und dessen Familie werden immer greifbarer. Die Spannung, die entsteht, ist fast greifbar, erhitzt das Gemüt und wird zum Treibstoff, der dieses Buch so lesenswert macht. Ein Klassiker, der schon Generationen, ob Jung oder Alt, fesselte und berührte, der aber auch heftige Diskussionen aufgeworfen hat. Ist Dibs Autist, kann man das aus der dargebotenen Beschreibung entnehmen? Oder haben die Eltern schwer versagt, Erziehungsfehler auf der ganzen Linie gemacht und ihr Kind so in die Isolation getrieben? Meiner Meinung nach kann das jeder nur für sich entscheiden, nachdem er dieses hervorragende Werk studiert, durchlebt und den Jungen und seine Familie kennen gelernt hat. Ein Buch der Meisterklasse, für alle, die an einer „Geschichte, die das Leben schrieb“ ihr Herz verlieren wollen. Dorit Hejze
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Michael Balint: Therapeutische Aspekte der Regression
Die Theorie der Grundstörung #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG6JGDCUKEHCWNV6JGTCRGWVKECURGEVUQHTGITGUUKQP .QPFQP6CXKUVQEM2WDNKECVKQPU
alint geht von der Frage aus, warum selbst erfahrene und zuverlässige Analytiker gelegentlich mit Patienten zu tun haben, denen sie ratlos bis unsicher gegenüberstehen, und warum deren Therapien mitunter scheitern. Seine Antwort lautet, dass die klassische analytische Technik zwar für Patienten geeignet ist, welche die Deutungen des Analytikers als Deutungen erleben und deren Ich-Struktur in hinreichender Weise gefestigt ist, um die Deutungen in sich aufzunehmen. Andere Patienten sind dazu jedoch nicht fähig, und genau sie bereiten dem Analytiker oft Probleme. Um diese genauer zu skizzieren, unterscheidet Balint zwei Ebenen der analytischen Arbeit, die ödipale Ebene und die Ebene der Grundstörung. Die ödipale Ebene ist 1.) charakterisiert durch eine Dreierbeziehung, bei der außer dem Subjekt zumindest zwei Objekte beteiligt sind. Das können, wie in der ödipalen Situation, zwei Personen sein oder, wie im Zusammenhang mit der Oral- und Analerotik, eine Person und ein Gegenstand. 2.) ist dieser Bereich immer mit Konflikten verbunden, die aus der Ambivalenz herrühren, welche auf der Beziehung des Individuums zu seinen beiden Objekten beruht. Und 3.) kann die konventionelle Sprache der Erwachsenen als angemessenes und tragfähiges Verständigungsmittel verwendet werden. Demgegenüber ist die Ebene der Grundstörung 1.) dadurch charakterisiert, dass alle Vorgänge, die sich auf ihr abspielen, Teil einer Zweierbeziehung sind, welche sich von den herkömmlichen Beziehungen auf der ödipalen Ebene grundlegend unterscheidet. 2.) ist die Dynamik auf dieser Ebene nicht durch Konflikte gekennzeichnet, und 3.) ist dabei die Sprache der Erwachsenen oftmals unbrauchbar und irreführend. Patienten, die sich auf dieser Ebene befinden, spüren, dass ihnen etwas Grundlegendes fehlt, dass sie an einem Defekt leiden und eben nicht an einem Konflikt. Sie sind der Meinung, es sei zu dieser Störung gekommen, weil sie von jemandem enttäuscht worden seien oder jemand nicht seinen Verpflichtungen ihnen gegenüber nachgekommen sei. Darüber hinaus leiden sie unter der großen Angst, auch vom Analytiker enttäuscht zu werden. Die Ebene der Grundstörung ist dann erreicht, wenn es zu einer Veränderung in der Atmosphäre zwischen Analytiker und Patient kommt. Deutungen werden nicht mehr verstanden wie bisher, sondern sehr stark mit Emotionen verknüpft, indem sie mal als Angriff oder Forderung, mal als Liebesbeweis empfunden werden. Um das zu vermeiden, ist es für den Analytiker erforderlich, genau zu spüren, was der Patient in diesen Situationen benötigt, und dazu ist es notwendig, zunächst auf Deutungen zu verzichten, um sich ihm auf gelassene und absichtslose Weise wie eine beliebig verfügbare Substanz zur Verfügung zu stellen. Erlebt der Patient den Analytiker als ein „liebenswürdiges“ Objekt, kann er das Lieben für sich neu entdecken.
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B Das Buch von Michael Balint ist die Frucht jahrelanger praktischer Arbeit und theoretischer Auseinandersetzungen, von denen Aufsätze seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zeugen. Lange bevor man sich in der Psychoanalyse an sogenannte Frühstörungen und strukturelle Defizite heranwagte, publizierte Michael Balint seine Arbeiten zur Grundstörung – und löste heftigen Widerstand in der Analytikerszene aus. Zu jener Zeit waren Objektbeziehungstheorien noch nicht Teil des Mainstreams, und es gehörte zum Selbstverständnis des Analytikers, eine „korrekte“ Technik anzuwenden, nämlich die passiv-neutrale Standardtechnik mit ihrer Vorliebe für Deutungen. Auf diese Weise arbeitete zwar auch Balint, aber er tat es nur dann, wenn sich seine Patienten auf der ödipalen Ebene befanden. Waren sie jedoch auf die Ebene der Grundstörung regrediert, verhielt er sich anders, und er prägte dafür einen Begriff, der in die Literatur eingehen sollte, nämlich den der primären Objekte. Die Beziehung zu diesen, vor allem zur Mutter, bleibt während des ganzen Lebens – im ursprünglichen Sinn – primitiver als zu allen anderen Personen, und Balint vergleicht sie mit den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Diese sind einfach vorhanden, passen sich dem Körper an und erweisen sich als unzerstörbar. „Ohne Wasser kann man nicht schwimmen, ohne Erde kann man nicht vorwärtsschreiten. Die Substanz, der Analytiker, darf nicht widerstreben, muss einwilligen, muss keinen Anlass zu starker Reibung geben, muss den Patienten für eine Weile annehmen und tragen, muss sich als mehr oder weniger unzerstörbar erweisen, muss nicht auf starren Grenzen bestehen, sondern muss die Entwicklung einer Art von Vermischung zwischen ihm und den Patienten zulassen“ (S. 177). Es handelt sich um eine »elementare« Beziehung, und ähnlich wie die klassischen Elemente Segen und Fluch zugleich sein können, kann es die Beziehung zu einem primären menschlichen Objekt sein. Sie kündet von dem Paradies, aus dem die Menschen vertrieben worden sind und nach dem sie sich sehnen – vor allem dann, wenn es in der frühen Kindheit nicht in hinreichender Weise tragende Funktionen erfüllt hat. Kaum jemand hat diese elementaren Verhältnisse besser beschrieben als Michael Balint.
Bernd Rieken
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Gregory Bateson: Ökologie des Geistes
Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG5VGRUVQCPGEQNQI[QHOKPF%QNNGEVGFGUUC[UKP CPVJTQRQNQI[RU[EJKCVT[GXQNWVKQPCPFGRKUVGOQNQI[ 5CP(TCPEKUEQ%JCPFNGT2WDNKUJKPI%QORCP[
er Anthropologe Gregory Bateson kann als einer der bedeutendsten Begründer einer ökologischen Theorie von Lebensprozessen gesehen werden. Im vorliegenden erst 1972 erschienen Buch sind Aufsätze und Vorlesungen zusammengetragen, die der Autor über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte geschrieben hat. Die Beiträge sind in Themenbereiche geteilt, die einer chronologischen Ordnung von vier sich überlappenden Phasen im Forschungsleben des Autors entsprechen: Anthropologie, Psychiatrie, biologische Evolution und Genetik und Erkenntnistheorie. Als ein zentrales und verbindendes Thema der Aufsatzsammlung zeigt sich der Entwurf einer „kybernetischen Epistemologie“. Eine Erkenntnistheorie, die Erkennen, Denken und Handeln als etwas Unteilbares und Zusammengehöriges beschreibt. Das Modell der Kybernetik sieht er „als einen Weg aus dem Labyrinth von Halluzinationen zu finden, das wir um uns herum geschaffen haben“. Kybernetik als Beitrag zu einer Veränderung, die nicht nur eine Einstellung verändert, sondern auch unser Verständnis davon, was eine Einstellung ist. Seine Argumentation führt zu zwei wesentlichen Thesen: zu einer Theorie des Geistes, die „geistige“ Phänomene als informationsverarbeitende Prozesse versteht. Information kann als „Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht“, definiert werden. Die zweite These stellt die Betonung von Mustern, von Interaktionen, von Qualität statt Quantität in den Vordergrund. Es sind „die Muster, die verbinden“, die er in seiner Betrachtung herausarbeitet: Sowohl biologische als auch soziale und geistige Phänomene betrachtet er als anders und vor allem auch komplexer als in gängigen theoretischen Konstrukten beschrieben: „Es ist wichtig, die besondere Äußerung oder Handlung als Teil des ökologischen Subsystems, das als Kontext bezeichnet wurde, anzusehen, und nicht als Produkt oder Auswirkung dessen, was vom Kontext übrigbleibt, nachdem das Stück, das wir erklären wollen, aus ihm herausgeschnitten wurde.“ Die in diesem Buch aufgeworfenen Fragen betreffen die Ökologie: Was ist die Natur menschlicher Wesen? Wie findet eine Wechselwirkung zwischen Ideen statt? Wie wissen wir, was wir meinen zu wissen? Was ist Psychotherapie, was die Quelle effektiver Therapie? Was ist die grundsätzliche Natur von Sprache und Kommunikation? Warum ein Meisterwerk der Psychotherapie? Gregory Bateson arbeitete und forschte von 1949 bis 1962 als Ethnologe am Veterans Administration
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B Hospital in Palo Alto und veröffentlichte ab dieser Zeit unter anderem seine Studienergebnisse zu Lernen und Kommunikation, zu einer Theorie der Schizophrenie, einer Theorie des Alkoholismus, einer „Kybernetik des Selbst“. Kybernetik – als Teil einer allgemeinen Wissenschaft von Mustern, Regelkreisen und Organisationsformen – ist für ihn die angemessene epistemologische Grundlage und Sprache, mit der persönliche und gesellschaftliche Veränderung beschrieben und konzipiert werden kann. Bateson verwendet Systemtheorie, Kybernetik und Kommunikationstheorie als heuristische Modelle der Untersuchung von Familieninteraktionen. Der Systemtheorie entsprechend fordert er nicht-kausale Stimmigkeit anstelle eines linearen oder wechselseitigen Verursachungsdenkens. Folgende Konzepte der systemischen Familientherapie sind wesentlich auf Batesons Arbeit zurückzuführen: Das Konzept einer kybernetischen Epistemologie: die Beobachtung und Beschreibung, wie Menschen ihre Erkenntnisgewohnheiten konstruieren und aufrechterhalten Die Bedeutung des Kontextes und der Kontextmarkierung für das Verständnis von Handlungen und Äußerungen Die Wahrnehmung von rekursiven Mustern in Interaktionsprozessen Das Konzept des „Double-bind“ Die Bedeutung von Unterschiedsbildungen und Musterunterbrechungen im therapeutischen Handeln Interpunktion und doppelte Beschreibung in Beziehungsmustern und Wirklichkeitskonstruktionen Die komplementäre Beziehung von Veränderung und Stabilität Bateson beschreibt psychische Gesundheit nicht als individuelles Phänomen, sondern als adäquate Anerkennung des Beziehungszusammenhanges und vollzieht damit einen Wandel von einer individuellbiographischen Sichtweise zu einer kontextuellen Perspektive. Die kontextspezifische und kybernetische Beschreibung von Problemsystemen verdeutlicht, dass die Therapieeinheit nicht das Individuum, das Paar, die Familie, die Gruppe ausmacht – die Kybernetik bezieht sich auf den Geist, oder anders ausgedrückt, auf die Beziehungen und Bedeutungsgebungen, auf die Muster, die verbinden. Bateson betrachtet menschliche Pathologie als Folge epistemischer Irrtümer: 1. der Glaube an Objektivität 2. Beteiligen an Handlungen, die die Zirkularität eines Systems außer Acht lassen 3. Versuche, ein komplexes System zu kontrollieren Die Vielfalt der Fragestellungen und Forschungsfelder, die Bateson in diesem Buch anbietet, machen es den LeserInnen nicht immer leicht zu folgen, bieten jedoch eine fast unerschöpfliche Menge von Ideen und Anregungen, das eigene therapeutische Denken und Handeln selbstkritisch zu reflektieren – somit eine heilsame Kost für jede Versuchung einer therapeutischen Hybris. Juliane Kleibel-Arbeithuber 23
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Judith S. Beck: Praxis der Kognitiven Therapie 9GKPJGKO$GNV\
as Buch ist – wie der Titel verspricht – von Beginn an so verfasst, dass der Leser zur Betrachtung seiner eigenen Gedankengänge angeregt wird und somit unmittelbar nachvollziehen kann, wie sich die praktische Arbeit mit kognitiven Vorgängen anfühlen kann. Anhand eines Fallberichtes wird dann nicht nur das therapeutische Konzept samt theoretischen Grundannahmen und Behandlungsprinzipien dargestellt, sondern vielmehr der Therapieprozess in allen Details greifbar gemacht. Die Autorin bedient sich dazu zahlreicher „Wort-zu-Wort“-Transkripte einzelner Therapiesitzungen aus der Arbeit mit einer jungen Frau, ergänzt um jene grafischen Hilfsmittel, die in Form von Protokollen und Skizzen der Patientin einen Teil ihrer eigenen inneren Vorgänge vor Augen führten. Nachdem ein individuelles kognitives Fallkonzept gemeinsam erarbeitet wurde, macht die Autorin die Art ihrer Therapieplanung von Stunde zu Stunde in einer Weise transparent, dass Ziel und Struktur einer jeden Sitzung in ihrer prozessimmanenten Logik nachvollziehbar werden. Der Umgang mit Problemen und spontan auftretenden Abweichungen von der geplanten Vorgangsweise bleibt nah und einfühlsam an den Bedürfnissen der Patientin, aber ebenso unbeirrbar führt er zurück zur grundsätzlich eingeschlagenen therapiewirksamen Richtung. Ein hohes Ausmaß schriftlicher Auseinandersetzung mit sich selbst wird von der Patientin gefordert, meist in vorstrukturierter Form als Hausaufgabe zwischen den Sitzungen. Allgemein werden in der Kognitiven Therapie auf diese Weise eigene Gedanken und die damit einhergehenden Gefühle Stufe für Stufe tiefergehend bewusst gemacht – von situativen „hot cognitions“ bis hin zu problematischen Grundannahmen über die eigene Person. Damit werden sie zugänglich für eine gezielte Veränderung mit Hilfe einer der zahlreichen vorgestellten und lebensnah durch Gesprächsprotokolle illustrierten Techniken. Transparenz des Vorgehens, Nachvollziehbarkeit der Auswahl von (Zwischen-)Zielen und Greifbarkeit jener Behandlungsmomente, die effizient Veränderung anregen, zeichnen das Buch von Anfang bis zum Ende aus. Der Ansatz der Kognitiven Therapie wird so in seiner Geschlossenheit und Homogenität erfahrbar. Judith Beck ist die Tochter von Aaron T. Beck (geboren 1921), der an der University of Pennsylvania als Psychiater lehrt und forscht und der die Kognitive Therapie in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts als innovative Neuerung mit verhaltenstherapeutischen Wurzeln entwickelt hat. Judith Beck leitet das „Beck Institute for Cognitive Therapy and Research“, das neben Forschungs- auch Ausbildungszwecken dient – sie ist somit eng mit den praktischen Fragen der Umsetzung dieses Therapieansatzes vertraut.
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B Obwohl Aaron T. Beck ursprünglich meist mit depressiven Patienten arbeitete, weitete sich das auf kognitive Vorgänge hin orientierte Konzept auf fast alle psychischen Störungen aus und zog ebenso viele störungsspezifische Publikationen unterschiedlichster Autoren über Durchführung und nachweisliche Effizienz des Ansatzes nach sich. Das hier besprochene Buch von Judith Beck zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass unabhängig von der vorliegenden Problematik die Kognitive Therapie als gleichermaßen allgemeiner wie auch auf die individuelle Persönlichkeit abgestimmter Behandlungsansatz dargestellt wird. Den Ausführungen der Autorin sieht man an, dass all die Jahre der Entwicklung und Auseinandersetzung mit Kritik – etwa an einem zu kurz tretenden Verständnis von Emotionalität – zu einer nunmehr abgerundeten und abgeschliffenen Form des Ansatzes geführt haben. Sie reduziert die Beschreibungen des Therapieprozesses auf das für die Veränderungswirkung Wesentliche, was zu einer neuerlichen Verdichtung aller bisherigen Aussagen zur Kognitiven Therapie führt. Gleichzeitig wird in der Vielschichtigkeit der therapeutischen Gesprächsführung offensichtlich, dass dieser Ansatz keineswegs die Komplexität menschlichen Leidens simplifiziert, sondern sie in subtiler Form der möglichen Veränderung erschließt. Auch wenn es manchem Leser schwerfallen wird, sich auf die durchgängige Strukturiertheit des Ansatzes einzulassen (zumal, wie schon erwähnt, besonders der intensive Gebrauch schriftlicher Hilfsmittel zur Selbsterkundung als zentraler Wirkmechanismus herausgestrichen wird), ist davon unabhängig die Authentizität der Herangehensweise zu würdigen. Von zwei Generationen getragen hat sich ein Stil therapeutischer Hilfestellung herauskristallisiert, der in sich stimmig ist und daher große Überzeugungskraft besitzt. Erwin Parfy
Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw, Gary Emery: Cognitive therapy of depression *TUIXQP/KEJCGN,/CJQPG[ 0GY;QTM)WKNHQTF2TGUU
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n „Cognitive therapy of depression“ wird die psychotherapeutische Behandlung der Depression sehr ausführlich beschrieben. In verständlicher Weise werden dem Leser durch ein Wechselspiel von Theorie, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fallbeispielen nicht nur sehr anschaulich Einblicke in die Praxis der kognitiven Therapie gegeben, sondern es wird auch Basiswissen über die Entstehung der Depression vermittelt. Wie Aaron T. Beck im Vorwort erläutert, repräsentiert die Publikation jahrelange Forschung und klinische Praxis und ist so in vielerlei Hinsicht das Produkt von Beiträgen zahlreicher Kliniker und Forscher. 25
B Obwohl Aaron T. Beck ursprünglich meist mit depressiven Patienten arbeitete, weitete sich das auf kognitive Vorgänge hin orientierte Konzept auf fast alle psychischen Störungen aus und zog ebenso viele störungsspezifische Publikationen unterschiedlichster Autoren über Durchführung und nachweisliche Effizienz des Ansatzes nach sich. Das hier besprochene Buch von Judith Beck zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass unabhängig von der vorliegenden Problematik die Kognitive Therapie als gleichermaßen allgemeiner wie auch auf die individuelle Persönlichkeit abgestimmter Behandlungsansatz dargestellt wird. Den Ausführungen der Autorin sieht man an, dass all die Jahre der Entwicklung und Auseinandersetzung mit Kritik – etwa an einem zu kurz tretenden Verständnis von Emotionalität – zu einer nunmehr abgerundeten und abgeschliffenen Form des Ansatzes geführt haben. Sie reduziert die Beschreibungen des Therapieprozesses auf das für die Veränderungswirkung Wesentliche, was zu einer neuerlichen Verdichtung aller bisherigen Aussagen zur Kognitiven Therapie führt. Gleichzeitig wird in der Vielschichtigkeit der therapeutischen Gesprächsführung offensichtlich, dass dieser Ansatz keineswegs die Komplexität menschlichen Leidens simplifiziert, sondern sie in subtiler Form der möglichen Veränderung erschließt. Auch wenn es manchem Leser schwerfallen wird, sich auf die durchgängige Strukturiertheit des Ansatzes einzulassen (zumal, wie schon erwähnt, besonders der intensive Gebrauch schriftlicher Hilfsmittel zur Selbsterkundung als zentraler Wirkmechanismus herausgestrichen wird), ist davon unabhängig die Authentizität der Herangehensweise zu würdigen. Von zwei Generationen getragen hat sich ein Stil therapeutischer Hilfestellung herauskristallisiert, der in sich stimmig ist und daher große Überzeugungskraft besitzt. Erwin Parfy
Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw, Gary Emery: Cognitive therapy of depression *TUIXQP/KEJCGN,/CJQPG[ 0GY;QTM)WKNHQTF2TGUU
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n „Cognitive therapy of depression“ wird die psychotherapeutische Behandlung der Depression sehr ausführlich beschrieben. In verständlicher Weise werden dem Leser durch ein Wechselspiel von Theorie, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fallbeispielen nicht nur sehr anschaulich Einblicke in die Praxis der kognitiven Therapie gegeben, sondern es wird auch Basiswissen über die Entstehung der Depression vermittelt. Wie Aaron T. Beck im Vorwort erläutert, repräsentiert die Publikation jahrelange Forschung und klinische Praxis und ist so in vielerlei Hinsicht das Produkt von Beiträgen zahlreicher Kliniker und Forscher. 25
B Das 425 Seiten umfassende Werk ist in 18 Kapitel gegliedert, wovon das erste einen Überblick gibt über das Problem der Depression, den Wert der Psychotherapie, die Definition der kognitiven Therapie, kognitive Modelle der Depression, Voraussetzungen zur Durchführung kognitiver Therapie bei Depression, Grenzen der kognitiven Therapie wie auch über mögliche Fehler, die Therapeuten beim Erlernen der kognitiven Therapie häufig unterlaufen. In den weiteren Kapiteln beschäftigen sich die Autoren sehr ausführlich mit der Rolle der Emotionen in der kognitiven Therapie und der therapeutischen Beziehung. Es folgt eine präzise Darstellung der Strukturierung des therapeutischen Gespräches, des Erstgespräches und des typischen Ablaufes der Therapie. Der Text zeigt poiniert die spezifischen Techniken, wann, wie und bei welchen Patienten sie angewandt werden, aber auch welche Probleme dabei entstehen können – immer unterlegt mit praktischen Fallbeispielen, sodass der Leser sich mitten im Geschehen befindet. Es werden die Vor- und Nachteile der kognitiven Gruppentherapie für Patienten mit Depressionen aufgezeigt und Studien reflektiert, die kognitive Gruppen- mit kognitiver Einzeltherapie verglichen haben. So wird auch das neuralgische Thema „Kognitive Therapie und Antidepressiva“ beleuchtet. Im Anhang darf sich der Leser noch ein Bild über sämtliche Materialien machen, wie das „Beck-Depressions-Inventar“ oder die „Skala für suizidale Gedanken“, um nur zwei zu nennen. Form und Inhalt des Buches erinnern an eine spannende Romanlektüre; man legt es nur ungern zur Seite. Der Leser hat den Eindruck, in jeden versteckten Winkel des Genres Psychotherapie Einblick zu erhalten. „Cognitive therapy of depression“ ist ein umfassendes Standardwerk, das sowohl dem sich in Ausbildung befindenden als auch dem schon lange Praktizierenden der Psychotherapie als Nachschlagewerk und Leitfaden dient. Christina Boulgaropoulos
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Gaetano Benedetti: Todeslandschaften der Seele #WƂCIG)ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG#NKGPC\KQPGGRGTUQPC\KQPGPGNNCRUKEQVGTCRKCFGNNC OCNCVVKCOGPVCNG 6QTKPQ'KPCWFK
er Autor gibt in diesem Buch einen glänzenden Einblick in die Welt eines an Schizophrenie erkrankten Menschen. Inhaltlich ist es in drei große Kapitel eingeteilt: die Psychopathologie, die Psychodynamik und die Psychotherapie der Schizophrenie. Das erste Kapitel widmet sich den Begriffsbestimmungen, den Symptomen und der Äußerung dieser. Dies bildet eine gute Grundvoraussetzung dafür, um den weiteren Punkten in diesem Buch folgen zu können. Das darauf folgende Kapitel der Psychodynamik beschäftigt sich mit den vielen
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B Das 425 Seiten umfassende Werk ist in 18 Kapitel gegliedert, wovon das erste einen Überblick gibt über das Problem der Depression, den Wert der Psychotherapie, die Definition der kognitiven Therapie, kognitive Modelle der Depression, Voraussetzungen zur Durchführung kognitiver Therapie bei Depression, Grenzen der kognitiven Therapie wie auch über mögliche Fehler, die Therapeuten beim Erlernen der kognitiven Therapie häufig unterlaufen. In den weiteren Kapiteln beschäftigen sich die Autoren sehr ausführlich mit der Rolle der Emotionen in der kognitiven Therapie und der therapeutischen Beziehung. Es folgt eine präzise Darstellung der Strukturierung des therapeutischen Gespräches, des Erstgespräches und des typischen Ablaufes der Therapie. Der Text zeigt poiniert die spezifischen Techniken, wann, wie und bei welchen Patienten sie angewandt werden, aber auch welche Probleme dabei entstehen können – immer unterlegt mit praktischen Fallbeispielen, sodass der Leser sich mitten im Geschehen befindet. Es werden die Vor- und Nachteile der kognitiven Gruppentherapie für Patienten mit Depressionen aufgezeigt und Studien reflektiert, die kognitive Gruppen- mit kognitiver Einzeltherapie verglichen haben. So wird auch das neuralgische Thema „Kognitive Therapie und Antidepressiva“ beleuchtet. Im Anhang darf sich der Leser noch ein Bild über sämtliche Materialien machen, wie das „Beck-Depressions-Inventar“ oder die „Skala für suizidale Gedanken“, um nur zwei zu nennen. Form und Inhalt des Buches erinnern an eine spannende Romanlektüre; man legt es nur ungern zur Seite. Der Leser hat den Eindruck, in jeden versteckten Winkel des Genres Psychotherapie Einblick zu erhalten. „Cognitive therapy of depression“ ist ein umfassendes Standardwerk, das sowohl dem sich in Ausbildung befindenden als auch dem schon lange Praktizierenden der Psychotherapie als Nachschlagewerk und Leitfaden dient. Christina Boulgaropoulos
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Gaetano Benedetti: Todeslandschaften der Seele #WƂCIG)ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG#NKGPC\KQPGGRGTUQPC\KQPGPGNNCRUKEQVGTCRKCFGNNC OCNCVVKCOGPVCNG 6QTKPQ'KPCWFK
er Autor gibt in diesem Buch einen glänzenden Einblick in die Welt eines an Schizophrenie erkrankten Menschen. Inhaltlich ist es in drei große Kapitel eingeteilt: die Psychopathologie, die Psychodynamik und die Psychotherapie der Schizophrenie. Das erste Kapitel widmet sich den Begriffsbestimmungen, den Symptomen und der Äußerung dieser. Dies bildet eine gute Grundvoraussetzung dafür, um den weiteren Punkten in diesem Buch folgen zu können. Das darauf folgende Kapitel der Psychodynamik beschäftigt sich mit den vielen
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B Gesichtern der Schizophrenie, ausführlich werden hier zum Beispiel die Wahnbildungen, die Identitätskonfusion und die Beteiligung des Ich und Über-Ich am schizophrenen Prozess beschrieben. Ein kurzes, aber sehr interessantes Unterkapitel wird dem Titel des Buches gewidmet: den Todeslandschaften. Benedetti versteht darunter Leerräume, in denen essentielle menschliche Grundmuster nicht zu ihrer vollen Entwicklung kommen konnten. Auch fehlt es an Verdrängungsmechanismen im Sinne der klassischen Psychoanalyse und der Autor vergleicht die von ihm genannten Todeslandschaften mit „schwarzen Löchern“ aus dem Begriffsbereich der Astronomie. Benedettis Ausführungen sind sehr genau und ausführlich, das ganze Buch ist in zahlreiche Unterkapitel aufgeteilt, die aufeinander aufbauen und so ein Verstehen vereinfachen. Er wirft viele Fragen auf wie zum Beispiel im letzten Drittel des Buches. Hier beschäftigt er sich mit der Fragestellung, ob die Gegenübertragung nicht ein negatives Phänomen sei und die Gegenidentifikation störe. Abschließend betont der Autor die Wichtigkeit der Psychotherapie der Schizophrenie für die Neurosentherapie und für die Psychiatrie im Allgemeinen. Wer einen fundierten Einblick in die Welt der Schizophrenie bekommen möchte, sollte dieses Buch gelesen haben. Benedettis Ausführungen sind genau und sehr differenziert, ein wirkliches Bemühen, sich in diese Patienten einzufühlen und diese zu verstehen, ist deutlich spürbar. Er schafft es, dass der Leser einen wirklichen Zugang zu dieser Materie findet und dadurch einen anderen Blickwinkel bekommt. Selten hat ein Buch mir ein Störungsbild so gut beschrieben und auch gleichzeitig meine Neugierde geweckt. Nun könnte man sich auch die Frage stellen, wo sind meine eigenen Todeslandschaften? Wo sind die Orte in meiner Seele, zu denen ich keinen Zugang kenne, die unterentwickelt sind und deren Existenz ich vielleicht verleugne. Dieses Buch gibt einen Impuls, sich selbst mit diesen eigenen Anteilen auseinanderzusetzen und die eigenen dunklen Orte zu erforschen. Auf jeder Seite dieses Buches ist bemerkbar, wie sehr Benedetti bemüht ist, neue Sichtweisen, Ideen und Konzepte zu beschreiben, um so Verstehenszugänge zu verbessern für den praktizierenden Therapeuten, aber auch für den interessierten Laien. Um dieses Buch zu verstehen und in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, wäre ein psychoanalytisches Vorwissen zu empfehlen. Auf der Titelseite dieser Ausgabe ist das Bild „Der Wahnsinn“ zu sehen, es wurde von einer schizophrenen Patientin gemalt. Ein eindrucksvolles Bild, das einem bewusst macht, dass diese Menschen in einer ständigen Grenzlandschaft existieren und dieses Buch uns einen kurzen Einblick in diese gewährt, genau aus diesem Grund zählt es für mich eindeutig zu den 100 Meisterwerken. Michaela Heger
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Eric Berne: Spiele der Erwachsenen
Psychologie der menschlichen Beziehungen #WƂCIG4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG)COGURGQRNGRNC[VJGRU[EJQNQI[QHJWOCP TGNCVKQPUJKRU 0GY;QTM)TQXG2TGUU
er amerikanische Autor Eric Berne demonstriert in seinem Buch seine entwickelte These von der Neigung des Menschen, sein Leben im privaten Bereich als ständiges Spiel zu leben. Er beschreibt 36 solcher Spiele durch Beispiele im Alltagsleben im 2. Kapitel und teilt die Spiele ein in: Lebens-, Ehe-, Party-, Sex-, Räuber-, Doktor- und Gute Spiele. Im 1. Kapitel erörtert er die theoretischen Grundlagen der Struktur- und Transaktionsanalyse mit ihren Verfahren, Ritualen und Arten von Zeitvertreib und die Definition seiner Spieltheorie. Berne geht von Ich-Zuständen im Verhalten des Individuums aus, die nicht nur als „Rollen“ zu betrachten, sondern als psychologische Realitäten zu werten sind: dem Eltern-, Erwachsenen- und Kindheits-Ich. Diese drei Persönlichkeitsaspekte finden sich in jedem Individuum. Besteht in dieser Struktur zwischen den Ich-Zuständen ein Ungleichgewicht, ergibt sich die Notwendigkeit einer Analyse bzw. Reorganisation. In einem sozialen System begegnen zwei oder mehrere Menschen einander, diese sozialen Verbindungen bezeichnet man als „Transaktion“. Die Transaktionsanalyse versucht zu ergründen, welcher Ich-Zustand die Transaktion ausgelöst hat und welcher die Reaktion auf diese Transaktion vollzogen hat. Zum Beispiel: Ein krankes Kind bittet um ein Glas Wasser, die Mutter, die es pflegt, bringt es ihm: Die Reaktion der Mutter ist der Situation angemessen und wird allgemein erwartet. Berne spricht dabei von einer „Komplementär-Transaktion“. Ein Spiel besteht daher aus einer Folge von Komplementär-Transaktionen, die zu ganz bestimmten, voraussagbaren Resultaten führen. Berne befasst sich im vorliegenden Buch mit den unbewussten Spielen, die in gestörten oder komplizierten Transaktionen eine Rolle spielen, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Am Beispiel vom Spiel des „Alkoholikers“, einer klassischen Situation, die im Buch präsentiert wird, sollen Bernes Thesen erklärt werden. Bei Berne fällt dieses Spiel in die Kategorie der Lebensspiele. Er klassifiziert die Rolle des Alkoholikers unter Lebensspiele, weil es Einfluss auf das Schicksal anderer und auf ein ganzes Leben nehmen kann. Meist ist es ein 5-seitiges Spiel. C. war ein Spiegeltrinker und er spielt die Hauptrolle des „Alkoholikers“. Die wichtigste Nebenrolle als „Nörgler“ spielt die Ehefrau M. Die 3. Rolle spielt sein Psychiater in der Rolle des „Retters“, die 4. Rolle spielt C.s Mutter, der „stumme Helfer“, und schließlich die 5. Rolle der Wirt seines Stammlokals, der „Verbindungsmann“, der ihn mit ausreichend Alkohol versorgt. Tatsächlich war es, wie Berne ausführt, in den ersten Phasen dieser Ehe so, dass die Frau C.s alle drei Nebenrollen spielte, sie nörgelte am Abend über sein unkontrolliertes Trinkverhalten (Nörglerin), am
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B Morgen kochte sie ihm Kamillentee und pflegte ihn während seines Entzuges (stummer Helfer) und flehte ihn an, sich zu bessern und zukünftig mit dem Trinken aufzuhören (Retter). Dieses Spiel zog sich eine ganze Weile hin. In den späteren Phasen dieser Ehe war sie es schließlich leid zu nörgeln, da sie sah, dass ihr Verhalten nichts nutzte, und resignierte letztendlich, wenn sie ihn trinken sah: Die Rollen des Nörglers und des Retters fielen daher weg. Daraufhin suchte C. sich andere Retter in Form eines Psychiaters und andere Nörgler wie Freunde und sich selbst, weil er sah, dass sich das Rollenverhalten seiner Frau und damit die Spielregeln veränderten. Berne zeigt auf, dass Trinken bei diesem Spiel im Grunde nur als Nebenprodukt Freude und zusätzliche Vorteile bringt, erst im Zuge des Trinkprozesses kommt es zum eigentlichen Kulminationspunkt, dem „Kater“ am „Morgen danach“. Er besteht darin, dass ihm die anderen Rollen die ersehnte Verzeihung gewähren. Zu diesem Zeitpunkt hatte M. aufgehört zu schimpfen und ihm zu verzeihen, weil sie aufgegeben hatte, ihn zu retten. Daher tauschte C. die Nebenrollen aus. Helfende Organisationen wie Anonyme Alkoholiker oder psychologische Beratungsstellen boten ihm auch unbegrenzte Gelegenheit dazu. Daher gilt es nach Berne bei der therapeutischen Behandlung den Alkoholiker nicht von seiner Trunksucht, von der der Alkoholiker oft im Zusammenhang mit seinen Nörglern spricht (C. sprach bei seiner Behandlung dauernd von M.), sondern hauptsächlich von dem durch das Trinken verursachten Leiden zu befreien. Das Transaktionsziel des Alkoholikers besteht darin, eine Lage herbeizuführen, in der seinem Kindheits-Ich ernste Vorhaltungen gemacht werden können. Nicht nur vom eigenen Eltern-Ich, sondern auch vom Eltern-Ich der sozialen Umwelt. Die Therapie sollte sich daher auf den Morgen danach, also auf das Selbstmitleid und die Selbstkasteiung konzentrieren. Er muss vorerst lernen, selbst den Retter (ErwachsenenIch) zu spielen. Die Heilung ist letztendlich vollzogen, wenn das Spiel gänzlich aufgegeben wird, anstatt einfach nur von einer Rolle in die andere hinüberzuwechseln. Nur hat es sich bei den Untersuchungen als ziemlich schwierig erwiesen, wie auch bis heute bei C., irgendetwas ausfindig zu machen, das für ihn interessanter ist als die Fortsetzung seines Spieles. Das Heilungsziel der Spielanalytiker besteht darin, dass der ehemalige Alkoholiker in Gesellschaft alkoholische Getränke zu sich nehmen kann, ohne einen Rückfall zu erleiden und ohne ein Abstinenzler zu werden. Dieses Buch hat mich wie viele tausende Leser begeistert, da man sich selbst in dem einen oder anderen Fallbeispiel finden kann und es zum Nachdenken über die jeweiligen Verhaltensmuster anregt. Wir alle spielen diese Spiele täglich, ohne uns dessen bewusst zu sein. Diese Thesen helfen, das Unbewusste bewusster zu machen und damit den Weg zu einer konstruktiveren Lebensweise zu finden. Berne stellt die verschiedenen Spiele der Erwachsenen als fortlaufende Einzelaktionen, also als Komplementär-Transaktionen dar, die aber von verdeckten Motiven beherrscht sind und bestimmte Nutzeffekte für die Spieler beinhalten. Daher unterscheiden sie sich von Verfahren, Ritualen und aller Art von Zeitvertreib, die nach ihrem Wesen offen und ehrlich 29
B sind. Berne benennt in der Lektüre seine aufgeführten Spiel-Fallbeispiele mit Phrasen und kürzt diese ab, wie das typische Ehespiel „Wenn du nicht wärst“ (WEDUNIW). Dabei geht es meist um ein zweiseitiges Spiel, um eine in ihrem Handlungsbereich eingeschränkte Ehefrau und einen tyrannischen Ehemann. Berne stellt bei seinen Spiel-Analysen zuerst die These auf, das heißt die Beschreibung des Spiels, stellt dann eine Antithese auf, einen Beweis für das Spiel, und sucht das Ziel, das heißt den Sinn und Zweck des Spiels. Er beleuchtet die Ich-Zustände bzw. Rollen, die zugrunde liegende Dynamik mit Beispielen und stellt ein Transaktions-Paradigma auf, ein typisches Beispiel mit den psychologischen und sozialen Ebenen und ihren Einzelaktionen. Daraus filtert er die inneren und äußeren Nutzeffekte. Das heißt, im Beispiel von WEDUNIW wird die Ehefrau durch ihr Verhalten vor ihrer Angst im Inneren, eigene Verantwortung zu übernehmen, bewahrt und vermeidet dami,t in die äußere Situation zu geraten, vor der sie sich fürchtet. Das Motiv ist hier die Furcht vor der Öffentlichkeit, daher unterwirft sie sich dem strengen Reglement des Gatten und erwirbt dabei das Privileg zu sagen „Wenn du nicht wärst …“. Eric Bernes Beschreibung der Transaktionsanalyse ist eine wissenschaftlich kompetente und durch die zahlreichen Beispiele sehr gut gelungen. Im Zuge des Lesens kann man einen Zuwachs an Erkenntnis in eigenen persönlichen Krisensituationen des Alltags gewinnen. Monika Millecker
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Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[ VKUEJGT8GTNCI
as erste Kapitel „Von der Pädagogik“ gleicht einer kritischen Bestandsaufnahme dessen, was an Ansprüchen, Befürchtungen, Möglichkeiten von verschiedenen Interessengruppen an die Pädagogik herangetragen wird. Um die inneren und äußeren Gr enzen der Erziehung bestimmen zu können, um den Status quo von Spekulationen und irrationalen Zielsetzungen zu verlassen, fordert Siegfried Bernfeld eine Erziehungswissenschaft, die Ziele, Mittel und Handlungen reflektiert, prüft und gegebenenfalls modifiziert. Der Autor spricht von einer Rationalisierung der Erziehung als Sinn und Funktion der Pädagogik. Am Beispiel der Didaktik als Teildisziplin der Pädagogik zeigt Siegfried Bernfeld, dass es sich hierbei um ein Betätigungsfeld handelt, wo die Aufgaben im Sinne des Rationalisierungsprozesses klar und kontrollier-
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B sind. Berne benennt in der Lektüre seine aufgeführten Spiel-Fallbeispiele mit Phrasen und kürzt diese ab, wie das typische Ehespiel „Wenn du nicht wärst“ (WEDUNIW). Dabei geht es meist um ein zweiseitiges Spiel, um eine in ihrem Handlungsbereich eingeschränkte Ehefrau und einen tyrannischen Ehemann. Berne stellt bei seinen Spiel-Analysen zuerst die These auf, das heißt die Beschreibung des Spiels, stellt dann eine Antithese auf, einen Beweis für das Spiel, und sucht das Ziel, das heißt den Sinn und Zweck des Spiels. Er beleuchtet die Ich-Zustände bzw. Rollen, die zugrunde liegende Dynamik mit Beispielen und stellt ein Transaktions-Paradigma auf, ein typisches Beispiel mit den psychologischen und sozialen Ebenen und ihren Einzelaktionen. Daraus filtert er die inneren und äußeren Nutzeffekte. Das heißt, im Beispiel von WEDUNIW wird die Ehefrau durch ihr Verhalten vor ihrer Angst im Inneren, eigene Verantwortung zu übernehmen, bewahrt und vermeidet dami,t in die äußere Situation zu geraten, vor der sie sich fürchtet. Das Motiv ist hier die Furcht vor der Öffentlichkeit, daher unterwirft sie sich dem strengen Reglement des Gatten und erwirbt dabei das Privileg zu sagen „Wenn du nicht wärst …“. Eric Bernes Beschreibung der Transaktionsanalyse ist eine wissenschaftlich kompetente und durch die zahlreichen Beispiele sehr gut gelungen. Im Zuge des Lesens kann man einen Zuwachs an Erkenntnis in eigenen persönlichen Krisensituationen des Alltags gewinnen. Monika Millecker
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Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[ VKUEJGT8GTNCI
as erste Kapitel „Von der Pädagogik“ gleicht einer kritischen Bestandsaufnahme dessen, was an Ansprüchen, Befürchtungen, Möglichkeiten von verschiedenen Interessengruppen an die Pädagogik herangetragen wird. Um die inneren und äußeren Gr enzen der Erziehung bestimmen zu können, um den Status quo von Spekulationen und irrationalen Zielsetzungen zu verlassen, fordert Siegfried Bernfeld eine Erziehungswissenschaft, die Ziele, Mittel und Handlungen reflektiert, prüft und gegebenenfalls modifiziert. Der Autor spricht von einer Rationalisierung der Erziehung als Sinn und Funktion der Pädagogik. Am Beispiel der Didaktik als Teildisziplin der Pädagogik zeigt Siegfried Bernfeld, dass es sich hierbei um ein Betätigungsfeld handelt, wo die Aufgaben im Sinne des Rationalisierungsprozesses klar und kontrollier-
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B bar sind. Die Didaktik müsste nur ihre Selbstbeschränkung des Denkens aufgeben, so der Autor, und durch eine „Instituetik“ ergänzt werden, die das Schulwesen als Ganzes erfasst. Man würde erkennen, und das ist der zentrale Gedanke, dass die Institution Schule Ergebnis von ökonomischen Bedingungen und daraus entstehenden Werthaltungen ist und bestehende Verhältnisse aufrechterhält. Die Schule erzieht als Institution, ein Gedanke, der später genauer ausgeführt werden wird. Während Siegfried Bernfeld der bestehenden Didaktik noch etwas abgewinnen kann, spricht er der Pädagogik aufgrund fehlender Erfahrung und Methodik jede Wissenschaftlichkeit ab. Um die Instrumentalisierung der unwissenschaftlichen Pädagogik für bestimmte soziale und gesellschaftliche Zwecke zu verstehen, analysiert Siegfried Bernfeld im zweiten Kapitel Voraussetzung und Funktion der Erziehung. Die soziale Funktion der Erziehung ist die Erhaltung der Struktur einer Gesellschaft. Die Gesellschaft reagiert, so der Autor, auf die „Entwicklungstatsache“, dass die Kinder nach der Geburt noch körperlich, geistig und sozial reifen müssen. Siegfried Bernfeld zeigt am Beispiel von Initiationsriten verschiedener Kulturen, dass diese erste organisierte Kollektivmaßnahmen von Erwachsenen gegenüber Kindern sind. Durch Erziehung werden innerpsychische Strukturen geschaffen, die Denken, Handeln und Fühlen bestimmen. Die „Zerschlagung der Mutter-Kind-Gruppe“, die Versagung auf Triebbefriedigung durch Angst, Strafe und Umbau der „Ichstruktur“ erfolgt durch Identifikation. Neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds, die als Grundlage einer neuen Erziehungswissenschaft dienen soll, zieht Siegfried Bernfeld das Werk von Karl Marx zum Verständnis der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung heran. Wesentlich ist nach Siegfried Bernfeld Folgendes: Die Erziehung ist auf die Wirtschaftsverhältnisse ausgerichtet, sie wird durch die Herrschaftsverhältnisse bestimmt und reproduziert diese, ohne dass dies der beherrschten Klasse bewusst wird. Die Wirtschaft selbst ist durchgehend von libidinösen Strebungen durchsetzt. Im letzten Kapitel beschäftigt sich Siegfried Bernfeld mit Mitteln, Wegen und Möglichkeiten der Erziehung. Erziehung ist – und das ist ihre soziale Grenze – in Bezug auf die Gesellschaft, wie bereits gezeigt wurde, Macht erhaltend und konservativ. Nur die Änderung der Gesellschaftsstruktur kann etwas an der Erziehungsorganisation ändern. Dazu gehört auch, dass die jungen Menschen bis ins zwanzigste Lebensjahr von der Verdienst- und Fabriksarbeit ferngehalten werden sollen, damit sie in ihrer seelischen Entwicklung nicht verarmen. Die zweite Grenze liegt im Erzieher, der aus Liebe zum Kind den Beruf wählt. Es ist eine sublimierte Form der geschlechtlichen Liebe, die sich in dieser Wahl äußert. Der Erzieher sollte sich bewusst sein, dass in der Beziehung zum Kind die ödipale Situation reaktiviert und der „Untergang des Ödipuskonfliktes“ mit all seinen Konsequenzen wiederholt wird. Die dritte Grenze liegt in der Erziehbarkeit des Kindes, in den Möglichkeiten und Grenzen seiner Beeinflussbarkeit. Wünschenswert wäre eine das Seelenleben im Sinne der Psychoanalyse verstehende und die sozialen 31
B Faktoren berücksichtigende Erziehung. Nach Siegfried Bernfeld könnte der Sozialismus eine wissenschaftliche Pädagogik ermöglichen. Siegfried Bernfelds „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ ist ein Buch, das den Blick historisch weitet und auf seelische Vorgänge richtet, die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Dimensionen von Erziehung aufdeckt und im Sinne der Psychoanalyse individuelle und kollektive Phänomene und Faktoren bestimmt, die im Bereich der Erziehung wirksam werden. Man könnte sich natürlich aufgrund der folgenden Tatsachen die Frage nach der Aktualität und Brisanz von Siegfried Bernfelds Ausführungen stellen: Die Erziehungswissenschaft hat sich als eigenes Fach an den Universitäten etabliert (das gilt zumindest in einem Fall auch für die Psychoanalyse), der Sozialismus, von dem der Autor sich vieles versprochen hat, wurde in einigen Ländern abgeschafft und hat dem Kapitalismus wieder Platz gemacht. Erziehungsfragen, besonders mit der Institution Schule verbundene, werden von den Medien als Fragen von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz diskutiert. Sind also die Grenzen der Erziehung heute andere geworden? Es lohnt sich, Siegfried Bernfelds Haltung einzunehmen, deren Ziel Desillusionierung ist, um diese Fragen für sich zu beantworten. Siegfried Bernfelds Haltung macht weder vor Größen der Pädagogik wie Rousseau oder Pestalozzi Halt, sie entidealisiert, um den Kern des Mythos herauszuschälen. An idealistischen Zielen werden auch heute Leistungen gemessen und nicht erreicht, Erziehungseinrichtungen sollen Probleme lösen, die als gesellschaftliche zu betrachten sind und die beteiligten Menschen sind immer wieder wie Sisyphos dazu verurteilt, den Stein nach oben zu rollen. Siegfried Bernfelds rhetorisch aufgeladener Stil, seine Unerschrockenheit in der Analyse gesellschaftlicher Phänomene und ihrer psychischen Korrelate könnten viele im Bereich der Pädagogik Tätige in ihrer Arbeit entlasten. Der Leser erfährt mehr über die affektiven Beziehungen zwischen Erzieher und Kind, den Grund für die Idealisierungen des Kindes und die Folgen der Wiederholung des ödipalen Prozesses. Vieles ist auch heute Unterrichtenden oder Erziehenden wahrscheinlich unbekannt. Dem Konfliktfeld Erziehung versucht man durch geeignete Maßnahmen wie durch die Wahl anderer Mittel oder durch neuere pädagogische Konzepte beizukommen, was letztlich nur Hilfskonstruktionen sind. Nicht von den Mitteln ist etwas Neues zu erwarten, wie Siegfried Bernfeld aufzeigt, sie verfehlen ihre Wirkung, wenn man den zugrunde liegenden Konflikt und die ökonomische Bedingtheit des Erziehungswesens nicht erkennt. Die libidinöse Besetzung von Kaufkraft, die Verschleierung von Klassengegensätzen, das Auseinanderdriften in verschiedene dritte und vierte Welten, von Herrschern und Beherrschten und vieles mehr stellen Siegfried Bernfelds Gedanken alles andere als überholt dar.
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B Siegfried Bernfeld zu verstehen, heißt, die eigenen Grenzen und die der Erziehung insgesamt zu erkennen, das eigene Tun zu reflektieren und von Ansprüchen Abstand zu nehmen, die nicht erfüllt werden können. Dafür findet man in diesem Buch genügend Argumente. Es ist ein Werk, das seine revolutionäre Kraft nicht eingebüßt hat und Pädagogen oder Erzieher, die sich mit der Analyse des Autors vertraut machen, aus der Gefangenschaft des Tartaros befreit, wo man mit unzulänglichen Mitteln das Immergleiche zu tun verurteilt ist. Helga Klug
John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV 'TUVCWUICDG%JKNFECTGCPFVJGITQYVJQHNQXG *CTOQPFUYQTVJ2GPIWKP$QQMU
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ohn Bowlby, Arzt und Psychoanalytiker, hat bereits in den 50er Jahren darauf hingewiesen, dass Säuglinge und Kleinkinder aufgrund von Deprivation und Unterbringung in Heimen und anderen Institutionen Entwicklungsschädigung erleiden können. Er gilt mit Mary D. Salter Ainsworth als Pionier der Bindungsforschung bzw. der Bindungstheorie. In seinem 1953 noch unter dem Originaltitel „Mutterliebe und kindliche Entwicklung“ erschienenen Werk, welches heute unter dem Namen „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ editiert wird, beschreibt der Autor in drei Teilen die schädlichen Folgen der Mutterentbehrung und die Maßnahmen, um der Mutterentbehrung vorzubeugen. Im dritten und letzten Teil des Buches beschreibt Mary D. Salter Ainsworth weitere und neue Untersuchungen über die schädlichen Folgen von Mutterentbehrung. Genauso wie wir heute mittlerweile durch zahlreiche Untersuchungen und Erfahrungen wissen, dass es für die seelische Gesundheit jedes einzelnen Kindes wichtig ist, in den ersten Lebensjahren (vor allem in den ersten 3–5 Jahren) eine warme, intensive und beständige Beziehung zu seiner Mutter (oder zu einer Mutter-Ersatz-Figur) zu erleben, so sind wir uns aber auch darüber im Klaren, dass dieses Idealbild bzw. dieser Idealzustand leider für viele Kinder nicht immer realisierbar ist. Aufgrund von Deprivation, dem unzureichenden persönlichen Kontakt zwischen Kind und Mutter bzw. Mutter-Ersatz-Figur, kann es zu unterschiedlich schweren Schäden in der Entwicklung des Kindes kommen. Dies lässt sich wahrscheinlich zum großen Teil durch die unterschiedliche Art und Schwere der Erfahrungen erklären. Laut Bowlby entwickeln Kinder, die einer Deprivation ausgesetzt gewesen sind, einen „gefühlsarmen Charakter“. Sie haben eine Beeinträchtigung der Fähigkeit, tiefe und dauerhafte Gefühlsbindungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Auch können Kinder mit solchen im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit erlebten 33
B Siegfried Bernfeld zu verstehen, heißt, die eigenen Grenzen und die der Erziehung insgesamt zu erkennen, das eigene Tun zu reflektieren und von Ansprüchen Abstand zu nehmen, die nicht erfüllt werden können. Dafür findet man in diesem Buch genügend Argumente. Es ist ein Werk, das seine revolutionäre Kraft nicht eingebüßt hat und Pädagogen oder Erzieher, die sich mit der Analyse des Autors vertraut machen, aus der Gefangenschaft des Tartaros befreit, wo man mit unzulänglichen Mitteln das Immergleiche zu tun verurteilt ist. Helga Klug
John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV 'TUVCWUICDG%JKNFECTGCPFVJGITQYVJQHNQXG *CTOQPFUYQTVJ2GPIWKP$QQMU
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ohn Bowlby, Arzt und Psychoanalytiker, hat bereits in den 50er Jahren darauf hingewiesen, dass Säuglinge und Kleinkinder aufgrund von Deprivation und Unterbringung in Heimen und anderen Institutionen Entwicklungsschädigung erleiden können. Er gilt mit Mary D. Salter Ainsworth als Pionier der Bindungsforschung bzw. der Bindungstheorie. In seinem 1953 noch unter dem Originaltitel „Mutterliebe und kindliche Entwicklung“ erschienenen Werk, welches heute unter dem Namen „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ editiert wird, beschreibt der Autor in drei Teilen die schädlichen Folgen der Mutterentbehrung und die Maßnahmen, um der Mutterentbehrung vorzubeugen. Im dritten und letzten Teil des Buches beschreibt Mary D. Salter Ainsworth weitere und neue Untersuchungen über die schädlichen Folgen von Mutterentbehrung. Genauso wie wir heute mittlerweile durch zahlreiche Untersuchungen und Erfahrungen wissen, dass es für die seelische Gesundheit jedes einzelnen Kindes wichtig ist, in den ersten Lebensjahren (vor allem in den ersten 3–5 Jahren) eine warme, intensive und beständige Beziehung zu seiner Mutter (oder zu einer Mutter-Ersatz-Figur) zu erleben, so sind wir uns aber auch darüber im Klaren, dass dieses Idealbild bzw. dieser Idealzustand leider für viele Kinder nicht immer realisierbar ist. Aufgrund von Deprivation, dem unzureichenden persönlichen Kontakt zwischen Kind und Mutter bzw. Mutter-Ersatz-Figur, kann es zu unterschiedlich schweren Schäden in der Entwicklung des Kindes kommen. Dies lässt sich wahrscheinlich zum großen Teil durch die unterschiedliche Art und Schwere der Erfahrungen erklären. Laut Bowlby entwickeln Kinder, die einer Deprivation ausgesetzt gewesen sind, einen „gefühlsarmen Charakter“. Sie haben eine Beeinträchtigung der Fähigkeit, tiefe und dauerhafte Gefühlsbindungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Auch können Kinder mit solchen im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit erlebten 33
B Erfahrungen später eine beeinträchtigte Intelligenz oder ein vermindertes Sprachvermögen haben. Bowlby war der Ansicht, dass schwere frühzeitige Deprivation irreversible Wirkungen haben kann, die auch durch positive Einflüsse im späteren Leben nicht mehr beseitigt werden können. Die Schäden der Deprivation und damit der Nachweis, dass die Entbehrung von Mutterliebe in der frühen Kindheit weitreichende Einflüsse auf die seelische Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen haben kann, stammen aus zahlreich gewonnenen Erkenntnissen aus direkten, retrospektiven und/oder begleitenden Studien, welche der Autor im ersten Teil des Buches auch zahlreich schildert und aufzeigt. Im zweiten Teil des Buches geht Bowlby ganz besonders auf präventive Maßnahmen um Mutterentbehrung vorzubeugen ein. Er schildert die wichtige Rolle der Familie und zeigt die Ursachen für das Versagen manch natürlicher Familiengruppen auf. So kann zum Beispiel eine zu Arbeitslosigkeit des Ernährers führende wirtschaftliche Situation mit nachfolgender Armut, eine chronische Krankheit oder eine Trennung/Scheidung der Eltern zu einem Versagen der Familie führen, um hier nur einige der möglichen Ursachen zu nennen. Nach Bowlby erfolgt die beste Verhütung der Deprivation dadurch, dass das Kind in seiner eigenen Familie aufwächst. Um dies zu ermöglichen, müssen alle Maßnahmen gefördert werden, die die Familienerziehung sicherstellen. Zu diesen zählt der Autor die aktive Unterstützung der Eltern auf wirtschaftlichem, sozialem und medizinischem Gebiet. Auch schildert er die Problematik, aber auch die besten Methoden für eine Unterbringung in Ersatzfamilien oder Heimen. Adoptionen beispielsweise sollten für die seelische Gesundheit des Kindes möglichst bald nach der Geburt erfolgen. Nur durch diese Maßnahme ist die Kontinuität der mütterlichen Betreuung gewährleistet. Im letzten Teil beschreibt Mary D. Salter Ainsworth manche noch immer ungelösten Probleme auf dem Gebiet der Deprivation, aber auch weitere Untersuchungen und neu gewonnene Erkenntnisse über die schädlichen Folgen der Mutterentbehrung. So haben etwa neuere Untersuchungsergebnisse gezeigt, dass Deprivationserfahrungen die geistige Entwicklung hemmen und damit die früheren Erkenntnisse von Spitz und Skeels, die zunächst auf heftige Kritik stießen, durch diese Untersuchungen vollauf bestätigt. Die Bindungstheorie spielt in der gesamten Psychotherapie seit jeher eine entscheidende und bedeutsame Rolle. Da John Bowlby und Mary Ainsworth als die Eltern der Bindungstheorie bezeichnet werden, ist das Buch über die Mutterentbehrung, deren schädliche Folgen und die Maßnahmen, um dieser vorzubeugen, ein sehr wichtiger Beitrag gewesen und fordert bis heute auf, sich auch weiterhin mit der Entwicklung und Förderung einer guten Mutter-Kind-Bindung auseinanderzusetzen, da dieses Thema vielleicht aktueller denn je ist und viele Ansätze und Ideen Bowlbys noch immer nicht verwirklicht worden sind. Vivien Langer 34
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Oliver Brachfeld: Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft $GTNKP3WGTEWU 'TUVCWUICDG.GUUGPVKOGPVUFoKPHÅTKQTKVÅ )GPÄXG#PPGOCUUG¥FKVKQPUFW/QPV$NCPE
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as Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation durch das Geltungsstreben sind zentrale Elemente der individualpsychologischen Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie. Brachfeld untersucht in seiner Habilitationsschrift die mannigfachen Erscheinungsformen der Minderwertigkeitsgefühle, und das, wie der Untertitel deutlich macht, nicht nur im Individuum, sondern auch mit Blick auf Gesellschaft und Kultur. Dementsprechend beginnt die Arbeit mit einer historischen Rückschau, die belegen soll, dass heutzutage die Welt „viel tiefer in Unsicherheit verstrickt [ist] als in vergangenen Jahrhunderten“ (S. 31). So erinnert Brachfeld an die Schutzverpflichtung adliger Herrscher gegenüber ihren Leibeigenen und an die Sicherheit, welche die Stadtmauern den Bewohnern mittelalterlicher Städte bieten konnten. Während in der bürgerlichen Familie der Moderne vom Paterfamilias Schutz und Versorgung erwartet wurde, hat der Vater in der Gegenwart an Autorität verloren. Generationskonflikte haben zugenommen, Ehen versprechen keine unbedingte Sicherheit mehr. Die Mechanisierung der Arbeitswelt macht den Arbeiter austauschbar und produziert Waren, die nur von kurzer Lebensdauer sind. All das sowie die Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit anschließender Inflation und Wirtschaftskrise erklären aus Brachfelds Perspektive, dass Gefühle der Unsicherheit zu Beginn und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders heftig empfunden wurden und der Begriff Minderwertigkeitsgefühl auf fruchtbaren Boden gestoßen ist. Wiewohl historischen Einflüssen unterliegend, handelt es sich gleichzeitig um ein ubiquitäres Phänomen, das bereits bei den dumpfen Unsicherheitsgefühlen höher entwickelter Tiere seine Analogie findet. Brachfeld nennt als Beispiel das Verhalten von Leittieren, die ihre Stellung verloren haben und fortan abseits der Herde in Feindschaft mit der Welt existieren. Doch weitaus hilfloser als alle anderen Lebewesen ist das neugeborene menschliche Kind. Der Komplexitätsgrad unserer Spezies ist verbunden mit einer langen Phase objektiver Schwäche, auf Grund deren am Anfang des Lebens ein mehr oder minder stark empfundenes Minderwertigkeitsgefühl steht. Dazu zählen etwa fehlender Gleichgewichtssinn, motorische Unzulänglichkeiten und eine Umwelt, die dem Kind riesenhaft erscheinen muss. Daher ist es Aufgabe der Erzieher, das Gefühl der Unzulänglichkeit und Schwäche abzufedern. Wird das Kind hingegen verzärtelt, vernachlässigt oder autoritär behandelt, kann im späteren Leben das Selbstwertgefühl allzu starken Schwankungen unterliegen. Brachfeld spricht in dem Fall vom „Gulliver-Komplex“ (S. 21) und meint damit, dass man sich entweder zu groß oder zu klein fühlt, zu sehr zwischen Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen schwankt – ähnlich wie es dem Titelhelden
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B aus Jonathan Swifts Roman ergeht, der auf Liliput Zwergen begegnet und auf Brobdingnag Riesen. Aus Brachfelds Sicht leidet die Tiefenpsychologie seiner Zeit daran, „dass sie sich beinahe noch immer und überall in den Händen der Ärzte und Psychotherapeuten befindet“ (S. 11), statt sich den Sozial- und Kulturwissenschaften zu öffnen. Tatsächlich spielen tiefenpsychologisch fundierte Arbeiten zu Fragen der Gesellschaft und Kultur in der heutigen Therapieausbildung, abgesehen von der analytischen Psychologie C. G. Jungs, keine große Rolle. Das ist eine Einengung des Blickwinkels, denn man sieht in der Regel nur das, was man weiß, und reduziert den Menschen auf psychische Mechanismen, sodass soziale und kulturelle Einflüsse übersehen werden. Brachfelds Verdienst ist es, dass er sich mit beidem befasst, mit der individuellen und der sozialen Seite der menschlichen Existenz, und er deutet vielfältige Möglichkeiten an, wie die Individualpsychologie für Fragen der Gesellschaft und Kultur fruchtbar gemacht werden kann. Zwei Beispiele mögen das illustrieren: 1.) Wenn der Urmensch die Wände seiner Höhle mit der Gestalt jenes Tieres bemalt, das er erlegen möchte, dann richtet sich diese Handlung „gegen das instinktive Minderwertigkeitsgefühl, das ihn beim Anblick des gefürchteten Tieres überkommt. Er will sich mit dessen Gegenwart vertraut machen, um nicht den Mut zu verlieren, wenn er ihm Auge in Auge gegenübersteht“ (S. 221). 2.) Brachfeld plädiert für eine „Ethnopsychologie der Komplexe“ (S. 304), um nationale oder ethnische Mentalitäten besser zu verstehen. Er beschreibt die Minderwertigkeitsgefühle etwa der Farbigen in den USA oder die der USBürger gegenüber Europa, aber auch den deutschen Minderwertigkeitskomplex, seine historischen Wurzeln und die Kompensation desselben durch die nationalsozialistische Vergöttlichung der „arischen Rasse“. Mit solchen und anderen Fragestellungen erweist sich Brachfeld als Vorläufer der interkulturellen Psychotherapie, die heute mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Damit wird gleichzeitig eine Antwort auf die Frage gegeben, worin der therapeutische Wert einer tiefenpsychologisch fundierten Sozial- und Kulturtheorie besteht. Eine weitere Antwort lautet, dass das Bedürfnis, den Ursachen psychischer Störungen auf den Grund zu gehen, in umfänglicherer Weise befriedigt wird, wenn man neben psychischen auch soziokulturelle Faktoren ermittelt. Doch auch Brachfelds Äußerungen zur Psychologie des Individuums weisen in die Zukunft. Wenn er Minderwertigkeitsgefühle als „eine Störung des Selbstwertgefühls“ (S. 337), ödipale Verstrickungen „als Erwiderung auf ein tiefeingewurzeltes Gefühl der Furcht, der Einsamkeit, des Schreckens“ (S. 158) bezeichnet und diese auf Unzulänglichkeiten in der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind zurückführt, dann erweisen sich seine Vorstellungen als durchaus kompatibel mit modernen psychoanalytischen Ansätzen, etwa aus dem Bereich der Objektbeziehungstheorien oder der interpersonellen Psychoanalyse. Bernd Rieken
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Michael B. Buchholz: Psychotherapie als Profession )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI
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n diesem Buch befasst sich Buchholz mit einem Problem, das die Geschichte der Psychotherapie immer wieder – in verschiedenen Mustern – durchzieht. Es ist die Frage, ob Psychotherapie – etwa analog der Medizin – als angewandte Wissenschaft von theoretischen Konzepten betrachtet werden könne und ob dies ihre „Professionalität“ bestimme. Damit verknüpft sich die Frage, wie denn bestimmt werden könne, welche Therapierichtung die „beste“ Anwendung theoretischer Kenntnisse biete und welche somit auch die erfolgreichste sei. Das Buch ist 1999 erschienen, also zu einer Zeit, als die Frage nach der Einschätzung der „besten“ Psychotherapie durch entsprechende Messinstrumente zu einem sehr verengten Gesetz betreffs Ausübung der Psychotherapie in der BRD geführt hatte – also höchste Relevanz besaß. Viele Kollegen verloren die Möglichkeit zur Ausübung ihres Berufes, weil ein recht willkürlich festgesetzter Standard an Forschungsarbeiten mit dementsprechenden Designs gerade in ihrer Therapierichtung nicht vorhanden war und sie daher von der Approbation ausschloss. In diesem Moment klärte Buchholz mit seinem Buch einige der damals gängigen Vorurteile, die übrigens auch heute noch nicht aufgehört haben, in den Köpfen herumzuspuken. Das erste dieser Vorurteile besteht darin, dass man eine „Verwissenschaftlichung“ der Psychotherapie im Sinne der Naturwissenschaften sich so vorstellte, als gäbe es theoretische Konzepte, die, empirisch abgesichert, das Kompendium des Wissens dauernd aufstocken. Der „wissenschaftlichste“ Therapeut ist dann derjenige, der sich dieses theoretische Wissen am besten zu eigen macht. Dies bedeutet dann auch, dass dieser Therapeut zu den „besten“ gehört und Psychotherapie am professionellsten betreibt. Buchholz zeigt in seiner Analyse des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf, dass man diese Relation nicht in Analogie beispielsweise zu den Grundwissenschaften in der Medizin sehen könne – ganz abgesehen davon, dass auch dort von der Theorie zur Praxis ein viel größerer Sprung besteht als allgemein angenommen und dass der „beste“ Praktiker sicher nicht gänzlich von seinem Theorieverständnis her beurteilt werden kann. Theorien in der Psychotherapie sind für Buchholz Interpretationsfolien, jeweils neue Beleuchtungen, die auf bestimmte bekannte Phänomene geworfen werden. Sie haben Anregungsfunktion, sie „bilden“ den Kliniker im Laufe seines professionellen Lebens und können (und sollten) von ihm dauernd reflektiert werden. Er kann dadurch Neues sehen und – das weist schon auf die spätere Fokussierung von Buchholz auf die Interaktionisten hin – in interaktiver Kompetenz daraufhin „testen, ob er sich mit diesen 37
B theoretischen Konzepten dem Patienten verständlich machen kann. Die verschiedenen Deutungen des Psychotherapeuten (das gilt nicht nur für Psychoanalytiker) werden so ihrer Faktizität enthoben und als interaktive betrachtet. Theorien werden auf diese Weise diskursiv immer wieder neu validiert und ohne endgültigen Abschluss immer wieder verändert. Eine andere Linie seiner Betrachtung der „Wissenschaftlichkeit“ besteht darin, dass er das Vorurteil aufhebt, es gälten bei der Beurteilung des „Erfolges“ nur die zähl- und messbaren Ergebnisse, die reliable Messinstrumente voraussetzen; dem setzt er verschiedene qualitative Methoden entgegen, die sehr oft besser geeignet sind, den Prozess der Psychotherapie abzubilden. Ohne die Bedeutung von empirischer Forschung und theoretischen Konzepten schmälern zu wollen, sieht er die Relation Profession – Wissenschaft als ein Nebeneinander und nicht als ein hierarchisches Gefüge. Was Buchholz aber als sein ureigenstes und originellstes Konzept zur Lösung der Frage, was denn nun ganz konkret die „Professionalität“ des Therapeuten ausmache, anbietet, ist etwas ganz anderes als bisher angenommen. Ausgehend von Sprachwissenschaftlern, speziell Metaphernspezialisten, geht er davon aus, dass die spezifisch professionelle Kompetenz des Psychotherapeuten darin bestehe, dass er imstande ist, Metaphern des Patienten zu verstehen, eigene Metaphern zu kreieren und anschlussfähig zu machen an die Metaphernwelt des Patienten. Damit verbindet sich natürlich auch die Bewusstheit des Therapeuten über die Metaphernhaltigkeit seiner Theorien und die damit verbundenen verbalen Schlussfolgerungen. (Wenn man den Begriff „Loch im Selbst“ verwendet, dann gelangt man zu anderen weiterführenden Bildern, als wenn man das Wort „Als-Ob-Persönlichkeit“ verwendet; spricht man etwa von einem „inneren Schatz“, wird man anders weiterdenken, als wenn man das Wort „Ressourcen“ denkt etc.) Buchholz hat mit diesem Buch grundsätzlich andere Denkmodi über den Beruf des Psychotherapeuten gefunden als vorher gängig. Er hat der „Vernaturwissenschaftlichung“ (in einem übrigens ebenfalls sehr engen Sinn) der Psychotherapie damit Einhalt geboten und die einzigartige interaktive Situation, die aufs engste verknüpft ist mit der Sprache und dem je individuellen Gebrauch der Metaphern in der Sprache, herausgestrichen. Dies ist, meiner Meinung nach, ein Meilenstein in der Diskussion über die Psychotherapie als Profession, hinter den man nicht mehr zurückgehen kann. Eva Jaeggi
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Marie Cardinal: Schattenmund 4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.GUOQVURQWTNGFKTG 2CTKU)TCUUGV
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ine junge Frau mit Vaginalblutungen und Halluzinationen kommt in die Praxis eines Psychoanalytikers. Viele verschiedene medizinische Behandlungsversuche waren fehlgeschlagen, die Psychoanalyse gewissermaßen die Ultima Ratio. Und zu ihrer Verblüffung reagiert dieser Analytiker ganz anders, als sie es bisher gewöhnt ist. Er gibt keine Anweisungen, fordert sie allerdings zum Reden auf, sie soll alles sagen, was ihr durch den Kopf geht, insbesondere natürlich auch Kindheits- und Jugenderinnerungen. Die Patientin ist eine ausgesprochen talentierte Analysandin: Sie erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in Algier, an viele kleine Details des täglichen Lebens, ihre – späten – Liebesbeziehungen, der entfernte Vater, die omnipräsente Mutter. Schließlich die Übersiedlung nach Paris und ihr Leben dort. Sie rebelliert gegen ein erstarrtes Gesellschaftssystem, die Einengungen und Verlogenheiten einer bürgerlichen Gesellschaft, die ihr andererseits auch ein sehr bequemes Leben ermöglichen. Sie analysiert die Bedingungen eines jungen Mädchens, das sich sucht und immer wieder auf hartherzige Züge ihrer Mutter trifft, der Vater stirbt, als sie 15 ist, bereits lange getrennt von ihrer Mutter, aber eine Scheinehe aufrechterhaltend. Später dann die Wiederholung, ebenfalls Trennung von ihrem Mann, sie zieht die beiden Töchter auf. Das ganze Kaleidoskop einer bürgerlichen Tragödie zeichnet sich ab. Sie zieht sich immer mehr zurück, beginnt sich selbst zu hassen und bekommt ihre, wie sich herausstellen sollte, psychosomatischen Beschwerden nicht in den Griff. Erst der Beginn ihrer Psychoanalyse, die sieben Jahre dauern sollte, gibt ihr Würde vor sich selbst zurück und hilft ihr, jene dunklen Seiten, die sie erfolgreich verdrängen musste, ihre Leidenschaften und ihre Lust am Leben wiederzufinden. Der Psychoanalytiker kommt nur selten vor in diesem Buch, das meiste liest sich als ein Monolog, der, unterbrochen von einigen Anregungen und manchmal auch deutenden Weichenstellungen, aus ihr herausfließt. Dabei wird deutlich, wie sehr sie Angst aufgebaut hatte, vor Details, aber auch Angst, ihr Leben selbstbestimmt zu leben, wenn man vom oberflächlichen Selbstmanagement einmal absieht. Diese Ängste werden dargelegt, seziert gewissermaßen und in ihrer Tiefe beschrieben. Nach Jahren der Selbstsuche in der Analyse schließlich ein neues Selbstwertgefühl, eine neue Selbstverständlichkeit, ein neues In-der-Welt-Sein. Diese Beschreibung einer dramatischen Heilung durch die Psychoanalyse ist einer der großen Romane, die von Patientinnen geschrieben wurden. Die Autorin berichtet nicht über jemanden, sondern enthüllt ihr eigenes Schicksal. Der helfende Psychoanalytiker bleibt im Schatten ihrer berührenden Biographie. Zugleich zeigt sie uns die Wirkung einer Methode, man kann immer wieder die Arbeitsweise eines Psychoanaly39
C tikers erkennen, wenn auch nicht sehr deutlich. Schließlich geht es um das Schicksal der Patientin und nicht um eine Abhandlung eines psychoanalytischen Experten. Und in dieser Weise ist dieses Werk wunderbar, weil es uns die subjektive Sichtweise der Patientin in authentischer Weise nahebringt, zudem sprachlich brillant formuliert. Alfred Pritz
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Luc Ciompi: Affektlogik
Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG
uc Ciompi unternimmt in diesem Werk den Versuch, scheinbar Gegensätzliches – Fühlen und Denken, Affekt und Kognition – zu einer Affektlogik zu vereinen, die zwischen Polaritäten oszilliert. In den ersten vier Kapiteln legt der Autor die theoretische Basis für eine ganzheitliche Sicht der Psyche. Unterschiedliche Denkmodelle und Theorien des 20. Jahrhunderts zur Erfassung psychischen und sozialen Geschehens werden dafür herangezogen. Luc Ciompi bezieht sich zunächst auf J. Piagets Ausführungen zu einer genetischen Epistemologie und die Psychoanalyse S. Freuds. Polaritäten bestimmen die Affektivität (Liebe und Hass, Eros und Thanatos etc.), aber auch die intellektuellen Funktionen. Beide Denkweisen gehen von einer „binären“, „polaren“ Grundstruktur des psychischen Geschehens aus, von einem Doppelsystem, das die Gefühle mehr dem Materiellen, das Denken dem Geistigen, Immateriellen zuordnet. Trotz aller Unterschiede interessiert den Autor die Möglichkeit, die Denkansätze von Systemtheorie und Psychoanalyse zu einer „psychoanalytischen Systemtheorie“ oder „systemorientierten Psychoanalyse“ zu verbinden. Luc Ciompi meint, dass unsere ganze Psyche aus hierarchisch organisierten, affektiv-kognitiven Bezugssystemen besteht, die unsere Wahrnehmungen ordnen und determinieren und je nach Kontext und Auslösefaktoren zu bestimmten Handlungen führen. Man könnte sich diese Bezugssysteme, so der Autor, wie ein Wegsystem vorstellen, das den Verkehr in bestimmte Bahnen lenkt. Das Bewusstsein ist nach Luc Ciompi selbst Folge eines langen Verdichtungs- und Differenzierungsprozesses, in dem Konkretes in Abstraktes, in der Zeit Erlebtes, Diachrones, in Gegenwärtiges, Synchrones, umgesetzt wird. Das alles geschieht auf der Basis des Unbewussten. Im fünften Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Fragestellung, wie Double-bind-Situationen und psychotische Störungen zusammenhängen. 40
C tikers erkennen, wenn auch nicht sehr deutlich. Schließlich geht es um das Schicksal der Patientin und nicht um eine Abhandlung eines psychoanalytischen Experten. Und in dieser Weise ist dieses Werk wunderbar, weil es uns die subjektive Sichtweise der Patientin in authentischer Weise nahebringt, zudem sprachlich brillant formuliert. Alfred Pritz
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Luc Ciompi: Affektlogik
Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG
uc Ciompi unternimmt in diesem Werk den Versuch, scheinbar Gegensätzliches – Fühlen und Denken, Affekt und Kognition – zu einer Affektlogik zu vereinen, die zwischen Polaritäten oszilliert. In den ersten vier Kapiteln legt der Autor die theoretische Basis für eine ganzheitliche Sicht der Psyche. Unterschiedliche Denkmodelle und Theorien des 20. Jahrhunderts zur Erfassung psychischen und sozialen Geschehens werden dafür herangezogen. Luc Ciompi bezieht sich zunächst auf J. Piagets Ausführungen zu einer genetischen Epistemologie und die Psychoanalyse S. Freuds. Polaritäten bestimmen die Affektivität (Liebe und Hass, Eros und Thanatos etc.), aber auch die intellektuellen Funktionen. Beide Denkweisen gehen von einer „binären“, „polaren“ Grundstruktur des psychischen Geschehens aus, von einem Doppelsystem, das die Gefühle mehr dem Materiellen, das Denken dem Geistigen, Immateriellen zuordnet. Trotz aller Unterschiede interessiert den Autor die Möglichkeit, die Denkansätze von Systemtheorie und Psychoanalyse zu einer „psychoanalytischen Systemtheorie“ oder „systemorientierten Psychoanalyse“ zu verbinden. Luc Ciompi meint, dass unsere ganze Psyche aus hierarchisch organisierten, affektiv-kognitiven Bezugssystemen besteht, die unsere Wahrnehmungen ordnen und determinieren und je nach Kontext und Auslösefaktoren zu bestimmten Handlungen führen. Man könnte sich diese Bezugssysteme, so der Autor, wie ein Wegsystem vorstellen, das den Verkehr in bestimmte Bahnen lenkt. Das Bewusstsein ist nach Luc Ciompi selbst Folge eines langen Verdichtungs- und Differenzierungsprozesses, in dem Konkretes in Abstraktes, in der Zeit Erlebtes, Diachrones, in Gegenwärtiges, Synchrones, umgesetzt wird. Das alles geschieht auf der Basis des Unbewussten. Im fünften Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Fragestellung, wie Double-bind-Situationen und psychotische Störungen zusammenhängen. 40
C Double-bind-Situationen werden in diesem Zusammenhang als Ausdruck eines zerstörerischen und entwicklungshemmenden affektiv-kognitiven Bezugsnetzes gesehen, das uns Menschen in unlösbare Widersprüche verstrickt. Gleichzeitig auftretende unlustvolle versteckte Inhalte führen zu unerträglichen Spannungen und zum Überspringen in psychotische Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen. Die Auswirkungen dieses Konzepts auf die Sichtweise der Schizophrenie werden im sechsten Kapitel dargestellt. Luc Ciompi sieht in der akuten Phase, der die prämorbide Phase vorangeht, eine „Gleichgewichtsverschiebung“, ein „Überschnappen“ in anders strukturierte affektive und kognitive Funktionsweisen. Informationen können aufgrund von (sozialem) Stress, paradoxen Kommunikationsmustern etc. nicht mehr in üblicher Weise verarbeitet werden. Aus affektlogischer Sicht sind die Möglichkeiten von Heilung oder Chronifizierung an den Austausch von Individuum und Gesellschaft gebunden, wobei unter anderen Faktoren wie Vulnerabilität und soziale Veränderungen eine Rolle spielen. Auch ein Überspringen in die „normale“ Realität ist möglich. Im letzten Kapitel widmet sich der Autor den Fragen der therapeutischen Behandlung von Schizophrenen. In Abhängigkeit, ob es sich um eine akute Phase oder eine solche der Chronifizierung handelt, wird ein optimales Maß an sozialer Stimulation angestrebt; getragen wird das Konzept vom Gedanken, dass man den Blick auf die gesunden Anteile der Erkrankten richten sollte, dass speziell ausgebildete Menschen die Wachstumsprozesse dieser besonders sensiblen und vulnerablen Patienten unterstützen können. Therapeutische Interventionen, wie sie von M. Erickson oder M. Selvini Palazzoli gesetzt werden, werden im Hinblick auf ihre bezugssystemverändernde Kraft untersucht. Eine Annäherung von Psychoanalyse und Systemtheorie wäre in den Augen des Autors für die Therapie nützlich. Luc Ciompis „Affektlogik“ ist ein theoretisch anspruchsvolles Buch. Doch dazu später. Es ist zunächst ein Buch, in dessen Zentrum die Menschen stehen, mit denen der Autor viele Jahre während seiner beruflichen Tätigkeit zu tun hatte. Es ist ein Buch, das Verständnis für schwer Verstehbares erzielen möchte, für eine Krankheit, die die Menschen meistens isoliert und in ihrem Anderssein zu „Fremden“ macht. Wer sich dafür interessiert, wird Gefallen an der Lektüre finden. Das gilt auch für diejenigen Leser, die aus beruflichen Gründen mit an Schizophrenie Erkrankten zu tun haben, für Pflegepersonal, Psychologen, Ärzte etc. Die Kapitel, die sich mit dem Krankheitskonzept der Schizophrenie auseinandersetzen, sind sehr praxisnah gestaltet und wegen der angeführten Fallbeispiele anregend zu lesen. Der Autor zeigt, dass das Behandlungsmilieu wesentlich für den Heilungsprozess ist, man findet eine Vielzahl von Anregungen, wie therapeutische Interventionen im Sinne eines affektlogischen Verständnisses gesetzt werden können. 41
C Luc Ciompis Ausführungen zur Affektlogik sind, wie bereits eingangs erwähnt, theoretisch anspruchsvoll. Der Autor weiß das. Jedes einzelne Kapitel kann, wie er vorausschickt, für sich gelesen werden. Er gibt in der Einleitung bereits einen Überblick, welche Überlegungen in den einzelnen Kapiteln angestellt werden. Zusammenfassungen am Ende erweisen sich als hilfreich. Worin bestehen nun die Anforderungen und Herausforderungen für den Leser/die Leserin? Sie liegen in der Intention des Autors, das Verbindende zwischen unterschiedlichen Denkansätzen zu suchen, im Sinne eines synthetischen Prozesses, fernab von methodologischem Reduktionismus und einer Abgrenzung der Einzelwissenschaften. Genau so wie Individuum, Familie, Gesellschaft als teilweise abgegrenzte, aber miteinander in Austausch befindliche Systeme gesehen werden können, betrachtet Luc Ciompi Theorien. Der Auszug von „Invarianzen“ aus diesen Theoriegebäuden geht natürlich auf Kosten darstellender Breite, das heißt, Informationen werden komprimiert und erfordern vom Leser/der Leserin Aufmerksamkeit und Konzentration. Psychologisches, philosophisches, soziologisches Vorwissen wird die Lektüre dieser Kapitel auf jeden Fall erleichtern. Eines erscheint mir besonders wesentlich: Wir selber müssen unser Denken „verrücken“, wollen wir Psychosen, im Besonderen die Schizophrenie verstehen. Wenn man Luc Ciompis Gedanken folgt, hilft uns das Pathologische das Gesunde, das Gewöhnliche, das „Mittelmaß“ zu erfassen. Das Konzept des Autors ist auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet, integrierend und offen für Weiterentwicklung und somit für alle jene Leser interessant, die Lust haben, sich Spannungen auszusetzen, unvereinbar Scheinendes auf neuen Ebenen gedanklich und gefühlsmäßig zu vereinen. Helga Klug
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Johannes Cremerius: Die Verwirrungen des Zöglings T.
Psychoanalytische Lehrjahre neben der Couch +P,QJCPPGU%TGOGTKWU8QO*CPFYGTMFGU2U[EJQCPCN[VKMGTU &CU9GTM\GWIFGTRU[EJQCPCN[VKUEJGP6GEJPKM$CPF #WƂCIG5VWVVICTV(TQOOCPP*QN\DQQI 'TUVCWUICDG
remerius erläutert in diesem Kapitel dieses Werkes neben den „Verwirrungen des Zöglings T.“ auch jene Aspekte, welche einem Analytiker – vor allem zu Beginn seiner Praxisjahre – zu mehr oder weniger schwierigen Problemen werden können. So schreibt er über das Schweigen auf der einen Seite und das „zu viel“ an Sprechen auf der anderen
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C Luc Ciompis Ausführungen zur Affektlogik sind, wie bereits eingangs erwähnt, theoretisch anspruchsvoll. Der Autor weiß das. Jedes einzelne Kapitel kann, wie er vorausschickt, für sich gelesen werden. Er gibt in der Einleitung bereits einen Überblick, welche Überlegungen in den einzelnen Kapiteln angestellt werden. Zusammenfassungen am Ende erweisen sich als hilfreich. Worin bestehen nun die Anforderungen und Herausforderungen für den Leser/die Leserin? Sie liegen in der Intention des Autors, das Verbindende zwischen unterschiedlichen Denkansätzen zu suchen, im Sinne eines synthetischen Prozesses, fernab von methodologischem Reduktionismus und einer Abgrenzung der Einzelwissenschaften. Genau so wie Individuum, Familie, Gesellschaft als teilweise abgegrenzte, aber miteinander in Austausch befindliche Systeme gesehen werden können, betrachtet Luc Ciompi Theorien. Der Auszug von „Invarianzen“ aus diesen Theoriegebäuden geht natürlich auf Kosten darstellender Breite, das heißt, Informationen werden komprimiert und erfordern vom Leser/der Leserin Aufmerksamkeit und Konzentration. Psychologisches, philosophisches, soziologisches Vorwissen wird die Lektüre dieser Kapitel auf jeden Fall erleichtern. Eines erscheint mir besonders wesentlich: Wir selber müssen unser Denken „verrücken“, wollen wir Psychosen, im Besonderen die Schizophrenie verstehen. Wenn man Luc Ciompis Gedanken folgt, hilft uns das Pathologische das Gesunde, das Gewöhnliche, das „Mittelmaß“ zu erfassen. Das Konzept des Autors ist auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet, integrierend und offen für Weiterentwicklung und somit für alle jene Leser interessant, die Lust haben, sich Spannungen auszusetzen, unvereinbar Scheinendes auf neuen Ebenen gedanklich und gefühlsmäßig zu vereinen. Helga Klug
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Johannes Cremerius: Die Verwirrungen des Zöglings T.
