Das neue Abenteuer 106
Edward Ellsberg
Eine Mannschaft kämpft um ihr Schiff
Verlag Neues Leben, Berlin 1957
V 1.0 ...
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Das neue Abenteuer 106
Edward Ellsberg
Eine Mannschaft kämpft um ihr Schiff
Verlag Neues Leben, Berlin 1957
V 1.0 by Dumme Pute
Die Erzählung wurde mit freundlicher Genehmigung des Cecilie DresslerVerlages, Berlin W 15, dem Buch "Hölle im Eis" von Ed ward Ellsberg entnommen.
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/63/57) Umschlagzeichnung und Illustrationen: Karl Fischer, Berlin Gestaltung und Typografie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Anfang Juli 1879 verließ die "Jeannette", eine Damp f jacht mit zusätzlicher Segelausrüstung, den Hafen von San Francisco. An Bord befand sich eine Expedition, die unter Führung des Kapitäns George Washington De Long ve r suchen wollte, durch die Beringsee zum Nordpol vorzust o ßen. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht. Wenige Wochen nach ihrer Ausfahrt geriet die "Jeannette" in Packeis, das sie nicht wieder losließ. Mit starker Schla g seite, stets in Gefahr, von den furchtbaren Eismassen erdrückt zu werden, lag sie auf 710 nördlicher Breite fest, bis sich der Vorfall ereignete, den der Autor von dem Chefingenieur des Schiffes, George Wallace Melville, schildern läßt.
Eintönig zogen die trüben Tage vorüber. Im Dunkeln nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, machten unsere Spaziergänge auf dem Eis, tauten hinterher unsere erfrorenen Nasen wieder auf und wünschten uns dabei irgendwohin, weit weg von diesem Ort. Der 22. Dezember, der kürzeste Tag im Jahre, kam heran und brachte außer dem schönsten Nordlicht-Feuerwerk, das wir bisher erblickt hatten, nur die Gewißheit mit sich, daß die Sonne ihren südlichsten Punkt erreicht hatte und damit die Hälfte unserer 71 Tage währenden Nacht vorbei war. Aber der Tag selbst zeichnete sich noch dadurch aus, daß Mr. Dunbar, der alte Walfänger und das einzige Mitglied unserer Offiziersmesse, das schon einmal in arktischen oder antarktischen Breitengraden überwintert hatte, eine schwere Erkältung bekam. Nach seiner eigenen Aussage hatte bisher seine dicke Pelle jeder Krankheit Widerstand geleistet. Deshalb nahm er das jetzt auch besonders schwer und drückte sich sehr niedergeschlagen in der Offiziersmesse herum. Schließlich - anscheinend, damit wir uns diesen Tag merken sollten - fing auch Danenhower an, über Schmerzen im linken Auge zu klagen. Nach einer Sitzung beim Arzt kam der große Dan mit einer schwarzen Binde über dem Auge zurück und vervollständigte dadurch den trübseligen Eindruck, den die Offiziersmesse machte. Er erklärte, Ambler hätte eine Entzündung festgestellt und ihm empfohlen, das Auge dadurch auszuruhen, daß er es ein paar Tage lang selbst vor dem matten Licht unserer Öllampen schützte. Zwei Tage später war Heiligabend, der aber für uns außer dem Eis, das uns umgab, alles andere als eine weihnachtliche Stimmung mit sich brachte. Es gab keine Kinder, die aufgeregt ihren Strumpf zum Füllen vor die Tür
hängten; keine Freunde, die uns besuchten; keine Familie, keine Frauen und keine Bräute - nichts von alledem gab es für uns; nur die Erinnerung an vergangene, glücklichere Weihnachtsfeste und die Hoffnung (der allerdings nagende Zweifel Abbruch taten), daß wir nächstes Jahr zu Weihnachten aus dem Eis heraus und zu Hause sein würden. In der Offiziersmesse hatte sich ein trauriges Grüppchen versammelt, bestehend aus Dunbar, der mit seiner Erkältung beschäftigt war; Danenhower, der mit seiner schwarzen Binde wie ein heruntergekommener Pirat aussah, Ambler, De Long, Chipp, Newcomb und mir. Nur Collins fehlte. Seine Gegenwart hätte sicherlich keine fröhliche Note in unsere Gesellschaft gebracht - aber, daß er es vorzog, sich an seiner Kajüte einzuschließen, mit dem Schott der Offiziersmesse zwischen sich und uns, trug zu der allgemeinen Trübseligkeit bei. Und trübe war es wirklich in dem Raum, mit der rauchenden Öllampe als einziger Beleuchtung, der verbogenen Holztäfelung der Schotts als einzigem Schmuck, und über uns die mit einer dicken Schicht von Filz und Leinwand isolierten Deckbalken, die sich drohend unter dem Gewicht der Mischung von Frost und Feuchtigkeit bogen, mit der sie durchtränkt waren. Das abschüssige hölzerne Deck unter unseren Füßen war naß von den Tropfen, die vom kalten vorderen Schott herunterfielen. Ich tat mein Bestes, die Stimmung zu heben. In der Werft von Mare Island hatte mir der Zahlmeister Cochran netterweise zum Abschied eine Flasche guten, alten irischen Whisky geschenkt, den ich sorgfältig aufbewahrt hatte. Jetzt holte ich ihn unter meiner Lagerstatt hervor, kratzte ein paar andere Zutaten zusammen und braute unter aller Augen einen Grog in der Suppenterrine. In der
feuchten Kälte der kahlen Offiziersmesse erhoben wir die gefüllten Gläser. "Trinken wir auf Cochrans Wohl", schlug ich vor, "daß er einmal Oberzahlmeister wird!" Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden. Wir tranken Cochrans Whisky herunter. Der feurige irische Schnaps wärmte uns ein wenig, und wir füllten unsere Gläser gleich wieder; es reichte gerade für eine zweite Runde. Ich sah De Long fragend an, denn ich erwartete, daß er den zweiten und - der Not gehorchend - letzten Toast ausbringen würde. Auf wen würde er trinken? Auf James Gordon Bennett, den Patron unseres Unternehmens, auf den Präsidenten oder vielleicht auf jemanden, der ihm selbst nahestand? Danenhower ließ ihm keine Zeit; er erhob sein Glas, schwenkte es über der leeren Terrine, umfaßte uns alle mit einem Blick aus seinem einen, unbedeckten Auge und rief: "Hoch leben unsere alten Gefährten zur See, Emma De Long und Sylvia - mögen sie niemals Grund haben, sich unseretwegen Sorgen zu machen!" Dem konnte ich nur von Herzen beistimmen, und ohne zu bedauern, daß Bennett oder der Präsident zu kurz gekommen waren, hob ich mein Glas an die Lippen, um dem Beispiel der anderen zu folgen, als mir Dunbar, der neben mir stand, einen Rippenstoß versetzte. Ich beugte mich zu ihm. "Gegen De Longs Frau habe ich nichts einzuwenden", flüsterte er mit seiner von der Erkältung heiseren Stimme, "aber wer ist denn Sylvia?" "Kapitän De Longs Tochter", zischelte ich. "Trinken Sie schnell, Sie Idiot, sonst schlägt er Sie noch nieder!" "Schon gut", murmelte Dunbar. "Ich dachte, es ist viel-
leicht Newcombs Braut!" Und er trank seinen Whisky mit einem Schluck herunter. Und das war so ziemlich das Ende unseres Festes. Der Grog, der einen Anlaß zum gemütlichen Beisammensein gegeben hatte, war ausgetrunken, und in der Finsternis, die im Raum herrschte, erstarb bald jede Unterhaltung. Alle schienen ihren Erinnerungen an fröhlichere Weihnachtsabende nachzuhängen, und einer nach dem anderen zog sich zurück, um sich in der Einsamkeit seiner Kabine ganz seinen eigenen Gedanken hinzugeben. Der Weihnachtstag selbst war wohl hauptsächlich, weil er länger dauerte, noch trauriger als der Heiligabend. Ein starker Wind und beißende feine Schneeschauer machten Spaziergänge auf Deck oder auf dem Eis wenig einladend. Wieder an die Offiziersmesse oder unsere eigenen Kabinen gefesselt, brüteten wir über unseren Erinnerungen, versuchten uns vorzustellen, wie Freunde, Verwandte oder Familien den Tag zubrachten, und dachten etwas neidisch an die Kollegen von der Marine, die in allen Häfen der Welt auf ihren von oben bis unten mit Kränzen und grünen Girlanden geschmückten Schiffen saßen und in deren Offiziersmessen helles Gelächter von Frauen erklang Frauen, deren einzige Sorge es war, was für eine Ausrede sie sich nach dem Essen ausdenken sollten, um ihre Gatten oder Freunde von der Wache zu befreien und vom Schiff herunterzubekommen. Wir hatten ein großartiges Essen. - Ah Sam hatte Wunderdinge mit dem eintönigen Material vollbracht, das unsere Vorräte zu bieten hatten. Den Abschluß bildeten Fleischpasteten, die mit Cognac durchtränkt waren. Dieses unerwartete Festmahl ließ uns beinahe unsere Umgebung und unsere Lage vergessen. Aber nur beinahe; denn unsere