Psychoanalytische Lehrjahre neben der Couch +P,QJCPPGU%TGOGTKWU8QO*CPFYGTMFGU2U[EJQCPCN[VKMGTU &CU9GTM\GWIFGTRU[EJQCPCN[VKUEJGP6GEJPKM$CPF #WƂCIG5VWVVICTV(TQOOCPP*QN\DQQI 'TUVCWUICDG
remerius erläutert in diesem Kapitel dieses Werkes neben den „Verwirrungen des Zöglings T.“ auch jene Aspekte, welche einem Analytiker – vor allem zu Beginn seiner Praxisjahre – zu mehr oder weniger schwierigen Problemen werden können. So schreibt er über das Schweigen auf der einen Seite und das „zu viel“ an Sprechen auf der anderen
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C Seite, den Umgang mit Patienten, denen es schwerfällt, frei zu assoziieren, sowie die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung. Nach diesen Themen und einem geschichtlichen Abriss erläutert Cremerius die Herangehensweise eines jungen Analytikers – den Zögling, wie er von Musil schon vorher bezeichnet wird – an all dieses Theoretische, das im Rahmen der Ausbildung an ihn herangetragen wird, oder treffender gesagt auf ihn niederprasselt. Das Kapitel ist in der dritten Person verfasst, wirkt aber fast so, als wäre es in Tagebuchform geschrieben. Die Vergleiche, die er für die Integration der einzelnen Theorien zu einer eigenen Technik und die Hemmungen davor, überhaupt eine „eigene“ Technik zu entwickeln heranzieht, werden deutlich herausgearbeitet. Junge Analytiker werden sich bestimmt in diesem Teil des Bandes wiedererkennen und während des Lesens immer mehr feststellen können, wie sich eine Entspannung und Erleichterung überwiegend psychisch und manifestiert im Körperlichen einstellt. Es gelingt dem Autor sehr gut, dem lernenden Analytiker die Hemmungen vor der Entwicklung eines eigenen Stils zu nehmen und ihn zur Loslösung vom starren Befolgen der „Regeln“, wie sie in den technischen Schriften Freuds entwickelt werden, zu ermutigen. Spürbar ist hier auch, dass diese Aufsätze aus der psychoanalytischen Praxis des Verfassers stammen und dadurch das Abstrakte mit Maß und Ziel dem Anschaulichen entgegengeführt wird. Der Untertitel „Psychoanalytische Lehrjahre neben der Couch“ wird erst nach einem zweiten Lesedurchgang etwas schlüssiger. Wobei hier der Begriff „neben“ etwas verwirrend scheint, zumal damit einerseits „parallel dazu“ oder „zeitgleich“ und andererseits „abgesehen von“ gemeint sein könnte. In diesem Falle ist Ersteres gemeint, womit er die Ausbildungsinstitute und deren Art der Vermittlung von psychoanalytischer Praxis kritisch zu betrachten beabsichtigt. Sehr hoch anzurechnen ist dem Autor die besondere Fähigkeit, den Leser stets an einem roten Faden durch seinen Aufsatz zu führen. Selbst wenn der Leser einmal etwas im Dunkeln tappen sollte, so kann er sich über diesen roten Faden wieder ein Stück zurücktasten und nochmals den Weg gehen – also wiederlesen. Anschaulich, kurz und prägnant schafft es Cremerius mit diesem Aufsatz Klarheit darüber zu verschaffen, welche Phasen ein angehender Analytiker durchläuft, bis er seinen eigenen Stil gefunden hat, sofern es sich um einen ambitionierten Zögling handelt, wie jenen Zögling T., den der Verfasser exemplarisch umschreibt. Einleitend findet sich ein Zitat aus dem Werk von Musil „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“, mit dem eingestimmt wird auf das eigentliche Thema des Aufsatzes, nämlich die Schwierigkeiten, denen sich ein lernender Analytiker stellen muss. Die einen sind laut Cremerius die veränderbaren und die anderen die unveränderbaren Schwierigkeiten. Es liegt nun nahe, zunächst das Unveränderbare zu definieren als jene Situation an den Ausbildungsinstituten, wo verschiedene Techniken und Stile von unterschiedlichen Lehrenden vermittelt werden. Was tut man damit? Die veränderbaren Gründe dieses Dilemmas sind verursacht durch 43
C die verschiedenen Texte über die Technik des Analytikers. Beginnend mit Freuds technischen Schriften über Eisslers Definition des „geeigneten Patienten“ und Ferenczis Beschreibung, die Verwirrung durch Sprache mittels „aufrichtiger Zuneigung und Freundlichkeit“ aufzulösen, arbeitet sich der junge Analytiker „neben der Couch“ durch die Theorie und fragt sich nach jeder neu gewonnenen Information, wie er diese Bausteine der Psychoanalyse-Technik zusammenfügen soll. Noch bevor alle diese Autoren durchgegangen worden sind, wird bereits eine Technik ausprobiert, der gegenüber verschiedene Institute unterschiedliche Meinungen haben (können), was dann Verwirrung auslöst. Wichtig ist beim Lehren, die emanzipatorische Qualität der Analyse nahezubringen und/oder kritische unabhängige Wissenschaftler auszubilden, sodass diese unmittelbare Abhängigkeit zum Lehrenden verhindert/verringert wird. Zur Frage nach dem „passenden Klienten“ schreibt Cremerius, dass Personen mit höherem Bildungsniveau mehr Gewinn aus einer Psychoanalyse ziehen können, da für die psychischen Prozesse eine differenzierte Sprache vorausgesetzt wird, um zwischenmenschliche Probleme sprachlich anstatt agierend lösen zu können. Hierzu kritisiert er an späterer Stelle auch Melanie Kleins Theorie, indem er schreibt, dass Erlebnisse aus einer Zeit vor der Sprachentwicklung nicht vereinbar seien mit einer Technik, welche sich auf Mittel der Sprache stützt. Es geht deutlich hervor, dass es nicht der Patient ist, der sich der Technik anpassen muss, sondern der Analytiker, der die Technik an den Patienten anpassen soll. Dies geht dann über das Konzept hinaus, welches meint, dass die „Standardmethode“ mit dem Deuten auskommen muss und keine Fragen gestellt werden dürfen, da diese eine unerlaubte Intervention im Rahmen der Psychoanalyse darstellen. Auch die Frage der Abstinenz wird anschaulich und praktisch dargestellt, indem sich der Zögling T. als „schlechterer“ Analytiker wahrnimmt, da er sich als viel verstrickter und beteiligter in den Prozess sieht, als es in der Literatur als „die Technik“ beschrieben wird. Auch andere Autoren, mit denen er sich vergleicht, wirken auf ihn wie die perfekten Beobachter und Behandler. Er erkennt also, dass zwischen Beschreibungen der Technik und seinem Erleben während einer Sitzung ein wesentlicher Unterschied besteht. Um den Aufsatz abzurunden wird vom Autor der Wunsch, oder vielmehr Ratschlag, gegeben, diese Erfahrungen zum Gegenstand von Seminar-Diskussionen, welche die Ausbildung begleiten, zu machen. Damit seien neben der Darstellung eigener Fälle so manche Verwirrungen „zu mildern oder gar zu beheben“, da es dann deutlich wird, dass die Technik nicht einfach eine Anwendung der Theorie ist. Silvia Prosquill-Salzmann
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Johannes Cremerius: Vom Handwerk des Psychoanalytikers Das Werkzeug der psychoanalytischen Technik. 2 Bände #WƂCIG5VWVVICTV(TQOOCPP*QN\DQQI 'TUVCWUICDG
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er Autor selbst schreibt, dass er diese zwei Bände nicht als ein Lehrbuch der Psychoanalyse versteht, sondern als eine Sammlung von Erfahrungen. Wer eine Bibel der Psychoanalyse sucht, wird enttäuscht sein. Im Gegenteil; Cremerius lässt verschiedene Annahmen nebeneinander bestehen und weist auf die Wichtigkeit des Pluralismus von Auffassungen hin. In den beiden Bänden beschäftigt er sich sowohl mit den technischen Schwierigkeiten der Psychoanalyse als auch mit der geschichtlichen Darstellung ihrer Entwicklung. Von besonderem Interesse für Cremerius sind dabei der Umgang mit dem schweigenden bzw. dem zu viel sprechenden Patienten und die Schwierigkeit des freien Assoziierens. In einem Kapitel des ersten Bandes beschäftigt er sich kritisch, aber auch äußerst amüsant mit der Frage der Ausbildung. Für den Autor ist das Hilfsmittel der Psychoanalyse die Subjektivität; diese allerdings unterliegt einer kontrollierenden Reflexion. Aber wie arrangiert sich die Psychoanalyse mit anderen Wissenschaften, wenn doch ein grundlegendes Werkzeug die Phantasie ist? Welche Veränderungen sind notwendig, damit sich die Wissenschaft der Psychoanalyse zu einer Normalwissenschaft entwickelt? Im zweiten Band reflektiert Cremerius die Behandlung der Reichen und Mächtigen und die Bedeutung der Fremdfinanzierung. Welche Einflüsse haben die Ressourcen Geld und Zeit auf eine psychoanalytische Behandlung und welche Bearbeitungen machen sie notwendig? Was bedeutet die Präsenz eines Dritten in diesem Zusammenhang? Er beleuchtet dabei die Entwicklung vom Privatpatienten hin zur Therapie auf Krankenschein. Ferner widmet er sich den besonderen Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, welchen sich ein Analytiker bei der Behandlung von reichen und mächtigen Menschen möglicherweise zu stellen hat. Wie hat Freud wirklich gearbeitet? Auf diese Frage versucht er in einem beeindruckenden Kapitel eine Antwort zu finden. Dafür studierte Cremerius einige Erzählungen und Schilderungen von Freuds Patienten und Schülern. Schließlich beschäftigt er sich auch mit der Bedeutung der Dissidenten in der Psychoanalyse. Er diskutiert die Grundsätze der Psychoanalyse und hinterfragt unter anderem die scheinbare Klarheit, die bei diesen Fragestellungen unter den Analytikern herrscht. Cremerius macht in diesen zwei Bänden einen Querschnitt durch die Welt der Psychoanalyse. Er zeigt die bedeutendsten Strömungen und Entwicklungen nach Freud auf und besticht dabei durch eine charmante und kritische Betrachtungsweise. Beeindruckend sind auch seine psychoanalytischen Maximen wie jene, Paradoxien nicht auflösen zu müssen, sondern eben auch mit ihnen leben zu lernen. Erheiternd ist auch sein Mut und die Art und Weise, wie er Kritik an Analytikern übt und seine Kollegen 45
D hinterfragt. Wie ist der Beruf des Psychoanalytikers insgesamt zu beschreiben? Was sind die Funktionen des Analytikers? Welches Selbstverständnis hat diese Berufsgruppe? Er betont, dass es für ihn die einzig wahre Technik an sich nicht geben kann. Es sind viel mehr die Erfahrungen, Überlegungen und seine individuelle Technik, die er hier darstellt. In diesem Sinne sei dieses Werk in zwei Bänden jedem Studenten der Psychoanalyse empfohlen. Sein Ruf nach mehr Mut und Experimentierfreudigkeit, anstatt durch Ängste und Sorgen die psychoanalytischen Regeln zu verletzen, kann sehr anregend und erleichternd wirken. In diesem Zusammenhang versteht er auch die Unterscheidung zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Therapie. Psychoanalyse ist das, was von einem Psychoanalytiker betrieben wird, daher gibt es für ihn in dieser Frage auch keine Unterschiede. Es ist nur eine Anpassung der Technik an gegebene Rahmenbedingungen, aber der Zugang und die Zielsetzung sind dieselben. Aufgrund der sehr guten Strukturierung der Kapitel und Unterkapitel in diesem umfangreichen Werk wird der Leser unterstützt, nicht den Überblick zu verlieren. Dem Autor gelingt es, wiederkehrend Ordnung in das umfassende Material zu bringen. Ein umfangreiches Literatur- und Personenverzeichnis umrahmt diese zwei Bände. Das Werk ist ein Lesegenuss für jeden, der an der Wissenschaft der Psychoanalyse interessiert ist. Es ergänzt die Standardwerke der technischen Handhabung der Psychoanalyse. Cremerius meint, Freud habe keine geschlossene Technik der Psychoanalyse hinterlassen – und er, wie es scheint, tut dies auch nicht. Nassim Agdari-Moghadam
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Steve De Shazer: Das Spiel mit Unterschieden Wie therapeutische Lösungen lösen #WƂCIG*GKFGNDGTI%CTN#WGT 'TUVCWUICDG
teve De Shazer (1940-2005) gilt als international führende Figur im Bereich der lösungsorientierten Kurztherapie, wobei er sich schwerpunktmäßig vor allem der Forschung und Entwicklung lösungsorientierter, kurztherapeutischer Verfahren (interaktiver Konstruktivismus) auf der Grundlage Erickson’scher und systemischer Interventionen und der Philosophie Wittgensteins und Derridas widmete. Er gründete das Brief Family Therapy Center BFTC in Milw aukee, Wisconsin. De Shazer stellt in diesem Buch die Therapie als solche in den Blickpunkt, als beobachtetes Gespräch zwischen Klient und Therapeut. In seinen Augen stellt die therapeutische Beziehung eine auf Verhandlung, Konsens und Kooperation aufgebaute Unternehmung dar, bei der 46
D hinterfragt. Wie ist der Beruf des Psychoanalytikers insgesamt zu beschreiben? Was sind die Funktionen des Analytikers? Welches Selbstverständnis hat diese Berufsgruppe? Er betont, dass es für ihn die einzig wahre Technik an sich nicht geben kann. Es sind viel mehr die Erfahrungen, Überlegungen und seine individuelle Technik, die er hier darstellt. In diesem Sinne sei dieses Werk in zwei Bänden jedem Studenten der Psychoanalyse empfohlen. Sein Ruf nach mehr Mut und Experimentierfreudigkeit, anstatt durch Ängste und Sorgen die psychoanalytischen Regeln zu verletzen, kann sehr anregend und erleichternd wirken. In diesem Zusammenhang versteht er auch die Unterscheidung zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Therapie. Psychoanalyse ist das, was von einem Psychoanalytiker betrieben wird, daher gibt es für ihn in dieser Frage auch keine Unterschiede. Es ist nur eine Anpassung der Technik an gegebene Rahmenbedingungen, aber der Zugang und die Zielsetzung sind dieselben. Aufgrund der sehr guten Strukturierung der Kapitel und Unterkapitel in diesem umfangreichen Werk wird der Leser unterstützt, nicht den Überblick zu verlieren. Dem Autor gelingt es, wiederkehrend Ordnung in das umfassende Material zu bringen. Ein umfangreiches Literatur- und Personenverzeichnis umrahmt diese zwei Bände. Das Werk ist ein Lesegenuss für jeden, der an der Wissenschaft der Psychoanalyse interessiert ist. Es ergänzt die Standardwerke der technischen Handhabung der Psychoanalyse. Cremerius meint, Freud habe keine geschlossene Technik der Psychoanalyse hinterlassen – und er, wie es scheint, tut dies auch nicht. Nassim Agdari-Moghadam
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Steve De Shazer: Das Spiel mit Unterschieden Wie therapeutische Lösungen lösen #WƂCIG*GKFGNDGTI%CTN#WGT 'TUVCWUICDG
teve De Shazer (1940-2005) gilt als international führende Figur im Bereich der lösungsorientierten Kurztherapie, wobei er sich schwerpunktmäßig vor allem der Forschung und Entwicklung lösungsorientierter, kurztherapeutischer Verfahren (interaktiver Konstruktivismus) auf der Grundlage Erickson’scher und systemischer Interventionen und der Philosophie Wittgensteins und Derridas widmete. Er gründete das Brief Family Therapy Center BFTC in Milw aukee, Wisconsin. De Shazer stellt in diesem Buch die Therapie als solche in den Blickpunkt, als beobachtetes Gespräch zwischen Klient und Therapeut. In seinen Augen stellt die therapeutische Beziehung eine auf Verhandlung, Konsens und Kooperation aufgebaute Unternehmung dar, bei der 46
D der lösungsorientierte Therapeut und der Klient gemeinsam verschiedene Sprachspiele entstehen lassen, die auf Ausnahmen, Ziele und Lösungen fokussieren. Er bezeichnet diesen Prozess der Lösungsentwicklung zusammenfassend als Hilfestellung, einen nichterkannten Unterschied zu einem Unterschied zu machen, der einen Unterschied macht. Im ersten Teil des Buches verschafft De Shazer einen Überblick über bereits fundierte Theorien unter dem Aspekt, einen Versuch zu wagen, sie neu zu beschreiben und von neuem zu schauen, wie diese Ideen über Probleme, Beschwerden, Ausnahmen und Ziele mit verwandten Ideen aus dem Familientherapiediskurs und selbst aus dem größeren Psychotherapiediskurs verknüpft sind. Er skizziert akribisch eine Reihe von Begriffen wie Erklärung, Spekulation, Familientherapie, Psychotherapie, geistig, Diagnose, kurz und vor allem den Begriff „System“ vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen strukturalistischem und poststrukturalistischem Denken, um auf eine neue Weise lösungsorientierte Kurztherapie zu betrachten und zu beschreiben. De Shazer setzt sich auch mit der Frage auseinander, ob der Therapeut Mitglied des Interaktionssystems ist. Der Therapeut ist als Beobachter immer schon Teil des therapeutischen Kontextes und daraus leitet sich für De Shazer in Bezug auf die Familientherapie ein sechstes Paradigma, „die Therapiesituation als System“, ab. Er fügt es den fünf Paradigmen der Familientherapie von Auerswald (1987) hinzu. Es besagt, dass die Therapiesituation als System das zu betrachtende System als ein System definiert, das die Konstruktion eines zweckgerichteten Systems beinhaltet. Dieses System setzt sich aus dem Therapeutensubsystem, dem Klientensubsystem, dem zu lösenden Problem bzw. der zu entwickelnden Lösung und den Interaktionen und den Wechselbeziehungen zwischen den dreien zusammen. Im zweiten Teil des Buches beleuchtet De Shazer anhand von sehr anschaulichen Fallbeispielen das Zustandekommen von therapeutischen Missverständnissen und zeigt, wie die Therapiesituation auch als eine Reihe von Sprachspielen angesehen werden kann, entsprechend einem sich selbsterhaltenden linguistischen System, in dem ein „Hund“ schon mal (in einem spezifischen Kontext = einem Sprachspiel) zu einer „Katze“ werden kann. Vor allem in diesen acht ausführlichen Fallbeschreibungen gelingt es De Shazer hervorragend, die unterschiedlichen Aspekte des lösungsorientierten therapeutischen Gesprächs zu demonstrieren und mit vielen kurzen und treffend formulierten Kommentaren darauf hinzuweisen, worauf es ankommt. Dieses Werk zeichnet sich durch die plastische Darstellung einer nach wie vor revolutionären Technik aus, die es sowohl angehenden Psychotherapeuten als auch Laien, die an Psychotherapie interessiert sind, ermöglicht, einen sehr konkreten Einblick in die Arbeitsweise De Shazers zu erlangen. Sonja Simml
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Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG(TQOCPZKGV[VQOGVJQFKPVJGDGJCXKQTCNUEKGPEGU 6JG*CIWG/QWVQP
ieses Werk nimmt den Ausgang von einem Grundtheorem Freuds, der Übertragung. Jedoch wird im Lichte der Einstein’schen Anschauung, dass wir Ereignisse nur am Beobachter beobachten können, weitergegangen und die These aufgestellt, dass die Gegenübertragung weit aussagekräftiger und informationsreicher ist als die Übertragung selbst. Wissenschaftlich gesehen bringt die Gegenübertragung weit mehr Daten über die Natur des Menschen als die Übertragung selbst. Jeglicher Verhaltenswissenschaftler kann die Tatsache nicht einfach ignorieren, dass die Interaktion zwischen Objekt und Beobachter auch auf das Verhalten des untersuchten Subjekts Einfluss nimmt. Auch während des Datengewinnens empfiehlt es sich für den Beobachter, ständig sich selbst und sein Tun zu verstehen versuchen. Es gilt, die Daten der Verhaltenswissenschaft unter drei Gesichtspunkten aufzuschlüsseln: 1.) Das Verhalten des Objektes. 2.) Störungen, die durch die Existenz und Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden. 3.) Das Verhalten des Beobachters (Ängste, Abwehrmanöver, Forschungsstrategien, Entscheidungen, Geschlecht etc.) Eine wissenschaftliche Erforschung muss mit der kompletten Matrix der Bedeutungen beginnen, in der die Daten eingebettet sind. Zweitens ist die Gegenübertragungsreaktion genauestens zu studieren. Je mehr Angst ein Phänomen erregt, umso weniger ist der Mensch (auch Forscher) in der Lage, es genau zu beobachten und es objektiv beschreiben zu können. Kein Phänomen gehört a priori in eine bestimmte Disziplin, sondern wird erst durch die Art, wie die es erklärt wird, in Daten transformiert und entsprechend beschrieben. Genauso wie es keine vorinterpretierten Phänomene gibt, gibt es keine uninterpretierten Daten. In der Psychoanalyse ist nicht das Setting oder die Methode selbst die Quelle des entscheidenden Erkenntnisgewinns, sondern der Analytiker selbst. Es ist bei der Erforschung von unterschiedlichen Kulturen beziehungsweise Stämmen mit ängstlichen Gegenübertragungsreaktionen zu rechnen, welche das Material für die Auswertung der Feldberichte und Protokolle entscheidend prägen. Überwiegend sind diese bei unserem westlichen Kulturkreis oftmals tabuisiert und durch das Nichtkennen von solchen (kulturtypischen) Verhaltensweisen für den Forscher Angst auslösend und von eben dieser Gegenübertragung charakterisiert. Ebenso ist die Persönlichkeit und die Individualität des Verhaltenswissenschaftlers eigentlich das wirklich Wesentliche. Die empfohlene Methodologie ist eine präzise Formulierung des segmentären Bezugsrahmens, die Berücksichtigung forschereigenen Verhaltens und auch dessen sozialer Hinter-
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D grund sind ein weiterer Nebeneinfluss. Auch kulturbedingte blinde Flecke des Verhaltenswissenschaftlers sind genau zu erörtern und dann zu einer verallgemeinerten, umfassenden Theorie auszubauen. Das ergibt durchaus oft ein Neueinschätzen von Aussagen über Verhalten, welches in ganzheitliche Sicht gebracht werden sollte. Dieses kann leicht durch – auch verschiedengeschlechtliche Interpretation – eines anderen (Mit-) Forschers im Vergleich aufgezeigt werden. Jede Forschung ist auf der Ebene des Unbewussten selbstbezogen und stellt eine indirekte Interpretation dar. Anhand von 440 kurzen Fallbeispielen skizziert Devereux sehr erfahren und praxisnahe, welche (auch ethnologischen) Einflüsse bei der Interpretation von Daten wesentlich sind und wie wichtig die Introspektion des Forschers ist. Die persönliche Einflussnahme des Charakters fungiert als Filter der Wahrnehmung und ist als Erkenntnisgewinn für das zu untersuchende Material sehr entscheidend. Psychoanalytische Mechanismen prägen somit die gewonnenen Erkenntnisse ebenso entscheidend, egal ob in den reinen Naturwissenschaften oder auch in sämtlichen Verhaltenswissenschaften. Die generellen wissenschaftstheoretischen Regeln sind oft nur ein äußerst bescheidener Versuch, nach der verpflichteten Objektivität zu trachten. Ohne die Analyse des Verhaltenswissenschaftlers und seiner Gegenübertragung ist Wissenschaft gemäß Devereux nicht möglich. Die These, dass die Gegenübertragung in den Verhaltenswissenschaften von so entscheidender Bedeutung ist, beweist der Autor überaus überzeugend und sehr erfahren an in die Kapitel gekonnt eingewobenen Fallbeispielen. Selbst Alfred Adler, auf den Devereux seltsamerweise nicht (direkt) Bezug nimmt, erkannte ja bekannterweise die überragende Bedeutung der Gegenübertragung und modellierte mit ihr als wichtigem Werkzeug – als einem der Grundpfeiler in der Individualpsychotherapie. Die lebenslange Tätigkeit als Ethnopsychoanalytiker hatte Devereux immer wieder zu dieser Grundüberzeugung zurückgebracht und auch durch das Studieren von unterschiedlichen Völkern konnte er immer wieder diese Leitthese aufs Neue überprüfen. Eben diese Grundpfeiler sind nicht nur für Psychoanalytiker wesentlich, da bekannterweise in dieser Disziplin die Introspektion und genaue Kenntnis der eigenen Persönlichkeit selbstverständlich sind und zur Ausbildung gehören, sondern dieses gilt eben für alle anderen Wissenschaften (des Verhaltens) auch – oder sollte gelten. Ja sogar auch für die Naturwissenschaften, welche Devereux ebenfalls wissend und gekonnt immer wieder anreißt. Ich konnte durch meine vergangenen eigenen ethologischen Verhaltensstudien an Wölfen – retrospektiv – einiges an weiterer Erkenntnis dazugewinnen und auch beim Studium des Verhaltens – ob an Tieren oder am Menschen – die Erkenntnisse des Georges Devereux vollauf bestätigen. Es gab nur eine Handvoll Ethologen – wie Devereux schreibt – , die viele dieser wissenschaftsmethodischen Probleme schon damals erkannten, und das im klassischen Kontext der durchgeführten tierpsychologischen 49
D Experimente der heutigen Psychologiegeschichte (von denen im Einzelnen Devereux auch zu berichten weiß). Besonders auch für einen exakten Psychotherapiewissenschaftler, der auch zur Objektivität verpflichtet ist, sind die in der kurzen Inhaltsangabe beschriebenen Prämissen im ethnoanalytischen Kontext zum vollständigen Studium des Menschen innerhalb seines zu berücksichtigenden jeweiligen kulturellen Backgroundes sehr lehrreich. Da wir Menschen in der Jetztzeit (in den sogenannten Industriestaaten) leider ein Abhandenkommen der (gerade) noch nativ lebenden Völker erleben und aufgrund der Globalisierung geradezu eine weltweite Völkerwanderung – vor allem Emigration in die Industriestaaten – erfahren, ist es wohl von überragender Wichtigkeit, Devereux’ ethnopsychoanalytischen Grundpfeiler zu studieren und auch im Betreiben der Verhaltenswissenschaften anzuwenden. Andreas Schmidt
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Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
as Buch „Die emotionale Welt des Kindes“ von Martin Dornes, gegenwärtig einer der wichtigsten Vertreter der Säuglings- und Kleinkindforschung, ist nach „Der kompetente Säugling“ (1993) und „Die frühe Kindheit“ (1997) der letzte Teil seiner Trilogie, welche sich zentral die frühe Kindheit zum Thema gemacht hat. Martin Dornes, Soziologe und Psychoanalytiker, zeigt in dem Buch die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse und der Entwicklungspsychologie auf und versucht einen Dialog zwischen diesen beiden Wissenschaften zu schaffen. Der Autor beschreibt in der Studie verschiedene Theorien, Forschungstraditionen, Projekte und Ergebnisse in Bezug auf die Säuglings- und Kleinkindforschung; im Speziellen auf die Psychoanalyse, auf die Bindungstheorie, die Eltern-Kind-Beziehung, aber auch in Bezug auf die Rolle des Spiegelns in der kindlichen Entwicklung, um nur ein paar der spannenden Themen in diesem Buch zu nennen. Das Werk ist in sechs Kapitel unterteilt: Das 1. Kapitel trägt den Namen „Von Freud zu Stern: Das Bild des Säuglings im Wandel“ und zeigt die unterschiedlichen Bedeutungen des Säuglings und des Menschenbilds bei Freud und Stern, die neueren Ergebnisse in der Kleinkindforschung und vor allem „die Bedeutung niederer Spannungszustände für die psychische Strukturbildung“ auf. Am Ende des 1. Kapitels stellt Dornes noch eine „Theorie der Momente psychischen Erlebens“ vor, in der die Wichtigkeit der zentralen Themen der psychoanalytischen Theorien gefestigt wird.
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D Experimente der heutigen Psychologiegeschichte (von denen im Einzelnen Devereux auch zu berichten weiß). Besonders auch für einen exakten Psychotherapiewissenschaftler, der auch zur Objektivität verpflichtet ist, sind die in der kurzen Inhaltsangabe beschriebenen Prämissen im ethnoanalytischen Kontext zum vollständigen Studium des Menschen innerhalb seines zu berücksichtigenden jeweiligen kulturellen Backgroundes sehr lehrreich. Da wir Menschen in der Jetztzeit (in den sogenannten Industriestaaten) leider ein Abhandenkommen der (gerade) noch nativ lebenden Völker erleben und aufgrund der Globalisierung geradezu eine weltweite Völkerwanderung – vor allem Emigration in die Industriestaaten – erfahren, ist es wohl von überragender Wichtigkeit, Devereux’ ethnopsychoanalytischen Grundpfeiler zu studieren und auch im Betreiben der Verhaltenswissenschaften anzuwenden. Andreas Schmidt
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Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
as Buch „Die emotionale Welt des Kindes“ von Martin Dornes, gegenwärtig einer der wichtigsten Vertreter der Säuglings- und Kleinkindforschung, ist nach „Der kompetente Säugling“ (1993) und „Die frühe Kindheit“ (1997) der letzte Teil seiner Trilogie, welche sich zentral die frühe Kindheit zum Thema gemacht hat. Martin Dornes, Soziologe und Psychoanalytiker, zeigt in dem Buch die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse und der Entwicklungspsychologie auf und versucht einen Dialog zwischen diesen beiden Wissenschaften zu schaffen. Der Autor beschreibt in der Studie verschiedene Theorien, Forschungstraditionen, Projekte und Ergebnisse in Bezug auf die Säuglings- und Kleinkindforschung; im Speziellen auf die Psychoanalyse, auf die Bindungstheorie, die Eltern-Kind-Beziehung, aber auch in Bezug auf die Rolle des Spiegelns in der kindlichen Entwicklung, um nur ein paar der spannenden Themen in diesem Buch zu nennen. Das Werk ist in sechs Kapitel unterteilt: Das 1. Kapitel trägt den Namen „Von Freud zu Stern: Das Bild des Säuglings im Wandel“ und zeigt die unterschiedlichen Bedeutungen des Säuglings und des Menschenbilds bei Freud und Stern, die neueren Ergebnisse in der Kleinkindforschung und vor allem „die Bedeutung niederer Spannungszustände für die psychische Strukturbildung“ auf. Am Ende des 1. Kapitels stellt Dornes noch eine „Theorie der Momente psychischen Erlebens“ vor, in der die Wichtigkeit der zentralen Themen der psychoanalytischen Theorien gefestigt wird.
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D Das 2. Kapitel „Bindungstheorie und Psychoanalyse“ beschäftigt sich mit der Bindungstheorie und stellt John Bowlby und Mary Salter Ainsworth, die als Begründer der Bindungsforschung angesehen werden, biographisch dar. Außerdem zeigt der Autor in diesem Teil des Buches die Kontroversen und methodischen Unterschiede der Bindungstheorie zur Psychoanalyse, aber auch deren Gemeinsamkeiten und beschreibt einige Arbeiten von Psychoanalytikern, welche die Theorie von Bowlby und Ainsworth als Basis ihrer Forschung verwendet haben. Der 3. Teil „Die Entstehung seelischer Erkrankungen: Risiko und Schutzfaktoren“ behandelt Ergebnisse der Deprivations- und Protektionsforschung. Als Deprivation wird ein unzureichender persönlicher Kontakt zwischen Kind und Mutter bzw. Mutter-Ersatz-Figur bezeichnet. Aufgrund zahlreicher retrospektiver (wie zum Beispiel das Mannheimer oder Berliner Projekt) und prospektiver Studien (wie zum Beispiel das Hawaii oder neuseeländische Projekt) kann man heute mit Bestimmtheit und Klarheit sagen, dass es für die seelische Gesundheit jedes Kindes wichtig und entwicklungsfördernd ist, in den ersten Lebensjahren eine intensive und warme Beziehung zur Mutter bzw. Mutter-Ersatz-Figur zu haben. Im 4. Kapitel „Die Bedeutung der biographischen Vergangenheit der Gegenwart“ geht Martin Dornes auf das stetig wachsende Verschwinden der Rolle der Vergangenheit in der gegenwärtigen entwicklungspsychologischen Forschung ein. In den zeitgenössischen Denkströmungen wird mehr Wert auf die Gegenwart gelegt und die Vergangenheit als immer unwichtigere Größe bezeichnet. Dieses Verschwinden der Vergangenheit führt der Autor auf das „steigende Modernisierungstempo“ zurück. Auch in diesem Teil seines Buches bearbeitet Dornes das Thema der Vergangenheit mit der Psychoanalyse und zeigt die Bedeutung auf, die die Vergangenheit in dieser Richtung trägt. Das 5. Kapitel „Die Rolle des Spiegel(n)s in der kindlichen Entwicklung“ beschäftigt sich, wie der Titel schon sagt, mit der Rolle des Spiegelns bei Kleinkindern. In der Psychoanalyse ist der Begriff des Spiegelns besser unter dem Namen „Übertragung“ bekannt. Beim Spiegeln geht es um die Entdeckung des gemeinsamen Gefühls und darum, das eigene Gefühl zu entdecken, das heißt den Unterschied zwischen eigenen und fremden Impulsen, Vorstellungen und Ansichten zu reflektieren, also eine Identität zu entwickeln. Auch die Bedeutung des Spiegelns für die Regulierung von Affekten wird vom Autor anhand mehrerer verschiedener Studien und Theorien (zum Beispiel Gergelys oder Rochats Theorie) aufgezeigt. Das 6. und letzte Kapitel bearbeitet die „Formen der Eltern-KleinkindBeratung und -Therapie: Ein Überblick“. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich etliche neue Beratungsformen und -einrichtungen gebildet und Dornes zeigt einige Formen der Eltern-Kleinkind-Therapie/-Beratung (zum Beispiel die Ergebnisse von Papousek und Robert-Tissot) auf, welche als erfolgreiche Behandlungsformen angesehen werden. Das Buch „Die emotionale Welt des Kindes“ von Martin Dornes ist leicht verständlich und bietet für alle interessierten Leser der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie und/oder der Kinder- und Säuglingsforschung 51
D eine breite Palette an Informationen und Wissenswertem. Dieses Werk kann aufgrund der zahlreichen Forschungsergebnisse, die es immer wieder gut verständlich aufzeigt, als ein wichtiges und hilfreiches Nachschlagewerk im Bereich der Entwicklungspsychologie angesehen werden. Vivien Langer
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Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit
Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse #MVWCNKUKGTVG0GWCWUICDG$GTNKP2GVGT.GJOCPP#PVKRU[EJKCVTKG XGTNCI 'TUVCWUICDG(TCPMHWTVC/$GTNKP9KGP7NNUVGKP
ie Autorin, Jahrgang 1942, berichtet von ihrer Lehranalyse im Rahmen der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die sie 1970 begonnen und 1975 abgebrochen hat. Bereits der Titel des Buches, „Blumen auf Granit“, sagt viel aus: Eine organische Substanz mit ästhetischen Qualitäten kann auf so etwas Hartem wie Granit nicht gedeihen. Eine politische Dimension zeigt sich darüber hinaus im Untertitel mit dem Hinweis auf die deutsche Psychoanalyse. Am Ende des Nachworts wird deutlich, was Drigalski darunter versteht: „Die konservative Entwicklung der Psychoanalyse“ sei zwar eine internationale, aber die BRD habe es darin zur Perfektion gebracht, und insofern meine sie mit „deutscher Psychoanalyse“ auch „arische Psychoanalyse“ (S. 299). Das klingt polemisch und undifferenziert, doch wenn man den Text liest, wird verständlich, wie sie zu diesem Urteil gelangt ist. Zunächst liegt sie bei einer Analytikerin auf der Couch, wobei die erste Zeit recht schwierig ist, weil sie sich ungeliebt fühlt und mit den Deutungen auf triebtheoretischer Grundlage Probleme hat. Ihre Meinung ändert sich, nachdem sie von Träumen voller Gewalt und Zerstörung berichtet hat, die Analytikerin sie jedoch beruhigt und die Träume als einen Ausdruck produktiver Veränderung bewertet (S. 28). Wegen des Umzugs der Therapeutin wechselt Drigalski zu einem Analytiker, den sie zunächst idealisiert, mit dem sie dann aber überhaupt nicht mehr zurechtkommt, sodass sie nach dreieinhalb Jahren erbitterten Kampfes und zunehmender Verhärtung („Westwallstimmung“) auf beiden Seiten die Analyse abbricht. Ihre Selbsteinschätzung zu jener Zeit fasst sie mit den folgenden Worte zusammen: „An sich lohnte es sich nicht zu leben, durch und durch schlecht, voll widerwärtiger, hassender, bösartiger, verdrängt-verlogener Eigenschaften, kaum fähig, überhaupt jemanden zu mögen; meine letzten positiven Regungen hatten sich als Abwehr herausgestellt. Es gab wenig Perspektive. Das war die Wahrheit, das Zugrundeliegende, unter dem bewusst Gefühlten; das mit Hilfe der analytischen
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D eine breite Palette an Informationen und Wissenswertem. Dieses Werk kann aufgrund der zahlreichen Forschungsergebnisse, die es immer wieder gut verständlich aufzeigt, als ein wichtiges und hilfreiches Nachschlagewerk im Bereich der Entwicklungspsychologie angesehen werden. Vivien Langer
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Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit
Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse #MVWCNKUKGTVG0GWCWUICDG$GTNKP2GVGT.GJOCPP#PVKRU[EJKCVTKG XGTNCI 'TUVCWUICDG(TCPMHWTVC/$GTNKP9KGP7NNUVGKP
ie Autorin, Jahrgang 1942, berichtet von ihrer Lehranalyse im Rahmen der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die sie 1970 begonnen und 1975 abgebrochen hat. Bereits der Titel des Buches, „Blumen auf Granit“, sagt viel aus: Eine organische Substanz mit ästhetischen Qualitäten kann auf so etwas Hartem wie Granit nicht gedeihen. Eine politische Dimension zeigt sich darüber hinaus im Untertitel mit dem Hinweis auf die deutsche Psychoanalyse. Am Ende des Nachworts wird deutlich, was Drigalski darunter versteht: „Die konservative Entwicklung der Psychoanalyse“ sei zwar eine internationale, aber die BRD habe es darin zur Perfektion gebracht, und insofern meine sie mit „deutscher Psychoanalyse“ auch „arische Psychoanalyse“ (S. 299). Das klingt polemisch und undifferenziert, doch wenn man den Text liest, wird verständlich, wie sie zu diesem Urteil gelangt ist. Zunächst liegt sie bei einer Analytikerin auf der Couch, wobei die erste Zeit recht schwierig ist, weil sie sich ungeliebt fühlt und mit den Deutungen auf triebtheoretischer Grundlage Probleme hat. Ihre Meinung ändert sich, nachdem sie von Träumen voller Gewalt und Zerstörung berichtet hat, die Analytikerin sie jedoch beruhigt und die Träume als einen Ausdruck produktiver Veränderung bewertet (S. 28). Wegen des Umzugs der Therapeutin wechselt Drigalski zu einem Analytiker, den sie zunächst idealisiert, mit dem sie dann aber überhaupt nicht mehr zurechtkommt, sodass sie nach dreieinhalb Jahren erbitterten Kampfes und zunehmender Verhärtung („Westwallstimmung“) auf beiden Seiten die Analyse abbricht. Ihre Selbsteinschätzung zu jener Zeit fasst sie mit den folgenden Worte zusammen: „An sich lohnte es sich nicht zu leben, durch und durch schlecht, voll widerwärtiger, hassender, bösartiger, verdrängt-verlogener Eigenschaften, kaum fähig, überhaupt jemanden zu mögen; meine letzten positiven Regungen hatten sich als Abwehr herausgestellt. Es gab wenig Perspektive. Das war die Wahrheit, das Zugrundeliegende, unter dem bewusst Gefühlten; das mit Hilfe der analytischen
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D Technik Herausgefundene. Daran konnte so leicht niemand rütteln. Kein Normalmensch, kein Nichtanalysierter. Die nahm ich sowieso kaum mehr ernst“ (S. 122). Es wäre zu einfach, der Autorin zu attestieren, sie wäre „inanalysabel“, wie ihr der Lehranalytiker in der drittletzten Stunde mitgeteilt hat. Sie ist eine „schwierige“ Person, und das weiß sie selbst. Sie erregt oftmals Anstoß, evoziert Emotionen, hat Angst vor Nähe und neigt dazu, sich einerseits zu „vernebeln“ und andererseits überdurchschnittlich offen und direkt zu sein. Gleichzeitig sehnt sie sich nach Liebe und möchte akzeptiert bzw. verstanden werden, doch die Standardanalyse überfordert sie: „Die Deutungen kann ich – und das ist dann absolut meine Schuld – ja völlig verkehrt aufgefasst haben; ganz anders, als sie gemeint oder formuliert waren, lässt sich sagen. Trotzdem sind Deutungen, mit welcher Betonung in welchem aktuellem Sinnzusammenhang gegeben, eben nicht nur das, was sie grammatikalisch enthalten. Und es ist an sich unfair, einem Laien, dem Analysanden, Patienten, die Verantwortung dafür aufzubürden, wenn er falsch versteht und traumatisiert wird“ (S. 238 f.). Die Standardtechnik ist geeignet für Probleme auf der ödipalen Ebene, doch Drigalski leidet, wie sie mehrfach betont, unter einem „Defekt“, also an einer Grundstörung im Sinne Michael Balints (Balint: Therapeutische Aspekte der Regression), und auf dieser Ebene ist es völlig verfehlt, die Patientin mit Deutungen zu überfordern; vielmehr hat der Analytiker elementare tragende Funktionen zu übernehmen. Auf eine frühe Phase regrediert, möchte Drigalski angenommen, aufgehoben verstanden und dann auch ermutigt werden. Weil das nicht der Fall ist, wird sie aggressiv; der Analytiker verschanzt sich und wehrt sich mit Deutungen, sodass sie den Eindruck bekommt, nur noch aus Defekten und Defiziten zu bestehen. Wenn sie thematisiert, dass in der Analyse etwas nicht stimme, schweigt er und zieht sich zurück. Erst ganz zum Schluss hin gesteht er, dass ihn die Arbeit mit ihr so sehr überfordert habe, dass es in seiner Ehe zu Problemen gekommen sei. Mit der Ebene der Grundstörung ist der an die Standardtechnik gewohnte Analytiker heillos überfordert, und darin spiegelt sich auch und zweitens eine generelle Problematik von Lehranalysen wider, weil es für Kandidaten oftmals schwierig ist, in Ausbildung zu stehen – das heißt, sich »benehmen« zu müssen –, andererseits sich frei zu entfalten und sich somit der „Gefahr“ auszusetzen, auf die Ebene der Grundstörung mit ihren kindlichen Bedürfnissen zu regredieren. Daher gehen Analysanden, bewusst oder unbewusst, nicht selten diesem Bereich aus dem Weg (vgl. S. 73). Drittens ist das Buch ein Zeitdokument. Es spiegelt die seelischen Nöte jener wider, die in früher Kindheit grundlegend beeinträchtigt worden sind, indem sie den Bombenterror des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leibe erfahren haben, „zerfetzende Explosionen, mit denen alles durch die Luft fliegt, zerstört wird [...], wo alles stirbt, sich auflöst“ (S. 142). Außerdem handelt es sich um das Dokument einer kritischen Generation,
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E beeinflusst vom Gedankengut der 68er Zeit, indem patriarchalisch-autoritäre und zwanghafte Strukturen nicht mehr fraglos anerkannt werden. Insofern handelt es sich nicht nur um ein Buch über analytische Ausbildungsvereine, sondern auch über das Deutschland der Nachkriegszeit.
Bernd Rieken
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Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten
Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung <ØTKEJ&KQIGPGU 'TUVCWUICDG6JGFKUEQXGT[QHVJGWPEQPUEKQWU6JGJKUVQT[CPF GXQNWVKQPQHF[PCOKERU[EJKCVT[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
ie Entdeckung des Unbewußten“ ist eines der bedeutsamsten Werke über die Geschichte und die Entwicklung der Psychotherapie. Es stellt den Kern des Lebenswerkes des Autors dar, des Psychiaters Henri Ellenberger, der nichts Geringeres auf sich nimmt als die gelungene Beschreibung der dynamischen Psychotherapie, die ihren Ursprung im Altertum nimmt und sich bis zum 2. Weltkrieg erstreckt. So spannt sich der Bogen über stammesmedizinische Verfahren bis hin zur durchdachten Systematik und deren Kontroversen des 20. Jahrhunderts. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Das erste Hauptkapitel (1–5) beschreibt in einer sehr exakten und ausführlichen Weise den Ursprung der Psychotherapie. Beginnend mit einer Beschreibung der ursprünglichen Medizin und der heilenden Systeme wie Exorzismus, Magnetismus und Hypnose, zeigt der Autor, wie diese zusammenhängen und systematisch organisiert wurden durch die Arbeit einiger herausragender Persönlichkeiten – wie Mesmer, Puységur und Charcot es gewesen sind –, was bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „erste dynamische Psychiatrie“ genannt worden ist. Die Einführung des neuen Modells der menschlichen Psyche basierend auf jener Dualität, die bewusste und unbewusste Phänomene beinhaltet, die Beschreibung, wie das Unbewusste arbeitet, die spezifischen klinischen Bedingungen und die Entwicklung neuer pathogener Theorien werden danach weitgehend, genau und systematisch vom Autor als Kennzeichen für die erste Psychotherapie beschrieben. Der Autor stellt außerdem ein reiches und vollständiges Porträt des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Hintergrundes zur Verfügung, der die Entwicklung der ersten dynamischen Psychiatrie kennzeichnet. Die Unbeständigkeiten des Ursprungs werden vor dem Hintergrund der Änderungen innerhalb der Gesellschaftsklassen und der Konflikte zwischen unterschiedlichen kulturellen Epochen wie Barock, Aufklärung, Romantik und Positivismus skizziert, die Europa zwischen 1750–1880 bestimmten. Schließlich stellt der
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E beeinflusst vom Gedankengut der 68er Zeit, indem patriarchalisch-autoritäre und zwanghafte Strukturen nicht mehr fraglos anerkannt werden. Insofern handelt es sich nicht nur um ein Buch über analytische Ausbildungsvereine, sondern auch über das Deutschland der Nachkriegszeit.
Bernd Rieken
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Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten
Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung <ØTKEJ&KQIGPGU 'TUVCWUICDG6JGFKUEQXGT[QHVJGWPEQPUEKQWU6JGJKUVQT[CPF GXQNWVKQPQHF[PCOKERU[EJKCVT[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
ie Entdeckung des Unbewußten“ ist eines der bedeutsamsten Werke über die Geschichte und die Entwicklung der Psychotherapie. Es stellt den Kern des Lebenswerkes des Autors dar, des Psychiaters Henri Ellenberger, der nichts Geringeres auf sich nimmt als die gelungene Beschreibung der dynamischen Psychotherapie, die ihren Ursprung im Altertum nimmt und sich bis zum 2. Weltkrieg erstreckt. So spannt sich der Bogen über stammesmedizinische Verfahren bis hin zur durchdachten Systematik und deren Kontroversen des 20. Jahrhunderts. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Das erste Hauptkapitel (1–5) beschreibt in einer sehr exakten und ausführlichen Weise den Ursprung der Psychotherapie. Beginnend mit einer Beschreibung der ursprünglichen Medizin und der heilenden Systeme wie Exorzismus, Magnetismus und Hypnose, zeigt der Autor, wie diese zusammenhängen und systematisch organisiert wurden durch die Arbeit einiger herausragender Persönlichkeiten – wie Mesmer, Puységur und Charcot es gewesen sind –, was bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „erste dynamische Psychiatrie“ genannt worden ist. Die Einführung des neuen Modells der menschlichen Psyche basierend auf jener Dualität, die bewusste und unbewusste Phänomene beinhaltet, die Beschreibung, wie das Unbewusste arbeitet, die spezifischen klinischen Bedingungen und die Entwicklung neuer pathogener Theorien werden danach weitgehend, genau und systematisch vom Autor als Kennzeichen für die erste Psychotherapie beschrieben. Der Autor stellt außerdem ein reiches und vollständiges Porträt des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Hintergrundes zur Verfügung, der die Entwicklung der ersten dynamischen Psychiatrie kennzeichnet. Die Unbeständigkeiten des Ursprungs werden vor dem Hintergrund der Änderungen innerhalb der Gesellschaftsklassen und der Konflikte zwischen unterschiedlichen kulturellen Epochen wie Barock, Aufklärung, Romantik und Positivismus skizziert, die Europa zwischen 1750–1880 bestimmten. Schließlich stellt der
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E Autor eine komplette Dokumentation der soziologisch-kulturellen Umwandlungen und der Entwicklung der neuen kulturellen Neigungen dar, die die dynamische Psychiatrie als „offizielle Medizin“ akzeptierte. Der zweite Teil des Buches (Kapitel 6–9) ist bestrebt, die großen Systeme der neuen Psychotherapie wieder aufzubauen und herauszustellen. Anhand ihrer Quellen, ihres Ursprungs und ihrer Bedeutung bietet der Autor eine ausführliche Abbildung jener Systeme an, die von den Vätern der zeitgenössischen Psychotherapie entwickelt worden waren: Janet, Freud, Adler und Jung. Einerseits durch die Beschreibung von ausführlichen biographischen Informationen sowie des historischen und familiären Hintergrunds jener Persönlichkeiten, andererseits durch die Schilderung der jeweiligen Theorien (Gemeinsamkeiten und Unterschiede) und persönlichen Verhältnisse gelangt der Leser zu einem tiefen Verständnis der komplizierten Ideen und Konzepte. Der dritte Teil des Buches (Kapitel 10 und 11) ermöglicht schließlich eine Interpretation der Geschichte der Psychotherapie, die entlang der ersten zwei Teile des Buches verfolgt wird. Der Autor liefert eine umfangreiche historische Synthese des Ursprungs und der Entwicklung der neuen Psychotherapie von 1882 bis 1945 und beschreibt Auswirkungen und Zusammenhänge mit anderen zeitgenössischen psychiatrischen Strömungen und Theorien vor ihrem kulturellen und politischen Hintergrund. Das Buch ist durchgehend in einer flüssigen und gleichzeitig exakten Art und Weise geschrieben, die sowohl die Annehmlichkeiten literarischer Prosa als auch wissenschaftlich fundiertes Schreiben inkludiert. Durch die Anwendung solch einer heiklen Methode schafft es Ellenberger, neue Informationen und Perspektiven zur Verfügung zu stellen, sie in ein anderes Licht zu rücken – ohne dabei auf die Genauigkeit historischer Quellen und Angaben zu verzichten. Trotz der hervorragenden Arbeit sind kleine Kritikpunkte anzumerken; so erfahren angloamerikanische Arbeiten oder Einzelpersonen wie William James verhältnismäßig nur geringe Aufmerksamkeit. Das Hauptaugenmerk ist auf die Betrachtung der deutschen und französischen Psychiatrie gelegt, was durch den kulturellen Kontext des Autors bedingt ist. Im Vordergrund steht für den Autor, eine subtile sowie scharf geschnittene Linie zu ziehen, die sich Unbeständigkeiten anschließt, die Europa zwischen dem Ende des 19. und 20. Jahrhunderts kennzeichneten, und zu veranschaulichen, wie die modernen Systeme der Psychotherapie sich ableiten. Selbst in der Betrachtung der einzelnen Systeme werden neue Sichtweisen zur Verfügung gestellt. Die komplette Darstellung von Freud bis Jung wird auch anhand der „Wiederentdeckung“ von Adlers und Janets enormer Bedeutung durchgeführt. Dieses Buch zeigt, wie sich die Psychotherapie innerhalb einer Dialektik von traditioneller wissenschaftlicher Haltung und poetischem Einblick entwickelt hat. Dies macht „Die Entdeckung des Unbewußten“ zu einer Pflichtlektüre für Studierende, Psychotherapeuten und interessierte Laien. Omar Gelo und Katharina R. Reboly 55
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Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit
Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG
m Untertitel nennt Mario Erdheim sein Buch „Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß“ und damit sieht es zunächst so aus, als ginge es um ein Spezialgebiet der Psychoanalyse, angesiedelt unter Soziologie und Völkerkunde, von Relevanz nur für Experten aus diesen Bereichen. Tatsächlich setzt sich das Werk mit dem Kernstück der Psychoanalyse auseinander, der Tatsache, dass „die seelischen Vorgänge an sich unbewusst sind“ (siehe „Das Unbewußte“ in Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. III, Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M., 1975, S. 129). Die Psychoanalyse trifft auf das Unbewusste im Einzelschicksal, in der spezifischen Lebens- und Leidensgeschichte jener Personen, die sich dem psychoanalytischen Prozess aussetzen. Die Erfahrung und Entwicklung der Einzelnen produziert Unbewusstes, wesentliche Teile des Erlebens müssen verdrängt werden und bleiben in der Verdrängung wirksam, verursachen Leiden und Störungen, so lange sie nicht verstanden werden können. Mario Erdheim zeigt, in welcher Weise dieses Unbewusste mit den herrschenden sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt und damit nicht bloß das Einzelschicksal betrifft, obwohl es in spezifischer Weise auftritt und von jedem Menschen für sich allein erlebt wird. Einerseits entstehen die Inhalte des Unbewussten im Zuge des Anpassungsvorgangs an die äußere, gesellschaftliche Realität, ihre Normen und Gesetzmäßigkeiten. Andererseits stützt das gesellschaftlich produzierte Unbewusste Herrschaftsverhältnisse, auch wenn sie den Interessen des Einzelnen widersprechen – ihm Not und Entbehrung auferlegen, seine freie Entfaltung verhindern: „Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Herrschaft stört, muss unbewusst gemacht werden. Das Wissen von Realitäten, das unbewusst geworden ist, ist darum aber nicht unwirksam, es entwickelt sich zur Ideologie, die, im Subjekt verankert, als falsches Bewusstsein wieder herrschaftsstabilisierend wirkt.“ Nach Erdheim schafft die Entstehung der Psychoanalyse im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine neue Art von Wissenschaft: „Der Anfang der Psychoanalyse ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil Freud die Grenzen überschritt, die unsere neuzeitliche Kultur der Wissenschaft setzte. Vor Freud war das Unbewusste nur über die Phantasie und Fiktion erreichbar und fand den anerkannten Niederschlag vor allem in Kunst und Religion. Die Legitimation zu diesen Grenzüberschreitungen holte sich Freud als Arzt, der sich dem Kranken zuwandte; das therapeutische Verfahren wurde zum Medium, in welchem die Realität des Unbewussten sichtbar werden durfte. Aber allmählich wandte sich Freud den anderen Bereichen zu: der Religion, Gesellschaft und Kunst. Was von den
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E Wissenschaften ausgegliedert worden war, versuchte Freud wieder in sie einzubringen.“ Erdheim stellt den unterschiedlichen Ansatz der Kulturtheorien von Freud und Nietzsche einander gegenüber: „Freuds Theorie des Gedächtnisses und die damit verknüpfte Praxis der Forschung implizieren ein bestimmtes Verhältnis zu Kultur und Herrschaft. Freud ging davon aus, dass die Erinnerung das Gegebene und das Vergessen das zu Erklärende sei. Was der Mensch an Gutem und Bösem erfährt, findet einen Niederschlag in seinem Bewusstsein; vergisst er seine Erfahrungen, so hat das seine Gründe. Für Nietzsche dagegen, war das Vergessen, das für den Menschen ‚selbstverständliche‘ Verhalten … und das Gedächtnis ist ein Produkt von Kultur und Herrschaft“ … Nietzsche identifiziert sich weitgehend mit der Kultur, genauer mit der ‚Herrschaft‘ gegen die Sklaven; Freud dagegen nimmt Stellung für den Affekt und die Begierde, die nicht ausgeschlossen bleiben sollen – Vergesslichkeit macht krank … Es ist zwar immer das gleiche Phänomen, aber Nietzsche nennt es Herrschaft und Freud Unterdrückung.“ Diese Sichtweise der Psychoanalyse als Technik, die im Diskurs Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen kann und mit der Enthüllung des Unbewussten Potentiale zur Veränderung der realen Verhältnisse freisetzen kann, wird an unterschiedlichen Themenkreisen dargelegt. „Ich erzähle vom alten Wien, von den Azteken, vom Sonnenkönig und Versailles, von Menschenopfern und Faschismus, aber auch von der Philosophie und der Medizingeschichte, von grausamen Pubertätsriten und den Verhältnissen an einem Zürcher Gymnasium“ und er empfiehlt das Buch mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ zu lesen, so wie Freud sie für das psychoanalytische Verfahren vorschlägt „Man … vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen, man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser Auswahl, seinen Erwartungen oder seinen Neigungen“ (S. Freud: Zur Einleitung der Behandlung. GW, VIII: 453). Dieser Empfehlung folgend ist die Lektüre dieses Buches anregend und aufschlussreich und immer neu, je nachdem, unter welchen Gesichtspunkten und in welchen Lebensphasen es zur Hand genommen wird. Elisabeth Vykoukal
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Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus
Drei Aufsätze #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG+FGPVKV[CPFVJGNKHGE[ENG 0GY;QTM+PVGTPCVKQPCN7PKXGTUKVKGU2TGUU
rikson beschäftigt sich in diesen Aufsätzen mit der Frage der psychischen Entwicklung nicht nur der frühen Kindheit, sondern hinsichtlich des gesamten Lebenswegs. Damit verändert er unsere vielleicht zu enge Sicht auf die ausschließlich kindheitsorienterten Voraussetzungen der menschlichen Entwicklung. Er entwickelt ein psychologisches Stufenmodell. Jede dieser Stufen birgt ein gewisses riskantes Potential des Scheiterns, aber auch des Reifens. Die Stufen: 1. Stufe: Urvertrauen versus Urmisstrauen (1. Lebensjahr): Hier lernt das Kind, sich auf die Menschen und auf die Welt zu verlassen. Dabei ist das Kind auf die Verlässlichkeit des Beziehungsumfeldes angewiesen. Gelingt eine solche Versicherung im Weltgeschehen nicht, bleiben Ängste des Verlassenwerdens bzw. Gefühle der Leere im Erwachsenenalter. 2. Stufe: Autonomie versus Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr): Erikson betont dabei das Verhältnis zwischen Liebe und Hass, Bereitwilligkeit und Trotz, freier Meinungsäußerung und Gedrücktheit. Es ist die Phase des Ausprobierens von autonomen Äußerungen und ein Austesten, ob dies möglich ist, ohne negative Gefühle entwickeln zu müssen. 3. Stufe: Initiative versus Schuldgefühl (4. und 5. Lebensjahr): Das Kind schreitet weiter aus, löst sich ein wenig von Vater und Mutter und entwickelt sein eigenes Gewissen. Dabei ist wichtig, ein entsprechend freundliches Feedback durch die Erziehungspersonen zu bekommen, damit das Überich später nicht allzu grausam und starr wird. Wichtig ist auch, die Leistungsbedürfnisse des Kindes in dieser Phase nicht zu behindern, sondern zu fördern. 4. Stufe: Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis zur Pubertät): Kinder probieren in diesem Alter aus und wollen bereits mit ihren Möglichkeiten im Erwachsenwerden am „vollen“ Leben teilnehmen. Zugleich spüren sie aber auch ihre Unzulänglichkeiten. Eine Überforderung führt zu einem dauerhaften Minderwertigkeitsgefühl. 5. Stufe: Identität versus Identitätsdiffusion (Jugendalter): Identität bedeutet, sich selbst definieren zu können. Der Jugendliche ist auf der Suche nach dieser Identität und muss im Versuch und Irrtum lernen, wo seine Grenzen sind. Gelingt dies, weiß der Jugendliche, „wer er ist“. Gelingt dies nicht, kann es zum sozialen Rückzug oder zu einem Anschluss an Gruppenidentitäten kommen, die für den Jugendlichen gewissermaßen eine Art soziale Plombe darstellen. 6. Stufe: Intimität versus Isolierung (Frühes Erwachsenenalter): Der junge Erwachsene muss nun lernen, Intimität zu entwickeln. Ihm stehen Karrierebedürfnisse, Mobilität, großstädtisches Leben entgegen. Abgren-
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F zung aber hilft dem jungen Erwachsenen nicht, dauerhafte Beziehungen und Treue zu entwickeln. 7. Stufe: Generativität versus Stagnation (Mittleres Erwachsenenalter): Generativität bedeutet, sich der nächsten Generation zuzuwenden, Leben zu schaffen und die Kinder großzuziehen aber auch, sich im Beruf zu etablieren und zu entwickeln. Dabei ist der Altruismus als Haltung dienlich, sich nicht allzu sehr um sein eigenes Ego zu kümmern und damit auf sich zurückgeworfen ein einsames Leben zu führen. 8. Stufe: Ich-Integrität versus Verzweiflung (hohes Erwachsenenalter): Es geht in dieser Phase um das Alter und den Tod. In diesem Lebensabschnitt blickt der Mensch auf sein Leben zurück und sollte eine gewisse Zufriedenheit entwickeln mit dem, was geschehen ist. Gelingt ihm das nicht, kann er an dieser Stelle verzweifeln und sein Leben als nicht gelungen empfinden. Erstmals in der Literatur führt uns E. H. Erikson in die Entwicklungspsychologie des gesamten Menschen ein. Er vermittelt uns, dass das Leben zwar an vielen Stellen scheitern kann, aber auch, dass wir einerseits nachlernen können, andererseits immer wieder vor neuen zu bewältigenden Lebensaufgaben stehen und dass dies keinesfalls ein Prozess ist, der irgendwann zum Stillstand kommt. Vielmehr umfasst dieser Prozess unsere gesamte Lebensspanne. Damit vermittelt Erikson ein Bild der Dynamik des Seelenlebens, das mit sehr viel Hoffnung verbunden ist. Alfred Pritz
Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft
Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG*KUVQKTGFGNCHQNKG 2CTKU.KDTCKTKG2NQP
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oucaults Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft erschien 1961 ursprünglich als Dissertation. Sie stellt verschiedene Aspekte des Wahnsinns und dessen Rollenbild in psychiatrischen Konzepten von der Antike über die Jahrhunderte kritisch dar, indem sie der Frage nachgeht, ob der Wahnsinn eine historische Universale oder etwas Gemachtes ist. Das Buch handelt auch von den bis in die Gegenwart hineinreichenden Bestrebungen der Psychiatrie am Ende des 18. Jahrhunderts, den Wahnsinn auf Geisteskrankheit zu reduzieren und so, vom Gesunden, Normalen und Vernünftigen abspaltend, zu pathologisieren. Die gesellschaftlich verhängte Bestrafung für den Wahnsinn wird in den Behandlungsanstalten vollzogen. Das Bewusstsein verbindet die Begriffe „Wahnsinn“ und „Verbrechen“, während die Vernunft deren Behandlung in Gefängnisan59
F zung aber hilft dem jungen Erwachsenen nicht, dauerhafte Beziehungen und Treue zu entwickeln. 7. Stufe: Generativität versus Stagnation (Mittleres Erwachsenenalter): Generativität bedeutet, sich der nächsten Generation zuzuwenden, Leben zu schaffen und die Kinder großzuziehen aber auch, sich im Beruf zu etablieren und zu entwickeln. Dabei ist der Altruismus als Haltung dienlich, sich nicht allzu sehr um sein eigenes Ego zu kümmern und damit auf sich zurückgeworfen ein einsames Leben zu führen. 8. Stufe: Ich-Integrität versus Verzweiflung (hohes Erwachsenenalter): Es geht in dieser Phase um das Alter und den Tod. In diesem Lebensabschnitt blickt der Mensch auf sein Leben zurück und sollte eine gewisse Zufriedenheit entwickeln mit dem, was geschehen ist. Gelingt ihm das nicht, kann er an dieser Stelle verzweifeln und sein Leben als nicht gelungen empfinden. Erstmals in der Literatur führt uns E. H. Erikson in die Entwicklungspsychologie des gesamten Menschen ein. Er vermittelt uns, dass das Leben zwar an vielen Stellen scheitern kann, aber auch, dass wir einerseits nachlernen können, andererseits immer wieder vor neuen zu bewältigenden Lebensaufgaben stehen und dass dies keinesfalls ein Prozess ist, der irgendwann zum Stillstand kommt. Vielmehr umfasst dieser Prozess unsere gesamte Lebensspanne. Damit vermittelt Erikson ein Bild der Dynamik des Seelenlebens, das mit sehr viel Hoffnung verbunden ist. Alfred Pritz
Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft
Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG*KUVQKTGFGNCHQNKG 2CTKU.KDTCKTKG2NQP
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oucaults Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft erschien 1961 ursprünglich als Dissertation. Sie stellt verschiedene Aspekte des Wahnsinns und dessen Rollenbild in psychiatrischen Konzepten von der Antike über die Jahrhunderte kritisch dar, indem sie der Frage nachgeht, ob der Wahnsinn eine historische Universale oder etwas Gemachtes ist. Das Buch handelt auch von den bis in die Gegenwart hineinreichenden Bestrebungen der Psychiatrie am Ende des 18. Jahrhunderts, den Wahnsinn auf Geisteskrankheit zu reduzieren und so, vom Gesunden, Normalen und Vernünftigen abspaltend, zu pathologisieren. Die gesellschaftlich verhängte Bestrafung für den Wahnsinn wird in den Behandlungsanstalten vollzogen. Das Bewusstsein verbindet die Begriffe „Wahnsinn“ und „Verbrechen“, während die Vernunft deren Behandlung in Gefängnisan59
F stalten und Hospitals autorisiert. Der Nachbar wird eingesperrt, um seinen eigenen gesunden Menschenverstand zu beweisen, zitiert Foucault Dostojewski. Die Vernunft gilt als allgemein akzeptierter Gegensatz zum Wahnsinn. Sie ist gekennzeichnet durch die gnadenlose Sprache des NichtWahnsinns, in der die Menschen in ihrer Haltung überlegener Vernunft miteinander verkehren. Anstatt diese Polarität hinzunehmen, schlägt der Autor vor, die Suche nach einem einheitlichen und absoluten Wahrheitsbegriff aufzugeben und einen Zwischenraum der Leere distanziert wahrzunehmen, in dem die Trennung zwischen dem wahnsinnigen und nicht wahnsinnigen Menschen noch nicht vollzogen ist. Dort, im ungetrennten, ursprünglichen und vorwissenschaftlichen Raum, kann der Dialog stattfinden. Die Sprache der Psychiatrie aber, der Monolog der Vernunft über den Wahnsinn, kennt diesen Dialog nicht, sie zeichnet sich aus durch Schweigen. Durch dieses Schweigen und die Kombination mit institutionalisierten, juristischen Maßnahmen wird der Wahnsinn in seinen verschiedenen Erscheinungsformen von Manie bis Melancholie, über Wahn, Demenz, Hysterie, Hypochondrie und Delirium mit dem Abnormalen und Bösen verbunden und, der Tradition des Mittelalters und der Renaissance folgend, weiter gefangen gehalten. „Wahnsinn und Gesellschaft“ lädt ein, sich mit den Bedeutungen von Begriffen wie „normal“, „abnormal“, „gesund“, „krank“, „Wahn“, „Sinn“, „Irre sein“, „Vernunft“, „Wahnsinn“, „Geisteskrankheit“, „Gesellschaft“, „Strafanstalt“ und „Heilanstalt“ zu beschäftigen und überlässt es den LeserInnen selbst, wie tief sie in diese Begriffswelten eintauchen möchten. Auch werden Mythen und damit zusammenhängende Assoziationen aktiviert. Diese Mythen umranken die Begriffe und führen uns in Ebenen jenseits der kühlen und rein rationalen, antiseptisch-klinisch anmutenden Welt der Definitionen. Verlassen wir die Rationalität, auch sie ist ein Gefängnis, und gehen wir auf eine Reise. Sie führt uns in abgespaltene Räume der menschlichen Seele, irgendeine Seele anfangs. Diese Seele kann aber auch die eigene sein. Wir werden unserer eigenen Schaulust gewahr und der eigenen Gier, den Wahnsinn zu erschauen, wenn wir die Sicherheit des scheinbar Vertrauten und geistig Normalen verlassen. Gleichzeitig schrecken wir vor ihm zurück, wenn er uns selbst begegnet, dieser Wahnsinn. Wir wollen ihn gleich wieder ausspucken, wenn wir zu viel davon geschmeckt haben in unserer Gier, die Verdrängung aufzuheben, um ihn nur kurz in uns selber zu spüren, und sei es bloß, um nur für einen Moment der sozial eingeforderten Normalität entfliehen zu können. Dann reißen wir die Augen auf und verschließen sie gleich ängstlich wieder. Wir pressen die Hand fest vor die Augen wie das Kind, das wir einmal waren: Um nicht sehen zu müssen, während wir gierig nach der Erfahrung sind, gefangen in der Ambivalenz aus Voyeurismus und Ekel, ausgeliefert zwischen Lust, Abscheu und Verstehenwollen. Wenn wir, geführt von Foucaults Beschreibungen der Irrenanstalten, die Schreie hören, den Gestank der Anstalten riechen und im Dunkel der feuchten Räume bizarr verzerrte, sich krumm windende Gestalten sehen können, um so dem Verrückten, Pathologischen, Bizarren, das Bosch und Kubin versucht ha60
F ben, in ihren Bildern zu erfassen, für einen Moment lang ins blöde, trübe, starre, aufgerissene oder oszillierende Auge schauen zu können, als wäre es unser eigenes im Spiegel der Erfahrung. Gleich darauf verstecken wir uns dann wieder zaudernd hinter der Pietät, den willkürlichen Normen oder einem utopisch-intellektualisierenden Ideal einer besseren Erschaffung der Welt und sinnieren nach; wissend scheinen wollend über all das psychisch Kranke da draußen oder da drinnen und was man denn jetzt eigentlich dagegen unternehmen sollte, während man ja doch noch ein Mensch ist. Die Hölle sind die anderen, behauptet Sartre. Wir können auch in den Chor der Antipsychiatrie einstimmen und alles anders machen wollen. Die Normalität ist eine verrückte, während die unrechtmäßig Internierten tragische Helden, wahre Künstler und verkannte Genies sind. Die eigentlich Gesunden, Unverdorbenen wurden quasi Opfer einer zynischen Normalität, mittlerweile durch Hospitalismus zerstörte, kastrierte Talente einer von Grund auf unmenschlichen, kalten Gesellschaft. So kann die Psychiatrie als Ganzes in Frage gestellt werden und alle, die freiwillig darinnen sind, werden vielleicht eine Spur zu radikal in einen Topf geworfen. So macht die Revolution aus den Geknechteten Könige, so bleiben sie an der Macht bis zur nächsten Revolution. Was ist aber, wenn sich davon alles und gleichzeitig nichts als wirklich wahr erweist und die dualistische Spaltung in Gut und Böse auf halbem Wege scheitert? Nehmen wir an, unser Kopf kann sich nicht mehr ganz vom Schauplatz wegdrehen und aufhören, über dieses Dilemma nachzudenken. Irgendetwas hält den Widerstand auf, hält den Blick gefangen und widersteht dem Impuls, die Augen weiter zu verschließen, um die Grenzen der eigenen Normalität zu sichern. Sind wir dann offen dafür, in den weiten Zwischenraum zwischen Wahnsinn und Vernunft hineinzuschauen, diesen Raum, von dem der Philosoph will, dass er für unser Verstehenkönnen erschließbar wird? Oder will er uns für die Erkenntnis öffnen, dass der gemeinsame Raum innerhalb der beiden total extremen Pole „pathologisch“ und „nicht pathologisch“ ein Kontinuum darstellt? Müssen wir denn selbst verrückt sein oder sie zumindest erahnen können, um das Verrückte erfassen, verstehen und vielleicht auch erfolgreich behandeln zu können, oder hören wir auf die Worte von Nietzsche, der die Zwischentöne des Kontinuums beschreibt, wenn er meint, dass aus Gesundheit und Krankheit keine distinkten Prinzipien oder Entitäten gemacht werden müssen, die sich um den lebenden Organismus streiten, um aus ihm ihren Kampfplatz zu machen, sondern dass in diesen beiden Arten des Daseins nur graduelle Unterschiede bestehen und erst die Nicht-Harmonie dieser normalen Phänomene den krankhaften Zustand konstituiert . Foucault bezeichnet die Sprache der Psychiatrie als eine „Archäologie des Schweigens“. Das Konzept der vom Wahnsinn reinen Vernunft wird von ihm Stück für Stück abgetragen. Neben historischen Betrachtungen zum Thema Geisteskrankheit und Bestrafung erzählt der Philosoph von der krank machenden Atmosphäre der Hospitals, die anstatt zu heilen, als 61
F Schöpfer der Krankheiten auftreten (vgl. den Begriff des „Hospitalismus“). Demgegenüber wäre seiner Ansicht nach der beste Ort der Heilung nicht die Institutionalisierung in krank machenden Heilanstalten, sondern innerhalb der Familie oder der natürlichen Umgebung der Kranken. Was ist aber, wenn gerade das familiäre Umfeld oder die gewohnte Umgebung bisher pathologisierend auf einen Menschen eingewirkt hat? Sein Buch ist ein Meisterwerk, eines der unbequemen, herausfordernden Art. Wo endet der Mythos, wo beginnt der Dialog? Oder befinden wir uns bereits mitten drinnen? Thomas Barth
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Jerome D. Frank: Die Heiler 9KTMWPIUYGKUGPRU[EJQVJGTCRGWVKUEJGT$GGKPƂWUUWPI Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG2GTUWCUKQPCPFJGCNKPI#EQORCTCVKXGUVWF[QH RU[EJQVJGTCR[ $CNVKOQTG,QJP*QRMKPU7PKXGTUKV[2TGUU
er amerikanische Psychiater Jerome D. Frank destilliert in diesem Buch wesentliche gemeinsame Elemente erfolgreicher psychotherapeutischer Einflussnahmen. Er extrahiert historische Wurzeln sowie kulturspezifische Definitionen von Krankheitsbegriffen und Psychotherapieformen, wobei er weite Bögen von den sogenannten primitiven Gesellschaften bis zu den modernen Therapieformen (Stand 1961) spannt. Der Autor führt den Leser in die Welt der Annahmen ein. Auch wird die noch immer diskutierte Wirkung von Placebos besprochen, die dann laut Frank am besten wirken, wenn sowohl ÄrztInnen als auch PatientInnen von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind. Erwartungen, Glaubensmuster und Überzeugungen und deren kongruente Repräsentationen als Leitprinzipien des Lebens und Handelns stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang mit Prozessen der Heilung, da wir uns so, als ob sie wahr wären, verhalten, unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind. Eine der Hypothesen ist, dass Demoralisierung das gemeinsame Merkmal von Patienten ist, also ein Zustand der Entmutigung, Verwirrung und Hilflosigkeit. Was die verschiedensten Therapieansätze gemeinsam haben, ist eine erfolgreich geleistete Überzeugungsarbeit, die der Demoralisierung entgegenwirken kann. Der Erfolg dieser Arbeit zeigt sich in Einstellungs- und Verhaltensänderungen sowie einer Abnahme des Leidensdrucks der PatientInnen bei gleichzeitiger Beeinflussung biologischer, psychologischer und sozialer Komponenten, die mit ihren Leiden in Zusammenhang stehen. Nach Frank sind die vier gemeinsamen Eigenschaften aller Psychotherapien:
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F Schöpfer der Krankheiten auftreten (vgl. den Begriff des „Hospitalismus“). Demgegenüber wäre seiner Ansicht nach der beste Ort der Heilung nicht die Institutionalisierung in krank machenden Heilanstalten, sondern innerhalb der Familie oder der natürlichen Umgebung der Kranken. Was ist aber, wenn gerade das familiäre Umfeld oder die gewohnte Umgebung bisher pathologisierend auf einen Menschen eingewirkt hat? Sein Buch ist ein Meisterwerk, eines der unbequemen, herausfordernden Art. Wo endet der Mythos, wo beginnt der Dialog? Oder befinden wir uns bereits mitten drinnen? Thomas Barth
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Jerome D. Frank: Die Heiler 9KTMWPIUYGKUGPRU[EJQVJGTCRGWVKUEJGT$GGKPƂWUUWPI Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG2GTUWCUKQPCPFJGCNKPI#EQORCTCVKXGUVWF[QH RU[EJQVJGTCR[ $CNVKOQTG,QJP*QRMKPU7PKXGTUKV[2TGUU
er amerikanische Psychiater Jerome D. Frank destilliert in diesem Buch wesentliche gemeinsame Elemente erfolgreicher psychotherapeutischer Einflussnahmen. Er extrahiert historische Wurzeln sowie kulturspezifische Definitionen von Krankheitsbegriffen und Psychotherapieformen, wobei er weite Bögen von den sogenannten primitiven Gesellschaften bis zu den modernen Therapieformen (Stand 1961) spannt. Der Autor führt den Leser in die Welt der Annahmen ein. Auch wird die noch immer diskutierte Wirkung von Placebos besprochen, die dann laut Frank am besten wirken, wenn sowohl ÄrztInnen als auch PatientInnen von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind. Erwartungen, Glaubensmuster und Überzeugungen und deren kongruente Repräsentationen als Leitprinzipien des Lebens und Handelns stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang mit Prozessen der Heilung, da wir uns so, als ob sie wahr wären, verhalten, unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind. Eine der Hypothesen ist, dass Demoralisierung das gemeinsame Merkmal von Patienten ist, also ein Zustand der Entmutigung, Verwirrung und Hilflosigkeit. Was die verschiedensten Therapieansätze gemeinsam haben, ist eine erfolgreich geleistete Überzeugungsarbeit, die der Demoralisierung entgegenwirken kann. Der Erfolg dieser Arbeit zeigt sich in Einstellungs- und Verhaltensänderungen sowie einer Abnahme des Leidensdrucks der PatientInnen bei gleichzeitiger Beeinflussung biologischer, psychologischer und sozialer Komponenten, die mit ihren Leiden in Zusammenhang stehen. Nach Frank sind die vier gemeinsamen Eigenschaften aller Psychotherapien:
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F 1.
Die Beziehung zwischen PatientInnen und TherapeutInnen sowie das Vertrauen auf deren Kompetenz und der Wunsch, ihnen zu helfen. 2. Die gesellschaftliche Auszeichnung der Behandlungsorte als Stätten der Heilung und die damit zusammenhängenden Heilungserwartungen. 3. Der Mythos, der eine Erklärung von Krankheit und Gesundheit, Abweichung und Realität umfasst, wie etwa das Zusammenwirken zwischen Lebensphilosophien, Behandlungskonzepten und Weltbildern. 4. Die Aktivität oder das Verfahren, das die Theorie verordnet und damit die gemeinsam geleistete Arbeit an Veränderungsprozessen. Die Länge der Therapien, so vermutet der Autor, richtet sich nach den Erwartungen des Therapeuten, wie lange sie nun dauern solle. Das Buch „Die Heiler“ passt erfrischend gut zu einer aktuellen Diskussion, nämlich der Evaluation mittlerweile hunderter psychotherapeutischer Methoden, die um Anerkennung auf einem immer kapitalintensiver werdenden Gesundheitsmarkt ringen. Es belebt den Diskurs, der davon handelt, welche der psychotherapeutischen Methoden sich statistisch als effizient erweisen und gesundheitsökonomisch sinnvoll einsetzbar sind. Welche sind daher die unterstützenswerten und durch Krankenkassen, Institutionen oder Medien sanktionierten Ansätze? Welche Methoden sind effektiver, welche besser, welche zeitgemäßer und welche nicht? Wie lässt sich die Spreu vom Weizen trennen, um aktuelle Probleme der Behandlungs- und Pflegestellen in den Griff zu bekommen und gesundheitsund sozialpolitisch sinnvolle Schritte für die Zukunft zu setzen? Ebenso erinnert ein Aspekt der Evaluierungsdiskussion an die Fabel des Wettstreits der Tiere im Wald, welches Tier denn nun das beste sei. Übersetzt hieße das: Welche psychotherapeutischen Methoden sind nun eindeutig die besseren und damit den anderen überlegen und wodurch sind sie es? Sind es nun die tiefenpsychologisch orientierten Wege, allen voran die Psychoanalyse, die heute noch von manchen der endlos dauernden Scharlatanerie bezichtigt werden, oder steigert die Leugnung von Phänomenen wie Übertragung und Gegenübertragung im Bunde mit Zeit sparenden, lösungsorientierten systemischen Wunderfragen die Heilungschancen? Sind wir nichts anderes als komplexbeladene bio-psychosoziale Mängelwesen, Pawlow-Hunde oder Skinner-Ratten, oder haben die kognitiven Therapien sich schon zur Seele durchgedacht? Oder kommen wir zur Erkenntnis, dass, wie in den humanistisch orientierten Methoden behauptet, der Mensch (Anm.: Wer sonst?) im Mittelpunkt steht. Hat die Logotherapie und Existenzanalyse nun die Suche nach dem Sinn exklusiv für sich alleine gepachtet oder ist hier noch Raum und Toleranz für andere? Schließt sich hier und jetzt spontan die Gestalt oder bleibt sie offen? Genug der verwirrenden Übertreibungen, denn das passt nicht zur klaren Linie dieses Buches. Fast 20 Jahre später nach Ersterscheinung dieses Buches hat Gregory Bateson in „Mind and Nature“ die Frage gestellt, warum die Schulen denn nicht über das gemeinsame Muster, das verbindet, 63
F lehren. Jerome Frank verbindet lose scheinende Enden, ohne aber die Komplexität der erfolgreichen Wirkfaktoren in banalisierender Weise darzustellen. Er erliegt somit nicht einer vorhin gespiegelten Polemik der „Nothing else Buttery“, einem übersimplifizierenden und Alternativen tendenziell entwertenden Prinzip des „Es ist eigentlich nichts anderes als“. (Dieser Begriff wird Julian Huxley zugeschrieben, zitiert in Popper K, Lorenz K (1985): Die Zukunft ist offen. München: Piper.) Auch baut das Buch konstruktive und dialogfördernde Brücken zwischen scheinbar gegensätzlichen Begriffspaaren wie „primitive Gesellschaften“ und „westliche, intellektuelle, wissenschaftlich orientierte Welt“. Geschrieben Anfang der 60er Jahre, also noch vor kommerziell geförderten Renaissancen schamanischer Techniken und tourismusfördernder spiritueller Rituale, lädt es ein, darüber nachzudenken, wie denn eigentlich Menschen in präpsychotherapeutischen Zeiten mit ihren seelischen Belangen umgegangen sind. Es regt zu Überlegungen an wie: Zu wem ist man denn gegangen, wessen Hilfe wurde in Anspruch genommen? War es ausschließlich Aufgabe der Kirche und der Ärzte in den Dörfern, sich der Psyche und Seelen der um Hilfe suchenden Menschen anzunehmen? Wer waren die Schamanen in den verschiedenen Kulturkreisen? Sind sie noch da? Und wenn nicht: Durch wen wurden sie verfolgt und verdrängt? Welche Techniken haben bei den jeweiligen Heilern zu einer Besserung von Leidenszuständen geführt? Wenn Meisterwerke auch die Eigenschaft haben, über eng gesteckte Grenzen methodisch-separatistischer Allmachtsansprüche auf Heilung hinwegsehen zu können und zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit zu inspirieren, dann liefert dieses Buch ein passendes Beispiel dafür, dass es durchaus wert ist, das Gemeinsame in der Vielfalt der Angebote zu suchen, zu erkennen und zu würdigen. Thomas Barth
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Viktor Frankl: ... trotzdem ja zum Leben sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager #WƂCIG/ØPEJGP&GWVUEJGT6CUEJGPDWEJ8GTNCI 'TUVCWUICDG9KGP&GWVKEMG
iktor Frankl, der mit der Entwicklung der Logotherapie als Begründer der 3. Schule der Wiener Psychotherapie gilt (neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers), musste während des 2. Weltkrieges Jahre in deutschen Konzentrationslagern verbringen. 1945, nach der Befreiung aus einem solchen, schrieb er in kurzer Zeit diesen Bericht nieder. Seine Erfahrungen im Konzentrationslager haben ihn geprägt, aber nicht nur negativ, vielmehr hat er dort auch Erfahrungen gemacht, die sein psychotherapeutisches Sehen und sein
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F lehren. Jerome Frank verbindet lose scheinende Enden, ohne aber die Komplexität der erfolgreichen Wirkfaktoren in banalisierender Weise darzustellen. Er erliegt somit nicht einer vorhin gespiegelten Polemik der „Nothing else Buttery“, einem übersimplifizierenden und Alternativen tendenziell entwertenden Prinzip des „Es ist eigentlich nichts anderes als“. (Dieser Begriff wird Julian Huxley zugeschrieben, zitiert in Popper K, Lorenz K (1985): Die Zukunft ist offen. München: Piper.) Auch baut das Buch konstruktive und dialogfördernde Brücken zwischen scheinbar gegensätzlichen Begriffspaaren wie „primitive Gesellschaften“ und „westliche, intellektuelle, wissenschaftlich orientierte Welt“. Geschrieben Anfang der 60er Jahre, also noch vor kommerziell geförderten Renaissancen schamanischer Techniken und tourismusfördernder spiritueller Rituale, lädt es ein, darüber nachzudenken, wie denn eigentlich Menschen in präpsychotherapeutischen Zeiten mit ihren seelischen Belangen umgegangen sind. Es regt zu Überlegungen an wie: Zu wem ist man denn gegangen, wessen Hilfe wurde in Anspruch genommen? War es ausschließlich Aufgabe der Kirche und der Ärzte in den Dörfern, sich der Psyche und Seelen der um Hilfe suchenden Menschen anzunehmen? Wer waren die Schamanen in den verschiedenen Kulturkreisen? Sind sie noch da? Und wenn nicht: Durch wen wurden sie verfolgt und verdrängt? Welche Techniken haben bei den jeweiligen Heilern zu einer Besserung von Leidenszuständen geführt? Wenn Meisterwerke auch die Eigenschaft haben, über eng gesteckte Grenzen methodisch-separatistischer Allmachtsansprüche auf Heilung hinwegsehen zu können und zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit zu inspirieren, dann liefert dieses Buch ein passendes Beispiel dafür, dass es durchaus wert ist, das Gemeinsame in der Vielfalt der Angebote zu suchen, zu erkennen und zu würdigen. Thomas Barth
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Viktor Frankl: ... trotzdem ja zum Leben sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager #WƂCIG/ØPEJGP&GWVUEJGT6CUEJGPDWEJ8GTNCI 'TUVCWUICDG9KGP&GWVKEMG
iktor Frankl, der mit der Entwicklung der Logotherapie als Begründer der 3. Schule der Wiener Psychotherapie gilt (neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers), musste während des 2. Weltkrieges Jahre in deutschen Konzentrationslagern verbringen. 1945, nach der Befreiung aus einem solchen, schrieb er in kurzer Zeit diesen Bericht nieder. Seine Erfahrungen im Konzentrationslager haben ihn geprägt, aber nicht nur negativ, vielmehr hat er dort auch Erfahrungen gemacht, die sein psychotherapeutisches Sehen und sein
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F Verstehen von seelischen Bedingungen gerade durch diese Extremsituationen geschärft und vertieft haben. Frankl beschreibt drei Phasen im Konzentrationslager: die Einlieferung, das Lagerleben und die psychologische Situation nach der Befreiung. Und sein Buch wird von den Grundgedanken der Logotherapie durchzogen: Der Mensch ist auf Sinn hin angelegt und selbst in dieser Menschenhölle ist Sinn noch möglich. Man kann sterben, indem man sich aufgibt, man kann aber auch in Würde und Stolz sterben. In seinem späteren Werk sollte er dann von der „Trotzmacht des Geistes“ sprechen. Die Einlieferung führt zur Dehumanisierung, aus dem Individuum wird eine Nummer und dieser Prozess der Dehumanisierung schreitet voran, ständig von neuen Sadismen der Wärter und Soldaten begleitet. Viele verzweifeln und nehmen sich das Leben. Frankl schildert, wie er zwei Insassen davon abhalten konnte, indem er sagte, nicht das Leben ist für euch da, sondern ihr für das Leben: der eine für das Kind, dass auf den Vater wartet, und für den Anderen, der als Wissenschaftler sein Werk noch nicht vollendet hatte, eben jene unerfüllte Aufgabe. Besonders schrecklich ist das Leben ohne Ziel und die Häftlinge wussten nicht, wann ihr Leidensweg beendet sein würde. Frankl meint, dass gerade jene, die ihr Ziel aus dem Auge verloren hatten, das Ziel, das jenseits des Konzentrationslagers lag, besonders gefährdet waren, den Strapazen nicht standzuhalten. Er zitiert Nietzsche: „Wer das Warum lebt, kann fast jedes Wie ertragen.“ Auch hier hören wir wieder die logotherapeutische Melodie heraus, das Leben auch dann als sinnvoll zu begreifen, wenn es jenseits des genießenden und leuchtenden Lebens sich im Leid und der Verzweiflung vollzieht. Und so wir wissen, dass todgeweihte kranke Menschen aus dieser Situation eine große innere Stärke beziehen, so meint Frankl, dass es auch vielen Häftlingen so ergangen ist. Besonders hebt er hervor, dass seine Erfahrungen dergestalt waren, dass eine Kollektivschuld nicht ausmachbar war: dass er sadistische Zellengenossen ebenso erlebte wie korrekte und sogar hilfreiche SSSoldaten, dass also der konkrete Mensch zählt. Eine solche Haltung ist erstaunlich bei jemandem, der einer solchen quälenden Situation über Jahre ausgesetzt war. Frankl beschreibt das Lagerleben in vielen verschiedenen Facetten, etwa beschreibt er den Humor, das künstlerische Schaffen als Möglichkeiten, dem täglichen Terror zu entkommen. Er beschreibt aber auch den Weg des sich Verschließens, des sich Abschottens, den Weg in eine innere Einsamkeit, die nicht selten bis in den Tod hineinreicht. Sich ein Ziel setzen scheint eine der wichtigsten Überlebensstrategien gewesen zu sein. Frankl weist auf die Doppelsinnigkeit des Wortes „finis“ hin, es bedeutet Ende, aber auch Ziel. Und mit der Zielerreichung ist ja auch ein Ende des Vergangenen gesetzt und eine neue Zukunft bricht an. Diese Zukunft erlernen mussten die Häftlinge nach der Befreiung: zunächst bei vielen der unglaubliche Hunger nach Nahrung, der zuerst gestillt wurde, erst dann langsam die Freude über die neu gewonnene Freiheit, die aber wieder erst erlernt werden muss, sie fällt einem nicht zu. Und natürlich auch die Enttäuschung, dass manches nicht so eintritt, wie vorher in den Phantasien entworfen. Und dennoch meint er, es sei für ihn selbst be65
F fremdlich zu sehen, dass er diese jahrelange Tortur überhaupt aushalten konnte, so fremd ist sie ihm nach einiger Zeit geworden. Dieses Buch ist ein Muss für jeden am Seelenleben Interessierten: In einer emotionalen Wüste eines Konzentrationslagers kann ein junger Psychotherapeut existentielle Beobachtungen vornehmen, die ihn und nicht nur ihn in gewisser Weise läutern. Die dunkelsten Zeiten vermag er mit einem Licht der Zuversicht auszuleuchten, die zu Recht dazu führten, dass dieses Buch weltweit eine Auflage von über 55 Millionen erreicht hat: Es ist nicht weniger als ein Buch gegen die Verzweiflung in dunkelster Not. Alfred Pritz
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Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG9KGP+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[VKUEJGT8GTNCI
bwehrmechanismen gelten als schützende Mechanismen des Ich gegen Regungen von Unlust, die aus der Innen- oder Außenwelt des Menschen stammen. Meistens besteht menschlich erlebtes Unangenehmes aus affektiven und kognitiven Teilen. Die verschiedenen Arten der Abwehrmechanismen unterscheiden sich nun darin, auf welche Arten diese Inhalte aus dem Bewusstsein gehalten werden. In der analytischen Arbeit hat das Ich nach Anna Freud eine dreifache Funktion: Es ist sowohl Bundesgenosse der Analyse (durch Selbstbeobachtung und Reflexion), Gegner der Analyse (durch alle Arten von Widerstand) als auch Objekt der Analyse (durch den Arbeitsprozess, sich unbewusste und mit Abwehr verbundene Vorgänge bewusst zu machen). Innerpsychische Konflikte stammen sowohl aus dem Es mit Ich-Instanzen, so wie bei der Hysterie und Zwangsneurose, oder aus dem Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, so wie bei der Melancholie. (Die heute veralteten Bezeichnungen der Störungsbilder entsprechen dem Original und wurden hier übernommen.) Anna Freud knüpft in diesem Buch an die Arbeit ihres Vaters an, der den Begriff der Abwehr erstmals in seinen Studien über die Abwehr-Neuropsychosen 1894 verwendet hat und in weiterer Folge zehn Spezialformen der Abwehr (Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Introjektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil, Sublimierung) beschrieb. Die Autorin fügt als zusätzliche Spezialformen noch die Identifikation mit dem Angreifer und die altruistische Abtretung bei, ordnet bestimmen Abwehrformen bestimmte Angstsituationen zu und untersucht das Wirken der Abwehr in der psychosexuellen Entwicklungsphase der Pubertät.