Mahlzeit wurde vom ständigen Rumpeln der unsichtbaren Eisschollen, von gelegentlichen Explosivlauten des nachgebenden Holzes und sogar ein paar scharfen, durch die Eisberge unter Wasser verursachten Stößen begleitet. Collins' leerer Stuhl neben Danenhower am Ende des Tisches wirkte auf uns wie die Gegenwart eines Skelettes bei einem Fest. Er erinnerte uns daran, daß auf der "Jeannette" nicht alles eitel Freude und Bruderliebe an diesem Weihnachtstag war; der ewig schmollende Collins saß allein in seiner Kajüte. Ich glaube, ich gehe nicht fehl, wenn ich sage, alle in der Messe der "Jeannette" waren froh, als der Weihnachtstag vorbei war, und jeder von uns hoffte inbrünstig, nicht noch einen gleichen erleben zu müssen. Der Dezember schleppte sich dahin, und das Jahr 1879 ging zu Ende. Um es der Mannschaft leichter zu machen, das Jahr 1880 zu begrüßen, von dem er selbst viel erwartete, stiftete der Kapitän vier Liter Cognac, und ich versuchte mit einem fünften Liter die Offiziersmesse aufzuheitern. Als das schnelle Geläute der Schiffsglocke um Mitternacht die Geburt des Jahres 1880 verkündete, versammelte sich die gesamte Mannschaft trotz einer Temperatur von beinahe 40 Grad unter Null auf dem Quarterdeck gerade vor De Longs Kabine. Sie brachte drei Hochs auf die "Jeannette" aus und entsandte eine Delegation von zwei Mann in die Offizierskajüte, um uns ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Danach verzog sich alles rasch ins Wohndeck und wärmte sich mittels jener fünf Flaschen wieder auf. Offenbar hatte die Mannschaft dadurch so gute Laune bekommen, daß die Männer nach ihrem Neujahrsessen (es gab wieder Fleischpastete mit Branntwein) eine Vorfüh-
rung veranstalteten; der Höhepunkt kam, als Aneguin den Koch nachmachte, wie er vor seinen Töpfen stand und sang, was Ah Sam prompt mit der verächtlichen Imitation eines Indianers beantwortete, der versucht, einen Chinesen nachzuahmen. Die beiden ernteten ungeheuren Beifall. Diese komischen Darbietungen lenkten unsere Gedanken für eine kurze Weile von den unangenehmen Dingen ab, mit denen wir für das Jahr 1880 rechnen mußten. Gleich nach der Vorführung entdeckten wir, daß das Quecksilber bei minus 40 Grad in unseren Thermometern eingefroren war. Dadurch wurde uns klar, daß alles, was wir bisher an arktischen Temperaturen erlebt hatten, nur ein Auftakt zu dem war, was noch kommen sollte. Eine zweite, noch beunruhigendere Tatsache war, daß sich Danenhowers Augenleiden verschlimmerte. Der Arzt war gezwungen, ihn an diesem Tage krank zu schreiben und ihn bei absoluter Dunkelheit in seine Kajüte zu verbannen, denn schon bei dem schwächsten Lichtschein bekam er heftige Augenschmerzen. Abgesehen davon, daß seine Dienstunfähigkeit den anderen Offizieren - dem Kapitän, Chipp und mir - noch mehr Pflichten auferlegte, machte uns sein Zustand ernste Sorgen. Falls das Schiff unter uns zusammenbrach und wir auf dem Eis strandeten, hätten wir uns auch noch um einen blinden, hilflosen Offizier zu kümmern, den wir möglicherweise auf dem Schlitten nachziehen mußten. Denn es war schon eine große Leistung für einen Menschen mit zwei völlig gesunden Augen, auf dem brüchigen Eis vorwärtszukommen, ohne sich alle paar Schritte beinahe den Hals zu brechen. Woher kam Danenhowers Augenleiden? Als wir in das Eis verschlagen worden waren, hatten wir alle gewissenhaft vom ersten Tage an, bis die Sonne im November
verschwand, Schneebrillen getragen, weil das Glitzern des Eises nicht auszuhalten war. Warum war nun Danenhower, der jüngste Berufsoffizier an Bord und bei weitem der kräftigste von uns allen, ein Opfer dieser Augenkrankheit geworden, wenn weder vorn noch achtern jemand auch nur etwas von ihr verspürt hatte? Ich grübelte darüber nach und konnte nur annehmen, daß es sich um eine unglückselige Verquickung seiner Arbeit mit seinen persönlichen Anlagen unter außergewöhnlich ungünstigen Verhältnissen handelte. Dan war Steuermann. Unzählige Male hatte er bei der bittersten Kälte an seinem Sextanten gestanden und seine Augen angestrengt, um am verschleierten Horizont Sonne, Mond oder Sterne anzuvisieren, damit er unsere Position im Packeis feststellen konnte. Das war schon schlimm genug, aber außerdem war Dan der gewissenhafteste und unermüdlichste Buchhalter, den ich je an Bord getroffen habe. Da er nicht nur unser Steuermann, sondern auch der Lagerverwalter war, hatte er stundenlang immer neue Berechnungen über den Kohlen- und Lagerbestand angestellt und versucht, Rechenschaft über jedes verbrauchte Pfund Kohle und fast jede zehn Gramm Mehl, die ausgegeben worden waren, abzulegen. In dem elenden Lampenlicht, bei dem er seit November arbeiten mußte, war die Belastung für seine Augen, die von dem ständigen Schielen durch das Fernrohr des Sextanten ohnehin schon überanstrengt waren, zuviel geworden. Um sein linkes Auge entstand eine Entzündung, aus der sich ein Abszeß entwickelte, der es vollständig blind zu machen und auch das andere Auge in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. In einem verzweifelten Versuch, Danenhower das Augenlicht zu retten, hatte der Arzt ihn darum zum Gefangenen machen müssen und ihm verboten, seine Dunkelkajüte zu
verlassen. Die einzige Ausnahme waren die Mahlzeiten, zu denen er mit verbundenen Augen geführt wurde. Trotz aller Schrecken mittelalterlicher Verliese haben wohl selten in der Geschichte Gefangene schlimmere Aussichten gehabt als Danenhower in seiner pechschwarzen Zelle. Seine Kabine war klein, feucht und kalt, und das Poltern und Quietschen des Packeises erinnerte ihn ständig daran, daß jeden Tag die für ihn unsichtbaren Wände seines Kerkers zusammenstürzen und das Gefängnis selbst unter ihm versinken konnte; dann war er hilflos auf dem Eis ausgesetzt. Wie eine schwere Wolke lastete das Mißgeschick Danenhowers an diesem Neujahrstag auf uns allen. De Long, der sich für jedes einzelne Mitglied der Besatzung verantwortlich fühlte, empfand es wie einen düsteren Schatten - Vorboten bisher ungeahnter Katastrophen für das Jahr 1880. So endeten unsere Feiertage - ein trübseliges Weihnachtsfest und ein noch schlimmeres Neujahr. Die Temperatur fiel weiter, und wir mußten uns auf allerhand neue Überraschungen durch das Packeis gefaßt machen. Der Januar schleppte sich dahin, brachte Stürme, Wolken voll stechender Eispartikelchen und eine noch strengere Kälte. Je kälter es wurde, desto dichter und dicker wurde das Eis; es zog sich zusammen und bekam etwa Mitte Januar einen Sprung. Zu beiden Seiten bildeten sich schmale Kanäle, so daß wir uns auf einer kleinen Eisinsel von kaum einer Schiffslänge Durchmesser befanden. Wir sahen uns das mißtrauisch mit an. Wenn das nun vierzig Zoll dicke Packeis um uns her irgendwelchen Druck ausübte, würden die Schollen direkt auf uns aufprallen, da wir jetzt schutzlos waren. Aber glücklicherweise entstand kein
solcher Druck, bevor die außergewöhnliche Kälte uns zu Hilfe kam und das in den Sprüngen hochgestiegene Wasser wieder gefrieren ließ. Die erste Hälfte des Monats verging also unter dem gewohnten eintönigen Stöhnen und Rumpeln des Packeises und den gelegentlichen Erschütterungen des Schiffsrumpfes, das uns an unsere mißliche Lage erinnerte. Der 19. Januar 1880 war ein Tag, den wir rot im Kalender anstreichen mußten. In der Stille nach einem Sturm, der keineswegs schlimmer gewesen war als mancher andere, den wir vorher erlebt hatten, bekam früh am Morgen das Eisfeld, in das wir eingefroren waren, ohne jeden ersichtlichen Grund in allen Richtungen Risse und Sprünge. Sofort erstattete die Ankerwache nach unten Meldung. Wie üblich liefen wir alle an Deck, blieben aber plötzlich stehen, gebannt von einem völlig neuen Schauspiel, das sich uns in dem unheimlichen arktischen Zwielicht darbot. Im Norden, Süden, Osten und Westen - überall dasselbe: In weitem Umkreis um das Schiff herum hatte sich das Packeis zu einem Ring von zerklüfteten Bergen hoch über der Meeresoberfläche aufgetürmt. Gewaltige Eismassen vom Ausmaß eines Ozeandampfers stürzten und wälzten sich von den Kämmen, und ein markerschütterndes Quietschen und Kreischen hallte von allen Seiten wider und ließ das Blut in unseren Adern erstarren. Wie die Backen eines sich langsam schließenden Schraubstocks zog sich der Kreis immer näher um uns zusammen. Wohin wir auch blickten, von vorn und achtern und von beiden Seiten bewegte sich stetig und unaufhaltsam über die kurze Strecke noch unaufgebrochenen Eises ein solches Eisgebirge auf die "Jeannette" zu. Die Eisfelder in dem gebirgigen Ring, von dem Sprünge wie Blitze nach allen Rich-