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F fremdlich zu sehen, dass er diese jahrelange Tortur überhaupt aushalten konnte, so fremd ist sie ihm nach einiger Zeit geworden. Dieses Buch ist ein Muss für jeden am Seelenleben Interessierten: In einer emotionalen Wüste eines Konzentrationslagers kann ein junger Psychotherapeut existentielle Beobachtungen vornehmen, die ihn und nicht nur ihn in gewisser Weise läutern. Die dunkelsten Zeiten vermag er mit einem Licht der Zuversicht auszuleuchten, die zu Recht dazu führten, dass dieses Buch weltweit eine Auflage von über 55 Millionen erreicht hat: Es ist nicht weniger als ein Buch gegen die Verzweiflung in dunkelster Not. Alfred Pritz
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Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG9KGP+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[VKUEJGT8GTNCI
bwehrmechanismen gelten als schützende Mechanismen des Ich gegen Regungen von Unlust, die aus der Innen- oder Außenwelt des Menschen stammen. Meistens besteht menschlich erlebtes Unangenehmes aus affektiven und kognitiven Teilen. Die verschiedenen Arten der Abwehrmechanismen unterscheiden sich nun darin, auf welche Arten diese Inhalte aus dem Bewusstsein gehalten werden. In der analytischen Arbeit hat das Ich nach Anna Freud eine dreifache Funktion: Es ist sowohl Bundesgenosse der Analyse (durch Selbstbeobachtung und Reflexion), Gegner der Analyse (durch alle Arten von Widerstand) als auch Objekt der Analyse (durch den Arbeitsprozess, sich unbewusste und mit Abwehr verbundene Vorgänge bewusst zu machen). Innerpsychische Konflikte stammen sowohl aus dem Es mit Ich-Instanzen, so wie bei der Hysterie und Zwangsneurose, oder aus dem Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, so wie bei der Melancholie. (Die heute veralteten Bezeichnungen der Störungsbilder entsprechen dem Original und wurden hier übernommen.) Anna Freud knüpft in diesem Buch an die Arbeit ihres Vaters an, der den Begriff der Abwehr erstmals in seinen Studien über die Abwehr-Neuropsychosen 1894 verwendet hat und in weiterer Folge zehn Spezialformen der Abwehr (Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Introjektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil, Sublimierung) beschrieb. Die Autorin fügt als zusätzliche Spezialformen noch die Identifikation mit dem Angreifer und die altruistische Abtretung bei, ordnet bestimmen Abwehrformen bestimmte Angstsituationen zu und untersucht das Wirken der Abwehr in der psychosexuellen Entwicklungsphase der Pubertät.
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F Durch ihren Vater berühmt gewordene Fallbeispiele, wie das des kleinen Hans, werden hier noch einmal beleuchtet, ebenso wie Patientenberichte aus ihrer eigenen kinderanalytischen Praxis, wie etwa der Bub, der seine schmerzhaften Zahnarzterlebnisse an Gegenständen ihres Behandlungszimmers ausagierte (Identifikation mit dem Angreifer). Weiters unterscheidet sie in Abwehrstrategien des Ichs, je nachdem, ob die abzuwehrende Unlust von innen oder außen stammt: Unlust von innen Verdrängung Reaktionsbildung Hemmungen der Triebregungen Intellektualisierung
Unlust von außen Verleugnung Phantasie des Gegenteils Ich-Einschränkungen Wachsamkeit des Ichs
Zusammenfassend meint sie: Das Ich ist dann siegreich, wenn seine Abwehrmechanismen glücken, das heißt Angst und Unlust eingeschränkt werden und eine Harmonie zwischen Es, Über-Ich und den Außenweltinstanzen hergestellt werden kann. Dieses für psychoanalytische Literatur angenehm schlanke und inhaltlich reiche Werk liefert auf seinen 138 Seiten eine dichte Beschreibung analytischer Techniken und Prozesse. Anna Freud tritt damit erstens aus dem Schatten ihres Vaters durch ihre Eigenständigkeit als Forscherin und Autorin heraus und liefert zweitens einen Beitrag, der für das Gebiet der Psychoanalyse den Fokus nicht nur auf die Aspekte des Unbewussten, sondern auf das Ich, seine Organisation und dessen Strategien zur Abwehr von Unlust richtet. Die Erstauflage von „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ erschien 1936, zwei Jahre bevor die Autorin von der Gestapo verhört wurde und danach mit ihrem Vater von Wien nach London fliehen musste. Dass das Buch trotz dieser Umstände aber dennoch überlebt hat, ist vielleicht eines der Kennzeichen eines Meisterwerks. Die Unterscheidung zwischen interner Angst und Angst vor der Außenwelt (Realangst) ist didaktisch einleuchtend. Die Trennung ist aber insofern nur eine willkürliche, da einerseits die Außenwelt durch innere Bewertungen mitbestimmt und andererseits das Erleben der Innenwelt durch die Außenwelt beeinflusst wird. Insofern haben innere Ängste durchaus reale Anteile, so wie Realängste imaginierte Anteile haben. Neuere Arbeiten, die speziell dem Thema der Abwehrmechanismen gewidmet sind, wie die von Karl König (König: Abwehrmechanismen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007) oder Jerome S. Blackman (Blackman: 101 Defenses: How the mind shields itself. New York: Brunner-Routledge 2004) bauen auf diesem bedeutenden Buch auf. Thomas Barth
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Sigmund Freud: Die Traumdeutung #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP&GWVKEMG
igmund Freud, geboren 1856 in Freiberg/Mähren, gestorben 1939 in London, ist der Begründer der Psychoanalyse und damit der modernen wissenschaftlichen Psychotherapie. Freud betrachtete die Traumdeutung immer als sein wichtigstes Werk. „Insight such as this“, schrieb er ins Vorwort zur dritten englischen Auflage, „falls to one’s lot but once in a lifetime.“ Obwohl auf der Titelseite ins neue Jahrhundert vordatiert, erschien die „Traumdeutung“ bereits Anfang November 1899. Freuds eigene Träume im Rahmen seiner Selbstanalyse standen gewissermaßen Pate bei der Gründung der Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten. Freud erkannte, dass seine und seiner Patienten Träume einen verborgenen Sinn enthielten. Während die Träume der Erwachsenen den tieferen Sinn bis zur Unkenntlichkeit entstellen, sind die Träume der Kinder direkt und einfach. Anna, die Tochter von Sigmund Freud, träumte beispielsweise von den Erdbeeren, die ihr am Vorabend verweigert worden waren. Aus diesen und ähnlichen Beispielen leitete Freud seine zentrale These über den Traum ab: Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines verdrängten Wunsches. Weil man einen Traum nicht einfach aus seiner Erzählung und isoliert vom Kontext interpretieren kann, sind die freien Assoziationen des Analysanden zum Traum und seinen einzelnen Elementen unerlässlich. Freud beschrieb in der Traumdeutung auch die Mechanismen der Traumbildung, die Verdichtung (wenig sagen, um viel auszudrücken), die Verschiebung (ein unverfängliches Objekt an die Stelle eines verbotenen Objekts setzen), die bildliche Darstellung (Gedanken in Bilder verwandeln). In seinem Werk beschränkt sich Freud nicht darauf, den Traum zu studieren: Er präsentiert eine allgemeine Konzeption des seelischen Funktionierens, des normalen wie des pathologischen. Freud hat sich das ganze Leben mit seinem komplexen Werk beschäftigt, das von einer einzigartigen Reichhaltigkeit ist. Er hat eine Kurzfassung geschrieben („Über den Traum“), die als exzellente Einführung für den Leser dienen kann. Der erste Satz der Schrift lautet: „Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, dass es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und dass bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist.“ Nach einer über hundertseitigen Übersicht über die (damalige) wissenschaftliche Literatur zum Traum schreitet er voran, die Methode der Traumdeutung darzustellen. Revolutionär ist sein Ansatz, nicht den Traum eines Patienten als erstes Beispiel zur Illustration einzuführen, sondern einen eigenen Traum, den mittlerweile berühmten und von vielen 68
F Analytikern re-analysierten Traum von „Irmas Injektion“, den er in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1895 hatte. Freud unterzieht jedes Detail seiner Traumschilderung einer eingehenden Untersuchung mittels freier Assoziation. Er demonstriert das klassische Deutungsverfahren an der eigenen Seele. Er enthüllt bei sich selbst unter anderem ein „niederes“ unbewusstes Motiv (Rache) und zeigt, dass der Traum die Erfüllung eines verpönten Wunsches ist. Von den Traummotiven schreitet er in seinem Werk zu den Mechanismen der Traum-Arbeit: wie der verpönte Gedanke entstellt wird, damit er die Zensur umgehen kann. An reichem Beispielmaterial zeigt er auf, wie kindliche Phantasmen und Komplexe am Ursprung des Traums liegen. Die Arbeit der Verdichtung und Verschiebung macht den ursprünglichen Gedanken unkenntlich, Die verschiedenen Darstellungsmittel wie die Umkehrung, die Darstellung durch Symbole, die Darstellung durch die Form des Traumes, die Verkehrung ins Gegenteil, die sekundäre Bearbeitung werden detailliert erläutert. Im berühmten siebten Kapitel „Zur Psychologie der Traumvorgänge“ schließlich entfaltet Freud sein erstes Modell der Psyche, das „topische“ Modell, welches die Seele in ein Unbewusstes, ein Vorbewusstes und ein Bewusstes unterteilt. Die grundlegenden seelischen Vorgänge des Vergessens, der Regression sowie der Primär- und Sekundärvorgang – alles heute zum festen Bestandteil der psychoanalytischen Theorie gehörende Konzepte und auch kulturelles Allgemeingut geworden – werden in diesem Schlüsselkapitel erläutert. Dass Freuds „Traumdeutung“ ein Meisterwerk der Psychotherapie-Literatur ist, bedarf eigentlich keiner Begründung. Es ist das bahnbrechende Werk der modernen Psychotherapie überhaupt. Die Leistung Freuds in diesem Werk: Ein zentrales seelisches Phänomen wurde beschrieben und erklärt. Eine revolutionäre in sich kohärente Konzeption der menschlichen Seele und der in ihr ablaufenden Prozesse wurde geschaffen und logisch und systematisch dargestellt. Ein aus der Theorie abgeleitetes klinisches Verständnis des einzelnen Traumes und damit der Träumerpersönlichkeit wurde entwickelt. War dem Werk zu Beginn eine bescheidene Verbreitung beschieden, so wurde es in den folgenden Jahrzehnten ein Bestseller und ist heute ein Longseller der psychotherapeutischen Fachliteratur. Und wird es bleiben. Nicht zuletzt dank Freuds Sprache, die auf hohem literarischem Niveau anzusiedeln ist. Verständlichkeit und Lesbarkeit: sehr gut, auch für Laien. Markus Fäh
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Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG9KGP+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQCPCN[VKUEJGT8GTNCI
reud geht von den zwei Grundtrieben des Menschen aus: Eros und Todestrieb, also der Trieb, der Vereinigung schafft, und derjenige, der Zerstörung will. Obwohl Freud in seinen späteren Schriften (der Aufsatz ist 1930 erschienen) diese zwei Triebe als Antagonisten ansieht, ist doch offensichtlich, dass er sie in der Praxis als ineinander verwoben konzeptualisiert. In früheren Schriften wurde denn auch in jedem libidinösen Handeln gleichzeitig die aggressive Seite gesehen. Diese beiden Triebe würden menschliches Zusammenleben gründlich stören und führten zu einem Kampf aller gegen alle, wenn nicht der Mensch auch das geordnete Zusammenleben nötig hätte. Zwar würde das ungehemmte Ausleben der Triebe zum höchsten Lustgefühl führen, aber dabei würde Gesellschaft zerstört, dieses Glück ungehemmter Trieberfüllung ist unmöglich. Eros führt Menschen zusammen, wobei das Verlangen nach Familienbindung und Schutz der Nachkommen die Folge seien. Diese Bedürfnisse führen zur Bezähmung ungehemmten Auslebens der Triebe. Ungehemmtes Sexualleben sowie Müßiggang würden zum Verderben der Nachkommen führen. Trotzdem: Dieser Zwang zur Entwicklung einer Kultur (über Arbeit) baut zwar auf der Triebhaftigkeit des Menschen auf, steht ihr aber auch wiederum entgegen. Zwischen Kultur und Trieb besteht daher ein nicht ganz zu überbrückender Gegensatz. Die Arbeit an der Kultur verlange darüber hinaus sehr viel Energie, die damit den Trieben Energie wegnehme. Kulturarbeit wird also nicht in harmonischem Einklang mit der menschlichen Natur geschaffen, sondern als ein Geschehen, das zwei widerstrebende Kräfte zusammenhält: das Bedürfnis nach Gemeinschaft versus das Bedürfnis nach ungebremster Triebabfuhr. Im Todestrieb stecke das Bedürfnis nach Zerstörung der anderen, im Liebestrieb die Tendenz, alle Sexualobjekte in egoistischer Weise für sich zu gewinnen. Kultur wird also diesen Bedürfnissen „abgerungen“, sie ist ein notwendiger Kompromiss und zeigt an, dass Menschen nie eine „nur“ natürliche Seite haben können. Die menschliche Grundposition ist die des Wesens, das nie zufrieden sein kann, sich immer wieder nach ungehemmter Lust (in der Liebe, in der Aggression) sehnt und doch eben qua seiner Natur dazu gezwungen ist, darauf zu verzichten und Kultur zu produzieren. Das bedeutet, dass Menschen nie wirklich glücklich sein können. „... man möchte sagen, die Absicht dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten“. Um diesen Triebverzicht leisten zu können, muss der Mensch imstande sein, Schuldgefühle zu entwickeln. Diese strafen ihn, wenn er sich allzu
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F weit von seiner Aufgabe der Kulturentwicklung entferne. Mit fortschreitender Kulturentwicklung steigt daher auch das Schuldgefühl. Das alltägliche Unglück des Menschen (wegen des dauernden Triebverzichts) kann gemildert werden durch die Freuden, die das Schaffen an der Kultur doch auch bereithält. Auch das Liebesgefühl kann – wenngleich nur kurzfristig – zum kurzen Glück des Menschen beitragen. (Wie so oft schlägt bei Freuds Argumentation auch hier seine unausgereifte Position Frauen gegenüber durch: Da Frauen nicht so sehr wie Männer an der Kulturarbeit teilnehmen, seien sie auch kulturfeindlicher, entwickelten aber auch ein schwächeres Über-Ich – ein Thema, das sich im Aufsatz über die Weiblichkeit wiederholt.) Trotz dieser Mängel (ein zweiter bestünde, meiner Meinung nach, in einem falschen Verständnis von Religion als einem „infantilen Bedürfnis“) gehört für mich dieser Aufsatz Freuds zu den gehaltvollsten und klarsichtigsten überhaupt. Freud zeigt in schonungsloser Form auf, wie schnell die Schicht der Kultur zerbrechen kann, und er flicht dieses allen bekannte Phänomen in seine Theorie ein. Der berühmte „Pessimismus“ Freuds richtet sich gegen alle „Schön-Wetter-Psychologie“, die darauf besteht, dass die bekannten Grausamkeiten, Neid und Egoismus nur Perversionen der „eigentlich guten“ Natur des Menschen seien. Nein, er besteht darauf, dass die abgründigsten Bösartigkeiten, die hemmungsloseste Suche nach Lust qua Zerstörung oder qua Sexualität zur Natur des Menschen gehören, dass Kultur diesen Bestrebungen „abgerungen“ ist und nur eine dünne Schicht bliebe, wenn Menschen die Möglichkeiten hätten, sich ihren Trieben zu überlassen. Man muss kein besonders pessimistischer Mensch sein um zu sehen, dass dieser Befund Freuds im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) leider immer wieder bestätigt wird. Eva Jaeggi
Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens
Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG$GTNKP-CTIGT
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ergessen von Eigennamen: Im ersten Kapitel dieses stark autobiographisch orientierten Werkes beschäftigt sich Sigmund Freud eingehend mit seinen Beobachtungen über das zeitweilige Vergessen und falsch Erinnern von Namen, das durch Verdrängung motiviert ist. Freud rollt seine Überlegungen sehr einfallsreich am Beispiel des Künstlers auf, der berühmte Fresken im Dom von Orvieto geschaffen hat und an dessen Namen er sich nicht erinnern kann. Anstelle von Signorelli fällt ihm Botticelli und Boltraffio ein. Die Begründung dafür ist einfach: Freud 71
F weit von seiner Aufgabe der Kulturentwicklung entferne. Mit fortschreitender Kulturentwicklung steigt daher auch das Schuldgefühl. Das alltägliche Unglück des Menschen (wegen des dauernden Triebverzichts) kann gemildert werden durch die Freuden, die das Schaffen an der Kultur doch auch bereithält. Auch das Liebesgefühl kann – wenngleich nur kurzfristig – zum kurzen Glück des Menschen beitragen. (Wie so oft schlägt bei Freuds Argumentation auch hier seine unausgereifte Position Frauen gegenüber durch: Da Frauen nicht so sehr wie Männer an der Kulturarbeit teilnehmen, seien sie auch kulturfeindlicher, entwickelten aber auch ein schwächeres Über-Ich – ein Thema, das sich im Aufsatz über die Weiblichkeit wiederholt.) Trotz dieser Mängel (ein zweiter bestünde, meiner Meinung nach, in einem falschen Verständnis von Religion als einem „infantilen Bedürfnis“) gehört für mich dieser Aufsatz Freuds zu den gehaltvollsten und klarsichtigsten überhaupt. Freud zeigt in schonungsloser Form auf, wie schnell die Schicht der Kultur zerbrechen kann, und er flicht dieses allen bekannte Phänomen in seine Theorie ein. Der berühmte „Pessimismus“ Freuds richtet sich gegen alle „Schön-Wetter-Psychologie“, die darauf besteht, dass die bekannten Grausamkeiten, Neid und Egoismus nur Perversionen der „eigentlich guten“ Natur des Menschen seien. Nein, er besteht darauf, dass die abgründigsten Bösartigkeiten, die hemmungsloseste Suche nach Lust qua Zerstörung oder qua Sexualität zur Natur des Menschen gehören, dass Kultur diesen Bestrebungen „abgerungen“ ist und nur eine dünne Schicht bliebe, wenn Menschen die Möglichkeiten hätten, sich ihren Trieben zu überlassen. Man muss kein besonders pessimistischer Mensch sein um zu sehen, dass dieser Befund Freuds im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) leider immer wieder bestätigt wird. Eva Jaeggi
Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens
Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG$GTNKP-CTIGT
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ergessen von Eigennamen: Im ersten Kapitel dieses stark autobiographisch orientierten Werkes beschäftigt sich Sigmund Freud eingehend mit seinen Beobachtungen über das zeitweilige Vergessen und falsch Erinnern von Namen, das durch Verdrängung motiviert ist. Freud rollt seine Überlegungen sehr einfallsreich am Beispiel des Künstlers auf, der berühmte Fresken im Dom von Orvieto geschaffen hat und an dessen Namen er sich nicht erinnern kann. Anstelle von Signorelli fällt ihm Botticelli und Boltraffio ein. Die Begründung dafür ist einfach: Freud 71
F will das Thema „Tod und Sexualität“ nicht mit einer Reisebekanntschaft besprechen. Er steht noch unter der Nachwirkung des Selbstmords eines Patienten, der an einer unheilbaren sexuellen Störung litt. Diese Nachricht hatte er auf einer Reise in die Herzegowina, bei seinem Aufenthalt in Trafoi erhalten. Beim Namen Signorelli wurde „Signor“ in „Herr“ übersetzt. Wie bei einer Verschiebung längs der Namensverbindung „Herzegowina und Bosnien“ wurde die Silbe „Her“ durch „Bo“ ersetzt. „Bo“ ist Teil von „Botticelli“ und „Boltraffio“, „traffio“ ist ähnlich wie „Trafoi“. Freud kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für das Vergessen und Fehlerinnern eines Namens folgende sind: eine Disposition dazu, ein kurz vorher stattgefundener Unterdrückungsvorgang und die Möglichkeit einer äußerlichen Assoziation zwischen dem unterdrückten Element und dem betreffenden Namen. Häufig besteht auch ein inhaltlicher Zusammenhang. Vergessen von fremdsprachigen Wörtern: Das Vergessen von fremdsprachigen Wörtern geht in vielen Fällen ähnlich vor sich wie das Vergessen von Namen. Ein zweiter Mechanismus ist die „Störung eines Gedankens durch einen aus dem Verdrängten kommenden inneren Widerspruch“. Vergessen von Namen und Wortfolgen: Im dritten Kapitel beschreibt Freud seine Beobachtungen über eine Art von Fehlleistungen, die er an sich selbst häufig beobachten kann. Er berichtet, dass sich die „leisen Migränen“, an denen er selbst leidet, Stunden vorher durch Namenvergessen ankündigen. „Auf der Höhe des Zustandes“, währenddessen er jedoch weiterarbeitet, bleiben bei ihm häufig alle Eigennamen aus. Seiner Meinung nach handelt es sich hier weder um Zirkulations- und Funktionsstörungen des Großhirns oder Ermüdungserscheinungen noch um die Folge von Intoxikation. Freud beobachtet regelmäßig, dass der vergessene Name einen Bezug zu einem Thema hat, das ihm selbst nahegeht und welches in ihm starke und peinliche Affekte hervorruft. So entfällt ihm etwa der sonst sehr vertraute Name „Rosenheim“, als er sich auf dem Bahnhof von Reichenhall eine Fahrkarte kaufen möchte. Freud hatte nämlich eine Stunde zuvor seine Schwester Rosa besucht, also auch ein „Rosenheim“. Er schreibt: „Diesen Namen hat mir der ‚Familienkomplex‘ weggenommen.“ Über Kindheits- und Deckerinnerungen: Freud prägte den Begriff „Deckerinnerungen“ für einzelne neutrale Erinnerungen an unsere Kindheit, die der Ersatz für andere sehr bedeutsame Eindrücke sind. Wenn die Erinnerung an bestimmte Erlebnisse schmerzhaft ist, werden diese Erinnerungen durch andere, nicht schmerzhafte, „gedeckt“. Gegen die direkte Reproduktion der Erlebnisse ergeben sich Widerstände, weshalb andere Ereignisse erinnert werden. Als Beispiel beschreibt Freud die Kindheitserinnerung eines Patienten, der sich an die Schwangerschaft seiner Mutter nicht erinnern kann. Er erinnert jedoch das Aufbinden des Rocks der Mutter. Dies ist die Deckerinnerung für die Entbindung. Das Versprechen: Freud hat eine große Anzahl von Beispielen für das Versprechen gesammelt. Er entdeckte, dass es regelmäßig „ein einzelner, 72
F unbewusst gebliebener Gedanke“ ist, der „sich durch das Versprechen kundgibt und oft erst durch eingehende Analyse zum Bewusstsein gefördert werden kann, oder es ist ein allgemeineres psychisches Motiv, welches sich gegen die ganze Rede richtet“. So kann der Versprecher Apfe… eine Kompromissbildung zwischen Affe und Apfel sein oder auch eine Verdichtungsleistung aus Ungeduld, weil die angesprochene Person nicht zuhört. Verlesen und Verschreiben: Ähnliche Gesichtspunkte wie für die Sprechfehler gelten beim Verlesen und Verschreiben. Freud zitiert den schweizerischen Psychiater Eugen Bleuler, welcher beim Lesen eines Absatzes über schlechten Stil von wissenschaftlichen Arbeiten an Stelle des Wortes „Blutkörperchen“ seinen eigenen Namen liest. Bleuler begründet dieses Verlesen durch den Umstand, dass er sich selbst nicht frei von dieser Art schlechten Stils fühlt. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen: Das Vergessen von Erlebtem (nicht von Gelerntem) und das Vergessen von Vorsätzen, also Unterlassungen, sind in allen Fällen durch ein Unlustmotiv verursacht. Ein Ding verlegen ist eine andere Form von Vergessen. So ist es für Freud nicht verwunderlich, wenn jemand, der zur Teilnahme an einer Veranstaltung gedrängt wird, den Schlüssel zu seinem Koffer – zunächst ganz ohne Absicht – verlegt und daher an der Gesellschaft nicht teilnehmen kann. Das Verlegen des Schlüssels war auf unbekannte und uneingestandene Motive, besser gesagt – auf einen Gegenwillen, zurückzuführen. Ähnlich verhält es sich etwa mit dem Vergessen, zu Geburtstagen zu gratulieren. Freud schreibt, dass ihm das besonders leicht passiert. Das Vergreifen, Symptom- und Zufallshandlungen: Handlungen, die in ihrer Ausführung von unbewussten Absichten gestört werden, sind häufig als Ungeschicklichkeiten getarnt. Dazu zählt etwa das Herausziehen des eigenen Wohnungsschlüssels vor einer fremden Wohnung, anstatt zu läuten, mit dem Gedanken „Hier bin ich wie zu Hause“. Freud bezeichnet das als „Vergreifen“. Davon unterscheidet er die unauffälligen Zufallshandlungen, deren Effekte geringfügig sind. „Sie treten für sich auf und werden zugelassen, weil man Zweck und Absicht bei ihnen nicht vermutet. Man führt sie aus, ‚ohne sich etwas bei ihnen zu denken‘, nur ‚rein zufällig‘, ‚wie um die Hände zu beschäftigen‘, und man rechnet darauf, daß solche Auskunft der Nachforschung nach der Bedeutung der Handlung ein Ende bereiten wird.“ Irrtümer: Der Mechanismus des Irrtums unterscheidet sich von den Fällen des Versprechens und Verschreibens oder vom Vergessen mit Fehlerinnern dadurch, dass der Irrtum auch geglaubt wird. Wir sprechen von Irrtum anstatt von falsch erinnern, wenn etwas erinnert werden soll, das auch andere Personen bestätigen oder widerlegen könnten. Kombinierte Fehlleistungen: In einigen Fallbeispielen über kombinierte Fehlleistungen wird demonstriert, wie die Ausführung des bewussten Vorsatzes misslingt, während die Fehlleistung gelingt. Freud schreibt: „Jenes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt wird. Zur Überwindung 73
F des unbekannten Motivs ist nämlich noch etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforderlich; es brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem Bewußtsein bekannt macht.“ Determinismus, Zufalls- und Aberglauben, Gesichtspunkte: Im letzten Kapitel erörtert Sigmund Freud zusammenfassend seine These des psychischen Determinismus und weist den alltäglichen Fehlleistungen einen verborgenen Sinn nach: „Der gemeinsame Charakter aber der leichtesten wie der schwersten Fälle, an dem auch die Fehl- und Zufallshandlungen Anteil haben, liegt in der Rückführbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Material, das, vom Bewusstsein abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt worden ist.“ Freuds Werk „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ ist freilich nicht seine wichtigste Schrift. Jedoch ist es sein erfolgreichstes Werk der damaligen Zeit. „Freud’sche Fehlleistungen“ oder „Freud’sche Versprecher“ haben längst den Eingang in die Alltagssprache gefunden. Sigmund Freud erläutert an Serien von Beispielen, wie scheinbar harmlose und zufällige Eingriffe des Unbewussten unser Alltagsleben beeinflussen. Eine Vielzahl der geschilderten Fälle ist autobiographisch. Ausgehend von Eigenanalyse beweist uns Freud, wie sehr unsere alltäglichen Versprecher Ausdruck unbewusster Absichten oder die Offenbarung von Affekten sind, die man eigentlich verschweigen möchte. Fehlleistungen sind Kompromissbildungen zwischen der bewussten Intention des Subjekts und dem Verdrängten. Bei der Analyse von Unfällen kommt er teilweise zum Schluss, dass es sich um unbewusst angestrebte Selbstschädigungen handelt. Freud kommt völlig ohne Fachvokabular aus und gibt infolgedessen eine sowohl wissenschaftliche als auch allgemeinverständliche Darstellung der Beziehung des Unbewussten zur Sprache. Dieses Buch ist leicht zu lesen und zeigt ein schillerndes Bild der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts, in der es entstanden ist. Freud demonstriert, dass er auch ein amüsanter Schriftsteller sein kann. Die Psychopathologie des Alltagslebens wird auch für jene interessant sein, die ihren Blick auf die Anwendung psychoanalytischer Methodik in Anbetracht unserer Kultur richten. Manuela Taschlmar
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Erich Fromm: Haben oder Sein #WƂCIG/ØPEJGP&GWVUEJGT6CUEJGPDWEJ8GTNCI 'TUVCWUICDG6QJCXGQTVQDG! 0GY;QTM*CTRGT4QY
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rich Fromm beschreibt und analysiert in „Haben oder Sein“ zwei konträre Denk-, Verhaltens- und Lebensweisen. Das Haben äußert sich in dem Streben oder der Gier nach materiellen, aber auch immateriellen Gütern wie Macht oder Wissen, das Sein im bewussten und aktiven (Er-) Leben des Menschen. Es liegt dabei in der Natur des Seins, so der Autor, dass es schwerer zu beschreiben und zu erfassen ist als das am Besitz festzumachende Haben. Die dominierende Lebensweise des Habens stellt die Menschlichkeit und den Fortbestand der menschlichen Zivilisation insgesamt in Frage. In seiner Einleitung kritisiert der Autor die Illusion, dass die Gier nach mehr Konsum mit mehr Zufriedenheit einhergeht und dass das wirtschaftliche Wachstum unbeschränkt anhalten würde. Das Streben nach Macht droht in Zeiten des Kalten Krieges in einer atomaren Apokalypse zu enden und die Gier nach Konsum und Besitz die begrenzten Ressourcen des Planeten Erde in absehbarer Zeit zu erschöpfen. Dem drohenden Untergang stellt Erich Fromm das Konzept des Seins als individuellen und gesellschaftlichen Ausweg gegenüber. Im ersten Kapitel seines Buches beschreibt der Autor die Unterschiede zwischen Haben und Sein in ausführlicher und verständlicher Weise. Dem Leser werden die Gegensätze anhand von zahlreichen Beispielen aus der alltäglichen Erfahrung veranschaulicht. Erich Fromm greift in seinen Erklärungen und Beispielen auf ein umfangreiches Wissen zurück und illustriert seine Gedanken mit Darstellungen aus Literatur, Philosophie, Psychoanalyse, marxistischer Theorie und Theologie. Im zweiten Kapitel widmet sich Erich Fromm einer Analyse der Unterschiede zwischen der Existenzweise des Habens und des Seins. Seine Betrachtungen beziehen, wie auch schon im ersten Kapitel, Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen ein. Die Analysen des Autors werden sowohl durch historische Beispiele als auch durch Beobachtungen aus der Entstehungszeit dieses Buches untermauert und illustriert. Je nachdem, welchem Menschenbild, gesellschaftlichen Ideal und wirtschaftlichen System man sich zugehörig fühlt, beschreibt Erich Fromm die Funktionalitäten beziehungsweise Disfunktionalitäten des Habens und Seins zur Etablierung und Aufrechterhaltung kapitalistischer Systeme und Herrschaftsverhältnisse, weiters die menschlichen Charaktere, auf denen sie beruhen und die sie erzeugen. Im dritten und letzten Kapitel entwirft der Autor das Bild eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft. Ein zentraler Begriff ist der „Gesellschafts-Charakter“. Erich Fromm versteht darunter das Ergebnis der Interaktion zwischen individueller psychischer und ökonomischer Struktur. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch „religiöse“ Bedürfnisse; 75
F Fromm bezieht sich auf ein inhärentes, naturgegebenes, den Menschen innewohnendes Bedürfnis nach Orientierung und nach Objekten der Hingabe, wobei mit diesen Bedürfnissen nicht notwendigerweise ein Gottesbegriff verbunden sein muss. Ein radikaler Humanismus soll als Gegenentwurf zum gescheiterten Sozialismus und Kommunismus den Kapitalismus und die damit einhergehende Entfremdung des Menschen überwinden. Erich Fromm benennt Bedingungen, die zur Erreichung dieses Ziels notwendig wären, sie werden in Analogie zur Freud’schen Psychoanalyse entwickelt. Ohne in allzu großen Optimismus zu verfallen, schlägt der Autor konkrete gesellschaftspolitische Maßnahmen vor, um das Ziel, eine neue Gesellschaft zu etablieren, realisieren zu können. Was dieses Buch auch heute lesenswert macht, ist die vielschichtige und differenzierte Analyse des Widerstreits zwischen Haben und Sein, der den Menschen seit jeher charakterisiert. Gerade in Zeiten, in denen Materialismus und Konsumorientierung immer mehr dominieren, ist eine kritische Reflexion dieser Haltungen und Bedürfnisse umso mehr vonnöten. In „Haben oder Sein“ findet man sowohl wertvolle Beiträge zur Selbstverwirklichung in Richtung Seinsorientierung als auch Anregungen zu einem nachhaltigen Umgang mit der Natur und den Menschen. Wenn man das Werk am angepeilten Ziel, der Schaffung eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft, misst, so wurde dieses zweifelsohne nicht erreicht. Aus heutiger Sicht fallen einem noch weitere Schwächen auf: Zum einen liegen diese wohl in der Radikalität und Ausschließlichkeit von Erich Fromms Haltung begründet, die sich in übertriebenem Optimismus und Pessimismus äußert. Der übertriebene Optimismus betrifft die Nachhaltigkeit von positiven Entwicklungen, etwa die Einschätzung des Autors von einigen gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit als irreversibel: so das Ende des Patriarchats und der Herrschaft der Eltern über ihre Kinder oder die sexuelle Revolution. Am ehesten dürfte noch eine Reihe von Errungenschaften der Emanzipation nachhaltig Wirkung gezeigt haben, obwohl viele der angeprangerten Diskriminierungen nach wie vor aktuell sind. Die sexuelle Revolution hat sicher ihre Spuren hinterlassen, von einer Aufbruchstimmung aufgrund befreiter Sexualität kann aber kaum mehr gesprochen werden. Der angesprochene Pessimismus betrifft einerseits die Gefahr der atomaren Selbstauslöschung, andererseits die vom Club of Rome prognostizierte Erschöpfung der natürlichen Ressourcen. Gleichwohl gilt: Die Arsenale an Atomwaffen bestehen weiterhin, nur scheint die Gefahr mit dem Ende des Kalten Krieges weniger akut und durch neue Bedrohungsszenarien ersetzt worden zu sein. Das Streben nach Macht wird heute durch fundamentalistische religiöse Gruppierungen verschärft; eine gefährliche Mischung, die sowohl Staaten als auch terroristische Vereinigungen dazu bringt, weder menschliches Leben noch das Völkerrecht zu achten. Ähnliches gilt für die Vorräte an fossilen Energieressourcen; hier wird die erzwungene Anpassungsfähigkeit durch die Erschließung neuer Quellen und effizienterer Technologien unterschätzt. Nichtsdestoweniger 76
F hat die Bedrohung, die ursprünglich vom Autor in der Begrenztheit der Ressourcen gesehen wurde, durch die Auswirkungen auf das Klima andere Dimensionen erreicht. Die Bedrohungsszenarien mögen Erich Fromm auch dazu verleitet haben, Vorschläge in seinen Maßnahmenkatalog aufzunehmen, die mit demokratischen Prinzipien und dem Recht auf freie Meinungsäußerung unvereinbar sind. Der Katalog enthält aber auch Empfehlungen, die unverändert gültig sind oder sogar an Brisanz gewonnen haben: Dazu zählen etwa die Beseitigung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Befreiung von materieller Not durch ein Grundeinkommen oder die Ablehnung der alleinigen Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns an der Maximierung der Renditen. Eine kritische Betrachtung der Idee eines neuen Menschen oder einer neuen Gesellschaft heißt jedoch nicht, auf die Umsetzung der Gedanken des Autors in politisches und individuelles Handeln verzichten zu müssen. Helga Klug
Ben Furman: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben #WƂCIG&QTVOWPFXGTNCIOQFGTPGUNGTPGPsDQTIOCPP RWDNKUJKPI 'TUVCWUICDG'KMQUMCCPNKKCPO[ÒJÀKUVÀUCCFCQPPGNNKPGPNCRUWWU 2QTXQQ9GTPGT5ÒFGTUVTQÒO1UCMG[JVKÒ
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eugt sich, aber bricht nicht”: „Die Bevölkerung der westlichen Welt wächst auf in einer von Psychologie geprägten Kultur, in der man glaubt, daß sich psychische Probleme hauptsächlich von der Vergangenheit, genauer gesagt von der Kindheit, herleiten lassen.“ Mit diesem Satz beginnt Ben Furmans Buch „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“. Statistisch betrachtet haben Kinder, die in einer ungünstigen Umgebung aufwachsen, eine größere Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben Probleme zu haben, als Kinder aus „Normalfamilien“. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Furman stellt „geradlinige Muster wie: Ein Kind hat schlimme Erlebnisse J mit Sicherheit Probleme in der Zukunft. Ein Erwachsener hat Probleme J garantiert eine schwere Kindheit gehabt in Frage“. Er lässt eine Vielzahl von Menschen selbst zu Wort kommen, die trotz schwieriger Kindheit als Erwachsene ein gelungenes Leben führen. Es gibt eine große Palette von Faktoren, „die es ermöglichen, dass der Mensch sich zwar beugt, aber nicht bricht“. Die vielen Wege, das Leben zu meistern: Wenn Kinder in ihrer Beziehung zu ihren Eltern nicht bekommen, was sie brauchen, so haben sie die Fähigkeit, es bei anderen Menschen zu finden. Dies können sehr nahestehende Großeltern und andere Verwandte sein, Freunde, Freundinnen oder 77
F hat die Bedrohung, die ursprünglich vom Autor in der Begrenztheit der Ressourcen gesehen wurde, durch die Auswirkungen auf das Klima andere Dimensionen erreicht. Die Bedrohungsszenarien mögen Erich Fromm auch dazu verleitet haben, Vorschläge in seinen Maßnahmenkatalog aufzunehmen, die mit demokratischen Prinzipien und dem Recht auf freie Meinungsäußerung unvereinbar sind. Der Katalog enthält aber auch Empfehlungen, die unverändert gültig sind oder sogar an Brisanz gewonnen haben: Dazu zählen etwa die Beseitigung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Befreiung von materieller Not durch ein Grundeinkommen oder die Ablehnung der alleinigen Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns an der Maximierung der Renditen. Eine kritische Betrachtung der Idee eines neuen Menschen oder einer neuen Gesellschaft heißt jedoch nicht, auf die Umsetzung der Gedanken des Autors in politisches und individuelles Handeln verzichten zu müssen. Helga Klug
Ben Furman: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben #WƂCIG&QTVOWPFXGTNCIOQFGTPGUNGTPGPsDQTIOCPP RWDNKUJKPI 'TUVCWUICDG'KMQUMCCPNKKCPO[ÒJÀKUVÀUCCFCQPPGNNKPGPNCRUWWU 2QTXQQ9GTPGT5ÒFGTUVTQÒO1UCMG[JVKÒ
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eugt sich, aber bricht nicht”: „Die Bevölkerung der westlichen Welt wächst auf in einer von Psychologie geprägten Kultur, in der man glaubt, daß sich psychische Probleme hauptsächlich von der Vergangenheit, genauer gesagt von der Kindheit, herleiten lassen.“ Mit diesem Satz beginnt Ben Furmans Buch „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“. Statistisch betrachtet haben Kinder, die in einer ungünstigen Umgebung aufwachsen, eine größere Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben Probleme zu haben, als Kinder aus „Normalfamilien“. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Furman stellt „geradlinige Muster wie: Ein Kind hat schlimme Erlebnisse J mit Sicherheit Probleme in der Zukunft. Ein Erwachsener hat Probleme J garantiert eine schwere Kindheit gehabt in Frage“. Er lässt eine Vielzahl von Menschen selbst zu Wort kommen, die trotz schwieriger Kindheit als Erwachsene ein gelungenes Leben führen. Es gibt eine große Palette von Faktoren, „die es ermöglichen, dass der Mensch sich zwar beugt, aber nicht bricht“. Die vielen Wege, das Leben zu meistern: Wenn Kinder in ihrer Beziehung zu ihren Eltern nicht bekommen, was sie brauchen, so haben sie die Fähigkeit, es bei anderen Menschen zu finden. Dies können sehr nahestehende Großeltern und andere Verwandte sein, Freunde, Freundinnen oder 77
F deren Eltern, Gouvernanten, Lehrerinnen und Lehrer. Eine vertrauliche Beziehung zu diesen Menschen mit Akzeptanz, Unterstützung und Liebe gehört zu jenen Faktoren, die vor einer ungünstigen Umgebung schützen können. Furman beschreibt, dass Tiere, genauso wie die Betrachtung der Natur, das Überleben unterstützen. Bei Bedarf können Kinder mit großer Leichtigkeit in eine Phantasiewelt eintauchen, in der sie gute Spielkameraden und verständnisvolle Erwachsene vorfinden, ähnlich wie die Figuren in „Alice im Wunderland“. Viele Beispiele in Ben Furmans Buch zeigen, dass das Schreiben von Texten oder das Führen von Tagebüchern gleichermaßen über schwierige Zeiten hinweghelfen kann, wie das Lesen, gute Leistungen in der Schule, Hobbys oder Religion. Und überhaupt ist die Liste der Kraftquellen fast unendlich lang. Der Stolz desjenigen, der es geschafft hat: Menschen neigen nach Schicksalsschlägen zu einer selbstkritischen Haltung. Wenn Erinnerungen an erschütternde Erfahrungen vorwiegend mit Schuldgefühlen, Scham oder Wut besetzt sind, so können sie eine Last sein. Wenn den Betroffenen jedoch ihre eigenen Bewältigungsmöglichkeiten bewusst werden, so kann das Erinnern Stolz auslösen und eine Quelle der Kraft sein. Sie können anfangen, sich selbst zu achten und „ihren Blick von der Vergangenheit auf die Möglichkeiten der Zukunft“ richten. Besser spät als nie: Es gibt viele Gelegenheiten, später im Leben Erfahrungen zu sammeln, die den Menschen in der Kindheit gefehlt haben. Für viele ist es am wichtigsten, diese Erfahrungen mit ihren eigenen Kindern zu durchleben. Viele Frauen, in deren Erinnerung „ein alkoholisierter und gewalttätiger Tyrann herumgeistert“, danken ihren Partnern und anderen Menschen, die ihnen das zurückgeben, was sie einst verloren. Begabte Kinder, die viele Erfahrungen Gleichaltriger entbehren, weil sie stundenlang Instrumente üben oder PC-Programme entwickeln, sind meistens erfolgreich in ihrem Leben und verhalten sich überdurchschnittlich sozial. Die Möglichkeit des Wachsens: Im Laufe der Zeit entwickelt sich die Fähigkeit, die positiven Aspekte von leidvollen Erfahrungen zu erkennen. Einige Menschen meinen, dass ihre Empathie, ihr Optimismus oder viele andere Stärken aus ihrer schwierigen Kindheit herrühren. Menschen, die eine gewaltsame Erziehung erlebt haben, wissen, wie sich Gewalt anfühlt, welche Folgen sie hat und wie wichtig es ist, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Sie werden nicht automatisch zu gewalttätigen Erwachsenen. Verhaltensprobleme von Kindern mit schwierigen Erlebnissen zu erklären, kann daher auch schädlich sein, nämlich wenn das Kind diese Einstellung übernimmt und denkt, dass es psychisch so geschädigt ist, dass es zu einem besseren Verhalten nicht fähig ist. Die Gedanken, die wir über unsere Erlebnisse bilden, beeinflussen unsere Gefühle. Ben Furman nennt dies positives und negatives Wenn-Denken: „Wenn wir sagen: ‚Wenn meine Kindheit nicht so gewesen wäre, wäre ich heute glücklicher‘, denken wir in einer negativen ‚Wenn-Form‘ und wir bedauern unsere Vergangenheit. Sagen wir wiederum: ‚Wenn meine Kindheit nicht so gewesen wäre, wäre ich heute nicht so klug‘ , handelt es sich um eine positive Form und diese erleichtert unser Leben.“ 78
G Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel mit häufig gestellten Fragen und Antworten zu den Themen Kindheit, Bewältigung und Gesundheit der Seele. Dieses wichtige kleine Buch (102 Seiten) geht der Frage nach, ob eine schwierige Kindheit unbedingt Probleme im Erwachsenenalter zur Folge hat. Der finnische Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie, Ben Furman, reiht eine Vielzahl von Fallbeispielen zu einer eindrücklichen Bildergeschichte. Sie stammen aus mehr als 300 bewegenden Briefen, die Furman auf eine Anzeige in zwei Familienzeitschriften erhalten hat. Menschen berichten, was ihnen geholfen hat, ihre schwierigen Kindheitserlebnisse zu bewältigen, was sie aus ihrer traumatischen Kindheit gelernt haben und wie sie später im Leben jene Erfahrungen gesammelt haben, die ihnen in der Kindheit fehlten. Gewalt, sexueller Missbrauch, Alkoholismus oder Verlust der Eltern stehen nicht als Probleme im Mittelpunkt, sondern demonstrieren aus einer neuen Perspektive, wie man aus überstandenen Schicksalsschlägen Kraft schöpfen kann. Das Buch besticht durch seinen schlichten und einprägsamen Stil. Es verzichtet auf Rezepte oder Dogmen und gibt viele Anregungen, wie Schwierigkeiten in Chancen umgewandelt werden können. Ein positives Buch, das Mut macht. Manuela Taschlmar
Peter Gay: Sigmund Freud
Eine Biographie für unsere Zeit #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG(TGWF#NKHGHQTQWTVKOG 0GY;QTM0QTVQP
P
eter Gay beginnt in seinem großen Opus mit Reflexionen über die Bedeutung von Biographien und insbesondere die Vorliegende. Er beschreibt den Charakter Sigmund Freuds als den eines Konquistadors (übrigens eine Bezeichnung, die Freud für sich selbst auch gewählt hat). Gay betont, wie wichtig es ihm ist, der Bedeutung Freuds für das Denken des 20. und 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, auch die Begrenztheiten seines Lebens aufzuzeigen. Gerade diese Haltung macht diese Biographie so lesenswert, weil sie auf falsche Lobhudelei und Glorifizierung verzichtet und so in komplexer Weise am ehesten der historischen Figur Freud nahekommt. Das Buch, 900 Seiten umfassend, teilt das Leben Freuds in verschiedene Zeitphasen ein, die auch mit Schaffensperioden und unterschiedlichen Theorieentwicklungen verbunden sind. Die erste Phase lässt Peter Gay von der Geburt Freuds, 1856, bis 1905 dauern. In diesen Jahren vollzieht sich Freuds Erwachsenwerden, seine Universitätszeit als Neuroanatom, seine Beziehung zu Breuer und letztlich 79
G Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel mit häufig gestellten Fragen und Antworten zu den Themen Kindheit, Bewältigung und Gesundheit der Seele. Dieses wichtige kleine Buch (102 Seiten) geht der Frage nach, ob eine schwierige Kindheit unbedingt Probleme im Erwachsenenalter zur Folge hat. Der finnische Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie, Ben Furman, reiht eine Vielzahl von Fallbeispielen zu einer eindrücklichen Bildergeschichte. Sie stammen aus mehr als 300 bewegenden Briefen, die Furman auf eine Anzeige in zwei Familienzeitschriften erhalten hat. Menschen berichten, was ihnen geholfen hat, ihre schwierigen Kindheitserlebnisse zu bewältigen, was sie aus ihrer traumatischen Kindheit gelernt haben und wie sie später im Leben jene Erfahrungen gesammelt haben, die ihnen in der Kindheit fehlten. Gewalt, sexueller Missbrauch, Alkoholismus oder Verlust der Eltern stehen nicht als Probleme im Mittelpunkt, sondern demonstrieren aus einer neuen Perspektive, wie man aus überstandenen Schicksalsschlägen Kraft schöpfen kann. Das Buch besticht durch seinen schlichten und einprägsamen Stil. Es verzichtet auf Rezepte oder Dogmen und gibt viele Anregungen, wie Schwierigkeiten in Chancen umgewandelt werden können. Ein positives Buch, das Mut macht. Manuela Taschlmar
Peter Gay: Sigmund Freud
Eine Biographie für unsere Zeit #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG(TGWF#NKHGHQTQWTVKOG 0GY;QTM0QTVQP
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eter Gay beginnt in seinem großen Opus mit Reflexionen über die Bedeutung von Biographien und insbesondere die Vorliegende. Er beschreibt den Charakter Sigmund Freuds als den eines Konquistadors (übrigens eine Bezeichnung, die Freud für sich selbst auch gewählt hat). Gay betont, wie wichtig es ihm ist, der Bedeutung Freuds für das Denken des 20. und 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, auch die Begrenztheiten seines Lebens aufzuzeigen. Gerade diese Haltung macht diese Biographie so lesenswert, weil sie auf falsche Lobhudelei und Glorifizierung verzichtet und so in komplexer Weise am ehesten der historischen Figur Freud nahekommt. Das Buch, 900 Seiten umfassend, teilt das Leben Freuds in verschiedene Zeitphasen ein, die auch mit Schaffensperioden und unterschiedlichen Theorieentwicklungen verbunden sind. Die erste Phase lässt Peter Gay von der Geburt Freuds, 1856, bis 1905 dauern. In diesen Jahren vollzieht sich Freuds Erwachsenwerden, seine Universitätszeit als Neuroanatom, seine Beziehung zu Breuer und letztlich 79
G sein geistiger Durchbruch um 1900, als er die „Traumdeutung“ publiziert und damit in den Grundzügen die Psychoanalyse entwickelte. Die nächste Phase umfasst die Jahre 1902 bis 1915, in der wichtige Werke über Leonardo da Vinci, der „Fall Schreber“, der „Wolfsmann“ und viele andere kleinere Werke entstanden, die seine Theorien begründen, aber auch erweitern. Nicht zuletzt sind dies die Jahre der Auseinandersetzung mit C. G. Jung und Alfred Adler, die eigene Wege gingen. Damit verbunden wurde die Psychoanalyse zu einer therapeutischen, aber auch philosophischen Bewegung, die bis heute nachwirkt. Gay meint: „Wir sprechen heute alle Freud“, als wir tatsächlich von ihm formulierte Begriffe in unserem Alltag verwenden, wie etwa „Fehlleistung, Ambivalenz, Überich, Geschwisterrivalität, Ödipuskomplex“. In diesen Jahren vollzieht sich auch die Gründung von vielen psychoanalytischen Gruppierungen. Zugleich sind dies auch die Jahre des Endes des alten Europas. Der 1. Weltkrieg überzieht mit seinem Grauen alle Länder Europas und das habsburgische Weltreich ist am Zerfallen. Dass dies nicht ohne Folgen für einen so wachen Geist wie Freud war, kann jeder nachvollziehen und seine Thanatostheorie ist wohl ohne diese Erfahrungen nicht denkbar. Freud war zumindest Kulturskeptiker, als er gnadenlos unsere hehren und schönen Dinge auf die triebpsychologischen Grundlagen zurückführte. Sein berühmter Satz „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“ hat schließlich nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Die 3. Phase von 1935 bis 1939, dem Todesjahr Sigmund Freuds, nennt Peter Gay „Revisionen“, also neue Beleuchtungen bereits formulierter Konzepte. So publizierte er ganz wesentliche Beiträge zur Psychoanalyse in den 1920er Jahren: 1920 „Jenseits des Lustprinzips“, 1921 „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ und 1923 das „Ich und das Es.“ 1923 wird Gaumenkrebs diagnostiziert und dieser Krebs begleitet ihn unter vielen schmerzhaften Operationen bis an sein Lebensende. Inzwischen hat Freud, trotz heftiger Kritik an seinem Werk, Weltruhm erlangt und mehr und mehr wird die psychoanalytische Methode in der Behandlung von psychischen Leiden eingesetzt. 1928 schreibt Freud eine wichtige Verteidigungsschrift „Zur Frage der Laienanalyse“, in der er die Psychoanalyse als eigenständige Wissenschaft und Behandlungsmethode sieht, die von keinem anderen Beruf, insbesondere nicht von der Medizin vereinnahmt werden darf. Diese Schrift hat etwa 60 Jahre später mitbewirkt, dass die Psychotherapie in Österreich als eigene wissenschaftliche Disziplin an Universitäten gelehrt und auch als eigenständiger Beruf ausgeübt werden kann. Freud war immer streitbar, hat sich mit vielen seiner Schüler zerstritten, aber auch wacker seine Stimme zu Fragen der Zeit erhoben. Bekannt ist etwa sein Schriftwechsel mit Albert Einstein zum Thema „Krieg“. Er wird als alter Mann nun allenthalben geehrt, doch 1938 muss er Österreich im Zuge der Besetzung durch die Nationalsozialisten verlassen und emigriert nach London, wo er 1939 stirbt. Diese Biographie zeugt von den vielen äußeren und inneren Gefechten, die Freud durchleben musste, sich selbst aber immer treu bleibend, kom80
G promisslos der Wahrheit verpflichtet. Er hat der Welt der Moderne eine praktikable Theorie in die Hand gegeben und mit seiner Form der Psychotherapie, der Psychoanalyse, unzähligen Menschen geholfen und auch heute noch lernen Menschen in allen Kontinenten von seinen Konzepten des seelischen Verstehens und seiner therapeutischen Technik. Dieses Buch ist nicht nur spannend geschrieben, es zeigt Sigmund Freud als Forscher und Mensch wie keine der Biographien davor. Alfred Pritz
Klaus Grawe / Ruth Donati / Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel Von der Konfession zur Profession #WƂCIG)ÒVVKPIGP*QITGHG 'TUVCWUICDG
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ährend der vergangenen letzten Jahrzehnte der Psychotherapie, wo in weiten Teilen ein lukratives Eldorado von noch lebenden oder schon verstorbenen Gurus mitsamt ihren gläubig nachbetenden Jüngern entstand, erfuhr der kleinere wissenschaftliche Zweig zumeist Ablehnung. Es war eine Zeit einer geradezu konfessionell ausgerichteten Psychotherapie. Grawe et. al. wollen mit diesem Werk gegenüber dieser mittelalterlichen Mentalität anhand objektiver wissenschaftlicher Methodik Aufklärung betreiben. Die Psychotherapie wird auch als Produkt unserer Gesellschaft diskutiert und in diesem Kontext wird der schon lange fälligen Seriosität Rechnung getragen: Trotz der Existenz von verschiedensten Therapieschulen muss man zu einer Art Allgemeinen Psychotherapie gelangen, die sich selbstverständlich umfassender wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient (die ja prinzipiell auch existieren). Der Umstand, dass ohne die Existenz von genügend Schüleranwärtern für die Therapieschulen(industrie) die entstandenen Verbände und Vereine keine ökonomische Existenzgrundlage hätten und deren eigene Wahrheit als die eigentliche Wahrheit dargestellt und oft gewissenlos verkauft wird, ist unmissverständlich angeführt und wird kritisiert. Als zweiter Kritikpunkt des Gegenwärtigen wird die therapieschulenorientierte „Scheuklappen“-Ausbildungsmentalität angeführt, welche unmittelbar zu den gravierenden Missständen der psychotherapeutischen Versorgungspraxis führt. Das und manches andere mehr geleitet zur Notwendigkeit, ein Allgemeines Psychotherapiestudium zu schaffen, welches zwar die Krankenkassen, nicht aber die (partiell monarchisch) amtierenden Psychotherapeuten (in Vereinen) erfreuen würde. Erst dann kann es zur nachvollziehbaren Qualitätssicherung kommen.
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G promisslos der Wahrheit verpflichtet. Er hat der Welt der Moderne eine praktikable Theorie in die Hand gegeben und mit seiner Form der Psychotherapie, der Psychoanalyse, unzähligen Menschen geholfen und auch heute noch lernen Menschen in allen Kontinenten von seinen Konzepten des seelischen Verstehens und seiner therapeutischen Technik. Dieses Buch ist nicht nur spannend geschrieben, es zeigt Sigmund Freud als Forscher und Mensch wie keine der Biographien davor. Alfred Pritz
Klaus Grawe / Ruth Donati / Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel Von der Konfession zur Profession #WƂCIG)ÒVVKPIGP*QITGHG 'TUVCWUICDG
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ährend der vergangenen letzten Jahrzehnte der Psychotherapie, wo in weiten Teilen ein lukratives Eldorado von noch lebenden oder schon verstorbenen Gurus mitsamt ihren gläubig nachbetenden Jüngern entstand, erfuhr der kleinere wissenschaftliche Zweig zumeist Ablehnung. Es war eine Zeit einer geradezu konfessionell ausgerichteten Psychotherapie. Grawe et. al. wollen mit diesem Werk gegenüber dieser mittelalterlichen Mentalität anhand objektiver wissenschaftlicher Methodik Aufklärung betreiben. Die Psychotherapie wird auch als Produkt unserer Gesellschaft diskutiert und in diesem Kontext wird der schon lange fälligen Seriosität Rechnung getragen: Trotz der Existenz von verschiedensten Therapieschulen muss man zu einer Art Allgemeinen Psychotherapie gelangen, die sich selbstverständlich umfassender wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient (die ja prinzipiell auch existieren). Der Umstand, dass ohne die Existenz von genügend Schüleranwärtern für die Therapieschulen(industrie) die entstandenen Verbände und Vereine keine ökonomische Existenzgrundlage hätten und deren eigene Wahrheit als die eigentliche Wahrheit dargestellt und oft gewissenlos verkauft wird, ist unmissverständlich angeführt und wird kritisiert. Als zweiter Kritikpunkt des Gegenwärtigen wird die therapieschulenorientierte „Scheuklappen“-Ausbildungsmentalität angeführt, welche unmittelbar zu den gravierenden Missständen der psychotherapeutischen Versorgungspraxis führt. Das und manches andere mehr geleitet zur Notwendigkeit, ein Allgemeines Psychotherapiestudium zu schaffen, welches zwar die Krankenkassen, nicht aber die (partiell monarchisch) amtierenden Psychotherapeuten (in Vereinen) erfreuen würde. Erst dann kann es zur nachvollziehbaren Qualitätssicherung kommen.
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G Bezogen auf das Psychotherapiewissenschaftsstudium selbst befürworten die Autoren einen gesättigten psychologischen Lehrgrundinhalt als Basis, welcher vergleichsweise bis heute auch Ärzte im Medizinstudium nicht erwerben. Trotz aller Eigenheiten der Schulen gibt es unheimlich viel Gemeinsames im eigentlichen Psychotherapieprozess. Das Gesundheitssystem ist als Ganzes leider falsch programmiert. Nach einer der vielen zitierten Studien bedürften 25–30 % aller Patienten von Allgemeinarztpraxen eigentlich einer psychotherapeutischen Behandlung. Anderen Untersuchungen zufolge dauert es durchschnittlich sechs bis sieben Jahre, bis die behandlungsbedürftigen Personen mit psychogenen Störungen beim ausgebildeten Fachmann/der Fachfrau landen. Sämtliche vorherrschenden Umwegkosten bleiben nicht unerwähnt. Faktum ist: Die Einführung einer Allgemeinen Psychotherapie senkt die Kosten für das Gesundheitssystem insgesamt. Den Kern des Buches bilden der Bericht über eigene empirische Untersuchungen, Ergebnisse und direkte Wirkungsvergleiche der verschiedenen Therapieformen und Methoden. Das wichtigste Wirkprinzip für die Allgemeine Psychotherapie wird als aktive Hilfe zur Problembewältigung bezeichnet, welche aber in der Literatur seltsamerweise am meisten unterschätzt wird. Nach dieser Problembewältigungsperspektive sollte jeder Psychotherapeut die Problem- und Lebenssituationen des Patienten prüfen bzw. unter dem Gesichtspunkt des Könnens bzw. Nicht-Könnens des Patienten analysieren. Des Weiteren gibt es die Klärungsperspektive, wo dem Patienten geholfen wird, Wahrnehmungen hinsichtlich erlebter Bedeutungen zu reflektieren oder auch selbst ändern zu können. Als drittes Paradigma gibt es noch die Beziehungsperspektive, welche eine qualitativ möglichst gute Therapiebeziehung beschreibt, die sich wiederum in die Persönlichkeit des Therapeuten, Aspekte der nonverbalen Kommunikation, Patient-Therapeut-Interaktion, beidseitiges Engagement und auch Motivation und Glaubwürdigkeit des therapeutischen Tuns aufgliedert. Die Autoren haben für dieses Buch mit verblüffender Akribie und Durchhaltevermögen ganze 13 Jahre damit verbracht, die entsprechenden wissenschaftlichen Daten zu sammeln und wirklich umfassend aufzuarbeiten. Zuallererst werden die bis zum heutigen Tage „amtierenden“ Missstände bedingungslos aufgezeigt. Die entsprechenden Vereine sind bis heute, wenn sie vom Staat einmal das „Ausbildungsrecht“ erhalten haben, auf eigentlich sehr unseriösen Pfaden unterwegs – natürlich nicht offiziell. Es gibt selten Qualitätsstandards, und falls es sie doch gibt, in beliebiger Auslegungsfreiheit (?). Überprüfungen und Kontrollen sind daher in der Praxis überflüssig. Dementsprechend verhält es sich gleichartig in Bezug auf die Tarifhöhen für Lehranalysen, die von den Auszubildenden der jeweiligen Schulen in unterschiedlicher Anzahl vorgeschrieben werden. Grawe et. al. formulieren prägnant, dass hier unmissverständliche gesetzliche Vorschriften und Qualitätsstandards existieren müssen – und das zum Wohle des Patienten. Weiters werden auch die für die Psychotherapie negativen 82
G Folgen der „ewigen“ Berufskämpfe zwischen Klinischen Psychologen und Ärzten sehr präzise erörtert. Selbst Psychiater sind ja überwiegend psychoanalytisch ausgebildet und dadurch vor allem blind im Wissen über die Möglichkeiten der anderen zugelassenen Psychotherapieschulen – außer sie absolvierten eine zusätzliche Psychotherapieausbildung. Die vielen exakten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in dem Standardwerk für die Psychotherapie präsentiert werden, verwirklichte erstmalig die Sigmund Freud PrivatUniversität Wien im Jahre 2005 auf akademischem Niveau in einem üblichen sechssemestrigen Grundstudiengang. Auch diese vorgeschlagene Allgemeine Psychotherapie wird so wie in diesem Buch beschrieben mit profundester Psychologie als Basis gelehrt und ist hierorts neuerdings studierbar. Der Zukunft zum Trotz ist im aktuellen Psychotherapiegesetz (in Österreich) aber leider (noch) vorgesehen, eine bestimmte Psychotherapieschule wählen zu müssen. Bei den erfahrenen Psychotherapiewissenschaftlern hierzulande dominiert aber die Zustimmung zu der vorgeschlagenen Allgemeinen Psychotherapie. Wie es so manche Berufsständler der „Psychos“ in dem Lande aber zurzeit bevorzugen, trägt man die Streitigkeiten natürlich auch weiterhin gerne interuniversitär (auf dem Rücken und zu Lasten der Studenten) aus. Notwendig Modernes gegen Alteingesessenes: Sigmund Freud hatte das bekannerweise ja am eigenen Leib mit der Psychoanalyse selbst durchstehen müssen. Dieses neue Wissenschaftskonzept ist auch im Hinblick auf die Komplexität der heutigen Zeit absolut notwendig. Der Kostenexplosion des Gesundheitssystemes muss man Rechnung tragen – nunmehr wissenschaftlich dokumentiert, ein vermehrter Einsatz der Psychotherapie als die Möglichkeit zur Einsparung sollte für die Krankenkassen bzw. den Staat in Betracht gezogen werden. In den Vergleichen der unterschiedlichen Schulen, die im Buch untersucht wurden, könnte man als Wissenschaftler aufgrund des unüberschaubaren international verfügbaren Studienmateriales wohl ohne Ende weiterforschen, aber man wird in den Grundsätzen dieser Erkenntnisse nichts wesentlich anderes entdecken. Die einzelnen Psychotherapieschulen sind in diesem Buch eher nur kurz umrissen, da es zu diesem Zwecke weiterführend eigener Standardwerke bedürfte. Das Werk ist ein einzigartig wissenschaftlich exaktes Vergleichswerk und gibt bei Umsetzung der Ergebnisse eine exzellente Basis für die erforderliche Veränderung der Psychotherapielandschaft. Kurz gesagt: (Wissenschaftliche) Psychotherapie wirkt und bewirkt enorme Kosteneinsparungen für die öffentlichen Kassen, wie in diesem Buch nachgewiesen wurde. Andreas Schmidt
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Ralph R. Greenson: Technik und Praxis der Psychoanalyse #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG6JGVGEJPKSWGCPFRTCEVKEGQHRU[EJQCPCN[UKU 8QNWOG+ 0GY;QTM+PVGTPCVKQPCN7PKXGTUKVKGU2TGUU
alph R. Greenson (1911–1979) gelang die ausführliche Diskussion psychoanalytischer Technik und Praxis. Im 1. Kapitel Überblick über die Grundkonzepte werden sowohl die historische Entwicklung der psychoanalytischen Therapie als auch für die Praxis relevante Konzepte und Komponenten der klassischen psychoanalytischen Technik dargestellt. Weiters wird auf indikatorische Fragen und das Problem der Analysierbarkeit unter Berücksichtigung spezifischer Störungsbilder und der individuellen Lebenssituation des Betreffenden eingegangen. In Kapitel 2 Widerstand findet der Autor eine Arbeitsdefinition, um im Weiteren das klinische Erscheinungsbild des Widerstands anhand zahlreicher Beispiele darzustellen: wenn der Patient schweigt, wenn Affekte in bestimmten Zusammenhängen als Widerstände zu deuten sind oder wenn bestimmte Inhalte vom Analysanden vermieden werden. Auch die Beachtung der Körperhaltung findet Einzug in die Widerstandsanalyse. Die Sprache des Vermeidens wird an Mustern des Zuspätkommens, durch Ausbleiben von Träumen oder Veränderungen generell, an den verschiedenen Formen des Agierens und weiteren Beschreibungen verdeutlicht. Ferner wird die Theorie des Widerstands (Abwehr bzw. Regression) und deren Klassifikation (nach der Quelle, nach Fixierungspunkten, nach der Art Abwehrmechanismen und der klinischen Diagnose) erklärt. Gewissenhaft werden die Technik und technische Regeln der Widerstandsanalyse vom Erkennen bis zur Deutung anschaulich vermittelt, wobei auch auf spezielle Probleme, wie etwa der Widerstand gegen den Widerstand oder Widerstände der ersten Stunde, eingegangen wird. Ähnlich aufgebaut ist das 3. Kapitel Übertragung; um zu einem Verständnis dieses Phänomens zu gelangen, werden Arbeitsdefinition, das klinische Bild, ein historischer Überblick und theoretische Überlegungen (im Kontext von Objektbeziehungen, Ichfunktionen, Wiederholung, Regression bzw. Widerstand) angestellt. Sowohl die beträchtliche Bedeutung des Arbeitsbündnisses als auch der Übertragungsneurose hebt der Autor hervor; und geht davon aus, dass eine Analyse gelingt, wenn eine reale Beziehung an die Stelle der Übertragungsneurose tritt. Die Technik der Übertragungsanalyse behandelt Fragen nach dem Zeitpunkt einer Übertragungsdeutung oder die Anwendung der Abstinenzregel; technische Schritte (vom Erkennen über die Konfrontation bis hin zum Durcharbeiten) werden strukturiert und für den Leser nachvollziehbar veranschaulicht. Schließlich geht der Autor auf besondere Probleme beim Analysieren von Übertragungsreaktionen ein; die Eigenheiten der „Montagskruste“, mögliche Fehlerquellen, erotisierte Übertragung oder Besonderheiten in der psychoanalytischen Ausbildung in Bezug auf Lehranalysen etc. Im letzten Kapitel widmet sich der Autor der Diskussion der psychoanalytischen Situation in Bezug auf die Forderungen der Psycho-
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G analyse an den Patienten, an den Psychoanalytiker und an das analytische Milieu. Jeweils alle vier Kapitel werden durch die Angabe von zusätzlicher und vertiefender Literatur ergänzt. „Technik und Praxis der Psychoanalyse“ ist ein Meisterwerk in der Gestalt eines ausführlichen Lehrbuches. Jene zwei für die klassische Psychoanalyse bzw. für die psychoanalytisch-orientierte Psychotherapie relevanten Phänomene Widerstand und Übertragung werden detailliert unter die Lupe genommen und dem Leser eindrucksvoll und praxisnah vermittelt. Dem Autor gelingt – trotz der in der psychoanalytischen Szene vorherrschenden Kontroversen in Bezug auf Theorie und Technik – eine Veranschaulichung über die Wirkungsweise dieses eigentümlichen Berufes. Für angehende PsychoanalytikerInnen und Studierende stellt das Werk eine unerlässliche Basis zur weiteren Auseinandersetzung mit technisch-handwerklichen Erkundungen dar, dem berufserfahrenen eine fundierte Diskussionsgrundlage. Obwohl Lehrbücher der psychoanalytischen Technik rar sind – Greenson selbst erklärt das mit einem vorherrschenden Unbehagen bei Psychoanalytikern, „unter ihresgleichen offen darzulegen, wie sie wirklich arbeiten“ –, sind sie unerlässlich. Gerade deswegen ist dieses Werk so umstritten wie der Autor selbst (er behandelte Marilyn Monroe von 1960 bis zu ihrem Ableben 1962) und mutig zugleich. Katharina R. Reboly
Georg Groddeck: Das Buch vom ES
Psychoanalytische Briefe an eine Freundin (TCPMHWTVC/5VTQGOHGNF 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQ CPCN[VKUEJGT8GTNCI
1
923 ersetzt Freud in seinem Werk „Das Ich und das Es“ das von ihm bisher angenommene topologische Modell der Psyche (Unbewusstes – Vorbewusstes – Bewusstes) durch das Struktur-Modell (Es – Ich – Überich). In diesem Modell beschreibt er das „ES“ als etwas uns Unbekanntes und uns beherrschende Macht, von dem wir „gelebt werden“. Inspiriert wurde Freud damals von eben diesem Groddeck’schen Werk „Das Buch vom ES“. Groddeck war immer schon der Meinung, dass es gar kein „Ich“ gibt, dass es eine Lüge sei, die man so gerne schluckt, damit der Mensch im Glauben sein kann, Selbstbestimmung zu besitzen. „Liebe Freundin …“, so beginnt das einzigartige Buch von Georg Groddeck, in welchem er psychoanalytische Briefe an eine Freundin verfasst. Schritt für Schritt, Zeile für Zeile führt der Autor den Leser näher an seine Anschauungen über das ES, den Menschen, das menschliche Sein. Er beschreibt, wie das ES uns führt, seine Wünsche lebt und uns fast zwingt, ihm nachzugeben. Er nimmt seine Kindheit als Aufhänger, um in das 85
G analyse an den Patienten, an den Psychoanalytiker und an das analytische Milieu. Jeweils alle vier Kapitel werden durch die Angabe von zusätzlicher und vertiefender Literatur ergänzt. „Technik und Praxis der Psychoanalyse“ ist ein Meisterwerk in der Gestalt eines ausführlichen Lehrbuches. Jene zwei für die klassische Psychoanalyse bzw. für die psychoanalytisch-orientierte Psychotherapie relevanten Phänomene Widerstand und Übertragung werden detailliert unter die Lupe genommen und dem Leser eindrucksvoll und praxisnah vermittelt. Dem Autor gelingt – trotz der in der psychoanalytischen Szene vorherrschenden Kontroversen in Bezug auf Theorie und Technik – eine Veranschaulichung über die Wirkungsweise dieses eigentümlichen Berufes. Für angehende PsychoanalytikerInnen und Studierende stellt das Werk eine unerlässliche Basis zur weiteren Auseinandersetzung mit technisch-handwerklichen Erkundungen dar, dem berufserfahrenen eine fundierte Diskussionsgrundlage. Obwohl Lehrbücher der psychoanalytischen Technik rar sind – Greenson selbst erklärt das mit einem vorherrschenden Unbehagen bei Psychoanalytikern, „unter ihresgleichen offen darzulegen, wie sie wirklich arbeiten“ –, sind sie unerlässlich. Gerade deswegen ist dieses Werk so umstritten wie der Autor selbst (er behandelte Marilyn Monroe von 1960 bis zu ihrem Ableben 1962) und mutig zugleich. Katharina R. Reboly
Georg Groddeck: Das Buch vom ES
Psychoanalytische Briefe an eine Freundin (TCPMHWTVC/5VTQGOHGNF 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQ CPCN[VKUEJGT8GTNCI
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923 ersetzt Freud in seinem Werk „Das Ich und das Es“ das von ihm bisher angenommene topologische Modell der Psyche (Unbewusstes – Vorbewusstes – Bewusstes) durch das Struktur-Modell (Es – Ich – Überich). In diesem Modell beschreibt er das „ES“ als etwas uns Unbekanntes und uns beherrschende Macht, von dem wir „gelebt werden“. Inspiriert wurde Freud damals von eben diesem Groddeck’schen Werk „Das Buch vom ES“. Groddeck war immer schon der Meinung, dass es gar kein „Ich“ gibt, dass es eine Lüge sei, die man so gerne schluckt, damit der Mensch im Glauben sein kann, Selbstbestimmung zu besitzen. „Liebe Freundin …“, so beginnt das einzigartige Buch von Georg Groddeck, in welchem er psychoanalytische Briefe an eine Freundin verfasst. Schritt für Schritt, Zeile für Zeile führt der Autor den Leser näher an seine Anschauungen über das ES, den Menschen, das menschliche Sein. Er beschreibt, wie das ES uns führt, seine Wünsche lebt und uns fast zwingt, ihm nachzugeben. Er nimmt seine Kindheit als Aufhänger, um in das 85
G Buch einzuleiten. Er berichtet, warum er Arzt geworden ist, nicht dass er es wirklich werden wollte, dass seine Mutter ihn nie gestillt hat und deshalb eine Amme zu ihm kam und welche Folgen das für seine Entwicklung hatte. Dass zwei Personen für ihn zuständig gewesen sind, einmal die Mutter und dann die Amme, ließ die Lust am Zweifel beim Ich wachsen. So verwundert es nicht, dass der Name „Alma“, es war eine Freundin seiner Schwester, die er hasste, für ihn mehrere ganz besondere Bedeutungen erlangt hat. Zum einem ist es die verhasste Freundin der Schwester, dann die Bezeichnung der ungeliebten Universität: „alma mater“ – welches übersetzt die nährende Mutter bedeutet – und von da ist der Sprung zu seiner ihn nie nährenden Mutter nicht weit. So verknüpft das ES die Erfahrungen und lässt sie uns mit geschickten Assoziationen und Symbolen nie vergessen. Auf diesem Wege lockt Groddeck Stück für Stück, immer provokant, gerade so viel, um den Leser nicht zu verschrecken, in seine, unsere Welt vom ES. Jegliche Zusammenfassung dieses Werkes kann und wird diesem Buch nicht gerecht. Man ist nicht in der Lage, dieses Meisterwerk, geschrieben von einem Künstler und Genie seiner Zeit, als „Laie“ in Worte zu fassen. Einfach genial und einzigartig! „Es gibt gar kein Ich, es ist eine Lüge, eine Entstellung, wenn man sagt: ich denke, ich lebe. Es sollte heißen: es denkt, es lebt. Es, nämlich das große Geheimnis der Welt.“ So schreibt und denkt Georg Groddeck. Als ich dieses Werk begonnen habe zu lesen, war ich erstaunt und vor den Kopf gestoßen, trotzdem wollte und konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen. Groddeck hat eine besondere Art, den Leser bei der Stange zu halten. Er fordert das ES heraus. Durch die immer provokanteren Anschauungen, die der Schriftsteller einnimmt, wird man auf der einen Seite verwirrt, aber auch angezogen. Man möchte mehr sehen, hören, wissen über die „perversen“ Gedanken, die das ES, die wir alle haben. Ein aufregendes Buch, im wahrsten Sinne des Wortes, das nichts für schwache Gemüter ist. „Das Buch vom ES“ ist ein Meisterwerk der höchsten Güte, anders, dynamisch, provokant und immer wieder irrsinnig mit Lust geschrieben, erhält man einen Einblick, was unser ES im Stande ist zu tun, zu bewegen. Man sollte sich die Zeit nehmen, um so ein besonderes Buch zu lesen, zu verstehen und sich der Bedeutung des Unbewussten klar zu werden. Ein Muss für jeden angehenden Psychotherapeuten!! Dorit Hejze
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Georg Groddeck: Krankheit als Symbol
Schriften zur Psychosomatik 0GWCWUICDG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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er Band enthält eine Reihe von Arbeiten Groddecks, die seine Haltung als Arzt, Psychoanalytiker und Psychotherapeut darstellen. Das Buch ist vergriffen, aber die darin enthaltenen Schriften sind in Neuauflagen von Groddecks Werken zu finden (Stroemfeld-Verlag, Frankfurt/Main). Die Artikel sind anregend zu lesen, weil Groddeck seine Erfahrungen, Erkenntnisse und Ansichten sehr persönlich, sehr pointiert und mit großem Eifer darlegt. Er regt zum Nachdenken und zum Widerspruch an und er weckt Neugier auf weiterführende Arbeiten und selbständige Überlegungen zu Fragen, die er aufwirft. Besonders aktuell und interessant sind seine Ausführungen zu Krankheit und Gesundheit und zur Rolle des Arztes/Therapeuten im Heilungsprozess. Faszinierend sind seine Phantasie im Finden und Deuten der Symbolik organischer Krankheiten und der Mut, mit dem er seine Ideen veröffentlicht. Schon in seiner Dissertation (Groddeck, 1889) sieht Groddeck die Krankheit nicht als isolierte Störung, die durch medizinische Standardmethoden zu bekämpfen ist, sondern als lebendigen Ausdruck eines spezifischen Patienten. Ebenso erkennt er den Einfluss der Arzt-Patient-Beziehung für den Heilungserfolg. Er beendet diese Arbeit mit drei Thesen: I. Viele Krankheiten sind das Produkt der Lebensweise des Menschen. Will man sie heilen, so muss man die Lebensweise des Patienten ändern, da man die Krankheit selbst nur in den wenigsten Fällen durch sogenannte Specifica angreifen kann. II. In der Therapie der Hautkrankheiten kommt es weniger auf die Wahl des Mittels als auf die Art der Anwendung desselben an. III. Die geistige Überlegenheit des Arztes über den Patienten ist mit der wichtigste Faktor zum Gelingen einer Kur. In seinem Sanatorium in Baden-Baden behandelt Groddeck organische Erkrankungen mit Diäten, Massagen, Wasserkuren und Psychoanalyse. Den Zusammenhang zwischen psychischen Faktoren und organischer Symptomatik findet er zunächst ohne Kenntnis der Freud’schen Psychoanalyse. Ab 1917 beginnt er mit einem Briefwechsel die Zusammenarbeit mit Freud und der psychoanalytischen Gemeinschaft. Seine wesentlichen Beiträge zur Psychoanalyse sind die Ergebnisse der Anwendung der Psychoanalyse in der Behandlung organischer Erkrankungen und die Entwicklung der Theorie vom „Es“, das „eine Kraft (ist), von der wir gelebt werden, während wir zu leben glauben“(Groddeck, 1917). 87
G Für Groddeck sind sowohl Krankheit als auch Gesundheit Ausdruck des menschlichen Lebens: Ein Leben ohne Krankheit gibt es nicht, krankes Leben ist nicht wertlos, sondern ein anderer Zustand des Lebens, der seine eigenen Werte und Erkenntnisse hervorbringt. In der Arbeit „Vom Wert der Krankheit – Mens sana in corpore sano“ schreibt Groddeck: „Die Griechen stellten sich den Homer blind vor. Ist es nicht seltsam, dass die Phantasie des schönheitsdurstigsten Volkes der Weltgeschichte eine Sage erdichtet hat, die unsrer Weisheit vom Werte der Gesundheit so scharf widerspricht?“(Groddeck, 1910, S. 49). Die Arbeit enthält eine Fülle von Gedanken, deren Zusammenhang man bei jedem Lesen neu knüpfen und mit eigenen Einfällen verbinden kann. Essenz ist der Respekt vor dem Kranken und der Krankheit und die Anerkennung der Vielfalt des Lebendigen, das durch Normen von Gesundheit und Leistungsfähigkeit nicht zu erfassen ist: „Die Krankheit lässt das Herz schneller schlagen, ungleichmäßig, aber das tut das Leben auch, die Freude, die Anstrengung, die Liebe ... Die Krankheit nimmt uns den Atem, steige den Berg hinan, so geschieht Dir dasselbe. Die Krankheit verwirrt uns den Geist; das tut in jeder Nacht der allerquickende Schlaf. Was ist gesund, was ist krank? Die Narren nur vermögen es zu unterscheiden.“ (Groddeck, 1910, S. 53). Diese Anerkennung der Krankheit als Ausdrucksform des Lebendigen ist die Grundlage der Anwendung der Psychoanalyse in der Behandlung von organischen Erkrankungen. Eine Reihe von Fallgeschichten finden sich in den Arbeiten „Über die Psychoanalyse des Organischen im Menschen“ (1921) und „Symbole und Krankheit“(1925): Eine neurotische Patientin entwickelt Lungenblutungen, die den Fortgang der Psychotherapie bedrohen – einen Widerstand darstellen. Diese Symptomatik dient als Material zur Aufdeckung der starken Bindung an die Mutter und der Schuldgefühle gegenüber der an Schwindsucht verstorbenen Lieblingsschwester. Ein anderer Patient leidet an Herzbeschwerden, Angstanfällen und an Träumen, in denen er zum Tod verurteilt wird – Todeswünsche gegenüber seiner Frau haben diese Erscheinungsform gefunden: „Was bedeutet nun die Herzkrankheit bei diesem Manne? Warum hat er sich eine Herzkrankheit ausgesucht? Das ist nun ganz verständlich. Das Herz ist der Sitz der Liebe und des Hasses, des Wohltuns und der Sünde ... das Unbewusste sagte ihm, am Herzen hast Du gesündigt, im Herzen bestrafst Du Dich auch“ (Groddeck, 1925, S. 119). Groddeck – als Praktiker – ist am Heilungsprozess orientiert, er geht vom einzelnen Patienten aus und erkennt, dass die Heilung dann gelingt, wenn der Sinn der Krankheit in der spezifischen Lebensgeschichte, in der aktuellen Situation und in der Beziehung zwischen Arzt und Patient erkannt und bearbeitet werden kann. Er polemisiert gegen die wissenschaftlich-objektive Medizin, für die allgemeingültige, glasklare und objektive Erkenntnisse für die Behandlung ausreichend scheinen: „Der Arzt hat nicht das geringste mit Krankheiten zu tun, das ist Sache des Pathologen, der Arzt als Arzt hat nur mit dem einen bestimmten Menschen zu tun, der sich um Hilfe an ihn gewendet hat, alles übrige geht ihn nur 88
G so weit etwas an, als er es zur Behandlung brauchen kann. Einzig und allein drei Tatsachen sind zur Einleitung der Behandlung zu beachten: der Mensch, der behandelt werden soll, sein Hilfesuchen und sein Verhältnis zu dem Menschen, bei dem er Hilfe sucht. Das sind die Gegenstände des diagnostischen Forschens; alles andere ist dem gegenüber nebensächlich“ (Groddeck, 1927) – das waren seinerzeit neue Gedanken, die in der Psychotherapieforschung durchaus aktuell sind. In „Grundsätzliches über Psychotherapie“ (Groddeck, 1928) geht es um die psychotherapeutische Haltung, die den Heilungsprozess in Gang hält. Das Wort Therapie – Θεραπεία – kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich Dienen: „Wer dient, erkennt als Herren an, wem er dient; wer behandelt, arbeitet mit seiner Hand – Hand im eigentlichen und übertragenen Sinne – an einem Objekt“ (Groddeck, 1928, S. 206). Als Psychotherapeuten dienen wir dem Patienten, indem wir sein Leiden nachempfinden, indem wir ihm ermöglichen, unsere Person zum Gegenstand von Übertragung und Widerstand zu machen und so den Sinn seiner Krankheit sowie die ambivalente Einstellung zur Heilung zu verstehen. Dieses Dienen erfordert von uns die Arbeit an uns selbst, denn wir stehen unbewusst sowohl an der Seite des Genesungswillens als auch an der Seite des Krankheitswillens des Patienten und insofern wir das verstehen, können wir die notwendige Haltung einnehmen „Der Kranke ist der Lehrer des Arztes. Nur vom Kranken kann der Arzt Psychotherapie lernen“ (ebd; S. 217). Elisabeth Vykoukal Literatur: - Groddeck, 1889, Über das Hydroxylamin und seine Verwendung in der Therapie der Hautkrankheiten – medizinische Dissertation, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1983, S. 18 - 1910, Vom Wert der Krankheit – Mens sana in corpore sano, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1983, S. 48 - 1917, Brief an S. Freud, in: Sigmund Freud, Georg Groddeck, Briefe über das Es, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1988, S. 9 - 1921, Über die Psychoanalyse des Organischen im Menschen, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1983, S. 96 - 1925, Symbole und Krankheit, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1983, S. 112 - 1927, Der Mensch nicht der Kranke begehrt Hilfe, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1983, S. 197 - 1928, Grundsätzliches über Psychotherapie, in: Krankheit als Symbol, Schriften zur Psychosomatik, Hg. Helmut Siefert, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1983, S. 205
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Iris Hanika / Edith Seifert: Die Wette auf das Unbewußte oder Was Sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten (TCPMHWTVC/'FKVKQP5WJTMCOR
ieser leicht lesbare und gut verständliche Erfahrungsbericht der Psychoanalytikerin Edith Seifert aus Berlin und ihrer ehemaligen Analysandin (In den Augen Lacans analysiert nicht der Analytiker den Analysanden, sondern dieser analysiert aktiv selbst und wird darin lediglich unterstützt.), der Schriftstellerin Iris Hanika, ebenfalls aus Berlin, gibt Einblick in die psychoanalytische Theorie und Praxis aus einer Lacan‘schen Perspektive und vermittelt einige Grundbegriffe und Grundhaltungen derselben. Sechseinhalb Jahre nach Beendigung der Analyse waren die beiden befreundet und begannen dieses gemeinsame Buchprojekt. Auf den 173 Seiten kommen sie abwechselnd zu Wort, wobei Edith Seifert den theoretischen Teil übernommen hat und die Beiträge von Iris Hanika mehr literarisch und sehr persönlich sind. Der Leser erfährt in einem der ersten Kapitel, dass Edith Seifert ausgehend von ihrer Beschäftigung mit der weiblichen Sexualität Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, über den Weg der französischen Feministinnen Hélène Cixous und Luce Irigaray und deren Kritik am Kastrationskomplex, in Berührung mit der SigmundFreud-Schule kam, die wesentlich daran beteiligt war, Jacques Lacan in Deutschland bekannt zu machen. Sechs Jahre lang war sie bei deren geheimnisumwobenen Treffen, gemeinsam mit rund dreißig anderen Personen mit unterschiedlicher Herkunft und Profession, einzig geeint durch ein waches Interesse an der Theorie Lacans, in einer engen Zweizimmerwohnung in einem Mietshaus in Berlin-Wilmersdorf. Bei diesen Zusammenkünften wurde sehr lebendig über auffallend heterogene Themen gesprochen: über Kulturgeschichte, Religion, Naturwissenschaft, Mythologie, Sprachwissenschaft und natürlich darüber, wie die Theorie von Jacques Lacan zu verstehen sei. Erste Übersetzungen von Lacans Schriften wurden angefertigt und diskutiert. Edith Seifert hatte Romanistik und Soziologie studiert, war wie hypnotisiert angezogen von diesen Seminarsitzungen, und nachträglich befand sie sich, noch bevor sie selbst auf der Couch lag, im Theorieseminar ihrer eigenen Ausbildung. Iris Hanika beschreibt neben den äußerst intimen Beweggründen, die sie in die Analyse gebracht haben, für sie wichtige, verallgemeinerbare Erfahrungselemente: dass schon viel getan ist, wenn akute psychische Schmerzen in ihrer Ursprünglichkeit begriffen werden können und sich dadurch der Kreislauf der sich wiederholenden Situationen auflöst. Weiters das wichtige Wissen, dass die Analyse über den Körper funktioniert und Bedeutsames an körperlichen Reaktionen bemerkt wird sowie an den Gefühlen, die es auslöst – obwohl das einzige Medium der Psychoanalyse die Sprache ist. Dass es die Struktur zu erkennen gilt, nach welcher man funktioniert, um mit ihr umgehen zu können, statt ihr ausgeliefert
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H zu sein; denn erst dann ist es möglich, auf sich aufzupassen und für sich selbst zu sorgen. Der lange Weg vom hysterischen Elend oder der Neurose zum „gemeinen Unglück“ dauert, so lange er dauert. Lacan nennt das „die Zeit zum Begreifen“. Dieser Weg ist den Krankenkassen oft zu lange und für Seifert und Hanika sich auf Lacan berufend prinzipiell ungangbar. Effizienzforderungen und ICD-10-Diagnosen haben für beide als normierende Faktoren in der Analysebeziehung nichts verloren. Das geht so weit, dass sie gegen jegliche Fremdfinanzierung auftreten. Dadurch soll einerseits eine Anspruchshaltung des Patienten vermieden werden, die dem Ziel der Analyse, zum eigenen Begehren, zur eigenen Wahrheit des Unbewussten zu finden, gegenläufig ist. Andererseits gelten Symptome als wichtige Ausdrucksformen und Effekte des Unbewussten, als Leistung des Psychismus, die es zu ergründen gilt und nicht als krankheitswertig zu klassifizieren. Die Wette auf das Unbewusste heißt, auf das Unbewusste zu setzen und zu riskieren, dass Es wirklich kommt. (Anders, aber nicht weniger radikal lässt sich sagen, dass das Unbewusste eine Fiktion ist. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Versuch, sich mittels bildgebender Verfahren dem Unbewussten zu nähern, wie Science Fiction.) Die Kugel rollt. In Träumen, in Versprechern, im Witz, im Symptom taucht es auf, immer in Beziehung zum Anderen, als Funktion des Anderen, und immer überrascht es uns. Das Unbewusste braucht notwendigerweise den Anderen, um hervorgebracht zu werden. Genaugenommen existiert es sogar erst, wenn es durch den Anderen hervorgebracht wird. Im Gegensatz zur Tendenz einer der heutigen Auffassungen des Unbewussten als Sammelbecken des vom Ich Verdrängten wird das Unbewusste bei Lacan als radikal autonome Instanz verstanden, welche in Verbindung mit Tod und Begehren eine zerstörerische Macht entfaltet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen allen anderen Psychotherapieformen und der Psychoanalyse ist, so Edith Seifert, das Schweigen des Psychoanalytikers. Da der Mensch zu früh geboren wird, um alleine zu überleben, ist er notwendig auf den Anderen angewiesen, bedarf er des Schutzes und der Fürsorge des Anderen. Von Geburt an ist er einem Übermaß an Erregung ausgesetzt und macht auf seine Not durch den Schrei aufmerksam. In diesem Sinne verweist jedes spätere Sprechen auf die Not des Lebens. Dem Sprechen bleibt die Not grundlegend eingeschrieben. Der Analytiker erinnert durch sein Schweigen an diese sehr frühe Zeit, in welcher die Bedrängnis so groß war, dass keine Sprache sie hätte lindern können. Selbst unausgesprochenes Sprechen kann, so Freud, eine symbolische Bedeutung entfalten und äußert sich dann körperlich, im wahrsten Sinne des Wortes, in zu Fleisch gewordenen körperlichen Ausdrucksformen wie zum Beispiel in hysterischen Symptomen. Das Sprechen des Unbewussten findet in den Zwischenräumen der bewusst intendierten Rede statt, wobei der Bezug zwischen Rede und Ding, zwischen Objekten und Referenten, einschließlich der dazugehörigen Affekte, erst gefunden werden muss. Diesen Bezug zu finden und bewusst zu machen, ist die Arbeit der 91
H psychoanalytischen Kur. Es ist die Aufgabe des Analytikers, dem Analysanden zu verdeutlichen, dass die Sprache eine eigene, vom Sprecher unabhängige Dimension ist. Der Sprechheiler Psychoanalytiker bezieht dabei das Phänomen der Übertragung und die unterschiedlichen Positionen, die ihm darin zugewiesen werden, mit ein. Der Analysand tut seine Enttäuschung kund darüber, dass seine Worte nicht das sagen, was er sich vorgestellt hat, und vor allem darüber, dass das reale Objekt, Motor seines Sprechens, außerhalb seiner Erzählung bleibt, sich sprachlich aufgrund einer strukturellen Unmöglichkeit nicht restlos einholen lässt. Der Analytiker hält die Aggressivität aus, die als Begleiterscheinung „des Sprechens zum reinen Verlust“ unvermeidlich ist. Der Rest ist von jeher Schweigen, schreibt Edith Seifert. Weiters erfährt der Leser etwas von Lacans radikaler Interpretation der Freud’schen Triebtheorie: dass der Trieb im Unterschied zum biologischen Instinkt niemals befriedigt werden kann, sein Ziel demnach viel eher darin liegt, sein Objekt zu umkreisen, der Weg bereitet Lust und nicht, es zu erreichen. Dass der Trieb eine Montage aus vielen einzelnen Elementen ist, bestehend aus einer erogenen Zone, einem Ziel, einem Objekt und dem Lustempfinden, von denen jedes einzelne in höchstem Maß flexibel und verschiebbar ist. Laut Freud besteht die Sexualität aus einer Anzahl von zusammenhängenden Partialtrieben, welche zuerst unabhängig und anarchisch fungieren – Freud spricht von polymorph perverser Kindersexualität. In der Pubertät jedoch verschmelzen die Partialtriebe und ordnen sich dem Primat der Genitalität unter. Lacan betont die partielle Natur aller Triebe und dass das Primat der Genitalzone, falls es überhaupt erreicht wird, eine höchst wackelige Angelegenheit ist. Außerdem repräsentieren die Triebe den Lustaspekt der Sexualität und niemals deren reproduktive Funktion. Nicht zu vergessen, dass der Trieb eine Hilfskonstruktion ist, der keiner Realität an sich entspricht, er ist Repräsentant von verdrängtem Körper im Psychischen. Aus einer Lacan’schen Perspektive wäre Seiferts ungenaue Parallelisierung von Ding und Signifikat zu kritisieren, da das Signifikat nach Lacan eben genau nicht das Ding, sondern eine Vorstellung vom Ding ist und das reale Ding außerhalb der Sprache bleibt, daher ist der Gewinn der Sprache um den Preis der Unmittelbarkeit der immerwährende Verlust dieser Unmittelbarkeit. Weiters ist die elitäre Haltung von Edith Seifert und Iris Hanika zu überdenken, für die gesamte Analyse selbst aufkommen zu müssen, da das letztlich dazu führen könnte, dass sich nur mehr eine bestimmte Klientel Psychoanalyse leisten kann. Johannes Cremerius spricht sogar davon, dass die absichtliche Begrenzung der Psychoanalyse auf Mitglieder einer zahlungsfähigen Bildungsschicht etwas Selbstzerstörerisches ist. Allerdings erfährt der Leser im Plauderton zumindest einiges von dem, was er schon immer über Psychoanalyse wissen wollte, und das Buch macht neugierig, das, was offen geblieben ist, selbst, im Liegen herauszufinden.
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H Die Wette auf das Unbewusste ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Psychoanalyse, für ihre Praxis und ihre Theorie, welche, so Seifert, das Gift (Gabe und Gift zugleich) ist, das sich nur im eigenen Leibe entfaltet. Ortrun Hopf und Eva Wolfram-Ertl
Thomas A. Harris: Ich bin o. k. – Du bist o. k.
Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Einstellung zu anderen verändern können – Eine Einführung in die Transaktionsanalyse #WƂCIG4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG+oOQM[QWoTGQM 0GY;QTM#XQP
T
homas A. Harris’ Buch handelt von der Transaktionsanalyse, die er mit Eric Berne begründet und in die Praxis umgesetzt hat. Anhand anschaulicher Beispiele aus dem Alltagsleben erklärt er die Grundeinstellungen, die das Verhalten der Menschen bestimmen. Anders als bei Freud, der die Begriffe „Über-Ich, Ich und Es“ geprägt hat, sind es bei Harris drei Zustände: „das Eltern-Ich, das Kindheits-Ich und das Erwachsenen-Ich“, die in allen Menschen existieren. Der jeweilige Ich-Zustand wird durch die Wiedergabe von früheren gespeicherten Informationen herbeigeführt. Im Eltern-Ich sind alle Regeln, Gebote und Verbote aufgezeichnet, die das Kind von seinen Eltern bekommen hat. Im Kindheits-Ich sind die inneren Ereignisse oder Gefühle enthalten, nämlich die Reaktion des Kindes, das, was es von den äußeren Einflüssen aufgenommen hat. Das Erwachsenen-Ich ist schließlich das Ergebnisder Informationen aus dem Eltern-Ich, Kindheits-Ich und aus den Daten, die das Erwachsenen-Ich gesammelt hat und noch sammelt. Diese Daten werden überprüft und abgestimmt. Aus diesem Ergebnisprozess zieht das Kind dann seine Grundeinstellung zum Leben. Die Transaktionsanalyse kommt zu vier möglichen Lebensanschauungen, wie ein Mensch sich selbst und andere sieht: 1. Ich bin nicht o. k. – du bist o. k. 2. Ich bin nicht o. k. – du bist nicht o. k. 3. Ich bin o. k. – du bist nicht o. k. 4. Ich bin o. k. – du bist o. k. Erstere Einstellung ist laut Harris die angsterfüllte Abhängigkeit des unreifen Menschen, zweitere die Grundeinstellung der Verzweiflung und Resignation, drittere die kriminelle Grundeinstellung, die vierte das optimale Grundverhalten des Erwachsenen, der mit sich und den anderen in Frieden lebt. Harris wendet diese Erkenntnisse auf zahllose praktische Beispiele an: auf Probleme der Ehe und Kindererziehung, auf psychische und geistige Störungen, auf Gewalt und Vorurteile, auf Schwierigkeiten
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H Die Wette auf das Unbewusste ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Psychoanalyse, für ihre Praxis und ihre Theorie, welche, so Seifert, das Gift (Gabe und Gift zugleich) ist, das sich nur im eigenen Leibe entfaltet. Ortrun Hopf und Eva Wolfram-Ertl
Thomas A. Harris: Ich bin o. k. – Du bist o. k.
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I in der Pubertät, auf moralische Konflikte, religiöse Überzeugungen und internationale Spannungen. Durch dieses bessere Verständnis und Erkennen seiner eigenen Grundeinstellung ist Veränderung an unserem Verhalten möglich. Darin liegt der Kern der Transaktionsanalyse. Dieses Werk stellt Thomas A. Harris’ Summe seiner 10-jährigen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen dar. Es ist aufgrund der einfach beschriebenen Darstellung der Transaktionsanalyse-Theorie mit Verwendung von zahlreichen praktischen Beispielen zu einem der meistgelesenen Bücher in der psychotherapeutischen bzw. psychologischen Szene geworden. Der Leser hat die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten und das Verhalten anderer mithilfe dieser Theorie zu reflektieren und besser zu verstehen. Durch dieses Erkennen kann er auch Veränderung in seinem Verhalten herbeiführen. Es wird hier nicht noch eine mögliche psychologische Theorie angeführt, die wieder nur erklären will, warum ich so bin und so handle oder wie ich sein sollte, sondern der Leser hat mit der Transaktionsanalyse ein praktisches Instrument kennengelernt, anhand dessen er sich im Alltagsleben orientieren kann Die Transaktionsanalyse hat sich vor allem bei der Arbeit in Gruppen bewährt. Mit ihrer verständlichen Sprache kann dieses Werkzeug gleichzeitig mit mehreren Menschen praktiziert werden, ganz egal welchen Alters, Geschlechts, welcher Rasse, Religion oder sozialen Herkunft. Die Erfahrungen, die in den Einzel- und Gruppentherapien gemacht wurden, sind so ermutigend, dass nicht nur Psychotherapeuten diese anwenden, sondern auch andere Berufsgruppen wie Ärzte, Lehrer, Kindergärtner, Personalchefs usw. Darum ist dieses Buch ein Gewinn für jeden, besonders für solche in seelischer Not, die bereit sind, an sich zu arbeiten und dadurch Veränderungen einzuleiten. Monika Millecker
I
Lucien Israël: Die unerhörte Botschaft der Hysterie #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV 'TUVCWUICDG.oJ[UVÅTKSWGNGUGZGGVNGOÅFKEKP 2CTKU/CUUQP
n diesem Werk schreibt Israël über die Geschichte der Hysterie, deren Symptome, Geschlechtsunterschiede und die Behandlung vom Erstkontakt („Präludien der Begegnung“) bis zu früheren und heutigen Ansichten über die Behandlungsart. Ausführlich und mit zahlreichen Hinweisen auf Originalzitate (in französischer Sprache) und deren Beschreibung, nähert sich der Autor dem „Mysterium“ der Hysterie.
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I in der Pubertät, auf moralische Konflikte, religiöse Überzeugungen und internationale Spannungen. Durch dieses bessere Verständnis und Erkennen seiner eigenen Grundeinstellung ist Veränderung an unserem Verhalten möglich. Darin liegt der Kern der Transaktionsanalyse. Dieses Werk stellt Thomas A. Harris’ Summe seiner 10-jährigen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen dar. Es ist aufgrund der einfach beschriebenen Darstellung der Transaktionsanalyse-Theorie mit Verwendung von zahlreichen praktischen Beispielen zu einem der meistgelesenen Bücher in der psychotherapeutischen bzw. psychologischen Szene geworden. Der Leser hat die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten und das Verhalten anderer mithilfe dieser Theorie zu reflektieren und besser zu verstehen. Durch dieses Erkennen kann er auch Veränderung in seinem Verhalten herbeiführen. Es wird hier nicht noch eine mögliche psychologische Theorie angeführt, die wieder nur erklären will, warum ich so bin und so handle oder wie ich sein sollte, sondern der Leser hat mit der Transaktionsanalyse ein praktisches Instrument kennengelernt, anhand dessen er sich im Alltagsleben orientieren kann Die Transaktionsanalyse hat sich vor allem bei der Arbeit in Gruppen bewährt. Mit ihrer verständlichen Sprache kann dieses Werkzeug gleichzeitig mit mehreren Menschen praktiziert werden, ganz egal welchen Alters, Geschlechts, welcher Rasse, Religion oder sozialen Herkunft. Die Erfahrungen, die in den Einzel- und Gruppentherapien gemacht wurden, sind so ermutigend, dass nicht nur Psychotherapeuten diese anwenden, sondern auch andere Berufsgruppen wie Ärzte, Lehrer, Kindergärtner, Personalchefs usw. Darum ist dieses Buch ein Gewinn für jeden, besonders für solche in seelischer Not, die bereit sind, an sich zu arbeiten und dadurch Veränderungen einzuleiten. Monika Millecker
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Lucien Israël: Die unerhörte Botschaft der Hysterie #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV 'TUVCWUICDG.oJ[UVÅTKSWGNGUGZGGVNGOÅFKEKP 2CTKU/CUUQP
n diesem Werk schreibt Israël über die Geschichte der Hysterie, deren Symptome, Geschlechtsunterschiede und die Behandlung vom Erstkontakt („Präludien der Begegnung“) bis zu früheren und heutigen Ansichten über die Behandlungsart. Ausführlich und mit zahlreichen Hinweisen auf Originalzitate (in französischer Sprache) und deren Beschreibung, nähert sich der Autor dem „Mysterium“ der Hysterie.
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I Etwas schwierig ist es, die Gliederung nachvollziehen zu können, weshalb der Leser manchmal dazu gezwungen ist, noch einmal zum Inhaltsverzeichnis zu blättern, um zu wissen, zu welchem übergeordneten Kapitel die Ausführungen gehören. Die Ausdrucksweise, in der dieses Buch geschrieben ist, setzt ein hohes Maß an Bildung und Vorwissen voraus, will der Leser wirklich alles verstehen können. Fremdwörter werden stets angenehm eingebettet, in Zusammenhang mit deren Definition im Fließtext verwendet. Stellenweise ist es schwierig, dass sich der Leser in der Kombination von lateinischen, französischen Begriffen, Zitaten und Erläuterungen des Autors zurechtfinden kann und den zentralen Gedanken herauszufiltern imstande ist, weshalb es passieren kann, dass oftmals eine Stelle zwei- bis dreimal gelesen werden muss. Im Kapitel der Geschlechtsunterschiede scheinen ebendiese Unterschiede wenig differenziert herausgearbeitet und es wird wieder überwiegend die Hysterie der Frau beschrieben, was durch ein kurzes Kapitel über die männliche Hysterie kompensiert zu werden versucht. Dennoch wird deutlich, dass die männliche Hysterie, alleine schon wegen der Begründung des Begriffes auf den Uterus, zu Beginn in den ersten Jahren keine Rolle spielte, in Gesellschaft und Medizin im Speziellen, und sich später erst – um es optimistisch auszudrücken – in der Diagnostik etabliert hat. Spannend zu lesen sind die Fallbeispiele von „Jeanne“ und „Marie“, welche als Quasi-Einleitung zu einem Kapitel der kritischen Betrachtung von Therapieformen der Hysterie dienen. Interessant zu lesen sind Theorien zum hysterischen Charakter sowie zum Störungsbild und die diagnostische Abgrenzung zu psychotischen Zuständen. Das vorliegende Werk informiert insgesamt über alle möglichen Aspekte der Hysterie und sucht nach Antworten zur Klärung dieses Begriffes. Durch zahlreiche Zitate und Fallbeispiele sowie ausführliche Erläuterung der einzelnen Symptome kann sich der Leser ein gutes Bild davon machen, was die Hysterie nun sei. Ist man am Ende dieser Lektüre angelangt, so kann man mit Sicherheit sagen, dass man den Begriff der Hysterie für sich selbst nicht mehr als „Mysterium“ sehen muss, sondern um zahlreiche, umfangreiche Beschreibungen reicher ist. So mancher Leser – wenn nicht jeder einzelne – wird sich in dem ein oder anderen Symptom wiederfinden; ob männlich oder weiblich, am Ende des Buches ist klar: Die Hysterie ist nicht rein dem Weiblichen zuzuordnen, sie kann sich aber bei Männern perfekt hinter einer anderen Diagnose verstecken. Israël beschreibt in seinem Werk, dessen Originaltitel „L’hystérique, le sexe e t le médicin“ lautet, welche Symptome eine Hysterie kennzeichnen, wie der hysterische Charakter aussieht und ob es einen solchen gibt, welche Rolle Histrionismus und Sexualität spielen und welche Therapien es im Laufe der „Geschichte der Hysterie“ gab. Zunächst einmal sei die Hysterie als Ausdrucksform des Unbewussten, dessen Botschaft weder dem Sender noch dem Empfänger bekannt ist, zu verstehen. Daher höchstwahrscheinlich auch der deutschsprachige Titel der „unerhörten Botschaft“ und keine reine Übersetzung des Originaltitels („Die Hysterie, Geschlecht und Medizin“). 95
I Die Symptome werden sehr genau beschrieben, als zum einen durch den Körper gezeichnete und zum anderen als psychische und Grenzsymptome. Erstere umfassen etwa die Anfälle, welche sich durch einen Druck auf Ovarialregion, Leistenbeugen, Gebärmutterhals und/oder Brust eindämmen oder stoppen lassen. Diese Stellen werden daher als „hysterogene Zonen“ verstanden und seien nicht zu verwechseln mit den erogenen Zonen. Die Anfälle sind gekennzeichnet durch vier Phasen. Auf das „Vortäuschen eines epileptischen Anfalls“, welches sich in tonische, klonische und Auflösungsphase gliedert, folgt die Phase des „Clownismus“, in der es zu Verrenkungen kommt und deren Kennzeichen der „Arc de cercle“ (= steifer hysterischer Bogen) ist. Danach dominieren Wahn, Halluzinationen und „leidenschaftliche Gebärden“ diese Anfälle, bevor die letzte Phase des Wahnstadiums beginnt. Hier dominieren die Genese eines Erinnerungswahns, Traurigkeit und Melancholie. Weiters wird unterschieden zwischen einem großen hysterischen Anfall (major hysterie), welcher bei Männern nie auftritt, und der hystérie vulgaire. Neben den Anfällen bestehen auch Schnittsymptome, die immer dort auftreten, wo Beziehungen mitspielen. So können durch selektive Schwerhörigkeit Menschen ignoriert werden oder durch schmerzhafte Hyperakusis andere Menschen dazu gebracht werden, zu flüstern oder zu schweigen. Dies verleiht der Hysterikerin eine gewisse Macht über das Umfeld. Als drittes großes körperliches Symptom seien Kopfschmerzen und Schwindelgefühle als Konversionssymptomatik zu verstehen. Grenzsymptome stellen eine Schnittstelle zwischen Psychischem und Psychosomatischem dar. Rein psychische Symptomatik stellen Amnesien dar, wobei der Satz „weiß ich nicht“ dominiert. In einem weiteren Abschnitt wird der Histrionismus als hysterisches Spiel, ein „So-tun-als-ob“ und „Sich-zur-Schau-Stellen“ beschrieben. Zur männlichen Hysterie wird erwähnt, dass es einer Art Kastration gleichkam, einen Mann als hysterisch zu diagnostizieren, zumal dieser Begriff stets mit den Schwächen der Weiblichkeit assoziiert war/ist. Früher verwendete man diese Diagnose als Argument, um Frauen bei Zusammenkünften in der patriarchalischen Gesellschaft auszuschließen. Später erkannte man, dass sich die männliche Hysterie lediglich als gut getarnt hinter anderen Diagnosen erwies. Sowohl in der männlichen als auch weiblichen Hysterie stellt die Unzufriedenheit mit dem, was man hat, einen Dauerzustand dar. In einem weiteren Teil wird die Suche der Hysterikerin nach Vollkommenheit von Schönheit, Intellekt und der des Partners erläutert. So ist ein Merkmal der Hysterikerin der Intelligenzkomplex und das Aufschauen zu und Nachahmen von Idealfrauen. Durch Letzteres kommt es nicht selten so weit, dass Liebhaber von Freundinnen ausgespannt werden. Die Partnerwahl entpuppt sich rasch als eine Illusion, da der ideale Partner/Mann für die Hysterikerin niemals existieren kann. Ein Kapitel widmet sich der Sexualität, insbesondere der Frigidität und der männlichen Mythologie, dass eine Frau etwas habe, was den Mann glücklich mache und umgekehrt. Hierbei ist entscheidend, dass der Grad 96
J an Vergnügen für die Frau proportional zur Größe des Penis gesehen wird. Hysterische Männer neigen sehr zu „Abenteuern“ und einem Don-JuanVerhalten, wobei dann ein Versagen beim Erstkontakt nahezu zur Regel wird. Bezüglich der Frigidität wird angeführt, dass hysterische/„frigide“ Frauen dazu neigen, während der Menstruation mehr Lust zu verspüren, wobei viele Männer den Verkehr dann nicht wollen und sich die Hysterikerin dadurch in ihrem vermeintlichen Wissen um die eigene Unvollkommenheit bestätigt sieht. Im dritten großen Teil geht es um die Arzt-Patienten-Beziehung mit den Methoden der Therapie von einst und heute sowie dem Gegenübertragungsphänomen und wie es überhaupt dazu kam, dass die Hysterie als in das medizinische Feld gehörig gesehen wurde. Es wird deutlich, dass der Arzt/Therapeut in der/mit einer Behandlung viel tun kann, sofern er der Hysterie folgt. Themen wie Depression, Suizidversuch und die Rolle der Liebe als heilende Kraft werden als relevante Themen der Behandlung von Hysterie ausführlich beschrieben. Silvia Prosquill
Russell Jacoby: Soziale Amnesie
Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing #WƂCIG(TCPMHWTVC/'FKVKQP5WJTMCOR 'TUVCWUICDG5QEKCNCOPGUKC $QUVQP$GCEQP2TGUU
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ussell Jacoby ist Historiker und Professor für Geschichte an der University of California in Los Angeles. Das kleine Edition-SuhrkampTaschenbuch (deutsche Erstausgabe des Werks war 1978) war während meines Psychologiestudiums (1977 bis 1983) der Geheimtipp, und es wird seinem Titel voll gerecht. Der Psychoanalyse-Boom in Zürich war damals in vollem Schwange, und Russell Jacoby zeigte in seinem Werk, wie die Psychotherapie und Psychologie die revolutionären Entdeckungen Freuds im Interesse sozialer Konformität und Anpassung „vergaßen“. Das Buch ist insofern ein Meisterwerk der Psychotherapie-Literatur, als es hellsichtig die heute weiträumig vorherrschende Tendenz des „FreudBashing“ (Freud-Prügelns) in ihrer unbewussten Absicht erkannte und minuziös beschrieb und analysierte: als eine Tendenz nämlich, die skandalösen und der Gesellschaft (und vor allem den herrschenden Kräften der Gesellschaft) unangenehmen Erkenntnisse der Psychoanalyse vergessen zu machen, gewissermaßen zu annullieren, um ihnen die revolutionäre Sprengkraft zu nehmen und eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung zu verhindern. Im brillanten zweiten Kapitel seines Werks unterzieht Jacoby die Nach- und Neo-Freudianer – die Revisionisten, wie er sie nennt – seiner messerscharfen logischen Kritik. Er nimmt sich zunächst die Individu97
J an Vergnügen für die Frau proportional zur Größe des Penis gesehen wird. Hysterische Männer neigen sehr zu „Abenteuern“ und einem Don-JuanVerhalten, wobei dann ein Versagen beim Erstkontakt nahezu zur Regel wird. Bezüglich der Frigidität wird angeführt, dass hysterische/„frigide“ Frauen dazu neigen, während der Menstruation mehr Lust zu verspüren, wobei viele Männer den Verkehr dann nicht wollen und sich die Hysterikerin dadurch in ihrem vermeintlichen Wissen um die eigene Unvollkommenheit bestätigt sieht. Im dritten großen Teil geht es um die Arzt-Patienten-Beziehung mit den Methoden der Therapie von einst und heute sowie dem Gegenübertragungsphänomen und wie es überhaupt dazu kam, dass die Hysterie als in das medizinische Feld gehörig gesehen wurde. Es wird deutlich, dass der Arzt/Therapeut in der/mit einer Behandlung viel tun kann, sofern er der Hysterie folgt. Themen wie Depression, Suizidversuch und die Rolle der Liebe als heilende Kraft werden als relevante Themen der Behandlung von Hysterie ausführlich beschrieben. Silvia Prosquill
Russell Jacoby: Soziale Amnesie
Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing #WƂCIG(TCPMHWTVC/'FKVKQP5WJTMCOR 'TUVCWUICDG5QEKCNCOPGUKC $QUVQP$GCEQP2TGUU
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ussell Jacoby ist Historiker und Professor für Geschichte an der University of California in Los Angeles. Das kleine Edition-SuhrkampTaschenbuch (deutsche Erstausgabe des Werks war 1978) war während meines Psychologiestudiums (1977 bis 1983) der Geheimtipp, und es wird seinem Titel voll gerecht. Der Psychoanalyse-Boom in Zürich war damals in vollem Schwange, und Russell Jacoby zeigte in seinem Werk, wie die Psychotherapie und Psychologie die revolutionären Entdeckungen Freuds im Interesse sozialer Konformität und Anpassung „vergaßen“. Das Buch ist insofern ein Meisterwerk der Psychotherapie-Literatur, als es hellsichtig die heute weiträumig vorherrschende Tendenz des „FreudBashing“ (Freud-Prügelns) in ihrer unbewussten Absicht erkannte und minuziös beschrieb und analysierte: als eine Tendenz nämlich, die skandalösen und der Gesellschaft (und vor allem den herrschenden Kräften der Gesellschaft) unangenehmen Erkenntnisse der Psychoanalyse vergessen zu machen, gewissermaßen zu annullieren, um ihnen die revolutionäre Sprengkraft zu nehmen und eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung zu verhindern. Im brillanten zweiten Kapitel seines Werks unterzieht Jacoby die Nach- und Neo-Freudianer – die Revisionisten, wie er sie nennt – seiner messerscharfen logischen Kritik. Er nimmt sich zunächst die Individu97
J alpsychologie Alfred Adlers vor, der er eine anti-sexuelle und reduktionistische Tendenz nachweist: Die Adlerianer stellen sich auf die Seite der Gesellschaft gegen das Individuum, reduzieren dessen Motivlage auf die bewusste Dimension der Organminderwertigkeit und appellieren an Werte, statt die Normen als Eckpfeiler einer repressiven Gesellschaft zu untersuchen. Carl Gustav Jungs Lehre verwässert die Sprengkraft des Sexuellen in eine harmlose de-sexualisierte Libidotheorie, die niemandem wehtut. Auch dem Neo-Freudianer Erich Fromm, dessen „Die Kunst des Liebens“ eine große Verbreitung erlangte, weist er nach, in einen die gesellschaftlichen Realitäten negierenden Rückzug ins Private zu flüchten: Lieben wird zur Ausnahme in einer repressiven Gesellschaft, die wenigen Privilegierten möglich ist, wenn sie sich nur Mühe geben, sich privatim nicht mit dem Aggressor zu identifizieren (und das große Unrecht resignativ akzeptieren). Die amerikanische Ich-Psychologie bastelt an der Illusion eines autonomen Ichs, das in einer repressiven Gesellschaft gar nicht möglich ist, weil unser Bewusstsein durchdrungen ist von den herrschenden Normen. Im dritten Kapitel über die Konformistische Psychologie belegt Jacoby die These, dass die Neo-Freudianer den Boden bereitet haben für das gänzliche Vergessen von Freud. Die Existenzialphilosophen, die Humanistischen Psychologen usw. brauchen sich nicht einmal mehr auf Freud zu beziehen, um ihn beiseitezuschieben. Die positivistische Psychologie in ihrem naiven Optimismus ist verantwortlich für die gigantische Produktion der gegenwärtigen Selbsthilfe-Ratgeber, die dem ohnmächtigen Menschen immer wieder die Illusion vorgaukeln: Wenn Du Dich nur genügend anstrengst, schaffst Du es, Dich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der entfremdenden Gesellschaft zu ziehen. Jacoby geißelt diesen Selbstbetrug als den schlimmsten der gegenwärtigen Psychologie: dem Individuum zu versprechen, es finde zum Glück in einer kranken Gesellschaft durch bloß individuelle Anstrengung, ohne am Gesamt der gesellschaftlichen Verhältnisse ein Jota zu verändern. Es ist ein intellektuelles und befreiendes Vergnügen, die scharfsinnige Analyse von Autoren wie Rollo May, Ronald Laing, Abraham Maslow und vielen anderen mehr nachzuvollziehen, wie sie alle in dieselbe Falle tappen und uns in die Irre führen, um uns die grundlegende Freud’sche Kränkung zu ersparen: dass wir bis in die tiefsten Abgründe unserer Seele einerseits von unserer Biologie, andererseits vom Niederschlag der Gesellschaft geprägt sind und nur einen Hauch von Freiheit erlangen können, wenn wir dies anerkennen und wenn wir uns gegen die unterdrückenden Verhältnisse stellen. Russell Jacobys Buch ist ein Meisterwerk der psychotherapeutischen Sekundärliteratur, weil es die gesamte Entwicklung der Psychotherapie in den Blick nimmt und unter dem Blickwinkel der Theoriebildung analysiert. Die psychotherapeutischen Theorien werden dabei begriffen als Ausdruck des Versuchs, die radikalen Erkenntnisse Freuds und ihre revolutionierenden Konsequenzen rückgängig zu machen. Das Buch öffnet die Augen für den grundlegenden Widerspruch des psychotherapeutischen Berufs: Je mehr dieser sich den gesellschaftlichen herrschenden Verhält98
J nissen andient, desto mehr gibt er die grundlegende Erkenntnis auf, dass jede Gesellschaft das Individuum unterdrückt. Psychotherapie kann also nur subversiv sein – oder sie ist nicht. Gerade in der heutigen Diskussion über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit von Psychotherapie, in der offen und unhinterfragt Psychotherapie als kostengünstiges verhaltenstherapeutisches Anpassungsinstrument propagiert und jegliche längerfristige Arbeit an den unbewussten Konflikten als Zeitverschwendung denunziert wird, ist die Arbeit von Russell Jacoby, obwohl vor einer Generation erschienen, hochaktuell und zeitgemäß. Die Arbeit ist verständlich geschrieben, im Jargon eines Intellektuellen der Frankfurter Schule von Theodor Adorno und Max Horkheimer. Markus Fäh
Eva Jaeggi: Und wer therapiert die Therapeuten? #WƂCIG/ØPEJGP&GWVUEJGT6CUEJGPDWEJ8GTNCI 'TUVCWUICDG5VWVVICTV-NGVV%QVVC
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va Jaeggi beschreibt in diesem Buch sehr treffend die Sorgen, Ängste und Nöte, aber auch die Eigenheiten der Psychotherapeuten, vor allem die der Psychoanalytiker. Sind Psychotherapeuten „besser“ in ihren eigenen Beziehungsfragen? Können sie durch ihre Ausbildung die Dinge anders sehen, tappen sie nicht in die gleichen Fallen wie andere? Diesen Fragen stellt sich die Autorin mit einer großen Portion Selbstkritik und Ironie. Sie beschreibt das Selbstbild des Psychotherapeuten, seine Stellung innerhalb all dieser „Psycho“-Berufe und den ständigen Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Ausbildung, zwischen Natur- und Sozialwissenschaft. Der steile Weg der Ausbildung von der Supervisionsstunde bis zum privaten (meist ungewollten) Zusammentreffen mit dem eigenen Lehranalytiker wird auf eine sehr humorvolle, aber auch genaue und pointierte Art und Weise wiedergegeben. Weiters nimmt sie die therapeutische Beziehung unter die Lupe und kristallisiert vier Typen von Therapeuten heraus, die jeweils ihre Therapeut-Patient-Beziehung anders definieren und umsetzen. Das Privatleben der Psychotherapeuten wird ebenso wenig verschont wie die Feiertauglichkeit derselben. Sie berichtet über die Schwierigkeit, Beruf und Privatleben zu trennen, insbesondere der ständigen Versuchung zu entrinnen, seine eignen Kinder nicht mit Einsicht und Empathie zu überfordern. Therapeuten haben keine besseren Beziehungen als andere, eigentlich sogar im Gegenteil, was hohe Scheidungsziffern belegen. Auch eine unterschiedliche Art, Feste zu feiern und Kongresse zu gestalten, erkennt sie zwischen Psychoanalytikern und Vertretern anderer Schulen. Psychoanalytiker neigen, ihrer Meinung nach, 99
J nissen andient, desto mehr gibt er die grundlegende Erkenntnis auf, dass jede Gesellschaft das Individuum unterdrückt. Psychotherapie kann also nur subversiv sein – oder sie ist nicht. Gerade in der heutigen Diskussion über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit von Psychotherapie, in der offen und unhinterfragt Psychotherapie als kostengünstiges verhaltenstherapeutisches Anpassungsinstrument propagiert und jegliche längerfristige Arbeit an den unbewussten Konflikten als Zeitverschwendung denunziert wird, ist die Arbeit von Russell Jacoby, obwohl vor einer Generation erschienen, hochaktuell und zeitgemäß. Die Arbeit ist verständlich geschrieben, im Jargon eines Intellektuellen der Frankfurter Schule von Theodor Adorno und Max Horkheimer. Markus Fäh
Eva Jaeggi: Und wer therapiert die Therapeuten? #WƂCIG/ØPEJGP&GWVUEJGT6CUEJGPDWEJ8GTNCI 'TUVCWUICDG5VWVVICTV-NGVV%QVVC
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va Jaeggi beschreibt in diesem Buch sehr treffend die Sorgen, Ängste und Nöte, aber auch die Eigenheiten der Psychotherapeuten, vor allem die der Psychoanalytiker. Sind Psychotherapeuten „besser“ in ihren eigenen Beziehungsfragen? Können sie durch ihre Ausbildung die Dinge anders sehen, tappen sie nicht in die gleichen Fallen wie andere? Diesen Fragen stellt sich die Autorin mit einer großen Portion Selbstkritik und Ironie. Sie beschreibt das Selbstbild des Psychotherapeuten, seine Stellung innerhalb all dieser „Psycho“-Berufe und den ständigen Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Ausbildung, zwischen Natur- und Sozialwissenschaft. Der steile Weg der Ausbildung von der Supervisionsstunde bis zum privaten (meist ungewollten) Zusammentreffen mit dem eigenen Lehranalytiker wird auf eine sehr humorvolle, aber auch genaue und pointierte Art und Weise wiedergegeben. Weiters nimmt sie die therapeutische Beziehung unter die Lupe und kristallisiert vier Typen von Therapeuten heraus, die jeweils ihre Therapeut-Patient-Beziehung anders definieren und umsetzen. Das Privatleben der Psychotherapeuten wird ebenso wenig verschont wie die Feiertauglichkeit derselben. Sie berichtet über die Schwierigkeit, Beruf und Privatleben zu trennen, insbesondere der ständigen Versuchung zu entrinnen, seine eignen Kinder nicht mit Einsicht und Empathie zu überfordern. Therapeuten haben keine besseren Beziehungen als andere, eigentlich sogar im Gegenteil, was hohe Scheidungsziffern belegen. Auch eine unterschiedliche Art, Feste zu feiern und Kongresse zu gestalten, erkennt sie zwischen Psychoanalytikern und Vertretern anderer Schulen. Psychoanalytiker neigen, ihrer Meinung nach, 99
J mehr dazu, ihre Richtung als ihre Religion zu vertreten, und seien anderen Zugängen gegenüber weniger offen. Als ich dieses Buch gelesen habe, habe ich einige Male herzlich gelacht und gleichzeitig hat es mich zum Nachdenken gebracht. Da ich selber eine Ausbildungskandidatin der Psychoanalyse bin und natürlich mit allen guten Vorsätzen meine Ausbildung begonnen habe, ist mir durch die treffenden Schilderungen Eva Jaeggis bewusst geworden, wie sehr man doch geneigt ist, den Tunnelblick der eigenen Richtung anzunehmen, den man eigentlich vermeiden wollte. Die Autorin schildert mit einem treffsicheren Humor und einer unglaublichen Fähigkeit an Selbstreflexion die Tücken dieses Berufes, aber letzten Endes auch die schönen Seiten dieser Berufung. Die Liebe zu ihrer Tätigkeit und die Auseinandersetzung mit dieser sind in jedem Satz dieses Buches bemerkbar, das macht dieses Buch auch zu einem Meisterwerk der Psychotherapie. Meiner Meinung nach gehört eine Portion Mut dazu, mit diversen Klischees der Psychoanalyse aufzuräumen und mit einem gewissen Weitblick, aber auch mit einem Augenzwinkern die eigene Zunft ein wenig zu durchleuchten, um deren vielleicht manchmal überzogene und dogmatische Ansichten ans Licht zu bringen. Ist es aber nicht so, dass es zu den schönsten Eigenschaften eines Menschen gehört, über sich selbst lachen zu können und das eigene Tun und Schaffen in manchen Augenblicken nicht immer ganz erst nehmen zu müssen. Michaela Heger
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C. G. Jung: Praxis der Psychotherapie
Beiträge zum Problem der Psychotherapie und zur Psychologie der Übertragung &ØUUGNFQTH2CVOQU 'TUVCWUICDG<ØTKEJ4CUEJGT
er vorliegende 16. Band der „Gesammelten Werke“ von C. G. Jung mit dem Titel „Praxis der Psychotherapie“ enthält frühere und spätere Arbeiten C. G. Jungs über Fragen der psychotherapeutischen Praxis. Dieser Band ist die Erstveröffentlichung des 20-bändigen Gesamtwerkes und eignet sich auch deshalb in besonderer Weise, C. G. Jungs Arbeit einem interessierten Leser vorzustellen. Wer Orientierung zum Thema Psychotherapie sucht, sieht sich heute mit einer Flut von Informationen verschiedenster Therapierichtungen konfrontiert. Das Auffinden und Benennen von wesentlichen Unterscheidungskriterien der einzelnen Schulen ist oft schwierig geworden, insbesondere im Gespräch über konkrete therapeutische Situationen. Neben der durchaus bestehen bleibenden Gewichtung der eigenen Schwerpunkte und Erkenntnisse erfahren die Schulen eine Annäherung. Sie haben vonein-
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J mehr dazu, ihre Richtung als ihre Religion zu vertreten, und seien anderen Zugängen gegenüber weniger offen. Als ich dieses Buch gelesen habe, habe ich einige Male herzlich gelacht und gleichzeitig hat es mich zum Nachdenken gebracht. Da ich selber eine Ausbildungskandidatin der Psychoanalyse bin und natürlich mit allen guten Vorsätzen meine Ausbildung begonnen habe, ist mir durch die treffenden Schilderungen Eva Jaeggis bewusst geworden, wie sehr man doch geneigt ist, den Tunnelblick der eigenen Richtung anzunehmen, den man eigentlich vermeiden wollte. Die Autorin schildert mit einem treffsicheren Humor und einer unglaublichen Fähigkeit an Selbstreflexion die Tücken dieses Berufes, aber letzten Endes auch die schönen Seiten dieser Berufung. Die Liebe zu ihrer Tätigkeit und die Auseinandersetzung mit dieser sind in jedem Satz dieses Buches bemerkbar, das macht dieses Buch auch zu einem Meisterwerk der Psychotherapie. Meiner Meinung nach gehört eine Portion Mut dazu, mit diversen Klischees der Psychoanalyse aufzuräumen und mit einem gewissen Weitblick, aber auch mit einem Augenzwinkern die eigene Zunft ein wenig zu durchleuchten, um deren vielleicht manchmal überzogene und dogmatische Ansichten ans Licht zu bringen. Ist es aber nicht so, dass es zu den schönsten Eigenschaften eines Menschen gehört, über sich selbst lachen zu können und das eigene Tun und Schaffen in manchen Augenblicken nicht immer ganz erst nehmen zu müssen. Michaela Heger
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C. G. Jung: Praxis der Psychotherapie
Beiträge zum Problem der Psychotherapie und zur Psychologie der Übertragung &ØUUGNFQTH2CVOQU 'TUVCWUICDG<ØTKEJ4CUEJGT
er vorliegende 16. Band der „Gesammelten Werke“ von C. G. Jung mit dem Titel „Praxis der Psychotherapie“ enthält frühere und spätere Arbeiten C. G. Jungs über Fragen der psychotherapeutischen Praxis. Dieser Band ist die Erstveröffentlichung des 20-bändigen Gesamtwerkes und eignet sich auch deshalb in besonderer Weise, C. G. Jungs Arbeit einem interessierten Leser vorzustellen. Wer Orientierung zum Thema Psychotherapie sucht, sieht sich heute mit einer Flut von Informationen verschiedenster Therapierichtungen konfrontiert. Das Auffinden und Benennen von wesentlichen Unterscheidungskriterien der einzelnen Schulen ist oft schwierig geworden, insbesondere im Gespräch über konkrete therapeutische Situationen. Neben der durchaus bestehen bleibenden Gewichtung der eigenen Schwerpunkte und Erkenntnisse erfahren die Schulen eine Annäherung. Sie haben vonein-
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J ander gelernt und dieses Gelernte in ihre eigenen Konzepte bis in Ausbildungsprogramme mit hineingenommen. Diese Tatsache betrachte ich als begrüßenswert. Sie beruhigt und stärkt das Vertrauen in die verschiedenen Richtungen der Psychotherapie. Die Haltung, die einen derartigen Prozess möglich macht, ist tatsächlich eine der wichtigsten Voraussetzungen für Fortschritt im Sinn einer lebendigen Entwicklung. Fortschritt bedeutet nun aber nicht, dass Geschichte unwichtig wird und wir begehen deshalb einen bedauernswerten Fehler, wenn wir uns nicht auch für die Arbeiten unserer Vorgänger interessieren. Gerade im jeweiligen Entwurf ist ja immer auch das Ganze bereits erkennbar. „C. G. Jungs Werk hat als eine psychologische Forschungsrichtung und Therapieweise seinen Platz im Kulturkanon gefunden und zwar so, dass es in vielerlei Hinsicht über sich selbst hinausweist und auch zu anderen Disziplinen Brücken schlägt. Das entspricht dem Bedürfnis all derer, ... die daran arbeiten, unfruchtbare, weil andere Perspektiven ausschließende Alternativen zu vermeiden ...“ (Wehr Gerhard, Carl Gustav Jung. Leben Werk Wirkung. München 1985, S. 437) C. G. Jung arbeitete in dem Bewusstsein, dass, sollte jemals eine allgemein gültige Wahrheit sich zeigen, deren Entdeckung niemals einem einzigen Menschen zuzuschreiben sein wird. So schreibt er: „Und doch trägt jeder die Leuchte der Erkenntnis nur eine Strecke weit, bis sie ihm ein anderer abnimmt. Könnte man diesen Vorgang [der Suche nach Erkenntnis] anders als persönlich verstehen, könnte man zum Beispiel annehmen, daß wir nicht die persönlichen Schöpfer unserer Wahrheit sind, sondern ihre Exponenten, bloße Aussprecher zeitgenössischer seelischer Notwendigkeiten, so wäre wohl vieles an Gift und Bitterkeit vermieden und unser Blick wäre frei, die tiefen und überpersönlichen Zusammenhänge der Menschheitsseele zu sehen.“ Im vorliegenden Buch lernt der Leser C. G. Jung als einen unserer Pioniere kennen, der sich mit äußerst großer Achtung vor der Individualität eines jeden Menschen mit dessen Seelenleben auseinandersetzt. So erklärt C. G. Jung zum Beispiel die therapeutische Arbeit in gewissem Sinn zu einem dialektischen Verfahren. Mit dieser „vielleicht modernsten Formulierung des psychotherapeutischen Verhältnisses“ postuliert er „eine Person [als] ein psychisches System, welches, im Falle der Einwirkung auf eine andere Person, mit einem anderen psychischen System in Wechselwirkung tritt.“ Demzufolge gelten für die Individualität beider an der therapeutischen Begegnung Beteiligten „die selbe Würde und Daseinsberechtigung“. Dieses Menschenbild bestimmt nicht nur C. G. Jungs Rolle als Arzt, sondern auch die Begegnung mit Kollegen und die Auseinandersetzung mit jedem ernsthaften Forschergeist. So behalten die Aussagen von Freud und Adler für ihn zeitlebens Gültigkeit und Anerkennung: „Es wäre unverzeihlicher Irrtum, die Wahrheit dieser Auffassungen, der Freud’schen sowohl wie der Adler’schen, zu übersehen ...“ 101
J Es bleibt sein dringendes Anliegen, „die anscheinende Vielheit widersprechender Meinungen gelten zu lassen ...“. Im ersten Teil des Bandes finden sich Aufsätze zu allgemeinen Problemen der Psychotherapie. Diese Sammlung schafft einen sehr guten Zugang zu Jungs Verständnis von Psychotherapie. Sie nimmt den Leser hinein in spannende Überlegungen und konkrete Grundfragen. Hier sei der „Versuch“ erwähnt, „mit dem ausdrücklichen Vorbehalt eines vorläufigen Unternehmens …“ den therapeutischen Prozess in vier Stufen einzuteilen: Bekenntnis, Aufklärung, Erziehung und Verwandlung. Jung führt klar aus, was mit den ersten drei Begriffen gemeint sein will und bezeichnet jede dieser Stufen für sich schon „als Träger einer allgemeinen Wahrheit“. Den Auftrag der modernen Psychotherapie sieht C. G. Jung nun in dem Schritt von der Erziehung über die Selbsterziehung weiter zur vierten Stufe, der Verwandlung. (Die Erforschung dieser Stufe stellt das eigentliche Spezifikum des Lebenswerkes von C. G. Jung dar.) Jung erinnert daran, dass, wo es um Probleme oder bedrückende Fragen geht, „... die Lösung durch andere immer noch kindlich ist und kindlich erhält ...“ Hier wird deutlich: Wesentliches passiert dort, wo der Therapeut weder Lösung noch Erklärung anbietet, sondern dazu ermutigen kann, sich auf einen persönlichen verwandelnden Prozess einzulassen. Der Therapeut wird ebenso sehr Bestandteil dieses seelischen Vorganges der Behandlung wie der Patient selbst. „In Anerkennung dieser Tatsachen hat selbst Freud meine Forderung, dass der Arzt selber analysiert sein müsse, aufgenommen.“ Nur unter dieser Voraussetzung kann die (analytische) Psychotherapie zu einem Verfahren werden, dessen Ziel es ist, die Fähigkeiten unserer Seele unverstellter ins Spiel zu bringen. Im zweiten Teil des Bandes wendet sich der Verfasser speziellen Themen der Psychotherapie zu. Anhand der sehr aktuellen Überlegungen zum therapeutischen Wert des Abreagierens weist Jung auch hier darauf hin, wie sehr sich die analytische Arbeit von der Anwendung einer routinemäßigen Technik abheben und der Einfluss des Therapeuten in einer sehr persönlichen Richtung liegen muss. Das folgende Kapitel ist dem Faszinosum Traum gewidmet. „Es ist selbstverständlich, dass jede Ansicht, die dem Unbewussten in der Ätiologie der Neurose eine ausschlaggebende Rolle zumisst, auch dem Traum, als der unmittelbaren Äußerung dieses Unbewussten, eine wesentliche, praktische Bedeutung zuerkennt.“ In der Betrachtung des Traumes als wichtigen Zugang zu den Inhalten unseres Unbewussten sind Freud und Jung sich einig. Da beide aber von einem unterschiedlichen Verständnis des Unbewussten ausgehen, pflegen sie einen dementsprechend unterschiedlichen Umgang mit dem konkreten Traum. Bis hierher sind Jungs Ausführungen dem sogenannten „Anfänger“ durchaus zuzumuten, ja zu empfehlen, da sie eine gut verständliche Ein102
K führung bieten. Aber auch für diejenigen, die in eigener Praxis schon einiges an Erfahrung gesammelt haben, lohnt sich die Lektüre. Im letzen und ausführlichsten Beitrag des Bandes mag manch ein Leser mit der Entdeckung von Neuland konfrontiert sein. Die Darstellungen erfordern eine gewisse Vorkenntnis, geben aber einen sehr guten Einblick in die Arbeits- und Denkweise der Analytischen Psychologie. C. G. Jung beschäftigt sich hier mit der „klassischen“ Form der Übertragung und deren Phänomenologie. Er zieht zur Erläuterung die alchemistische Symbolik heran und begründet dies mit der „innigen Beziehung zwischen der Alchemie und jenen Phänomenen, mit denen sich die Psychologie des Unbewussten aus praktischen Gründen beschäftigen muss“. Abschließend sei dieser Band dem geschätzten Leser noch einmal mit den Worten C. G. Jungs empfohlen: „Trotz oder gerade wegen der heterogenen Zusammensetzung dürfte dieser Band dem Leser ein gutes Bild vom Beziehungsreichtum der psychotherapeutischen Frage und ihrer empirischen Grundlagen vermitteln“ (zitiert aus dem Geleitwort zur Erstveröffentlichung dieses Bandes 1957). Ingrid Guth
Frederick H. Kanfer / Hans Reinecker / Dieter Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie Ein Lehrbuch für die klinische Praxis #WƂCIG$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT 'TUVCWUICDG
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m ersten Teil des Buches entwerfen die Autoren ein umfassendes theoretisches Modell menschlichen Verhaltens, das der dynamischen und systemischen Komplexität von Erlebnis- und Veränderungsprozessen des Menschen gerecht werden möchte. Sie wählen dabei eine Perspektive, die auf wissenschaftlich fundierten Konzepten der Psychologie aufbaut, aber durch die Art der Verknüpfung weit darüber hinaus verweist. Durchgängig ist selbst im theoretischen Teil die praktisch-klinische Orientierung der Autoren bemerkbar, welche davon ausgeht, dass Therapien als zielgerichtet, problemorientiert und zeitlich begrenzt aufzufassen sind. Auch die theoretischen Grundannahmen über den Menschen sollen sich somit vor dem pragmatischen Kriterium klinischer Nützlichkeit bewähren. Inhaltlich wird das Menschenbild von der Annahme permanenter dynamischer Wechselwirkungen zwischen den „bio-psycho-sozialen“ Betrachtungsebenen aus entwickelt. Dabei wird der Systembegriff eingeführt, auf die Ebene des biologischen Organismus, des psychischen Erlebens und der sozialen Einbettung angewandt und der kontextuelle Bezug zur jeweiligen Umwelt mitgedacht. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wechselseitiger Antizipation und Reaktion werden in Form von „Feedback“- und „Feedforward“-Prozessen konzipiert. 103
K führung bieten. Aber auch für diejenigen, die in eigener Praxis schon einiges an Erfahrung gesammelt haben, lohnt sich die Lektüre. Im letzen und ausführlichsten Beitrag des Bandes mag manch ein Leser mit der Entdeckung von Neuland konfrontiert sein. Die Darstellungen erfordern eine gewisse Vorkenntnis, geben aber einen sehr guten Einblick in die Arbeits- und Denkweise der Analytischen Psychologie. C. G. Jung beschäftigt sich hier mit der „klassischen“ Form der Übertragung und deren Phänomenologie. Er zieht zur Erläuterung die alchemistische Symbolik heran und begründet dies mit der „innigen Beziehung zwischen der Alchemie und jenen Phänomenen, mit denen sich die Psychologie des Unbewussten aus praktischen Gründen beschäftigen muss“. Abschließend sei dieser Band dem geschätzten Leser noch einmal mit den Worten C. G. Jungs empfohlen: „Trotz oder gerade wegen der heterogenen Zusammensetzung dürfte dieser Band dem Leser ein gutes Bild vom Beziehungsreichtum der psychotherapeutischen Frage und ihrer empirischen Grundlagen vermitteln“ (zitiert aus dem Geleitwort zur Erstveröffentlichung dieses Bandes 1957). Ingrid Guth
Frederick H. Kanfer / Hans Reinecker / Dieter Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie Ein Lehrbuch für die klinische Praxis #WƂCIG$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT 'TUVCWUICDG
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m ersten Teil des Buches entwerfen die Autoren ein umfassendes theoretisches Modell menschlichen Verhaltens, das der dynamischen und systemischen Komplexität von Erlebnis- und Veränderungsprozessen des Menschen gerecht werden möchte. Sie wählen dabei eine Perspektive, die auf wissenschaftlich fundierten Konzepten der Psychologie aufbaut, aber durch die Art der Verknüpfung weit darüber hinaus verweist. Durchgängig ist selbst im theoretischen Teil die praktisch-klinische Orientierung der Autoren bemerkbar, welche davon ausgeht, dass Therapien als zielgerichtet, problemorientiert und zeitlich begrenzt aufzufassen sind. Auch die theoretischen Grundannahmen über den Menschen sollen sich somit vor dem pragmatischen Kriterium klinischer Nützlichkeit bewähren. Inhaltlich wird das Menschenbild von der Annahme permanenter dynamischer Wechselwirkungen zwischen den „bio-psycho-sozialen“ Betrachtungsebenen aus entwickelt. Dabei wird der Systembegriff eingeführt, auf die Ebene des biologischen Organismus, des psychischen Erlebens und der sozialen Einbettung angewandt und der kontextuelle Bezug zur jeweiligen Umwelt mitgedacht. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wechselseitiger Antizipation und Reaktion werden in Form von „Feedback“- und „Feedforward“-Prozessen konzipiert. 103
K Therapie wird als gemeinsamer interaktiver Problemlöseprozess verstanden, in dem Kooperation und Motivation zur Veränderung eine zentrale Rolle spielen. Die verschiedenen Phasen des Therapieprozesses werden im zweiten Teil des Buches genauer herausgearbeitet. Das sogenannte „7-Phasen-Modell“ beschreibt den Aufbau einer therapeutischen Allianz, die Klärung möglicher therapeutischer Ziele, die Erarbeitung eines individuellen Bedingungsmodells der Problematik, den Einsatz „maßgeschneiderter“ therapeutischer Methoden und die anschließende Überprüfung und Optimierung der erfolgten Veränderung als prototypischen Prozessverlauf. Die einzelnen Phasen werden wiederholt in Schleifen durchlaufen, wobei stets die Rückmeldungen der KlientInnen einfließen und ein Konsens über das weitere Vorgehen gesucht wird. Der 1925 in Wien geborene und in die USA emigrierte Frederick Kanfer (verstorben 2002) stand zunächst in der lerntheoretischen Tradition der amerikanischen Psychologie. Als Professor an der Universität von Illinois begann er sich schon in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts für die inneren und insbesondere kognitiven Vorgänge in Zusammenhang mit dem Phänomen der Selbstkontrolle zu interessieren. Die daraus hervorgehenden Überlegungen zu den Selbstregulationsfähigkeiten des Menschen können als Vorläufer zu einer modernen Verhaltenstherapie angesehen werden, welche weniger die Umweltbedingungen beeinflussen will, sondern die inneren Vorgänge der Selbstbeobachtung und Selbstbewertung bewusst machen und in Hinblick auf adaptiveres Handeln verändern möchte. Die Selbstgestaltungsmöglichkeiten des Menschen werden somit zum zentralen Ansatzpunkt jeder Therapie. Frederick Kanfer stand zeit seines Lebens in engem beruflichem Kontakt mit den Verhaltenstherapeuten in Europa, besonders in Deutschland und Österreich. Aus dieser Zusammenarbeit ergab sich auch das vorliegende Buchprojekt, in dem gemeinsam mit Hans Reinecker und Dieter Schmelzer – beide einer jüngeren Generation zugehörig – ein wesentlicher Entwicklungsimpuls im deutschen Sprachraum gesetzt wurde. Die Bedeutung dieses Werkes für die Verhaltenstherapie lässt sich vielleicht daran festmachen, dass in einer im Zuge der bisherigen lerntheoretischen und auch kognitiven Ansätze nicht vorfindbaren Weise der Komplexität menschlichen Verhaltens und der Vielschichtigkeit von Therapieprozessen explizit Rechnung getragen wird. Dies erfolgt einerseits zunächst in einer sehr allgemeinen und abstrakten theoretischen Sprache, welche durchgängig den Stand der aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskurse berücksichtigt. Andererseits werden dann bis hin zu den Feinheiten der therapeutischen Beziehungsgestaltung und dem Einsatz bestimmter Techniken Grundprinzipien von hoher Praxisrelevanz abgeleitet. Dass dies alles in konsistenter und überzeugend stimmiger Weise gelang und dabei auch noch mit den traditionelleren verhaltenstherapeutischen Ansätzen kompatibel blieb, ist als Leistung mit hohem integrativem Potential zu würdigen. Erwin Parfy
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Karen Kaplan-Solms / Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse Eine Einführung mit Fallstudien #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG
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n seinem originellen Buch beschreibt das Ehepaar Solms ein Experiment der besonderen Art: Patienten der Neurologie mit lokalisierbaren Gehirnläsionen werden psychoanalytisch untersucht. Anhand exemplarischer, ausführlicher Falldarstellungen begleiten uns Mark Solms, Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker, und seine Frau Karen Kaplan-Solms, Sprachwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin, in ein Grenzgebiet zwischen Leib und Seele, in eine „Tiefen-Neuropsychologie“. Sie führen uns vor Augen, was Neurologen immer schon beobachtet hatten, die Lehrbücher aber verschwiegen: Je nachdem, wo sich die abgrenzbare Gehirnläsion befindet, verändert sich die dynamische Persönlichkeitsstruktur der Patienten. Mit der psychoanalytischen Methode, die auf der Annahme des Unbewussten basiert und mit der Technik der freien Assoziation, der Übertragung und Gegenübertragung, der Deutung und Interpretation usw. arbeitet, kann sich der Untersucher diesen Veränderungen am besten annähern und die „subjektive Sicht der Patienten“ der „objektiven Verletzung der Gehirnstruktur“ hinzufügen. Denn, so die Solm’sche Hypothese des „dual aspect monism“: „mind“ und „body“ sind aus demselben „Material“, bloß aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Die Methode ist eine logische Fortsetzung von Freuds neurologischer Arbeit, die er am treffendsten in seinem Werk „Zur Auffassung der Aphasien“ (1891) formulierte. Die Abwendung Freuds von der deutschen Tradition der Lokalisierung und seine Begeisterung für J. M. Charcots „klinisch-anatomische Methode“ sowie für John Hughlings Jacksons hierarchische Sicht des Nervensystems legten den Grundstein für den Weg, den die Solm’sche Theorie einfach weitergeht. Natürlich darf dabei etwas Wesentliches nicht fehlen: Alexander R. Lurijas Neuropsychologie. Lurija, ausgebildeter Psychoanalytiker und Arzt, behandelte vor allem Kriegsverletzte in der ehemaligen Sowjetunion; seine einfühlsame „romantische Wissenschaft“ zeichnete sich dadurch aus, dass er neben der genauen Beschreibung der kognitiven Ausfälle seiner Patienten ihre facettenreiche Gesamtpersönlichkeit in den Vordergrund rückte. Auf seiner praktischen Erfahrung und der daraus abgeleiteten Theorie des „Gehirns in Aktion“ fußt bis heute die gesamte angelsächsische Neuropsychologie. Diese humanistische Tradition des Zuhörens und Beobachtens führte Solms zu den neurologisch geschädigten Patienten, die er mit der neuen Methode der „Neuro-Psychoanalyse“ untersuchte. So erfahren wir aus diesem Buch, dass Patienten mit einer Läsion im rechten Parietalkortex eine Eigentümlichkeit namens Anosognosie zeigen: Sie ignorieren ihre Lähmung auf der linken Seite, meinen, sie seien gesund, könnten auf der Stelle aufstehen und nach Hause gehen. Genau105
K so „leugnen“ sie, einen Schlaganfall erlitten zu haben, und haben neuropsychologische Defizite im Bereich der Raumwahrnehmung. Patienten mit einer Läsion im linken Parietalkortex hingegen weisen meistens keine Anosognosie auf, neben neuropsychologischen Ausfällen im sprachlichen Bereich erkennen sie ihre Lähmung an und trauern adäquat um den Verlust ihrer Funktionen. Patienten nach Verletzungen des tiefen Präfrontalkortex verhalten sich so, als lebten sie im Traum: Ihre Wünsche sind stärker als die Realität, sie halluzinieren, verlieren die äußere Zeitgebung und stören sich nicht an Widersprüchen. So erzählt eine Patientin, ihr Freund sei gestorben und hätte sie gleichzeitig im Spital besucht. Wer da an den Primärprozess denkt oder bei der Links-rechts-Dichotomie der Krankheitsverarbeitung an Freuds Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie erinnert wird, der irrt nicht. Genau diese Spur verfolgen die Autoren bei der Behandlung „organischer“ Neurosen. Das vorliegende Buch, das als eine „Einführung mit Fallstudien“ beginnt, aber bereits eine detaillierte neuro-psychoanalytische Theorie des Träumens und eine „Neuroanatomie des psychischen Apparats“ beinhaltet, löste eine Lawine in der wissenschaftlichen Welt aus. Führende Neurowissenschaftler begrüßten die Initiative der Psychoanalyse, aus ihrem narrativen Eck zu kommen, um mit den Neurowissenschaften in Dialog zu treten und sich einer gemeinsamen Beschäftigung mit dem „mind“ zu widmen. Psychoanalytiker überwanden ihre Skepsis und die Hürde der fremden, neurowissenschaftlichen Sprache und begeisterten sich für die zahlreichen empirischen Studien, die ihnen nun offenstanden. Plötzlich schien es möglich, die Idee Freuds, die er vor mehr als 100 Jahren formulierte, die er aber aufgrund von fehlenden Daten im Bereich der Neurologie aufschieben musste, wieder aufzunehmen und die Neurowissenschaften mit der Psychoanalyse zu verknüpfen. Die Suche nach der Wahrheit reißt nicht ab, Studien zur neuropsychoanalytischen Untersuchung so unterschiedlicher Themenbereiche wie „psychiatrische Erkrankungen“, „Demenz“, „Schlaf und Träumen“, „Emotion“, „Lateralisation“ und „Bindungstheorie“ beschäftigen die Forscher weltweit und fördern kreative Erkenntnisse zu Freuds Metapsychologie zutage. Zsofia Kovacs
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Verena Kast: Die Dynamik der Symbole Grundlagen der Jungschen Psychotherapie &ØUUGNFQTH2CVOQU 'TUVCWUICDG1NVGP9CNVGT
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er kennt sie nicht? Die Frage nach dem „Warum ist mir das gerade jetzt so passiert?“ oder „Was kann das nun bedeuten für mich/die Beziehung/meine Zukunft?“. Diese Fragen beinhalten eine für den Laien nicht erkennbare im Verborgenen liegende Dynamik von Symbolen. In diesem Buch beschreibt Verena Kast den Begriff des Symbols und beleuchtet diesen von verschiedenen Seiten und in verschiedenen Kontexten. Bevor in der vorliegenden Arbeit jedoch näher auf diesen Symbolbegriff eingegangen wird, wird ein kurzer Überblick über die Aspekte des Menschenbildes in der Jung’schen Psychotherapie gegeben. Mit anschaulichen Beispielen zu den einzelnen Arten von Symbolen in Alltag und Therapie gelingt es der Autorin, den Leser vorsichtig in dieses Gebiet der unsichtbaren Wirklichkeit, wie sie diese selbst bezeichnet, einzuführen. So überzeugt das Beispiel der Ehefrau, die den Ehering beim Putzen verliert und dadurch an den symbolischen Charakter dieses Ringes (wieder)erinnert wird. Der Ring als Symbol der Verbindung, der Treue bis hin zur Qualität der Beziehung, die dann in Frage gestellt wird. Ein Aspekt, der in dem vorliegenden Werk zumeist im Hintergrund mitschwingt und dessen Benennung es nicht braucht, ist jener der Frage nach der Bedeutung von Symbolen. Ob diese Symbole nun nebenbei gekritzelte „Ziegenböcke“ oder das Feststecken in einem Stau auf der Autobahn sind, über sie alle wird ein Denkprozess der Bedeutungszuschreibung initiiert. In diesem Zusammenhang beschreibt Verena Kast dann die Rolle des/der TherapeutIn, der/die den Klienten dabei unterstützen soll, möglichst nahe an die wahre Bedeutung für das persönliche Leben oder eine aktuelle Lebenslage heranführen soll. Hier wird deutlich dargestellt, dass ein Symbol nicht nur eine Bedeutung haben muss, sondern für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeuten kann. Kast weist auch deutlich auf den Unterschied von Zeichen und Symbol hin, beschreibt jedoch zugleich den Prozess, bei dem ein Zeichen wie die „Zahl 13“ für manche Menschen zu einem Symbol werden kann. Die praktische Erfahrung der Autorin sowie die neuen Erkenntnisse durch die Arbeit mit ihren KlientInnen werden gekonnt miteinander verknüpft und bilden ein abgerundetes Gesamtbild. Durch die Illustrationen, welche im Text ausführlich erläutert werden, wird der Inhalt für den/die LeserIn anschaulicher gemacht. Was dieses Werk besonders macht im Vergleich zu anderen Werken zur Thematik der Symbole, ist der angenehme, einfach und zugleich anspruchsvolle Schreibstil von Verena Kast. Komplexe Prozesse und Inhalte werden deutlich und prägnant beschrieben und durch Erfahrungsberichte und Illustrationen untermauert. Es fällt auf, dass das vorliegende Buch auf eine Zielgruppe ausgerichtet ist, die schon über psychologische und/oder therapeutische Grundkennt107
K nisse verfügen soll. So geht die Autorin bereits im ersten Kapitel in medias res mit Begriffen wie „Archetypus“, „Persona“ und „Anthropos“, welche als bekannt vorausgesetzt zu werden scheinen. Die Inhalte und Praxisbeispiele scheinen für Praktiker, sowohl im psychotherapeutischen als auch im psychologischen Setting, als bereichernde Information und Anregung zur Einbindung in die Behandlungskonzepte attraktiv. Das zentrale Thema dieses Buches stellen die Symbole dar, die in verschiedenen Kontexten auftreten und aus verschiedenen Situationen heraus in Form von Zeichnungen entstehen können. Im ersten Kapitel dieses Buches geht es zentral um die Jung’sche Psychoanalyse, in der der Individuationsprozess eine zentrale Rolle einnimmt. Die Individuation, welche als Einswerden mit sich selbst und der Menschheit verstanden wird, ist das Ziel und der Individuationsprozess eine Annäherung an dieses Ziel, dessen tatsächliches Erreichen eine Utopie ist. Eine Utopie ist das vollkommene Selbst bzw. das Ganzwerden als Ziel zu erreichen. Die Ganzheit kann nur durch das „Du“ erreicht werden. Somit ist der therapeutische Prozess als Individuationsprozess zu verstehen, in dem die Symbole dazu dienen, das Unbewusste und Bewusste zu verbinden und dadurch die schöpferische Entwicklung zu ermöglichen. Das zweite Kapitel behandelt die Aspekte der Symbole. Symbole können verstanden werden als sichtbare Zeichen einer unsichtbaren ideellen Welt, die nie ganz sichtbar werden kann. Symbole treten in verschiedensten Arten auf, wie in Träumen, Märchen, Zeichnungen oder auch im Alltag durch individuelle Deutungen. Es wird erklärt, woher der Begriff „Symbol“ stammt und welche Aufgabe der Therapeut im Rahmen einer Therapie hat. Dieser sollte die emotionale Zuwendung zum Symbol ermöglichen und auf Hintergründiges verweisen. Es wird von symbolischen Handlungen und Einstellungen gesprochen sowie von der Wichtigkeit des Sich-Einlassens auf Symbole. Dieses emotionale Einlassen auf Symbole kommt besonders im Rahmen von „Märchen als Therapie“ zum Tragen. Hier werden Archetypen, wie die Kuh als das Mütterliche, verwendet. Erst dann können Verdichtungen, verdrängte Erinnerungen, Abwehrmechanismen, Wünsche und Hoffnung erschlossen und Erwartungen belebt werden. Im dritten und vierten Kapitel geht es um die Aspekte der Komplexe und deren Kompensationsmöglichkeiten. Im vierten Kapitel geht es um den Ich-Komplex als jenen Komplex, der als Komplex im Selbstwertgefühl verstanden wird, welcher jedem Menschen innewohnt und Jung als zentraler Komplex gilt. Komplexe können verstanden werden als krisenanfällige Stellen im Individuum, die das Individuum daran hindern sich weiterzuentwickeln und zugleich schöpferische Keime haben, wenn sie akzeptiert werden. Sie können auch als abstrakte Strukturen des Unbewussten definiert werden, die durch Abwehrmechanismen verdrängt werden und bei Berühren dieses Komplexes – etwa durch Reizworte, die Assoziationen hervorrufen – erfolgt eine emotionale Überreaktion. Aus dem Elternkomplex differenzieren sich Vater- und Mutterkomplex aus, welche bei der Übertragung eine wesentliche Rolle spielen. So kann diese 108
K auf den Therapeuten erfolgen oder auf Figuren im Traum (Vaterkomplex pUrteilender Richter). Komplexe können auch kompensiert werden durch Größenphantasien, idealisierte mächtige Elternbilder, narzisstische Aufwertung durch Spiegelidentifikation, Zerstörungswut und Entwerten. Wenn weder durch Kompensation noch durch stereotype Verhaltensweisen der Selbstwert wiederhergestellt werden kann, dann kommt es zu einer Fragmentierung, die Verwirrung und Aufhebung der Kohärenz nach sich zieht. Eine Fragmentierung findet meist nach Todesfällen oder anderen Verlusten statt. Der Therapeut kann nun einen Restitutionsprozess der Kohärenz unterstützen. Hierbei sind Setting, Einfühlungsvermögen und Formulieren von im Raum stehenden Emotionen von größter Wichtigkeit. Es soll dem Menschen möglich werden, sich in der therapeutischen Beziehung neu zu erfahren, und die Aufnahme dieser Entwicklungsprozesse durch den Therapeuten stattfinden. Im fünften Kapitel wird der Archetypus genau diskutiert und mit dem Individuationsprozess in Beziehung gesetzt. Hier wird der Einsatz eines Mandalas als Symbol für diesen Archetypus des Selbst und der Individuation präsentiert, zumal dieses einen Kreis darstellt, der als Ganzheit verstanden werden kann. Als zweite Variante, um die dynamischen Aspekte des Wachstums des Selbst zu symbolisieren, wird der Einsatz des Baumes beschrieben. Der Begriff der Synchronizität, als gleichzeitiges Auftreten von Träumen bei verschiedenen Personen und der Zusammenhang mit tatsächlichen Ereignissen, wird thematisiert. Meist geschieht eine solche Synchronizität in Zusammenhang mit Tod. Weiters wird der Zusammenhang mit der Psychosomatik dargestellt, wo aus dem Symptom ein Symbol gemacht werden soll, um die Ursache von körperlichen Schmerzen und von Konflikten zu erkennen sowie Handlungsstrategien im Alltag freizugeben. Das letzte Kapitel beschäftigt sich dann mit den Phänomenen der Übertragung und Gegenübertragung. Weiters wird hier beschrieben, dass es im Laufe einer Therapie zu sogenannten Umschlagspunkten kommt, an denen neue Symbolbildungen möglich werden, welche zuvor nur in der Übertragung und Gegenübertragung erfahrbar wurden. Was hier deutlich wird, ist die klare Formulierung eines Therapiezieles und die Berücksichtigung dessen, dass der Ich-Komplex kohärent ist. Die Thematik des „Spüren-Könnens“ des Analysanden sowie dessen Vermittlung als wichtigen Punkt, um überhaupt einen Symbolischen Prozess einsetzen zu können, wird deutlich. Auch die Themen des Rechfertigungszirkels als Schuldabwehr werden an einem anschaulichen Beispiel beschrieben. Silvia Prosquill
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Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG
n diesem Buch werden die Borderline-Störung und eine Untergruppe dieser – die narzisstische Persönlichkeitsstörung – besonders genau beschrieben und analysiert. Kernberg verwendet hier seine langjährige Erfahrung, um ein Konzept dieser psychischen Störungen im Sinne der Ich-Psychologie und der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie zu kreieren. Der erste Teil behandelt die Borderline-Patienten, die Literatur dazu stammt aus dem Jahre 1967 und späteren Ergebnissen der Forschung aus den Jahren 1968–72. Dieses Störungsbild wird vom Autor unter strukturellen, deskriptiven und genetisch-dynamischen Gesichtspunkten betrachtet. Folgende Merkmale werden besonders herausgehoben: Abwehrkonstellationen des Ich, bestimmte Symptomkonstellationen, Störung der verinnerlichten Objektbeziehung und charakteristische Triebschicksale. Diese werden sowohl einzeln als auch in ihren Zusammenhängen erklärt. Große Beachtung schenkt Kernberg auch der Gegenübertragung und den Behandlungsstrategien sowie dem Setting. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und hier besonders mit deren Ätiologie, Diagnose, Prognose und den Besonderheiten der Behandlung. Diese Patienten sind gekennzeichnet durch ein starkes Bedürfnis, von anderen geliebt und bewundert zu werden, und ein hohes Maß an Selbstbezogenheit. Weiters wird der Unterschied zwischen normalem und pathologischem Narzissmus abgehandelt, wobei zuerst eine Begriffsdefinition vorgenommen wird und sich daran ein Konzept des Narzissmus anschließt. Es ist nicht gerade ein leichtes Unterfangen, ein Werk von Otto F. Kernberg zu bewerten. Es gibt eigentlich kein anderes Wort für dieses Buch als brillant. Kaum ein anderes Werk über Borderline beschreibt diese Störung so detailliert und behandelt so viele einzelne Aspekte dieser. Der Aufbau dieses Buches ist sehr klar und gut strukturiert, die Kapitel sind übersichtlich und besonders praktisch empfinde ich die kurze Übersicht und die Zusammenfassung am Ende jedes Kapitels, so bekommt man einen guten Überblick über die jeweiligen Ausführungen. Auch das übersichtliche Sachregister hilft schnell bei der Suche nach wichtigen Stichwörtern. Einige Vorkenntnisse über psychoanalytische Theorien sind hilfreich beim Lesen dieses Buches, die Sprache ist jedoch so gewählt, dass sie nicht in unverständliche wissenschaftliche Sphären abhebt. Kernberg verbindet theoretische Konzepte mit Praxisnähe auf eine sehr anschauliche Weise und versucht, verschiedene Ansätze in eine Einheit zu bringen, um dem Leser die komplexe Symptomatik der Borderline-Störung zu vermitteln. Wer interessiert ist an einer umfassenden Analyse und Ausführung dieser Störung und fundiertes Wissen über Behandlungsansätze sucht, sollte dieses Buch unbedingt gelesen haben. Michaela Heger
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Otto F. Kernberg / Birger Dulz / Jochen Eckert (Hrsg.): Wir: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen“ Beruf 5VWVVICTV5EJCVVCWGT
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ie Herausgeber: Otto F. Kernberg, geboren 1928 in Wien, ist Psychoanalytiker und Professor für Psychiatrie in New York und Spezialist für schwere Persönlichkeitsstörungen. Birger Dulz, geboren 1952 in Hamburg, ist Psychiater und Psychotherapeut und Borderline-Spezialist. Jochen Eckert, geboren 1940 in Niederschlesien, ist Gesprächspsychotherapeut, Klinischer Psychologe und Psychotherapieforscher. Die Autoren: 62 Autoren, erfahrene PsychotherapeutInnen verschiedenster methodischer Ausrichtungen, ForscherInnen und PatientInnen. Der Inhalt: Die Intention dieses Buches ist es, wie die Herausgeber im Vorwort schreiben, zu zeigen, „dass Psychotherapie fundiert und lebendig, dass Psychotherapeuten vielseitig und menschlich sind“. In seinen drei Abschnitten mit den Überschriften: 1. Theoretisches, 2. Institutionalisiertes und 3. Persönliches, vermitteln die Autoren die ganze Komplexität des psychotherapeutischen Berufes. Es ist ein kritisches Buch mit sehr unterschiedlichen Texten von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, betroffen machend, aber auch erhellend und vor allem ehrlich. Die Autoren werden am Ende des Buches mit Foto und ihren Antworten auf Fragen nach ihrem Studienabschluss, ihrem Geburtsjahr, wichtigen Stationen ihrer beruflichen Tätigkeit, ihren Psychotherapieausbildungen, ihren Spezialisierungen und ihren Antworten auf die Frage, ob sie sich wünschen würden, dass ihr Sohn/ihre Tochter PsychotherapeutIn wird, vorgestellt. Es existiert sehr wenig Literatur über den Beruf, den Sigmund Freud einen „unmöglichen“ nannte. Die Herausgeber und die Autoren haben mit diesem Buch einen ganzen Berufsstand verortet und haben stellvertretend uns alle aus der gewohnten therapeutischen Abstinenz heraustreten und fassbar werden lassen in unserem Denken und Fühlen. Diese selbstkritischen Berichte über Erfolge, Niederlagen, inhaltliche Auseinandersetzungen, kollegialen Umgang und Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst sind sehr persönliche und offene Darstellungen. Sie zwingen zur eigenen Selbstreflexion über sonst gern abgewehrte Aspekte der Berufsausübung. Und sie machen Mut, weil man sich nicht allein weiß mit all den Schwierigkeiten und einsamen Seiten des TherapeutInnen-Daseins. Dieses Buch ist gleichsam ein Manifest des psychotherapeutischen Berufsstandes in seiner besten Form des „Erkenne dich selbst“. Eva Pritz
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M. Masud R. Khan: Entfremdung bei Perversionen )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG#NKGPCVKQPKPRGTXGTUKQPU 0GY;QTM+PVGTPCVKQPCN7PKXGTUKVKGU2TGUU
n diesem Werk stellt Khan seine Gedanken zum komplexen Thema der Perversionen aus einer psychoanalytischen Position heraus dar. Aus seiner klinischen Erfahrung mehrerer Jahrzehnte erarbeitet er ein typisches Muster der gestörten Mutter-Kind-Beziehung im Falle von Perversionen. Mit Bezug auf viele seiner Vordenker führt er detailliert aus, wie es dadurch zu einer Ich-Verzerrung in der Entwicklung kommt. Hierbei führt er den Begriff der Idolisierung des Kindes durch die Mutter ein und unterscheidet ihn von der Idealisierung. Ferner zeigt er auf, welche Folgen eine reale Verführung haben kann und sieht diese auch nicht als ein einmaliges Ereignis, sondern als eine bestimmte pathogene Form von Intimität zwischen Mutter und Kind. Er verdeutlicht anhand von detaillierten Bruchstücken einer Analyse sein Konzept zum Verständnis der weiblichen Homosexualität. Ein Thema, das in der psychoanalytischen Literatur noch immer unzureichende Beachtung gefunden hat. In der gesunden Entwicklung des Kindes wird in der psychoanalytischen Welt in Anlehnung an Winnicott von Übergangsobjekten und Übergangsphänomen gesprochen. Die Funktion, die dieses Übergangsobjekt übernimmt, ist für Khan bei Perversionen ersetzt durch das montierte innere Objekt. Anhand einer Fallgeschichte reflektiert er die Entstehung eines solchen Objekts und die möglichen Erscheinungsformen in der inneren psychischen Realität. Seine weiteren Gedanken führen in die Welt des Fetischismus. Welche Bedeutungen kann ein Fetisch haben? Was repräsentiert er? Dabei nutzt er Passagen einer jahrelangen Analyse, um dem Leser einen eindrucksvollen Einblick in diese Phänomene zu geben. Anhand eines bemerkenswerten Fallbeispiels begleitet er den Leser in die Welt der kannibalistischen Zärtlichkeit. Im Anschluss diskutiert der Autor das Konzept des Ich-Orgasmus in der bisexuellen Liebe. Welche Rolle spielen Wille und Macht in der Perversion? Khan stellt die These auf, dass der Masochismus im Grunde vor seelischem Schmerz zu schützen versucht. Schließlich beschäftigt er sich mit den Aspekten der Pornographie in unserer Gesellschaft und der Bedeutung des Zorns in diesem Zusammenhang. Was ist der Nutzen von pornographischer Literatur? Warum sind manche Menschen von gewalttätigen Darstellungen der Lust fasziniert? Das sind die Fragen, auf die Khan versucht, Antworten zu finden. Dieses Werk ist aufgrund seiner Sprache und der inhaltlichen Darstellung des Phänomens der Perversion als ein Fachbuch der psychoanalytischen Literatur einzustufen. Was ist gemeint mit der Entfremdung bei Perversionen? – Erst wenn man dieses Buch fertig gelesen hat, kann man seinen Titel verstehen. Es ist von Vorteil für jeden Leser, wenn er mit einigen psychoanalytischen Termini bereits vertraut ist. Khan bezieht sich auf
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K einige sehr anspruchsvolle und klassische Arbeiten der Psychoanalyse und macht den Leser mit diesen bekannt. Er beleuchtet das Phänomen der Perversionen aus seiner praktischen Arbeit und bringt eine Vielzahl tiefgehender und detaillierter klinischer Beispiele. Die Verknüpfung von praktischen Falldarstellungen mit theoretischen Abschnitten machen dieses Buch einzigartig. Khan hat die besondere Fähigkeit, seine Patienten und die analytische Arbeit derart zu beschreiben, dass man das Gefühl hat, man nimmt beobachtend an den Sitzungen teil. Es ist ein auf bereits bestehende Modelle aufbauendes Werk, das Einblick in die Ätiologie und Behandlung von Perversionen gewährt. Das Interesse an Perversionen ist nicht nur eine Bastion der Psychoanalyse, sondern auch der Philosophie, der Literatur und anderer Wissenschaften. Dies unterstreicht der Autor, indem er häufig Zitate am Beginn eines Kapitels verwendet oder ein Fallbeispiel mit einem Gedicht beendet. Nassim Agdari-Moghadam
/GNCPKG-NGKP,QCP4KXKGTG5GGNKUEJG7TMQPƂKMVG
Liebe, Hass und Schuldgefühl (TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.QXGJCVGCPFTGRCTCVKQP .QPFQP6JG*QICTVJ2TGUUCPF6JG+PUVKVWVGQH2U[EJQCPCN[UKU
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m Jahr 1937 erscheint in London ein Buch zweier miteinander befreundeter, nahezu gleichaltriger Psychoanalytikerinnen des Londoner Instituts für Psychoanalyse. Es beinhaltet zwei Abhandlungen von ähnlichem Umfang: „Hass, Gier und Aggression“ von Joan Riviere (1883–1962) und „Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung“ der uns heute bekannteren Melanie Klein (1882–1960). Die beiden Texte sind aufeinander bezogen und ergänzen einander – auch zum Buchtitel: „Liebe, Hass und Schuldgefühl“ (in der deutschen Ausgabe mit dem gut gewählten Übertitel „Seelische Urkonflikte“). Beide Beiträge gehen aus öffentlichen Vorlesungen hervor, das merkt man an der suggestiven Kraft, die dem Leser von den ersten Zeilen an entgegenschlägt. Die Autorinnen wenden sich nicht an ein begrenztes akademisches Publikum, sondern bemühen sich in einer einfachen, auch was die Verwendung der psychoanalytischen Grundbegriffe betrifft niemals abgehobenen oder technischen Sprache darum, „einige Vorstellungen von Hauptmustern des Gefühlslebens zu vermitteln“. Hinter dieser bescheidenen Formulierung verbirgt sich eine Unternehmung von radikalem Anspruch: Mit wenigen Strichen führt Riviere zu den unvermeidbaren Wurzeln menschlicher Aggression, die in der vollkommenen Abhängigkeit des 113
K einige sehr anspruchsvolle und klassische Arbeiten der Psychoanalyse und macht den Leser mit diesen bekannt. Er beleuchtet das Phänomen der Perversionen aus seiner praktischen Arbeit und bringt eine Vielzahl tiefgehender und detaillierter klinischer Beispiele. Die Verknüpfung von praktischen Falldarstellungen mit theoretischen Abschnitten machen dieses Buch einzigartig. Khan hat die besondere Fähigkeit, seine Patienten und die analytische Arbeit derart zu beschreiben, dass man das Gefühl hat, man nimmt beobachtend an den Sitzungen teil. Es ist ein auf bereits bestehende Modelle aufbauendes Werk, das Einblick in die Ätiologie und Behandlung von Perversionen gewährt. Das Interesse an Perversionen ist nicht nur eine Bastion der Psychoanalyse, sondern auch der Philosophie, der Literatur und anderer Wissenschaften. Dies unterstreicht der Autor, indem er häufig Zitate am Beginn eines Kapitels verwendet oder ein Fallbeispiel mit einem Gedicht beendet. Nassim Agdari-Moghadam
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Liebe, Hass und Schuldgefühl (TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.QXGJCVGCPFTGRCTCVKQP .QPFQP6JG*QICTVJ2TGUUCPF6JG+PUVKVWVGQH2U[EJQCPCN[UKU
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m Jahr 1937 erscheint in London ein Buch zweier miteinander befreundeter, nahezu gleichaltriger Psychoanalytikerinnen des Londoner Instituts für Psychoanalyse. Es beinhaltet zwei Abhandlungen von ähnlichem Umfang: „Hass, Gier und Aggression“ von Joan Riviere (1883–1962) und „Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung“ der uns heute bekannteren Melanie Klein (1882–1960). Die beiden Texte sind aufeinander bezogen und ergänzen einander – auch zum Buchtitel: „Liebe, Hass und Schuldgefühl“ (in der deutschen Ausgabe mit dem gut gewählten Übertitel „Seelische Urkonflikte“). Beide Beiträge gehen aus öffentlichen Vorlesungen hervor, das merkt man an der suggestiven Kraft, die dem Leser von den ersten Zeilen an entgegenschlägt. Die Autorinnen wenden sich nicht an ein begrenztes akademisches Publikum, sondern bemühen sich in einer einfachen, auch was die Verwendung der psychoanalytischen Grundbegriffe betrifft niemals abgehobenen oder technischen Sprache darum, „einige Vorstellungen von Hauptmustern des Gefühlslebens zu vermitteln“. Hinter dieser bescheidenen Formulierung verbirgt sich eine Unternehmung von radikalem Anspruch: Mit wenigen Strichen führt Riviere zu den unvermeidbaren Wurzeln menschlicher Aggression, die in der vollkommenen Abhängigkeit des 113
K Säuglings begründet sind. Wird ihm die stillende Mutterbrust versagt, die Wunschbefriedigung auch nur verzögert, dann „explodiert das Baby ... vor Wut und aggressivem Begehren“, vor Hass, Rache- und Todeswünschen der Mutter gegenüber. Im Gefolge setzen jedoch seelische Eindämmungsmechanismen ein, um jene „glückselige Sicherheit wiederzugewinnen“, wie sie vor dem Einsetzen der destruktiven Krise bestanden hat. Allen voran ist die Projektion ein erster Schritt zur Angstbeschwichtigung bei Gefahren, die dem Selbst von innen her drohen. Riviere geht so weit zu behaupten, dass „unser im Säuglingsalter aktives Bedürfnis, gefährliche, qualvolle Wutzustände aus uns heraus und in jemanden anderen hineinzuprojizieren ... einer der Hauptanreize ist, überhaupt die Existenz anderer Menschen zu erkennen“ – die Wut macht also das Objekt! Für Klein beginnt die seelische Umformung des Hasses mit der „Befürchtung“ des Säuglings, das Objekt seiner destruktiven Phantasien wirklich zerstört zu haben. Dagegen mobilisiert er zunächst omnipotente Wiederherstellungsphantasien, welche die Befürchtung allerdings nicht ganz zerstreuen können. Vor allem aber liegt hier die Quelle eines unbewussten Schuldgefühls, aus dessen Umformungen und Derivaten im späteren Leben alle Impulse, geliebten Menschen zu helfen und sie glücklich zu machen, entspringen. Das Einsetzen dieses Schuldgefühls, das heißt der nicht mehr durch reine Projektion oder omnipotente Wiedergutmachungsphantasien eingedämmten destruktiven Impulse, ist daher ein wichtiger Entwicklungsschritt; Klein wird später in ähnlichem Zusammenhang von einem Wechsel von der schizoiden in die depressive Position sprechen. Die destruktiven Triebregungen zu kontrollieren, zwischen ihnen und den lebensspendenden Elementen ein viables Gleichgewicht herzustellen, bleibt fortan eine Lebensaufgabe, die Klein in ihrem Beitrag für einige wesentliche Entwicklungsstationen durchbuchstabiert. Dass die Abhandlungen nahezu völlig auf Referenzen verzichten, liegt nicht nur an ihren Ursprüngen im Vortragsformat, sondern schlicht daran, dass sie sich, um ihrem Gegenstand gerecht werden zu können, gar nicht wesentlich mit der Abarbeitung von wissenschaftlichen Vorleistungen beschäftigen können. Selbst der Name Freud findet sich nur in Fußnoten – und das zu Recht; beide Autorinnen operieren jenseits von Freud, vor allem jenseits seiner Leitüberlegungen zur Ödipalität. Sie tauchen viel „tiefer“ ab in die allerfrühesten Gefühlsdramen des Säuglings weit jenseits der Symbolisierbarkeit – in Dramen der frühen, Freud noch verborgenen Objektbeziehungen, die den unbewussten seelischen Haushalt für die gesamte Lebenszeit prägen. In diesem Buch wird also bis dato in der Psychoanalyse Ungehörtes und für ihre weitere Entwicklung in Richtung Objektbeziehungstheorie Entscheidendes gesagt – und es wird in einer ungewohnten Dichte gesagt: Die Erfahrungen der beiden (Kinder-)Analytikerinnen sind bereits so kondensiert, dass sie sich um empirische Aufladung etwa durch Fallbeispiele gar nicht mehr bemühen. Dies und auch die einfache Sprache, deren sich die Autorinnen bedienen, tragen zu einem charakteristischen Leseerlebnis bei: Die Dosis an stoisch-gnadenlos hingeschriebenen Einsichten über 114