tungen hin ausstrahlten, spalteten sich mit Donnergetöse voneinander ab und begleiteten mit tiefen Baßlauten die hohen Töne, die die granitharten, gegeneinander mahlenden Eisberge hervorbrachten. All das drang wie eine wahre Höllensymphonie über das Eis zu uns. Noch war der Ring über eine Viertelmeile von uns entfernt. Kapitän De Long, der sich die Sache von der Brücke aus mit ansah, hielt beide Hände wie einen Trichter vor den Mund und brüllte, um sich in dem Höllenlärm verständlich zu machen, denen, die auf dem Deck unter ihm standen, zu: "Alle Mann bereithalten zum Verlassen des Schiffes!" Mutlos bezogen wir unsere Posten neben den beladenen Schlitten auf dem Achterdeck. Was sollten wir tun? Der immer enger werdende Kreis stürzender Eisblöcke wälzte sich von allen Seiten auf uns zu - wohin konnten wir uns in Sicherheit bringen, wenn wir das Schiff verlassen mußten? Selbst ohne die Last von Rucksäcken und Schlitten hätten wir nicht die geringste Aussicht gehabt, gegen den Strom der Blöcke die Hänge jener wandernden Eisgebirge zu erklimmen. Eine Flucht war unmöglich, unser Untergang gewiß! Dunbar stand neben mir. Mit seinen scharfen Seemannsaugen musterte er die kleine Ebene noch ungebrochenen Eises vor uns und murmelte: "Das Eis kommt mit einer Geschwindigkeit von zwei Yard [l Yard = 0,914 Meter] pro Minute auf uns zu. Jetzt ist es noch 120 Yard weit weg. In 60 Minuten, Chef, gehen wir alle ins Jenseits ein!" Er hatte offenbar recht. Da standen wir nun, bewegungslos und fast ohne ein Wort zu wechseln, bei unseren nutzlosen Schlittenladungen von Pemmikan [Trockenkon-
serve aus gedörrtem Fleisch], und der furchtbare Ring zog sich unerbittlich und unaufhaltsam um uns zusammen. Wie betäubt warteten wir auf die Eislawine, die an Bord kommen und uns mitsamt unserem Schiff wie Fliegen zerquetschen würde. Immer näher kam sie - 100 Yard, 80 Yard, 60 Yard . dann hörte die Bewegung, etwa eine Schiffslänge von uns entfernt, plötzlich auf, ebenso unerklärlich, wie sie begonnen hatte. Nachdem wir eine Stunde lang dem Tod ins Auge geblickt hatten, waren wir jetzt erschöpft. Vollkommen gefühllos konnten wir es kaum glauben, daß wir noch am Leben waren. Langsam glätteten sich die Hügel, und um uns her blieb eine unbeschreibliche Höllenregion von gebrochenen Eisfeldern übrig. Das Kreischen erstarb zu einer seltsamen Stille, nur unterbrochen von dem Poltern der Schollen, die sich in der Strömung unter dem Packeis ihren Weg bahnten. Es war vorüber, wir waren in Sicherheit und unser Schiff unbeschädigt. Hätte aber die "Jeannette" nur 50 Yard in irgendeiner Richtung von unserem jetzigen Standort entfernt gelegen, so wäre es unweigerlich mit ihr und auch mit uns aus gewesen. Uns war zumute wie einem zum Hängen Verurteilten, dem der Strick schon um den Hals gelegen hatte und der im letzten Augenblick begnadigt worden war. Langsam verließen wir das Achterdeck und fühlten zum erstenmal, wie erfroren wir waren. Aber trotzdem stiegen alle, außer der Wache, von dem Wunsch getrieben, die Gefahr, der wir mit knapper Not entronnen waren, noch genauer ins Auge zu fassen, über das Steuerbordfallreep auf das Eis hinunter. Wir zerstreuten uns über die nächstgelegenen Abhänge, erklommen ihre Gipfel und betrachteten aus der Nähe mit ehrfürchtigem Schauder einige Eisberge, die das
Packeis umgedreht hatte. Wir überlegten, was geschehen wäre, wenn einer dieser ungeheuren Berge auf unser Schiff gestürzt wäre! Auf der "Jeannette" schlug es fünf Glasen. Es war 10.30 Uhr vormittags, Zeit, die tägliche Kohlenration für die Kombüse, die beiden Öfen vorn und achtern und den Destillierapparat auszugeben. Mit leisem Bedauern drehte ich der vor mir liegenden wunderbaren Aussicht auf Eisgipfel und tiefe Täler den Rücken und begab mich mit erfrorener Nase, tränenden Augen, mit einem vom heftigen Atmen frostweißen Bart und steifen Gliedern wieder auf das Schiff zurück. Ich wollte sicher sein, daß der junge Sharvell, der unerfahrenste meiner vier Kohlenträger, der heute an der Reihe war, die Kohle aus dem Bunker zu holen, sich nicht von Ah Sam überlisten oder vom Bootsmann Cole einschüchtern ließ, ihnen ein Pfund mehr von unserem kostbaren Brennstoff auszugeben, als ich ihnen zugeteilt hatte. Ich kletterte über das Fallreep hinauf, ging über das Deck zur Maschinenraumluke, war die vereiste eiserne Leiter halb hinuntergestiegen und wollte gerade auf der mittleren Plattform hinüberwechseln auf die andere Seite der Leiter, die zum Heizraum hinunterführte, als in der Dunkelheit ein Mann wie vom Teufel gejagt die Leiter heraufstürzte, mir in den Magen stieß und mich dadurch beinahe nach unten auf den Boden des Maschinenraumes beförderte. Nur dadurch, daß ich den Vorüberhastenden am Arm ergriff, konnte ich das Gleichgewicht halten. Es überraschte mich sehr, daß er sich loszumachen und weiterzukommen suchte. Ich sah ihn mir im Halbdunkel genauer an - es war der kleine Sharvell, mein Kohlenträger, der einen furchtbar erschrockenen Eindruck machte. Ich packte ihn noch fester.
"Sie ungeschicktes Rindvieh!" schnappte ich, "warten Sie doch einen Augenblick! Was denken Sie sich eigentlich beim . !" Im nächsten Augenblick sprach ich nur noch zu mir selbst. Sharvell hatte sich losgerissen und raste die Leiter hinauf. Ich war jetzt völlig außer mir und brüllte ihm nach: "Zum Donnerwetter, kommen Sie zurück!" Aber Sharvell kam nicht zurück, sondern kletterte weiter. Doch die bloße Erwähnung des Wortes "zurück" löste ihm trotz seiner Furcht die Zunge, und er stieß die Worte hervor: "Schnell an Deck, Chef, solange Sie noch können! Das Schiff sinkt! Der Maschinenraum ist schon überflutet!"
Die "Jeannette" im Sinken? Sharvell war wohl verrückt geworden! Unser Schiff hatte schlimmere Quetschungen überstanden, ohne ein Leck davonzutragen. Immerhin ließ ich unseren Zusammenstoß auf sich beruhen und stieg schnell die Leiter hinunter. Der Heizraum war tatsächlich von Backbord bis Steuerbord überflutet, das Wasser bedeckte schon die Bodenplatten und stieg beständig auf meine leeren Kessel zu! Eine Sekunde lang betrachtete ich mir die Sache in sprachloser Bestürzung - wir hatten ja keinen Dampf, um eine Pumpe zu betreiben. Wenn das Wasser unsere Öfen erreichte, ehe wir die Feuer anfachen und Dampf erzeugen konnten, dann würde es überhaupt nie wieder Dampf auf der "Jeannette" geben, und wir waren verloren! War das Wasser erst einmal so hoch gestiegen, dann konnte keine Macht der Erde verhüten, daß das Schiff sich langsam vollsog und unter uns absackte. Ich mußte Dampf be-
kommen, und zwar schnell. Auf Deck hatte Sharvell die Alarmbotschaft schon verbreitet, denn als ich noch dastand, dem steigenden Wasser zusah und mir überlegte, wie ich vorgehen sollte und welche Möglichkeiten ich hatte, Dampf zu erzeugen, bevor das Wasser mit uns ein Ende machte, hörte ich über mir auf Deck eilige Fußtritte; Schüsse wurden abgefeuert, um die Leute vom Eis zurückzurufen; die Bootsmannspfeife schrillte, und Jack Cole rief mit ungewöhnlich lauter Stimme: "Bemannt die Pumpen!" Bemannt die Pumpen? Wozu denn? Meine frostbedeckten Pumpen standen hier hinter mir im Maschinenraum; der untere Teil war schon im Wasser. Was diesen gefrorenen Zylindern bitter not tat, war Dampf und nicht Bemannung. Dann fiel mir auf einmal ein: Die "Jeannette" war ja nicht nur ein Dampfer, sondern auch ein Segelschiff und trug deshalb immer noch Handpumpen an Bord; die gleichen primitiven Handpumpen, mit denen Columbus seine lecken Karavellen flottgehalten hatte. Die waren vielleicht auch unsere Rettung, wenn wir damit das Wasser so lange unterhalb des Feuerrostes halten konnten, bis ich Dampf hatte. Und jetzt gingen wir an die Arbeit. Meine "Schwarze Rotte" kam die Leiter zu mir heruntergeschlittert - der Maschinist Lee, der Heizer Bartlett und das ganze Aufgebot an Kohlenträgern: Boyd, der Deutsche Lauterbach, der Schwede Iversen und sogar der verängstigte kleine Engländer Sharvell. In der beißenden Kälte des Heizraumes - es war 29 Grad unter Null (bei einer Außentemperatur von minus 45 Grad) - teilte ich ihnen ihre Posten zu: "Lee! Gehen Sie in den Maschinenraum und stellen Sie
die Hauptdampfpumpe so auf, daß wir sofort den Heizraum auspumpen können, sobald wir Dampf haben!" "Bartlett! Runter vom Schiff mit Ihnen! Machen Sie mir gleich von außen den Hahn zum Backbordkessel auf und lassen Sie bis zur Dampfhöhe volllaufen! Öffnen Sie den Hahn weit, und 'n bißchen dalli mit dem Füllen!" "Lauterbach! Sie holen Kleinholz von der Kombüse herunter! Machen Sie schnell und passen Sie auf, daß das Holz trocken bleibt! Und wenn Sie schon oben sind, sagen Sie dem Kapitän, daß ich den Backbordkessel anheize!" "Iversen! Sie und Sharvell holen die Kohle. Bringen Sie 'n ordentlichen Brocken, und lassen Sie sie in den Eimern, damit sie nicht naß wird!" "Boyd! Sie verteilen den Brennstoff in beide Feuerlöcher des Backbordkessels, so schnell Sie ihn nur kriegen können. Halten Sie eine Ölfackel bereit, um sofort anzustekken, sobald das Wasser die Höhe erreicht hat!" Im schwachen Schein der paar Öllampen stapften die Leute durch das aufspritzende Eiswasser, das die Bodenplatten des Heizraumes bedeckte. Von Kopf bis Fuß in Pelze vermummt, sahen sie gar nicht wie eine "Schwarze Rotte" aus, als sie sich in einer Temperatur, die mehr auf das Innere eines Eisschranks als auf einen Heizraum schließen ließ, stolpernd an ihre Posten begaben. Vom Deck her hörte ich das Klappern der Geräte und Hammerschläge, Coles gebrüllte Befehle und die heiseren Antworten der hin und her rennenden Matrosen. Nindemann und Sweetman fluchten, weil die Querhölzer und Hebel an die Schotten angefroren waren und sie sie nur schwer loseisen konnten, um die Handmaschinerie zusammenzusetzen und die vordere Bilgenpumpe in Betrieb zu nehmen. In der ungeheuren Kälte auf Deck, in der sich
jedes Stück Eisen zusammengezogen und jedes Stück Holz durch Frost und Feuchtigkeit geworfen hatte, war dies keine leichte Aufgabe, denn nichts wollte mehr zusammenpassen, wie es sich gehörte, Aber noch ehe die Handpumpe aufgestellt war, stieß ich selbst schon auf Hindernisse. Ich hatte den Backbordhahn gewählt, weil er infolge unserer Schlagseite nach Steuerbord der einzige war, der sich noch über Wasser befand. Bartlett, der mit der ganzen Kraft seiner breiten Schultern und seines untersetzten Körpers versucht hatte, den Schraubenschlüssel umzudrehen, rief mir zu: "Der Hahn ist eingefroren, Chef; ich kriege ihn nicht auf!" Ich eilte ihm zu Hilfe, und wir brachten einen verlängerten Hebelarm am Schraubenschlüssel an - aber auch dann ließ sich der Hahn nicht bewegen. Ich war verzweifelt. Wir mußten den Hahn aufbekommen, sonst konnten wir den Kessel nicht füllen. Was wir brauchten, war noch mehr Muskelkraft. Ich blickte in den Heizraum hinein und gewahrte den großen Boyd, der untätig mit einer Ölfackel in der Hand vor dem Backbordkessel stand und auf den Brennstoff wartete. "Boyd, packen Sie mal hier mit an!" Boyd steckte seine Fackel in den kalten Ofen und kam platschend zu uns herüber. Wir alle drei, Heizer, Kohlenträger und Ingenieur, gestützt gegen eine Dielenschwelle, stemmten uns mit aller Kraft gegen den Hebelarm. Der Hahn gab plötzlich nach und war offen. Ich atmete erleichtert auf und ließ den Hebel los. "Passen Sie jetzt gut auf", warnte ich Bartlett. "Lassen Sie den Hahn weit offen, bis das Wasser im Kesselstandglas bis zur Hälfte gestiegen ist; dann drehen Sie ab. Vor-
sicht jetzt, es dauert nur ein paar Minuten! Lassen Sie es nicht zu voll laufen!" Aber ich hätte mir sowohl meine Erleichterung wie meine Ermahnung sparen können. Bartlett wartete einen Augenblick auf das Wasser, das aus dem Meer in den leeren Kessel laufen sollte, aber da kein Vibrieren der Röhre auf einen Zufluß schließen ließ, beugte er sich hinab, preßte sein Ohr nahe, aber nicht allzu nahe an den frostbedeckten Hahn und lauschte gespannt. Nicht das geringste Geräusch von einfließendem Wasser ließ sich vernehmen - Bartlett hob den Kopf: "Es kommt kein Wasser durch, Chef!" Kein Wasser! Mir wurde übel. Dann war also der Wassertank, den wir so lange nicht benutzt hatten, vereist! Fest zugefroren, so daß kein bißchen Wasser durchlaufen konnte, dort, wo der Zufluß jenseits des Hahns durch die dicke Verschalung ging und wo wir jetzt absolut nicht herankommen konnten, um ihn aufzutauen. Wir konnten unseren Kessel nicht füllen! Ich fluchte innerlich. Jetzt reichte uns im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser bald bis zum Halse. Ohne Dampf, mit leeren Kesseln, ohne die Möglichkeit, sie aufzufüllen, um Dampf zu bekommen - was hatten wir nun von all der Kohle, die wir so mühsam für unsere Entdeckungsfahrten gespart hatten? Da lag nun die abgesparte Kohle mehr als nutzlos in unseren Bunkern - nur ein Ballast, um das Schiff noch schneller unter uns absacken zu lassen! Bum, bum! Bum, bum! Von Deck ertönte ein willkommenes Geräusch. Die Zimmerleute hatten endlich die Schwengel angebracht, und die Handpumpe war in Betrieb! Auf jeder Seite von vier Matrosen bemannt, die sich mit aller Macht ins Zeug
legten. Das stetige Pochen der Pumpe erfüllte mich mit neuer Hoffnung. Wenn die Handpumpe, so unzulänglich sie auch war, nur dem Leck so lange entgegenarbeiten konnte, daß mir noch eine Chance blieb! Wasser, um die Kessel zu füllen? Wozu das Meer bemühen? Wir standen ja im Heizraum mitten in einem Ozean von Salzwasser, und immerzu drang mehr herein! Es war nur eine Frage der Zeit, daß ich es von den überfluteten Bodenplatten in den Backbordkessel brachte, und dann konnte ich das Feuer anmachen! "Bartlett, lassen Sie den Hahn sein! Rauf auf die Backbordkessel mitsamt Ihrem Schraubenschlüssel. Machen Sie den Deckel auf und bleiben Sie gleich oben! Wir werden Ihnen das Wasser in Eimern zureichen! Boyd, holen Sie Sharvell und Iversen aus dem Bunker herauf, und bringen Sie Eimer mit. Wir machen dann eine Kette und reichen Bartlett das Wasser hinauf, sobald er den Deckel offen hat." Bartlett kletterte schnell vorn am Ofen hinauf und von dort auf den Kessel. Boyd gab ihm seine Fackel, damit er etwas sehen konnte, und ich reichte ihm einen Schmiedehammer hinauf, mit dem er die Bolzen vom Deckel losmachen sollte. Während Bartlett sich an den Bolzen abmühte und Boyd und die anderen Kohlenträger eilig im Maschinenraum und im Heizraum alle Eimer zusammensuchten, blieb ich einen Augenblick vor dem Backbordkessel stehen und überdachte die Situation. Woher kam eigentlich das Wasser? Rings um die Maschinen war keine Spur von einer Beschädigung oder gar einem Leck zu sehen. Wahrscheinlich kam es von vorn, denn der Bug hatte an diesem aufregenden Morgen ein paar böse Stöße abbekommen. Vielleicht hatte sich unter
der Eisdecke eine Scholle in unseren Vorsteven eingebohrt und uns die Vorpiek [enger Lastraum im vorderen Schiff] aufgerissen. Sollte das der Fall sein, dann war die Handpumpe vorn auf dem Deck an der günstigsten Stelle angebracht, um das Wasser niedrig zu halten und zu verhindern, daß es hier mittschiffs zu schnell anstieg. Einen Moment lauschte ich dem Geräusch der Pumpenschwengel; dann drang mitten in den Lärm der heisere Ruf der Pumpenden an mein Ohr: "Ablösung!" Das rhythmische Pumpgeräusch setzte aus, eine andere Mannschaft trat an und löste die Leute an der Pumpe ab. Dann fing das eintönige Klopfen wieder an. Ablösung vor? Schon jetzt hatte die erste Kolonne an den Pumpen nach Ablösung gerufen! Es war ja wirklich eine Arbeit, bei der man sich den Rücken brechen konnte; aber wie lange würden die sechzehn Mann an Deck - selbst wenn sie einander häufig ablösten - die Schwengel schnell genug auf und nieder bewegen können, daß wir im Heizraum eine Chance hatten? Lange vermochten menschliche Muskeln dieses Tempo nicht auszuhalten, fürchtete ich. Es war ein Kampf auf Leben und Tod zwischen uns und dem ansteigenden Wasser. Oben auf dem Kessel hörte man Metall auf Metall hämmern und das unterdrückte Fluchen Bartletts, der ausgespreizt in dem schmalen Raum zwischen Kessel und Deckbalken lag und sich mit Schmiedehammer und Schraubschlüssel abmühte, die Deckelbolzen zu lockern. Lauterbach kam vorsichtig die Heizleiter herunter. In den Armen balancierte er eine Riesenlast Kleinholz. Ich machte ihm Zeichen, es auf die Roste zu werfen und sich dann mit Boyd, Iversen und Sharvell zu den Eimern zu