K die Conditio humana wird dadurch derart hoch, dass das Gelesene immer gleich wieder dem Vergessen anheimfallen will. Denn nicht nur sind ja die frühesten eigenen seelischen Urkonflikte des Lesers immer mit angesprochen, gleichzeitig werden wesentliche Abwehrstrategien im Umgang mit solch brisanter Materie – die Abstraktion und Neutralisierung im wissenschaftlichen Jargon sowie die Weglenkung von der Selbstbetroffenheit durch das Stilmittel der Fallbeispiele – weitgehend unterlaufen. Mit zwei Einschränkungen liegt hier ein Buch verblüffender Modernität vor, das seit seinem Erscheinen vor nunmehr 70 Jahren wenig von seiner Eignung eingebüßt hat, gerade nicht facheinschlägig Vorgebildete mit der Materie vertraut zu machen. Die Einschränkungen betreffen zum einen die Darstellung der Geschlechterverhältnisse: Hier schimmern an manchen Stellen normative Vorstellungen der britischen 30er Jahre durch. Zum anderen muss das Werk heute mehr als früher die Kritik derer provozieren, denen die Absenz von Empirie und das hochgradig verdichtete Sprechen aus einer nicht unmittelbar einholbaren analytischen Erfahrung suspekt und dogmatisch vorkommen. Mit anderen Worten, die „Seelischen Urkonflikte“ sind von der empirischen Säuglingsforschung noch nicht berührt, sondern gewissermaßen deren vorweggenommene Antithese. Zugegeben rekonstruieren – oder phantasieren – Riviere und Klein den in seinen Hass- und Wiedergutmachungsphantasien schwingenden Säugling, sie beobachten ihn nicht. Gerade darüber gelingt ihnen aber eine Artikulation dieser frühen, verschütteten Gefühlswelt, die dem Leser die Ungeheuerlichkeit der seelischen Urkonflikte so eindringlich wie in bislang keiner empirischen Brechung vor Auge treten lässt. Thomas Slunecko
Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG6JGTGUVQTCVKQPQHVJGUGNH 0GY;QTM+PVGTPCVKQPCN7PKXGTUKVKGU2TGUU
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ie Heilung des Selbst“ stellt die Erweiterung von Kohuts Narzissmustheorie dar, die er in seinen vorherigen Schriften entfaltet hat. Der Autor präsentiert eine Psychologie des Selbst, die das Selbst in den Mittelpunkt stellt und seine Genese, seine Entwicklung und seine Bestandteile im gesunden und im kranken Zustand untersucht. Das Buch beginnt mit dem Thema der Beendigung der Analyse narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (Kapitel 1). Aufgrund einer Unterscheidung zwischen primären Defekten (Mängel in der Psychologischen Struktur des Selbst, in der Kindheit entstanden) und sekundären Strukturbildungen (defensive und kompensatorische Strukturen, die mit primären Defekten auf eine von zwei ähnlichen Weisen verbunden sind) postuliert 115
K die Conditio humana wird dadurch derart hoch, dass das Gelesene immer gleich wieder dem Vergessen anheimfallen will. Denn nicht nur sind ja die frühesten eigenen seelischen Urkonflikte des Lesers immer mit angesprochen, gleichzeitig werden wesentliche Abwehrstrategien im Umgang mit solch brisanter Materie – die Abstraktion und Neutralisierung im wissenschaftlichen Jargon sowie die Weglenkung von der Selbstbetroffenheit durch das Stilmittel der Fallbeispiele – weitgehend unterlaufen. Mit zwei Einschränkungen liegt hier ein Buch verblüffender Modernität vor, das seit seinem Erscheinen vor nunmehr 70 Jahren wenig von seiner Eignung eingebüßt hat, gerade nicht facheinschlägig Vorgebildete mit der Materie vertraut zu machen. Die Einschränkungen betreffen zum einen die Darstellung der Geschlechterverhältnisse: Hier schimmern an manchen Stellen normative Vorstellungen der britischen 30er Jahre durch. Zum anderen muss das Werk heute mehr als früher die Kritik derer provozieren, denen die Absenz von Empirie und das hochgradig verdichtete Sprechen aus einer nicht unmittelbar einholbaren analytischen Erfahrung suspekt und dogmatisch vorkommen. Mit anderen Worten, die „Seelischen Urkonflikte“ sind von der empirischen Säuglingsforschung noch nicht berührt, sondern gewissermaßen deren vorweggenommene Antithese. Zugegeben rekonstruieren – oder phantasieren – Riviere und Klein den in seinen Hass- und Wiedergutmachungsphantasien schwingenden Säugling, sie beobachten ihn nicht. Gerade darüber gelingt ihnen aber eine Artikulation dieser frühen, verschütteten Gefühlswelt, die dem Leser die Ungeheuerlichkeit der seelischen Urkonflikte so eindringlich wie in bislang keiner empirischen Brechung vor Auge treten lässt. Thomas Slunecko
Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ9KUUGPUEJCHV 'TUVCWUICDG6JGTGUVQTCVKQPQHVJGUGNH 0GY;QTM+PVGTPCVKQPCN7PKXGTUKVKGU2TGUU
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ie Heilung des Selbst“ stellt die Erweiterung von Kohuts Narzissmustheorie dar, die er in seinen vorherigen Schriften entfaltet hat. Der Autor präsentiert eine Psychologie des Selbst, die das Selbst in den Mittelpunkt stellt und seine Genese, seine Entwicklung und seine Bestandteile im gesunden und im kranken Zustand untersucht. Das Buch beginnt mit dem Thema der Beendigung der Analyse narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (Kapitel 1). Aufgrund einer Unterscheidung zwischen primären Defekten (Mängel in der Psychologischen Struktur des Selbst, in der Kindheit entstanden) und sekundären Strukturbildungen (defensive und kompensatorische Strukturen, die mit primären Defekten auf eine von zwei ähnlichen Weisen verbunden sind) postuliert 115
K der Autor, dass die Endphase der Analyse einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung erreicht ist, wenn die früher unzureichenden Strukturen des Selbst (primäre Defekt) nun funktionell verlässlich geworden sind oder wenn man durch die erfolgreiche Arbeit im Bereich der kompensatorischen Strukturen ein funktionierendes Selbst erreicht hat. Kohuts Idee über die Beendigung der Analyse führt dazu, die Grenzen theoretischer Angemessenheit und klinischer Anwendbarkeit einiger grundlegender klassischer analytischer Formulierungen über die Natur des Menschen, seine psychologische Entwicklung und die Entstehung der Psychopathologie zu erkennen (Kapitel 2). Aufgrund dessen werden im Vordergrund die Hauptprinzipien der Psychologie des Selbst im Bezug zur klassischen Triebtheorie erklärt. Diesbezüglich bedeutend ist die Idee, dass Selbstobjekt-Beziehungen Vorgänger von psychologischen Strukturen sind und dass die umwandelnde Verinnerlichung von Selbstobjekten schrittweise zur Konsolidierung des Selbst führt. Kohut behauptet, dass die primären psychologischen Konfigurationen in der Erfahrungswelt des Kindes nicht Triebe sind, sondern dass Trieberfahrungen als destruktiv erlebt werden, wenn das Selbst nicht gestützt wird. Aufgrund dessen wird ein besonderer Akzent auf die emphatisch-introspektive Anteilnahme des Therapeuten gelegt. Anschließend (Kapitel 3) wird dargestellt, wie die Bedeutung und Signifikanz gewisser klinischer Phänomene umfassender und tiefer zu verstehen sind, wenn man sie innerhalb des Rahmens der Psychologie des Selbst betrachtet, als wenn man sie im Rahmen der Triebpsychologie, des strukturellen Modells der Psyche und der Ich-Psychologie ansieht. Die bipolare Natur des Selbst ist der Bestandteil des nächsten Kapitels (Kapitel 4). In Bezug auf die Narzisstische Entwicklung erklärt Kohut, wie ein spiegelndes Selbstobjekt (zum Beispiel die Mutter) das Entfalten von Grandiosität und Exhibitionismus erlaubt; eine geeignete Frustration erlaubt dann eine stufenweise Modulation dieser Themen durch eine umwandelnde Verinnerlichung der spiegelnden Funktion. In einer ähnlichen Weise führt die Idealisierung von Selbstobjekten zu einer graduellen Internalisierung von Idealen. Auf diese Weise taucht ein bipolares Selbst mit Ambitionen und Idealen auf, das immer wieder Selbstobjekte für seine Bestätigung benötigt. In einer Diskussion über den Ödipuskomplex (Kapitel 5) beschreibt der Autor narzisstische Rückzüge aus ödipalen Konflikten als pseudonarzisstische Störungen. Es wird vorgeschlagen, dass der klassische Ödipuskomplex als Reaktion des Kindes auf den Elternmisserfolg, das Kindwachstum zu meistern und sich empathisch daran zu beteiligen, verstanden werden kann. Die Implikation ist hier, dass Kastrationsangst und Penisneid, die normalerweise zu Konflikten bezüglich phallischem Narzissmus in Beziehung stehen, als von außen aufgedrängt, eher als eine Folge von Interaktion zwischen dem menschlichen konstitutionellen Erbe und dem Milieu verstanden werden. Verschiedene Aspekte der analytischen Situation werden dann auf der Basis der Psychologie des Selbst diskutiert (Kapitel 6). Es wird unter an116
K derem behauptet, dass die freischwebende Aufmerksamkeit des Therapeuten nicht negativ zu definieren ist als Aufhebung seiner bewussten, zielgerichteten, logischen Denkprozesse, sondern positiv als Auftreten und Gebrauch der prälogischen Wahrnehmungs- und Denkungsarten des Analytikers, die seine emphatische Reaktion auf die freien Assoziationen des Patienten darstellen. Im Epilog probiert der Autor schließlich die Frage zu beantworten, die das Buch thematisiert hat: Warum braucht die Psychoanalyse zusätzlich zur klassischen Theorie und Technik eine Psychologie des Selbst und eine dieser entsprechende Technik? Die Psychologie des Selbst wird in diesem Buch umrissen vor dem Hintergrund einer klaren und konsequenten Definition einer Psychologie komplexer psychischer Zustände im Allgemeinen und psychoanalytischer Tiefenpsychologie im Besonderen. Der Autor behauptet die Notwendigkeit einer Psychologie des Selbst für die Psychoanalyse und zeigt durch seine detaillierten theoretischen Formulierungen sowie akuten klinischen Beschreibungen, wie der theoretische Rahmen der Psychoanalyse umgeformt werden kann, damit die zahlreichen und verschiedenen Phänomene, die man hinsichtlich des Selbst beobachten kann, darin unterzubringen sind. „Die Heilung des Selbst“ repräsentiert somit einen Meilenstein in der Beschreibung der Entwicklung der Psychoanalyse. Omar Gelo
Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs … #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG+H[QWOGGVVJG$WFFJCQPVJGTQCFMKNNJKO $GP.QOQPF%CNKHQTPKC5EKGPEGCPF$GJCXKQT$QQMU
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heldon B. Kopp beginnt sein Werk mit den Vorbereitungen zu einer besonderen Pilgerfahrt, die den Leser auf den geeinigten Weg von Psychotherapie und Buddhismus führt. Was braucht man, um ein guter Therapeut zu sein? Was braucht man, um erfolgreicher Patient zu werden? Kopp ist überzeugt, dass den erfolgreichen Therapeuten etwas auszeichnet: Er ist sich der Kraft der Patienten bewusst, dann wird man Freude an seiner Arbeit haben und nicht in Langeweile versinken. Man ist nur Beobachter und Katalysator; es liegt nicht in seiner Macht zu heilen, er kann der angeborenen Fähigkeit des Patienten, von sich aus gesund zu werden, nichts hinzufügen. Und der Patient: Er muss den ersten Schritt wagen, einmal beginnen: „Eine tausend Meilen weite Reise beginnt genau vor deinen Füßen! Aber der Aufbruch bedeutet nicht gleich Erfolg. Es gibt den Anfang und es gibt die Ausdauer, deshalb ist am Anfang ein professioneller Pilger als Führer 117
K derem behauptet, dass die freischwebende Aufmerksamkeit des Therapeuten nicht negativ zu definieren ist als Aufhebung seiner bewussten, zielgerichteten, logischen Denkprozesse, sondern positiv als Auftreten und Gebrauch der prälogischen Wahrnehmungs- und Denkungsarten des Analytikers, die seine emphatische Reaktion auf die freien Assoziationen des Patienten darstellen. Im Epilog probiert der Autor schließlich die Frage zu beantworten, die das Buch thematisiert hat: Warum braucht die Psychoanalyse zusätzlich zur klassischen Theorie und Technik eine Psychologie des Selbst und eine dieser entsprechende Technik? Die Psychologie des Selbst wird in diesem Buch umrissen vor dem Hintergrund einer klaren und konsequenten Definition einer Psychologie komplexer psychischer Zustände im Allgemeinen und psychoanalytischer Tiefenpsychologie im Besonderen. Der Autor behauptet die Notwendigkeit einer Psychologie des Selbst für die Psychoanalyse und zeigt durch seine detaillierten theoretischen Formulierungen sowie akuten klinischen Beschreibungen, wie der theoretische Rahmen der Psychoanalyse umgeformt werden kann, damit die zahlreichen und verschiedenen Phänomene, die man hinsichtlich des Selbst beobachten kann, darin unterzubringen sind. „Die Heilung des Selbst“ repräsentiert somit einen Meilenstein in der Beschreibung der Entwicklung der Psychoanalyse. Omar Gelo
Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs … #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG+H[QWOGGVVJG$WFFJCQPVJGTQCFMKNNJKO $GP.QOQPF%CNKHQTPKC5EKGPEGCPF$GJCXKQT$QQMU
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heldon B. Kopp beginnt sein Werk mit den Vorbereitungen zu einer besonderen Pilgerfahrt, die den Leser auf den geeinigten Weg von Psychotherapie und Buddhismus führt. Was braucht man, um ein guter Therapeut zu sein? Was braucht man, um erfolgreicher Patient zu werden? Kopp ist überzeugt, dass den erfolgreichen Therapeuten etwas auszeichnet: Er ist sich der Kraft der Patienten bewusst, dann wird man Freude an seiner Arbeit haben und nicht in Langeweile versinken. Man ist nur Beobachter und Katalysator; es liegt nicht in seiner Macht zu heilen, er kann der angeborenen Fähigkeit des Patienten, von sich aus gesund zu werden, nichts hinzufügen. Und der Patient: Er muss den ersten Schritt wagen, einmal beginnen: „Eine tausend Meilen weite Reise beginnt genau vor deinen Füßen! Aber der Aufbruch bedeutet nicht gleich Erfolg. Es gibt den Anfang und es gibt die Ausdauer, deshalb ist am Anfang ein professioneller Pilger als Führer 117
K von Nutzen.“ Ein solch professioneller Pilger ist Sheldon B. Kopp. Er führt den Leser immer weiter in das Feld der Selbsterfahrung und -erkenntnis. Bereitet den Weg mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Quellen auf, vom Gilgamesch-Epos und Laotse über Dante und William Shakespeare bis hin zu Carlos Castaneda, Hermann Hesse, Franz Kafka, Albert Camus und vielen mehr. Schließlich geht es, wie im Leben, um Geschichten und um das Erzählen von diesen ... So vielseitig die Wege, die einen ans Ziel bringen, so vielseitig und belebend führt der Autor durch sein Werk, welches wie kein anderes Buch einem jeden Leser in ganz persönlicher Weise in Erinnerung bleiben wird. Jeder, der dieses Buch entdeckt, spürt beim Durchblättern, dass dieses Werk das richtige für Interessierte an Selbsterfahrung und -erkenntnis ist. Der Autor bringt Buddhismus und die Psychotherapie in ein solch harmonisches Miteinander, dass man sich das Eine ohne das Andere nicht mehr vorstellen kann. Das Werk vereint, was manche noch mit unsicherem Auge betrachten. Die Verbindung einer Weltreligion bzw. Lebensphilosophie und der Lehre der Psyche. Dieses Werk stellt neue Zugänge zum eigenen „Ich“ her. Für Leser, die sich im Vorfeld nicht mit Buddhismus beschäftigt haben, bedeutet dieses Buch auf keinen Fall ein Hindernis, sondern stellt einen harmonischen Übergang für den Weg zu seiner inneren Welt her. „Keine Ebene, auf die nicht ein Abhang folgt, kein Hingang, auf den nicht die Wiederkehr folgt. Ohne Makel ist, wer beharrlich bleibt in Gefahr. Beklage dich nicht über diese Wahrheit, genieße das Glück, das du noch hast.“ „Betrachtung meines Lebens entscheidet über Fortschritt oder Rückzug“ – so lauten zwei Weisheiten, die darlegen, wie wichtig persönliche Entwicklung, Geduld und Muße sind. Ein Buch, das zum Denken anregt. Sheldon B. Kopp fesselt hier durch die ergreifenden Berichte über sich selbst und seine Klienten. Die psychologischen „Ansichten“ der unterschiedlichsten Mythen, Geschichten und Lehren machen die Thematik greifbarer und bringen den Leser Schritt für Schritt näher auf dem weiten und beschwerlichen Weg „Buddha zu töten“ und freier zu werden sich selbst zu erkennen. Dieses Buch bietet dem Leser auf dem Feld der Psychoanalyse einen großen Schritt in Richtung persönliches Wachstum. Ein spannendes Buch mit vielen Erkenntnissen und Weisheiten aus dem täglichen Leben. „Triffst du Buddha unterwegs ...“ von Sheldon B. Kopp ist ein Klassiker, ein Kultbuch der ganz besonderen Sorte. Dorit Hejze
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Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst
Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn -ÒNP-KGRGPJGWGT9KVUEJ 'TUVCWUICDG6JGFKXKFGFUGNHCPGZKUVGPVKCNUVWF[KPUCPKV[CPF OCFPGUU .QPFQP6CXKUVQEM2WDNKECVKQPU
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reud war ein Held. Er stieg in die „Unterwelt“ und traf dort auf bloße Schrecken. Er brachte mit sich eine Theorie wie ein Haupt der Medusa, das diese Schrecken in Stein verwandelte ... Er überlebte. Wir müssen sehen, ob wir jetzt überleben können, ohne eine Theorie zu benutzen, die gewissermaßen ein Instrument der Verteidigung ist. Mit seinem Versuch, „den Wahnsinn und den Prozess des Wahnsinnigwerdens verständlich zu machen“, stellt sich Ronald D. Laing einer ungeheuren und ungehörigen Aufgabe. Ungeheuer, zumal solche nach Freud den Wahnsinn bevölkern. Ungehörig, zumal Laing darin gegen den inzwischen verstorbenen Überlebenden aufbegehrt. Dessen Überzeugung, psychotische Geistesstörungen seien unbehandelbar, und den Schrecken der Unterwelt könne man nur mit einer hinreichend verdinglichenden Theorie begegnen, will er nicht folgen – ebenso wenig wie somatischen Entstehungstheorien. Vordringlich ist ihm die Betrachtung der familiären und gesellschaftlichen Genese psychischer Störungen (der „schizophrenogenen Familie“), ein Thema, das er ein Jahr später in „Das Selbst und die Anderen“ weiterführen wird. Im ersten Teil von „Das geteilte Selbst“ legt Laing die existentiell-phänomenologischen Fundamente für eine Wissenschaft von den Personen. Verschreibt er sich auch keiner etablierten Tradition der existentiellen Phänomenologie gänzlich, so folgt er doch deren Grundhaltung, den Ausgangspunkt in der Erfahrung – der eigenen wie der der Patienten – zu nehmen, die immer relationale Erfahrungen sind, das heißt auf andere verweisen. Ebenso entlehnt er dieser Tradition mit dem In-der-Welt-Sein jenen Schlüsselbegriff, der sowohl die gesunde als auch die kranke Existenz beschreiben kann. Nicht so der gängige psychiatrische Fachjargon: Mit Dichotomien wie Psyche/Soma oder Geist/Körper bildet er genau jene für die Schizophrenie charakteristische Spaltung nach. Wie aber soll das „Wahnsinnigwerden“ verstanden werden, wenn der Diskurs darüber die Spaltung immer schon voraussetzt und perpetuiert? Wie sich der Existenz schizophrener Patienten nähern, wenn die Fachsprache auf Distanz hält? Schon hier deutet sich an, worin Laing in seinen späteren Werken noch viel radikaler sein wird: im Ringen und Tasten mit und nach Worten – welche er nicht mehr voraussetzen, sondern neu erfinden (oder zumindest zweckentfremden) zu müssen glaubt, um seiner Aufgabe gerecht werden zu können. Daran misst sich seine Kreativität; daran misst sich auch seine Fähigkeit, neue, existentiell-phänomenologische Fundamente für das Verstehen der Psychose zu legen. Ihnen liegt Laings Einsicht zugrunde, dass der psychiatrische Patient im Wesentlichen eine Funktion
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L des Psychiaters und des psychiatrischen Krankenhauses ist, eine Funktion dessen, wie mit ihm und über ihn gesprochen wird. Eine existentiell-phänomenologische Annäherung hingegen setzt die Aktionen einer Person in Beziehung zu ihrer jeweiligen Art und Weise, die Situation zu erfahren, in der sie mit uns ist. Dazu aber darf man sie nicht vorab zu einer klinischen Entität isolieren, wie das im Ein-Personen-Paradigma der herrschenden Krankheitslehre damals wie heute geschieht und auch keine Einzelaspekte der Erkrankung – Symptome – fälschlich substantialisieren. Schon im formalen Aufbau von „Das geteilte Selbst“ spiegelt sich Laings Überzeugung von einem verstehbaren und bruchlosen Übergang zwischen „Normalität“ und „Wahnsinn“: Der zweite Teil des Buches widmet sich Erkundungen der schizoiden Position, aus denen im dritten Teil die Entstehung einiger Formen der Schizophrenie nachvollziehbar gemacht werden soll. Wie die Schizophrenie ist auch die noch näher am „normalen“ Pol des Kontinuums befindliche und im psychiatrischen Sinn noch nicht krankheitswertige schizoide Existenz durch eine fundamentale „ontologische Unsicherheit“ gekennzeichnet. Mit ihr einher gehen (1) eine Trennung zwischen Körper und Geist, (2) ein unverkörpertes „inneres“ oder „wahres“ Selbst, das in sich einen Mikrokosmos möglichst ohne Rekurs auf reale Beziehungen oder seinen Körper bildet, vielmehr (3) die Wahrnehmung und Handlung als einem „falschen Selbst-System“ entspringend empfindet und (4) diese mit kritisch-kontrollierendem, übermäßigem Selbstbewusstsein überwacht. Dies falsche Selbst-System entsteht zumeist durch anfängliche bewusste Konformität mit den Intentionen oder Erwartungen anderer. Temporäre Dissoziationen zwischen Selbst und Körper sind an sich nicht ungewöhnlich, in der schizoiden Position sind sie jedoch nicht an Situationen gebunden, sondern stellen die fundamentale Lebensorientierung dar. Mündet diese schließlich in einen der Wege, schizophren zu sein, wird der Riss zunehmend unkittbar: das unverkörperte Selbst phantastischer, unrealer, leerer; das falsche Selbst-System wuchernder, autonomer, dabei mechanischer – bis schließlich der Schein des normalen Funktionierens durch zwanghafte Verhaltensfragmente zerstört wird. Der dritte Teil, in dem Laing noch mehr als sonst am konkreten Fallbeispiel bleibt, bildet das Herzstück des Buches. Gleichwohl er existentielle Erfahrungen vom Im-Leben-nicht-lebendig-sein wiedergibt, ist Laing hier am vitalsten, lässt das In-der-Welt-Sein der beschriebenen Personen am dichtesten an sich heran – nicht zuletzt, da weitgehend Dasein und Mit-Sein (Patienten und Familie) zur Sprache kommen. Vier Jahre nach der Erstauflage bewertet Laing seine Arbeit als die „eines alten jungen Mannes. Ich bin jetzt älter, aber auch jünger.“ Zu viel hatte er dabei wohl noch seine psychiatrischen Kollegen als primär intendiertes Publikum vor Augen. Erst in seinen späteren Werken, zum Beispiel dem Gedichtband Knoten oder den provokativen Tatsachen des Lebens, der wohl ersten intrauterin einsetzenden Autobiographie der Weltgeschichte, das heißt als „junger alter Mann“, wird er den durch gängige psychiatrische Praxis und Jargon abgesteckten Rahmen ganz verlassen und mit dem Ungestüm der Jugend revoltieren. Im Kontext dieser an120
L deren Schriften erschließt sich denn auch die Stellung von „Das geteilte Selbst“ im Gesamtwerk Laings als noch deutlich an einem wissenschaftlich-medizinischen Publikum orientierte Antithese gegen eine in Abwehrstellungen vergrabene seinsvergessene Wissenschaft, die in ihrer Sprache und Praxis genau jene seelischen Spaltungen produziert und reproduziert, die sie zu heilen vorgibt. Mit theoretisch vielleicht nicht ganz ausgereiften Mitteln, intuitiv dafür umso sicherer schlägt er hier in einer in der Sprache noch konzilianten, in der Sache aber bereits kompromisslosen Tonart den Fehdehandschuh ins Gesicht des psychiatrischen Establishments – eine Provokation, vorgetragen von einem knapp 30-jährigen Arbeitersohn, der damit zu Recht zum (Mit-)Vater der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er wird. Gerade heute – nach dem vorläufigen Endsieg der Seinsvergessenheit – ist dieses Buch lesenswert als Erinnerung an eine Zeit, in der es noch möglich schien, als Psychiater zu „überleben“, ohne Theorien wie „Instrumente zur Verteidigung“ gegen das Sein einzusetzen. Nora Ruck und Thomas Slunecko
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as „Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change“ gibt einen Überblick der wichtigsten Untersuchungsergebnisse im psychotherapeutischen Feld. Der Fokus liegt auf emprischen Studien, auf den neuralgischen Schwachstellen von traditionellen Wissenschaften, die sich mit emotionalen Problemen beschäftigen, auf der Philosophie der Wissenschaft und den Unterschieden der psychotherapeutischen Schulen. Es werden sowohl praxisrelevante Ergebnisse als auch methodische Themen aufgeworfen, die vor allem für die zukünftige, weitere Forschung von Bedeutung sind. So ist diese Publikation zum einen eine ausführliche Zusammenfassung von gesammeltem Fachwissen, das Ergebnisse und Erkenntnisse für die zukünftige psychotherapeutische Praxis zur Verfügung stellt. Zum anderen dient diese Publikation mit ihren zahlreichen Hinweisen und Anregungen der weiteren Psychotherapie-Forschung. Dem 854 Seiten umfassenden, in zahlreiche Kapitel untergliederten und gesplitteten Werk, das hier bereits in der 5. Auflage vorliegt, ist es gelungen, einen sehr guten Überlick über die bisher durchgeführten Untersuchungen der Psychotherapie-Forschung zu geben. Im Mittelpunkt steht die Sinnhaf121
L deren Schriften erschließt sich denn auch die Stellung von „Das geteilte Selbst“ im Gesamtwerk Laings als noch deutlich an einem wissenschaftlich-medizinischen Publikum orientierte Antithese gegen eine in Abwehrstellungen vergrabene seinsvergessene Wissenschaft, die in ihrer Sprache und Praxis genau jene seelischen Spaltungen produziert und reproduziert, die sie zu heilen vorgibt. Mit theoretisch vielleicht nicht ganz ausgereiften Mitteln, intuitiv dafür umso sicherer schlägt er hier in einer in der Sprache noch konzilianten, in der Sache aber bereits kompromisslosen Tonart den Fehdehandschuh ins Gesicht des psychiatrischen Establishments – eine Provokation, vorgetragen von einem knapp 30-jährigen Arbeitersohn, der damit zu Recht zum (Mit-)Vater der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er wird. Gerade heute – nach dem vorläufigen Endsieg der Seinsvergessenheit – ist dieses Buch lesenswert als Erinnerung an eine Zeit, in der es noch möglich schien, als Psychiater zu „überleben“, ohne Theorien wie „Instrumente zur Verteidigung“ gegen das Sein einzusetzen. Nora Ruck und Thomas Slunecko
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as „Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change“ gibt einen Überblick der wichtigsten Untersuchungsergebnisse im psychotherapeutischen Feld. Der Fokus liegt auf emprischen Studien, auf den neuralgischen Schwachstellen von traditionellen Wissenschaften, die sich mit emotionalen Problemen beschäftigen, auf der Philosophie der Wissenschaft und den Unterschieden der psychotherapeutischen Schulen. Es werden sowohl praxisrelevante Ergebnisse als auch methodische Themen aufgeworfen, die vor allem für die zukünftige, weitere Forschung von Bedeutung sind. So ist diese Publikation zum einen eine ausführliche Zusammenfassung von gesammeltem Fachwissen, das Ergebnisse und Erkenntnisse für die zukünftige psychotherapeutische Praxis zur Verfügung stellt. Zum anderen dient diese Publikation mit ihren zahlreichen Hinweisen und Anregungen der weiteren Psychotherapie-Forschung. Dem 854 Seiten umfassenden, in zahlreiche Kapitel untergliederten und gesplitteten Werk, das hier bereits in der 5. Auflage vorliegt, ist es gelungen, einen sehr guten Überlick über die bisher durchgeführten Untersuchungen der Psychotherapie-Forschung zu geben. Im Mittelpunkt steht die Sinnhaf121
L tigkeit unterschiedlicher Forschungsdesigns sowie die Wirksamkeit und die Effektivität von Psychotherapie. Das Werk lädt ein, mehr Forschung zu betreiben und mehr Sorgfalt bei methodischen Entscheidungen an den Tag zu legen. Durch die Auflistung der diversen und divergierenden Studien erzielt es einen enzyklopädischen Wert für die psychotherapeutische Wissenschaft und Forschung und wird dadurch zu einem Grundlagenwerk. Das „Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change“ ist ein weitgefächertes, komplexes und fachlich einschlägiges Buch. Es versucht viele Hintergründe zu beleuchten mit der Arbeit von unterschiedlichsten Patientengruppen, Therapieformen und Schulen und ist stark auf eine Weiterentwicklung in der Praxis und Forschung fokussiert. Es eignet sich als Nachschlagewerk zum Nachlesen von empirischen Studien und als Ideenfundus für neue Forschungsvorhaben. Es ist für Fachleute (Psychotherapeuten) zu empfehlen, die bereits ein empirisches Basiswissen über Untersuchungsmethoden haben oder sich dieses aneignen möchten. Sonja Jackson
Darian Leader: Why do women write more letters than they post? .QPFQP(CDGTCPF(CDGT
I
n diesem Buch beschäftigt sich Darian Leader mit männlicher und weiblicher Sexualität. Als Psychoanalytiker stützt er sich auf Arbeiten von Lacan, Reik und Freud, von Helene Deutsch und Karen Horney. Als Material dienen ihm persönliche Beobachtungen aus der Arbeit als Psychoanalytiker sowie Beispiele aus den Medien, aus Literatur und Film. Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk: Es gibt keine Anmerkungen, kein Sach- und Literaturverzeichnis, aber es basiert auf breitem psychoanalytischem Wissen und Verständnis. Es liegt in der Natur der Sache, dass viele Fragen offenbleiben. Das macht den Reiz des „kleinen Unterschieds“ ja von jeher und in jedem Zusammenhang aus. Es bleibt der Phantasie, der Kreativität, dem Wissensdurst und der Lust nach Bearbeitung eigener Erfahrung des Lesers überlassen, wie die angebotenen Gedanken weiterentwickelt werden. Was bedeutet es, eine Frau zu werden, und was heißt es, ein Mann zu sein?, fragt Leader – unter Berufung auf Lacans Satz: Die Frau existiert nicht. Es gibt kein eindeutiges Konzept von Weiblichkeit, Weiblichkeit entwickelt sich, geleitet von der Frage: Was heißt es, eine Frau zu sein? Ein Versuch, die Antwort zu finden, liegt in der Identifikation mit dem Mann. In Shakespeares „Was Ihr wollt“ zieht Viola die Kleider ihres Bru-
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L tigkeit unterschiedlicher Forschungsdesigns sowie die Wirksamkeit und die Effektivität von Psychotherapie. Das Werk lädt ein, mehr Forschung zu betreiben und mehr Sorgfalt bei methodischen Entscheidungen an den Tag zu legen. Durch die Auflistung der diversen und divergierenden Studien erzielt es einen enzyklopädischen Wert für die psychotherapeutische Wissenschaft und Forschung und wird dadurch zu einem Grundlagenwerk. Das „Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change“ ist ein weitgefächertes, komplexes und fachlich einschlägiges Buch. Es versucht viele Hintergründe zu beleuchten mit der Arbeit von unterschiedlichsten Patientengruppen, Therapieformen und Schulen und ist stark auf eine Weiterentwicklung in der Praxis und Forschung fokussiert. Es eignet sich als Nachschlagewerk zum Nachlesen von empirischen Studien und als Ideenfundus für neue Forschungsvorhaben. Es ist für Fachleute (Psychotherapeuten) zu empfehlen, die bereits ein empirisches Basiswissen über Untersuchungsmethoden haben oder sich dieses aneignen möchten. Sonja Jackson
Darian Leader: Why do women write more letters than they post? .QPFQP(CDGTCPF(CDGT
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n diesem Buch beschäftigt sich Darian Leader mit männlicher und weiblicher Sexualität. Als Psychoanalytiker stützt er sich auf Arbeiten von Lacan, Reik und Freud, von Helene Deutsch und Karen Horney. Als Material dienen ihm persönliche Beobachtungen aus der Arbeit als Psychoanalytiker sowie Beispiele aus den Medien, aus Literatur und Film. Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk: Es gibt keine Anmerkungen, kein Sach- und Literaturverzeichnis, aber es basiert auf breitem psychoanalytischem Wissen und Verständnis. Es liegt in der Natur der Sache, dass viele Fragen offenbleiben. Das macht den Reiz des „kleinen Unterschieds“ ja von jeher und in jedem Zusammenhang aus. Es bleibt der Phantasie, der Kreativität, dem Wissensdurst und der Lust nach Bearbeitung eigener Erfahrung des Lesers überlassen, wie die angebotenen Gedanken weiterentwickelt werden. Was bedeutet es, eine Frau zu werden, und was heißt es, ein Mann zu sein?, fragt Leader – unter Berufung auf Lacans Satz: Die Frau existiert nicht. Es gibt kein eindeutiges Konzept von Weiblichkeit, Weiblichkeit entwickelt sich, geleitet von der Frage: Was heißt es, eine Frau zu sein? Ein Versuch, die Antwort zu finden, liegt in der Identifikation mit dem Mann. In Shakespeares „Was Ihr wollt“ zieht Viola die Kleider ihres Bru-
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L ders an, um dem Fürsten zu dienen, in seinem Auftrag wirbt sie um die Frau, die er liebt. „Wie ist sie?“, fragt sie, um herauszufinden, wie ist die Frau, die begehrt wird von dem Mann, den sie liebt? Die Situation der Männlichkeit sieht Leader nach Freud geprägt von der Spaltung zwischen Liebe und Sexualität, die Frau ist entweder Mutter oder Hure. Damit diese Spaltung aufgehoben werden kann, muss der Mann seine inzestuösen Wünsche, sein Begehren der Mutter, akzeptieren. Die im Titel gestellte Frage „Warum schreiben Frauen mehr Briefe als sie abschicken?“ gibt die Orientierung der Gedankengänge an, die Frage nach dem Partner: „Wenn es keinen Adressaten eines Briefes gibt, an wen richtet er sich dann, warum wird er geschrieben?“ Diese Frage trifft den Kern der menschlichen Sexualität, sie richtet sich nie bloß an den Partner aus Fleisch und Blut, sondern immer an etwas, was über ihn hinausgeht – damit verweist sie auch auf die zu Grunde liegende Einsamkeit beider Geschlechter. Die Beschreibung der Differenzen in der Wahrnehmung von sich selbst, von der Welt und vom anderen Geschlecht, die Ausführungen über die Unterschiede im Begehren und im Liebesbedürfnis bilden den Inhalt des Buches: Es geht um sexuelle Phantasien, um Geschenke und um Eifersucht, um Begegnung und um Zurückweisung, um Erkennen, Verstehen und Verlassen eines Partners, um das Bedürfnis nach einem Platz und um das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit. Am Ende des Buches wird noch einmal erörtert, was es bedeuten könnte, einen Brief nicht abzuschicken? Leader führt Beispiele aus Filmen an („Ariane – Liebe am Nachmittag“ von Billy Wilder und „Vertigo“ von Alfred Hitchcock). In beiden Fällen wird der Brief nicht abgeschickt, sondern die Frauen suchen den Adressaten selbst auf – sie setzen sich selbst an die Stelle des Briefes: Sind nicht abgeschickte Briefe Liebesbeweise und heißt das, dass empfangene Briefe das Ende der Liebe sind? Für das Gelingen von Liebe und Partnerschaft gibt es keine Ratschläge in diesem Buch. Wie es dazu kommen kann, das bleibt als unfassbares Wunder nach wie vor der unausweichlichen Realität jedes liebenden Paares überlassen. Elisabeth Vykoukal
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Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid Archäologie der Psychoanalyse (TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
as Buch „Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse“ ist 1984 erschienen und beruht auf Vorlesungen, die Lorenzer 1982 gehalten hat. Hundert Jahre davor hatte Freud seine naturwissenschaftlichneurologische Laufbahn aufgegeben, um sich als Psychiater niederzulassen. Im selben Jahr beendete Breuer seine Arbeit mit Bertha Pappenheim (Anna O.). Mit diesen Ereignissen des Jahres 1882 beginnt für Lorenzer die Geschichte der Psychoanalyse. Seit der Entstehung der Psychoanalyse ist ihr Wirken begleitet von Kontroversen um ihre theoretischen Grundlagen, um ihre Techniken der Behandlung, um den Wert ihre Erkenntnisse über die Psyche. Weiterentwicklungen, Abgrenzungen, Neuformulierungen sind bis heute an der Tagesordnung. Die frühen Auseinandersetzungen (Jung, Adler, Reich) führten zur Spaltung in verschiedene tiefenpsychologische Schulen, die sich von den theoretischen Konzepten her wesentlich unterschieden, aber interessanterweise das Behandlungskonzept beibehielten. In einer weiteren Phase der Abgrenzung von der Psychoanalyse entstanden neue psychotherapeutische Schulen, wie etwa Psychodrama, Gestalttherapie, Systemische Familientherapie, die auch neue Behandlungstechniken mit sich brachten. In jener Zeit, in der Lorenzer dieses Buch schreibt, finden Modifikationen der Psychoanalyse, wie etwa die Kohut’sche Selbstpsychologie, weitgehend innerhalb der bestehenden Organisationsstrukturen der Psychoanalyse Raum, obwohl sie wesentliche theoretische Fundamente der Psychoanalyse in Frage stellen. Mit seiner Arbeit weist Lorenzer auch auf die Notwendigkeit einer ausführlichen theoretischen Debatte dieser Veränderungen hin. Heute bilden die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse, die Erkenntnisse der Bindungstheorie und der Neuropsychologie, die Erforschung der Wirksamkeit der Psychoanalyse als Psychotherapiemethode häufig die Inhalte der theoretischen Arbeiten. Die Fokussierung auf Psychotherapie als Heilverfahren und die Bestrebungen, die Psychotherapie als eigenständige Disziplin im Gesundheitswesen und in der Humanwissenschaft zu etablieren, lassen die Auseinandersetzung um theoretische Differenzen zwischen den unterschiedlichen Methoden in den Hintergrund treten. Auch die organisierte Psychoanalyse selbst zeigt Zurückhaltung und verzichtet weitgehend auf die Darstellung ihrer spezifischen, theoretischen Konzepte im aktuellen Diskurs. Umso interessanter ist es, dieses Buch zu lesen, das pointiert und engagiert die Grundlagen der Psychoanalyse darlegt. Die Psychoanalyse wird präsentiert als Wissenschaft vom Menschen, als Instrument der Erkenntnis der Conditio humana und als Methode des Verstehens und Veränderns psychischer Not. 124
L Lorenzer beschäftigt sich zunächst mit den Voraussetzungen für die Entdeckungen der Psychoanalyse: mit dem historischen Kontext, in dem die Psychoanalyse entstanden ist und mit den Beiträgen der Protagonisten der ersten Entdeckungen – Josef Breuer, Bertha Pappenheim und Sigmund Freud. Die Geschichte des Umgangs mit Wahnsinn und dem Abnormen vom Mittelalter bis in die Moderne wird erzählt. Es ist eine Geschichte verschiedenster Formen von Gewaltanwendung gegen die Leidenden, begleitet von deren Ausschluss aus der Gemeinschaft. Die Seele und ihre Abgründe waren im Mittelalter im Spannungsfeld zwischen Kirche und weltlicher Ordnung zuhause: Besessene und Heilige zeigten Abweichungen vom Normalen. Die einen fanden ihren Platz in Klöstern und unter der Obhut von Priestern. Die anderen wurden brutal ausgeschlossen, öffentlich misshandelt und vertrieben, verwahrt in Narrentürmen, ausgesetzt in Narrenschiffen. Die Leidenden wurden einer höheren Instanz überantwortet, der Kirche oder dem weltlichen Herrscher. Mit der Säkularisierung und der Entwicklung der Produktionsgesellschaft wurde der Wahnsinn unter dem Aspekt der Nützlichkeit und der Vernunft betrachtet, die staatliche Administration übernahm die Verantwortung. Neben der Verwahrung der Kranken und ihrer Abschirmung von der normalen Welt stand deren Eingliederung in einen Arbeitsprozess, meist unter erniedrigenden Lebensbedingungen und ohne Entlohnung. Als Medizin und Naturwissenschaft sich des Wahnsinns annehmen, geht es darum, Krankheiten zu beschreiben und zu klassifizieren, kausale Zusammenhänge aufzufinden und Heilverfahren zu entwickeln. Der Umgang mit den Erkrankten selbst ändert sich nicht: „Die Herrschaft über die Kranken wird im Machtwechsel von der Administration zur Therapie nicht nur bewahrt, sondern auf mehrfache Weise verschärft. Die Macht der Administration geht auf den Arzt über. Sein Zugriff auf den Leib des Kranken ist jedem Einspruch enthoben. Seine Autorität trägt fortan die Aureole des Heilers und des Erziehers im ‚Namen von Vernunft und Moral‘. Seine Allgewalt ist gekoppelt an die Radikalisierung der Ohnmacht des Kranken, der in die Situation des hilflosen Kindes gezwungen wird. Die Gewalt über den Kranken wird zur Entmündigung, Therapie zur ‚vernünftigen‘ Formung des Hilflosen, Wehrlosen. Das leidende Subjekt erscheint in dem Maße, wie es abstrakt als moralische Instanz respektiert wird, konkret der Selbstverfügung beraubt“ (Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1993, S. 34) Mit diesen Traditionen bricht die Psychoanalyse in der Form der Durchführung der Behandlung und in der Haltung des Psychoanalytikers zum Patienten. Die herausragende Leistung der Psychoanalyse ist es, dem Patienten die Initiative zu geben. Mit dieser Innovation bekommen alle davor gemachten Entdeckungen eine neue Bedeutung und ein anderes Gewicht. Das Unbewusste – in der Form von Erfahrungen, die dem Patienten verborgen sind – war als Ursache von psychischer Erkrankung auch vor Freud bereits bekannt. Pierre Janet hat davon gesprochen und war auch in der Lage, mittels Hypnose das Unbewusste aufzudecken. Im Gegensatz 125
L zu Breuer und Freud genügt ihm sein eigenes Wissen, er nützt die hypnotische Behandlung dazu, die Patienten zu beeinflussen, sodass die quälenden Erinnerungen verschwinden. Breuer und Freud hingegen bringen das Unbewusste gemeinsam mit ihren Patienten zutage. Daraus ergeben sich neue Inhalte, die zur Sprache kommen und neue Erkenntnisse über die menschliche Psyche. Diese Erkenntnisse betreffen nun nicht mehr bloß die Störungen der Seele, sondern gelten in gleichem Maß für die Normalität. Voraussetzung dafür ist die Umkehrung des ArztPatient-Verhältnisses, die in der Behandlung der Anna O. durch Josef Breuer stattfindet. Diese Umkehrung zeigt sich in den Beiträgen der Patientin zur Entwicklung der Methode. Ihre Bezeichnung des Verfahrens als „talking cure“ und „chimney sweeping“ wird zur gültigen Beschreibung der psychoanalytischen Technik. Lorenzer schreibt über die Neuartigkeit dieses Verfahrens: „Hatte bislang stets der Arzt die Anamnese erhoben, Fragen an den Patienten gestellt, hatte er ehedem ohne irgendwelche Erläuterung examiniert, stillschweigend untersucht, beäugt und begutachtet, und hatte der Patient die Antwort auf die ärztlichen Fragen zu geben, so ergreift nun der Patient die Initiative, in einer Entschiedenheit, die früher nicht einmal die Leibärzte ihren königlichen Patienten zugestanden hätten“ (ebd., S. 117). Die Initiative des Patienten ist der wesentliche Unterschied zu den älteren Behandlungsmethoden und diese Initiative erfordert eine neue Art des Verstehens, die Lorenzer als „szenisches Verstehen“ bezeichnet. Es geht um Geschichten des Patienten, die in der Behandlungssituation erzählt werden, Geschichten vom Erleben der Patienten. Das szenische Verstehen ermöglicht es, diese Geschichte in der Behandlungssituation neu und vollständiger zur Sprache zu bringen. Lorenzer führt als Beispiel eine Passage aus der Krankengeschichte der Anna O. an: „‚Können Sie sich an Gelegenheiten erinnern, bei denen Sie während der Pflege Ihres Vaters nur verschwommen sahen oder schielten?‘, fragte er. Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete: ‚Im November gab es einmal eine Nacht, in der mir beim Lesen plötzlich alles so vor den Augen verschwamm. Dass ich den Druck nicht mehr erkennen konnte. Ich musste das Buch weglegen.‘ Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: ‚Und ich erinnere mich auch, dass ich ein paar Wochen vorher einmal so müde war, dass ich kaum sehen konnte. Aber es gelang mir wach zu bleiben, weil mein Vater vielleicht um einen Schluck Wasser hätte bitten können oder ...‘. Sie brach ab und errötete. ‚Oder was?‘, fragte Breuer. ‚Oder ich ihm auf die Toilette hätte helfen müssen‘“ (A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse im Leben und Werk Josef Breuers, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 4, Bern 1978, S. 51). Die Initiative der Patientin wird begleitet von der Aufmerksamkeit des Analytikers, der bereit ist, die Geschichte mit der Patientin zu teilen und Fragen stellt, die die Entfaltung der Geschichte ermöglichen. 126
L Die Haltung des Psychoanalytikers ist eine wissenschaftliche, in erster Linie auf Erkenntnis orientiert und nicht auf seine heilenden Kräfte. Weil der Analytiker erkennen will, beharrlich die Realität wahrzunehmen sucht, ohne eine bestimmte Richtung vorzugeben – auf das Erleben des Patienten bedacht und nicht auf sein eigenes –, kann die erforderliche Intimität entstehen, die es dem Patienten ermöglicht, seine Geschichte darzustellen. Die Darstellung dieser Geschichte folgt den Inhalten des Unbewussten und bringt sie gleichzeitig zur Sprache. Die Intimität der Situation und die Intimität der Geschichte werden geschützt durch den wissenschaftlichen Anspruch des Analytikers. Lorenzer zitiert Siegfried Bernfeld: „(Freuds) Methode bestand darin, passiv hinzuschauen und hinzuhören, bei einem Minimum von Einflussnahme auf das Untersuchungsobjekt. Bald gab er die Anwendung elektrischer Instrumente, später auch die Hypnose auf, weil er sich bei so grob manipulierenden Eingriffen taktlos vorkam und unbehaglich fühlte. Erziehen, Kurieren, Regieren – mehrfach hat er bekannt, wie wenig Neigung er zu solchen Tätigkeiten verspürte“ (Siegfried Bernfeld, Suzanne Cassirer-Bernfeld, Bausteine der Freud-Biographie, Frankfurt a. M. 1981, S. 73). Und in den „Studien über Hysterie“ heißt es: „Für Freud ist, wie er mehrfach betont hat, die Psychoanalyse an erster Stelle eine neue Technik, durch die ein umfassender, vorher unzugänglicher Faktenbereich allererst ans Licht gebracht werden konnte. Es handelt sich um ein neues Beobachtungsinstrument, eine neue Forschungsmethode. Erst an zweiter Stelle ist die Psychoanalyse ein neuer Wissensfundus, erhoben mittels jenes neuartigen Instruments. Freuds Entdeckungen sind gleichsam beiläufige Resultate von Freuds Erfindung“ (Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, GW I, S. 135). Das Zusammenspiel der wissenschaftlichen Haltung des Analytikers mit der inhaltlich führenden Rolle des Patienten schafft die Bedingungen für das Verstehen im psychoanalytischen Prozess: „Es galt, die Mitteilungen des Patienten in vollem Umfang zu respektieren. Das heißt, an die Stelle beobachtungswissenschaftlicher Datenerhebung und des Erklärens der (im ‚Lichte der Theorie gefundenen‘) Daten musste ‚Verstehen‘ treten, ein besonderes Verstehen, das den Patienten in seinem Erlebniszusammenhang beließ, ihn nicht aus seiner sozialen Lage herausbrach, isolierte ... Methodisch bedeutet das, der Untersucher musste lernen, die Mitteilungen des Patienten als Darstellung seiner Lebenssituation als ‚szenisch ausgebreitete Erzählungen‘ zu lesen“ (ebd., S. 122). Lorenzer stellt die Erkenntnisse und die Methodik der Psychoanalyse unter dem Blickwinkel des Sozialwissenschaftlers dar: Die Lebenssituation des Patienten ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen dem Individuellen und dem gesellschaftlich Möglichen/Erlaubten. Das individuelle Leid entsteht aus diesem Widerspruch. Er schließt mit den Worten: „(Die Psychoanalyse) bringt zu Bewusstsein, was keiner anderen Wissenschaft in dieser Schärfe bewusst zu machen gelingt: soziales Leid, das den Menschen angetan wurde und das sie selbst nicht mehr auszusprechen vermögen, weil die Verhältnisse sie sprachlos gemacht haben, weil sie ihr Unglück, ihr Elend, die gesellschaftlich hergestellt sind, nur noch erleiden, 127
M jedoch nicht mehr erkennen können ... Worauf es ankommt, ist, nicht lediglich die Realität, in welcher der Patient lebt, ernst zu nehmen, sondern auch und gleichermaßen seine Phantasien – jene Phantasien, in die der Einspruch gegen die Ordnung der Herrschaft sich zurückgezogen hat“ (ebd., S. 214). Ich sehe das in zweierlei Hinsicht etwas anders: Einerseits denke ich, dass es zwischen Individuum und Gesellschaft nicht nur einen Widerspruch gibt. Es geht nicht nur darum, dass den individuellen Bedürfnissen gesellschaftliche Schranken gesetzt werden – was Freud als „Unbehagen in der Kultur“ bezeichnet. Neben diesem Widerspruch gibt es auch das individuelle Bedürfnis nach Anerkennung und Wirkung in der Gesellschaft, dieses Bedürfnis drückt sich nicht als Leiden aus, sondern als kreativer Drang nach Selbstverwirklichung, der auch an gesellschaftliche Schranken stößt, aber nicht nur als Leid, sondern auch als Herausforderung empfunden werden kann. Andererseits scheint sich die Situation heute dahingehend verändert zu haben, dass der Einzelne nicht Befreiung aus Konventionellem und Vorgegebenem sucht, nicht gegen eine Herrschaft aufstehen muss, sondern in der Konfrontation mit der Freiheit, mit der Ungebundenheit und mit der Verlassenheit seine Position in der Welt zu setzen hat. Die Psychoanalyse liefert auch heute die Sprache, die Techniken und die Erkenntnisse, die in der Lage sind, einen Ort der Sicherheit und einen Ausgangspunkt für die eigene Initiative in der Welt zu finden. Der Weg und die Suche finden in der Begegnung mit einem anderen Menschen statt – im psychoanalytischen Prozess. Elisabeth Vykoukal
D
Michael J. Mahoney: Human change processes 6JGUEKGPVKƁEHQWPFCVKQPUQHRU[EJQVJGTCR[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
er Autor eröffnet das Themenfeld mit überaus grundlegenden Fragen – „Können sich Menschen verändern?“, „Können ihnen andere Menschen dabei helfen?“ und „Sind manche Formen der Hilfe besser als andere?“. Mit ebenso ausholender wie bestechend aufs Wesentliche konzentrierter Geste sammelt er zunächst die Positionen von Philosophie, Erkenntnistheorie und wissenschaftlicher Psychologie der letzten Jahrhunderte, um zu zeigen, dass sich auch die Auffassungen von den menschlichen Veränderungsmöglichkeiten und -mechanismen wiederholt verändert haben. Über die Betrachtung der bisherigen „Revolutionen und Evolutionen“ in der Kognitiven Psychologie führt er den Leser hin zu den jüngst interessierenden bedeutungsgenerierenden Prozessen und der damit einhergehenden konstruktivistischen Erkenntnistheorie sowie
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M jedoch nicht mehr erkennen können ... Worauf es ankommt, ist, nicht lediglich die Realität, in welcher der Patient lebt, ernst zu nehmen, sondern auch und gleichermaßen seine Phantasien – jene Phantasien, in die der Einspruch gegen die Ordnung der Herrschaft sich zurückgezogen hat“ (ebd., S. 214). Ich sehe das in zweierlei Hinsicht etwas anders: Einerseits denke ich, dass es zwischen Individuum und Gesellschaft nicht nur einen Widerspruch gibt. Es geht nicht nur darum, dass den individuellen Bedürfnissen gesellschaftliche Schranken gesetzt werden – was Freud als „Unbehagen in der Kultur“ bezeichnet. Neben diesem Widerspruch gibt es auch das individuelle Bedürfnis nach Anerkennung und Wirkung in der Gesellschaft, dieses Bedürfnis drückt sich nicht als Leiden aus, sondern als kreativer Drang nach Selbstverwirklichung, der auch an gesellschaftliche Schranken stößt, aber nicht nur als Leid, sondern auch als Herausforderung empfunden werden kann. Andererseits scheint sich die Situation heute dahingehend verändert zu haben, dass der Einzelne nicht Befreiung aus Konventionellem und Vorgegebenem sucht, nicht gegen eine Herrschaft aufstehen muss, sondern in der Konfrontation mit der Freiheit, mit der Ungebundenheit und mit der Verlassenheit seine Position in der Welt zu setzen hat. Die Psychoanalyse liefert auch heute die Sprache, die Techniken und die Erkenntnisse, die in der Lage sind, einen Ort der Sicherheit und einen Ausgangspunkt für die eigene Initiative in der Welt zu finden. Der Weg und die Suche finden in der Begegnung mit einem anderen Menschen statt – im psychoanalytischen Prozess. Elisabeth Vykoukal
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M der Annahme, dass Menschen als Lebewesen auf verschiedensten Ebenen selbstorganisierenden Prinzipien unterworfen sind. In der daraufhin eingenommenen evolutionsbiologischen Perspektive wird die psychische Entwicklung in all ihrer möglichen Plastizität umrissen und dem Einfluss von Bindungsbeziehungen und den damit einhergehenden emotionalen Erfahrungen Rechnung getragen. Sowohl bei gelingender Adaption als auch bei den hier erstmals ins Blickfeld gerückten psychischen Störungen werden die Prinzipien der Selbstorganisation für ein tieferes Verständnis der Phänomene geltend gemacht. Daran anschließend werden die verschiedenen traditionellen Ansätze psychotherapeutischer Veränderungsbemühungen nebeneinandergestellt und ein ausgewogenes Bild ihrer jeweiligen Herangehensweisen und Stärken wird entworfen. Im letzten großen Abschnitt des Buches schildert der Autor sein eigenes therapeutisches Vorgehen, wobei er den Bogen von allgemein formulierten therapeutischen Prinzipien hin zu konkreten Techniken spannt und anhand von Fallvignetten verdeutlicht. Schließlich beschreibt er, wie Veränderung persönlich erfahren wird und gedenkt auch der Rolle der professionellen Helfer, die im Rahmen ihrer Arbeit oft auch selbst zu dem Punkt kommen, wo sie ihre Sichtweisen und ihr berufliches Selbstverständnis verändern müssen. Michael Mahoney ist Professor für Klinische Psychologie an der University of North Texas. Sein 1974 unter dem Zuspruch vieler prominenter FachkollegInnen erschienenes Buch „Cognition and behavior modification“ gab einen wesentlichen Anstoß für die sogenannte „kognitive Wende“ der Verhaltenstherapie. Seit einem Studienaufenthalt bei Vittorio Guidano in Rom vertiefte sich sein Interesse für die Erforschung und Beschreibung von menschlichen Veränderungsprozessen unter Einbeziehung evolutions- und systemtheoretischer Überlegungen. Auf diesem Weg näherte er sich dem Entwurf einer „Constructive Psychotherapy“, die die Entwicklung des Menschen und seines Erkenntnisvermögens unter den epistemologischen Annahmen des Konstruktivismus untersucht und daraus mögliche Veränderungsstrategien ableitet. Das vorliegende Buch markiert ein Zwischenstadium auf diesem Weg, wird vom Autor aber selbst – wohl zu Recht – als sein Hauptwerk bezeichnet. Mit großem Weitblick greift er darin Bereiche unterschiedlichster Wissenschaften auf, um ein Bild vom Menschen und seinen Veränderungsmöglichkeiten zu skizzieren, das gleichermaßen sachlich ausgewogen und mit warmherziger Anteilnahme ausformuliert wird. Jenseits aller Schulenstreite und berufspolitischen Dünkel gelingt es ihm, eine Perspektive auf das Berufsfeld des Therapeuten einzunehmen, die als vermittelnd und prinzipiell wertschätzend wahrgenommen werden kann. Wenn gerade im amerikanischen Sprachraum immer wieder und neuerdings immer öfter nach den Qualitäten des „wise mind“ Ausschau gehalten wird, so leuchtet aus den Ausführungen von Michael Mahoney unzweifelhaft eine solche Qualität hervor. Obwohl sein Zugang eindeu129
M tig von der empirischen Wissenschaft und der verhaltenstherapeutischen Tradition bestimmt wird, ist er vielleicht genau deshalb nicht leicht in den Methodenkanon einer therapeutischen „Schule“ einzuordnen, da Weisheit (in deutscher Sprache ein derzeit auffallend selten vorkommender Begriff) wohl einerseits mit einem gebührenden Abstand zu jeder Form von plakativer Festlegung einhergehen, sich aber andererseits durch Verbindlichkeit und Nähe zum individuellen Beziehungspartner auszeichnen mag. Nach der Lektüre des Buches kann im Leser die Phantasie entstehen, dass diese gerade für Psychotherapeuten angeratene Arbeitshaltung prinzipiell lebbar ist. Erwin Parfy
D
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as Hauptanliegen dieses Buches ist es, kognitive Phänomene begrifflich optimal zu bestimmen und ihre Rolle bei der Verhaltensänderung angemessen zu erklären. Meichenbaum referiert über verschiedene Untersuchungen innerhalb des Rahmens kognitiver Verhaltensmodifikation. Der „innere Dialog“ ist hier definiert als Bewusstseinsinhalte wie zum Beispiel Merkmalszuschreibungen, Wertschätzungen, Interpretationen, Selbstverstärkungen, Überzeugungen, Abwehrmechanismen und Ähnliches mehr. Kognitionen spielen nach A. N. Sokolovs „Inner speech and thought“ eine zentrale Rolle für das Verhalten. Im Vordergrund steht die Untersuchung der Denkprozesse, die bei der Verarbeitung einer Aufgabe ablaufen, und es geht weniger um Kennzeichnung und Bewertung des Bearbeitungsergebnisses. Auch die Natur und Funktion dieses inneren Dialoges werden ausführlich erforscht. Im ersten Kapitel wird gezeigt, dass sich bei Experimenten mit hyperaktiven Kindern herausgestellt hat, dass durch die zur Methode gewordene Anleitung zur Selbstanweisung außerordentlich gute Ergebnisse zu erzielen sind. (Schon Conners These war [1972], dass mit Ritalin medikamentierte Kinder den gewünschten Behandlungserfolg deswegen erzielen konnten, weil ihnen dadurch geholfen wurde, ihr Verhalten besser zu planen und zu kontrollieren.) Das private (egozentrische) Sprechen wie auch zum Beispiel Singen, Äußern von wirklichkeitsbezogenen und sinnlosen Worten, verbalisiertes Phantasieren und das Ausdrücken einer Vielfalt von motivationalen und emotionalen Zuständen wurde in einem Kindergarten unter Alltagsbedingungen vorerst eingehend studiert. Dieses private Sprechen entsteht auf drei verschiedenen Niveaus. Es
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M tig von der empirischen Wissenschaft und der verhaltenstherapeutischen Tradition bestimmt wird, ist er vielleicht genau deshalb nicht leicht in den Methodenkanon einer therapeutischen „Schule“ einzuordnen, da Weisheit (in deutscher Sprache ein derzeit auffallend selten vorkommender Begriff) wohl einerseits mit einem gebührenden Abstand zu jeder Form von plakativer Festlegung einhergehen, sich aber andererseits durch Verbindlichkeit und Nähe zum individuellen Beziehungspartner auszeichnen mag. Nach der Lektüre des Buches kann im Leser die Phantasie entstehen, dass diese gerade für Psychotherapeuten angeratene Arbeitshaltung prinzipiell lebbar ist. Erwin Parfy
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as Hauptanliegen dieses Buches ist es, kognitive Phänomene begrifflich optimal zu bestimmen und ihre Rolle bei der Verhaltensänderung angemessen zu erklären. Meichenbaum referiert über verschiedene Untersuchungen innerhalb des Rahmens kognitiver Verhaltensmodifikation. Der „innere Dialog“ ist hier definiert als Bewusstseinsinhalte wie zum Beispiel Merkmalszuschreibungen, Wertschätzungen, Interpretationen, Selbstverstärkungen, Überzeugungen, Abwehrmechanismen und Ähnliches mehr. Kognitionen spielen nach A. N. Sokolovs „Inner speech and thought“ eine zentrale Rolle für das Verhalten. Im Vordergrund steht die Untersuchung der Denkprozesse, die bei der Verarbeitung einer Aufgabe ablaufen, und es geht weniger um Kennzeichnung und Bewertung des Bearbeitungsergebnisses. Auch die Natur und Funktion dieses inneren Dialoges werden ausführlich erforscht. Im ersten Kapitel wird gezeigt, dass sich bei Experimenten mit hyperaktiven Kindern herausgestellt hat, dass durch die zur Methode gewordene Anleitung zur Selbstanweisung außerordentlich gute Ergebnisse zu erzielen sind. (Schon Conners These war [1972], dass mit Ritalin medikamentierte Kinder den gewünschten Behandlungserfolg deswegen erzielen konnten, weil ihnen dadurch geholfen wurde, ihr Verhalten besser zu planen und zu kontrollieren.) Das private (egozentrische) Sprechen wie auch zum Beispiel Singen, Äußern von wirklichkeitsbezogenen und sinnlosen Worten, verbalisiertes Phantasieren und das Ausdrücken einer Vielfalt von motivationalen und emotionalen Zuständen wurde in einem Kindergarten unter Alltagsbedingungen vorerst eingehend studiert. Dieses private Sprechen entsteht auf drei verschiedenen Niveaus. Es
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M ergab sich, dass eher reflexive als impulsive Vorschulkinder von Natur aus dazu neigen, das private Sprechen in einer mehr ausgereiften, instrumentellen und selbststeuernden Art zu verwenden. In den Trainingssitzungen werden die Selbstanweisungen vom Experimentator modelliert und vom Kind wiederholt, durch Verhaltensverkettung und durch das Verfahren der sukzessiven Approximation erweitert. Eben dieses wurde bei der Methode der Selbstanweisung zur kognitiven Restrukturierung und zur klinischen Behandlung vielerorts eingesetzt, welche den Ausgangspunkt in der Lerntheorie hat und in verschiedenen Trainingssettings und anderen klinischen Gruppen diskutiert, evaluiert und adaptiert wird. Ebenso wurde diese Methode klinisch auch an an Schizophrenie leidenden Patienten und Phobikern evaluiert. Mit dem TAT (Thematischer Apperzeptionstest) und anderen psychometrischen Tests wird verglichen und geforscht. Andere psychometrische Tests werden im Zusammenhang der Methode der Selbstanweisung diskutiert. Der versuchte Brückenschlag zwischen den entstandenen Subdisziplinen war ein Wunsch des Autors und stellte für Spezialisten, die sich mit der menschlichen Kognition auseinandersetzen, eine erweiterte und auch optimale Verbindung zu anderen Schulen dar. Die damals noch eher streng abgegrenzten Bereiche der Verhaltenstherapie und der kognitiv-semantischen Therapie finden durch die in diesem Werk dargestellten Hintergründe und Methoden mit Sicherheit Ansätze zu einer verbindenden Brücke. Nicht nur die unterschiedlichen „Absplitterungen“ der Verhaltenstherapie, sondern auch Psychotherapeuten verschiedener Schulrichtungen können meines Erachtens verbindende Elemente in den Thesen und Methoden finden. Der Ansatz der Modifikation der von Natur aus stattfindenden Denkweisen wie das private Sprechen, das Bestreben, sie zum Werkzeug zu modellieren und anzupassen, ist für das therapeutisch erfolgreiche Wirken und Verändern im Bereich der menschlichen Kognition, aber auch dafür, Dinge mit Emotionalem aufzuladen und zu verbinden, a priori sehr erfolgversprechend. Es funktioniert bei Kindern im spielerischen Verknüpfen – auch durch die Bedeutungsaufladung – außerordentlich gut und wird bis heute von vielen erfahrenen Kinder- und Jugendtherapeuten zur Anwendung gebracht. Ich hatte kürzlich selbst ein ADHS-Kind an der hauseigenen Sigmund Freud PrivatUniversitäts-Forschungsambulanz im Psychometrischen Testing, welches auch das private Sprechen als Hilfestellung (fürs Informationszwischenspeichern mit Hold-Funktion) für das computergestützte Aufgabenlösen benutzt hatte. In der Verhaltenstherapie ist, wie auch an anderen Schulen, die Anwendung dieser psychotherapeutisch geleiteten Selbstbeeinflussung bei Angststörungen, Zwangsstörungen und Stress ein zusätzlich brauchbares und geradezu interdisziplinäres Instrument. 131
M Selbstverständlich wird das Verfahren gemeinsam trainiert und psychotherapeutisch kontrolliert. Dieses Modell arbeitet auf der bewussten Ebene und nimmt eigentlich biologisch-psychologische Grundphänomene als Basis, mit der der Erfolg erzielt wird. Jede andere psychologisch orientierte Psychotherapie kann ebenso mit dieser kognitiven Restrukturierung operieren – es ist das Neuprägen von Nervenbahnen, wobei die heutige Neurowissenschaft mittlerweile auch schon in der Lage ist, solche Veränderungen bildgebend darzustellen. Andreas Schmidt
D
5VCXTQU/GPV\QU0GWTQVKUEJG-QPƂKMVXGTCTDGKVWPI
Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG/ØPEJGP-KPFNGT
as Buch gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil werden neurotische Konflikte und Abwehrmechanismen dargestellt (Motivation, Struktur, Das Konfliktmodell: Neurotische Störungen als pathologische Konfliktverarbeitungen, Die psychische Entwicklung). Indessen der zweite Teil (Klassifikatorische Probleme und der konkrete Fall, Die Variationen des pathologischen Konflikts – Versuch einer Systematik, Die Variationen der strukturellen Mängel [Selbstpathologie], Variationen der reiferen [„psychoneurotischen“] Modi der Konfliktverarbeitung, Variationen der narzisstischen (aber nicht psychotischen) Verarbeitungsmodi, Variationen der Modi der narzisstischen [Selbst-]Kompensierung, Der psychosomatische Modus, Variationen der psychotischen Verarbeitungsmodi, Der häufigste Modus: psychosoziale Abwehr und psychosoziale Arrangements) beschäftigt sich mit der Systematisierung neurotischer Lösungen unter der Expertise jener drei Dimensionen; im Hinblick auf die Art des zugrunde liegenden zentralen Konfliktes, die Art und das Ausmaß des eventuellen strukturellen Mangels und den Modus der Verarbeitung des Konflikts. Überdies finden im Kapitel Formen und Probleme der psychotherapeutischen Behandlung auch nichtpsychoanalytische Verfahren (wie Verhaltenstherapie, Klientenzentrierte Psychotherapie nach C. Rogers oder das Konzept von Selbsthilfegruppen) Raum. Klar, prägnant und in der Praxis vielfach erprobt, ist dieses Buch von Stavros Mentzos nicht zuletzt deswegen, da es eindeutig aus der Praxis stammt, was die Veranschaulichung durch Fallbeschreibungen zeigt. Schon im Vorwort wird dem Leser das postmoderne Denken des Autors klar, „dass die pathologischen Verarbeitungsmodi eines Konflikts, also die neurotischen Symptome, Charaktere, Abwehrmechanismen, Arrangements, zwar leidvolle und letztlich missglückte „Lösungen“ sind, dass sie aber oft bewundernswerte Ich-Leistungen unter extrem schwierigen 132
M Selbstverständlich wird das Verfahren gemeinsam trainiert und psychotherapeutisch kontrolliert. Dieses Modell arbeitet auf der bewussten Ebene und nimmt eigentlich biologisch-psychologische Grundphänomene als Basis, mit der der Erfolg erzielt wird. Jede andere psychologisch orientierte Psychotherapie kann ebenso mit dieser kognitiven Restrukturierung operieren – es ist das Neuprägen von Nervenbahnen, wobei die heutige Neurowissenschaft mittlerweile auch schon in der Lage ist, solche Veränderungen bildgebend darzustellen. Andreas Schmidt
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Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG/ØPEJGP-KPFNGT
as Buch gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil werden neurotische Konflikte und Abwehrmechanismen dargestellt (Motivation, Struktur, Das Konfliktmodell: Neurotische Störungen als pathologische Konfliktverarbeitungen, Die psychische Entwicklung). Indessen der zweite Teil (Klassifikatorische Probleme und der konkrete Fall, Die Variationen des pathologischen Konflikts – Versuch einer Systematik, Die Variationen der strukturellen Mängel [Selbstpathologie], Variationen der reiferen [„psychoneurotischen“] Modi der Konfliktverarbeitung, Variationen der narzisstischen (aber nicht psychotischen) Verarbeitungsmodi, Variationen der Modi der narzisstischen [Selbst-]Kompensierung, Der psychosomatische Modus, Variationen der psychotischen Verarbeitungsmodi, Der häufigste Modus: psychosoziale Abwehr und psychosoziale Arrangements) beschäftigt sich mit der Systematisierung neurotischer Lösungen unter der Expertise jener drei Dimensionen; im Hinblick auf die Art des zugrunde liegenden zentralen Konfliktes, die Art und das Ausmaß des eventuellen strukturellen Mangels und den Modus der Verarbeitung des Konflikts. Überdies finden im Kapitel Formen und Probleme der psychotherapeutischen Behandlung auch nichtpsychoanalytische Verfahren (wie Verhaltenstherapie, Klientenzentrierte Psychotherapie nach C. Rogers oder das Konzept von Selbsthilfegruppen) Raum. Klar, prägnant und in der Praxis vielfach erprobt, ist dieses Buch von Stavros Mentzos nicht zuletzt deswegen, da es eindeutig aus der Praxis stammt, was die Veranschaulichung durch Fallbeschreibungen zeigt. Schon im Vorwort wird dem Leser das postmoderne Denken des Autors klar, „dass die pathologischen Verarbeitungsmodi eines Konflikts, also die neurotischen Symptome, Charaktere, Abwehrmechanismen, Arrangements, zwar leidvolle und letztlich missglückte „Lösungen“ sind, dass sie aber oft bewundernswerte Ich-Leistungen unter extrem schwierigen 132
M Bedingungen darstellen, die keineswegs leichtfertig als ‚eben nur pathologisch‘ abgetan werden sollten.“ Stavros Mentzos, der sich für eine Psychodynamisierung der operationalisierten Diagnostik des Klassifikationssystems ICD einsetzt, gelingt der Versuch einer Systematik neurotischer Störungen unter der kritischen Infragestellung einiger festgefahrener psychoanalytischer Theorien. So ermöglicht das Meisterwerk nicht nur dem breiteren Publikum die Neurosenlehre zugänglich zu machen, sondern dient dem Fachkundigen als unentbehrlicher Diskussionsbeitrag. Hier ist unter anderem das Kapitel Abschließende Bemerkungen besonders zu nennen, in dem der Autor einige bedeutsame Themen zusammenfasst und klar Stellung bezieht: So sind Konflikte als solche nicht stets pathogen, sondern gehören zu jeder „normalen“ Entwicklung; einige Abwehrmechanismen werden als eminent wichtige Vorgänge im gesamten Verlauf der Normalentwicklung gesehen; die Erweiterung der klassischen Triebtheorie erfolgt durch das Aufzeigen primärer Kontakt- und Sicherheitsbedürfnisse oder des Abhängigkeits-Autonomie-Konflikts; die Betonung der Erkenntnisse der Selbstpsychologie, da narzisstische Problematiken bei allen psychischen Störungen eine Rolle zu spielen scheinen etc. Weiters geht Mentzos auf technische Fragen ein, betont die spezifische Betrachtung jedes einzelnen Falles und fordert in einem Schlusssatz: „Es gilt, die erforderliche Distanz und Abstinenzhaltung mit einer Haltung und Atmosphäre zu kombinieren, die den Patienten trägt, ihn ermutigt und ihm das Gefühl des Verstandenwerdens gibt.“ Katharina R. Reboly
Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus 6ØDKPIGP'FKVKQP&KUMQTF 7PXGTÀPFGTVGT0CEJFTWEMFGT #WUICDG-CTNUTWJG 'TUVCWUICDG/ÅOQKTGUWTNCFÅEQWXGTVGFWOCIPÅVKUOGCPKOCN 2CTKU&CWRJKPoU.KDTCKTG+ORTKOGWT2(T&KFQVNGLGWPG
Z
um Verständnis muss man natürlich die Epoche bedenken, in der es geschrieben wurde. Maria Theresia hatte unter van Swieten eine Reihe berühmter Ärzte um sich, um das Gesundheitswesen zu reformieren. Van Swieten approbierte auch Mesmers Dissertation „De Planetarium influxu“. Lavoisier entdeckte in Frankreich unter anderem den Sauerstoff. Es gab aber auch die Glasharmonika, auf der Mesmer Virtuose war und sie auch zu einer Art Musiktherapie einsetzte. Mozart und andere Freimaurer seiner Zeitwaren in Wien Mesmers Freunde. Die Kirche kämpfte nachdrücklich gegen die „Aufklärung“. Es gab Jean-Jacques Rousseaus „vernunftgetragene Diskussionen“ und man schrieb dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin die Erfindung der Guillotine zu, unter der Lavoisier starb und vielleicht auch Mesmer gestorben wäre, wäre er nicht zurück in die Schweiz. 133
M Bedingungen darstellen, die keineswegs leichtfertig als ‚eben nur pathologisch‘ abgetan werden sollten.“ Stavros Mentzos, der sich für eine Psychodynamisierung der operationalisierten Diagnostik des Klassifikationssystems ICD einsetzt, gelingt der Versuch einer Systematik neurotischer Störungen unter der kritischen Infragestellung einiger festgefahrener psychoanalytischer Theorien. So ermöglicht das Meisterwerk nicht nur dem breiteren Publikum die Neurosenlehre zugänglich zu machen, sondern dient dem Fachkundigen als unentbehrlicher Diskussionsbeitrag. Hier ist unter anderem das Kapitel Abschließende Bemerkungen besonders zu nennen, in dem der Autor einige bedeutsame Themen zusammenfasst und klar Stellung bezieht: So sind Konflikte als solche nicht stets pathogen, sondern gehören zu jeder „normalen“ Entwicklung; einige Abwehrmechanismen werden als eminent wichtige Vorgänge im gesamten Verlauf der Normalentwicklung gesehen; die Erweiterung der klassischen Triebtheorie erfolgt durch das Aufzeigen primärer Kontakt- und Sicherheitsbedürfnisse oder des Abhängigkeits-Autonomie-Konflikts; die Betonung der Erkenntnisse der Selbstpsychologie, da narzisstische Problematiken bei allen psychischen Störungen eine Rolle zu spielen scheinen etc. Weiters geht Mentzos auf technische Fragen ein, betont die spezifische Betrachtung jedes einzelnen Falles und fordert in einem Schlusssatz: „Es gilt, die erforderliche Distanz und Abstinenzhaltung mit einer Haltung und Atmosphäre zu kombinieren, die den Patienten trägt, ihn ermutigt und ihm das Gefühl des Verstandenwerdens gibt.“ Katharina R. Reboly
Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus 6ØDKPIGP'FKVKQP&KUMQTF 7PXGTÀPFGTVGT0CEJFTWEMFGT #WUICDG-CTNUTWJG 'TUVCWUICDG/ÅOQKTGUWTNCFÅEQWXGTVGFWOCIPÅVKUOGCPKOCN 2CTKU&CWRJKPoU.KDTCKTG+ORTKOGWT2(T&KFQVNGLGWPG
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um Verständnis muss man natürlich die Epoche bedenken, in der es geschrieben wurde. Maria Theresia hatte unter van Swieten eine Reihe berühmter Ärzte um sich, um das Gesundheitswesen zu reformieren. Van Swieten approbierte auch Mesmers Dissertation „De Planetarium influxu“. Lavoisier entdeckte in Frankreich unter anderem den Sauerstoff. Es gab aber auch die Glasharmonika, auf der Mesmer Virtuose war und sie auch zu einer Art Musiktherapie einsetzte. Mozart und andere Freimaurer seiner Zeitwaren in Wien Mesmers Freunde. Die Kirche kämpfte nachdrücklich gegen die „Aufklärung“. Es gab Jean-Jacques Rousseaus „vernunftgetragene Diskussionen“ und man schrieb dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin die Erfindung der Guillotine zu, unter der Lavoisier starb und vielleicht auch Mesmer gestorben wäre, wäre er nicht zurück in die Schweiz. 133
M Erste Übersetzung ins Englische: 1779, nicht von einem Arzt, sondern vom Captain V. R. Myers [Mesmerism by Doctor Mesmer (1779) first translation in English nach „Mémoire sur la découverte du Magnétisme animal“. Dauphin’s Libraire-Imprimeur P. Fr. Didot le jeune, S. 7]. Im Englischen Sprachraum entstand bald der bis heute allgemein gebräuchliche Begriff „Mesmerism“. Zurück zum Buch: Als 27. Punkt seiner „Sätze“ behauptet Mesmer: „Diß Lehrgbäude wird den Arzt in Stand setzen, die Gesundheit eines jeden bestimmt zu beurtheilen, ihn vor allen Krankheiten, denen er etwa ausgesetzt werden könnte, zu verwahren, und folglich die Heilkunst auf den höchsten Gipfel ihrer Vollkommenheit bringen.“ Nicht zur Freude seiner Kollegen: Schon im Vorwort beklagt er Neid und Misstrauen gegenüber seiner Lehre. Die kleine Schrift hatte nicht nur die Aufgabe, „eine allgemeine Idee von meinem Lehrgebäude zu geben sondern auch die Irrthümer, die man mutwillig darein verflochte, davon abzusondern ...“. Also auch eine Verteidigungsschrift. Zwischen all den Rechtfertigungsversuchen findet man aber eine erstaunliche Naturbeobachtung, eine Reihe von Krankengeschichten, die ihn zu dem machten, als was er heute gilt: Begründer der – damals Magnetisieren genannten – Hypnosetherapie und, seit Freud über die Hypnose zur Psychoanalyse kam, auch als Vorgänger der Psychotherapie schlechthin. Auf die 27 „Sätze“ folgt – ein Kuriosum in der Medizin – die vom Vater der Patienten verfasste „Kranken=Geschichte“ der Klavier Virtuosin Jungfer Maria Theresia von Paradis (18 Jahre). Der Fall Paradis wurde dadurch in ganz Europa bekannt und vielfach positiv und negativ diskutiert. Hofrat und Sekretär von Maria Theresia, Joseph Anton Paradis, beschrieb minutiös, wie sehr sich Dr. Mesmer um seine Tochter bemühte, wie er, nachdem sie wieder sehend wurde und dabei eine starke Lichtempfindlichkeit entwickelte, mit einem bemerkenswerten psychischen Einfühlungsvermögen vorging. Erstaunlicherweise wurde nach Thuillier [Thuillier, Jean: Die Entdeckung des Lebensfeuers. Franz Anton Mesmer. Eine Biographie. Deutsch Darmstadt, 1990; der französische Titel scheint mir viel besser zu sein als der deutsche: Franz Anton Mesmer ou l’Extase magnétique, also „die magnetische Ekstase“] schon damals bei der sehend geborenen, als Kind plötzlich erblindeten, die Diagnose: „amourosis perfecta“, nervöses (!), vollständiges Erblinden ohne Beeinträchtigung der Augäpfel, festgestellt. Warum Mesmer immer wieder vom „Staar“ spricht, ist nicht klar, denn der hätte ja auch damals zu sehen sein müssen. Es kann sein, dass man unter Staar ganz einfach die Blindheit verstand. Als sich die Fakultät und Hofrat Paradis gegen Mesmer wandten, schrieb der Präsident des Medizinal=Wesens einen Befehl: „die Jungfer Paradis ihren Eltern zurück zu geben, wenn ich glaubte, dass es ohne Gefahr für die Kranke geschehen könnte“. Mesmer glaubte das natürlich nicht und
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M antwortete: „Die Kranke befände sich außer Stand, ohne Lebens=Gefahr, aus dem Haus gebracht zu werden“ (Mesmer 1985, S. 39). Die Patienten waren zu Mesmers Zeiten in den Streit der Therapeuten kräftig eingebunden. Es gab zum Beispiel Schwierigkeiten mit einem, von Maria Theresia nach Wien berufenen, Herrn Ingenhaus (Jan IngenHousz [Thuillier 1190] [LF 125]), Mitglied der königlichen Akademie in London, Pocken=Einimpfer in Wien („Nur das Genie eines Engelländers seye imstande eine solche Entdeckung zu machen ...“)(19). Als die Jungfer Oesterlin vom Verhalten des Pocken=Einimpfers erfuhr, regte sie sich so auf, „daß sie noch einmal ihre vorigen Zufälle, und überdies ein schlimmes Nervenfieber bekam“. Nach 14 Tagen intensiver Untersuchung und Behandlung konnte Mesmer seine Theorie vervollständigen und die Jungfer Oesterlin genas vollständig, und er war froh, „sie, seit diesem Vorfall vollkommen gesund, verheyrathet und mit Kindern gesegnet zu sehen“ (23). Auch die medizinische Fakultät kommt ins Spiel: Herr Baron von Störk, „Präsident der Medicinischen Facultät zu Wien und ...“ mit der „natürlichen Forchtsamkeit dieses Arztes, vielleicht von Bewegungs=Gründen unterstüzt, die ich nicht untersuchen mag“. Die Kommissionen zur Verurteilung der Theorie des animalischen Magnetismus (gegen Mesmer und gegen seinen Schüler Delon) erkannten übrigens sehr gut, dass der Glaube an Mesmer, Mesmers Ausstrahlung und nicht eine andere angenommene Kraft die Ursache der „Heilungen“ war. Aber auch sie zogen daraus nicht den – offensichtlich richtigen – Schluss, dass man die Kraft des „Glaubens“ und die Suggestion als Heilmittel untersuchen sollte. Das blieb den Forschern unserer Zeit, vor allem jetzt auch den Neurobiologen, vorbehalten und ist für viele noch immer umstritten, verdächtig, undurchsichtig. Warum man Mesmers kleine Schrift unter die Meisterwerke, oder vielleicht besser unter die grundlegenden Werke der Psychotherapie aufnehmen sollte? Immerhin schrieb Henri F. Ellenberger, der Historiker der Psychoanalyse, es sei „nicht daran zu zweifeln, dass die Entwicklung der modernen dynamischen Psychiatrie sich bis zu Mesmers tierischem Magnetismus zurückverfolgen lässt, und dass die Nachwelt sich ihm gegenüber bemerkenswert undankbar gezeigt hat“. Und immerhin hat Mesmer in seinem verzweifelten Bemühen, dem, was wir seit Braid Hypnose nennen, Anerkennung zu verschaffen, eine neue Epoche der Psychotherapie eingeleitet. Er gab später auch eine genaue Beschreibung dessen, was wir heute „altered state of conscioussness“ nennen: „Der kritische Zustand, von welchem ich hier rede, ist ein Zwischenzustand von Wachen und Schlafen, er kann sich also dem einen oder dem anderen mehr nähern, und ist also mehr oder weniger vollkommen.“ Er wird „ein Resultat des inneren Sinnes selbst, mit Ausschluss der äußeren Sinne ...“ [Mesmer Franz: Allgemeiner Erläuterungen über den Magnetismus und den Somnabulismus. Carlsruhe, 1815, S. 70 (a70)].