stellen. Schweigend hörten wir den ineinanderschmelzenden Geräuschen zu: dem Schlagen des Schmiedehammers, dem heiseren Quietschen rostiger Schraubenmuttern und dem ununterbrochenen Fluchen des auf dem Bauche liegenden Bartlett. Der flackernde Schein der Fackel ließ sein verzerrtes Gesicht ab und zu aufleuchten. Niemand konnte ihm helfen, denn in dem engen Raum hätten keine zwei Leute Platz gehabt. Nicht einmal gute Ratschläge konnten wir ihm geben. So standen wir also da unten, versuchten ungeduldig zu erkennen, was Bartlett machte, und inzwischen stieg das Wasser um uns her Zoll um Zoll, und der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Ofenrost wurde immer kleiner. Die Handpumpe auf Deck war ins Hintertreffen geraten; sie konnte das Steigen des Wassers zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Plötzlich fühlte ich etwas wie einen Krampf in meinen kalten Beinen. Instinktiv, ohne meinen Blick von Bartlett zu wenden, versuchte ich, dem abzuhelfen, indem ich die Knie beugte und mein Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß verlegte. Aber ich konnte weder das eine noch das andere Bein heben. Als ich schärfer nach unten blickte, gewahrte ich zum erstenmal, was mir bis jetzt bei dem elenden Licht entgangen war: In der grimmigen Kälte, bei einer Temperatur weit unter dem Nullpunkt, hatte sich das Wasser in Eisschlamm verwandelt. An der Oberfläche hatte sich an manchen Stellen Eis gebildet, und meine beiden Füßen waren fest an die eisernen Bodenplatten angefroren, auf denen ich stand! Ich packte erst ein Bein, dann das andere fest mit beiden Händen und riß sie mit Gewalt los. "Macht euch Bewegung, Jungens", warnte ich die Leute, die neben mir im Wasser standen. "Wenn ihr eine Minute
stehenbleibt, friert ihr an!" Und während ich bei 29 Grad unter Null in dem rasch gefrierenden Wasser stand, dankte ich Gott für die vier Paar Wollsocken, die drei Garnituren blauer Flanellunterwäsche und zwei Paar wollenen Pulswärmer, die ich unter meinem Pelzanzug und den Pelzstiefeln anhatte, denn sonst wäre ich in dem kalten Wasser und der eisigen Luft steif wie ein Brett geworden. Bum! Mit einem Schlußhieb des Schmiedehammers hatte Bartlett die letzte Klammer entfernt. Er hob den Deckel vom Kessel und schrie: "Fertig, Chef!" "Her mit den Eimern!" ordnete ich an. Aber dieser Befehl wäre gar nicht nötig gewesen, denn Boyd hatte bereits den ersten Eimer gefüllt und ihn Bartlett zugereicht, der ihn durch die Öffnung in den Kessel goß, wo das Wasser über die kalten Eisenplatten lief und sich dabei sofort in Eis verwandelte. Wieder und wieder machten die Eimer die Runde; sie wurden von Lauterbach gefüllt, von Boyd und Iversen an Bartlett hinaufgereicht, und der kleine Sharvell fing die leeren Eimer auf, die vorn heruntergesaust kamen. Von dem Wasser, das dabei aus den Eimern spritzte, waren bald alle von Kopf bis Fuß mit einer Eisschicht bedeckt. Hätten sie sich nicht immer wieder gebückt, aufgerichtet und umgedreht, wobei das Eis in Stücken von ihnen abfiel, dann wäre diese Last bald so schwer geworden, daß sich niemand mehr hätte bewegen können. Während dieser Beschäftigung machte auch ich mich an die Arbeit und breitete an Boyds Stelle das Heizmaterial auf den Rosten aus, damit sofort angezündet werden konnte. Schnell verteilte ich erst die Späne über die kalten Ofenroste, holte dann einige Eimer Kohle aus der nächsten Bunkertür und trug sie sorgfältig, so daß kein Seewasser, das jetzt beinahe bis zum oberen Eimerrand heranreichte,
die Kohle naß machen konnte, durch Schlamm und Eis über die überfluteten Bodenplatten. Dann ergriff ich eine Schaufel und begann Kohle in die Öfen zu befördern. Das war keine leichte Arbeit, weil man nur schwer mit der Schaufel in die aufrechtstehenden Eimer hineinkam, und natürlich wagte ich nicht, die Kohle zuerst einmal auf die Bodenplatten auszuschütten. Ich machte es so gut es ging, und breitete die Kohle auf den Spänen aus - eine dünnere Lage vorn auf dem Rost, eine dichtere hinten. Als ich fertig war, stützte ich mich auf meine Schaufel und beobachtete abwechselnd das auf den Rost zusteigende Wasser und meine Leute, die in wilder Hast die Eimer zum Füllen des Kessels hinaufreichten.
Es war ein großer Kessel von acht Fuß Durchmesser, und wir würden ungezählte Eimer brauchen; ich machte im Kopf einen Überschlag: Neun Tonnen Wasser mußten die Leute hinaufreichen, um den Kessel ordentlich zu
füllen; das bedeutete also mindestens 1000 Eimer. Ich rechnete mir aus, wie lange die schweren Eimer brauchten. Etwa sechs pro Minute wurden hinaufgereicht; aber dieses Tempo würden die Leute kaum durchhalten können. Und selbst wenn es ihnen gelänge, würde es drei Stunden dauern, ehe sie den Kessel bis zur Dampf höhe gefüllt hatten! Lange vorher schon würde der Feuerkasten am Fuße des Kessels überflutet sein, und dann konnten wir kein Feuer mehr anmachen! Auf irgendeine Art mußte das Wasser im Heizraum heruntergehalten werden, oder die "Jeannette" war verloren! Und wenn das Schiff sank, so hätte das für uns einen Rückweg von 200 Meilen über das brüchige Eis mitten im Januar bei einer Temperatur von minus 40 Grad oder mehr bedeutet - ein absolut aussichtsloses Vorhaben! "Immer nur so weiter, Jungens!" rief ich meinen Kohlenträgern zu. "Ich gehe inzwischen auf Deck und hole Hilfe. Ich bin gleich wieder da!" Bis zu den Hüften mit Eis bedeckt, kletterte ich die Leiter hinauf und begab mich nach vorn ins Deckshaus. Acht Matrosen schwangen dort die Pumpenschwengel auf und nieder. Acht andere lehnten am Schott und ruhten sich dort einen Augenblick aus, darunter sogar die Chinesen Ah Sam und Tong Sing. Ein Stück weiter vorn stand De Long und blickte gespannt durch die Luke zur Vorpiek hinunter, wo unter ihm in dem dunklen Loch Leutnant Chipp und Nindemann im tiefen Wasser mit einer Laterne herumwateten und nach der Wurzel des Übels suchten. "Wo ist das Leck, Kapitän?" fragte ich ihn, als ich mich neben ihn stellte und mich gleichfalls hinunterbeugte. De Long richtete sich mit sehr besorgtem Gesichtsausdruck auf:
"Das wissen wir nicht, Chef. Chipp kann es nicht finden. Das einzige, was er sehen kann, ist, daß sich das Wasser wie durch ein Sieb durch das angeblich massive Tannenholz ergießt, womit sie uns in der Werft den Bug gefüllt haben. Das Leck ist im Bug, dicht am Kiel - ich glaube, unser Vorderfuß ist ab." Er sah mich mit seinen abgehärmten Augen an. "Bis jetzt können wir noch mit der Handpumpe der Piek beikommen; aber bald werden unsere Leute zusammenbrechen. Wann können Sie uns mit Dampf aushelfen, Chef?" Ich zog Ihn zur Seite, weg von dem Trüppchen Matrosen, die sich ausruhten und die ich nicht entmutigen wollte. "Nie, Kapitän", flüsterte ich heiser, "es sei denn, wir bekommen Hilfe dazu!" Ich stellte ihm kurz unsere verzweifelte Lage dar; wir hatten keine Handpumpe im Heizraum, und das Wasser gewann auch dort die Oberhand. "Ich brauche unbedingt eine Gruppe von Leuten, die irgendwie mit der Hand das Wasser aus dem Heizraum herausschöpfen und es so lange niedrig halten, bis der Kessel gefüllt ist und ich Dampf kriegen kann; sonst sind wir erledigt! Und wir brauchen noch drei Stunden! Meine Leute sind schon alle eingesetzt; wen können Sie entbehren?" De Long sah mich düster an. "Außer Danenhower, der ja blind ist, ist jeder Matrose und jeder Offizier beschäftigt. Aber Newcomb und Collins stellen nur die Berichte zusammen für den Fall, daß wir das Schiff verlassen müssen. Können Sie mit denen auskommen?" Ich lachte bitter auf. "Newcomb ist für wirkliche Arbeit nicht die Bohne wert, Käptn, und soweit ich Collins kenne, würde er sich lieber erschießen lassen, ehe er als Matrose selbst mit Hand
anlegt. Außerdem reichen zwei auf keinen Fall aus. Ich brauche mindestens sechs gute Leute, um mit dem Wasser fertig zu werden, und selbst die können es vielleicht nicht schaffen. Aber wenn Sie mir Cole geben und die halbe Ablösungsschicht von der Pumpe, dann will ich es versuchen." "Dann bleiben uns also nur noch sechs Mann pro Schicht für die Pumpen übrig", murmelte der Kapitän und warf einen zweifelnden Blick auf die Leute an der Pumpe. "Aber Dampf müssen wir haben! Gut, Melville, nehmen Sie sie mit. Aber um Gottes willen, sputen Sie sich!" "Jawohl, Herr Kapitän!" Ich drehte mich mit einem Ruck zu unserem irischen Bootsmann um, der in der Nähe stand und das Pumpen überwachte. "Jack, suchen Sie sich vier von den Leuten hier aus und kommen Sie mit mir nach achtern! Aber rasch!" Damit ging ich auf die Achtertür des Deckshauses zu. Cole holte sich den Russen Starr, den kräftigsten Mann an Bord, vom SteuerbordPumpenschwengel, nahm Manson, den starken Schweden, zum Ausgleich von Backbord, und schließlich winkte er Ah Sam und Tong Sing von der Ablösungsschicht zu sich heran. "Los, Jungens, nach achtern mit euch!" Cole führte seinen kleinen Trupp aus dem Deckshaus hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, noch bevor die zwölf Leute, die an der Pumpe zurückgeblieben waren, recht begriffen hatten, daß sie von nun an die Arbeit von allen sechzehn leisten mußten. Neben dem Deckshaus stand das Faß zum Auffangen des Süßwassers aus dem Destillierapparat. Dieses Faß war genau das, was ich brauchte; das Destillieren war im Augenblick meine geringste Sorge.
"Jack", erklärte ich kurz. "Das Wasser im Heizraum überschwemmt uns. Wir müssen es so lange aufhalten, bis ich die Feuer in Gang habe. Hängen Sie das Faß in eine Schlinge, machen Sie es mit einem Jollentau an der Maschinenraumluke fest, und schöpfen Sie so fix wie möglich das Wasser aus dem Heizraum heraus. Ich überlasse Ihnen jetzt die Sache; gehen Sie nur gleich ran!" Cole, einer der tüchtigsten Bootsmänner, die ich je gesehen habe, begriff ohne weitere Worte. "In Ordnung, Chef. Lassen Sie mich nur machen!" Sofort stellten sich der Russe, der Schwede und die beiden Chinesen auf sein Geheiß um das Faß herum und leerten es aus; in der nächsten Sekunde rollten sie es schon nach achtern, und als ich die ersten Sprossen der Leiter zum Heizraum hinunterkletterte, hatte Cole das Faß schon wieder aufgestellt und warf mit geübter Hand ein paar Schlingen aus Manilahanf darüber, die als Stropp dienten. Noch bevor ich die Leiter ganz hinuntergestiegen war, kam das Faß an einem Tau aus der Luke herunter, schlug spritzend neben mir auf, und von oben dröhnte Coles Stimme: "Hallo, da unten! Ihr seid dran; macht's voll!" Da ich am nächsten stand, legte ich das Faß seitlich ins Wasser um, drückte es hinunter, bis es völlig bedeckt war, und richtete es dann wieder auf. Es füllte sich gurgelnd und sank durch den Eisschlamm auf die Bodenplatten. "Fertig!" schrie ich. "Zieht rauf!" ,,Is' gut!" Das am Faß befestigte Tau straffte sich und bewegte sich dann langsam nach oben. Aus der Luke drang Coles Stimme zu uns, der seine Leute am anderen Ende des Seils anfeuerte: "Zieh an, Russky! Hiev ho, Schwede! Strengt euch an,
ihr beiden Chings mit euren Zöpfen, sonst müssen wir alle bald an die Himmelstür klopfen, und Seelüd wie unsereins haben verdammt wenig Utsicht, an Petrus vorbeizukommen. Los, allesamt, hiev ho!" Das volle Faß schoß mit einem Ruck durch die Luke hinauf. Flink schwang es Cole zu den Speigatten auf unserer niedrigeren Seite hinüber, entleerte es und ließ es wieder mit Getöse zu uns herunter. Noch einmal füllte ich es und ließ es hinaufziehen. Dann rief ich meinen Maschinisten Lee von der Maschinenraumpumpe weg und übertrug ihm meine Arbeit; ich selbst ging wieder zu der wichtigsten Stelle, dem Kessel, zurück. Über die Qual der nächsten zwei Stunden will ich keine Einzelheiten berichten. Müde und ohne jede Ablösung schütteten meine Leute Wasser, Eis, Schlamm, alles, was die fliegenden Eimer aufschöpften, ohne Unterschied in die gähnende Leere des Kessels; ebenso erschöpft mühten sich Cole und sein kleiner Trupp mit schmerzenden Schultern, ohne Ablösung, ohne Schutz vor der bitteren Kälte, an Deck mit dem Heraufziehen und Hinunterlassen des Fasses ab. Vom Deckshaus erschallte der Ruf nach Ablösung immer häufiger, ein Beweis, daß an den zu schwach bemannten Pumpen die Rücken der übermenschlichen Anstrengung allmählich nicht mehr gewachsen waren. Mir wurde klar, daß wir trotz allem den Kampf verlieren mußten. Noch eine Stunde würde es dauern, ehe der Kessel bis zur Dampfhöhe gefüllt war; aber bei der Geschwindigkeit, mit der das Flutwasser anstieg, würde es in einer Stunde zu spät und das Wasser bis über den Rost gestiegen sein. Gegen mein besseres Wissen versuchte ich
mir einzureden, daß ich mich irre, daß das Wasser vielleicht schneller in den Kessel gegossen wurde, als ich dachte. Darum kletterte ich selbst auf den Kessel hinauf und versuchte dabei Bartlett sowenig in die Quere zu kommen, wie es in dem engen Raum möglich war, um den Zustrom aus den Eimern nicht aufzuhalten. Dann ergriff ich die Fackel und versuchte in den Pausen zwischen der Ankunft der vollen Eimer in den schottischen Kessel hineinzuschauen. Es war, wie ich gefürchtet hatte; das Wasser da drinnen bedeckte noch nicht einmal die oberen Röhren, und die Deckplatten des Ofens waren noch immer etwa fußhoch über der Schlamm- (man konnte kaum sagen: Wasser-) linie. Während ich noch in den Kessel hineinblickte, hatte Bartlett, der ausgestreckt neben mir lag, einen weiteren Eimer durch die Öffnung gegossen, der meinen Bart durchnäßte und ihn fast augenblicklich zu einer festen Masse gefror. Aber ich bemerkte es kaum und starrte weiter mit bleischweren Augen in den halbleeren Kessel. Mit sinkendem Mut rutschte ich auf dem mit Eis bezogenen Zylinder von dem Loch weg und kletterte an der Rückseite wieder auf das dicker werdende Eis hinunter, das die Bodenplatten bedeckte. Konnte ich es wagen, das Feuer anzumachen, ohne noch länger zu warten? Ich befand mich in einer äußerst verzwickten Lage: Feuer unter einem nur halbvollen Kessel anzumachen, dessen Röhren und Ofenplatten nicht ganz mit Wasser bedeckt sind, bedeutete nicht nur den kürzesten Weg vors Kriegsgericht, das wahrscheinlich einen Schlußstrich unter meine Marinelaufbahn setzen würde, sondern widersprach auch jedem einzelnen meiner Grundsätze als Ingenieur, jedem Begriff von Sicherheit und würde bestimmt zu einer Kes-
selexplosion führen. Aber wenn ich das Feuer nicht sofort in Gang brachte, würde ich nie mehr anheizen können, und nicht nur der Kessel, sondern das ganze Schiff selbst mitsamt der Mannschaft würde im arktischen Eis versinken. Ich mußte es riskieren, was immer geschah. Während die fliegenden Eimer und das heruntersausende Faß rings um mich her Wasser verschütteten und plantschten, hielt ich ein Streichholz an eine andere Ölfakkel, bewegte sie einen Moment in der kühlen Luft hin und her, bis sie hell flackerte, und steckte sie dann in dem engen Raum, der noch zwischen dem ansteigenden Wasser und den Rosten übriggeblieben war, erst in den inneren Ofen unter die Späne, bis das Holz Feuer fing, dann rasch in den äußeren Ofen, bis sich auch der in Brand setzte. Die große Kälte der äußeren Luft kam mir zu Hilfe. Sobald nur ein wenig warme Luft den Heizkessel füllte, entstand ein heftiger Zug, und im Handumdrehen stand das Holz in hellen Flammen, entzündete die Kohle und spiegelte sich blinkend durch die Roste in dem Wasser, das den unteren Teil des Aschenkastens bedeckte. Es warf einen geisterhaften roten Widerschein in den dunklen Heizraum und flößte offenbar den mutlosen Matrosen neues Leben ein, denn sowohl von unten als von oben wurde der rote Schein mit heiseren Hurrarufen begrüßt. "Macht weiter mit den Eimern, Jungens; wir haben noch nicht gewonnen!" warnte ich, machte die Ofentüren auf und schaufelte noch mehr Kohle hinein. "Wir müssen das Wasser über die Deckplatten hinaufkriegen, bevor sie glühendheiß werden; sonst sausen wir alle gleich in die Hölle! Doppelt so fix jetzt mit den Eimern!" Furcht oder Hoffnung - was es immer gewesen sein mag, gab den
Kohlenträgern, die noch einen Augenblick vorher beinahe vor Erschöpfung zusammengebrochen wären, neue Kräfte, so daß die Eimer schneller hin und her zu fliegen begannen als je zuvor. Sobald ich genug Kohle aufgefüllt hatte, schlug ich die Ofentüren zu und stützte mich auf meine Schaufel. Jetzt mußte es kommen! Das Anheizen eines Kessels unter so ungewöhnlichen Umständen stand einmalig in der Geschichte der Dampfkraft da: Die Öfen waren halb überflutet, in den Standgläsern war kein Wasser zu sehen, und soweit der Kessel überhaupt gefüllt war, bestand der Inhalt aus Schlamm und Eis, und der Deckel war immer noch abgeschraubt. Aber ich verließ mich gerade auf einige dieser gefährlichen Begleitumstände, um unsere Haut zu retten. Solange ich den Deckel nicht wieder anbringen ließ, konnte kein Druck und damit keine unmittelbare Gefahr entstehen, und solange Eis und Schlamm nicht geschmolzen und warm geworden waren, konnte ich mich darauf verlassen, daß diese kalte Mischung zusammen mit dem Wasser, das immer noch in die Kessel gegossen wurde, die Hitze so schnell aufsaugen würde, daß es nicht zum Glühen oder gar Schmelzen der unbedeckten Röhren und Deckplatten kommen konnte. Über meine sonstigen Befürchtungen brauche ich wohl kein Wort zu verlieren. Zum Beispiel ist die plötzliche Dampfentwicklung in einem kalten Kessel immer riskant. Im allgemeinen wird der Kessel zwölf Stunden vorher allmählich angewärmt. Ich ließ aber absichtlich den Gedanken an den gefrorenen Dampfdruckmesser oder die gefrorenen Zuflußpumpen in meinem Gehirn gar nicht aufkommen; koste es, was es wolle - jetzt kam es allein darauf an, Dampf zu bekommen, ehe das Wasser den Rost