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M Teilweise ging er knapp an dem, was wir heute als wahr erkennen, vorbei, wenn er von der oben erwähnten 29-jährigen Jungfer Oesterlin berichtet, die von „Crisen“, „Gichtern“ und anderen „Zufällen“ geplagt war [Mesmer 1985, S. 12]. „Ich brachte bey ihr drey künstliche Magneten, einen auf den Magen, zween auf den beiden Füssen an. Diß verursachte ihr, in sehr kurzer Zeit, ausserordentliche Empfindungen“ (kursiv vom Referenten) (14). „Die Beobachtung dieser Wirkungen, verbunden mit meinem allgemeinen System, gab mir ein neues Licht, betättigte meine vorhergehenden Gedanken, von dem Einfluß eines allgemein würkenden Principiums, überzeugte mich, daß ein vom Magnet ganz verschiedener Stof, (dann er für sich kann unmöglich auf diese Art auf die Nerven wirken) ihn wirksam mache ...“ Wenn wir für das „allgemein würkende Principium“ Suggestion setzen, wird kaum mehr ein Neurobiologe, Psychopharmakologe oder Synergetiker widersprechen. Er betonte auch immer wieder vergeblich, dass er der Überzeugung sei, dass keineswegs alles auf die Wirkung des Magneten zurückzuführen sei [Mesmer 1985, S. 16]. Nach neueren Untersuchungen von Burkhard Peter [Burkhard Peter: Gassner’s Exorcism-not Mesmer’s Magentism-Is the Real Predecessor of Modern Hypnosis. The International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis, Vol. 53, January 2005, N. 1, P. 1–12] scheint „Ein gewisser ehrlicher, aber allzu eifriger Geistlicher“ [Mesmer 1985, S. 29], der von Mesmer in seinem Buch nicht namentlich genannte Pater Johann Joseph Gassner, bei der Begründung der Therapie mit Hypnose wenigstens eine ebenso wesentliche Rolle gespielt zu haben. In Wien hatten sich über Gassners Tätigkeit zwei Parteien gebildet, die eine plädierte für Scharlatanerie, die andere für den Beweis der göttlichen Allmacht. „Beyde irrten und mich lehrte, von der Zeit an, meine Erfahrung, daß dieser Mann nichts als bloßes Werkzeug der Natur war.“ Für die Widerlegung der Gassner’schen Theorien, der sich nach Meinung der Kirche zu wenig an die Regeln des Exorzismus hielt, wurde Mesmer in die Münchner Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Die Erkenntnis: „nichts als bloßes Werkzeug der Natur“ gehört wohl auch zu den fundamentalen Prinzipien moderner Psychotherapie. Es könnte sein, dass Mesmer weiterhin einer der Väter der „psychotherapeutischen Medizin“ und der Psychoanalyse bleibt und Pater Gassner eher einer der Väter der neueren Psychotherapie wird, in der immer mehr die Forderung nach einer Auseinandersetzung mit Spiritualität, Religion und Politik laut wird. Es ist fast seherisch, wenn er schreibt: „So ist mein lebhafter Wunsch, dass meine Zeitgenossen nicht bey meinen Entdeckungen stehen bleiben, sondern die angegebene Spur verfolgen … Gern begnüge ich mich mit der Ehre, der wissenschaftlichen Untersuchung ein eben so weites als fruchtbares Feld geöffnet und gewissermaßen die neue Bahn gebrochen zu haben.“ [Mesmer 1815, S. 78]. Heinrich Wallnöfer
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Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes
und die Suche nach dem wahren Selbst #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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ie Autorin schildert in drei Kapiteln die unbewusste Situation vieler Kinder, die ihr eigentliches Selbst unterdrücken müssen, um den Wünschen der Eltern zu entsprechen und sich so verleugnen. Die Entwicklungshemmung, die daraus resultiert, wird oft als narzisstische Störung beschrieben. Alice Miller deckt auf, wie kreativ und selbstbestimmt Menschen leben können, oft mithilfe der Psychoanalyse, wenn ihnen die Gelegenheit geboten wird, aus den Rollen der Kindheit herauszutreten und ihre eigentliche Bestimmung zu leben. Manche Menschen wählen die Grandiosität als Lösung für die Anpassungsleistung: Sie begeben sich in eine Illusion, in der nur das Großartige zählt und das Schwache verdammt wird. Dies geht so lange gut, solange die Kraft reicht: Wenn die Grandiosität zusammenbricht, mündet sie oft in Verzweiflung und Depression, nicht zuletzt im Selbstmord. Die andere Lösung ist die Depression, die von der Vorstellung beherrscht wird, die Kleinheit und Unbedeutendheit nie überwinden zu können. Immer wieder wird die Bestätigung gesucht, doch keinen Wert in dieser Welt zu besitzen, bestimmt durch die fatalen Ereignisse in der Kindheit, wo das – begabte – Kind nur zur Befriedigung der Bezugspersonen herhalten musste. Beide Positionen sind natürlich nicht der Realität entsprechend, die Anlass für beide Gefühlszustände gibt, allerdings nicht als Dauerzustand, sondern entsprechend der vielfältigen Situationen in Abwechslung und vor allem in einem Ausprägungsgrad, der der seelischen Gesundheit nicht abträglich ist. Die Autorin beschreibt die diffizilen Prozesse, die in einer psychoanalytischen Kur auftreten, in der der Patient mit allen Kräften versucht, die alten familiären Verflechtungen wiederherzustellen und in der der Analytiker standhaft und trotzdem wertschätzend bleiben muss, wenn der Analysand versucht, die traumatischen Erfahrungen einerseits auf den Analytiker zu projizieren, andererseits den Analytiker in die Position zu bringen, in der der Analysand ihn sowohl im Guten wie im Bösen in die Situation einer ablehnenden, manipulierenden oder nicht ausreichend liebenden Mutter- oder Vaterbeziehung zu bringen versucht. Gelingt dies nicht – und diese Phasen sind durchaus mit Konflikten zwischen Analysand und Analytiker verbunden –, so kann die Analyse nicht gelingen oder es kommt zu einem Lernprozess, in dem der Patient realisiert, dass die erlebten Erfahrungen der Vergangenheit angehören und nicht notwendigerweise wiederholt werden müssen. Dann kommt es schließlich zu einem Heilungsprozess, in dem die frühen Traumata integriert werden können. Das Drama des begabten Kindes zeigt in anschaulicher Weise, wie sehr wir von den frühen Erfahrungen in unserem Leben geprägt werden. Das 137
M Kreative in jedem Kind bedarf der besonderen Beachtung, Wertschätzung und Akzeptanz. Gerade die Verschiedenheit eines Kindes von den Eltern ist oft für diese eine Bedrohung und sie versuchen, das Kind nach ihren Vorstellungen zu erziehen, oft mit fatalen Folgen, indem das Kind beginnt, sein wahres Selbst zu verleugnen. Das führt nicht nur zu psychosomatischen Beschwerden, sondern auch zu einem Nichtspüren der eigenen Möglichkeiten. Der Mensch wird sich selbst ein Fremder, erfährt Leere oder überhöhte Grandiosität, die ihm nicht entsprechen. Es kann ein schmerzhafter Prozess sein, zu sich selbst zurückzukehren, denn es kann bedeuten, dass die Beziehungen zu den verinnerlichten Elternobjekten in Frage gestellt werden müssen, also eine Trennungserfahrung nachgeholt werden muss, die in der Kindheit aufgrund der Bedrohlichkeit einer elterlichen Ablehnung nicht vollzogen werden konnte. Der vorliegende Band ist sehr berührend, denn die Autorin beschreibt Phänomene, die wir wohl alle in unterschiedlicher Intensität erlebt haben, in sehr konkreten Fallbeispielen und dennoch in Konkordanz mit den modernen psychoanalytischen Theorien. Alfred Pritz
Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern Grundlagen kollektiven Verhaltens #WƂCIG/ØPEJGP2KRGT 'TUVCWUICDG
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as weltberühmte Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich wurde in den 60er Jahren, der hohen Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders“, geschrieben. Das Ehepaar Mitscherlich verweist darauf, dass offensichtlich in der Öffentlichkeit kaum mehr an die Vergangenheit mit ihren erschreckenden Begebenheiten gedacht wird, obwohl sehr viele Deutsche direkt oder indirekt beteiligt waren. Sie analysieren dieses „kollektive Verdrängen“ auf psychoanalytischer Grundlage, und zwar benutzen sie dabei zu einem großen Teil die von Freud vorgedachten Folien des Aufsatzes „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Demzufolge ist bei Massenbewegungen, die einem „Führer“ unterstehen, jeweils ein großer Teil des Volkes fasziniert vom Charisma einer Leitfigur, der man „Ich-Ideal“Qualitäten unterstellt. Das Über-Ich wird delegiert, die Führerfigur wird geliebt und verehrt, man folgt ihr, ohne selbst das eigene Über-Ich zu bemühen. Die Verschmelzung mit dieser Figur dient dem eigenen Narzissmus. Daher haben viele Nationalsozialisten und deren Anhang im Dritten Reich Hitlers Befehlen auch dann Folge geleistet, wenn sie normalerweise hätten erkennen können, in welch unmoralische und destruktive Position er sie hineintrieb („Wir wollen den totalen Krieg“). Nachdem das schmähliche Ende Hitlers sowie dessen Gräueltaten der Öffentlichkeit bekannt
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M Kreative in jedem Kind bedarf der besonderen Beachtung, Wertschätzung und Akzeptanz. Gerade die Verschiedenheit eines Kindes von den Eltern ist oft für diese eine Bedrohung und sie versuchen, das Kind nach ihren Vorstellungen zu erziehen, oft mit fatalen Folgen, indem das Kind beginnt, sein wahres Selbst zu verleugnen. Das führt nicht nur zu psychosomatischen Beschwerden, sondern auch zu einem Nichtspüren der eigenen Möglichkeiten. Der Mensch wird sich selbst ein Fremder, erfährt Leere oder überhöhte Grandiosität, die ihm nicht entsprechen. Es kann ein schmerzhafter Prozess sein, zu sich selbst zurückzukehren, denn es kann bedeuten, dass die Beziehungen zu den verinnerlichten Elternobjekten in Frage gestellt werden müssen, also eine Trennungserfahrung nachgeholt werden muss, die in der Kindheit aufgrund der Bedrohlichkeit einer elterlichen Ablehnung nicht vollzogen werden konnte. Der vorliegende Band ist sehr berührend, denn die Autorin beschreibt Phänomene, die wir wohl alle in unterschiedlicher Intensität erlebt haben, in sehr konkreten Fallbeispielen und dennoch in Konkordanz mit den modernen psychoanalytischen Theorien. Alfred Pritz
Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern Grundlagen kollektiven Verhaltens #WƂCIG/ØPEJGP2KRGT 'TUVCWUICDG
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as weltberühmte Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich wurde in den 60er Jahren, der hohen Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders“, geschrieben. Das Ehepaar Mitscherlich verweist darauf, dass offensichtlich in der Öffentlichkeit kaum mehr an die Vergangenheit mit ihren erschreckenden Begebenheiten gedacht wird, obwohl sehr viele Deutsche direkt oder indirekt beteiligt waren. Sie analysieren dieses „kollektive Verdrängen“ auf psychoanalytischer Grundlage, und zwar benutzen sie dabei zu einem großen Teil die von Freud vorgedachten Folien des Aufsatzes „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Demzufolge ist bei Massenbewegungen, die einem „Führer“ unterstehen, jeweils ein großer Teil des Volkes fasziniert vom Charisma einer Leitfigur, der man „Ich-Ideal“Qualitäten unterstellt. Das Über-Ich wird delegiert, die Führerfigur wird geliebt und verehrt, man folgt ihr, ohne selbst das eigene Über-Ich zu bemühen. Die Verschmelzung mit dieser Figur dient dem eigenen Narzissmus. Daher haben viele Nationalsozialisten und deren Anhang im Dritten Reich Hitlers Befehlen auch dann Folge geleistet, wenn sie normalerweise hätten erkennen können, in welch unmoralische und destruktive Position er sie hineintrieb („Wir wollen den totalen Krieg“). Nachdem das schmähliche Ende Hitlers sowie dessen Gräueltaten der Öffentlichkeit bekannt
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M wurden, wäre eigentlich tiefe Enttäuschung, Wut oder Trauer am Platz gewesen. All dies trat aber nur in vereinzelten Fällen auf. Die meisten ehemaligen aktiven Nazis oder deren Mitläufer verdrängten diese Affekte und fühlten sich in der erfolgreichen Aktivität des Wiederaufbaus sehr bald als gleichberechtigt mit anderen erfolgreichen Wirtschaftsmächten. Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde kaum aufgearbeitet, Verdrängung und Verleugnung führten dazu, dass nach dem Krieg ungebrochen viele ehemalige Nazis hohe Positionen innehatten und ungeschoren weiterlebten, während die Opfer des Nationalsozialismus oft jahrelang auf irgendeine Wiedergutmachung warten mussten bzw. diese nie bekamen. Die Autoren mahnen dringend, diesen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit mit den Begleitumständen der bitteren Schuldgefühle nicht zu vernachlässigen. Die „Bewältigung der Vergangenheit“ wurde für die Mitscherlichs zu einem drängenden Problem. Es war nicht die Kriegsgeneration, sondern die Nachkriegsgeneration, die diesem Aufruf endlich Folge leistete. Die sogenannte 68er-Bewegung (das Buch erschien 1967) berief sich immer wieder auf das Buch, befragte in oft sehr drängender Art und Weise die Eltern- und Großelterngeneration auf ihr Mitwirken oder ihr Schweigen hin. Diese Bewegung wurde in weiten Teilen auch von Alexander und Margarete Mitscherlichs Analysen geprägt. Wichtig ist das Buch nach wie vor weniger der inhaltlichen Thematik wegen (das Dritte Reich wurde zumindest theoretisch sehr wohl seither oft analysiert) als durch die Tatsache, dass hier ein psychoanalytischer Ansatz bemüht wurde, um ein kollektiv-politisches Phänomen zu analysieren und so einer breiteren Öffentlichkeit klarzumachen, welche Mechanismen sich sozusagen „hinter dem eigenen Rücken“ breitmachen können und so den Einzelnen davon befreien, sich Rechenschaft über sein Tun abzulegen. Was Freud theoretisch geliefert hatte, wurde hier am konkreten Beispiel vorgeführt. Das Buch wurde nicht nur in Deutschland und Österreich mit größtem Interesse aufgenommen; auch im Ausland fand es große Beachtung und wurde in viele Sprachen übersetzt. Eva Jaeggi
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Michael Lukas Moeller: Die Liebe ist das Kind der Freiheit #WƂCIG4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
er erste Teil des Buches ist in Briefform gehalten. In insgesamt zwölf Briefen an seine Freundin Celia beschreibt der Autor fünf Grundeinsichten des Beziehungslebens bzw. des Lebens als Paar. Nach eigenen Angaben des Autors haben diese Ansichten selbst sein eigenes Paarleben verändert. Moeller schreibt von Lernzielen, die jedes Paar sich vor Augen führen sollte, diesen allen sei gemeinsam, dass man einerseits mehr abstimmen und besprechen sollte, als man eigentlich so denkt, und anderseits mehr aktiv gestalten kann und eigentlich das Meiste nicht einfach so passiert. Betont wird in diesen Briefen vor allem die Bedeutung des Zwiegespräches, das nicht als Ersatz für das Leben an sich stehen sollte, sondern das gemeinsame Leben weiterentwickeln kann. Der nächste Teil des Buches gestaltet sich so, dass der Autor in 18 Leitsätzen die wichtigsten Grundannahmen, aber auch Verirrungen des Beziehungslebens aufgreift, diese erklärt und so versucht, ihnen den Schrecken zu nehmen. Unterstrichen und anschaulich gemacht werden diese Leitsätze mit Fallbespielen aus seiner eigenen Praxis und wunderbaren Ausschnitten aus der Literatur. Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Vergleich Paarbeziehung – eine Sekte? Es wird die menschliche Neigung erläutert, sich einer ausschließlichen Zweierbeziehung hinzugeben, die nach ihren eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten läuft. Der letzte Abschnitt des Buches ist einem wichtigen Ereignis im Leben eines Paares vorbehalten – der Geburt des Kindes. Die Veränderungen, die dieses Ereignis mit sich bringt, und die Krisen, die daraus entstehen können, versucht Moeller zu skizzieren und zu beheben. Schon der Titel des Buches hat mich magisch angezogen – „Die Liebe ist das Kind der Freiheit“ – klingt so wunderbar, so wunderbar einfach. Kann man diese beiden Grundbedürfnisse des Menschen miteinander in Einklang bringen? Nun, die Antwort auf diese Frage bekam ich vom Autor in einem Satz geliefert: Freiheit bedeutet nicht Unverbindlichkeit. Ich kann mich als freier Mensch für eine Sache oder einen Menschen entscheiden, aber brauche nicht gleichzeitig alles andere aufzugeben. Das hat etwas Befreiendes und gleichzeitig etwas Tröstliches an sich. Für mich war dies einer der wichtigsten Sätze, die ich bisher gelesen habe, es nimmt den Druck, auf beiden Ebenen zu funktionieren, entweder das eine oder das andere zu wählen. Dieses Buch ist insofern ein Meisterwerk, als es auf eine sehr leichte und treffende Art und Weise die Beziehungsebenen auf eine analytische und philosophische Art und Weise beschreibt und erläutert, aber dabei bei keinem Satz unverständlich oder abgehoben wirkt. Die vielen Fall-
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M beispiele und Literaturausschnitte bringen Spannung sowie Abwechslung und dienen zum besseren Verständnis. Bei einigen Stellen in diesem Buch war mir gleichzeitig nach Lachen und Weinen zumute. Die eigene Leere mit dem Anderen füllen zu wollen und ihn dabei als Rohstoff zu benutzen, den Anderen als eigenen Besitz zu definieren, um seine eigene Unsicherheit zu kaschieren. Das sind Aussagen in diesem Buch, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Es gibt Bücher, die meiner Meinung nach ein Stück dazu beitragen, unsere Welt und unser menschliches Tun besser zu verstehen und sich daher auch mehr darauf einlassen zu können. Dieses Buch trägt einen großen Teil dazu bei. Michaela Heger
Hans Morschitzky: Psychotherapie Ratgeber Ein Wegweiser zur seelischen Gesundheit 9KGP0GY;QTM5RTKPIGT
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er Autor gibt eine umfangreiche Zusammenfassung über den Themenkomplex der Psychotherapie. Er beginnt mit einer Einführung in die Geschichte der Psychotherapie und beleuchtet dann die derzeitige Situation in Deutschland und Österreich. Dabei geht er auch auf die Ausbildungsmöglichkeiten ein. Er stellt die derzeitigen Finanzierungsmöglichkeiten einer Therapie dar und scheut sich nicht, die momentanen Regelungen mit den Krankenkassen zu hinterfragen. Was ist Psychotherapie und wem kann sie nützen? Welche Arbeitsformen gibt es und wann sollte welche Möglichkeit gewählt werden? Das sind die Fragestellungen, auf die Morschitzky eine Antwort gibt. Er beschreibt sachlich und unparteiisch die Wesensmerkmale der wichtigsten psychotherapeutischen Methoden; sowohl ihre historische Entwicklung als auch ihre gewichtigsten Grundannahmen. Ferner werden die Wirkfaktoren der Psychotherapie dargestellt; dabei untermauert er seine Darstellungen häufig mit aktuellen internationalen Studien zu diesen Themen. Ferner stellt der Autor Anwendungsbereiche der Psychotherapie dar und gibt eine detaillierte und erklärende Aufstellung des psychiatrischen Diagnoseschemas ICD-10 wieder. Die Suche nach den individuell geeigneten Rahmenbedingungen für eine Psychotherapie und den therapeutischen Prozessen unterteilt er in vier Phasen: eine Vorbereitungs-, eine Anfangs-, eine Haupt- und eine Endphase. Dabei veranschaulicht er ausführlich die zentralen Themen und besonderen Schwierigkeiten jeder einzelnen Phase. Als besonders hilfreich sind hier die von ihm formulierten Fragen zu nennen, welche eine Selbstreflexion auslösen und damit die Über141
M beispiele und Literaturausschnitte bringen Spannung sowie Abwechslung und dienen zum besseren Verständnis. Bei einigen Stellen in diesem Buch war mir gleichzeitig nach Lachen und Weinen zumute. Die eigene Leere mit dem Anderen füllen zu wollen und ihn dabei als Rohstoff zu benutzen, den Anderen als eigenen Besitz zu definieren, um seine eigene Unsicherheit zu kaschieren. Das sind Aussagen in diesem Buch, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Es gibt Bücher, die meiner Meinung nach ein Stück dazu beitragen, unsere Welt und unser menschliches Tun besser zu verstehen und sich daher auch mehr darauf einlassen zu können. Dieses Buch trägt einen großen Teil dazu bei. Michaela Heger
Hans Morschitzky: Psychotherapie Ratgeber Ein Wegweiser zur seelischen Gesundheit 9KGP0GY;QTM5RTKPIGT
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er Autor gibt eine umfangreiche Zusammenfassung über den Themenkomplex der Psychotherapie. Er beginnt mit einer Einführung in die Geschichte der Psychotherapie und beleuchtet dann die derzeitige Situation in Deutschland und Österreich. Dabei geht er auch auf die Ausbildungsmöglichkeiten ein. Er stellt die derzeitigen Finanzierungsmöglichkeiten einer Therapie dar und scheut sich nicht, die momentanen Regelungen mit den Krankenkassen zu hinterfragen. Was ist Psychotherapie und wem kann sie nützen? Welche Arbeitsformen gibt es und wann sollte welche Möglichkeit gewählt werden? Das sind die Fragestellungen, auf die Morschitzky eine Antwort gibt. Er beschreibt sachlich und unparteiisch die Wesensmerkmale der wichtigsten psychotherapeutischen Methoden; sowohl ihre historische Entwicklung als auch ihre gewichtigsten Grundannahmen. Ferner werden die Wirkfaktoren der Psychotherapie dargestellt; dabei untermauert er seine Darstellungen häufig mit aktuellen internationalen Studien zu diesen Themen. Ferner stellt der Autor Anwendungsbereiche der Psychotherapie dar und gibt eine detaillierte und erklärende Aufstellung des psychiatrischen Diagnoseschemas ICD-10 wieder. Die Suche nach den individuell geeigneten Rahmenbedingungen für eine Psychotherapie und den therapeutischen Prozessen unterteilt er in vier Phasen: eine Vorbereitungs-, eine Anfangs-, eine Haupt- und eine Endphase. Dabei veranschaulicht er ausführlich die zentralen Themen und besonderen Schwierigkeiten jeder einzelnen Phase. Als besonders hilfreich sind hier die von ihm formulierten Fragen zu nennen, welche eine Selbstreflexion auslösen und damit die Über141
M legungen des Interessierten unterstützen. Welche Psychotherapieform ist die jeweils richtige? Der Autor analysiert die wesentlichen Unterschiede der Einzel-, Gruppen-, und Familientherapie. Ferner diskutiert er auch alternative Möglichkeiten zur psychotherapeutischen Behandlung. Ein weiteres Kapitel widmet Morschitzky den Problemen und den Gefahren einer Psychotherapie. Im Speziellen beschäftigt er sich dabei mit den Themen der Abhängigkeit sowie der Grenzüberschreitung und nimmt Stellung zu der Frage von Behandlungsfehlern in der Psychotherapie. Abschließend gibt er eine Übersicht über die Grenzbereiche der Psychotherapie; dazu zählt er Musik-, Kunst-, Tanz- und körperbezogene Therapien. Er betont dabei auch die manchmal unterschätzten Gefahren der rasanten Entwicklung der Psycho-Szene in den vergangenen Jahren. Der Autor hat sich bemüht, eine umfassende und relativ objektive Darstellung der Psychotherapiemethoden und Wesensmerkmale der Psychotherapie zu geben. Dieses schwierige Abenteuer ist ihm überaus gut gelungen. Bei der wertfreien Gegenüberstellung der anerkannten Psychotherapiemethoden betont er vor allem die Notwendigkeit des Zusammenarbeitens und die Überwindung der unterschiedlichen Ansätze. Eine genaue Aufstellung der Berufspflichten der Psychotherapeuten und der Rechte der Patienten klären den psychotherapieinteressierten Laien gut auf und stärken ihn bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten. Gerade für Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen, eine Therapie zu beginnen oder die jemanden in ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis unterstützen wollen, ist der kompakte Ratgeber der optimale Helfer. Was sind die ersten Schritte? Mit welchen Überlegungen ist man beschäftigt, wenn man sich für eine Psychotherapie interessiert? Gerade die Verknüpfung von allgemeinen Informationen mit spezifischen Hinweisen für den Einzelnen macht dieses Buch zu etwas Besonderem. Eine detaillierte Darstellung und Erklärung des psychiatrischen Diagnoseschemas ICD-10 ergänzt dieses Werk. Der Beschwerdefragebogen im Kapitel 3 gibt eine Zusammenfassung über mögliche psychische Störungen und Leidenszustände. Dadurch wird der Leser zur Selbstreflexion angeregt. Der Autor hilft durch die theoretischen Passagen und vor allem durch die aufgeworfenen Fragen wiederholt, über sich selbst nachzudenken. Er ermuntert im Anlassfall, Hilfe zu suchen und betont die Häufigkeit bzw. wachsende Zahl von psychischen Störungen. Das Buch gliedert sich in acht Kapitel; die in sich geschlossene Untergliederung ermöglicht dem Leser, auch nur bestimmte einzelne Aspekte nachzulesen. Nassim Agdari-Moghadam
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Tilmann Moser: Lehrjahre auf der Couch
Bruchstücke meiner Psychoanalyse #WƂCIG(TCPMHWTVC/5WJTMCOR6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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oser beschreibt in diesem, in den 70er Jahren veröffentlichten, Werk seine Lehranalyse. Die Grenzen vom Beschreiben zum Aufarbeiten sowie zwischen Offenheit und Exhibitionismus verschwimmen stark – ähnlich einem Aquarell, bei dem der Farbe zu viel Wasser beigemengt wird. So fragt sich der Leser an so mancher Stelle, welchen Zweck die Ausführlichkeit der Exkurse von Mosers Erlebnissen/Entscheidungen außerhalb der Lehranalyse erfüllen soll. So werden verschiedene sexuelle Erlebnisse detailliert dargestellt, sodass sich der Leser fragen muss, ob dieses nicht in wenigen Sätzen abgehandelt werden könnte, zumal allzu leicht der Faden zum Wesentlichen – der Lehranalyse – verloren geht. Gut gelingt dem Autor die Darstellung der Ambivalenz zwischen dem Ideal- und dem Realbild des Analytikers sowie des Wechselspiels von Zuneigung zum und Aggression gegenüber dem Analytiker. Der Inhalt dieses Berichtes, was dieses Buch nun näher darstellt, ist zeitlos und es ist nicht spürbar, dass dieses Werk vor nunmehr knapp 35 Jahren entstanden ist. Die Hauptelemente und Hauptprobleme einer Psychoanalyse werden hier deutlich. Der anfängliche Widerstand sich auf die Therapie/Analyse einzulassen, die Phänomene von Übertragung und Gegenübertragung sowie Projektion werden anhand seiner Person und der Interaktion mit dem Therapeuten praktisch verständlich. Der Untertitel „Bruchstücke meiner Psychoanalyse“ mag etwas ungünstig gewählt sein, zumal sich eine Assoziation zu „Scherben“ und „Zerbrechen“ aufdrängt. Man könnte sich dabei fragen, ob der Autor die Lehranalyse tatsächlich als Zusammenbruch oder Zerbrechen seiner gewohnten Lebensweise wahrnimmt und dieses nun in diesem Werk weiter aufgearbeitet werden muss. Dies wäre nun wahrlich kein gutes Zeugnis über diese Lehrjahre auf der Couch, wie er den Titel des Buches treffend wählt. Beim Lesen stellt der Leser dann fest, dass es sich um Auszüge aus der Therapie und Analyse handelt und wenn man „Bruchstücke als Auszüge“ definiert, dann handelt es sich doch um sehr große und umfangreiche Stücke seines Lebens. Das Buch ist gut lesbar und gut verständlich für jedermann, ob nun Psychoanalytiker, Psychologe, Student oder noch unschlüssiger Klient. Wenn man noch kleinere (oder größere) Zweifel hegt, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, dann ist dieses Werk von Tilmann Moser lesenswert. Es ist tatsächlich auch möglich, als kritisch eingestellte Person nach diesem Werk sagen zu können, ob man nun ein „Freund oder Feind“ der psychoanalytischen Schule ist. Insgesamt kann man doch das ein oder andere Thema für die Praxis als Psychologe oder Psychotherapeut herausnehmen. Ein Bericht, der durch Offenheit zwar stellenweise schockierend wirken kann und zugleich das Wesen der Psychoanalyse trifft. 143
M Für einen Analysanden, der sich ebenfalls gerade auf der Couch befindet, wirkt dieses Buch entlastend im Sinne einer Gewissheit, dass es sich bei Verwirrungen und starken Emotionen um für eine Analyse gewöhnliche Phänomene handelt. Einleitend wird noch vor dem eigentlichen Vorwort ein Brief von Heinz Kohut an den Autor Tilmann Moser abgedruckt. Dieser ist treffend formuliert bezüglich der Gedanken eines Lesenden zu den Inhalten in den Teilen I–IV des Buches. Die Nummerierung der Teile bezieht sich auf den Zeitpunkt des Schreibens dieser Bruchstücke seiner Analyse. Im ersten und umfangreichsten Teil beschreibt Moser die ersten drei Jahre der Analyse mit all ihren Höhen und Tiefen, den Ambivalenzen und Konflikten, mit denen ein Analysand und auch der Analytiker in einer solchen Lehranalyse konfrontiert werden, um damit fertig zu werden. Mit nahezu symbolischem Charakter beginnt dieser Teil, in dem die Ambivalenz des Verfassers deutlich wird, durch eine Art Rechtfertigungsposition, dass sein Bericht von anderen als Exhibitionismus aufgefasst werden kann und wird. Der wissenschaftliche Wert wird deutlich durch die genaue Darstellung der Beziehung zwischen Analysand und Analytiker sowie durch die Ausführungen zu den Phantasien und Tätigkeiten in und außerhalb der Therapie. Die Erläuterungen zum Erstkontakt verdeutlichen die kritische und zugleich hoffnungsvolle Haltung der Therapie gegenüber. Die Wichtigkeit der passenden Chemie zwischen Therapeut und Klient wird deutlich im Satz: „Es muss aber zwischen dem Interviewer und mir etwas vorgegangen sein, das ihn veranlasste, mich, gegen den Beschluss der Konferenz, innerlich zu adoptieren.“ Dass dieser Gedanke der Adoption sich durch seine Analyse in Form eines Vaterkomplexes und ödipalen Konfliktes zieht, wird in diesem Teil deutlich. Das Phänomen der Übertragung und des Widerstandes wird beschrieben. Die Abhängigkeit vom Therapeuten wird als zeitweise demütigend empfunden, sodass auch die Kompensation durch Entwertung des Analytikers beschrieben wird. Es wird deutlich, wie sehr durch die Analyse mehr und mehr die Selbstbeobachtung zu einer Fähigkeit wird, die zu Unsicherheit führen kann. Das Verstecken von bestimmten Handlungen wie Kratzen im Schambereich, Hände in die Hosentasche stecken, Beine überkreuzen oder Schnäuzen während der Analyse aus Angst, es könnte gleich vom Analytiker hinterfragt werden. Weiters wird die Wirkung der Äußerung „hm“ ausführlich dargestellt, als Mittel der Reanimation einer verbalen Kommunikation in Zusammenhang mit einer bestimmten (unbewussten) Handlung des Analysanden. Besuche in einem Freudenhaus und dessen detaillierte Beschreibung werden als ödipaler Komplex gedeutet, in Form eines „Naschens“ an Frauen anderer – in dem Falle der Zuhälter. Zentraler Aspekt in diesem Teil ist auch der Wunsch nach mehr Intimität zwischen Therapeut und Klient, mit den begleitenden Gefühlen von Eifersucht, Ärger und Enttäuschung. Dann wieder bei etwas mehr Nähe der Wunsch es nicht zu wissen, da der Therapeut durch geringere Abstinenz an „Idealisierungspunkten“ verlieren kann. Daher formuliert Moser es so, dass die Analyse von dieser Asymmetrie des Wissens über das Leben voneinander 144
P lebte. Ein Loyalitätskonflikt wird an der Stelle deutlich, wo Moser eine Aufspaltung der Liebe für seinen Analytiker und der Bewunderung für den anderen (Forscher) erlebt. Diese Spaltung wird durch einige Stunden gelöst und die Reise nach Amerika zu „dem anderen“ wurde durchgeführt. An anderer Stelle beschreibt er den Moment des ersten Weinens zu Beginn des vierten Lehrjahres. Das zwar Erlösung brachte, aber zugleich eine Ausdrucksform von Regression darstellte, zumal sich der Klient dann – wie er sagt – „kringelte“. Offensichtlich schwingt hierbei die frühere Devise des narzisstischen und neurotischen Selbst des Autors mit, die da lautete: „Wer weich wird, geht unter“. Das Abschiednehmen vom Therapeuten wird vom Autor als nahezu apokalyptisches Ereignis dargestellt, welches zu Verzweiflung und aus dieser heraus zur Regression führt. In der Reflexion wird das Thema der Therapiekosten angesprochen und der Wunsch des Klienten nach dem „Besonderssein“ und um „seinetwillen“ behandelt zu werden, auch wenn das Geld ausgeht. Dieser Wunsch löst Ängste von Trennung, Ablehnung und Entwertung aus. Silvia Prosquill
Maria Selvini Palazzoli / Luigi Boscolo / Gianfranco Cechin / Giuliana Prata: Paradoxon und Gegenparadoxon Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG2CTCFQUUQGEQPVTQRCTCFQUUQ /KNCPQ(GNVTKPGNNK
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ie 70er in Milano, der Hauptstadt der Mode und der Lombardei, das war eine wilde Zeit. Kapitalismus pur, Design, Chic und Glamour, andererseits legen fast täglich Streiks und Demonstrationen den Verkehr zu ebener Ebene und in der Luft lahm. Diskosound, Promiskuität und Hedonismus ungezügelt, andererseits thront die Kathedrale der Erzdiözese als mächtiges Bollwerk des Katholizismus inmitten der Stadt. Die Brigate Rosse entführen in Rom Aldo Moro und richten ihn hin, der Verleger Feltrinelli sprengt einen Hochspannungsmasten und sich selbst in die Luft, Armani und Versace üben sich in eleganter Konkurrenz, die Stadtregierung streng kommunistisch, andererseits sorgen Pasolini, Fellini, Visconti, Giorgio Strehler und Dario Fo für ein opulentes Klima der Kultur im Kino und auf der Bühne. Die Scala spielt Alban Bergs „Lulu“ in der Inszenierung von Patrice Chéreau, mit Pierre Boulez am Pult – und Alban Bergs „Wozzeck“ in der Inszenierung von Luca Ronconi, mit Claudio Abbado am Pult. Gesellschaftskritik mit Diademen und Parfum. Inmitten dieser chaotischen Alltäglichkeit und der unzähligen Bruchlinien baut 1972 eine Gruppe von sieben Analytikern und Psychiatern ein Centro per lo Studio della Famiglia auf und revoltiert gegen Rigidität und Er145
P lebte. Ein Loyalitätskonflikt wird an der Stelle deutlich, wo Moser eine Aufspaltung der Liebe für seinen Analytiker und der Bewunderung für den anderen (Forscher) erlebt. Diese Spaltung wird durch einige Stunden gelöst und die Reise nach Amerika zu „dem anderen“ wurde durchgeführt. An anderer Stelle beschreibt er den Moment des ersten Weinens zu Beginn des vierten Lehrjahres. Das zwar Erlösung brachte, aber zugleich eine Ausdrucksform von Regression darstellte, zumal sich der Klient dann – wie er sagt – „kringelte“. Offensichtlich schwingt hierbei die frühere Devise des narzisstischen und neurotischen Selbst des Autors mit, die da lautete: „Wer weich wird, geht unter“. Das Abschiednehmen vom Therapeuten wird vom Autor als nahezu apokalyptisches Ereignis dargestellt, welches zu Verzweiflung und aus dieser heraus zur Regression führt. In der Reflexion wird das Thema der Therapiekosten angesprochen und der Wunsch des Klienten nach dem „Besonderssein“ und um „seinetwillen“ behandelt zu werden, auch wenn das Geld ausgeht. Dieser Wunsch löst Ängste von Trennung, Ablehnung und Entwertung aus. Silvia Prosquill
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ie 70er in Milano, der Hauptstadt der Mode und der Lombardei, das war eine wilde Zeit. Kapitalismus pur, Design, Chic und Glamour, andererseits legen fast täglich Streiks und Demonstrationen den Verkehr zu ebener Ebene und in der Luft lahm. Diskosound, Promiskuität und Hedonismus ungezügelt, andererseits thront die Kathedrale der Erzdiözese als mächtiges Bollwerk des Katholizismus inmitten der Stadt. Die Brigate Rosse entführen in Rom Aldo Moro und richten ihn hin, der Verleger Feltrinelli sprengt einen Hochspannungsmasten und sich selbst in die Luft, Armani und Versace üben sich in eleganter Konkurrenz, die Stadtregierung streng kommunistisch, andererseits sorgen Pasolini, Fellini, Visconti, Giorgio Strehler und Dario Fo für ein opulentes Klima der Kultur im Kino und auf der Bühne. Die Scala spielt Alban Bergs „Lulu“ in der Inszenierung von Patrice Chéreau, mit Pierre Boulez am Pult – und Alban Bergs „Wozzeck“ in der Inszenierung von Luca Ronconi, mit Claudio Abbado am Pult. Gesellschaftskritik mit Diademen und Parfum. Inmitten dieser chaotischen Alltäglichkeit und der unzähligen Bruchlinien baut 1972 eine Gruppe von sieben Analytikern und Psychiatern ein Centro per lo Studio della Famiglia auf und revoltiert gegen Rigidität und Er145
P starrung der tradierten Psychoanalysefortschreibung. Zwei Männer, zwei Frauen therapieren – jeweils zu zweit, die anderen beiden hinter einem Einwegspiegel beobachtend und dann kommentierend – veritable Familien, zumeist drei Generationen. Sie arbeiten systemisch, sie arbeiten kurz und bündig – zehn Sitzungen im Abstand von jeweils einem Monat sind die neue Norm. Sie bereiten ihre Interventionen minutiös vor, sie diskutieren viele Stunden miteinander, sie betreten Neuland. Schizophrenie ist das Thema des Buches, gemeinsam verfasst von den vier Therapierenden. Erschienen ist das Buch (bei Feltrinelli) auf Italienisch 1975, deutsch 1977 (mittlerweile in der 11. Auflage), englisch 1978. Prima inter Pares (erstgenannt im Autorenkollektiv) ist Mara Selvini Palazzoli, die bereits im Jahr zuvor in London ein bahnbrechendes Werk über Anorexia nervosa vorgelegt hat, ebenfalls ein Behandlungsbericht des Mailänder Forschungszentrums, ebenfalls im familientherapeutischen Setting: „Self-Starvation“. Fünfter Autor von „Paradoxon und Gegenparadoxon“ war – freilich ungenannt – Paul Watzlawick, der Kärntner Spiritus Rector des Konstruktivismus, er selbst bei C. G. Jung in Zürich analytisch ausgebildet, der „uns durch seine Besuche und häufige Korrespondenz immer wieder angeregt und ermutigt hat“. Die Wertschätzung ist wechselseitig, am Backcover der deutschen Ausgabe wird Watzlawick zitiert, das Buch sei „ein understatement im britischsten Sinne des Wortes. [...] Hinter der Fassade des leichtfasslichen Stils steckt intellektuelle Brisanz. [... Die Verfasser] zeigen, wie die allen indoeuropäischen Sprachen inhärente Auffassung einer linearen Kausalität unweigerlich das Denken in klassische Bahnen zwingt und zur Zuschreibung von Verrücktheit oder Böswilligkeit an ein Individuum, den desginierten Patienten, führt.“ So lobt einer die anderen und vice versa, zur eternalen Glorie. Einig sind sich die Mailänder mit den Kollegen aus Palo Alto und Heidelberg, dass der Krankheitsbegriff per se veraltet und seit Jahrhunderten als probates Mittel zur Ausgrenzung und Abwertung genutzt wird, dass Störungen im Kontext entstehen, nur im Kontext verständlich sind und im Kontext behandelt zu werden haben, dass biologistisch-chemistische Behandlungsmethoden (i. e. Medikamente) vorrangig eine Unterdrückung der Symptomatik, aber nie eine Lösung des Problems darstellen. Der systemische Ansatz ist simpel und klar: Die präsentierte Störung gilt als bestmögliche Lösung in einer Konfliktsituation. Um die Störung zu behandeln, müssen wir den Konflikt bearbeiten. Durchaus analytisch gedacht, insofern kann die Systemik als (halblegitime) Tochter der Analyse durchgehen. All das, was heute gemeinhin als systemisches Erfolgsrezept gilt, ist – direkt oder indirekt, in großen oder kleinen Dosen – schon im Buch der Mailänder Gruppe vertreten: Therapie auf gleicher Augenhöhe, Konstruktivismus als Weltbild, Kybernetik als Erklärungsversuch, Wertschätzung, Umdeutung, zirkuläres Fragen, paradoxe Interventionen, Hausaufgaben, Arbeiten im Kontext der Gruppe, ein Team gleichberechtigter Therapeuten.
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P Kern des systemischen Arbeitens und des auch rasch legendären Milano Approach ist die enorme Beschleunigung der therapeutischen Arbeit. Die Dynamik eines Paares oder einer Familie ist – wenn die Therapeuten sich zurückzunehmen wissen und adäquate Interventionen parat haben – enorm, der Erkenntnisgewinn der Behandelten und die Prozesse in den Gruppen beträchtlich. „Paradoxon und Gegenparadoxon“ ist einerseits präzises Zeitdokument, verfasst von einem Kollektiv, experimentell und neugierig, mutig. Andererseits markiert das Werk die Öffnung klassisch-analytischer Erfahrungswerte aus der Einzeltherapie hin zur Dynamik systemischer Gruppen-, hier Familientherapie. Diese Synthese sichert dem Buch Marksteincharakter. Mit Schizophrenie haben sich viele therapeutische Neuerer intensiv befasst – Ivan Borzomomenyi-Nagy in New York, Luc Ciompi mit seiner Soteria in Bern, Tom Andersen mit seiner Vielstimmigkeit in Nordnorwegen, schon in den 50er Jahren Gregory Bateson mit seiner Palo-Alto-Gruppe, gar schon 1948 Carl Whitaker. Doch den Mailändern war es vorbehalten, das Standardwerk der neuen Sichtweisen zum Krankheitsbild vorzulegen. Grund und Anlass dieses immer wieder erneuerten Interesses dürfte darin liegen, dass die Behandlungserfolge der klassischen Analyse bei klassischer Schizophrenie – höflich formuliert – bescheiden waren und der Ehrgeiz des Therapeuten schon immer im Suchen der Alternative zur medikamentösen Ruhigstellung lag. Die Gründungsväter und -mütter der Systemischen Therapie waren in ihrer Mehrzahl solide analytisch ausgebildet – seien es Nathan Ackerman oder Salvador Minuchin in den Vereinigten Staaten, Mara Selvini Palazzoli oder Luigi Boscolo in Mailand, Helm Stierlin oder Fritz Simon in Heidelberg. Freilich waren die Fesseln der orthodoxen Auslegung zu sprengen, oder es war – wie Jacques Lacan es zeitgleich vorlebte – zu Freud’schen Wurzeln und Kernthemen zurückzukehren. Dogmatismus erzeugt Abspaltungen von der eigenen Kirche, so schmerzhaft der Prozess für alle Beteiligten sein mag. Zu Lebzeiten des Gründungsvaters waren es Adler, C. G. Jung, Fritz Perls, die neue Schulen gründeten oder zumindest andachten. In den 50er, 70er, 90er Jahren waren es – neben Frankl, den Behavioristen und Milton Erickson – vor allem die Systemiker und die Familientherapie, die Frischluft und neue Wege suchten. Heute gibt es – allein in Italien – elf Mara-Selvini-Institute zur Behandlung von Essstörungen, die systemische Beratung und Therapie erlebt – trotz Mangels an neuen Impulsen – heute eine veritable Welle der Akzeptanz und des Erfolges in ganz Europa und Lateinamerika, im klinischen Setting, aber auch in freier Praxis, in Coaching, Beratung, Wirtschaft, Politik, Medien, Sport. Die Mailänder Gruppe hat sich 1980 gespalten, Mara Selvini Palazzoli wurde 1985 von der American Association for Marriage and Family Therapy hoch dekoriert. Sie verstarb 1999 in Mailand. Boscolo therapiert und unterrichtet nach wie vor, Cecchin ist ebenfalls verstorben, 2004. Giuliana Prata hat sich zurückgezogen. 147
P Letztlich aber war dieses Buch auch Grundlage und Durchbruch für die Akzeptanz jener Bemühungen um Brief Therapy, die schon 1965 von Richard Fisch in Palo Alto explizit gefordert wurde und die heute als lösungsfokussierte Therapie weltweit fest etabliert ist. Denn wenn schwerste Störungen – wie Anorexia nervosa oder Schizophrenie – in zehn bis zwanzig Sitzungen seriös therapierbar sind, so sind „leichtere“ Störungen allemal in vergleichbarer oder kürzerer Dauer behandelbar. Diese Steigerungsform systemischen Arbeitens – Wunderfrage, Skalierung, Verzicht auf jede Diagnose – war im wilden Mailand der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts noch nicht bekannt. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben sie in Milwaukee institutionalisiert, Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd unterrichten sie heute in München. Christian Michelides
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Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG
as umfangreiche Material, das bei den Agni, die im tropischen Regenwald an der Elfenbeinküste leben, von Dezember 1965 bis Mai 1966 erhoben werden konnte, wurde in dem 1971 veröffentlichten Buch „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika“ verarbeitet. Im Unterschied zur Untersuchung über die Dogon, in deren Mittelpunkt die Erfassung der psychischen Struktur einzelner Personen stand, wird in der Studie über die Agni die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen besonders beachtet und die Stellung des Individuums im Rahmen seiner Kultur hervorgehoben. Ausgehend von den unterschiedlichen Bedingungen bei den Agni im Vergleich zu den Dogon kamen die Forscher zu der Annahme, dass sich auch bei der Psychologie der Agni tiefgreifende Unterschiede ergeben würden, und sie sahen darin auch eine „Herausforderung an die direkte Anwendung der psychoanalytischen Methode: Kann sie dazu beitragen, Menschen aus matrilinear organisierten Sozietäten zu verstehen, obzwar sie aus der Psychologie patrilinear geordneter entstanden ist und eine ihrer Grundkonzeptionen, der ödipale Konflikt, angeblich oder wirklich, ausschließlich der patriarchalen Familienorganisation entstammt?“ Diese Fragestellung wurde in ein übergeordnetes Forschungsziel eingebettet: Mit Hilfe der Ethnopsychoanalyse bei den Agni sollte ein Beitrag zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften geleistet werden, indem das Ineinandergreifen individueller und
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P Letztlich aber war dieses Buch auch Grundlage und Durchbruch für die Akzeptanz jener Bemühungen um Brief Therapy, die schon 1965 von Richard Fisch in Palo Alto explizit gefordert wurde und die heute als lösungsfokussierte Therapie weltweit fest etabliert ist. Denn wenn schwerste Störungen – wie Anorexia nervosa oder Schizophrenie – in zehn bis zwanzig Sitzungen seriös therapierbar sind, so sind „leichtere“ Störungen allemal in vergleichbarer oder kürzerer Dauer behandelbar. Diese Steigerungsform systemischen Arbeitens – Wunderfrage, Skalierung, Verzicht auf jede Diagnose – war im wilden Mailand der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts noch nicht bekannt. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben sie in Milwaukee institutionalisiert, Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd unterrichten sie heute in München. Christian Michelides
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Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG
as umfangreiche Material, das bei den Agni, die im tropischen Regenwald an der Elfenbeinküste leben, von Dezember 1965 bis Mai 1966 erhoben werden konnte, wurde in dem 1971 veröffentlichten Buch „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika“ verarbeitet. Im Unterschied zur Untersuchung über die Dogon, in deren Mittelpunkt die Erfassung der psychischen Struktur einzelner Personen stand, wird in der Studie über die Agni die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen besonders beachtet und die Stellung des Individuums im Rahmen seiner Kultur hervorgehoben. Ausgehend von den unterschiedlichen Bedingungen bei den Agni im Vergleich zu den Dogon kamen die Forscher zu der Annahme, dass sich auch bei der Psychologie der Agni tiefgreifende Unterschiede ergeben würden, und sie sahen darin auch eine „Herausforderung an die direkte Anwendung der psychoanalytischen Methode: Kann sie dazu beitragen, Menschen aus matrilinear organisierten Sozietäten zu verstehen, obzwar sie aus der Psychologie patrilinear geordneter entstanden ist und eine ihrer Grundkonzeptionen, der ödipale Konflikt, angeblich oder wirklich, ausschließlich der patriarchalen Familienorganisation entstammt?“ Diese Fragestellung wurde in ein übergeordnetes Forschungsziel eingebettet: Mit Hilfe der Ethnopsychoanalyse bei den Agni sollte ein Beitrag zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften geleistet werden, indem das Ineinandergreifen individueller und
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P gesellschaftlicher Kräfte mit den technischen und methodischen Mitteln der Psychoanalyse aufgezeigt wird, unter Einbeziehung eines dialektischmaterialistischen Gesellschaftsmodells. Die Verschränkung gesellschaftlicher und individueller Faktoren wird deutlich, wenn die historische Dimension seelischer Erlebnisse aufgezeigt wird, die Beziehung zwischen der Art der Ökonomie und der psychischen Struktur hergestellt oder die Art der Objektbeziehungen in Relation gesetzt wird zum Gesellschaftsgefüge. Die ethnopsychoanalytischen Beobachtungen und Untersuchungen, die in den Jahren 1954 bis 1971 in Westafrika gemacht wurden, haben zu Einsichten über bis dahin unerkannte oder zu wenig beachtete Zusammenhänge gesellschaftlicher Einrichtungen mit unbewussten Prozessen geführt, die sich geradezu aufdrängten. Das Ergebnis war, dass vor allem die Wirkungen der gesellschaftlichen Kräfte im Individuum zum Ausdruck kommen und im Vordergrund stehen und dass die biologischen Momente gegenüber den kulturellen Bedingungen zurücktreten. Die Wirkung der gesellschaftlichen Kräfte im Individuum wurde mit den Begriffen des „Gruppen-Ich“ und des „Clangewissens“ theoretisch gefasst, mit denen eine spezifische Ich- und Über-Ich-Entwicklung beschrieben wurde. Auch bei der Formierung der ödipalen Konflikte und der Aggression zeigten sich wesentliche Unterschiede zu Erfahrungen in der europäischen psychoanalytischen Praxis. Die psychoanalytischen Erfahrungen der Psychoanalytiker in Westafrika standen im Wechselverhältnis mit der psychoanalytischen Tätigkeit in der eigenen Gesellschaft. Die Erfahrung bei den Dogon und den Agni hat die Wahrnehmung für die Verhältnisse in der eigenen Gesellschaft geschärft. Diese Einsichten schufen die notwendige Distanz, um bei der psychoanalytischen Arbeit in der eigenen Kultur komplexe gesellschaftliche Prozesse zu erfassen und in die psychoanalytische Theorie und Praxis miteinzubeziehen. Auf der theoretischen Ebene wurde diesen Erfahrungen mit dem Modell der Anpassungsmechanismen des Ichs Rechnung getragen. Damit konnte die soziale Umwelt nicht mehr wie bisher bei Freud und in den Modellen der psychoanalytischen IchPsychologie als unveränderliche Größe angesetzt werden, sondern es war möglich, unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten und Verhältnisse in der Struktur und für die Funktion des Ichs zu studieren und so die Leistungen des Ichs in einer sich verändernden und auf es einwirkenden Umwelt zu bestimmen. Die Hindernisse bei der Ausarbeitung des Verfahrens lagen nicht auf der theoretischen Ebene oder in den Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie, die in ihren Ansätzen (etwa dem Konzept der Verdrängung oder der Auffassung des ÜberIchs), die Wirkung gesellschaftlicher Kräfte immer berücksichtigt hatten, sondern vielmehr in den Umständen, unter denen die psychoanalytische Forschung in der eigenen Kultur betrieben wurde. Der Ansatz, über die Anpassungsmechanismen des Ichs zur Psychoanalyse gesellschaftlicher Prozesse zu gelangen, hebt sich von anderen Versuchen dieser Art dadurch ab, dass er es mit den Mitteln der Psychoanalyse selbst, ihrer Me-
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P thode und Theorie, unter Beibehaltung des Trieb- und Konfliktmodells der Psychoanalyse, leistet. Die Psychologie des Ichs wurde so ausgebaut, dass das Wirken gesellschaftlicher Prozesse im Seelenleben des Einzelnen aufgeklärt werden konnte. Die „ethnopsychoanalytische“ Erweiterung der Psychoanalyse ermöglichte eine umfassendere psychoanalytische Untersuchung des Einzelnen in seiner Gesellschaft, Phänomene der Macht und Herrschaft rückten ins Blickfeld. Johannes Reichmayr
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Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel
Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika *CODWTI'WTQRÀKUEJG8GTNCIUCPUVCNV 'TUVCWUICDG<ØTKEJ#VNCPVKU
er Ausdruck „Ethnopsychoanalyse“ wurde erstmals von Georges Devereux bei seinen theoretischen Bemühungen verwendet, eine kulturübergreifende Psychiatrie und Psychotherapie zu konzipieren. Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff mit den psychoanalytischen Untersuchungen der Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin, Goldy ParinMatthèy und Fritz Morgenthaler verbunden. Die Entstehung der deutschsprachigen wie auch der französischen Tradition der Ethnopsychoanalyse ist im zeitgeschichtlichen und politischen Kontext der Kämpfe und Bewegungen gegen den Kolonialismus und der Zeit der Dekolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent zu sehen. Die Psychoanalytiker Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler haben bei ihren Feldforschungen bei den Dogon und Agni in Westafrika in den 1950er und 1960er Jahren erstmals die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode angewandt. Es gelang der Nachweis, dass sich die Psychoanalyse praktisch und theoretisch eignet, Angehörige eines außerhalb unserer europäischen Zivilisationsgeschichte stehenden traditionsgeleiteten Gesellschaftsgefüges im psychoanalytischen Sinne zu verstehen. Mit der Ethnopsychoanalyse wurde ein neues methodisches Paradigma geschaffen. Die psychoanalytische Technik wurde aus ihrem klinischen Setting gelöst und auf ethnologischem Untersuchungsgebiet als Forschungsmethode eingesetzt. Die Hauptinstrumente der Psychoanalyse, Übertragung und Gegenübertragung, die Bearbeitung der Widerstände und Deutung wurden bei den Gesprächen zur Einleitung von Psychoanalysen mit den Dogon in Mali in Westafrika auf ihrer dritten Forschungsreise (vom Dezember 1959 bis zum Mai 1960) erstmals genutzt. 1963 erschien die Studie „Die Weißen denken zuviel; Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika“. Das Forschungsziel bestand in der Überprüfung der Frage, ob sich die Technik der Psychoanalyse dazu
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P thode und Theorie, unter Beibehaltung des Trieb- und Konfliktmodells der Psychoanalyse, leistet. Die Psychologie des Ichs wurde so ausgebaut, dass das Wirken gesellschaftlicher Prozesse im Seelenleben des Einzelnen aufgeklärt werden konnte. Die „ethnopsychoanalytische“ Erweiterung der Psychoanalyse ermöglichte eine umfassendere psychoanalytische Untersuchung des Einzelnen in seiner Gesellschaft, Phänomene der Macht und Herrschaft rückten ins Blickfeld. Johannes Reichmayr
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Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel
Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika *CODWTI'WTQRÀKUEJG8GTNCIUCPUVCNV 'TUVCWUICDG<ØTKEJ#VNCPVKU
er Ausdruck „Ethnopsychoanalyse“ wurde erstmals von Georges Devereux bei seinen theoretischen Bemühungen verwendet, eine kulturübergreifende Psychiatrie und Psychotherapie zu konzipieren. Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff mit den psychoanalytischen Untersuchungen der Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin, Goldy ParinMatthèy und Fritz Morgenthaler verbunden. Die Entstehung der deutschsprachigen wie auch der französischen Tradition der Ethnopsychoanalyse ist im zeitgeschichtlichen und politischen Kontext der Kämpfe und Bewegungen gegen den Kolonialismus und der Zeit der Dekolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent zu sehen. Die Psychoanalytiker Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler haben bei ihren Feldforschungen bei den Dogon und Agni in Westafrika in den 1950er und 1960er Jahren erstmals die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode angewandt. Es gelang der Nachweis, dass sich die Psychoanalyse praktisch und theoretisch eignet, Angehörige eines außerhalb unserer europäischen Zivilisationsgeschichte stehenden traditionsgeleiteten Gesellschaftsgefüges im psychoanalytischen Sinne zu verstehen. Mit der Ethnopsychoanalyse wurde ein neues methodisches Paradigma geschaffen. Die psychoanalytische Technik wurde aus ihrem klinischen Setting gelöst und auf ethnologischem Untersuchungsgebiet als Forschungsmethode eingesetzt. Die Hauptinstrumente der Psychoanalyse, Übertragung und Gegenübertragung, die Bearbeitung der Widerstände und Deutung wurden bei den Gesprächen zur Einleitung von Psychoanalysen mit den Dogon in Mali in Westafrika auf ihrer dritten Forschungsreise (vom Dezember 1959 bis zum Mai 1960) erstmals genutzt. 1963 erschien die Studie „Die Weißen denken zuviel; Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika“. Das Forschungsziel bestand in der Überprüfung der Frage, ob sich die Technik der Psychoanalyse dazu
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P eignet, das Innenleben von Menschen zu verstehen, die in einem traditionsgeleiteten westafrikanischen Gesellschaftsgefüge leben, sowie Kenntnisse darüber zu erwerben, in welcher anderen Art und Weise sich bei ihnen das „Ich“ aus dem „Es“ entwickelt hat. „Der Sinn der Untersuchung ist der, Afrikaner so zu uns sprechen zu lassen, wie sie selber fühlen und denken, und sie dabei zu verstehen“ (S. 34). Paul Parin und Fritz Morgenthaler führten zusammen während mehrerer Monate mit dreizehn Dogon Serien von psychoanalytischen Gesprächen durch, pro Person zwischen 20 und 40 Sitzungen, insgesamt 350 Stunden. Von den Sitzungen wurden stenographische Protokolle verfasst, welche die „freien Assoziationen“ der Analysanden wiedergaben. Um diese richtig verstehen zu können, wurden neben den in der Literatur zugänglichen Kenntnissen über die Kultur und Gesellschaft der Dogon die Ergebnisse von 25 psychiatrischen Untersuchungen und die von Goldy Parin-Matthèy bei 100 Personen aufgenommenen Deutungen der Rorschachtafeln als nichtsprachliches projektives Erhebungsverfahren berücksichtigt. „Wir hofften, Afrikaner auf diese Weise besser zu verstehen, als es sonst möglich ist. Die psychoanalytische Methode kann geradeso auf Gesunde wie auf Menschen mit seelischen Störungen angewandt werden. In täglich wiederholten einstündigen Gesprächen und mit der besonderen Art, solche Gespräche zu führen, die man psychoanalytische Technik nennt, ist es oft möglich, das Innenleben eines Menschen in wenigen Wochen kennenzulernen. Die Deutungen, die ein Mensch den Farbklecksen auf den zehn Kartontafeln des Rorschachtests gibt, lassen, wenn man sie nach den Regeln der Kunst verarbeitet, Züge seiner Persönlichkeit erraten, die sonst nur eine lange Bekanntschaft und eine vertiefte Beobachtung enthüllen würden“ (S. 23). Aus diesen Erfahrungen mit der Anwendung der psychoanalytischen Methode bei den Dogon konnte abgeleitet werden, „dass die Psychologie des abendländischen Menschen nur einen Spezialfall der Möglichkeiten beschreibt, wie das menschliche Seelenleben beschaffen sein kann“ (S. 534). Johannes Reichmayr
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Frederick S. Perls: Das Ich, der Hunger und die Aggression Die Anfänge der Gestalttherapie. Sinneswachheit, spontane persönliche Begegnung, Phantasie, Kontemplation #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG'IQJWPIGTCPFCIITGUUKQP .QPFQP#NNGP7PYKP
ritz Perls war Psychiater und Psychotherapeut und gilt als einer der Begründer der Gestalttherapie. Sein in London erstmals veröffentlichtes Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ behandelt die Anfänge der Gestalttherapie. Obwohl er seiner Herkunft von der Psychoanalyse stets treu blieb, so zeigt schon der Titel des Buches, mit welchen Hauptgebieten und Meinungen Freuds er nicht übereinstimmte. Das erste Werk Perls erstreckt sich über drei große Kapitel, wobei der erste Teil den Titel „Holismus und Psychoanalyse“, der zweite „Geistig-seelischer Stoffwechsel“ und der dritte den Titel „Konzentrationstherapie“ hat. Zu Beginn des Buches kritisiert der Autor vor allem Freuds Libidotheorie und führt dafür unter anderem den Holismus von Jan Smuts an. Smuts formulierte den Holismus als eine zusammenhängende Theorie der Natur- und Geisteswissenschaften. Perls fand die ihm bekannten gestalttheoretischen Grundsätze wieder, welche allerdings bei Smuts zu einer ganzheitlichen Weltsicht geworden sind. Weiters beschreibt Perls im ersten Teil die seiner Meinung nach wichtige Bedeutung des Hungers und die der Aggression als lebenserhaltende Qualität. In der Gestalttherapie ist die Aggression ein positiver Begriff für die Fähigkeit, die Umwelt an sich selbst anzupassen. Wenn man aber anfängt, die Aggression als solche zu unterdrücken, kommt es zu einer negativen und damit zu einer ungerichteten und ziellosen Aggression. Der zweite Teil des Erstlingswerks von Perls widmet sich dem menschlichen Organismus und zeigt Kriterien für einen befriedigenden Austausch von Mensch und Umwelt und den geistig-seelischen Stoffwechsel auf. Dieser kann laut Perls gestört sein und dadurch Paranoia und Neurosen hervorbringen. Des Weiteren zeigt der Autor auf, dass das Essen und die Triebe, die für die Aufnahme und das Ausscheiden des Essens sorgen, eine wesentliche Bedeutung haben, da sie sich in Interaktion mit der Umwelt zu Funktionen eines gesunden Ichs entwickeln. Ein weiteres Thema in Kapitel 5 und 7 des 2. Kapitels besteht in der Introjektion, zu welcher Perls 1941 schreibt: „Das Thema von ‚Das Ich, der Hunger und die Aggression‘ muss für Freud inakzeptabel sein, weil es zur Assimilation führt. Fremdes wird zu einem Teil des Selbst und führt zu seinem Wachstum. Freuds Ego-Begriff ist die Akkumulation der Teile: Introjektionen.“ Als Introjektion wird die unverdaute oder unangepasste Aufnahme von Nahrung oder Normen angesehen. Menschen, die introjizieren, machen nach Meinung der Gestalttherapie keine Erfahrungen. Im letzten Teil beschreibt der Autor anhand etlicher praktischer Übungen seine entwickelte „Konzentrationstherapie“; er zeigt Techniken auf, wie diese bestmöglich anzuwenden ist. Es geht Perls bei seiner entwickelten 152
P Therapie nicht darum, die Symptomatik zu verstehen und erklären zu können, sondern darum, dass jeder einzelne Mensch lernt sich und seine Umwelt wieder wahrzunehmen, sich selbst „gewahr zu sein“ („awareness“), um zwischen dem unterscheiden zu können, was er wirklich wahrnimmt, und dem, von dem er bloß annimmt, es wahrzunehmen. Fritz Perls gehört zu den Mitbegründern der Gestalttherapie und in seinem Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ zeigen sich bereits trotz stetiger Treue zur Psychoanalyse die Ansätze zur später gegründeten Gestalttherapie sehr gut. Es gibt einen Einblick in das Leben und Denken des Gründervaters der Gestalttherapie. Wie die Psychoanalyse bezeichnet auch Perls später seine Gestalttherapie als Widerstands-Analyse, in der es um das Aufarbeiten der verschiedenen Widerstände geht, aufgrund derer man zu Kontakt, Einsicht und Veränderung gelangt. Auch wenn das Buch nicht immer leicht zu lesen ist (was sogar selbst Fritz Perls in seinem Vorsatz eingestehen muss), bietet „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ einen interessanten Einblick in den Übergang von der Psychoanalyse zur Gestalttherapie. Das Buch zeigt die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Gestalttherapie Fritz Perls auf und regt doch sehr zum Nachdenken und zu einer differenzierteren Sichtweise an. Vivien Langer
Nossrat Peseschkian: Psychosomatik und Positive Psychotherapie
Transkultureller und interdisziplinärer Ansatz am Beispiel von 40 Krankheitsbildern #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT
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m theoretischen Teil stellt der Autor – er ist der Begründer der Positiven Psychotherapie (PPT), einer tiefenpsychologisch orientierten Form der Psychotherapie – die Position dieser Psychotherapieform in Bezug zur Psychosomatik dar: Zentrales Thema ist die positive Deutung der Krankheit einerseits im Sinn von „positum“ (das Tatsächliche, Vorgegebene) und andererseits in der Umdeutung der Störung oder Krankheit hinsichtlich ihrer Funktion und des verdeckten Sinnes (und somit den damit verbundenen Ressourcen). Er bringt dann über eine orientalische Geschichte einen transkulturellen Vergleich zwischen westlicher und östlicher Sichtweise in der Psychosomatik. Im Weiteren wird sehr detailliert das Konfliktmodell der PPT dargestellt, das zwischen drei Konfliktarten unterscheidet: Aktualkonflikt (Lebensereignisse und Mikrotraumen sowie aktuelle Beziehungsmuster und Auslöser), Grundkonflikt (prägende Beziehungen und Konfliktmuster) und Schlüsselkonflikt (Dichotomie zwischen Höflichkeit als Ausdruck 153
P Therapie nicht darum, die Symptomatik zu verstehen und erklären zu können, sondern darum, dass jeder einzelne Mensch lernt sich und seine Umwelt wieder wahrzunehmen, sich selbst „gewahr zu sein“ („awareness“), um zwischen dem unterscheiden zu können, was er wirklich wahrnimmt, und dem, von dem er bloß annimmt, es wahrzunehmen. Fritz Perls gehört zu den Mitbegründern der Gestalttherapie und in seinem Buch „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ zeigen sich bereits trotz stetiger Treue zur Psychoanalyse die Ansätze zur später gegründeten Gestalttherapie sehr gut. Es gibt einen Einblick in das Leben und Denken des Gründervaters der Gestalttherapie. Wie die Psychoanalyse bezeichnet auch Perls später seine Gestalttherapie als Widerstands-Analyse, in der es um das Aufarbeiten der verschiedenen Widerstände geht, aufgrund derer man zu Kontakt, Einsicht und Veränderung gelangt. Auch wenn das Buch nicht immer leicht zu lesen ist (was sogar selbst Fritz Perls in seinem Vorsatz eingestehen muss), bietet „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ einen interessanten Einblick in den Übergang von der Psychoanalyse zur Gestalttherapie. Das Buch zeigt die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Gestalttherapie Fritz Perls auf und regt doch sehr zum Nachdenken und zu einer differenzierteren Sichtweise an. Vivien Langer
Nossrat Peseschkian: Psychosomatik und Positive Psychotherapie
Transkultureller und interdisziplinärer Ansatz am Beispiel von 40 Krankheitsbildern #WƂCIG(TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT
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m theoretischen Teil stellt der Autor – er ist der Begründer der Positiven Psychotherapie (PPT), einer tiefenpsychologisch orientierten Form der Psychotherapie – die Position dieser Psychotherapieform in Bezug zur Psychosomatik dar: Zentrales Thema ist die positive Deutung der Krankheit einerseits im Sinn von „positum“ (das Tatsächliche, Vorgegebene) und andererseits in der Umdeutung der Störung oder Krankheit hinsichtlich ihrer Funktion und des verdeckten Sinnes (und somit den damit verbundenen Ressourcen). Er bringt dann über eine orientalische Geschichte einen transkulturellen Vergleich zwischen westlicher und östlicher Sichtweise in der Psychosomatik. Im Weiteren wird sehr detailliert das Konfliktmodell der PPT dargestellt, das zwischen drei Konfliktarten unterscheidet: Aktualkonflikt (Lebensereignisse und Mikrotraumen sowie aktuelle Beziehungsmuster und Auslöser), Grundkonflikt (prägende Beziehungen und Konfliktmuster) und Schlüsselkonflikt (Dichotomie zwischen Höflichkeit als Ausdruck 153
P von Konfliktvermeidung und Angst und Ehrlichkeit als offener Ausdruck von Gefühlen und Aggression). Nach einer Darstellung der von der Krankheitsentstehungstheorie abgeleiteten Behandlungstechnik spannt der Autor den Bogen zu Theorie der PPT in der Psychosomatischen Medizin: Menschenbild, Grundfähigkeiten des Menschen (Liebes- und Erkenntnisfähigkeit), psychodynamisch wirkende Aktualfähigkeiten (Leistung, Kontakt, Zuverlässigkeit, Vertrauen, Sexualität etc.) und die vier Formen der Konfliktverarbeitung (über Körper/ Sinne, Leistung/Verstand, Kontakt/Tradition, Phantasie/Intuition) und andere spezifische Aspekte der PPT werden überblicksmäßig vorgestellt. Der theoretische Teil schließt mit einem Exkurs zur Arzt-Patient-Beziehung unter dem Aspekt der Aktualfähigkeiten. Im praktischen Teil zeigt der Autor ahand des fünfstufigen Vorgehens in der PPT (Beobachtung und Distanzierung – Inventarisierung – Situative Ermutigung – Verbalisierung – Zielerweiterung), wie die therapeutische Strategie der PPT ein integratives Vorgehen zwischen verschiedenen Psychotherapiesettings und dem Übergang zur Selbsthilfe ermöglicht. Die Darstellung von drei Dimensionen der Psychosomatik in der PPT und Aspekten der Gutachtenerstellung sowie ein Hinweis auf Krisenintervention (Schmerzpatientin) runden den praktischen Teil ab. Im zweiten Teil werden in den alphabetisch aufgeführten Krankheitsbildern insgesamt 39 psychosomatisch relevante Formen übersichtlich nach folgendem Schema dargestellt: Ressourcenorientierte Deutung der Erkrankung (zum Beispiel Herzinfarkt: die Fähigkeit, sich Belastungen und Risikofaktoren zu Herzen gehen zu lassen; Anorexia nervosa: die Fähigkeit, mit wenig Mitteln auszukommen) – Wissenschaftliche Definition(en) – Symptomatik – Transkultureller Ansatz und Epidemiologie – Literaturvergleich – Sprachbilder und Volksweisheiten – eine zutreffende (orientalische) Geschichte – Selbsthilfeanteil – Therapeutischer Anteil mit ausführlicher Falldarstellung – Spezifischer Patientenfragebogen. Dabei werden einige Fallbeispiele sehr ausführlich dargestellt: Anorexia nervosa und Bulimie, Angst und Depression, Asthma bronchiale und nervöses Atmungssyndrom, Diabetes mellitus, Herzphobie und Herzrhythmusstörungen, rheumatoide Arthritis und Weichteilrheumatismus ... und die restlichen in Kurzform, alle aber in derselben Systematik. Die gesunden Anteile des Patienten und die ressourcenbetonten Umdeutungen der Pathologie spielen in der PPT eine zentrale Rolle. Dadurch kann in besonderer Weise Selbstwertgefühl, Eigenverantwortung und -aktivität des Patienten gefördert werden, damit er seinen Platz im Beziehungsleben und im beruflichen Kontext erhalten bzw. erreichen kann: „Wenn du eine hilfreiche Hand suchst, dann suche sie am Ende deines eigenen Armes.“ Bei diesem von der Fachpresse und renommierten Kollegen (Battegay, Benedetti, König, Kutter) sehr positiv aufgenommen Werk (ursprünglich 1991 im Springer-Verlag erschienen) handelt es sich um ein Buch aus der Praxis für die Praxis – es könnte im Untertitel die Bezeichnung „Psychosomatikfibel“ führen, weil es didaktisch hervorragend aufgebaut und sehr anwenderbezogen geschrieben ist. Es ist nicht nur für Psycho154
P therapeuten und Psychosomatiker im engeren Sinn mit seinem konkret anwendbaren und auf den Einzelfall zugeschnittenen therapeutischen Instrumentarium interessant; die Anregungen der PPT für Psychosomatik und Psychohygiene werden auch für andere Fachkollegen und „gebildete Laien“ informativ und systematisch dargestellt. Dabei werden auch erfahrene Psychotherapeuten ihr Wissen erweitern können, denn Peseschkians PPT in Verbindung mit dem transkulturellen Ansatz ist besonders für die Behandlung der heutigen oft multikulturell sozialisierten Patienten ein besonders probates Verfahren: Es ist sowohl klinisch als auch theoretisch interessant, wie Peseschkian Elemente der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit jenen der lerntheoretisch orientierten Verhaltenstherapie kompatibel verbindet und das Selbsthilfepotential des Patienten in den Blickpunkt rückt. Bereits Hofstätter wies 1978 auf den Wert der PPT hin: „Die ... Methode besticht durch Verständlichkeit, leichte Anwendbarkeit und tiefgehende Wirkung. Mit ihr lassen sich Patienten aus allen sozialen Schichten behandeln, und sie ist auch transkulturell einsetzbar.“ Die PPT erfüllt die von Grawe (1994) postulierten vier Wirkprinzipien der Psychotherapie in hervorragender Weise („Therapiewürfel“): (1) Ressourcenaktivierung, (2) Problemaktualisierung, (3) Aktive Hilfen zur Problembewältigung, (4) Therapeutische Klärung. Peseschkian hat sein integratives psychotherapeutisches Konzept bereits viele Jahre vor der Diskussion um integrative Formen der Psychotherapie entwickelt! Die vorliegende Publikation ist ein Standardwerk zur Psychosomatik, dessen Handbuchcharakter eine rasche und präzise sowie praxisrelevante Information ermöglicht. Reinhard Larcher
Hilarion Petzold (Hrsg.): Psychotherapie & Babyforschung Band 2: Die Kraft liebevoller Blicke Säuglingsbeobachtungen revolutionieren die Psychotherapie 2CFGTDQTP,WPHGTOCPP
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as Feld der Psychotherapie insgesamt stand 1995 (im Jahr der Veröffentlichung dieses Buches) gerade vor vielerlei Neuentwicklungen, und auch im Bereich der Säuglingsforschung zeigten sich neue Ansätze, wobei in diesem Standardwerk der Schwerpunkt auf die entwicklungsbezogene Menschenforschung gelegt wird. Es geht darum, nicht mehr wie das alte Konzept „früher Störungen“ einseitige punktuelle Sichtweisen zu vertreten oder aus Longitudinalforschung nur teilweise einseitige Aspekte herauszuarbeiten, sondern die „Entwicklung in der Lebensspanne“ als Leitlinie (entwicklungsorientierte Psychotherapie) zu betrachten und erst in zweiter Linie auf die Pathoge155
P therapeuten und Psychosomatiker im engeren Sinn mit seinem konkret anwendbaren und auf den Einzelfall zugeschnittenen therapeutischen Instrumentarium interessant; die Anregungen der PPT für Psychosomatik und Psychohygiene werden auch für andere Fachkollegen und „gebildete Laien“ informativ und systematisch dargestellt. Dabei werden auch erfahrene Psychotherapeuten ihr Wissen erweitern können, denn Peseschkians PPT in Verbindung mit dem transkulturellen Ansatz ist besonders für die Behandlung der heutigen oft multikulturell sozialisierten Patienten ein besonders probates Verfahren: Es ist sowohl klinisch als auch theoretisch interessant, wie Peseschkian Elemente der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit jenen der lerntheoretisch orientierten Verhaltenstherapie kompatibel verbindet und das Selbsthilfepotential des Patienten in den Blickpunkt rückt. Bereits Hofstätter wies 1978 auf den Wert der PPT hin: „Die ... Methode besticht durch Verständlichkeit, leichte Anwendbarkeit und tiefgehende Wirkung. Mit ihr lassen sich Patienten aus allen sozialen Schichten behandeln, und sie ist auch transkulturell einsetzbar.“ Die PPT erfüllt die von Grawe (1994) postulierten vier Wirkprinzipien der Psychotherapie in hervorragender Weise („Therapiewürfel“): (1) Ressourcenaktivierung, (2) Problemaktualisierung, (3) Aktive Hilfen zur Problembewältigung, (4) Therapeutische Klärung. Peseschkian hat sein integratives psychotherapeutisches Konzept bereits viele Jahre vor der Diskussion um integrative Formen der Psychotherapie entwickelt! Die vorliegende Publikation ist ein Standardwerk zur Psychosomatik, dessen Handbuchcharakter eine rasche und präzise sowie praxisrelevante Information ermöglicht. Reinhard Larcher
Hilarion Petzold (Hrsg.): Psychotherapie & Babyforschung Band 2: Die Kraft liebevoller Blicke Säuglingsbeobachtungen revolutionieren die Psychotherapie 2CFGTDQTP,WPHGTOCPP
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as Feld der Psychotherapie insgesamt stand 1995 (im Jahr der Veröffentlichung dieses Buches) gerade vor vielerlei Neuentwicklungen, und auch im Bereich der Säuglingsforschung zeigten sich neue Ansätze, wobei in diesem Standardwerk der Schwerpunkt auf die entwicklungsbezogene Menschenforschung gelegt wird. Es geht darum, nicht mehr wie das alte Konzept „früher Störungen“ einseitige punktuelle Sichtweisen zu vertreten oder aus Longitudinalforschung nur teilweise einseitige Aspekte herauszuarbeiten, sondern die „Entwicklung in der Lebensspanne“ als Leitlinie (entwicklungsorientierte Psychotherapie) zu betrachten und erst in zweiter Linie auf die Pathoge155
P nese Bedacht zu nehmen. Natürlich ist hier das Interaktionsverhalten frühester Kindheit von entscheidender Bedeutung, welchem man in dieser „Wende“ mit diesem Werk Rechnung trägt. Die einzelnen Beiträge zeigen momentan aktuelle Forschungsberichte und die Möglichkeiten ihrer Umsetzung im moderneren psychotherapeutischen Kontext. Es ist somit möglich, ein integrierteres Bild von seelischen Störungen zu bekommen und auch tieferes, verbessertes psychotherapiewissenschaftliches Verständnis der störungsverursachenden Hintergründe zu erhalten, zum Beispiel eines je nachdem zu viel oder zu wenig erlebten frühkindlichen Interaktionverhaltens. Gelingende Beziehungen sind entwicklungsfördernd, misslingende Beziehungen sind entwicklungshemmend. Verminderter frühkindlicher Blickkontakt zeitigt auch ein Defizit an kommunikativer Fähigkeit. Aus einem wechselseitigen Anschauen, einander Erkennen und Wahrnehmen wird evident, dass Sein Mitsein ist. Die Sprache der Blicke ist über die gesamte Lebensspanne hin die Grundlage menschlicher Kommunikation. Man kennt auch die Volksweisheit: Der Blick in die Augen ist gleich ein Blick in die Seele. Der Mensch muss angeschaut werden, um zur Person zu werden. Dieses Muster empathisch-gelingender Interaktion ist folglich die Ausgangsbasis interaktionalen therapeutischen Tuns und erzieherischen Handelns. Daraus folgt wechselseitige Empathie und ihr großes heilendes Potential (ob in der ontogenetischen Entwicklung oder erst in der Psychotherapie am Patienten). Es wird klar, dass die Psychotherapie letztlich wirkt, weil es im Menschen Qualitäten zu wechselseitiger Hilfeleistung gibt, es zu heilender Beziehung und zu einem „sensitive caregiving“ kommt. Das frühkindliche (von allem Anfang an) vorliegende Blickverhalten, je nach Entwicklungsstufe in ein sich folgend weiterentwickelndes komplexeres Muster von Interaktionsverhalten (verbale und nonverbale Kommunikation), Verknüpfung emotionaler Beziehungen und kognitiven Qualitäten strukturiert, schafft ein gesamtes integratives Bild vom Menschen und auch einen wichtigen Brückenschlag zu klinischem Wissen. Das Buch begeistert in diesem neuen Paradigma einer integrativen entwicklungsorientierten Psychotherapie, zeigt Vertrauen in die heilenden Kräfte lebendiger zwischenmenschlicher Beziehung (persönlich bedeutsamer Beziehung – geradezu protektiver Beziehung), welches eben aus dem faszinierenden Bereich dieser modernen Babyforschung sich zusehends mehr und mehr manifestiert hatte. Es spricht auch weiter offene Fragen an, wie zum Beispiel, dass auf dieser Basis von den einzelnen Psychotherapieschulen ein gemeinsamer Weg in Richtung einer Psychotherapiewissenschaft gegangen wird, die sich an der Entwicklung des Lebens orientiert. Es ist in der langen Geschichte der zumeist longitudinalen Kindesforschung leider nie zu einer wirklich verbindend gleichen wissenschaftlichen Basis gekommen. Vereinzelt sind Forscher, so groß manche (wenige) auch geworden sind, in ihrem wissenschaftlichen Wirken im Laufe der (oft auch eigenen 156
P Entwicklung) immer mehr ganzheitlich geworden, haben aber eher selten den völligen Gleichklang mit anderen Kollegen in der betreffenden Science community gefunden. Auch sind in diesem Bereich der Wissenschaft oft „Modeströmungen“ vorherrschend gewesen, die die momentane Leitlinie vorgaben, an der sich die meisten Wissenschaftler orientiert hatten. Deswegen ist dieser neue Standpunkt von Hilarion G. Petzold et. al. ein in der Menschen- und Heilkundeforschung längst überfälliger und essentieller Beitrag. Ob er gleich direkt den Kindern zugutekommen mag oder den schon erwachsenen Patienten, dieser Ansatz vermag in der problematisch immer größer werdenden Anonym- beziehungsweise Egogesellschaft in Zukunft von großer Wichtigkeit werden. Heutzutage, in der Zeit exponentiell steigender Wissensexplosion und bis in (fast) alle Endwinkelchen ausdifferenzierter Disziplinen und Subbereichen, ist es wirklich entscheidend, dass man zugleich mit der kürzlich erstmalig erfolgten Begründung einer Psychotherapiewissenschaft (an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien) endlich auch zu einer schon längst überfälligen Synthese der Wissenschaft kommen musste. Auch die Möglichkeit, für sich den Überblick zu behalten, ist leider durch dieses (globale) explosive Wissenschaffen etwas in Mitleidenschaft gezogen worden (grenzwertig an der kortikalen Reizüberflutung). Deshalb muss erst eine breite Basis in der Lehre dieser Wissenschaft vorhanden sein, welche zuerst Studenten gelehrt wird, um dann auch eines Tages im Bewusstsein der Bevölkerung Platz zu finden. Im Idealfall (dessen Realisierung ich aber derzeit bezweifle) käme dann zum optimalen Zeitpunkt die entwicklungsorientierte Kindeserziehung gleich (von vornherein) als ein breiteres „Bildungsleitprogramm“ für (werdende) Eltern. Viele Eltern sind heutzutage glatt überfordert (wegen Zeitmangels oder aber auch in Wissens- und Kompetenzfragen). Wenn man in der Kinderpsychotherapie selbst die Chance bekommt, früh genug die Therapie anzusetzen, umso besser. Die wissenschaftlichen Befunde in diesem Buch werden gerade zur Zeit von den Neurowissenschaftlern eigentlich nur untermauert – man kann diese Entwicklungs-, Wahrnehmungs- und Beziehungsmuster sogar im pränatalen jungen Leben genauestens beschreiben und auch in den späteren Phasen entsteht dichtere (synaptische) neuronale Vernetzung, je öfter das Muster verwendet beziehungsweise beansprucht wird. Was nie gelernt beziehungsweise entsprechend praktiziert wurde, wird später auch kein neuronales Pattern zur Verfügung haben, um darauf aufbauen oder zurückgreifen zu können. Hilarion G. Petzold et. al. haben ein psychotherapeutisches Konzept vorgelegt, welches meines Erachtens vollends ein (neuro-)bio-sozio-psycho-logisch richtiges Fundament hat. Andreas Schmidt
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Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit
Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge WPF2ƂGIG #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG
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nstelle eines Vorworts stimmt der Psychoanalytiker und Psychiater Hartmut Radebold die Leserinnen und Leser mit einem Briefwechsel auf sein Buch ein, das den Erfahrungshintergrund seiner Generation aufrollt. Ein 63-jähriger Mann in leitender Funktion weint und weiß nicht warum, wenn im Jahr 2003 die Rede auf seine Kindheit kommt. Die folgenreichen Ereignisse der beiden Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise und des Dritten Reichs haben immer noch anhaltende psychische Nachwirkungen bei den in dieser Zeitspanne lebenden Generationen. Die Gruppe der möglicherweise betroffenen über 60-Jährigen ist nach wie vor groß: Sie umfasst derzeit etwa 24 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung bzw. fast ein Drittel der Erwachsenen. Hartmut Radebold betrachtet es jedoch als voreilig, bei unklarer Symptomatik der heute über 60Jährigen sofort „traumatisierende Kriegserfahrungen“ zu diagnostizieren, denn nicht jede traumatische Situation wirkt auf alle Menschen gleich. Radebold verfolgt mit seinem Buch die Absicht, Informationen über das als Folge des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit erlebte Leid sowie langfristige familiäre und gesellschaftliche Reaktionen bzw. die transgenerationelle Weitergabe darzustellen. Für die heute noch Lebenden ist es unumgänglich sich bewusst zu machen, was Deutschland als Reaktion erfuhr, um die bis heute spürbaren Folgen zu verstehen und „um ihr Leben im Altern zu ertragen“. Der Autor unterbreitet eine Vielzahl zusammengetragener Daten über das Tabuthema der Auswirkungen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs auf die deutsche Bevölkerung. Jeder achte männliche Deutsche starb, in den Ostgebieten sogar jeder Fünfte. Eine aktuelle Untersuchung geht von insgesamt 4,71 Millionen Todesfällen aus. Dabei fielen 45 % der 20- bis 25-Jährigen und 56 % der 25- bis 30-Jährigen. „Die Gefallenen hinterließen mehr als 1,7 Millionen Witwen, fast 2,5 Millionen Halbwaisen und etwa 100.000 Vollwaisen.“ Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als 11 Millionen deutsche Soldaten in 12.000 Kriegsgefangenenlagern in 80 Staaten verstreut. Geschichtliche Ereignisse sind für die Betroffenen auch gleichzeitig eine individuelle Erfahrungsgeschichte, die sie in unterschiedlichen Lebensphasen mit unterschiedlicher eigener Beteiligung erleben. So sind etwa die Geburtsjahrgänge 1920 bis 1924 als Erste intensiv der Erziehungspolitik der Nationalsozialisten ausgeliefert, nachdem sie ihre Kindheit in der Weltwirtschaftskrise verbracht hatten. Als sie gerade die Schule verlassen oder ihre ersten Arbeitsplätze antreten, trifft sie der Zweite Weltkrieg. Viele heiraten daher frühzeitig und gründen eine Familie, bevor die Männer einrücken. Die Geburtsjahrgänge 1925 bis 1929 sind vollständig den Jugendorgani-
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R sationen des Deutschen Reiches ausgesetzt. Auch sie müssen später aktiv am Krieg teilnehmen. Viele werden verschleppt und interniert. Die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1934 wachsen bereits durchgehend während des Dritten Reiches auf. Sie erleben Bombenangriffe und teilen die furchtbaren Erlebnisse ihrer Mütter, insbesondere Flucht, Vertreibung und Gewalt. Diese Ereignisse waren mit Gefühlen wie Angst, Panik, Bedrohung, Hilflosigkeit, Verlorensein, Resignation, Apathie bis zur inneren Erstarrung verbunden. Das psychische Empfinden der damaligen Kinder war jedoch in Anbetracht der schrecklichen Erfahrungen der Erwachsenen eher Nebensache. Nach Kenntnis von Hartmut Radebold haben sich weder die Betroffenen noch die etwa 30 bis 40 Prozent keineswegs Betroffenen damals oder in späteren Jahren ausgetauscht. Sie denken, alle hätten die gleichen Erfahrungen wie sie selbst gemacht. Frauen und Männer schwiegen gegenüber ihren Ehepartnern und beide jedenfalls gegenüber ihren Kindern. Die in der Regel seelisch alleingelassenen Kinder reagierten mit Abwehrmechanismen wie Spaltung, Bagatellisierung, Verkehrung ins Gegenteil bis zur völligen Verdrängung. „Besonders die Jungen hatten sich gemäß nationalsozialistischer Indoktrination und (auch familiärer) Ideologie ‚tapfer‘, ‚mutig‘, ‚ohne Rücksicht auf sich selbst‘ sowie ‚ohne Gefühle zu zeigen‘ zu verhalten. Erlebte Gewalt, sogar Vergewaltigungen und eigene Verbrechen, werden selbst heute noch sachlich und ohne Gefühlsregung erzählt, während Zuhörer innerlich erstarren.“ Die psychischen und psychosozialen Folgen der Ereignisse wurden erst spät und zunächst an den erwachsenen Überlebenden des Holocausts und deren Nachkommen erforscht, seit wenigen Jahren bei den Soldaten der Siegermächte. Radebold stützt sich vorwiegend auf Ergebnisse aus Psychotherapien, Alltagsbeobachtungen und neuen Studien. Er zeigt, dass bestimmte „Schrullen“ und ich-syntone Verhaltensweisen älterer Menschen einen wahrscheinlichen Zusammenhang mit belastenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen haben. „Nichts wegwerfen können“, „essen, was auf dem Teller ist“, sparen an Heizung, Beleuchtung und Ausgaben für die eigene Bequemlichkeit, Schwierigkeiten zu trauern usw. waren als Bewältigungsstrategien in der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Überleben notwendig und sinnvoll, schränken jedoch das Gefühlsleben und die gesamte Lebensqualität ein. Radebold plädiert dafür, in sämtlichen Sozialberufen bei der Begegnung mit Älteren zeitgeschichtlich zu denken. Er vermittelt Kenntnisse über Aufgabenstellung und unterschiedliche Hilfsmittel in verschiedenen Arbeitsgebieten. Die abschließenden Kapitel des Buches beschäftigen sich mit der Psychotherapie Älterer, der Arbeit in Paar-, Familien- sowie Sexualberatungsstellen, mit Seelsorge und mit Supervision. Hartmut Radebold bringt ebenso Beispiele und Vorschläge für die allgemeine medizinische Versorgung, wie er charakteristische Phänomene aus der institutionellen und der ambulanten Pflege beschreibt. Das Fazit: „Unabhängig vom Lebensalter haben wir eine Geschichte, sind wir Geschichte und verkörpern wir Geschichte – für uns selbst und in der familialen Weitergabe.“
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R Dieses wunderbar klar und verständlich formulierte Buch ist sowohl Fachlektüre für Professionelle als auch spannender Lesestoff für alle, die sich für die zeitgeschichtlichen Aspekte im Umgang mit älteren Menschen interessieren. Hartmut Radebold präsentiert den Erfahrungshintergrund der Kriegsgenerationen aus einer neuen Perspektive. Das Buch ist ein Kontrapunkt zu der Flut von Mythen, die seit Jahren über die Massenmedien transportiert werden. Es zeigt anhand von Fallbeispielen und gut lesbaren Schicksalsschilderungen, welche bis heute andauernden Langzeitfolgen und Störungsbilder sich sowohl aus der Erziehungspolitik der Nationalsozialisten als auch aus den Traumatisierungen der Kriegs- und Nachkriegszeit entwickeln konnten. Radebold rückt das Bild über die leidvollen eigenen Erfahrungen der Deutschen zurecht: Es sind dies nicht Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert, die unter „schrecklich, jedoch längst vergangen“ abzulegen wären. Radebold deckt die verdrängten Folgen auf, kritisiert den Mangel an Forschungsarbeiten der „Psych-Disziplinen“ und macht eindeutige Aussagen: Die beschädigenden und traumatisierenden Erlebnisse führten zu individuellen und familiären psychischen Folgen, die bis heute in verdrängter Form bestehen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass viele Berufsgruppen, genauso wie Familien, mit diesen Folgen zu tun haben. Deshalb müssen gerade heutzutage bewusst Trauerprozesse einsetzen. Hartmut Radebold bringt neue Fakten, die für das Erkennen von Problemzusammenhängen und das Meistern von Konflikten nützlich sind, ebenso wie er profunde Anleitungen zur Betreuung und Behandlung von älteren Menschen gibt. Man wünscht sich, dass dieses Buch zahlreichen Menschen die Augen öffnet und dadurch viele Betroffene, vor allem die still Leidenden, in Hinkunft mehr Verständnis, Empathie und Aufmerksamkeit erhalten. Manuela Taschlmar
Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQ CPCN[VKUEJGT8GTNCI
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tto Rank war Psychoanalytiker und bis zum Erscheinen seines Buches „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ ein enger Vertrauter Sigmund Freuds. Rank sah in Freud seinen Mentor und widmete dieses Buch daher auch „dem Erforscher des Unbewussten, Schöpfer der Psychoanalyse“. Ranks Werk führte aber schon bald nach Publizierung zum Zerwürfnis zwischen dem jungen Schüler und seinem großen Lehrer, da der Autor in seinem Buch zwar wie Freud die Geburt als die „prägende Erfahrung 160
R Dieses wunderbar klar und verständlich formulierte Buch ist sowohl Fachlektüre für Professionelle als auch spannender Lesestoff für alle, die sich für die zeitgeschichtlichen Aspekte im Umgang mit älteren Menschen interessieren. Hartmut Radebold präsentiert den Erfahrungshintergrund der Kriegsgenerationen aus einer neuen Perspektive. Das Buch ist ein Kontrapunkt zu der Flut von Mythen, die seit Jahren über die Massenmedien transportiert werden. Es zeigt anhand von Fallbeispielen und gut lesbaren Schicksalsschilderungen, welche bis heute andauernden Langzeitfolgen und Störungsbilder sich sowohl aus der Erziehungspolitik der Nationalsozialisten als auch aus den Traumatisierungen der Kriegs- und Nachkriegszeit entwickeln konnten. Radebold rückt das Bild über die leidvollen eigenen Erfahrungen der Deutschen zurecht: Es sind dies nicht Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert, die unter „schrecklich, jedoch längst vergangen“ abzulegen wären. Radebold deckt die verdrängten Folgen auf, kritisiert den Mangel an Forschungsarbeiten der „Psych-Disziplinen“ und macht eindeutige Aussagen: Die beschädigenden und traumatisierenden Erlebnisse führten zu individuellen und familiären psychischen Folgen, die bis heute in verdrängter Form bestehen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass viele Berufsgruppen, genauso wie Familien, mit diesen Folgen zu tun haben. Deshalb müssen gerade heutzutage bewusst Trauerprozesse einsetzen. Hartmut Radebold bringt neue Fakten, die für das Erkennen von Problemzusammenhängen und das Meistern von Konflikten nützlich sind, ebenso wie er profunde Anleitungen zur Betreuung und Behandlung von älteren Menschen gibt. Man wünscht sich, dass dieses Buch zahlreichen Menschen die Augen öffnet und dadurch viele Betroffene, vor allem die still Leidenden, in Hinkunft mehr Verständnis, Empathie und Aufmerksamkeit erhalten. Manuela Taschlmar
Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP<ØTKEJ+PVGTPCVKQPCNGT2U[EJQ CPCN[VKUEJGT8GTNCI
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tto Rank war Psychoanalytiker und bis zum Erscheinen seines Buches „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ ein enger Vertrauter Sigmund Freuds. Rank sah in Freud seinen Mentor und widmete dieses Buch daher auch „dem Erforscher des Unbewussten, Schöpfer der Psychoanalyse“. Ranks Werk führte aber schon bald nach Publizierung zum Zerwürfnis zwischen dem jungen Schüler und seinem großen Lehrer, da der Autor in seinem Buch zwar wie Freud die Geburt als die „prägende Erfahrung 160
R für die spätere Entwicklung“ jedes Einzelnen sah, aber darüber hinaus aufgrund des Themas des Geburtstraumas ein völlig neues, von den Theorien Freuds abweichendes psychoanalytisches Theorie- und Praxiskonzept präsentierte. Das Buch unterteilt sich in elf Kapitel, welche unter anderem Titel wie „Die infantile Angst“ (3. Kapitel), „Die neurotische Reproduktion“ (5. Kapitel), „Die religiöse Sublimierung“ (8. Kapitel), „Die philosophische Spekulation“ (10. Kapitel) oder auch „Die psychoanalytische Erkenntnis“ (11. Kapitel) tragen, um hier nur ein paar zu nennen. Den Kern dieses Buches bildet die Angst; den Ursprung oder den Beginn, sprich die Ur-Angst, findet diese in der Geburt, wenn das Kind aus dem Mutterleib herausgepresst wird. Diese plötzliche und gewaltsame Trennung zwischen Mutter und Kind führt zu einem Trauma des Neugeborenen. Dieses „mehr oder weniger schwere Geburtstrauma“ bezeichnet Otto Rank als Ursprung aller Angstkrisen und Angstsituationen im Laufe der weiteren Entwicklung. Außerdem war er der Meinung, dass der durchlebte Schock der Trennung den Menschen ein Leben lang kennzeichnet und prägt und jeder Einzelne unbewusst nur ein Ziel hat, nämlich zum Ursprung, sprich zum Mutterleib, zurückzukehren. Der Autor verleiht daher mit seiner Theorie des Geburtstraumas der Mutter und der Mutter-Kind-Beziehung eine völlig neue, sprich tragendere und wichtigere Rolle, als diese bis zu diesem Zeitpunkt innehatte, da sich die traditionelle Psychoanalyse ja bekanntlich an der Vaterbeziehung orientierte. Heute weiß man, dass eine gute und intensive Mutter-KindBeziehung, vor allem in den ersten Lebensjahren, wichtig und fördernd für die gesamte weitere Entwicklung des Kindes ist. Damals stand für die Psychoanalyse eine starke und dominante Vaterfigur im Vordergrund. Mit dieser neuen Rolle der Mutter legte Rank den Grundstein für die weitere Entwicklung der Wichtigkeit der Mutter in der Psychoanalyse. In seinem Buch beschreibt und bearbeitet Rank also das Thema der präödipalen Phase, aber auch das Thema des Ödipuskomplexes selbst. Da der Autor der Geburt und der Beziehung der Mutter zu ihrem Kind eine neue Bedeutung gibt, müsse auch die Bedeutung des Ödipuskomplexes in Freuds Theorie und seinen Ansätzen, seiner Meinung nach, neu überdacht werden. Weitere Ideen und Themen Ranks in diesem Werk sind andere Angstkrisen, wie zum Beispiel das natürliche „Entwöhnen und Gehen“ jedes Kindes, welches auch seinen Ursprung in der Geburt, der Ur-Angst findet. Auch bearbeitet der Autor die Themen des Settings einer Therapie und der Träume und Phantasien der Patienten. Er war wie Freud der Ansicht, dass das Festlegen des Endes einer analytischen Therapie von Vorteil sein könne, meinte aber auch, dass die Trennung zwischen Analytiker und Analysiertem am Ende der Therapie das Geburtstrauma des Patienten wieder zu Tage fördern würde, da für ihn diese Trennung die Ablösung des Patienten von seiner Mutter symbolisiere. 161
R Das Werk Otto Ranks „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ ist ein Klassiker der psychoanalytischen Literatur, auch wenn es anfangs (oder vielleicht gerade deswegen) auf viel Widerstand seitens der orthodoxen Psychoanalytiker stieß und es auch einige Zeit in Vergessenheit geriet. Heute kann man aber sagen, dass dieses Buch von Ideen geprägt und bestückt war, die seiner Zeit einfach voraus waren. Gegenwärtig sind in der modernen Psychoanalyse einige Theorien und Ideen Ranks verankert, für welche die klassische Psychoanalyse zum damaligen Zeitpunkt noch nicht offen gewesen ist, welche aber heute als unentbehrlich gelten. Otto Rank hat einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung und für ein neues Verständnis der Psychoanalyse geleistet und gilt heute unter anderem als Begründer der Kurztherapie. Vivien Langer
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Wilhelm Reich: Charakteranalyse #WƂCIG-ÒNP-KGRGPJGWGT9KVUEJ 'TUVCWUICDG9KGP5GZRQN
s gibt nur wenige Gelegenheiten, innerhalb eines einzigen Buches ein Vierteljahrhundert rasant voranschreitender Forschungsentwicklung in der Form eines Primärtextes versammelt zu sehen – Wilhelm Reichs (1897–1957) „Charakteranalyse“ ist eine davon. Von 1924 bis 1930 hatte Reich das sogenannte technische Seminar in Wien geleitet, in dem das noch vage Verhältnis von psychoanalytischer Theorie und Technik in schonungslosen Diskussionen problematischer Fälle unter Analytikerkollegen schärfer entwickelt werden sollte, solcher Fälle also, die der analytischen Kur Widerstand leisteten oder trotz scheinbarer Kooperation nicht von ihr profitierten. Den ersten Teilen der „Charakteranalyse“ ist dieser Entstehungskontext an der dialektischen Entwicklung des Arguments und der sicheren Verfügung über Fallmaterial deutlich anzusehen. Der erste Abschnitt – Technik – gerät wesentlich zu einem Plädoyer für das Primat der Widerstandsdeutung vor der Symptomdeutung. Alles andere sei ein technischer Fehler, der die Analysen in Sackgassen führe, weil zu frühe, das heißt nicht von der Widerstandsanalyse vorbereitete Deutungen unbewussten Materials zu wenig affektive Kraft hätten und in „chaotische“ Analysen ausmündeten. Mit der Widerstandsanalyse kann man nicht früh genug einsetzen, mit Symptomdeutungen nicht vorsichtig genug sein. Die Widerstandsanalyse ist die Via Regia, um den Patienten überhaupt für die Symptomanalyse fähig zu machen. „Ungesucht und unerwartet“ ergibt sich dadurch ein Weg zur Analyse des Charakters;
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R Das Werk Otto Ranks „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ ist ein Klassiker der psychoanalytischen Literatur, auch wenn es anfangs (oder vielleicht gerade deswegen) auf viel Widerstand seitens der orthodoxen Psychoanalytiker stieß und es auch einige Zeit in Vergessenheit geriet. Heute kann man aber sagen, dass dieses Buch von Ideen geprägt und bestückt war, die seiner Zeit einfach voraus waren. Gegenwärtig sind in der modernen Psychoanalyse einige Theorien und Ideen Ranks verankert, für welche die klassische Psychoanalyse zum damaligen Zeitpunkt noch nicht offen gewesen ist, welche aber heute als unentbehrlich gelten. Otto Rank hat einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung und für ein neues Verständnis der Psychoanalyse geleistet und gilt heute unter anderem als Begründer der Kurztherapie. Vivien Langer
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Wilhelm Reich: Charakteranalyse #WƂCIG-ÒNP-KGRGPJGWGT9KVUEJ 'TUVCWUICDG9KGP5GZRQN
s gibt nur wenige Gelegenheiten, innerhalb eines einzigen Buches ein Vierteljahrhundert rasant voranschreitender Forschungsentwicklung in der Form eines Primärtextes versammelt zu sehen – Wilhelm Reichs (1897–1957) „Charakteranalyse“ ist eine davon. Von 1924 bis 1930 hatte Reich das sogenannte technische Seminar in Wien geleitet, in dem das noch vage Verhältnis von psychoanalytischer Theorie und Technik in schonungslosen Diskussionen problematischer Fälle unter Analytikerkollegen schärfer entwickelt werden sollte, solcher Fälle also, die der analytischen Kur Widerstand leisteten oder trotz scheinbarer Kooperation nicht von ihr profitierten. Den ersten Teilen der „Charakteranalyse“ ist dieser Entstehungskontext an der dialektischen Entwicklung des Arguments und der sicheren Verfügung über Fallmaterial deutlich anzusehen. Der erste Abschnitt – Technik – gerät wesentlich zu einem Plädoyer für das Primat der Widerstandsdeutung vor der Symptomdeutung. Alles andere sei ein technischer Fehler, der die Analysen in Sackgassen führe, weil zu frühe, das heißt nicht von der Widerstandsanalyse vorbereitete Deutungen unbewussten Materials zu wenig affektive Kraft hätten und in „chaotische“ Analysen ausmündeten. Mit der Widerstandsanalyse kann man nicht früh genug einsetzen, mit Symptomdeutungen nicht vorsichtig genug sein. Die Widerstandsanalyse ist die Via Regia, um den Patienten überhaupt für die Symptomanalyse fähig zu machen. „Ungesucht und unerwartet“ ergibt sich dadurch ein Weg zur Analyse des Charakters;
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R denn es stellt sich heraus, dass in jeder Analyse charakterneurotische Widerstände auftreten, das heißt eine relativ ich-syntone Abwehr gegen die Analyse. Jene können – und hier liegt eine weitere wesentliche Botschaft Reichs – nicht nur inhaltlicher, sondern formaler Natur sein. Ja, die Psychoanalyse hat bisher das Inhaltliche auf Kosten des Performativen weit überschätzt; sie muss dem Was der Mitteilung das Wie zumindest gleichberechtigt zur Seite stellen. Denn in der Art des Sprechens, Blickens, der Körperhaltung, der Höflichkeit etc. bieten sich wichtige Anhaltspunkte für die Widerstandsanalyse. Die landläufige Konzentration auf das Inhaltliche ist eine Abwehr der Analytiker, die die Idylle des unproblematischen, positiv übertragenden Patienten nicht durch Interventionen in seine Art des Sprechens stören wollen. In beiden genannten Punkten: dem Primat der Widerstandsanalyse und der Performativität, wird Reich zum Mitbegründer der modernen psychoanalytischen Technik, eine Leistung, die zunächst auch in der analytischen Welt nicht bestritten wurde. Im Widerstand des Patienten gegen den Therapeuten erschließt sich also sein Charakter und nur über dessen Analyse ist das Symptom anzugehen. Reich verwendet im zweiten Abschnitt Theorie der Charakterbildung, den Charakterbegriff in krassem Gegensatz zu schöngeistigen und bürgerlichen Konventionen: Der Charakter des Kranken gehört selbst zur Neurose, hat sich auf neurotischer Basis entwickelt; neurotische Symptome sind die Spitze eines Eisberges, der sich unter der Wasserlinie auf einer wesentlich größeren charakterlichen Reaktionsbasis ausruht; der Charakter ist nichts anderes als ein narzisstischer Schutzapparat, der von der die etablierte Homöostase bedrohenden Analyse aktiviert wird und mit dem es der Analytiker zuerst und zuvorderst als Widerstand zu tun bekommt. Reich kreiert an dieser Stelle den Begriff des Charakterpanzers und beschreibt diesen als einen Ausdruck erstarrter Konfliktgeschichte: Im Konflikt zwischen Triebwünschen (Reich ist diesbezüglich ganz auf Inzestwünsche und Ödipuskonflikt eingeschworen) und der realen Versagung ihrer Befriedigung schlägt sich die Abwehr der Wunschimpulse durch das Ich in Erstarrungen in Haltung, Verhalten und Ausdruck nieder. Charakter ist also Abwehr gegen intensive Gefühle; ein Panzer gegen innere und äußere Gefahren, dessen Grad an Verhärtung und Unbeweglichkeit den Unterschied zwischen realitätstüchtiger und neurotischer Charakterstruktur ausmacht. Im Charakterpanzer ist die affektive Besetzung des Ausgangskonfliktes gebunden; nur wenn es gelingt, die starre Charakterhaltung zu deuten und aufzulösen, kommen auch die erstarrten Gefühle wieder in Bewegung. Das zunächst noch metaphorisch gemeinte Bild des Panzers wird für Reich später immer konkreter. In der zweiten (1944) und dritten (1948) Auflage, bei der er den gesamten Block III. Von der Psychoanalyse zur Orgonbiophysik hinzufügt, spricht er von einer funktionellen Identität von Charakterpanzer und erhöhtem Muskeltonus bzw. von einer funktionellen Einheit von neurotischem Charakter und muskulärem Dystonus. Noch einmal und noch deutlicher fährt er gegen die gängige psychoanalytische Deutungspraxis auf: Diese ist so durch Inhalte und Wortsprache – durch 163
R das Was – narkotisiert, dass ihr das Wesentliche entgeht, wie nämlich das Lebendige selbst durch den Körper des Menschen spricht. Der Fluss dieser lebendigen biologischen Energie, der Sexualenergie, ist in der überwiegenden Mehrheit der Menschen gestört. Analog zur Panzerung des Ichs durch den Charakter entdeckt Reich eine muskuläre Panzerung, die sich quer zur längs der Körperachse fließenden Orgonenergie in sieben Ringen anordnet. Als Charakterhaltung wird nun der Gesamtausdruck eines Organismus verstanden. Jede Bewegung ist Ausdrucksbewegung, deren Bedeutung sich als Eindruck des Bewegungsausdrucks erschließt. Reich ist zu dieser Zeit nicht nur über die Psycho- und auch bereits über die Charakteranalyse in Richtung Orgontherapie hinausgeschritten, er hat auch zunehmend den klinischen Kontext in Richtung auf einen gesellschaftpolitischen verlassen. Dies wird besonders deutlich in einem 1945 entstandenen und der Auflage von 1948 hinzugefügten Subkapitel: Faschismus und Weltkrieg sind darin für Reich epidemischer Ausdruck der emotionellen Pest. Wie die Neurose ist auch sie biopathisch; im Gegensatz zur Neurose wendet sie sich aber nicht primär gegen sich selbst, sondern gegen andere. Um derartige Pestausbrüche zu verhindern, ist eine über individuelle Psychotherapie hinausgehende gesellschaftliche Neurosenprophylaxe nötig, vor allem eine neue Sexualpolitik. Was 1933 schon angeklungen ist, wird immer deutlicher ausgesprochen: „Der groteske Widerspruch in der Struktur des heutigen Menschen ist eine Folge der vernichtenden Sexualökonomie der Gesellschaft, der er unterworfen ist“. Mit seiner Forderung, Triebansprüche nicht nur aus der Verdrängung zu befreien, sondern auch ihrer naturgemäßen Befriedigung zuzuführen und das behinderte Geschlechtsleben von der Pubertät an zu befreien, gerät Reich in immer schärfere Gegnerschaft zu den Erziehungs- und Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Beide Entwicklungen – die sexualpolitische und die orgontherapeutische – missfielen von Anfang an auch der um ihre gesellschaftliche Anerkennung besorgten Analytikercommunity, die in den 20er Jahren den eigenen Ansatz weitgehend desexualisiert hatte; 1934 wurde Reich aus der internationalen Vereinigung ausgeschlossen. Dennoch finden sich auch in den späteren Überarbeitungen Formulierungen wie „Freud hat uns verstehen gelehrt“ bzw. das Bestreben, die eigenen Argumente als konsequente und empirische begründete Weiterentwicklung Freud’scher Einsichten darzustellen. („Etwas anderes kann Freud nicht gemeint haben.“) Vielleicht konnte sich Reich auf das revolutionäre Terrain nur vorwagen, sich nur deswegen so weit aus dem Fenster lehnen, weil er sich auf so festen Grundlagen wusste: auf der Basis der Freud’schen Lehre, die er durch konsequente, immer empirisch belegte Weiterentwicklung vorangetrieben hatte – ein eiliger Entdecker, der nur seinen Beobachtungen treu bleiben und auf die Lügen der Zeit und auf die Kleingeister keine Rücksicht nehmen wollte, die schließlich seine Bücher, inklusive der „Charakteranalyse“ verbrennen und den missliebigen Autor ins Gefängnis stecken werden. Thomas Slunecko und Nora Ruck 164
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Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus
Die Entdeckung des Orgons. Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie -ÒNP-KGRGPJGWGT9KVUEJ 'TUVCWUICDG6JGHWPEVKQPQHVJGQTICUO 6JGFKUEQXGT[QHVJGQTIQP 0GY;QTM1TIQPG+PUVKVWVG2TGUU
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m Jahr 1942 veröffentlicht Wilhelm Reich dieses Werk in den USA unter dem Titel „The Function of the Orgasm (The Discovery of the Orgon)“. Im Jahr 1969 erscheint es in der deutschen Übersetzung, in der es auch zu einem Standardwerk der „sexuellen Revolution“ der 68er-Generation im deutschen Sprachraum wird. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und in der Folge der Wiederaufbauphase, die ganz im Zeichen wirtschaftlichen Aufschwungs und professioneller Effizienz stand, wandte sich die 68er-Generation gegen die rein ökonomischen und anpassungsorientierten Ziele ihrer Väter. Einerseits ging es um die Verstrickung und den Anteil der Elterngeneration an den Verbrechen des Nationalsozialismus, geleitet von den Fragen: Was habt ihr getan? Warum habt ihr das nicht verhindert? Andererseits ging es gegen die Tradition von Disziplinierung und gegen die unkritische Anpassung an gegebene Werte. Ein wesentlicher Eckpfeiler dieser Tradition war die Haltung zur Sexualität: Sexuelle Bedürfnisse wurden verleugnet, verurteilt, ausschließlich unter dem Blickwinkel von Selbstbeherrschung, Verzicht und Fortpflanzung gesehen. Die Entdeckung der Arbeiten von Wilhelm Reich eröffnete neue Möglichkeiten. Die Sehnsucht nach Glück, das Drängen nach Erleben von körperlicher Lust, das Bedürfnis nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und das Bedürfnis nach Genuss und Lebensfreude fanden hier theoretische Fundierung. In diesem Werk setzt sich Wilhelm Reich als Naturwissenschaftler, als Arzt und als Psychotherapeut mit dem neurotischen Elend auseinander. Es geht ihm nicht nur um die Erforschung der Grundlagen und Ursachen seelischen Leidens, sondern auch um die Darlegung von Zielen der Heilung, um Definitionen seelischer Gesundheit, letztlich um die Fragestellung: Was heißt es, ein Mensch zu sein, und wie erreichen wir es, ein erfülltes Leben zu führen? Dieses Werk ist „kein Lehrbuch, eher eine Erzählung, … wie sich … Probleme und Lösungen aneinander reihten, dass nichts ersonnen werden konnte und dass alles sein Dasein, dem so merkwürdigen Gang wissenschaftlicher Logik verdankt“, schreibt Reich in der Einführung und er erhebt damit den Anspruch, die Wirklichkeit erkannt zu haben auf der Suche nach Wahrheit. Er beschreibt seine Erfahrungen als junger Mediziner in Wien, als begeisterter Anhänger und Mitarbeiter der Psychoanalyse in der Zeit ihrer frühen Entwicklung. Von Anfang an beharrt er auf selbständigem Denken, auf eigenständiger Tätigkeit und Forschung und er sucht die Auseinandersetzung in fachlichen Kreisen und in der Öffent-
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R lichkeit. Die internationale psychoanalytische Vereinigung kann sich dem nicht stellen und schließt ihn aus. Wilhelm Reich ist ein Theoretiker der Lust. Er legt dar, dass es die menschliche Natur ist, die zum Lusterleben drängt: „Die natürlichen Triebe sind biologische Tatsachen, nicht aus der Welt zu schaffen und grundsätzlich nicht zu ändern. Der Mensch braucht, wie alles Lebende, zunächst Stillung des Hungers und sexuelle Befriedigung.“ Seine Beschreibung des Zusammenhangs von psychischem Erleben und physischer Natur eröffnet eine neue Perspektive im Feld der Psychotherapie. Er geht von der Biologie als der Grundlage menschlicher Existenz aus: „Ich hatte beim Studium der Orgasmusfunktion gelernt, dass es unzulässig ist, im körperlichen Bereich nach dem Muster des Seelischen zu denken. Jedes seelische Geschehen hat neben einer kausalen Gesetzlichkeit noch einen Sinn in der Beziehung zur Umwelt. Dem entsprach die psychoanalytische Deutung. Doch im Bereich des Physiologischen gibt es keinen solchen Sinn. Es kann keinen geben ohne dass man eine überirdische Macht wieder einführt. Das Lebendige funktioniert bloß, es hat keinen ‚Sinn‘“. Das psychische Erleben wird gespeist von diesen biologischen Grundlagen, die sich in einem Drängen nach Erfüllung, in einer Erhöhung eines Spannungszustandes äußern. Die Lösung dieses Spannungszustandes ist an das Wirken in der Außenwelt geknüpft. Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Reichs Erkenntnissen ist bei weitem nicht erschöpft und auch heute von Bedeutung. Auch wenn die Befreiung von Einschränkungen des Sexuallebens in vielen Bereichen erreicht wurde, ist das Streben nach Lust in anderer Weise normiert und tabuisiert: Das Sexual- und Liebesleben wird unter dem Vorzeichen des Erfolgs und der Anpassung geführt; es wird versucht, Vorgaben und Anforderungen zu folgen, statt einen eigenen, persönlichen, individuellen Weg der Erfüllung zu finden. Auch heute gilt Wilhelm Reichs Feststellung „Die seelische Gesundheit hängt von der orgastischen Potenz ab, das heißt vom Ausmaß der Hingabeund Erlebnisfähigkeit am Höhepunkt der sexuellen Erregung im natürliche Geschlechtsakt. Ihre Grundlage bildet die unneurotische, charakterliche Haltung der Liebesfähigkeit … Die Heilung der seelischen Störungen fordert in erster Linie die Herstellung der natürlichen Liebesfähigkeit. Sie ist von sozialen Bedingungen ebenso abhängig wie von psychischen“. Elisabeth Vykoukal
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Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse
Geschichte, Konzepte, Anwendungen 8QNNUVÀPFKIGØDGTCTDGKVGVG0GWCWƂCIG)KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDGWPVGTFGO6KVGN'KPHØJTWPIKPFKG'VJPQRU[EJQCPCN[UG (TCPMHWTVC/(KUEJGT6CUEJGPDWEJ
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igmund Freud hat in seiner Arbeit „Totem und Tabu“ (1912/13) den ersten Versuch unternommen, psychoanalytische Ideen und Erkenntnisse auf das Gebiet der Ethnologie anzuwenden. Diese Auseinandersetzung hat verschiedene Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Ethnologie hervorgebracht, die in diesem Buch nachgezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht die Darstellung der Ethnopsychoanalyse der „Zürcher Schule“, die zu den wichtigen selbständigen Weiterentwicklungen der Psychoanalyse im deutschsprachigen Raum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zählt. Diese Einführung in die Ethnopsychoanalyse besteht aus einem wissenschaftshistorischen Abschnitt, einem zweiten Teil, der sich mit der Entstehung und Entwicklung der Ethnopsychoanalyse in fremden Kulturen befasst und einem Teil über ethnopsychoanalytische Untersuchungen in der eigenen Kultur. Das Buch beginnt mit der Darstellung der wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion um Sigmund Freuds „Totem und Tabu“ und der Debatte zwischen dem Psychoanalytiker Ernest Jones, dem Ethnologen Bronislaw Malinowski und dem Ethnologen und Psychoanalytiker Géza Róheim. Dann verlagert sich der Schauplatz der Darstellung von Europa nach den Vereinigten Staaten, die während der dreißiger Jahre zum neuen Zentrum der Psychoanalyse wurden. Hier entstand die durch psychoanalytische Ideen und Methoden beeinflusste „Culture and Personality“-Forschung und eine Richtung der psychoanalytischen Ethnologie in der Nachfolge Géza Róheims. Nach diesem historischen Teil wird die Entwicklung der Ethnopsychoanalyse vor dem geistes- und zeitgeschichtlichen Hintergrund Europas in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt. In ihrer Anfangsphase blieben für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Ethnologie die von Sigmund Freud 1912/1913 veröffentlichte Arbeit „Totem und Tabu“ und seine darin dominierende evolutionistische Sichtweise und vergleichende Methode bestimmend. Vor allem handelt es sich weitgehend um eine Interpretation ethnologischer Materialien auf der Grundlage psychoanalytischer Einsichten in die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten des individuellen Seelenlebens, als deren Mittelpunkt der Ödipuskomplex galt. Die Jones-Malinowski-Kontroverse wurde Mitte der zwanziger Jahre ausgetragen. Bronislaw Malinowski stellte die von den Psychoanalytikern postulierte Universalität des Ödipuskomplexes durch ethnologische Beobachtungen in Frage. Darauf sahen sich die Psychoanalytiker gezwungen, empirische Arbeiten aufzunehmen und ihre Thesen durch eigene Feldforschungen zu stützen.
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R Mit Géza Róheim, der erstmals psychoanalytisch orientierte Beobachtungen in außereuropäischen Kulturen durchgeführt hat, wird die spekulative psychoanalytische Kulturinterpretation und -theorie allmählich durch ein empirisches Vorgehen abgelöst. Róheim blieb bis zu seinem Tod (1953) der maßgebliche Exponent einer psychoanalytischen Ethnologie; seine Erklärung der Kultur beschränkte sich allerdings auf biologische (triebbedingte) und psychologische Faktoren. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die amerikanische Ethnologie (Cultural Anthropology) wird am Beispiel der „Culture and Personality“Forschung dargestellt, die sich ab Mitte der dreißiger Jahre durch die enge Zusammenarbeit von Psychoanalytikern und Ethnologen ergeben hat. Diese Richtung stellte die jeweiligen sozio-kulturellen Gegebenheiten als bestimmende Faktoren für das Individuum und seine Entwicklung in den Vordergrund; sie ist mit den Namen der Psychoanalytiker Abram Kardiner, Erik Erikson sowie der Ethnologen Ralph Linton, Cora Du Bois und Margaret Mead und zahlreichen anderen verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der „Culture and Personality“-Forschung ist die Anwendung der Psychoanalyse auf die Ethnologie in den Vereinigten Staaten vor allem in der von Géza Róheim 1947 gegründeten Reihe „Psychoanalysis and the Social Sciences“ zu verfolgen. Von Werner Muensterberger und Bryce Boyer wurde diese Edition unter dem Titel „The Psychoanalytic Study of Society“ fortgeführt. Einige Arbeiten von Autoren, die auch in dieser Reihe publizierten (Werner Muensterberger, Georges Devereux, Bryce und Ruth Boyer und Vincent Crapanzano) werden im Buch präsentiert. In Europa, und hier vor allem im deutschsprachigen Raum, haben drei Züricher Psychoanalytiker als Erste Studien zur Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft vorgelegt, deren Daten mit der psychoanalytischen Technik gewonnen wurden. Der Bedeutung dieses Ansatzes entsprechend, nimmt die Darstellung des ethnopsychoanalytischen Ansatzes von Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy einen bevorzugten Platz ein. In eigenen Kapiteln wird das Vorgehen bei den Untersuchungen von Maya Nadig in der Gesellschaft der Otomi-Bäuerinnen und von Florence Weiss, Fritz Morgenthaler und Marco Morgenthaler bei den Iatmul in Papua-Neuguinea geschildert. Die in einem weiteren Kapitel skizzierten Arbeiten von Lise Tripet, Markus Weilenmann, Claudia Roth, Christian Maier, Hans Bosse und Sigrid Awart zeigen verschiedene Möglichkeiten der Anwendung ethnopsychoanalytischer Konzepte. Auch der dritte Teil „Ethnopsychoanalyse in der eigenen Kultur“ beginnt mit den Arbeiten von Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy und skizziert ihre praktischen und theoretischen Bemühungen, von den ethnopsychoanalytischen Erfahrungen in fremden Kulturen ausgehend, bestimmte Modifikationen und Erweiterungen der psychoanalytischen Theorie und Praxis vorzunehmen, ethnopsychoanalytische Gesichtspunkte auch bei Untersuchungen in der eigenen Gesellschaft zu berücksichtigen und die psychoanalytische Wissenschafts- und Kulturkritik zu vertiefen. 168
R Um die Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Ethnologie zu erproben, erwies sich der Einsatz von psychoanalytischen Methoden und Techniken am fruchtbarsten, insbesondere das psychoanalytische Gespräch, und die Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Objekt. Die Subjektivität und der gesellschaftliche Standort des Forschers oder der Forscherin bleiben bei der Aufnahme und der Verarbeitung der ethnologischen Daten von zentraler Bedeutung. Wissenschaftsgeschichtlich wurde die Tradition der Ethnopsychoanalyse daraufhin untersucht, wie sich in ihr das Verhältnis von Forscher und Untersuchtem verändert hat, bis es schließlich der Ethnopsychoanalyse gelang, ihre Untersuchungen nach den Regeln der psychoanalytischen Methode und Technik durchzuführen. Im dritten Teil wird auch auf den epistemiologischen und methodenkritischen Ansatz von Georges Devereux eingegangen. Seine Frage nach der Subjektivität des Forschers ist aktuell. Auf diese Aktualität wird in einer Reihe von Forschungen hingewiesen. Maya Nadig hat mit Mitarbeiterinnen von 1988 bis 1991 eine Studie zur Frauenkultur in der eigenen Gesellschaft durchgeführt. Ihre Arbeit wird ebenso wie die von Mario Erdheim ausgearbeiteten Elemente einer ethnopsychoanalytischen Wissenschaftskritik und seine Überlegungen zur ethnopsychoanalytischen Kulturtheorie in eigenen Kapiteln dargestellt. Diese und weitere Untersuchungen von Klaus Ottomeyer, Gesa Koch-Wagner, César Rodriguez Rabanal, Sudhir Kakar, Ursula Hauser und Ruth Waldvogel zeigen, dass sich die Durchdringung und Vermittlung der Erfahrungen von Psychoanalytikern und Ethnologen zu fruchtbaren praktischen und theoretischen Forschungen in der eigenen Kultur verbinden lassen und bei Fragestellungen in der Sozialpsychologie und Zeitgeschichte Anwendung finden. Seit dem ersten Erscheinen der Einführung in die Ethnopsychoanalyse im Jahr 1995 liegen die Schwerpunkte der Entwicklungen innerhalb der Ethnopsychoanalyse nicht allein auf dem Gebiet der Forschung, sondern auch auf der klinischen Praxis, die vor allem auf Erfahrungen bei der interkulturellen psychotherapeutischen Behandlung mit Asylsuchenden mit psychischen Beeinträchtigungen basieren und in einer Reihe von Veröffentlichungen in den letzten Jahren zum Ausdruck kommen. In den Kapiteln Ethnopsychoanalyse und interkulturelle analytische Psychotherapie und Klinische Ethnopsychoanalyse in Frankreich wird auf diese Anwendung der Ethnopsychoanalyse hingewiesen. Der lexikalische vierte Teil bringt Kurzbiographien zu Personen, die in der Geschichte der Verbindung von Psychoanalyse und Ethnologie eine bedeutende Rolle gespielt haben und auf dem Gebiet der Ethnopsychoanalyse und interkulturellen analytischen Psychotherapie arbeiten. Informationen über Zeitschriften, Institutionen und die Internetpräsenz der Ethnopsychoanalyse werden zusammengestellt. Im vierten Teil ist auch eine Gesamtbibliographie der psychoanalytischen, ethnopsychoanalytischen und kulturkritischen Arbeiten von Paul Parin abgedruckt. Alfred Pritz 169
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Arnold Retzer: Systemische Paartherapie Konzepte – Methode – Praxis #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG
n den vier Hauptkapiteln seines 340 Seiten umfassenden Buches spannt der Autor einen Bogen von einem philosophischen Diskurs zum Thema Liebe und einer differenzierten systemtheoretischen Grundlegung systemischer Paartherapie hin zu einer komplexen Methodik in der Arbeit mit Paaren. Ausgangspunkt sind Fragen zur Form von Liebesbeziehungen als sinnstiftende Kommunikationssysteme und die Liebesmythen sowie ihre Funktion als Kontext Problem erzeugender und Problem lösender Bedeutungsgebung. Bei der Herausarbeitung der Liebesmythen bedient sich Retzer soziologischer, philosophischer, literarischer und historischer Quellen. Intimität wird aus einer system- und differenztheoretischen Perspektive beschrieben. Die exklusive und inklusive Funktion von Liebesmythen wird als dynamisierendes Element im Paarsystem hervorgehoben. Liebesbeziehung und Paarbeziehung werden dabei als sich unterscheidende Sinnsysteme definiert, die, auf unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedeutungsgebungen aufbauend, im Versuch der Verknüpfung sich als Herausforderung in der Gestaltung von Beziehungen darstellen. Dabei werden die Widersprüchlichkeiten soziokultureller Anforderungen und individueller Erwartungen sowie subjektiven Erlebens ebenso beachtet, wie auch Ideen konstruiert, die zeigen, wie sich ein Ausweg aus diesem Dilemma durch eine nachhaltige Veränderung des Mythos Liebe selbst entwickeln kann. Wie kann es Paaren gelingen, die unmögliche Liebe im Rahmen von Paarbeziehung zu leben und wie scheitern sie daran? Sein zweites Kapitel überschreibt der Autor mit „Das Kunsthandwerk des systemischen Paartherapeuten“ und beschreibt hier sein grundlegendes Verständnis psychotherapeutischen Handelns als künstlerische und kreative Herausforderung. Der Akt ist psychotherapeutisches Handeln, die Perspektive das ästhetische Kunstwerk. Aus der Sicht von Retzer kann nur solides Handwerk gute Dienste leisten. Die Methodik wird aus dem systemtheoretischen Diskurs heraus entwickelt. Aspekte des Verstörens, zirkulärer lösungsorientierter Befragung, das Konzept der Neutralität, Markierungen des paartherapeutischen Settings sowie die Kunst der Triangulation als paartherapeutische Intervention stehen dabei im Mittelpunkt. In diesem Kapitel kommen auch die langjährigen Erfahrungen in der paartherapeutischen Praxis des Autors zum Ausdruck. Die Darstellung von zwei paartherapeutischen Konsultationen unterlegt und verknüpft hier die vorweg fokussierten Methoden und demonstriert den Theorie-Praxis-Transfer, der sich auch in den folgenden Abschnitten wiederfindet. Das Kapitel endet mit der Beschreibung systemischer Paartherapie als Übergangsritual und Strategien des Scheiterns von PaartherapeutInnen in der Paartherapie. Über die Auseinandersetzung im dritten Abschnitt des Buches mit den Phänomenen Sex, Affären und Konflikt (Konfliktkultur) in Paarbezie170
R hungen und dem Stellenwert von Paartherapie im jeweiligen Problemfeld gelangt der Autor zum letzten Kapitel, welches mit „Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen“ übertitelt ist. Subjektive Vorstellungen von Paarbeziehung und damit verbundene Ziele in unterschiedlichen Lebensphasen werden Fragen zur Entwicklung von Paarbeziehung gegenübergestellt und damit verbunden. Themen wie Partnerwahl, Elternschaft, Alter und Tod werden hier berührt. Die abschließende Perspektive zeigt sich in der Herausforderung zur Umwandlungsfähigkeit von Paaren. Mit aller Bescheidenheit wird im Klappentext des vorliegenden Fachbuchs dieses als ein Informationsbuch für alle, die sich mit Paaren beschäftigen; ein Nachdenkbuch für alle, die über die eigene Paarbeziehung reflektieren; ein Lehrbuch für diejenigen, die Paartherapie lernen wollen oder schon durchführen; ein Anregungsbuch für alle, die mit dem Phänomen Liebe und Paarbeziehung immer noch nicht fertig sind, beschrieben. Fazit: Dieses Buch erfüllt alle diese Ankündigungen und noch mehr. Es fordert den Leser nicht nur heraus, sein Denken und Handeln in Bezug auf Paartherapie zu überprüfen, sondern dieses sogar zu korrigieren. Zudem ist dieses Buch nicht nur ein Buch, welches versucht, Theorie – Methodik systemischer Paartherapie zu entwickeln, sondern es ist ein sprachlich ästhetisches Werk. Stringent in der Theorieentwicklung und stringent in der Ableitung paartherapeutisch methodischen Handelns. Retzer reduziert von der ersten bis zur letzten Seite Komplexität und lichtet das Dickicht eigener Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen. Auftauchende Fragen werden mit Hilfe des Buches und unter Begleitung der Konzepte der modernen System- und Kommunikationstheorie zu beantworten versucht. Eine komplexe Theorie und Methodik der systemische Paartherapie wird konstruiert, die mögliche Willkür therapeutischen Handelns im Fokus. Es werden keine Rezepte vermittelt, keine Kampfansagen und moralisierenden Solidaritätskundgebungen. Dank Arnold Retzer verfügen wir über ein anspruchsvolles Buch für PraktikerInnen. Über den formalen Diskurs hinausgehend, erzählt das Buch von Liebes- und Paargeschichten und wird zu einem Lese-Buch für PsychotherapeutInnen. Es erzählt von Paaren mit ihren Hoffnungen, Visionen, ihren Sorgen und Besonderheiten – manchmal Verrücktheiten. Die Praxis bleibt nicht außen vor, wird integriert und für den Betrachter nachvollziehbar gemacht. Systemisch wird nicht zum modischen Etikett, sondern zur nachvollziehbaren Referenz. Ein bemerkenswerter Bogen wird gespannt, der den Leser vielleicht auch deshalb fesselt, weil Bekanntes mit Unbekanntem und neugierig Machendem verknüpft wird. Manchmal kann der/die Leser/in nicht umhin zu schmunzeln. Es ist ein Buch, das sich auch humorvoll einem emotional ernsten Thema widmet. Auch wenn dem Konzept der Neutralität in diesem Buch ein bedeutungsvoller Platz eingeräumt wird, kommt man nicht umhin, dieses Buch 171
R parteilich zu empfehlen. Dies alles macht dieses Buch zu einem nicht wegzudenkenden Basiswerk der systemischen Theorien und Methodenbildung für in Ausbildung stehende wie auch fertige PsychotherapeutInnen und zu einem Meisterwerk systemischer Grundlagenliteratur. Siegfried Alexander Henzl
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Fritz Riemann: Grundformen der Angst
Eine tiefenpsychologische Studie #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV s#WƂCIGWPVGTFGO6KVGN)TWPFHQTOGPFGT#PIUVWPFFKG #PVKPQOKGPFGU.GDGPU 'TUVCWUICDG
ieses Buch ist in vier große Kapitel unterteilt. Riemann beschäftigt sich in diesen mit den schizoiden, den zwanghaften, den depressiven und den hysterischen Persönlichkeiten. Er beleuchtet für jeden Persönlichkeitstypus sein Verhalten in der Liebe und die Einstellung zur Aggression, weiters wird der lebensgeschichtliche Hintergrund betrachtet und werden Beispiele für die jeweiligen Erlebniswelten erbracht. Riemann beschreibt die depressiven Persönlichkeiten als diejenigen, welche Angst vor der Selbstwerdung, vor der Individuation haben. Sie erkennen aber nur die Verlustangst, die mit einer wachsenden Selbstständigkeit und Selbstfindung einhergeht. Jede Eigenständigkeit isoliert uns ein Stück von den Anderen, die depressive Persönlichkeit erlebt dies aber schon als Verlustangst, weil sie es nur als Entfremdung sieht. Die schizoide Persönlichkeit wird als kühl, distanziert und kontaktscheu dargestellt. Zwischen der Umwelt und ihr selbst klafft ein breites Loch, die Angst vor Nähe und Hingabe lässt den Menschen aber mehr und mehr vereinsamen. Gefühle von Zuneigung und Sympathie werden als gefährlich erlebt. Im darauf folgenden Kapitel beschreibt Riemann die zwanghaften Persönlichkeiten als diejenigen, welche ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis haben. Ihnen schreibt er die Angst vor Veränderung, Wandlung und Vergänglichkeit zu. Auch treten hier Fehlleistungen, wie zum Beispiel ein Versprechen, durch die verdrängten Impulse besonders häufig auf. Die hysterischen Persönlichkeiten beschreibt der Autor als Menschen mit einer Unfähigkeit, Bedürfnisspannungen zu ertragen, jeder Wunsch, jeder Impuls sollte sofort befriedigt werden, egal welche Konsequenzen zu tragen sind. In allen Kapiteln wird großer Wert darauf gelegt, alle Erklärungen mit praktischen Beispielen zu unterstreichen, um sie so dem Leser besser verständlich zu machen. Durch die klare Strukturierung ist dieses Buch besonders gut verständlich. Die Unterteilung der einzelnen Kapitel ist immer die gleiche, so ist es hier einfach, die einzelnen Persönlichkeitstypen auch untereinander
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R parteilich zu empfehlen. Dies alles macht dieses Buch zu einem nicht wegzudenkenden Basiswerk der systemischen Theorien und Methodenbildung für in Ausbildung stehende wie auch fertige PsychotherapeutInnen und zu einem Meisterwerk systemischer Grundlagenliteratur. Siegfried Alexander Henzl
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Fritz Riemann: Grundformen der Angst
Eine tiefenpsychologische Studie #WƂCIG/ØPEJGP'TPUV4GKPJCTFV s#WƂCIGWPVGTFGO6KVGN)TWPFHQTOGPFGT#PIUVWPFFKG #PVKPQOKGPFGU.GDGPU 'TUVCWUICDG
ieses Buch ist in vier große Kapitel unterteilt. Riemann beschäftigt sich in diesen mit den schizoiden, den zwanghaften, den depressiven und den hysterischen Persönlichkeiten. Er beleuchtet für jeden Persönlichkeitstypus sein Verhalten in der Liebe und die Einstellung zur Aggression, weiters wird der lebensgeschichtliche Hintergrund betrachtet und werden Beispiele für die jeweiligen Erlebniswelten erbracht. Riemann beschreibt die depressiven Persönlichkeiten als diejenigen, welche Angst vor der Selbstwerdung, vor der Individuation haben. Sie erkennen aber nur die Verlustangst, die mit einer wachsenden Selbstständigkeit und Selbstfindung einhergeht. Jede Eigenständigkeit isoliert uns ein Stück von den Anderen, die depressive Persönlichkeit erlebt dies aber schon als Verlustangst, weil sie es nur als Entfremdung sieht. Die schizoide Persönlichkeit wird als kühl, distanziert und kontaktscheu dargestellt. Zwischen der Umwelt und ihr selbst klafft ein breites Loch, die Angst vor Nähe und Hingabe lässt den Menschen aber mehr und mehr vereinsamen. Gefühle von Zuneigung und Sympathie werden als gefährlich erlebt. Im darauf folgenden Kapitel beschreibt Riemann die zwanghaften Persönlichkeiten als diejenigen, welche ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis haben. Ihnen schreibt er die Angst vor Veränderung, Wandlung und Vergänglichkeit zu. Auch treten hier Fehlleistungen, wie zum Beispiel ein Versprechen, durch die verdrängten Impulse besonders häufig auf. Die hysterischen Persönlichkeiten beschreibt der Autor als Menschen mit einer Unfähigkeit, Bedürfnisspannungen zu ertragen, jeder Wunsch, jeder Impuls sollte sofort befriedigt werden, egal welche Konsequenzen zu tragen sind. In allen Kapiteln wird großer Wert darauf gelegt, alle Erklärungen mit praktischen Beispielen zu unterstreichen, um sie so dem Leser besser verständlich zu machen. Durch die klare Strukturierung ist dieses Buch besonders gut verständlich. Die Unterteilung der einzelnen Kapitel ist immer die gleiche, so ist es hier einfach, die einzelnen Persönlichkeitstypen auch untereinander
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R zu vergleichen und bei speziellem Interesse an nur einem Persönlichkeitsmerkmal sich gut zurechtzufinden. Dieses Buch hat mir die ersten Einblicke in die Welt der Psyche verschafft und mir ein erstes Basiswissen gegeben, auf dem ich gut aufbauen konnte. Besonders für Anfänger oder interessierte Laien gibt es durch seinen klaren Aufbau und die gut verständlich geschriebene Art und Weise einen guten Überblick. Es wurde 1961 geschrieben und existiert in seiner beinahe vierzigsten Auflage, daher würde ich sagen, ist es heute noch immer ein Standardwerk und sollte mit Sicherheit in jeder „therapeutischen“ Literaturliste aufscheinen. Wichtig bei diesem Buch zu erkennen ist, so wie auch Riemann selbst sagt, dass es nicht möglich ist, sich nur in einem Typus wiederzufinden, sondern von jeder Grundangst etwas in sich zu entdecken. Was ich besonders schön finde, ist der Vergleich der vier Grundformen der Angst mit den kosmischen Kräften der Rotation, Revolution sowie der Schwerkraft und der Fliehkraft. Hier wird besonders schön sichtbar, dass der Mensch Kräften ausgesetzt ist, denen er eigentlich nicht entfliehen kann, sei es den Gesetzen unseres Sonnensystems oder auch seinen eigenen. Dieses Buch zählt für mich zu den Meisterwerken, da es deutlich macht, dass wir nur ein winziges Teilchen in einem unendlich großen System sind und trotzdem jeder Einzelne etwas Unvergleichliches hat, das ihn besonders macht. Michaela Heger
Erwin Ringel: Selbstschädigung durch Neurose
Psychotherapeutische Wege zur Selbstverwirklichung #WƂCIG'UEJDQTP&KGVOCT-NQV\ 'TUVCWUICDG9KGP*GTFGT
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ingel geht von der bekannten Charakterisierung der Neurose als eines innerseelischen Konflikts zwischen bewussten und unbewussten Tendenzen aus. Sie resultiert aus Verdrängungen, die in der Kindheit stattgefunden haben, und er grenzt sie ab von der neurotischen Reaktion oder Aktualneurose, die durch Verdrängung aktueller Konflikte entsteht. Im Folgenden geht er genauer auf die Entstehung der Neurose ein und zeigt typische Fehlentwicklungen in der oralen, analen und ödipalen Phase, um sich anschließend den Abwehrmechanismen sowie den verschiedenen Formen der Neurose zuzuwenden. Im nächsten Kapitel befasst sich Ringel mit dem Über-Ich des Kindes und des Neurotikers, wobei er zwischen Strenge, Enge und Starrheit unterscheidet. Unter Bezugnahme auf Caruso grenzt er es vom personalen Gewissen der gesunden Persönlichkeit ab, das charakterisiert ist durch Auseinandersetzung mit jenen Gewissensinhalten, die in der Kindheit vermittelt wurden. Ein weiterer Abschnitt ist den psychosomatischen Erkrankungen gewidmet, wobei der Autor, analog zur Neurose, zwischen bloßen psychosomatischen Reaktionen und 173
R zu vergleichen und bei speziellem Interesse an nur einem Persönlichkeitsmerkmal sich gut zurechtzufinden. Dieses Buch hat mir die ersten Einblicke in die Welt der Psyche verschafft und mir ein erstes Basiswissen gegeben, auf dem ich gut aufbauen konnte. Besonders für Anfänger oder interessierte Laien gibt es durch seinen klaren Aufbau und die gut verständlich geschriebene Art und Weise einen guten Überblick. Es wurde 1961 geschrieben und existiert in seiner beinahe vierzigsten Auflage, daher würde ich sagen, ist es heute noch immer ein Standardwerk und sollte mit Sicherheit in jeder „therapeutischen“ Literaturliste aufscheinen. Wichtig bei diesem Buch zu erkennen ist, so wie auch Riemann selbst sagt, dass es nicht möglich ist, sich nur in einem Typus wiederzufinden, sondern von jeder Grundangst etwas in sich zu entdecken. Was ich besonders schön finde, ist der Vergleich der vier Grundformen der Angst mit den kosmischen Kräften der Rotation, Revolution sowie der Schwerkraft und der Fliehkraft. Hier wird besonders schön sichtbar, dass der Mensch Kräften ausgesetzt ist, denen er eigentlich nicht entfliehen kann, sei es den Gesetzen unseres Sonnensystems oder auch seinen eigenen. Dieses Buch zählt für mich zu den Meisterwerken, da es deutlich macht, dass wir nur ein winziges Teilchen in einem unendlich großen System sind und trotzdem jeder Einzelne etwas Unvergleichliches hat, das ihn besonders macht. Michaela Heger
Erwin Ringel: Selbstschädigung durch Neurose
Psychotherapeutische Wege zur Selbstverwirklichung #WƂCIG'UEJDQTP&KGVOCT-NQV\ 'TUVCWUICDG9KGP*GTFGT
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ingel geht von der bekannten Charakterisierung der Neurose als eines innerseelischen Konflikts zwischen bewussten und unbewussten Tendenzen aus. Sie resultiert aus Verdrängungen, die in der Kindheit stattgefunden haben, und er grenzt sie ab von der neurotischen Reaktion oder Aktualneurose, die durch Verdrängung aktueller Konflikte entsteht. Im Folgenden geht er genauer auf die Entstehung der Neurose ein und zeigt typische Fehlentwicklungen in der oralen, analen und ödipalen Phase, um sich anschließend den Abwehrmechanismen sowie den verschiedenen Formen der Neurose zuzuwenden. Im nächsten Kapitel befasst sich Ringel mit dem Über-Ich des Kindes und des Neurotikers, wobei er zwischen Strenge, Enge und Starrheit unterscheidet. Unter Bezugnahme auf Caruso grenzt er es vom personalen Gewissen der gesunden Persönlichkeit ab, das charakterisiert ist durch Auseinandersetzung mit jenen Gewissensinhalten, die in der Kindheit vermittelt wurden. Ein weiterer Abschnitt ist den psychosomatischen Erkrankungen gewidmet, wobei der Autor, analog zur Neurose, zwischen bloßen psychosomatischen Reaktionen und 173
R den eigentlichen psychosomatischen Erkrankungen unterscheidet. Problematisch sind aus Ringels Sicht bei diesen die therapeutischen Möglichkeiten, weil es sich zum einen um eine typische und frühe Mutterneurose mit der Tendenz zur Selbstschädigung handelt und zum anderen eine doppelte Belastung besteht, nämlich psychisch und somatisch erkrankt zu sein. Eine typische Vaterneurose ist hingegen die Prüfungsneurose, die in kennzeichnender Weise die Mechanismen fehlgeleiteten Verhaltens deutlich machen: Der Wunsch, den Vater (in Gestalt des Prüfers) zu überwältigen, aktiviert Schuldgefühle, die sich in Form des Prüfungsversagens als unbewusste Selbstbestrafung und letztlich auch als Bestrafung des Vaters äußern. Ein ausführliches Kapitel widmet Ringel dem Selbstmord, den er als „Neurose der Selbstvernichtung“ (6. Kapitel) bezeichnet. Zunächst skizziert er die traumatisierenden Einflüsse aus der Kindheit, welche den Weg zum Selbstmord ebnen, um anschließend das von ihm entdeckte präsuizidale Syndrom zu beschreiben, nämlich 1. situative und dynamische Einengung, 2. gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete, destruktive Aggression und 3. Selbstmordphantasien. Ein weiteres Kapitel (8. Kapitel) befasst sich mit den verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen, doch liegt das Schwergewicht auf den analytischen Methoden Sigmund Freuds und Alfred Adlers. Ringel würdigt Freud als Pionier des Unbewussten und Adler als Wegbereiter der Ich-Psychologie. Am Schluss des Buches geht es um die nicht spannungsfreie Beziehung zwischen Psychotherapie und Religion sowie um Kriterien eines seelisch gesunden Glaubens. Ringels Buch ist eine allgemein verständliche Einführung in die Grundlagen der Tiefenpsychologie, in der mit Hilfe gut ausgewählter Fallbeispiele psychische Verstrickungen plastisch vor Augen geführt und Möglichkeiten psychischer Gesundung skizziert werden. Darüber hinaus wird die große Verantwortung der Eltern für das seelische Wohlergehen ihrer Kinder anschaulich gemacht. Diese Leistung kann man gar nicht hoch genug veranschlagen; es ist Ringel gelungen, dem durchschnittlichen Leser ein Verständnis für das Unbewusste und seine Fallstricke zu vermitteln – ohne voraussetzen zu können, dass er über diesbezügliche Erfahrungen verfügt. Darüber hinaus war es notwendig, dieses Wissen in quasi sozial verträglicher Form zu präsentieren, weil in der Bevölkerung, zumal zur Entstehungszeit des Buches, große Vorbehalte gegenüber der Psychoanalyse bestanden. Dass die österreichische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts offener für tiefenpsychologische Fragestellungen geworden ist, ist auch das Verdienst Erwin Ringels, der zu Lebzeiten in den Medien präsent war wie kein anderer Psychotherapeut. Doch ist dieses Buch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung, denn es präsentiert in konzentrierter Form zwei weitere Anliegen des Autors, nämlich breiteren Bevölkerungsschichten ein Verständnis für psychosomatische Zusammenhänge sowie für die Psychogenese des Selbstmords zu vermitteln, um dergestalt auch zur Prophylaxe beizutragen. 174
R Darüber hinaus nimmt das Buch eine vermittelnde, integrierende Position ein. Zum einen bemüht sich Ringel um einen Dialog zwischen Tiefenpsychologie und (katholischer) Kirche, wobei er aber auch Kritik übt, wenn er etwa schreibt, dass die katholische Moral- und Sexuallehre Neurosen begünstigt. Zum anderen ist es ihm ein Anliegen, Gemeinsamkeiten zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie herzustellen, womit er einen wesentlichen Beitrag dazu leistete, dass analytisches Gedankengut Eingang in die Adler’sche Theorie gefunden hat. Gleichzeitig macht er aber auch die Verdienste der Individualpsychologie für die Weiterentwicklung der analytischen Therapie deutlich. So zählt Ringel etwa den wichtigen individualpsychologischen Begriff „Überkompensation“ zu den klassischen Abwehrmechanismen, und er macht deutlich, dass die Interdependenz zwischen Ich und Gesellschaft ein typisches Anliegen dieser Schule ist, während für Freud im Wesentlichen nur das individuelle Schicksal von Bedeutung war. Schließlich weist Ringel auch auf die Wiederentdeckung des teleologischen Denkens durch Adler und ihre Bedeutung für das psychotherapeutische Handeln hin, weil damit eine das Ich stärkende Neuorientierung ermöglicht wird. Bernd Rieken
Carl R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG1PDGEQOKPICRGTUQP $QUVQP*QWIJVQP/KHƂKP
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as Buch enthält einen Querschnitt von Aufsätzen von Carl Rogers, dem Begründer der Personenzentrierten Psychotherapie, aus den Jahren 1951 bis 1961. Es streift viele Themen, Biographisches, hilfreiche (therapeutische) Beziehungen, den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, Philosophisches, Forschung in der Psychotherapie, Lernen, Kommunikation, Gesellschaftspolitik, Verhaltenswissenschaften, und zeigt so die Breite und Tiefe des Rogerianischen Ansatzes, der sich nie bloß auf die Psychotherapie beschränkte, sondern immer auch gesellschaftliche Implikationen sah. Im Groben zerfällt das Buch in drei Teile. Der erste Teil behandelt die Ansätze der Personenzentrierten Psychotherapie, zeigt, wie hilfreiche und wirksame therapeutische Beziehungen aussehen, in denen sich die Persönlichkeit entfalten und Heilung stattfinden kann. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Forschungsansätzen in der Psychotherapie und damit, wie Erfolg in der Psychotherapie definiert und objektiv messbar gemacht werden könnte. Im dritten Teil werden die Auswirkungen des Personenzentrierten Ansatzes auf die Gesellschaft besprochen, auf Lernen, Beziehungen, Kommunikationen, und eine deutliche und scharfe Abgrenzung zu den Heilsversprechen der Verhaltenstherapie der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts 175
R Darüber hinaus nimmt das Buch eine vermittelnde, integrierende Position ein. Zum einen bemüht sich Ringel um einen Dialog zwischen Tiefenpsychologie und (katholischer) Kirche, wobei er aber auch Kritik übt, wenn er etwa schreibt, dass die katholische Moral- und Sexuallehre Neurosen begünstigt. Zum anderen ist es ihm ein Anliegen, Gemeinsamkeiten zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie herzustellen, womit er einen wesentlichen Beitrag dazu leistete, dass analytisches Gedankengut Eingang in die Adler’sche Theorie gefunden hat. Gleichzeitig macht er aber auch die Verdienste der Individualpsychologie für die Weiterentwicklung der analytischen Therapie deutlich. So zählt Ringel etwa den wichtigen individualpsychologischen Begriff „Überkompensation“ zu den klassischen Abwehrmechanismen, und er macht deutlich, dass die Interdependenz zwischen Ich und Gesellschaft ein typisches Anliegen dieser Schule ist, während für Freud im Wesentlichen nur das individuelle Schicksal von Bedeutung war. Schließlich weist Ringel auch auf die Wiederentdeckung des teleologischen Denkens durch Adler und ihre Bedeutung für das psychotherapeutische Handeln hin, weil damit eine das Ich stärkende Neuorientierung ermöglicht wird. Bernd Rieken
Carl R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG1PDGEQOKPICRGTUQP $QUVQP*QWIJVQP/KHƂKP
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as Buch enthält einen Querschnitt von Aufsätzen von Carl Rogers, dem Begründer der Personenzentrierten Psychotherapie, aus den Jahren 1951 bis 1961. Es streift viele Themen, Biographisches, hilfreiche (therapeutische) Beziehungen, den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, Philosophisches, Forschung in der Psychotherapie, Lernen, Kommunikation, Gesellschaftspolitik, Verhaltenswissenschaften, und zeigt so die Breite und Tiefe des Rogerianischen Ansatzes, der sich nie bloß auf die Psychotherapie beschränkte, sondern immer auch gesellschaftliche Implikationen sah. Im Groben zerfällt das Buch in drei Teile. Der erste Teil behandelt die Ansätze der Personenzentrierten Psychotherapie, zeigt, wie hilfreiche und wirksame therapeutische Beziehungen aussehen, in denen sich die Persönlichkeit entfalten und Heilung stattfinden kann. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Forschungsansätzen in der Psychotherapie und damit, wie Erfolg in der Psychotherapie definiert und objektiv messbar gemacht werden könnte. Im dritten Teil werden die Auswirkungen des Personenzentrierten Ansatzes auf die Gesellschaft besprochen, auf Lernen, Beziehungen, Kommunikationen, und eine deutliche und scharfe Abgrenzung zu den Heilsversprechen der Verhaltenstherapie der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts 175
R wird vorgenommen. Doch eine Besprechung dieses Buches bloß als Aufzählung von Kapitelinhalten würde wohl Rogers Ansatz in keinster Weise gerecht werden und wäre auch sicher nicht in seinem Sinn. Manches in diesem Buch hat mich kaltgelassen oder war (wie die Beschreibung der Forschungsmethoden) sicher historisch interessant, wenn auch heute nur mehr von eingeschränkter Bedeutung. Doch viele Stellen haben mich berührt, haben mich „in das Buch fallen lassen“, haben mich zum Nachdenken und Reflektieren gebracht. Und wie so oft hab ich mir gedacht, wie einfach und klar doch der Personenzentrierte Ansatz ist, und gleichzeitig wie anspruchsvoll. Rogers Betonung von Authentizität und Kongruenz, von der Wichtigkeit, dem Klienten nichts vorzuspielen, nicht jemand Anderer zu sein, als man ist, nicht der Immer-Verständnisvolle, wenn ich mich gar nicht verständnisvoll fühle. Denn wie soll der Mensch vor mir zu seiner inneren Wahrheit finden, wenn ich sie als Therapeut nicht zulasse? Im Kapitel Forschung war es dieser tiefe Wunsch, zu einer Messbarkeit des Erfolges von Psychotherapie zu kommen – der für mich gipfelte in dem Satz „das Endziel der Forschung liegt vor allem darin … zum allmählichen Ableben der verschiedenen Schulen der Psychotherapie, einschließlich der klientenzentrierten, beizutragen“. 50 Jahre später müssen wir uns wohl eingestehen, dass das Ziel nicht erreicht wurde, sondern manchmal ferner denn je erscheint – und doch spüre ich in mir, dass ich es noch immer richtig finde, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, erlebe schmerzlich, dass die Schulen, so viel Positives sie haben, auch viel Trennendes und Verletzendes mit sich führen, in einer Arbeit, die auch ganz ohne Schulenstreit schon schwierig genug wäre. Zu Tränen gerührt hat mich die Schilderung von Samuel Tenenbaum, einem Professor, der ein Universitätsseminar von Rogers besuchte, das so ganz anders war als alle Seminare, die er bis dahin besucht hatte. Und der Rogers ein Jahr später schrieb, dass er eine Phobie gehabt hatte, Vorlesungen abzuhalten, und doch nach 10 Jahren wieder zusagte, eine abzuhalten. Und dann vor den Studentinnen und Studenten stand und zumindest ein Stück begann, die Vorlesung abzuhalten, wie er sich erinnerte es bei Rogers erlebt zu haben. Und es wurde ein großartiges Seminar … Es war für mich wichtig zu sehen, ob und wie therapeutische Methoden auch außerhalb der Psychotherapie sinnvoll sein können. Und nach Rogers sind sie es – seine Art, wie Menschen miteinander in einer Therapie umgehen sollen, wie wichtig diese Authentizität ist, die Kongruenz und das Mitteilen, war für ihn nie auf Psychotherapie beschränkt. Sondern auch auf Beziehungen allgemein ausdehnbar, wo es darum geht, Gefühle nicht zu unterdrücken, nur um geliebt zu werden. Wie ist eine Schule, wie ihr Klima, in dem Lernen zu einem lustvollen Erleben wird? Sogar auf Außenpolitik – seine Beschreibung, wie russische und amerikanische DiplomatInnen miteinander umgehen könnten, um einander zu verstehen und so die Spannungen des Kalten Krieges abzubauen, hat mich zum Schmunzeln gebracht. Und zugleich zum Nachdenken. Es klang so einfach und gleichzeitig so logisch. 176
R Wie so vieles an seinen Werken. Einfach und logisch, und doch eine Herausforderung. Das Buch zeigt den Umbruch in der Psychotherapie, in dem die Bedeutung der therapeutischen Beziehung enorm an Wichtigkeit gewann. Hier ist besonders die Frage hervorzuheben, welche therapeutische Beziehung wirklich hilfreich ist. Hier richtete sich der Blick weg von den Schulen und den Techniken und hin zu der Frage, was in einer Therapie wirklich wirksam ist. Rogers Antwort war Kongruenz und Authentizität des Psychotherapeuten, der Psychotherapeutin, Empathie und die Fähigkeit, das Eigene mitzuteilen. Er hat aufgezeigt, wie wichtig es ist, auch als Therapeut keine Rolle vorzuspielen, denn genau hier kann dem Menschen, der gekommen ist, um Hilfe und Erkenntnis zu erhalten, klar werden, welche Rollen er spielt, welche Bedürfnisse und Emotionen sie nicht zulässt. Vieles von dem ist heutzutage psychotherapeutisches Allgemeinwissen – doch genau hier hat es begonnen. Und vieles von dem ist noch immer gültig, berührt und bewegt noch immer, ist noch immer einer Herausforderung zu leben. Die Kapitel über Forschung sind wohl in vielen Bereichen nur mehr historisch interessant, zeigen aber, welche Bedeutung Rogers der Forschung beimaß, der Wichtigkeit Daten zu sammeln. Hier war er sicher wegweisend – dem Widerstand vieler Kolleginnen und Kollegen zum Trotz immer wieder zu versuchen, zu quantifizierbaren und damit messbaren Hypothesen zu kommen, um herauszufinden, was in der Psychotherapie nun genau und wie am besten wirkt. Rogers fürchtete sich nicht vor Fakten – er fand es wichtig, Fakten zu sammeln, um die Hypothesen zu bestätigen oder eben zu widerlegen, denn mit mehr Daten waren wieder neue Theorien möglich. Und welchen Sinn haben Hypothesen, deren Gültigkeit widerlegt wird? Ein einfacher und einleuchtender Satz, und doch schien es aus dem historischen Kontext notwendig, ihn überhaupt auszusprechen. Das Buch macht einen großen Bogen über die Themen Lernen, Beziehungen, Kommunikation, Außenpolitik. Es wird klar, dass Rogers immer auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag sah, dass Psychotherapie niemals im luftleeren Raum stattfindet, sondern Menschen hilft, sich zu verändern und zu entfalten. Und das bedeutet immer, wie im Kleinen so auch im Großen etwas zu verändern. Besonders klar wird das an seiner scharfen Abgrenzung gegenüber den Heilsversprechen der Verhaltenstherapie der 50er Jahre, die damals versprach, „mit und aus Menschen alles machen zu können“. Obwohl sich das zu unser aller Glück nicht bewahrheitet hat (denn wie Rogers scharfsichtig feststellte: Sind dann die Verhaltenstherapeuten die neuen Machthaber?), wird besonders hier klar, dass Rogers es wichtig fand, seine Stimme zu erheben, um nicht nur die Welt seiner Patientinnen und Klienten ein wenig heiler zu machen, sondern auch die Welt insgesamt. Robert Gruber 177
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Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse )KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT
er dunkle Kontinent – das ist die Weiblichkeit –, wie der Schöpfer der Psychoanalyse sie sieht, und das ist der Platz, den die patriarchale Ordnung der Weiblichkeit zugewiesen hat. Christa Rohde-Dachser legt dar, inwiefern die psychoanalytische Theorie der Weiblichkeit Ausdruck gesellschaftlicher Unbewusstheit des Patriarchats ist und so die männliche Herrschaft über das Weibliche widerspiegelt. Gleichzeitig zeigt sie, dass die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Menschen und als Erkenntnisinstrument die Enthüllung dieser Unbewusstheit ermöglicht und damit den Raum eröffnet für eine realistische Darstellung menschlicher – das heißt männlicher und weiblicher – Existenz. Es geht nicht darum die Frau in Leid und Unterdrückung als Opfer zu sehen und den Mann als Träger der Herrschaft und Nutznießer des Patriarchats. Wesentlich ist die Darstellung der Verzerrung der Wirklichkeit, die auf der Grundlage von Verdrängung entsteht, die gesellschaftlich bedingt ist. Sowohl Männer als auch Frauen unterliegen diesem Verdrängungsvorgang und haben Anteil an der Abwehr und am Ausschluss von Weiblichkeit. Unbewusstheit ist nicht konstitutiv und unveränderlich, sondern historisch bedingt, und daher in permanenter Veränderung begriffen. Mit der Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Geschlechterrollen geraten die unbewussten Zuschreibungen immer mehr in Widerspruch zur gelebten Wirklichkeit und können daher auch erkannt und verstanden werden. Die psychoanalytische Theorie der Weiblichkeit ist als Konstruktion des Patriarchats zu verstehen. Die Aufdeckung dieses Sachverhalts erfolgt mit den Methoden der Psychoanalyse selbst, ausgehend von einer feministischen Position: Es gibt ein weibliches Geschlecht, das dem männlichen gleichwertig ist und sich von ihm unterscheidet. Im Patriarchat wird die Existenz dieses Geschlechts verleugnet, damit die Frauen ihre ergänzende und dienende Rolle erfüllen können. Der wesentliche „Irrtum“ der patriarchalen Wissenschaft liegt nicht bloß darin, das Weibliche nicht anzuerkennen, sondern in der phallozentristischen Blindheit der Wahrnehmung, die zum Ausschluss statt zur Erkenntnis führt. Mit diesem Werk tritt die Weiblichkeit aus dem Schattendasein, das ihr die patriarchalische Psychoanalyse zugewiesen hat, erhebt selbst ihre Stimme und fordert zum Diskurs auf. Im Vorwort schreibt Rohde-Dachser „(Das Buch) ist zunächst einmal keine Absage an die Psychoanalyse, sondern – im Gegenteil – der Versuch einer Rückkehr zu ihren Wurzeln, die für mich in jenem aufklärerischen Anspruch liegen, der nicht davor zurückscheut, auch die jeder Aufklärung immanente Tendenz zur Remythologisierung (vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1944, 1961, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.) systematisch mit in die
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R Reflexion zu ziehen ... Das Buch beinhaltet deshalb auch keine Lösung des ‚Rätsels Weib‘ (vgl. Freud 1933, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW Bd. 15, S. 120) im hergebrachten Sinn; es will statt dessen mit den Mitteln der Psychoanalyse selbst dieses Rätsel ad absurdum führen“ (S. XIV). Das Werk bietet eine gründliche Analyse der Weiblichkeitstheorien der Psychoanalyse unter Einbeziehung von soziologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, von Literatur und Kunst und Deutung von Märchen und Mythen. Als Beispiele möchte ich Rohde-Dachsers Darlegungen der Freud’schen Theorie der Weiblichkeit näher ausführen und ihren Vorschlag für die Neu-Interpretation des Mythos vom Rätsel der Sphinx. Das Weibliche wird von Freud als Mangelwesen beschrieben: Sie hat keinen Penis, ihr Lust-Organ – die Clitoris – gilt als verkümmerter Penis, sie ist getrieben vom Neid auf den Penis, ihr Geschlecht wird durch den Mann erschlossen, ihre Erfüllung findet sie in der vollen Orientierung auf den Mann und seine Bedürfnisse. Die unbewusste Phantasie, die hinter dieser Theorie steht, „könnte lauten: ‚Für meine Mutter (später: meine Frau) bin ich der einzige. Sie wird immer bei mir bleiben, denn sie ist abhängig von mir. Ich brauche sie mit niemandem zu teilen. Sie braucht mich, nicht umgekehrt. Mein Penis garantiert mir ihren Besitz. Sie selbst hat nichts, worum ich sie beneiden könnte. Im Gegenteil, die beneidet mich. Ich bin es, der sie liebt und begehrt, nicht umgekehrt. Sie selbst ist ohne Begehren. Deshalb wird sie auch nie nach einem anderen verlangen. Ohne mich gibt es für sie keinen Genuss. Sie lebt nur durch mich (und nicht umgekehrt). Alles, was sie dabei erleidet, ist nicht meine Schuld. Sie will es so ... Ich bin froh und stolz ein Mann zu sein‘“ (ebd., S. 57). Die Kastration der Frau ist für diese Psychoanalyse – natürlich, gleichsam biologisch bedingt – und daher nicht weiter zu hinterfragen. RohdeDachser deutet sie als Abwehrphantasie, die erschlossen werden kann. Und sie kommt zu dem Resultat, dass hinter diesem Grauen vor der kastrierten Frau das Bild der anderen Frau steht, die „das im Freud’schen Weiblichkeitsentwurf (kollektiv!) Tabuisierte, Abgewehrte enthält. Dieser Vorstellungskomplex zentriert sich – spiegelbildlich zum Bild der ‚kastrierten Frau‘ – um eine vom Mann unabhängige Frau mit einem eigenen Genitale und einem autonomen sexuellen Begehren. Was der patriarchalische Weiblichkeitsentwurf ... ausklammert, was der Mann nicht denken darf (und will!) ist also die Idee dieser Frau, die identisch ist mit der Idee seines zerstörten Spiegels: ihre Unabhängigkeit; ihre Macht(Überlegenheit); ihre Sexualorgane; ihr Begehren; ihren Besitz (ihre Brüste, ihre Kinder, ihre Gebärfähigkeit); den Rivalen an ihrer Seite; 179
R ihre Neidlosigkeit (mit der sie seinen Fetisch negiert); ihren Vorwurf – seine Schuld“(S. 64). Die Abwehr dieser „anderen Frau“ ist Voraussetzung für die Funktion des Weiblichen als Container für all das, was Grauen, Schrecken und Vergänglichkeit menschlicher Existenz ausmacht. Das Ausgeliefertsein an die Natur, die Sterblichkeit, das Böse und Verderbliche in uns, werden so dem Weiblichen allein zugeschrieben und scheinen den Mann frei zu machen für den Logos, das Licht der Erkenntnis und die Unsterblichkeit in seinen Werken. Auf dieser Grundlage ruht auch die ursprüngliche psychoanalytische Interpretation der Lösung des Rätsels der Sphinx durch Ödipus. Die Sphinx – als Abgesandte des Hades – verkörpert die böse, unheimliche Frauenfigur, die den Mann tötet, der ihr Rätsel nicht lösen kann. Das Rätsel lautet „Es geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen“. Die Antwort des Ödipus ist „Ich, der Mensch“, und diese Antwort führt zur Vernichtung der Sphinx. Dieser Akt des Ödipus wird als Sieg der Aufklärung über den Mythos interpretiert, als Sieg des Logos über die Natur. Rohde-Dachser stellt dazu fest: „Aufklärung kann erst dort einsetzen, wo der männliche ‚Rätselheld‘ auf die Frage der Sphinx antwortet: ‚Der Mensch, Mann und Frau‘, oder auch ‚Ich und Du‘. Damit wäre gleichzeitig der Mythos durchbrochen, der im Patriarchat das Geschlechterverhältnis zementiert. Der Akt der Rätsellösung führte in diesem Falle auch nicht mehr zur Vernichtung der Sphinx, sondern zu ihrer Vermenschlichung. Die Entmythologisierung wäre hier eine radikale, denn mit ihrer Einsetzung in die Rolle des Du müsste ‚die Sphinx, die Würgerin’ (Grunberger, B, Narziss und Anubis oder die doppelte Ur-Imago in Narziss und Anubis, Die Psychoanalyse jenseits der Triebtheorie, Bd. 2, Verlag Internat. Psychoanalyse, München Wien, 1982, 1988) als Projektionsfigur verblassen; die Konfrontation mit dem Dunklen, Unbewussten, Triebhaften, fände statt dessen im Innern von Männern und Frauen statt, die diese sonst abgewehrten Bereiche als zu sich gehörig akzeptierten, anstatt sie immer wieder im Gegengeschlecht zu orten und von daher auch fähig wären, sich bei diesem Schritt gegenseitig zu unterstützen“ (S. 279). Das Buch ist ein notwendiger Beitrag zur Entwicklung der Psychotherapie als Wissenschaft vom Menschen. Es ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Lektüre für die Vermittlung und das Studium der Psychoanalyse. Elisabeth Vykoukal
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Johannes Heinrich Schultz: Das autogene Training Konzentrative Selbstentspannung – Versuch einer klinisch-praktischen Darstellung #WƂCIG5VWVVICTV6JKGOG 'TUVCWUICDG
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as Buch beginnt mit einer Einführung in den Sinn und die Grundlagen des Verfahrens: „Das Prinzip der Methode ist darin gegeben, durch bestimmte physiologisch rationale Übungen eine allgemeine Umschaltung der Versuchsperson herbeizuführen, ...“ (1). Es folgt eine eingehende Beschreibung vorhergehender Versuche, unter anderem auch die Beschreibung der Arbeit von Allers und Scheminsky (Allers, R., Scheminsky, F.: Über Aktionsströme der Muskeln bei motorischen Vorstellungen und verwandten Vorgängen. Pflügers Arch. ges. Physiol. 212 [1926], 169) in Wien über das Hörbarmachen von Muskelströmen bei bloßer Intention, eine Bewegung auszuführen. Vom Muskel geht es bis zu psychoanalytischen, tiefenpsychologischen Fragen der „Selbstbeherrschung und Selbsterziehung“. Die neueren neurophysiologischen Forschungen haben übrigens sehr vieles von dem, was I. H. Schultz noch zum Teil nur vermuten konnte, bestätigt. Als 1932 die erste Auflage des „Versuchs“ erschien, war die Welt noch relativ in Ordnung. Im Vorwort zur 2. Auflage 1933 betonte Schultz, dass das AT weder zeitraubend sei noch etwas mit Mystik zu tun habe. 1937 kam die dritte Auflage, mit 12 Stellen, die sich auf Freud beziehen, aber auch mit einer Begrüßung der Kollegen im „neuen Deutschland“. In der vierten und fünften Auflage, bereits im Krieg 1940, 1942, wird Freud weiterhin unverändert zitiert und mit ihm praktisch alle für die Grundlagen des AT bedeutenden Analytiker. Ab 1954 begannen die fremdsprachigen Ausgaben. Das Training verbreitete sich danach praktisch über die ganze westliche Welt und Japan, wo es besonderen Anklang fand und auch noch heute hat. Seit der 13. Auflage (1969), in der die Gründung der österreichischen Gesellschaft für ärztliche Hypnose und Autogenes Training erwähnt wird (heute ÖGATAP), erscheint das Standardwerk von I. H. Schultz unverändert. 1961 wurde in Montreal das ICAT (le Comité International de Coordination de l’Application et de l’Enseignement du Training Autogène) gegründet, das bald nach Gründung seinen Hauptsitz nach Japan verlegte. Schultz hatte vor dem ersten Weltkrieg als „Volontärassistent“ bei Heinrich Vogt Hypnoseexperimente gemacht und damit den Grundstein zum autogenen Training gelegt. Die erste Arbeit, unter dem Titel „Über Narkolyse und autogene Organübungen, zwei neue psychotherapeutische Methoden“, erschien 1926. Er ließ also sehr viel Erfahrung zusammenkommen, bis er die neue Methode der „konzentrativen Selbstentspannung“ herausbrachte. Die starke Verbreitung des Buches lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass das autogene Training effektiv war und ist. Bis vor kurzem war es die am meisten angewandte Psychotherapiemethode im deutschen Sprach181
S raum. Es wird nach wie vor viel angewendet, vor allem die Grundstufe als Basispsychotherapeutikum für Ärzte und Psychologen, seine Vormachtstellung hat es aber seit dem Auftreten der unzähligen wissenschaftlich fundierten und nicht fundierten Methoden verloren. Das könnte sich, gerade durch die Erkenntnisse der „Gehirndisziplinen“ (G. Schiepek), wieder ändern. 2005 hat Manfred Lambertz die tiefe psychophysische Entspannung im AT beim Synergiekongress in Krems wieder nachdrücklich hervorgehoben (Manfred Lambertz et al.: Leib-Seele Kohärenz: Das 0.15 Hz-Rhythmusband als peripherer Indikator psychophysischer OrdnungOrdnungs-Übergänge. Synergetik von Psyche und Gehirn. Donau-Universität Krems, 25. 6. 2005). Das Werk hat 14 Kapitel, in denen nicht nur die Technik des Verfahrens, die zugrunde liegenden Theorien, physiologischen und psychologischen und tiefenpsychologischen Voraussetzungen behandelt werden, sondern auch ausführlich auf Krankengeschichten und auf die für das autogene Training so wesentlichen Eigenprotokolle der Patienten eingegangen wird. Dabei sah Schultz schon früh auch die Möglichkeiten der Anwendung seines Verfahrens für Gesunde, für Schüler, Sportler, Manager usw. voraus. Jeder, der das Training vermitteln will – und das gilt heute wie damals –, muss es natürlich selbst erlernt haben. Zu Beginn werden Entwicklung und Sinn des Verfahrens dargestellt. Im Vordergrund steht die „Umschaltung“, die die Einwilligung der Person, eine Mindestselbstverfügung, die Haltung bei der Übung, die Reizdeprivation (Schlaf, Monotonie), die innere „Sammlung“, bei der die Versuchsperson „in eine sinnenhafte, gefühlsmäßige Schicht des Erlebens“ und dadurch zur „konzentrativen Versenkung“ kommt, betrifft. Das „konzentrative („echt suggestive“) Umschaltungserlebnis führt in 12 Stufen, unter anderem über die Somatisierung, ein Stadium der Indifferenz, einer allgemeinen Verlangsamung, über ein Distanzgewinnen zum Ich zur heute viel diskutierten, (im AT „autochthonen!) Entspannungseuphorie, zur physiologischen und psychologischen Zirkelsprengung und letztlich in die Bilderwelt der Oberstufe. Man hat bemängelt, dass nur 33 Seiten, also knapp 10 Prozent, der Oberstufe gewidmet sind. Das stimmt zahlenmäßig, wenn man nach den Überschriften rechnet. Es stimmt keineswegs mehr, wenn man beim Durcharbeiten erlebt, wie wesentlich das psychoanalytische Denken für das gesamte AT ist. Die Oberstufe – heute ein fester Bestandteil der autogenen Psychotherapie – war zu Schultz’ Zeiten an eine tiefenpsychologische Ausbildung des Therapeuten gebunden, die unter anderem in Österreich seit 1973 im Ausbildungsprogramm inbegriffen ist. Die Oberstufe reicht von „einfachem“ Farberleben bis zur Frage an das Unbewusste, „ein Umgehen mit außerordentlich subtilen, empfindlichen und oft tief aufrührenden Dingen“ (246). Dazu kommt, sozusagen als Übergang, die „formelhafte Vorsatzbildung“, die man auch als autosuggestiven posthypnotischen Auftrag bezeichnen kann (119).