erreicht hatte und das Feuer auslöschte. Wir schafften es. Nur noch ein paar Zoll trennten das Wasser von den Rosten, als Bartletts sehnsüchtig erwarteter Ruf ertönte: "Die Deckplatten sind unter Wasser, Chef!" "Rauf mit dem Deckel!" brüllte ich zurück. Statt einer Antwort hörte ich, wie Bartlett mit dem Schmiedehammer das Eis losschlug, das sich um die Öffnung herum gebildet hatte; sonst hätte der Deckel nicht mehr daraufgepaßt. Die erschöpften Kohlenträger ließen die Eimer fallen und ruhten sich zum erstenmal seit Stunden aus, lehnten sich gegen die Kesselfront, damit sie nicht in das eisige Wasser glitten. Dazu war aber jetzt keine Zeit; ich ergriff einen Schürhaken, und während ich die Glut im äußeren Ofen mit allen Kräften stocherte, schrie ich: "Boyd, nehmen Sie sich auch einen Haken und machen Sie sich an das Feuer drinnen! Lauterbach, lösen Sie Lee ab und füllen Sie jetzt das Faß! Lee, Sie stellen sich wieder an ihre Pumpe! Sharvell, Sie und Iversen, gehen in die Bunker und holen mir noch Kohle! Reißt euch alle noch etwas zusammen!" Boyd, halbtot von seinem Anteil an den acht Tonnen Wasser, die er mit Iversen zusammen Bartlett hinaufgereicht hatte, torkelte zu mir herüber und ergriff einen Schürhaken. Zu zweit fachten wir die Feuer so hoch wie möglich an und warfen noch mehr Kohle hinein, ohne aber dabei die Flammen zu töten. Ein besonders starker Zug vom Kamin kam uns zu Hilfe, und bald loderte ein Höllenfeuer, wie ich es noch nie gesehen hatte! Ich überließ das Schüren nun Boyd, legte mein Eisen hin und trat zurück, um die Meßinstrumente in Augenschein
zu nehmen. Im Standglas war nur sehr wenig, aber Gott sei Dank immerhin etwas Wasser zu sehen, und die Nadel im Druckmesser begann sich zitternd vom Nullpunkt weg zu bewegen; Dampf war im Anzug! Wenn wir die Flut nur noch ein paar Minuten niederhalten konnten, waren wir gerettet! Aber das war Jack Coles Sache. "Jack!" schrie ich durch die Luke hinauf. "Nur noch eine kleine Weile, und Sie können aufhören. Aber um Gottes willen, halten Sie sich jetzt ran und machen Sie noch schneller!" "Jawohl, Chef!" Dann hörte man, wie Jack Cole seiner seltsam zusammengewürfelten Kolonne, die sicherlich jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte, mit rauher Stimme zurief: "Los, Jungens! Jetzt wollen wir mal richtig arbeiten und schuften und schwitzen! Sonst frieren wir hier in der Kälte noch zu Tode! Zieh an, Starr! Hiev ho, Manson! Wollt ihr euch vielleicht von den beiden Chinesen übertrumpfen lassen? Und ihr chinesischen Schiffsköche, legt euch mal ins Zeug und brecht nicht zusammen, denn wenn der Russky in Schwung ist, wird er euch mächtig auf die Zöpfe treten! Hiev ho! Rauf damit!" Und mit überraschender Schnelligkeit sah ich das Faß in der Luke verschwinden. Durch das Wasser, das mir schon bis an die Brust reichte, bahnte ich mir meinen Weg nach hinten zu der Stelle, wo Lee im Maschinenraum neben meiner größten Dampfpumpe stand. Es erübrigte sich, die Pumpe zum Saugen anzustecken; wenn das Wasser auch nur einen Fuß höher gestiegen wäre, hätten wir tauchen müssen, um die Pumpenventile zu erreichen. Ich faßte die Dampfleitung an, die sich jetzt nicht mehr eiskalt anfühlte; ein wenig Dampf
kam auf jeden Fall schon bis zur Pumpe durch. "Gut, Lee, fangen wir an", murmelte ich. Wir öffneten das Dampfventil um Haaresbreite, um die Röhren frei zu bekommen. Keine Mutter hätte mit ihrem Baby zarter umgehen können als Lee und ich mit der gefrorenen Pumpe. Wir leerten den Dampfzylinder und wärmten ihn behutsam an; bei plötzlichem Erhitzen hätte das Gußeisen bei seiner ungewöhnlich kalten Temperatur in Stücke brechen können, und wir wären dann nach unserem nervenaufreibenden Kampf mit dem Kessel noch immer außerstande gewesen, dem Wasser beizukommen. Ein Auge auf Jack Coles fliegendes Faß gerichtet, das andere auf den immer kleiner werdenden Abstand zwischen Flutwasser und Ofenfeuer, behandelte ich die Pumpe ganz nach meinem Fingerspitzengefühl und wärmte sie so langsam an, wie ich es angesichts des auf die Flammen zusteigenden Wassers nur wagte. Endlich war jedoch der Zylinder warm, und aus dem Abfluß kam Dampf statt Wasser. Der Dampfdruckmesser stand auf 30 Pfund; das war genug, und wir konnten anfangen. Ich richtete mich auf und machte Lee ein Zeichen, die Pumpe in Betrieb zu nehmen. Er öffnete das Drosselventil; mit Schnaufen und Stöhnen setzte sich der Wasserkolben im Zylinder in Bewegung, und die fast völlig überschwemmte Pumpe nahm ihre Arbeit auf. Ich überließ Lee die Pumpe und rannte (wenn man das Herziehen eines eisbeschwerten Fußes hinter dem anderen "Rennen" nennen kann) die Leiter nach dem Deck hinauf. Während ich noch kletterte, wurde das leere Faß durch die Luke geschleudert und klatschte in das Wasser im Heizraum. Ehe Lauterbach es füllen und wieder aufstellen konnte, fiel das lose Ende des Aufzugtaues in vielen
Schlingen auf das Faß; offenbar konnten Jack Coles Leute nicht mehr weiter. Als ich den Kopf aus der Luke ins Freie steckte, bot sich mir ein Anblick, der Balsam für meine tränenden Augen und schmerzenden Muskeln war: Ein starker Wasserstrahl ergoß sich in regelmäßigen Stößen in die Speigatten! Und ganz in der Nähe lagen auf dem Deck, wo sie hingefallen waren, als sie das Seil losließen, vier völlig erschöpfte Seeleute, die aber trotzdem voller Bewunderung auf diesen herrlichen Strahl blickten. Jack Cole stand an die Reling gelehnt und schaute zu. Als er mich sah, rief er: "Dem Himmel sei Dank, Chef, wir sind gerettet! Von dieser Pumpe wird niemand nach Ablösung rufen!"
Das augenblickliche Gefecht war zwar gewonnen, aber der Kampf um die "Jeannette", der zwischen uns und dem Polarmeer an diesem 19. Januar 1880 begonnen hatte, zog sich mit wechselndem Schlachtenglück bis zu dem Tag hin, an dem ich das Schiff zum letztenmal sah. Unsere große Dampfpumpe wurde rasch mit allem Wasser im Heizraum fertig, das noch Wasser war. In einer Stunde war der Raum bis hinunter zu den eisbedeckten Bodenplatten und Bilgen geleert; die Pumpe war dem Leckwasser, das von vorn eindrang, mit Leichtigkeit gewachsen. Aber die Leute an der Handpumpe, die optimistischerweise ihre Posten sofort verlassen hatten, als die Dampfpumpe zu laufen begann, durften leider ihre Arbeit noch immer nicht ganz einstellen. Obwohl wir die Tore der Vorpiek und in den vorderen Schotten weit geöffnet hatten, damit das Wasser unbehindert nach achtern zur Heizraumpumpe strömen konnte, floß es doch nur langsam zu; wahrscheinlich, weil es erst durch die Kohle im Querbunker durchsik-
kern mußte. Jede Stunde wurde daher die Handpumpe wieder 15 Minuten lang bemannt, um die Wasseroberfläche im Vorderraum niedrig zu halten. Es war ein trauriger Anblick, wie unsere müden Matrosen, wenn sie nicht gerade an der Pumpe Dienst hatten, aus den vorderen Lagerräumen Vorräte, die zum Teil schon durchnäßt waren, herausholen und nach dem Deckshaus bringen mußten, damit nicht unsere gesamten Lebensmittel verdarben. Um halb elf Uhr morgens war das Leck entdeckt worden; um drei Uhr nachmittags hatten wir endlich genug Dampf, um eine Pumpe in Betrieb zu nehmen; aber noch um Mitternacht mußte sich die gesamte Mannschaft mit dem Ausräumen des Lagers beschäftigen. Der Zustand, in dem wir uns befanden, spottete jeder Beschreibung. Wer an diesem Abend acht Glasen geläutet hat, weiß ich nicht; seit dem Morgen hatten wir keine Ankerwache mehr gehabt. Aber irgend jemand, bei dem die Macht der Gewohnheit zu stark war - vielleicht war es Dunbar -, muß seine Arbeit einen Augenblick im Stich gelassen haben und den Glockenstropp gezogen haben. Jedenfalls brachten die klaren Töne der Bronzeglocke, die in der eisigen Nacht erschallten, dem im Vorderraum bis zu den Knien im Wasser stehenden De Long zum Bewußtsein, wie spät es war. Diejenigen Vorräte, die direkt im Wasser gewesen waren, befanden sich schon oben. Jetzt war er bemüht, den Rest, den das steigende Wasser bedrohte, hinaufschaffen zu lassen. Aber als die Glockentöne an sein Ohr drangen, erinnerte sich der Kapitän plötzlich daran, daß die erschöpften Matrosen, die wie Packesel mit schweren Fässern und Kisten beladen durch das Wasser wateten, auch nur über begrenzte menschliche Kräfte verfügten, und er ließ sie Schluß machen.