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S Eine wesentliche Rolle im gesamten Training spielt der absolute Respekt vor dem Spontanerleben des Übenden. Kein noch so wohlgemeintes Reden des „Versuchsleiters“, keine Musik, keine Bänder – autogen ist die Forderung von I. H. Schultz. Das absolute Stillschweigen des Übungsleiters während der Übung geht schon aus der Entwicklung des Trainings aus Hypnoseversuchen klar hervor, und der vorsichtige Umgang mit dem Material in der Grund- und Oberstufe aus dem „autogenen Prinzip“, aus dem Bemühen, den Autorhythmus des Menschen, der hier übt, nicht zu stören. Das Hineingleiten in einen Zustand des veränderten Bewusstseins bei der „Umschaltung“ hat offensichtlich als solches schon „heilende“ Wirkung (zum Beispiel durch Förderung des Regulationspotentials) und macht auch den Zugang zum Unbewussten möglich. Von Bedeutung für das Training ist auch die „reziproke Verbundenheit von Zentrum und Peripherie“: Die Ruhe entsteht nicht durch die Ruheformel, die als Zielvorstellung verstanden wird, sondern durch die „Nachricht“ aus der Muskulatur: In der Peripherie herrscht Ruhe! Ganz wichtig ist Schultz die strenge Trennung von Religion, mystischem Erleben und dem streng psychotherapeutisch begrenzten, so weit wie möglich wissenschaftlich begründeten Erfahren im autogenem Training, sei es in der Unterstufe (heute Grundstufe) oder Oberstufe. Am Rande wäre zu bemerken, dass Schultz im AT eine ganze Reihe von praktisch klinischen Einzeltechniken entwickelt hat, die, wie die Nirwana-Therapie, leider zu wenig angewendet werden. Wer einmal das AT erlernt hat – und die Fähigkeit bleibt erhalten, wie man Radfahren nicht verlernt –, kann auch im terminalen Stadium einer Krebserkrankung in die Versenkung des Trainings eintauchen. In solchen Situationen wird das Realitätsprinzip, das sonst die ganze autogene Psychotherapie durchzieht, verlassen, und der Patient geht in eine Traumwelt, die der beim Drogengebrauch sehr nahekommt (260). Als Meisterwerk kann man diesen „Versuch einer klinisch praktischen Darstellung“ wohl schon wegen des großen Bogens, den es von der grundlegenden Physiologie, Neurophysiologie, Psychologie und Tiefenpsychologie des Verfahrens bis zu ethnologischen und religionspsychologischen Quellen spannt, bezeichnen. Auch das analytisch-empirische Denken, mit dem Schultz das neue System geschaffen hat, ist bis heute vorbildhaft. Für diesen breiten Rahmen ist das Buch auch sehr gut lesbar geschrieben. Heinrich Wallnöfer
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Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings CWƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG6JGKPVGTRGTUQPCNYQTNFQHVJGKPHCPV 0GY;QTM$CUKE$QQMU
ine der Kernhypothesen des Autors lautet, dass in der persönlichen Entwicklung des Menschen das Selbstempfinden bereits wesentlich früher als Selbstbewusstheit und Sprache stattfindet. Diese Selbstempfindungen im präverbalen Stadium wurden klinisch untersucht und machten den Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologen Daniel Stern zu einem der Pioniere der modernen Säuglingsforschung. Neugeborene nehmen die Umwelt aktiv wahr, reagieren selektiv auf äußere Reize und können bereits Selbstorganisationsprozesse wahrnehmen. Das subjektive Erleben des Selbst ist in keiner Phase undifferenziert vom Anderen. Das Selbstempfinden ist auch die primäre subjektive Perspektive, unter der das eigene soziale Leben organisiert wird. Es entwickelt sich vom auftauchenden Selbst (Geburt bis 2. Monat) zum Kern-Selbst (3.–7. Monat), zum subjektiven Selbst (8.–16. Monat) und danach zum verbalen Selbst. (Die Begriffe lauten im Original: emerging self, core self, subjective self, verbal self.) Die Phase vom 9. bis zum 18. Monat ist nicht alleine der Individuation gewidmet, durch die das Kind von den primären Bezugspersonen abrückt, sondern ebenso dem Suchen und Streben nach intersubjektiver Bezogenheit zu einem anderen Menschen durch gemeinsam geteilte Wahrnehmungs-, Erlebens- und Gefühlsqualitäten. Verschiedene Arten der Affektabstimmungen zwischen Mutter und Kind sowie deren Authentizität, Intensität und zugrunde liegende Mechanismen werden in diesem Buch ebenso untersucht wie etwaige Defizite, die sich etwa durch fehlende oder verzerrte Affektresonanz zwischen Kind und Bezugspersonen ergeben können. Bestimmte klinische Themen lassen sich nicht mit bestimmten Entwicklungsphasen (Oralität, Bindung, Autonomie, Urvertrauen) zeitlich rigide abgrenzen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sie im Leben etwa gleich und kontinuierlich einwirken können. Durch seine Forschungsergebnisse widerlegt Stern die Annahmen von symbiotischen oder autistischen Phasen der Säuglingsentwicklung, wie es zum Beispiel Margaret Mahler formulierte. Stern berichtet über grundlegende Dilemmata, denen er in seiner frühen psychoanalytischen und psychiatrischen Arbeit häufig begegnete. Diese Probleme bildeten die Ausgangspunkte seiner späteren Studien. 1. Dilemma zwischen frühen Erinnerungen und Entwicklung: Beginnend mit der frühesten Kindheit steht einerseits bei den PatientInnen die Lebensgeschichte in Zusammenhang mit deren Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund, andererseits gibt es aber relativ wenig Informationen über präverbale oder präödipale Erfahrungen, die sie de facto gemacht haben. 184
S 2. Dilemma zwischen Theorie und Praxis: Auch wurde in den Theorien gerade den ersten Lebensmonaten und -jahren ein herausragender Stellenwert gegeben. Die Anwendung dieser Theorien in der Praxis in der Behandlung einer realen Person erwies sich aber als spekulativ und obskur. Eine Art, mit existierenden Widersprüchen eines Status quo konstruktiv umzugehen, ist in den Räumen dazwischen zu versuchen, Neuland zu betreten. Interessiert an den jeweils aktuellen entwicklungspsychologischen Forschungserkenntnissen, schaffte Stern in 15 Jahren wissenschaftlichpraktischer Arbeit einen Dialog zwischen experimentell erforschtem und klinisch rekonstruiertem Säugling in Gang zu bringen. Neue Betrachtungsweisen und Forschungsdesigns führen so zu neuen Erkenntnissen. Die Fähigkeit, „zwei Sprachen sprechen und verstehen zu können“, sieht Stern dafür als Voraussetzung und bezieht sich auf deren dahinterliegende Bedeutungen, wie zum Beispiel Absichten, emotionale Botschaften oder auch auf das Nicht-Gesagte. Weiters wird der Begriff „Sprache“ sowohl in verbale und nonverbale Anteile als auch in Sprache je nach verschiedenen Entwicklungsstadien differenziert. Wie kam es nun zur Metapher der Zweisprachigkeit? Dieser Ansatz hat einen biographischen Hintergrund: Als Kleinkind lernte Daniel während eines längeren Spitalaufenthaltes zum Beobachter und Entschlüssler nonverbaler Zeichen zu werden. Im Alter von 7 Jahren erkannte er durch Beobachtung eines Konfliktes zwischen Mutter und einem zweijährigen Kind, dass er die Fähigkeit zur Zweisprachigkeit hatte. Er verstand sowohl (noch) die Sprache des Kindes, aber auch (bereits) schon die Sprache der Erwachsenen. Durch die Verbindung der Fähigkeiten Beobachtung, Reflexion und dem Talent, in beiden Sprachwelten kommunizieren zu können, war es ihm möglich, in seiner späteren klinischen Forschungstätigkeit die Verhaltensweisen der Säuglinge unter neuen Gesichtspunkten zu studieren. So wurden experimentelle Methoden entwickelt, wie etwa das Studium des Saugens und der Blick- und Kopfdrehbewegungen, die nicht nur neue Einblicke in die Welt der Säuglinge – Wesen, die wir alle einmal waren – geben können, sondern auch von einem neuen Verständnis des wesentlichen Kerns der menschlichen Entwicklung. So scheint der beobachtende Forscher nicht nur den Ausgang eines Experimentes zu beeinflussen, vielmehr aber kommt er offenbar durch seine eigene Haltung erst in den Zustand der eigenen Fähigkeit zur Erkenntnis, die es ihm erst erlaubt, in seiner Schau das Wesen der Dinge so wahrhaftig wie möglich zu erfassen. Diese Schau ist ein kontinuierlicher Prozess, oft verbunden mit dem Aufgeben überholter Ansichten und Standpunkte, selbst – so schwer es auch manchmal fallen mag – der eigenen. Sigmund Freud (1919) meint dazu: Wissen und Können sind nie vollkommen oder abgeschlossen. Zur stetigen Weiterentwicklung der forschenden Arbeit gehört auch die Bereitschaft, Unvollkommenheiten der Erkenntnisse und Fehler zuzugeben, Neues dazuzulernen und „an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch Besseres ersetzen lässt“. (Freud [1919, 1994]: Wege der psychoanalytischen Therapie. Studienaus185
S gabe, Ergänzungsband. Frankfurt: Fischer, 4. Auflage. S. 241). Der Säugling aus der Sichtweise der modernen Säuglingsforschung ist weder – wie früher angenommen – eine Art unbeschriebenes Blatt, eine Tabula rasa, ein a priori biologisches Mängelwesen oder ein mit der Mutter verschmolzenes Etwas, dessen Entwicklung von Passivität zur Aktivität, Undifferenziertheit zu Differenziertheit, von Symbiose zu Individuation oder vom Nicht-Mensch-Sein zum Menschsein führt, sondern von Beginn an innerhalb seines Raumes selbstständig und von der Mutter gut abgegrenzt. Martin Dornes (Vgl. Dornes [1995]: Der kompetente Säugling. Frankfurt: Fischer, S. 16) umfasst diese Grundannahmen drei Jahre später mit der Annahme des „kompetenten Säuglings“. Sterns Beitrag zur Emanzipation des Säuglings umfasst neben der Relativierung mittlerweile überholter Hypothesen auch die Verbindung der Disziplinen Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Verhaltensforschung. So kann seine Metapher der Zweisprachigkeit auch als meisterhaft ausgearbeiteter Impuls für eine kontinuierliche, interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Thema „Mensch“ verstanden werden. Thomas Barth
Berthold Stokvis / Eckart Wiesenhütter: Lehrbuch der Entspannung
Autosuggestive und übende Verfahren der Psychotherapie und Psychosomatik #WƂCIG5VWVVICTV*KRRQMTCVGU s#WƂCIGWPVGTFGO6KVGN>/GPUEJKPFGT'PVURCPPWPI 'TUVCWUICDG
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iefenarbeit und Körperarbeit“ anzuwenden kann die Entspannung zum Beginn, zur Leitschiene einer umfassenden Psychotherapie machen. Komplementäres Miteinander der einzelnen Schulen und nicht gegenseitiger Ausschluss und Ablehnung sind das Gebot der Stunde, fordert Eckart Wiesenhütter (10), der das mit Stokvis gemeinsam begonnene Buch weiterführte. Er folgt damit einer Forderung, die I. H. Schultz schon 1925 in „Schicksalsstunde der Psychotherapie“ nachdrücklich vertrat, und die leider bis heute – bei allen Fortschritten – unerfüllt blieb. Das Buch wendet sich vorwiegend an den Praktiker, der Zeit entsprechend vorwiegend an den Arzt. Der allmähliche Übergang zur berufsübergreifenden Zusammenarbeit mit allen anderen Berufsgruppen, die Psychotherapie betreiben, zeigt sich auch schon in der Diktion: Es wird neutral vom „Therapeuten“ gesprochen. Alle in dem Buch behandelten Verfahren können vom Praktiker erlernt und angewendet werden. Es wäre aber auch schon nützlich, wenn der, der an der „Front“ steht, einige Psychotherapieverfahren von einer Einführung her kennte, und beurteilen könnte, welcher Patient für welches Verfahren zugewiesen werden 186
S gabe, Ergänzungsband. Frankfurt: Fischer, 4. Auflage. S. 241). Der Säugling aus der Sichtweise der modernen Säuglingsforschung ist weder – wie früher angenommen – eine Art unbeschriebenes Blatt, eine Tabula rasa, ein a priori biologisches Mängelwesen oder ein mit der Mutter verschmolzenes Etwas, dessen Entwicklung von Passivität zur Aktivität, Undifferenziertheit zu Differenziertheit, von Symbiose zu Individuation oder vom Nicht-Mensch-Sein zum Menschsein führt, sondern von Beginn an innerhalb seines Raumes selbstständig und von der Mutter gut abgegrenzt. Martin Dornes (Vgl. Dornes [1995]: Der kompetente Säugling. Frankfurt: Fischer, S. 16) umfasst diese Grundannahmen drei Jahre später mit der Annahme des „kompetenten Säuglings“. Sterns Beitrag zur Emanzipation des Säuglings umfasst neben der Relativierung mittlerweile überholter Hypothesen auch die Verbindung der Disziplinen Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Verhaltensforschung. So kann seine Metapher der Zweisprachigkeit auch als meisterhaft ausgearbeiteter Impuls für eine kontinuierliche, interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Thema „Mensch“ verstanden werden. Thomas Barth
Berthold Stokvis / Eckart Wiesenhütter: Lehrbuch der Entspannung
Autosuggestive und übende Verfahren der Psychotherapie und Psychosomatik #WƂCIG5VWVVICTV*KRRQMTCVGU s#WƂCIGWPVGTFGO6KVGN>/GPUEJKPFGT'PVURCPPWPI 'TUVCWUICDG
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iefenarbeit und Körperarbeit“ anzuwenden kann die Entspannung zum Beginn, zur Leitschiene einer umfassenden Psychotherapie machen. Komplementäres Miteinander der einzelnen Schulen und nicht gegenseitiger Ausschluss und Ablehnung sind das Gebot der Stunde, fordert Eckart Wiesenhütter (10), der das mit Stokvis gemeinsam begonnene Buch weiterführte. Er folgt damit einer Forderung, die I. H. Schultz schon 1925 in „Schicksalsstunde der Psychotherapie“ nachdrücklich vertrat, und die leider bis heute – bei allen Fortschritten – unerfüllt blieb. Das Buch wendet sich vorwiegend an den Praktiker, der Zeit entsprechend vorwiegend an den Arzt. Der allmähliche Übergang zur berufsübergreifenden Zusammenarbeit mit allen anderen Berufsgruppen, die Psychotherapie betreiben, zeigt sich auch schon in der Diktion: Es wird neutral vom „Therapeuten“ gesprochen. Alle in dem Buch behandelten Verfahren können vom Praktiker erlernt und angewendet werden. Es wäre aber auch schon nützlich, wenn der, der an der „Front“ steht, einige Psychotherapieverfahren von einer Einführung her kennte, und beurteilen könnte, welcher Patient für welches Verfahren zugewiesen werden 186
S sollte. Nach einer Einführung in die Grundlagen, mit dem heute wie damals aktuellen Kapitel „Psychosomatik autosuggestiver Entspannungsübungen“, folgen nicht weniger als 36 Behandlungsmethoden, die in „passiv autosuggestive und entspannende“ und „aktiv autosuggestiv und entspannende“ unterteilt werden. Die Frage der „aktiv klinischen Psychotherapie“ war ja gerade in dieser Zeit besonders aktuell. Bei den passiven Methoden gibt es die kollektiven und die individuellen. Unter den Kollektiven findet man den Apotheker Emil Coué, aus dem Religiösen abgeleitete Verfahren (Desoille, Happich, Chassidismus) und die Meditation nach dem Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim. Zu den individuellen zählen viele heute praktische vergessene Anweisungen, wie die wenig wissenschaftlich aufgebauten Übungen von Baudouin (einem Schüler Coués) (109), der Fixation oder Schaukelrhythmen zur Selbsthypnose empfiehlt. Beziehungen zur analytischen Oberstufe der Autogenen Psychotherapie hat die „Elementare Autoanalyse“ nach Bezzola, der eine starke Abhängigkeit des Patienten vom Arzt durch selbstständiges Arbeiten des Patienten vermeiden wollte. Zu den „aufdeckenden“ Verfahren zählt Wiesenhütter Freud, Steckel, Jung, Adler, die kaum mehr bekannte Psychagogik nach Kronfeld, die kathartische Hypnose, die Anwendung von Pentothal (drugpschotherapy) und die klientenzentrierte (nicht direktive) Methode nach Rogers (242). Er weist auf Ferenczi hin, der unterstrich, dass eben auch die Psychoanalyse zu einer Lösung des „Gespannt-Seins“ führt. Und immer wieder kommt die Mahnung zur Freiheit des Methoden-Übergreifens. Anklänge an neuere Bestrebungen findet man auch in den „passiven“, mehr oder weniger autosuggestiven „Willensübungen“, die mit Persuasion zu tun haben. Etwa nach Oppenheim, der die Patienten anhielt, Denkreihen plötzlich willentlich zu unterbrechen. Heinrich Vogt (Psychiater in Frankfurt, Lehrer von I. H. Schultz) ließ 1916 zur Willensstärkung den Anfang eines bekannten Gedichtes aufsagen und verbietet dann, weiter daran zu denken. In Paris wurden schon 1902 „Willensübungen“ vor dem Spiegel von H. Meige und E. Feindel empfohlen. An erster Stelle der autosuggestiven und entspannenden Übungen steht natürlich das autogene Training. Wiesenhütter geht auch auf die Oberstufe ein und beschreibt als einer der Ersten auch eingehend die „analytische Oberstufe“, die ganz gezielt analytische Techniken in dieser Therapieform einsetzt und damit eine ganzheitliche Patientenbehandlung einleitet (148). Es folgt das katathyme Bilderleben, das unter anderem aus dem Bildstreifendenken von Kretschmer hervorging und heute als Katathym Imaginative Therapie (KIB) bezeichnet wird. Ein interessanter Aspekt ist die „Subordinations-Autoritäts-Relationstherapie“ von Erwin Stransky (begonnen um 1928, beschrieben bis 1959). Stransky meinte, dass vor der Sexualität (Freud), vor dem Machtstreben (Adler) und vor dem kollektiven Unbewussten (Jung) Autorität und Unterordnung und Suche nach einem Vorbild naturgegebene notwendige 187
S Phänome sind, die man bisher vernachlässigt hatte (150). Man kann dabei heute an die Versuche denken, dem Patienten/Klienten zu vermitteln, wie er/sie „irrationale Denkmuster“ im mehr oder weniger heftigen Disput korrigieren kann, oder nach wieder „mehr oder weniger“ strengen Regeln Problemlösungsstrategien und Selbstkontrolle lernt (Ellis und Grieger, zitiert nach: Ermann, Michael: Psychotherapeutische und psychosomatische Medizin, Stuttgart, 1999, S. 334, 335), und auch an die interessanten neueren Entwicklungen bei Otto Kernberg. Natürlich wird Edmund Jacobson eingehend beschrieben und die konzentrative Bewegungstherapie nach Helmuth Stolze. Eine Tabelle zeigt übersichtlich die Unterschiede zwischen Schultz, Jacobson und der aktiven Tonusregulation nach Berthold Stokvis (Leidener Tonusübungen). Ein wesentlicher Punkt in diesem Werk ist meines Erachtens die Beschäftigung nicht nur mit der Persönlichkeit des Patienten, sondern auch der des Arztes (beider Geschlechter)(243). Je nach der Ausgangspersönlichkeit wird eher eine abstinente, abstrakte, Distanz haltende Methode („der Patient handelt selbst“) gewählt werden oder ein Verfahren, bei dem (unerwünschter Weise) etwa Geltungsstreben und Machttrieb eine größere Rolle spielen können. Auch die Facette „Magie“ fließt natürlich in diese Überlegungen ein und fordert zur Selbstkritik heraus. Anwendung, Kontraindikationen, Gefahren und Resultate schließen das leicht lesbare Buch ab. Ein „Meisterwerk“ ist das Buch von Stokvis und Wiesenhütter – nach Ansicht des Referenten – vor allem deshalb, weil es nicht nur leicht lesbar und übersichtlich ist, sondern weil es einen umfassenden und bisher nicht überbotenen Einblick in das gibt, was man mit den sogenannten „entspannenden“ Verfahren erreichen kann, wie sie funktionieren und welchen biologischen und historischen Hintergrund sie haben. Man hat früher versucht, Skeptiker von der Wirksamkeit mit Hautwiderstand, Myogramm, EEG und Erfolgsstatistiken zu überzeugen. Heute verwendet man zusätzlich Magnetresonanz, Herzrhythmusvariation und andere neuere Verfahren. Zu dieser Überzeugungsarbeit trägt auch dieses Buch viel bei. Heinrich Wallnöfer
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Gerhard Stumm / Alfred Pritz / Paul Gumhalter / Nora Nemeskeri / Martin Voracek (Hrsg.): Personenlexikon der Psychotherapie 9KGP0GY;QTM5RTKPIGT
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as „Personenlexikon der Psychotherapie“ beschreibt 286 bedeutende Persönlichkeiten, die damals wie heute „Substanzielles zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der Psychotherapie beigetragen haben“ (Stumm et al. 2005). 153 Co-AutorInnen und einige KoordinatorInnen – Johannes Reichmayr, Horst Kächele, Marianne Ringler †, Erwin Bartosch, Alfried Längle und Volker Tschuschke, um nur einige zu nennen – schildern in ein- bis zweiseitigen Ausführungen die Biographien und Arbeitsschwerpunkte der Personen. Es werden wesentliche Publikationen aufgelistet und wichtige Sekundärliteratur zur beschriebenen Person und ihrem Werk wird angegeben. Ergänzt werden die alphabetisch gereihten Darstellungen am Beginn mit einem Foto und einer schlagwortartigen Kurzbeschreibung der Person. Diese informative Gestaltung lockt die Neugierde und lädt zum Weiterlesen ein. Manche Beiträge ermöglichen einen kurzen Blick in das Privatleben der Person bzw. deren Psychodynamik aufgrund der biographischen Angaben. Einerseits dient das Lexikon dem Professionalisten und interessierten Laien als nützliches und praktisches Nachschlagewerk, andererseits glückt aufgrund der spannenden Lebensläufe die Ermunterung zur weiteren Vertiefung und Beschäftigung mit den Personen und deren Arbeitsschwerpunkten. Im Vorwort beschreiben die Autoren die Schwierigkeit, die Gesamtheit der Wissenschaft und Praxis der Psychotherapie darzustellen, und sprechen von einem Werk in Progress, bei dem versucht wurde, persönliche Wertungen der Co-Autoren hintanzustellen. Auch wenn es sich per se um ein beschwerliches Unterfangen handelt, ist es dennoch gelungen, einen sehr guten Eindruck von den die Psychotherapie(wissenschaft) prägenden Personen und folglich Einblicke in Psychotherapiegeschichte gewinnen zu können. Die Schilderungen der unterschiedlichen Persönlichkeiten (etwa auch Philosophen und Dichter, die die Psychotherapie maßgeblich beeinflusst haben) spiegeln die bunte Situation der gegenwärtigen Psychotherapieszene wider. Durch jene Offenheit ist es den Autoren gelungen, dem Leser ein breites Spektrum zu eröffnen und differenzierte Anschauungen zuzulassen. Die von den Autoren beschriebene Schwierigkeit bei der Konzipierung könnte dahingehend bewertet werden, dass die psychotherapeutische Disziplin und verwandte Fachbereiche zu einem reflektierten und bedachten Umgang aufgrund des Facettenreichtums und der Subjektivität von Psychischem im Allgemeinen gezwungen sind, was a priori zu einer reduktionistischen Annäherung an die Gesamtsituation führt. So unterschiedlich die einzelnen psychotherapeutischen Methoden eben scheinen, die Psychotherapie betreibt eine Wissenschaft des Menschen, im Zentrum steht immer die Interaktion zwischen Patient und Therapeut,
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S beide einzigartige Individuen mir ihren spezifischen und einzigartigen Geschichten. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Meisterwerk so notwendig, um jene personenbezogene Wissenschaft im Rahmen einer Art Dehistorisierung versteh- und begreifbarer näherzubringen, was durch die bedachte Darstellung möglich geworden ist. Das „Personenlexikon der Psychotherapie“ wird für alle an der Psychotherapie und deren Vertretern Interessierten zum dauerhaften Begleiter. Katharina R. Reboly
Gerhard Stumm / Alfred Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie 5QPFGTCWUICDG9KGP0GY;QTM5RTKPIGT 'TUVCWUICDG
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as „Wörterbuch für Psychotherapie“ ist ein lexikalisches Werk, das in Zusammenarbeit mit den Herausgebern und zahlreichen namhaften Autorinnen und Autoren entstanden ist. Es umfasst und beschreibt 1315 Textstichworte in alphabetischer Reihung, Fachbegriffe aus 51 Fachbereichen der Psychotherapie sowohl methodenübergreifend als auch methodenspezifisch. Einige Begriffe wurden aus einer allgemeinen psychotherapeutischen Sicht betrachtet, andere aus unterschiedlichen Perspektiven einzelner psychotherapeutischer Schulen beleuchtet. Jedes Stichwort enthält zum einen eine Beschreibung des Begriffes, zum anderen Quellen- und Literaturangaben und Querverweise, die zur zusätzlichen Orientierung beitragen. So kommen insgesamt etwa 4500 Literaturzitate zusammen, die 360 AutorInnen aus 14 Ländern verfasst haben. Einige seien an dieser Stelle stellvertretend genannt: Aiello, Atwood, Bahne-Bahnson, Bartosch, Bauriedl, Benedetti, Biermann-Ratjen, Boadella, Ciompi, Clifford, Cöllen, Condrau, Grossmann, Kast, Kriz, Längle, Lichtenberg, Loewit, Maertens, Mentzos, Petzold, R. Schindler, A. Springer, Springer-Kremser, Sonneck, Tschuschke, Wallnöfer, Willi, Wucherer-Huldenfeld.Ein Anhang mit Namensverzeichnis und Kurzvitae der AutorInnen, KoordinatorInnen, MitarbeiterInnen und Herausgeber komplettiert das Werk. Das „Wörterbuch für Psychotherapie“ ist ein Nachschlagewerk, das erstmalig im deutschen Sprachraum das gesamte Gebiet der Psychotherapie beschreibt. Es beschränkt sich dabei nicht nur auf Begriffe des Kerngebietes, sondern die Herausgeber haben sich entschlossen, auch Stichwörter aus angrenzenden Bereichen und Nachbardisziplinen mit einzubeziehen. Auf diese Weise ist ein wertvoller Beitrag zur psychotherapeutischen Literatur gelungen, ein Werk, das sowohl für Fachleute informativ und interessant ist als auch als Grundlagenliteratur in der Psychotherapieausbildung nicht fehlen darf.
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S beide einzigartige Individuen mir ihren spezifischen und einzigartigen Geschichten. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Meisterwerk so notwendig, um jene personenbezogene Wissenschaft im Rahmen einer Art Dehistorisierung versteh- und begreifbarer näherzubringen, was durch die bedachte Darstellung möglich geworden ist. Das „Personenlexikon der Psychotherapie“ wird für alle an der Psychotherapie und deren Vertretern Interessierten zum dauerhaften Begleiter. Katharina R. Reboly
Gerhard Stumm / Alfred Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie 5QPFGTCWUICDG9KGP0GY;QTM5RTKPIGT 'TUVCWUICDG
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as „Wörterbuch für Psychotherapie“ ist ein lexikalisches Werk, das in Zusammenarbeit mit den Herausgebern und zahlreichen namhaften Autorinnen und Autoren entstanden ist. Es umfasst und beschreibt 1315 Textstichworte in alphabetischer Reihung, Fachbegriffe aus 51 Fachbereichen der Psychotherapie sowohl methodenübergreifend als auch methodenspezifisch. Einige Begriffe wurden aus einer allgemeinen psychotherapeutischen Sicht betrachtet, andere aus unterschiedlichen Perspektiven einzelner psychotherapeutischer Schulen beleuchtet. Jedes Stichwort enthält zum einen eine Beschreibung des Begriffes, zum anderen Quellen- und Literaturangaben und Querverweise, die zur zusätzlichen Orientierung beitragen. So kommen insgesamt etwa 4500 Literaturzitate zusammen, die 360 AutorInnen aus 14 Ländern verfasst haben. Einige seien an dieser Stelle stellvertretend genannt: Aiello, Atwood, Bahne-Bahnson, Bartosch, Bauriedl, Benedetti, Biermann-Ratjen, Boadella, Ciompi, Clifford, Cöllen, Condrau, Grossmann, Kast, Kriz, Längle, Lichtenberg, Loewit, Maertens, Mentzos, Petzold, R. Schindler, A. Springer, Springer-Kremser, Sonneck, Tschuschke, Wallnöfer, Willi, Wucherer-Huldenfeld.Ein Anhang mit Namensverzeichnis und Kurzvitae der AutorInnen, KoordinatorInnen, MitarbeiterInnen und Herausgeber komplettiert das Werk. Das „Wörterbuch für Psychotherapie“ ist ein Nachschlagewerk, das erstmalig im deutschen Sprachraum das gesamte Gebiet der Psychotherapie beschreibt. Es beschränkt sich dabei nicht nur auf Begriffe des Kerngebietes, sondern die Herausgeber haben sich entschlossen, auch Stichwörter aus angrenzenden Bereichen und Nachbardisziplinen mit einzubeziehen. Auf diese Weise ist ein wertvoller Beitrag zur psychotherapeutischen Literatur gelungen, ein Werk, das sowohl für Fachleute informativ und interessant ist als auch als Grundlagenliteratur in der Psychotherapieausbildung nicht fehlen darf.
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T Abgesehen vom praktischen und wissenschaftlichen Nutzen, haben die Herausgeber mit diesem Buch nicht unwesentlich dazu beigetragen, das Selbstverständnis der Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft, ihre Breite und Differenziertheit eindrucksvoll sichtbar zu machen. Die Psychotherapie ist noch immer – verglichen mit anderen Wissenschaften – eine junge Disziplin, die weder ein Teil der Psychologie noch ein Teil der Medizin ist. Ein eigenes Wörterbuch bringt Überblick über das Fach, hilft abzugrenzen, sich zu erklären und zu definieren und schafft dadurch die Möglichkeit, Fachdiskurse mit den angrenzenden Wissenschaften zu führen – die Grundlage zur Interdisziplinarität. Es bedeutet einen weiteren Meilenstein zur Professionalisierung der Psychotherapie, eine Zusammenfassung ernsthafter Auseinandersetzung mit Begriffen und deren Inhalten, die – einmal definiert und schriftlich festgehalten – eine Wirklichkeit schaffen. Ein Nachschlagewerk hat den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ein lexikalisches Werk wird benützt, um ein Stichwort zu klären, man kann sich darauf beziehen, es zitieren, als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Betrachtungen nehmen. Insofern schreibt dieses Wörterbuch Geschichte der Psychotherapie, da es verschiedenste Begriffe als relevant aufgenommen hat, deren Definition und Beschreibung als „für die Disziplin Psychotherapie“ gültig darstellt, den Bereich Psychotherapie somit umfassend dokumentiert.
Helmut Thomä / Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie
Grundlagen – Praxis – Forschung. 3 Bände ØDGTCTDGKVGVGWCMVWCNKUKGTVG )TWPFNCIGP2TCZKUD\Y #WƂCIG (QTUEJWPI$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT WPF#WƂCIGFGT$ÀPFGd)TWPFNCIGPpWPFd2TCZKUpWPVGTFGO *CWRVVKVGN.GJTDWEJFGTRU[EJQCPCN[VKUEJGP6JGTCRKG 'TUVCWUICDGd)TWPFNCIGPpD\Yd2TCZKUp
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as dreibändige Standardlehrbuch der psychoanalytischen Therapie ist seit über 20 Jahren erfolgreich auf dem Markt, repräsentiert den gegenwärtigen State of the Art der psychoanalytischen Theorie, Praxis und Forschung und wurde in zehn Sprachen übersetzt. In Band 1 Grundlagen werden klar und ausführlich die gegenwärtige Lage der Psychoanalyse, Übertragung und Beziehung, Gegenübertragung, Widerstand, Traumdeutung, das Erstinterview, Mittel, Wege und Ziele, Prozessmodelle und das Verhältnis von Theorie und Praxis dargestellt. So finden Definitionen, Theorien und das gesammelte Wissen unter Einbeziehung der psychoanalytischen Strömungen, wie Schule nach M. Klein, die Objektbeziehungstheorie oder die Selbstpsychologie, zu einer Einheit zusammen. Die essentiellen Ausführungen bieten eine ideale Plattform für weitere Studien der einzelnen behandlungstechnischen Bereiche.
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T Abgesehen vom praktischen und wissenschaftlichen Nutzen, haben die Herausgeber mit diesem Buch nicht unwesentlich dazu beigetragen, das Selbstverständnis der Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft, ihre Breite und Differenziertheit eindrucksvoll sichtbar zu machen. Die Psychotherapie ist noch immer – verglichen mit anderen Wissenschaften – eine junge Disziplin, die weder ein Teil der Psychologie noch ein Teil der Medizin ist. Ein eigenes Wörterbuch bringt Überblick über das Fach, hilft abzugrenzen, sich zu erklären und zu definieren und schafft dadurch die Möglichkeit, Fachdiskurse mit den angrenzenden Wissenschaften zu führen – die Grundlage zur Interdisziplinarität. Es bedeutet einen weiteren Meilenstein zur Professionalisierung der Psychotherapie, eine Zusammenfassung ernsthafter Auseinandersetzung mit Begriffen und deren Inhalten, die – einmal definiert und schriftlich festgehalten – eine Wirklichkeit schaffen. Ein Nachschlagewerk hat den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ein lexikalisches Werk wird benützt, um ein Stichwort zu klären, man kann sich darauf beziehen, es zitieren, als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Betrachtungen nehmen. Insofern schreibt dieses Wörterbuch Geschichte der Psychotherapie, da es verschiedenste Begriffe als relevant aufgenommen hat, deren Definition und Beschreibung als „für die Disziplin Psychotherapie“ gültig darstellt, den Bereich Psychotherapie somit umfassend dokumentiert.
Helmut Thomä / Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie
Grundlagen – Praxis – Forschung. 3 Bände ØDGTCTDGKVGVGWCMVWCNKUKGTVG )TWPFNCIGP2TCZKUD\Y #WƂCIG (QTUEJWPI$GTNKP*GKFGNDGTI5RTKPIGT WPF#WƂCIGFGT$ÀPFGd)TWPFNCIGPpWPFd2TCZKUpWPVGTFGO *CWRVVKVGN.GJTDWEJFGTRU[EJQCPCN[VKUEJGP6JGTCRKG 'TUVCWUICDGd)TWPFNCIGPpD\Yd2TCZKUp
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as dreibändige Standardlehrbuch der psychoanalytischen Therapie ist seit über 20 Jahren erfolgreich auf dem Markt, repräsentiert den gegenwärtigen State of the Art der psychoanalytischen Theorie, Praxis und Forschung und wurde in zehn Sprachen übersetzt. In Band 1 Grundlagen werden klar und ausführlich die gegenwärtige Lage der Psychoanalyse, Übertragung und Beziehung, Gegenübertragung, Widerstand, Traumdeutung, das Erstinterview, Mittel, Wege und Ziele, Prozessmodelle und das Verhältnis von Theorie und Praxis dargestellt. So finden Definitionen, Theorien und das gesammelte Wissen unter Einbeziehung der psychoanalytischen Strömungen, wie Schule nach M. Klein, die Objektbeziehungstheorie oder die Selbstpsychologie, zu einer Einheit zusammen. Die essentiellen Ausführungen bieten eine ideale Plattform für weitere Studien der einzelnen behandlungstechnischen Bereiche.
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T Mit den klinischen Anwendungen dieses kumulierten Wissens setzt sich Band 2 Praxis auseinander, der inhaltlich ähnlich wie der 1. Band strukturiert ist. Durch diesen Zusammenhang wird ein fließender Übergang zwischen den Bänden ermöglicht, der sowohl bei theoretischen Fragestellungen als auch von aufgeschlüsselten Praxisbeispielen rückwirkend auf die Grundlagen der Materie einen wertvollen und unentbehrlichen Wissens- und Erfahrungsschatz für Professionisten und interessierte Laien liefert. Bereits im Vorwort wird der Anspruch auf Operationalisierung im weitesten Sinn als angestrebtes Ziel der Autoren deutlich, die die Begriffe anschaulich fassbar macht und kasuistische Darstellungen mittels empirischer Untersuchungen praxisnah untermauert. Durch detaillierte klinische Beispiele werden Konzepte erläutert und therapeutische Verläufe mikroskopisch genau und spannend lesbar analysiert. Didaktisch gelungen wird die Dichte und Komplexität der Thematik sehr gut aufbereitet. Insofern wurde das Standardlehrbuch sowohl zur unentbehrlichen Lektüre für das Selbststudium als auch zum kompetenten Begleiter in Forschung und Praxis. Die Trilogie wird mit Band 3 Forschung, der sich mit den aktuellen Fragestellungen der gegenwärtigen Psychotherapieforschung lebhaft befasst, vervollständigt. Wenn MacIntyre (1968) formuliert, dass Freuds Leistung nicht nur auf seinen Erklärungen für abnormes Verhalten, sondern auf seiner neuartigen Beschreibung derartiger Verhaltensweisen beruht, dann setzen die Autoren mit modernen technischen Mitteln, wie etwa der möglichst genauen Wiedergabe der therapeutischen Interaktion via Verbatimprotokollen, sowie Analysemethoden (Längs- und Querschnittsanalysen), lange geforderte Meilensteine in der empirischen Psychotherapieforschung. Durch diese Zusammenstellung klinischer Konzepte und empirischer Psychotherapieforschung ergibt sich eine Synthese, die das Denken und Handeln des Analytikers im intersubjektiven Austausch anschaulich macht. Beispiele aus 37 Analysen bei verschiedenen PsychoanalytikerInnen ergeben reiches Material für diesen originären und progressiven Ansatz. Das gesamte Werk ist ein metaphorischer Blick durch das Schlüsselloch des intersubjektiven therapeutischen Behandlungsraumes, verbunden mit Beispielen, welche theoretischen Modelle im Hinterkopf der MeisteranalytikerInnen während ihrer klinischen Arbeit wirken. Objektfindung ist nicht nur eine Wiederfindung, sondern im Wesentlichen auch eine Neufindung der psychoanalytischen Praxis und Forschung. Das Ende des psychoanalytischen Separatismus wird dadurch deutlich, dass es in den Ausführungen gelungen ist, 100 Jahre pluralistische Psychotherapiegeschichte mit allen Theorien und Begriffen zu beschreiben und so zusammenzufassen, dass Psychoanalyse durch wissenschaftliche Forschungsmethoden als wirksames Behandlungsverfahren bestätigt und in der Realitätsprüfung in der alltäglichen klinischen Arbeit – etwa am Universitätsklinikum Ulm selbst – besteht. Somit wurde Freuds berühmtem Junktim des Heilens und Forschens mit diesem theoretisch-kli-
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U nischen Gesamtwerk eine neue Dimensionalität und Bedeutung in Beachtung des aktuellen (psychotherapeutischen) Zeitgeistes gegeben. Léon Wurmser nennt es zu Recht „eines der bedeutsamsten Werke der modernen Psychoanalyse“. Katharina R. Reboly und Thomas Barth
Thure von Uexküll / Rolf H. Adler / Jörg Michael Herrmann / Karl Köhle / Wolf Langewitz / Othmar W. Schonecke / Wolfgang Wesiack (Hrsg.): Psychosomatische Medizin Modelle ärztlichen Handelns und Denkens #WƂCIG/ØPEJGP,GPC7TDCPWPF(KUEJGT 'TUVCWUICDG
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ber 100 renommierte Experten aus dem Bereich der Psychosomatik gestalten mit ausführlichen Beiträgen ihrer Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte diesen Klassiker der psychosomatischen Medizin. Das Buch ist in acht Hauptteile (Theoretische Grundlagen, Klinische Konzepte, Diagnostik, Therapie, Institutionalisierung, Klinik, Aus-, Fort- und Weiterbildung und Ausblick – Glossar) und 89 Kapitel gegliedert. Das Meisterwerk ist als Lehrbuch und Enzyklopädie zugleich auslegbar und dient aufgrund des strukturierten und klaren Aufbaus sowohl dem vertieften Studium als auch als Anregung für die weitere Beschäftigung mit den einzelnen Thematiken. Thure von Uexküll (1908–2004) galt als einer der wichtigsten Vermittler der (modernen) Psychosomatik in Theorie und Praxis und setzte sich zeitlebens für die Etablierung und Durchsetzung des ganzheitlichen Denkens (bio-psycho-soziales Modell) in der Ausbildung von Ärzten ein. Dies beinhaltet die Redefinition der Arzt-Patient-Beziehung, in der der diagnostisch-therapeutische Zirkel in einer Art prozesshaften Wechseldynamik seine Wirkung entfalte. Von Uexküll forderte jene integrativen Modelle des ärztlichen Denkens und Handelns als Gesamtkonzept in die Heilkunde einzugliedern. Mit der Einführung des Facharztes für Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin in Deutschland gelang ein Schritt in diese Richtung; allerdings wurden mit dieser Zusammenführung zweier Fachdisziplinen erneut behandlungsrelevante Fragen (zum Beispiel über die Handhabung der Abstinenzregel) aufgeworfen, die noch weiterer reflektierter Diskussionen bedürfen. Schließlich scheint der Leib-Seele-Dualismus auch in der Behandlung von Menschen nicht überwunden. Katharina R. Reboly
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U nischen Gesamtwerk eine neue Dimensionalität und Bedeutung in Beachtung des aktuellen (psychotherapeutischen) Zeitgeistes gegeben. Léon Wurmser nennt es zu Recht „eines der bedeutsamsten Werke der modernen Psychoanalyse“. Katharina R. Reboly und Thomas Barth
Thure von Uexküll / Rolf H. Adler / Jörg Michael Herrmann / Karl Köhle / Wolf Langewitz / Othmar W. Schonecke / Wolfgang Wesiack (Hrsg.): Psychosomatische Medizin Modelle ärztlichen Handelns und Denkens #WƂCIG/ØPEJGP,GPC7TDCPWPF(KUEJGT 'TUVCWUICDG
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ber 100 renommierte Experten aus dem Bereich der Psychosomatik gestalten mit ausführlichen Beiträgen ihrer Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte diesen Klassiker der psychosomatischen Medizin. Das Buch ist in acht Hauptteile (Theoretische Grundlagen, Klinische Konzepte, Diagnostik, Therapie, Institutionalisierung, Klinik, Aus-, Fort- und Weiterbildung und Ausblick – Glossar) und 89 Kapitel gegliedert. Das Meisterwerk ist als Lehrbuch und Enzyklopädie zugleich auslegbar und dient aufgrund des strukturierten und klaren Aufbaus sowohl dem vertieften Studium als auch als Anregung für die weitere Beschäftigung mit den einzelnen Thematiken. Thure von Uexküll (1908–2004) galt als einer der wichtigsten Vermittler der (modernen) Psychosomatik in Theorie und Praxis und setzte sich zeitlebens für die Etablierung und Durchsetzung des ganzheitlichen Denkens (bio-psycho-soziales Modell) in der Ausbildung von Ärzten ein. Dies beinhaltet die Redefinition der Arzt-Patient-Beziehung, in der der diagnostisch-therapeutische Zirkel in einer Art prozesshaften Wechseldynamik seine Wirkung entfalte. Von Uexküll forderte jene integrativen Modelle des ärztlichen Denkens und Handelns als Gesamtkonzept in die Heilkunde einzugliedern. Mit der Einführung des Facharztes für Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin in Deutschland gelang ein Schritt in diese Richtung; allerdings wurden mit dieser Zusammenführung zweier Fachdisziplinen erneut behandlungsrelevante Fragen (zum Beispiel über die Handhabung der Abstinenzregel) aufgeworfen, die noch weiterer reflektierter Diskussionen bedürfen. Schließlich scheint der Leib-Seele-Dualismus auch in der Behandlung von Menschen nicht überwunden. Katharina R. Reboly
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Vamik Volkan: Das Versagen der Diplomatie <WT2U[EJQCPCN[UGPCVKQPCNGTGVJPKUEJGTWPFTGNKIKÒUGT-QPƂKMVG #WƂCIG)KG»GP2U[EJQUQ\KCN8GTNCI 'TUVCWUICDG
amik Volkan, geboren 1932 in Nikosia, ist Psychoanalytiker und Professor emeritus für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät Virginia. Er ist Gründungsdirektor der „International Society of Political Psychology“ (ISPP) und des „Center for the Study of Mind and Human Interaction“ (CSMHI) und war für internationale Organisationen als Berater, Gesandter und Vermittler weltweit in vielen Krisengebieten tätig. Der Autor fasst die bisherigen psychoanalytischen Ansätze zur Erklärung von Kriegen und ethnischen Konflikten zusammen, um dann seine eigenen Erkenntnisse über die Psychologie von Großgruppen darzustellen. Er entwickelt ein Konzept zur Beschreibung der Identität von Großgruppen, in dem er die Betrachtung Sigmund Freuds über die Bedeutung der Großgruppen für das Individuum um eine originäre Theorie der Großgruppen-Psychologie erweitert. Volkan definiert die Großgruppenidentität „als die subjektive Erfahrung von Tausenden oder Millionen von Menschen, die durch ein dauerndes Gefühl des Gleichseins miteinander verbunden sind, während sie gleichzeitig auch viele Charakteristika mit vielen anderen fremden Gruppen teilen“. Er benutzt dafür die Metapher einer großen Zeltplane, die sich gleichsam über die persönliche Kernidentität, die man in diesem Bild wie eine engsitzende Kleidung begreifen könnte, darüberlegt und die wie ein loser Umhang das Gefühl der Großgruppenidentität, des Gleichseins mit anderen, repräsentiert. Volkan beschreibt sieben Fäden, aus denen die Großgruppenidentät gewoben scheint: 1. Passende Ziele der nicht integrierten „guten“ Selbst- und Objektbilder der Kinder einer Großgruppe und der Projektionen von geschätzten Elementen. 2. Von den Kindern geteilte Identifikationen. 3. Passende Ziele der nicht integrierten „bösen“ Selbst- und Objektbilder der Feinde der Gruppe und Reservoire der von den Feinden ausgehenden Projektionen unerwünschter Elemente. 4. Ausgewählte Ruhmesblätter und geistige Vorstellungen vom Mythos und der Geschichte, wie die Gruppe „geboren“ wurde. 5. Ausgewählte Traumata. 6. Externalisierte Bilder der inneren Welten von (revolutionären) Führern und deren Ideologien. 7. Symbolbildung. Diese sieben Fäden werden im vorliegenden Buch ausführlich beschrieben und mit Beispielen veranschaulicht. Nach weiteren Kapiteln zu den Themen Großgruppenrituale, individuelle Trauer und Großgruppentrauer und über traumatisierte Gesell-
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W schaften stellt Volkan das „Baum-Modell“ vor, einen vom CSMHI entwickelten Ansatz zum Abbau von Spannungen zwischen Großgruppen, zum Aufbau von Institutionen und zur Förderung der Demokratisierung und Koexistenz. Dieses Buch stellt in Zeiten der religiösen und ethnischen Konflikte ein Modell zum Verständnis der Psychologie von Großgruppen vor und gibt Psychoanalytikern und Politikern ein Rüstzeug in die Hand, Strategien gegen die weltweite Regression von Großgruppen zu entwickeln. Bis dato verstehen sich Psychoanalytiker vor allem als Erforscher und Therapeuten des Seelenlebens von Individuen und vermeiden es, sich politisch zu engagieren. Volkan macht klar, dass es notwendig ist, die emotionalen Blockaden zu verstehen, die Dialoge zwischen verfeindeten Parteien behindern, und dass zum Gelingen eines solch emotionellen Dialogs das Herstellen eines Kommunikationsraums zwischen den beiden sich bekriegenden Parteien notwendig ist. Erst dann kann „eine empathische Vision mit einer heilenden Sprache“ realisiert werden. Psychoanalytiker können mit ihrem Verständnis von Konflikten als Manifestationen des Kampfes zwischen Es und Über-Ich Politiker und Diplomaten beraten und unterstützen, damit ernsthafte und dem Frieden dienliche Initiativen entwickelt werden können. Eva Pritz
Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein #WƂCIG/ØPEJGP2KRGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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er Autor, ein Mitbegründer der systemischen Psychotherapie, hat hier ein sehr vergnügliches Werk vorgelegt, in dem seine Theorien gewissermaßen in der Alltagsanekdote ihre Bewährung erfahren. Seine Hauptthese, dass sich die Welt des Menschen als eine durch seine eigenen Interpretationen geschaffene darstellt, seine Wirklichkeit also keine objektive, sondern eine intersubjektive ist, drückt sich bereits im Titel aus und hebt sich wohltuend von den vielen Psychoratgebern, die dazu tendieren, einfache Lösungen vorzuschlagen, ab. In der Negation dessen, was wir uns alle wünschen und so selten erreichen, nämlich glücklich zu sein, kommt bereits zum Ausdruck, dass wir oft an unseren eigenen Konstruktionen von Wirklichkeit leiden. Eine andere Sicht der Dinge kann dann rasch auch eine andere Gemütslage hervorrufen. So durchzieht dieses Büchlein eine Reihe von Anekdoten, Witzen und Zitaten aus der Weltliteratur, die uns zeigen, wie relativ einfach doch manchmal Sichtweisen verändert werden können, die uns ansonsten die Hölle auf Erden bereiten. Watzlawick kritisiert auch durchaus bisher Ver195
W schaften stellt Volkan das „Baum-Modell“ vor, einen vom CSMHI entwickelten Ansatz zum Abbau von Spannungen zwischen Großgruppen, zum Aufbau von Institutionen und zur Förderung der Demokratisierung und Koexistenz. Dieses Buch stellt in Zeiten der religiösen und ethnischen Konflikte ein Modell zum Verständnis der Psychologie von Großgruppen vor und gibt Psychoanalytikern und Politikern ein Rüstzeug in die Hand, Strategien gegen die weltweite Regression von Großgruppen zu entwickeln. Bis dato verstehen sich Psychoanalytiker vor allem als Erforscher und Therapeuten des Seelenlebens von Individuen und vermeiden es, sich politisch zu engagieren. Volkan macht klar, dass es notwendig ist, die emotionalen Blockaden zu verstehen, die Dialoge zwischen verfeindeten Parteien behindern, und dass zum Gelingen eines solch emotionellen Dialogs das Herstellen eines Kommunikationsraums zwischen den beiden sich bekriegenden Parteien notwendig ist. Erst dann kann „eine empathische Vision mit einer heilenden Sprache“ realisiert werden. Psychoanalytiker können mit ihrem Verständnis von Konflikten als Manifestationen des Kampfes zwischen Es und Über-Ich Politiker und Diplomaten beraten und unterstützen, damit ernsthafte und dem Frieden dienliche Initiativen entwickelt werden können. Eva Pritz
Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein #WƂCIG/ØPEJGP2KRGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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er Autor, ein Mitbegründer der systemischen Psychotherapie, hat hier ein sehr vergnügliches Werk vorgelegt, in dem seine Theorien gewissermaßen in der Alltagsanekdote ihre Bewährung erfahren. Seine Hauptthese, dass sich die Welt des Menschen als eine durch seine eigenen Interpretationen geschaffene darstellt, seine Wirklichkeit also keine objektive, sondern eine intersubjektive ist, drückt sich bereits im Titel aus und hebt sich wohltuend von den vielen Psychoratgebern, die dazu tendieren, einfache Lösungen vorzuschlagen, ab. In der Negation dessen, was wir uns alle wünschen und so selten erreichen, nämlich glücklich zu sein, kommt bereits zum Ausdruck, dass wir oft an unseren eigenen Konstruktionen von Wirklichkeit leiden. Eine andere Sicht der Dinge kann dann rasch auch eine andere Gemütslage hervorrufen. So durchzieht dieses Büchlein eine Reihe von Anekdoten, Witzen und Zitaten aus der Weltliteratur, die uns zeigen, wie relativ einfach doch manchmal Sichtweisen verändert werden können, die uns ansonsten die Hölle auf Erden bereiten. Watzlawick kritisiert auch durchaus bisher Ver195
W trautes in der Psychotherapie, wenn er auf die Überbetonung der Vergangenheit eingeht und meint, dass das Graben nach vergangenen Ursachen ja die Probleme von heute nicht löst. Auch das Mehr vom Selben, mit dem man bisher nicht erfolgreich war, scheint keine erfolgversprechende Lebensstrategie zu sein. Der Autor schlägt auch verschiedene Übungen vor, die dem geneigten Leser zeigen sollen, wie sehr er selbst in seinen eigenen Wirklichkeitskonstruktionen verfangen ist. So sollten Sie etwa sich entspannt in einen Sessel setzen, die Augen schließen und sich eine reife saftige Orange vorstellen. Mit einiger Übung wird Ihnen tatsächlich das wirkliche Wasser im Mund zusammenfließen. Watzlawick erklärt zahlreiche Gedankenströme mit durchaus bereits wahnhaftem Charakter als Folgen „falscher“ Weltanschauung und Prämissen: „Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt der Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur flüchtig. Vielleicht war es Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan, der bildet sich was ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ‚Guten Tag‘ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: Behalten Sie sich ihren Hammer, Sie Rüpel!“ Natürlich behandelt Watzlawick auch paradoxe Aufforderungen wie: Sei glücklich, oder: Sei spontan, aber auch: Wenn Du mich liebst, dann ... Besonders schmerzhaft für Liebende ist der Zweifel, etwa: Liebst Du mich auch wirklich? Oder die berühmte Anekdote von Graucho Marx, dem großen Kommödianten, der sagte: Ich trete keinem Club bei, der mich als Mitglied akzeptieren würde. Dieses Büchlein ist voll von solchen Paradoxien,Verschiebungen, Doppelbindungen und Voraussetzungen für ein trübes Leben: Ein köstlicher Spiegel unserer Alltagsvorstellungen, der uns unwillkürlich schmunzeln oder gar selbsterkennend lachen lässt und – schwuppsdiwupps ist gar aus einer trüben Stimmung eine heitere geworden. Alfred Pritz
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Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen #WƂCIG/ØPEJGP2KRGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
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ieses Buch handelt davon, inwieweit die Kommunikation unsere Wirklichkeit beeinflusst, wieweit nicht eigentlich unsere Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Es wird beschrieben, wie gefährlich es ist, nur eine Wirklichkeit anzunehmen, dass es eine große Anzahl von Wirklichkeitsauffassungen gibt, die alle nebeneinander existieren können und das Ergebnis von Kommunikation sind und nicht von objektiven Wahrheiten. Es ist in drei Teile gegliedert und handelt von der Konfusion, der Desinformation und der Kommunikation. Das Kapitel der Konfusion behandelt Kommunikationsstörungen und die daraus resultierende Verwirrung im Wirklichkeitserleben des Einzelnen. Die Gefahr der Konfusion bestünde dort, wo die Bedeutung einer Sprache in eine andere übertragen und übersetzt werden soll. Für Sender und Empfänger hat diese Mitteilung jeweils eine andere Bedeutung. Auch kann eine Störung nicht nur in der Übertragung liegen, sondern auch in der Mitteilung selber. Durch viele Skizzen und Fotos werden so die Tücken der Kommunikation noch mal anschaulich dargestellt und so deutlicher erkennbar. Das folgende Kapitel der Desinformation widmet sich den Störungen und Schwierigkeiten, die sich bei der absichtlichen Verweigerung von Information und der Suche nach dieser ergeben können. Ebenso wird der Bedeutung der Interpunktion Rechnung getragen und hervorgestellt, dass unsere Kommunikation bei weitem mehr ist als die Aneinanderreihung von Wörtern. Der dritte Teil beschäftigt sich mit den Problemen bei der Anbahnung von Kommunikation, wo noch keine Verständigungsmöglichkeit vorherrscht. Sollten die technischen Voraussetzungen gegeben sein, wie würden die Mitteilungen an Wesen aussehen, zu denen wir noch keine Verständigung haben, wie zum Beispiel mit Außerirdischen oder Tieren? Wie wirklich ist die Wirklichkeit? – eine spannende Frage. Wie viel trage ich selbst zu meiner Wirklichkeit bei, wie viel die anderen? Wie viel Streit und Verwirrung in der menschlichen Kommunikation ist auf sogenannte Übersetzungsfehler zurückzuführen? Was meint der eine, was versteht der andere? Alle diese Überlegungen betreffen uns alle jeden Tag und machen unser Leben komplizierter, da ja die Kommunikation nicht reibungslos abläuft. Watzlawick beschreibt auf sehr erheiternde Art und Weise, was die sogenannte Wirklichkeit wirklich ist und räumt mit dem Irrtum auf, dass es eine einzige und objektive Wirklichkeit gibt. Sie ist nur das Konglomerat aus vielen menschlichen Wirklichkeiten und der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das Buch ist voll mit Geschichten und Beispielen, die sehr anschaulich und erheiternd sind. So sind alle Theorien, die Watzlawick aufwirft, sofort auf das reale menschliche Erleben übertragbar. 197
W Es warnt aber auch den Leser, sich einer Wirklichkeit hinzugeben, seine eigene Wirklichkeit als absolute anzusehen, die sich schnell in eine Wahnidee umwandeln kann. Die Bestrebung ist erkennbar, allen, die diese Idee verfolgen, die Ausübung dieser zu erschweren. Für mich zählt dieses Buch deshalb zu den 100 Meisterwerken, da es all die Schwindler enttarnt, die für jede Gelegenheit objektive Erklärungen parat haben und sie als allgemein gültige Weisheiten verkaufen möchten. Es gibt einem den Anstoß zu einer reflektierteren Kommunikation und einer feineren, durch mehr Abstand entstandenen Betrachtungsweise. Michaela Heger
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Jürg Willi: Die Zweierbeziehung
Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle #WƂCIG4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
n diesem Werk stellt Willi sein Konzept der Kollusion vor. Darunter versteht er das unbewusste Zusammenspiel von Partnern – das gemeinsame Unbewusste. Er gibt einen Überblick über die klassischen Phasen einer Paarbeziehung – aber um diese geht es ihm in diesem Buch nicht. Sein Konzept bezieht sich nicht auf phasentypische Änderungen in einer Beziehung – das Pathologische ist nicht das Auftauchen von Krisen, sondern das Ausweichen. Dieses Vermeiden kann die Entstehung von Kollusionen fördern. Er versteht Paarkonflikte als gemeinsame neurotische Störung der Konfliktpartner. Wobei zu betonen ist, dass nicht jeder Paarkonflikt eine Kollusion darstellt, aber jeder destruktive Versuch einer Klärung kann zu einer führen. Im Kollusionskonzept versucht er, Konzepte verschiedener Therapieschulen in eine gemeinsame Theorie münden zu lassen. Dazu verbindet er diverse Aspekte der psychoanalytischen, der familientherapeutischen und der kommunikationstherapeutischen Methode miteinander. Das Resultat ist, wie es im ersten Moment klingt, mutig und faszinierend. Anhand von Grundthemen, die jedes Paar berühren, stellt er mit psychoanalytischen Termini die vier Kollusionsmuster dar: Liebe als Einssein oder die narzisstische Kollusion Liebe als Umsorgtwerden oder das orale Beziehungsthema Liebe als Einander-ganz-Gehören oder die anal-sadistischen Bestrebungen Liebe als männliche Bewährungsprobe oder das phallisch-ödipale Thema in der Beziehung. Willi versteht die Dyade als ein halboffenes System und beschreibt die Funktion von Drittpersonen im kollusiven Konflikt. Für die Weiterentwicklung eines Paares sind Beziehungen zu Dritten notwendig; er be-
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W Es warnt aber auch den Leser, sich einer Wirklichkeit hinzugeben, seine eigene Wirklichkeit als absolute anzusehen, die sich schnell in eine Wahnidee umwandeln kann. Die Bestrebung ist erkennbar, allen, die diese Idee verfolgen, die Ausübung dieser zu erschweren. Für mich zählt dieses Buch deshalb zu den 100 Meisterwerken, da es all die Schwindler enttarnt, die für jede Gelegenheit objektive Erklärungen parat haben und sie als allgemein gültige Weisheiten verkaufen möchten. Es gibt einem den Anstoß zu einer reflektierteren Kommunikation und einer feineren, durch mehr Abstand entstandenen Betrachtungsweise. Michaela Heger
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Jürg Willi: Die Zweierbeziehung
Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle #WƂCIG4GKPDGMDGK*CODWTI4QYQJNV6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG
n diesem Werk stellt Willi sein Konzept der Kollusion vor. Darunter versteht er das unbewusste Zusammenspiel von Partnern – das gemeinsame Unbewusste. Er gibt einen Überblick über die klassischen Phasen einer Paarbeziehung – aber um diese geht es ihm in diesem Buch nicht. Sein Konzept bezieht sich nicht auf phasentypische Änderungen in einer Beziehung – das Pathologische ist nicht das Auftauchen von Krisen, sondern das Ausweichen. Dieses Vermeiden kann die Entstehung von Kollusionen fördern. Er versteht Paarkonflikte als gemeinsame neurotische Störung der Konfliktpartner. Wobei zu betonen ist, dass nicht jeder Paarkonflikt eine Kollusion darstellt, aber jeder destruktive Versuch einer Klärung kann zu einer führen. Im Kollusionskonzept versucht er, Konzepte verschiedener Therapieschulen in eine gemeinsame Theorie münden zu lassen. Dazu verbindet er diverse Aspekte der psychoanalytischen, der familientherapeutischen und der kommunikationstherapeutischen Methode miteinander. Das Resultat ist, wie es im ersten Moment klingt, mutig und faszinierend. Anhand von Grundthemen, die jedes Paar berühren, stellt er mit psychoanalytischen Termini die vier Kollusionsmuster dar: Liebe als Einssein oder die narzisstische Kollusion Liebe als Umsorgtwerden oder das orale Beziehungsthema Liebe als Einander-ganz-Gehören oder die anal-sadistischen Bestrebungen Liebe als männliche Bewährungsprobe oder das phallisch-ödipale Thema in der Beziehung. Willi versteht die Dyade als ein halboffenes System und beschreibt die Funktion von Drittpersonen im kollusiven Konflikt. Für die Weiterentwicklung eines Paares sind Beziehungen zu Dritten notwendig; er be-
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W schränkt sich bei der Betrachtung nur auf jene Formen, die dazu beitragen, einen Konflikt nicht auszutragen. Dabei beschreibt er verschiedene Rollen, welche von einem Dritten übernommen werden können und deren Wirkung auf die Paardynamik. Er beschäftigt sich im Weiteren auch mit der psychosomatischen Paarerkrankung und ihren Konsequenzen für die Kollusion. Eine psychosomatische Erkrankung nimmt dabei für Willi eine ähnliche Bedeutung ein wie Drittpersonen. Schließlich beleuchtet er auch therapeutische Aspekte der Paartherapie und die Auswirkungen und Anwendung des Kollusionskonzeptes. Ein umfangreiches Thema, welches selbst ein weiteres Werk mit dem Titel „Therapie der Zweierbeziehung“ füllt. Wer glaubt, einen Ratgeber mit Tipps und Tricks für eine erfüllende Beziehung gefunden zu haben, der wird enttäuscht. Ganz im Gegenteil; das Werk lädt zur Selbstreflexion ein und bietet keine raschen Lösungen an. Wer sich gern mit sich und seinen Beziehungen auseinandersetzt, findet hier außergewöhnliche Denkanstöße. Es scheint so zu sein, dass, wenn man sich mit einem Du auseinandersetzen möchte, man zuerst die Bereitschaft aufbringen sollte, an dem Ich zu arbeiten. Sich mit dem Unbewussten eines Menschen zu beschäftigen füllt viele Lehrbücher, aber das Thema wird nicht gerade einfacher, wenn es sich um zwei Personen handelt. Willi stellt hier ein inspirierendes Modell für die Entstehungsquellen und die Erscheinungen solcher Konflikte vor. Das sehr vielschichtige und komplexe Thema der Paardynamik wird dem Leser durch die Konzeptbildung und Gliederung verständlich gemacht. Den theoretischen Passagen folgen viele praktische Falldarstellungen, welche aufschlussreiche Zusammenhänge der Theorie und der Praxis darstellen. Die verwendeten Fachtermini sind im Anhang erklärt und daher besteht auch nicht unbedingt die Notwendigkeit eines therapeutischen Vorwissens. Das Buch ist 1975 erstmals erschienen und war bald ein Bestseller – ein Meisterwerk der Paarpsychologie und Paartherapie. Das erste Kapitel beginnt mit dem Titel „Die neue Angst vor der Ehe“ – eine Angst, die auch heute an Brisanz nicht verloren hat. Zumindest wenn man die rasch anwachsenden Statistiken der Einzelhaushalte nicht anzweifelt. Zu einem Streit gehören zwei, sagt eine Redewendung. Aber in welcher Weise ist jeder Einzelne daran beteiligt? Welche Konflikte trägt jeder in die Beziehung? Sind diese Paarkonflikte vorprogrammiert? Ein zum Nachdenken anregendes und tiefgehendes Konzept über Partnerwahl und Partnerkonflikte. Es ist nicht nur empfehlenswert für alle Fachleute, sondern auch für alle Paare, Singles und Lebensabschnittspartner. Nassim Agdari-Moghadam
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Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG2NC[KPICPFTGCNKV[ .QPFQP6CXKUVQEM2WDNKECVKQPU
n diesem Werk beschreibt Winnicott sein Konzept von Übergangsobjekten und -phänomenen. Am Beginn des Buches steht seine Anfangshypothese, dass nämlich zwischen dem Daumenlutschen und der Liebe zum Teddybären eine Beziehung besteht. Diesen intermediären Raum zwischen oraler Autoerotik und der echten Objektbeziehung bezeichnet Winnicott als Übergangsphänomen. Wenn man sich mit Übergangsphänomenen beschäftigt, drängt sich das Thema des Spielens auf. Unter Spielen versteht Winnicott etwas Universelles, das im potentiellen Raum zwischen Kleinkind und Mutter stattfindet. Er stellt eine Theorie des Spielens dar und beschreibt den Zusammenhang zwischen Spielen und Übergangsphänomen. In diesem Kontext versteht der Autor Psychotherapie als Spiel zwischen zwei Menschen. Abgesehen von der innerpsychischen Realität und der sogenannten äußeren Realität, außerhalb des Individuums, gibt es noch einen dritten Bereich, den des potentiellen Raumes zwischen Mutter und Kind. Nur im Spiel können sich Kinder und Erwachsene entfalten und kreativ sein. Wobei er unter Kreativität eine Haltung gegenüber der äußeren Realität versteht; im Gegensatz dazu steht die Angepasstheit. Kreativität gehört in diesem Sinn zum Lebendigsein. Durch eine genügend gute Mutter („good enough mother) wird dem Kind die Möglichkeit geboten, Illusionen zu haben. Jedoch betont er, dass es auch die Aufgabe der Mutter ist, das Kind allmählich zu desillusionieren. Dadurch verlieren die Übergangsphänomene im Laufe der Zeit ihre Bedeutung und dehnen sich auf den gesamten kulturellen Bereich zwischen zwei Menschen aus. Die gemeinsamen Erfahrungen verschiedener Menschen in den Bereichen der Kunst, der Religion und der Philosophie stellen Überschneidungen der intermediären Bereiche des Einzelnen dar. Aber es gibt auch einen Zusammenhang zwischen Übergangsphänomenen und Zwangsritualen, Drogenabhängigkeit und Fetischismus. Übergangsobjekte und -phänomene sind für Winnicott ein Paradoxon, das darin besteht, dass sich das Kind das Objekt erschafft, das aber vorher da war, um erschaffen zu werden. Er betont, dass die Fähigkeit zur Objektverwendung im besonderen Maße auch von ausreichend fördernden Umweltfaktoren abhängt. Wenn diese nicht vorhanden sind, kann das Kind auch nicht kreativ leben und verfügt später über keine Beziehung zum kulturellen Erbe. Winnicott weist auf die Zusammenhänge zwischen Übergangsphänomenen, Kreativität und letztendlich kulturellem Erleben hin. Als Objektbeziehungsvertreter betont er die Wichtigkeit der Spiegelfunktion der Mutter und der Familie. Schlussendlich geht er auf die Konzepte der Entwicklung Jugendlicher ein. In diesem letzten Kapitel erläutert er die 200
W Notwendigkeit der jugendlichen Unreife und den Drang zur Rebellion der Jungen. Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen und bestehen zu lassen zeichnen diesen Denker aus. Vielleicht, so meint er selbst, war es insbesondere sein Schicksal, als Pädiater und Psychoanalytiker die Bedeutung dieser Phänomene in die Theorie einzubinden. Winnicott verwendet zahlreiche praktische Beispiele für die Darstellung seiner Theorie. Immer wieder unterstützt dieses klinische Material beim Folgen seiner Ideen. Beim Lesen hat man das Gefühl, ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen zu dürfen. Insbesondere in einem konkreten Fall, wo er ein Bruchstück der Analyse darstellt. Dieser Mut macht das Werk zu etwas ganz Besonderem und gewährt tiefe Einblicke in seine persönliche therapeutische Arbeit. Ein weiteres Fallbeispiel „Der Bindfaden“ ist von enormem Interesse für das Verständnis der Entwicklung einer Perversion. Der Leser hat auch gleichzeitig die Möglichkeit, ihn beim Denken zu begleiten. Er wirft Fragen auf, betrachtet die Themen aus verschiedenen Blickwinkeln und versucht letztendlich, diese sich selbst zu beantworten. Das gibt einem das Gefühl des Beteiligtseins am Entstehungsprozess der Theorie. Der Autor stellt die für seine Theorie notwendigen Vorannahmen ausführlich dar und bezieht sich auf die Arbeiten von Freud, Klein, Lacan und anderen. Dadurch gewinnt auch der Leser, der mit den bisherigen psychoanalytischen Modellen nicht sehr vertraut ist, einen guten Überblick für die Einordnung der neuen Theorie. Winnicott zeigt auch wiederkehrend die Mängel und Lücken der Psychoanalyse und die Notwendigkeit einer weiteren Betrachtungsweise auf. Das Konzept, das er als Objektbeziehungstheoretiker darstellt, hat, wie er selbst betont, nichts mit der Freud’schen Triebtheorie zu tun. Es gibt für ihn auch etwas anderes, er betont das parallele Bestehen beider Ansätze. Er versteht seinen Beitrag als eine Erweiterung der psychoanalytischen Technik. Das Buch ist in elf überschaubare Kapitel unterteilt und immer wieder kann man das Gelesene bei den prägnanten Zusammenfassungen Revue passieren lassen und reflektieren. Ein ausführliches Stichwortverzeichnis im Anhang ermöglicht ein rasches Suchen des Fachvokabulars. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass er vor Einsatz eines neuen Begriffes diesen definiert und damit Missverständnisse vermieden werden. Das Konzept der Übergangsphänomene ist längst Teil der psychoanalytischen Theorie geworden. Das Buch ist einerseits ein Standardwerk für Psychoanalytiker und Studenten der Psychoanalyse und andererseits auch für interessierte Laien der Psychotherapie. Ein Meisterwerk der psychoanalytischen Literatur. Nassim Agdari-Moghadam
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Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie Ein Lehrbuch #WƂCIG5VWVVICTV-NGVV%QVVC 'TUVCWUICDG6JGVJGQT[CPFRTCEVKEGQHITQWRRU[EJQVJGTCR[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
as vorliegende Handbuch ist ein Klassiker der Gruppenpsychotherapie. Es ist ein Übersichtswerk, das viele wesentliche Aspekte der Gruppenpsychotherapie darstellt und dabei so spannend wie ein Krimi zu lesen ist. Zunächst werden die Heilfaktoren beschrieben und zwar in einer überblicksartigen Weise, in der sich alle Gruppenpsychotherapien der verschiedenen Psychotherapieschulen wiederfinden können: Mitteilung von Informationen, Einflüsse von Hoffnung, die Erfahrung der Universalität psychischen Leidens, Altruismus, die korrigierende Rekapitulation der primären Familiengruppe, die Entwicklung von Techniken des mitmenschlichen Umgangs und nachahmendes Verhalten. Zwei Kapitel werden dem interpersonellen Lernen und der Bedeutung des Gruppenzusammenhalts, der Gruppenkohäsion gewidmet und natürlich auch dem Thema, wie ein guter Gruppenleiter damit umzugehen hat. Der Rolle des Gruppenleiters wird dann nachgegangen. Es wird erörtert, welche Aufgaben der Gruppenleiter hat, wie etwa den Aufbau einer Gruppenkultur und den Erhalt der Gruppenkohäsion. Auch auf die Bedeutung der Transparenz des Gruppenleiters wird eingegangen sowie auf die Behandlungstechnik. Das Hier- und Jetzt-Prinzip und die Bedeutung des Einbeziehens der Vergangenheit werden diskutiert, ebenso wie die Deutungen im Hinblick auf die individuelle Vergangenheit des Gruppenteilnehmers. Ein wichtiges Kapitel befasst sich mit der Auswahl der Patienten für eine Gruppenpsychotherapie, welche Patienten besonders profitieren und welche man nicht in eine solche Behandlungsform aufnehmen sollte. Schließlich geht der Autor auf die Vorhersage von Gruppenverhalten sowie auf die Grundsätze der Gruppenkomposition ein. Weiters wird in anschaulicher Weise der äußere Rahmen definiert: Ort, Zeit, geschlossene oder offene Gruppe, Dauer der Sitzungen, Größe der Gruppe, Vorbereitung auf den Gruppenbeginn. Eine Gruppe hat bereits zu Beginn eine besondere Dynamik, so werden die ersten Stadien der Gruppe beschrieben, das Zuspätkommen, das vorzeitige Ausscheiden, das Fehlen bei Sitzungen und die Wirkung von neu hinzukommenden Gruppenmitgliedern. Die fortgeschrittene Gruppe bildet Untergruppen, es können Konflikte auftreten, wie sie zu lösen sind, beschreibt Yalom in einem weiteren Kapitel, ebenso die Thematik des Beendens einer Gruppe sowie Problempatienten, etwa der „Alleinunterhalter“, der „jede Hilfe ablehnende“ Jammerer, der selbstgerechte Moralist, der Helfer der Patienten, der schizoide Patient, der schweigende Patient, der psychotische Patient in der Gruppe und der homosexuelle Patient. Schließlich konzentriert sich der Autor auf die Behandlungstechnik des Gruppenleiters: gleichzeitige Einzel- und Gruppentherapie, Kotherapie,
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Y die führerlose Gruppe, Beschleunigungstechniken zur Intensivierung des emotionalen Prozesses, die Verwendung von Videoaufnahmen. Im letzten Kapitel werden verschiedene Gruppenpsychotherapien miteinander verglichen. Dieses Handbuch ist ein Standardwerk, das in die Bibliothek jedes Psychotherapeuten gehört. Auch wenn die Gruppenpsychotherapie von heute in vielen Aspekten sich weiterentwickelt hat, so schildert Yalom in spannender Weise die verschiedenen Aspekte der Gruppenpsychotherapie, ist undogmatisch und von einer sichtlichen Liebe zu diesem Verfahren gekennzeichnet. Dabei zieht er die wissenschaftliche Literatur heran, verpackt sie aber in spannende Fallbeispiele und nachvollziehbare Erzählungen. Durch die allgemeine Darstellung kann nicht nur der Gruppenpsychotherapeut, sondern auch der interessierte Laie seine eigenen Erfahrungen sehr gut mit den Darstellungen im Buch vergleichen und ohne erhobenen Zeigefinger gegebenenfalls korrigieren. Gerade im Hinblick auf die gemeinsamen Wurzeln der Psychotherapie hat Yalom hier ein anregendes Werk geschaffen, das uns hilft, neben den vielen Methoden und ihren jeweiligen Stärken und Schwächen Grundlegendes als solches zu erkennen und dem Patienten in der konkreten Gruppensituation zur Verfügung zu stellen. Dieses Handbuch hilft den Patienten, die sich für eine theoretische Grundlage der Gruppenpsychotherapie interessieren, ihre eigene Gruppe, in der sie sich befinden, besser zu verstehen, und dem Gruppenpsychotherapeuten, eventuell nicht so beachtete Aspekte seines Handelns in sein therapeutisches Tun miteinzubeziehen. Alfred Pritz
Irvin D. Yalom: Existenzielle Psychotherapie #WƂCIG$GTIKUEJ)NCFDCEJ'FKVKQP*WOCPKUVKUEJG2U[EJQNQIKG 'TUVCWUICDG'ZKUVGPVKCNRU[EJQVJGTCR[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
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ie „Existenzielle Psychotherapie“ (EP) von Irvin D. Yalom ist ein Klassiker der neueren Psychotherapie-Literatur, ein Buch von 630 Seiten, gespickt mit Theorie, Fallbeispielen, Forschungsergebnissen und klinischer Inspiration. Ich kenne kaum einen Psychotherapeuten meiner Generation (die heute um die 50-Jährigen), der von diesem Werk nicht stark beeinflusst ist und Yalom als eines seiner psychotherapeutischen Vorbilder sieht. Yalom verbindet in dieser einmaligen Arbeit psychoanalytische, humanistische und philosophische Gesichtspunkte zu einem integrativen Psychotherapie-Ansatz, der sich nicht von Techniken her definiert, sondern von einer Grundkonzeption und einem Menschenbild. Sein Ansatz geht von den Grundthemen, den „vier letzten Dingen“, der menschlichen 203
Y die führerlose Gruppe, Beschleunigungstechniken zur Intensivierung des emotionalen Prozesses, die Verwendung von Videoaufnahmen. Im letzten Kapitel werden verschiedene Gruppenpsychotherapien miteinander verglichen. Dieses Handbuch ist ein Standardwerk, das in die Bibliothek jedes Psychotherapeuten gehört. Auch wenn die Gruppenpsychotherapie von heute in vielen Aspekten sich weiterentwickelt hat, so schildert Yalom in spannender Weise die verschiedenen Aspekte der Gruppenpsychotherapie, ist undogmatisch und von einer sichtlichen Liebe zu diesem Verfahren gekennzeichnet. Dabei zieht er die wissenschaftliche Literatur heran, verpackt sie aber in spannende Fallbeispiele und nachvollziehbare Erzählungen. Durch die allgemeine Darstellung kann nicht nur der Gruppenpsychotherapeut, sondern auch der interessierte Laie seine eigenen Erfahrungen sehr gut mit den Darstellungen im Buch vergleichen und ohne erhobenen Zeigefinger gegebenenfalls korrigieren. Gerade im Hinblick auf die gemeinsamen Wurzeln der Psychotherapie hat Yalom hier ein anregendes Werk geschaffen, das uns hilft, neben den vielen Methoden und ihren jeweiligen Stärken und Schwächen Grundlegendes als solches zu erkennen und dem Patienten in der konkreten Gruppensituation zur Verfügung zu stellen. Dieses Handbuch hilft den Patienten, die sich für eine theoretische Grundlage der Gruppenpsychotherapie interessieren, ihre eigene Gruppe, in der sie sich befinden, besser zu verstehen, und dem Gruppenpsychotherapeuten, eventuell nicht so beachtete Aspekte seines Handelns in sein therapeutisches Tun miteinzubeziehen. Alfred Pritz
Irvin D. Yalom: Existenzielle Psychotherapie #WƂCIG$GTIKUEJ)NCFDCEJ'FKVKQP*WOCPKUVKUEJG2U[EJQNQIKG 'TUVCWUICDG'ZKUVGPVKCNRU[EJQVJGTCR[ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
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ie „Existenzielle Psychotherapie“ (EP) von Irvin D. Yalom ist ein Klassiker der neueren Psychotherapie-Literatur, ein Buch von 630 Seiten, gespickt mit Theorie, Fallbeispielen, Forschungsergebnissen und klinischer Inspiration. Ich kenne kaum einen Psychotherapeuten meiner Generation (die heute um die 50-Jährigen), der von diesem Werk nicht stark beeinflusst ist und Yalom als eines seiner psychotherapeutischen Vorbilder sieht. Yalom verbindet in dieser einmaligen Arbeit psychoanalytische, humanistische und philosophische Gesichtspunkte zu einem integrativen Psychotherapie-Ansatz, der sich nicht von Techniken her definiert, sondern von einer Grundkonzeption und einem Menschenbild. Sein Ansatz geht von den Grundthemen, den „vier letzten Dingen“, der menschlichen 203
Y Existenz aus: Tod, Freiheit, Isolation, Sinnlosigkeit. Die unbewusste und bewusste Beschäftigung mit diesen Themen prägt die innere Welt und die Lebensführung jedes Individuums. Die Angst vor der Auseinandersetzung und die Abwehr der Beschäftigung mit den existenziellen Themen führt in die neurotische Einengung und Verarmung. Yalom bezeichnet die EP als eine „dynamische“ Psychotherapie und versteht darunter eine konfliktorientierte Psychotherapie. Zu den Konflikten zwischen Trieb und Abwehr, verschiedenen Selbstanteilen, Wünschen und Befürchtungen kommt laut Yalom der Konflikt jedes Menschen hinzu, der aus der Konfrontation mit den Gegebenheiten der Existenz resultiert. Die Konfrontation mit den vier letzten Dingen erzeugt in jedem Menschen Angst, und gegen diese Angst mobilisiert er Abwehrmechanismen. Am eindrücklichsten sind meines Erachtens die über 200 Seiten, die er der Auseinandersetzung mit dem Tod widmet, der in der Psychotherapie seiner Ansicht nach – angefangen bei Freud und dessen biographiebedingter Todesverleugnung – vernachlässigt wird. Der zweite Teil des Buches, dem Grundthema der Freiheit gewidmet, ist wiederum eine Fülle von theoretischem, klinischem und empirischem Material. Er sensibilisiert für die in der Psychotherapie, besonders in den analytischen Richtungen, meines Erachtens zu wenig beachteten Fragen der Entscheidung und des Willens. Der dritte Teil zum Thema der Isolation ist äußerst anspruchsvoll. Yalom meint damit nicht die zwischenmenschliche Isolation oder die subjektive (zum Beispiel narzisstische) Isolation oder die intrapsychische Isolation durch Abspaltung von Teilen seiner selbst, sondern die Isolation als die grundlegende Erfahrung der Trennung zwischen einem selbst und der Welt. Sie kann erfahren werden, wenn die Konfrontation mit dem Tod und der Freiheit nicht vermieden wird. Persönliche Entwicklung, das heißt existenzielles Wachstum, kann nur geschehen, wenn man sich dieser Getrenntheit bewusst wird. Wir flüchten oft in die zwischenmenschliche Verschmelzung, um der existenziellen Isolation mit all der Furcht und Ohnmacht zu entgehen. Das Dilemma der VerschmelzungIsolation oder, wie es oft bezeichnet wird, der Bindung-Trennung ist die wesentliche existenzielle Entwicklungsaufgabe. Yalom: „Keine Beziehung kann die Isolation auslöschen. Jeder von uns ist in seiner Existenz allein. Aber das Alleinsein kann auf eine Weise geteilt werden, dass die Liebe den Schmerz der Isolation aufwiegt.“ Echte „bedürfnisfreie“ Liebe dient nicht dem Zweck, der existenziellen Einsamkeitserfahrung zu entrinnen, wir missbrauchen den anderen nicht als Flucht-Instrument, sondern wir begegnen ihm und lieben ihn für das, was er ist. Der letzte Teil des Buches befasst sich mit der Sinnlosigkeit. Die Kernfrage lautet: Wie findet ein Wesen, das Sinn braucht, Sinn in einem Universum, das keinen Sinn hat? Sinnhaftigkeit hat sich, wie durch die aktuelle gesundheitspsychologische und -soziologische Forschung belegt, als eine Lebensorientierung herausgeschält, die für langfristige Gesundheit am wichtigsten ist. Yalom zeigt die Klinik des Sinnverlustes auf und beschreibt psychotherapeutische Strategien, die die Entwicklung eines per204
Y sönlichen Umgangs mit dem Thema des Lebenssinnes fördern. Während die Themen Tod, Freiheit und Isolation in der Therapie direkt aufgegriffen werden, geht es bei der Frage der Sinnlosigkeit darum, dem Patienten zu helfen, von der Frage nach dem Sinn wegzuschauen. Yalom: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, wie Buddha uns gelehrt hat, nicht erbaulich. Man muss in den Fluss des Lebens eintauchen und die Frage davonschwimmen lassen.“ Es ist vermessen, auf zwei Seiten nur den Hauch eines Eindrucks von der Reichhaltigkeit dieses Meisterwerks zu vermitteln. Das Buch ist leicht verständlich für jedermann, und es gehört in die Bibliothek jedes Psychotherapeuten, und zwar in Griffweite. Meisterlich ist, wie der Autor einen integrativen psychotherapeutischen Ansatz entwickelt, der mit sämtlichen therapeutischen Orientierungen kompatibel ist, weil er eine andere Form von Tiefendimension herausarbeitet, die in jeder Psychotherapie, die diesen Namen verdient, enthalten sein muss. Irvin D. Yalom (geboren 1931 als Kind polnisch-jüdischer Immigranten in Washington) ist emeritierter Professor für Psychiatrie an der Stanford University. E-mail:
[email protected]. Das Buch ist leicht verständlich und brillant geschrieben, auch für Laien lesbar. Markus Fäh
Irvin D. Yalom: Die rote Couch #WƂCIG/ØPEJGPDVD6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.[KPIQPVJGEQWEJ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
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nbekümmert, tiefgründig, wahrheitsliebend und spannungsreich werden in diesem Roman die Psychotherapeuten und ihre Patienten auf der Suche nach sich selbst gezeigt. Die Psychotherapeuten sind verstrickt in ihre Eitelkeit und ihre Geldgier, ihren Ehrgeiz und ihre Geilheit, sie sind getrieben von Rivalitäten untereinander, vom Neid auf ihre Patienten und von ihrem unersättlichen Bedürfnis nach großartigen Heilungserfolgen. Die Patienten suchen nicht nach Heilung und Veränderung, sondern nach Rache, Entschädigung und Entlastung. Auf den ersten Blick werden alle negativen Klischees über die Psychotherapie bedient und alle Zweifel an ihrer Wirksamkeit geweckt. Es scheint sich um eine verlogene Angelegenheit zu handeln – im Englischen heißt das Buch auch „Lying on the couch“ (lying – in beiden Bedeutungen: liegen und lügen). Aber gleichzeitig vermittelt der Roman, dass es keine Möglichkeit gibt, der eigenen Wahrheit zu entgehen, wenn man die Begegnung mit einem anderen Menschen zulässt.
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Y sönlichen Umgangs mit dem Thema des Lebenssinnes fördern. Während die Themen Tod, Freiheit und Isolation in der Therapie direkt aufgegriffen werden, geht es bei der Frage der Sinnlosigkeit darum, dem Patienten zu helfen, von der Frage nach dem Sinn wegzuschauen. Yalom: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, wie Buddha uns gelehrt hat, nicht erbaulich. Man muss in den Fluss des Lebens eintauchen und die Frage davonschwimmen lassen.“ Es ist vermessen, auf zwei Seiten nur den Hauch eines Eindrucks von der Reichhaltigkeit dieses Meisterwerks zu vermitteln. Das Buch ist leicht verständlich für jedermann, und es gehört in die Bibliothek jedes Psychotherapeuten, und zwar in Griffweite. Meisterlich ist, wie der Autor einen integrativen psychotherapeutischen Ansatz entwickelt, der mit sämtlichen therapeutischen Orientierungen kompatibel ist, weil er eine andere Form von Tiefendimension herausarbeitet, die in jeder Psychotherapie, die diesen Namen verdient, enthalten sein muss. Irvin D. Yalom (geboren 1931 als Kind polnisch-jüdischer Immigranten in Washington) ist emeritierter Professor für Psychiatrie an der Stanford University. E-mail:
[email protected]. Das Buch ist leicht verständlich und brillant geschrieben, auch für Laien lesbar. Markus Fäh
Irvin D. Yalom: Die rote Couch #WƂCIG/ØPEJGPDVD6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG.[KPIQPVJGEQWEJ 0GY;QTM$CUKE$QQMU
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nbekümmert, tiefgründig, wahrheitsliebend und spannungsreich werden in diesem Roman die Psychotherapeuten und ihre Patienten auf der Suche nach sich selbst gezeigt. Die Psychotherapeuten sind verstrickt in ihre Eitelkeit und ihre Geldgier, ihren Ehrgeiz und ihre Geilheit, sie sind getrieben von Rivalitäten untereinander, vom Neid auf ihre Patienten und von ihrem unersättlichen Bedürfnis nach großartigen Heilungserfolgen. Die Patienten suchen nicht nach Heilung und Veränderung, sondern nach Rache, Entschädigung und Entlastung. Auf den ersten Blick werden alle negativen Klischees über die Psychotherapie bedient und alle Zweifel an ihrer Wirksamkeit geweckt. Es scheint sich um eine verlogene Angelegenheit zu handeln – im Englischen heißt das Buch auch „Lying on the couch“ (lying – in beiden Bedeutungen: liegen und lügen). Aber gleichzeitig vermittelt der Roman, dass es keine Möglichkeit gibt, der eigenen Wahrheit zu entgehen, wenn man die Begegnung mit einem anderen Menschen zulässt.
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Y Der Roman vermittelt, wie in all diesen Miseren und haarsträubenden Verwirrungen Selbsterkenntnis gelingt. Zwei Psychotherapeuten und ihre Patienten werden einander prototypisch gegenübergestellt. Der eine, arriviert, routiniert, erfolgreich, ethisch und professionell über jeden Zweifel erhaben, trifft auf einen betrügerischen Patienten. Er erliegt seiner Eitelkeit und Geldgier, aber er gewinnt wichtige Erkenntnisse über sich. Er kann nicht fassen, was ihm widerfahren ist, er will Genugtuung und sucht Hilfe bei einer Anwältin. Es entspinnt sich folgender Dialog: „Sehen Sie sich nur das Risiko an, das er eingegangen ist, sehen Sie sich seine Zielperson an – einen Psychoanalytiker. Er hat sich einen hoch qualifizierten Beobachter menschlichen Verhaltens ausgesucht – einen Menschen, bei dem es sehr wahrscheinlich ist, dass er einen Betrug wittert.“ „Nein, Dr. Streider, da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet, und die deutet genau auf das Gegenteil hin ... ich habe Beweise dafür, dass Psychiater möglicherweise zu den leichtgläubigsten Personen überhaupt gehören. Ich meine, Sie sind es schließlich gewöhnt, dass Ihre Patienten Ihnen die Wahrheit sagen – Patienten, die Sie dafür bezahlen, dass Sie sich ihre wahren Geschichten anhören. Ich denke, es ist sehr einfach, einen Psychiater zu beschwindeln“ (S. 468). Dr. Streider muss sich mit seiner Selbstgefälligkeit, seinen Schwächen, mit seinen Verlusten und mit seinem Versagen konfrontieren und er erfährt, wie unsicher und verlassen er in dieser Welt ist. Der andere Psychotherapeut, ein enthusiastischer Anfänger in seinem Fach, ist vom Ehrgeiz getrieben, eine neue Behandlungsmethode einzuführen, die darin besteht, seinen Patienten die Wahrheit über sich selbst zu sagen. Er gerät damit an eine Patientin die ihn aufsucht, um sich zu rächen an ihm und an der Psychotherapie. Sie sucht keine Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern sie will ihn vernichten. Trotz ihres Vorsatzes zu lügen kann die Patientin ihrer eigenen Wahrheit nicht entgehen. „Obwohl sie Ernest verachtete, stellte sie fest, dass seine Fragen sie fesselten. Erstaunlich, dachte sie, welchen Zauber der therapeutische Prozess entwickelt. Sie kriegen dich in ein oder zwei Stunden an den Haken, und wenn sie dich erst mal haben, können sie tun, was sie wollen – sie können dich jeden Tage kommen lassen, dir berechnen, was ihnen gefällt, dich auf ihrem Läufer ficken und dir dafür sogar noch Geld abknöpfen. Vielleicht ist es zu gefährlich, wenn ich mich ehrlich darstelle. Aber ich habe keine andere Wahl – wenn ich eine Persönlichkeit erfände, würde ich wieder und wieder über meine eigenen Lügen stolpern. Der Typ ist ein Arschloch, aber er ist kein Dummkopf. Nein, ich muß mich selbst spielen. Aber Vorsicht, Vorsicht“ (S. 308). Aus der unmöglichen Situation wird Psychotherapie, obwohl die Patientin ihr Destruktionsvorhaben weiterführt und versucht, den Psychotherapeuten zu verführen. Er ist zunächst geschmeichelt von ihren erotischen Avancen und gibt sich „ehrlich“ seinen Phantasien hin, verstrickt sich in die Versuchung. Ihn schützt sein Wunsch nach Wahrung seiner Professionalität:
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Y „Seine Phantasien erregten und ekelten ihn gleichermaßen – sie verstießen fundamental gegen das auf Hilfestellung ausgerichtete Leben, das er sich zur Aufgabe gemacht hatte. Ihm war absolut klar, dass die sexuelle Erregung in seinen Phantasien durch das Gefühl seiner absoluten Macht über Carolyn noch gesteigert wurde. Sexuelle Tabus zu brechen war immer eine aufregende Sache: Hatte Freud nicht ein Jahrhundert zuvor darauf hingewiesen, dass Tabus überflüssig wären, wenn verbotenes Verhalten keinen solchen Reiz ausübte? Ernest wusste, dass er Hilfe brauchte“ (S. 404). Er findet Hilfe in der Literatur und in der Diskussion mit einem Kollegen und entdeckt altbekannte Wahrheiten neu für sich: Die erotischen Wünsche der Patientin sind ernst zu nehmen und zu bearbeiten und sie dürfen ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden. Ein Therapeut, der darauf eingeht, befriedigt sein Liebesdefizit und seine Allmachtswünsche; er gibt der Patientin nicht Liebe, sondern er missbraucht sie. Schließlich kann er die richtigen Worte finden: „Die Quintessenz ist, dass ich vermeiden will, etwas zu tun, was mir in Zukunft Schmerz zufügen wird. Ich weiß, wie die Ergebnisse jeglicher sexueller Verstrickung letztlich für mich aussehen werden: Ich werde mich in den nächsten Jahren wahrscheinlich immer sehr schlecht deswegen fühlen. Und dem werde ich mich nicht aussetzen ... Ich habe zu hart dafür gearbeitet, bis ich dahin kam, wo ich jetzt bin. Ich liebe meine Arbeit, und ich bin nicht bereit, meine gesamte Karriere aufs Spiel zu setzen. Und es wird Zeit, dass Sie anfangen, ernsthaft zu prüfen, warum Sie das von mir verlangen“ (S. 476). Der Patientin gibt das die Möglichkeit, ihr Komplott aufzugeben, und sie ist bereit, ihm die Wahrheit zu sagen. Damit endet der Roman – und nur der Leser weiß, dass mit diesem Geständnis neue Schwierigkeiten auf die therapeutische Beziehung zukommen werden. Es ist ein guter und spannender Roman, der Einblick in die Welt der Psychotherapie verschafft: Die Geschichte ist interessant für diejenigen, die wissen wollen, was in einer Psychotherapie geschieht. Für angehende Psychotherapeuten ist sie entlastend, denn sie können feststellen, dass es nicht nötig ist, perfekt, störungsfrei und unantastbar zu sein, um gute Psychotherapie zu machen. Auch für erfahrene Psychotherapeuten ist das Buch interessant, weil es Herausforderungen und Gefahren des Berufs, Mängel und Vorzüge zeigt und Worte findet für die Atmosphäre des Berufsfelds Psychotherapie. Elisabeth Vykoukal
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Jeffrey E. Young / Janet S. Klosko / Marjorie E. Weishaar: Schematherapie Ein praxisorientiertes Handbuch 2CFGTDQTP,WPHGTOCPP 'TUVCWUICDG5EJGOCVJGTCR[CRTCEVKVKQPGToUIWKFG 0GY;QTM)WKNHQTF2TGUU
m ersten Teil des Buches wird die Entwicklung der Schema-Therapie als integrativer Ansatz dargestellt, der ausgehend von der kognitiv-behavioralen Tradition auch auf Objektbeziehungs- und Bindungstheorie Bezug nimmt und sich Anregungen von verschiedensten Techniken – etwa aus der Gestalttherapie – holt. Sehr genau werden allerdings die jeweiligen Unterschiede zu diesen Ansätzen herausgearbeitet und wird ein konsistentes konzeptuelles Modell entworfen. Zentraler Bestandteil ist der Schema-Begriff, der hier besonders im Zusammenhang mit sogenannten „frühen maladaptiven Schemata“ verwendet wird, welche aufgrund negativer Beziehungserfahrungen in der Kindheit fortan das Erleben organisieren. Der Ansatz benennt derzeit 18 Schemata aus fünf verschiedenen Domänen und mehrere Formen des Umgangs mit ihnen. Neben der Einwilligung, dem Vermeiden und der Überkompensation werden in einem umfassenderen Sinn noch zehn Modalitäten postuliert, wie Menschen sich von der schemaspezifischen Vulnerabilität entweder erfassen lassen oder versuchen, sich vor ihr zu schützen. Aufgrund der jahrzehntelangen klinischen Erprobung dieser Konstrukte konnten sie immer feiner beschrieben und klarer voneinander abgegrenzt werden, sodass sie nunmehr bestechend plausibel und praxisnah ausformuliert sind. Nachfolgend wird auf die Anfangsphase einer Therapie näher eingegangen, wo von Fragebögen unterstützt die individuell vorliegenden Schemata erarbeitet und zu einer schemafokussierten Fallformulierung zusammengefasst werden. Weitere Kapitel widmen sich der Darstellung von Bearbeitungsstrategien, beginnend mit einem kognitiv orientierten Herangehen, das ebenso wie die anderen Techniken durch Fallvignetten und Therapietranskripte veranschaulicht wird. Zentrale Bedeutung haben sogenannte „experiential strategies“, welche sich besonders auf das nochmalige Wiedererleben von Szenen der Kindheit in der Vorstellung konzentrieren und ein begrenztes Nachholen der einst vermissten Wertschätzung und liebevollen Unterstützung ermöglichen sollen. Ein Kapitel über das Durchbrechen von maladaptiven Verhaltensmustern hält sich dann mehr an die traditionellen verhaltenstherapeutischen Techniken, etwa die Vereinbarung von Hausaufgaben. Die therapeutische Beziehung wird so konzeptualisiert, dass der Therapeut so weit als möglich jene Qualitäten für den Patienten zur Verfügung stellen soll, die dieser bei seinen frühen Bezugspersonen vermissen musste („limited reparenting“). Es wird auch untersucht, inwiefern die eigenen Schemata des Therapeuten dieser Aufgabe im Wege stehen können. Anschließend werden für jedes Schema einzeln die empfehlenswerten Be-
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Y handlungsstrategien präzisiert und die in der Praxis oft vorkommenden Schwierigkeiten vorweggenommen. Im letzten großen Abschnitt des Buches wird die Arbeit mit umfassenderen Modalitäten schemageleiteten Erlebens beschrieben – eine jüngere Erweiterung des Ansatzes, um Persönlichkeitsstörungen adäquater behandeln zu können. Ein Leitfaden für den Therapieprozess mit Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen bleibt in einfühlsamer Weise nahe an den Bedürfnissen dieser Patienten mit dem Ziel, sie mit den früh erfahrenen emotionalen Verletzungen in Berührung zu bringen. Erwartbaren Krisen und möglichen Fehlern des Therapeuten wird ausreichend Raum gegeben. Jeffrey Young hat sich als Schüler von Aaron Beck schon früh engagiert, den schematheoretischen Ansatz der Kognitiven Therapie dahingehend zu vertiefen, dass besonders bei komplexeren psychischen Problemen die Beziehungsgeschichte mit zu bedenken und mit zu bearbeiten ist. Sein erstes Buch wurde 1990 publiziert („Cognitive Therapy for Personality Disorders: A schema-focused Approach“) und ist wegen seiner klinisch relevanten Griffigkeit in vielfach revidierter Neuauflage weiterhin sehr gefragt; Gleiches gilt für das Selbsthilfebuch „Reinventing your life“ (1993). Das hier vorgestellte Buch fasst nun alles bisher Gesagte am neuesten Stand zusammen und verbindet fundiertes und breites theoretisches Fachwissen mit einem menschlich-einfühlsamen Zugang zu jenen Lebensgeschichten, die „maladaptive Schemata“ entstehen und aufrechterhalten ließen. Diese Einfühlsamkeit bleibt jedoch immer konzentriert auf das therapeutisch unmittelbar Hilfreiche, welches sich sehr strukturiert und präzise beschreibbar in vielschichtigen Therapiekonzepten niederschlägt. Die Klarheit und Nachvollziehbarkeit, die hier erreicht wird, reduziert dennoch nicht die Komplexität der betrachteten Phänomene. In erstaunlicher Weise werden erst vor dem Hintergrund biografischer Gewordenheit die individuellen Erlebnis- und Verhaltensweisen in ihrer inneren Logik verständlich. Dies nicht zuletzt wegen des Geschicks der Autoren, in wenigen Worten eine Fallvignette zu eröffnen und gerade jene Therapiesequenzen wortwörtlich wiederzugeben, die prägnant veranschaulichen, wie im Rahmen der Schematheorie die gegebene Problemlage strukturiert werden kann. Die darauf aufbauenden therapeutischen Schritte erscheinen fast zwingend plausibel und steuern zielgerichtet auf neue und korrigierende Erfahrungen zu. Alles in allem ein Buch, das in selten komprimierter wie umfassender Form den großen Bogen vom theoretisch ausgereiften Störungsmodell hin zum Detail der Behandlungsdurchführung schlägt und eine solide Basis für die klinische Praxis zur Verfügung stellt. Erwin Parfy
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Verzeichnis der RezensentInnen Mag. Nassim Agdari-Moghadam Thomas Barth Christina Boulgaropoulus Dr. Markus Fäh Dr. Jutta Fiegl Dr. Omar Gelo Robert Gruber Ingrid Guth Michaela Heger Dorit Hejze Siegfried Alexander Henzl Mag. Ortrun Hopf Sonja Jackson Univ.-Prof. Dr. Eva Jaeggi Juliane Kleibel-Arbeithuber Mag. Helga Klug Mag. Zsofia Kovacs Vivien Langer, B.A. Dr. Reinhard Larcher Christian Michelides Monika Millecker, M.A. Dr. Erwin Parfy Univ.-Prof. Dr. Alfred Pritz Mag. Eva Pritz Silvia Prosquill-Salzmann Katharina Reboly, B.A. Univ.-Prof. Dr. Johannes Reichmayr Univ.-Prof. Dr. Bernd Rieken Mag. Nora Ruck Andreas Schmidt Sonja Simml, B.A. Univ.-Prof. Dr. Thomas Slunecko Manuela Taschlmar Dr. Elisabeth Vykoukal Prof. Dr. Heinrich Wallnöfer Dr. Eva Wolfram-Ertl
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