"Genug, Jungens", sagte er mit gütiger Stimme. "Wenn noch irgend etwas bis zum Morgen naß wird, dann wird es eben naß! Jetzt geht ruhig an Deck!" Und als die Leute durch die Luke an Deck stolperten und sich zu den anderen gesellten, die um die im Augenblick unbemannte Handpumpe herumstanden, befahl er Cole, für jeden ein Gläschen Cognac auszugeben. Frostklamme Hände gossen ihn in erstarrte Kehlen, und gierig wurde er in einem Schluck getrunken. Es war kein Mann an Bord, der nicht ebenso gierig einen ganzen Liter heruntergeschluckt und selbst dann wahrscheinlich nicht viel Wärme in seinen ausgefrorenen Adern gefühlt hätte. Auf Befehl des Kapitäns pfiff Cole dann die Leute hinunter. Die Steuerbordwache verzog sich in ihre Kojen. Die Backbordwache durfte sich immer noch nicht ausruhen. Sie mußte den Rest dieser traurigen Nacht damit verbringen, die Handpumpe zu bedienen, soweit das möglich war, um das Wasser im Vorderraum unterhalb der noch nicht weggebrachten Vorräte zu halten. Die durchfrorenen Matrosen setzten sich müde wieder in Bewegung: die einen, um - soweit möglich - auszuruhen, die anderen, um sich über die Pumpenschwengel zu beugen, die bald wieder ihr melancholisches Rasseln aufnahmen. Aber weder für mich noch den Kapitän, noch Chipp war an Ruhe zu denken. Kaum hatte ich mein Quantum Cognac heruntergeschluckt, beschäftigte ich mich sofort mit dem Problem, wie ich Dampf nach vorn leiten und eine Dampfpumpe direkt im Vorderraum ansetzen könnte, damit die mühevolle Arbeit an der Handpumpe, die die letzten Kräfte unserer Leute aufbrauchte, wegfiel. Im Maschinenraum stand die Ersatzpumpe, die ich mit meinen Leuten vorsorglich beim Mondenlicht, bevor wir
abfuhren, von Mare Island mitgenommen hatte. Ich entwarf einen Plan, wie wir sie vorn im Deckshaus aufstellen konnten. Das Aufzeichnen der Fundamente und Festlegen der Dampfleitung und Saugrohre hielten mich den Rest der Nacht wach. Chipp war seinerseits mit Nindemann unten in der Vorpiek und versuchte das Leck zu verstopfen oder zumindest kleiner zu machen. Das Wasser strömte durch die unzähligen Fugen zwischen den Fichtenbalken, die unseren Bug von einer Seite zur anderen und vom Kiel bis zum Wohndeck hinauf ausfüllten und sich vom Bug zehn Fuß nach achtern erstreckten. So wertvoll dieses Fichtenholz auch auf unserem Weg durch das Eis gewesen sein mochte, weil es den Widerstand des Bugs erhöhte jetzt war es unser Unglück, denn es verhinderte uns am Abdichten des Lecks, das sich irgendwo im Bug befinden mußte. Die ganze Nacht hindurch versuchten Nindemann und Chipp die Ritzen im Holz, durch die das Wasser drang, mit Werg und Talg zu verstopfen. Es war eine hoffnungslose Arbeit - sobald sie mit erstarrten Fingern ein Stück Werg in eine undichte Ritze gestopft und damit den Wasserstrahl zum Versiegen gebracht hatten, spritzte Wasser aus einer höheren Ritze heraus. Systematisch arbeiteten sie die ganze Nacht in diesem traurigen Loch, vollkommen durchnäßt vom eiskalten Wasser. Sie spürten jede undichte Stelle auf, verstopften Spalt um Spalt, aber wenn sie dann ganz oben angelangt waren und die allerletzte Fuge mit Werg dichtgemacht hatten, stieg das Wasser noch höher und rann ihnen den Nacken hinunter. Zwischen dem höchsten Balken und der Decke quoll es heraus, eine Stelle, die sie nicht erreichen konnten. Da war nichts zu machen; um fünf Uhr morgens kamen sie herauf, über und über mit Eis bedeckt, geschlagen .
Inzwischen hatte De Long, der eine solche Möglichkeit voraussah, den Rest der Nacht über den Schiffsplänen verbracht und ein wasserdichtes Schott entworfen, das im Vorpiek direkt hinter der Holzfüllung eingebaut werden sollte. Damit konnten wir zwar nicht das Leck reparieren, aber doch das einströmende Wasser auf einen kleinen Raum vorn beschränken und damit Hand- und Dampfpumpen überflüssig machen. Am frühen Morgen, nach 24 Stunden ununterbrochener Aufregung und schwerer Arbeit, trafen wir drei wieder im Deckshaus zusammen: ich mit meinen Aufzeichnungen für die Installierung der Pumpe, De Long mit seinen Plänen für das Schott und Chipp mit der unerfreulichen Nachricht, daß wir lieber beide Projekte in Angriff nehmen sollten, da sein Versuch, das Leck zu reparieren, völlig gescheitert war. Wir gingen also an die Arbeit. Ich will nicht zu schildern versuchen, was wir in der nächsten Woche durchmachten - meine Kämpfe mit gefrorenen Röhren, unzureichendem Handwerkszeug und Mangel an Leuten und Instrumenten, die man für eine solche Arbeit braucht. Es genügt, wenn ich sage, daß es mir nach drei Tagen gelang, die Hilfspumpe vorn in Betrieb zu nehmen, so daß zur größten Erleichterung der Mannschaft die Quälerei an den Handpumpen ein Ende hatte. Damit war ich auch in der Lage, das Wasser im Vorpiek so niedrig zu halten, daß Sweetman und Nindemann mit dem Bau des Schotts beginnen konnten. Von da an ruhte die Hauptlast der Arbeit auf Nindemann und Sweetman. Diesen beiden Unteroffizieren, Sweetman, unserem Zimmermann, und dem Maat Nindemann (der ein fast ebenso tüchtiger Zimmermann war), fiel die gesamte Bauarbeit für das Schott zu. In dem engen dreieckigen
Raum der Piek arbeiteten sie Stunde um Stunde, Tag um Tag daran, das Holz zuzuschneiden, zusammenzusetzen und aufzustellen. Wilhelm Nindemann, der stämmige, untersetzte Deutsche, war ein richtiges Arbeitspferd und konnte offenbar alles aushalten; aber der große, magere Engländer Sweetman hatte so wenig Fleisch auf den Rippen, daß er sehr rasch völlig durchfroren war und trotz seines Protestes häufig heraufgezogen werden mußte, um aufzutauen; sonst wäre er einfach zusammengebrochen. Beide bekamen außerdem alle vier Stunden ein ordentliches Quantum Whisky, um sie in Form zu halten, und dazwischen so viel heißen Kaffee und Essen, wie sie nur schlucken konnten, und das war eine ganz schöne Menge. Während all dieser Mühen und Ängste lastete auf dem Kapitän noch die Frage, was er mit dem blinden Danenhower machen sollte, wenn wir das Wasser einmal - jetzt oder später - vom Schiff herunter hatten. Eine weitere Sorge für ihn war Dunbar, der sich noch immer nicht erholt hatte und durch seine Krankheit und seine Bemühungen, mitzuhelfen, über Nacht mindestens zwanzig Jahre älter geworden zu sein schien. Es war ein mitleiderregender Anblick, wie sich der völlig gebrochen wirkende Alte gegen den Befehl des Kapitäns abmühte, neben den rauhen Matrosen seinen Mann zu stehen und an ihrer Seite für die Rettung des Schiffes zu kämpfen. Und um an diesem nervenaufreibenden Tag, an dem wir das Leck entdeckten, die Seelenlast De Longs voll zu machen, wurde der Schiffsarzt plötzlich sehr krank. Es beunruhigte den Kapitän schwer, daß man Ambler fast ohne jede Pflege in seiner Kabine liegenlassen mußte. Ganz abgesehen von seiner natürlichen Anteilnahme an dem persönlichen Schicksal Amblers, kann man sich gut vorstellen, was für
den Kapitän die Aussicht bedeutete, sich ohne die Hilfe eines Arztes um Danenhower und andere, die vielleicht in unserer verzweifelten, Lage zusammenbrechen könnten, kümmern zu müssen. Ich bewunderte den Kapitän, der unter der Wucht all dieser Sorgen und Mißgeschicke nicht schlapp machte, sondern wenigstens vor der Mannschaft eine standhafte Haltung bewahrte, sie durch seine Tätigkeit ermutigte und, ohne je ein grobes Wort zu äußern, sie anspornte und aufheiterte. Gegen Ende der folgenden Woche sahen die Dinge schon besser aus. Beide Dampfpumpen arbeiteten, und wir brauchten die Handpumpe nicht mehr. Nindemann und Sweetman kamen trotz der großen Schwierigkeiten mit dem Bau des Schotts vorwärts. Dunbar ging es nicht schlechter, und Ambler, dessen Krankheit sich als ein Leberleiden herausgestellt hatte, behandelte sich selbst und war schon so weit auf dem Wege der Besserung, daß er außer Gefahr war. Abgesehen von dem Leck, blieb nur der Fall Danenhower weiter ein Problem. Statt sich zu bessern, verschlechterte sich sein Befinden. Am dritten Tage nach der Entdeckung des Lecks, als ich mich immer noch mit dem eingefrorenen Rohr einer Dampfpfeife abmühte, durch das ich den Dampf nach vorn leiten wollte, um damit die Pumpe anzutreiben, betrat unser Schiffsarzt das eiskalte Deckshaus. Sein Gesicht war bleich und eingefallen, und er konnte nur mit Mühe ein Bein hinter dem anderen herschleppen. Ich blickte erstaunt auf, denn er hatte seit seiner Krankheit seine Koje nicht verlassen. "Was ist denn mit Ihnen los?" fragte ich besorgt. "Warum sind Sie nicht achtern in Ihrem Bett, wo Sie hingehören? Wir brauchen hier keine Hilfe; wir kommen wunder-
bar zurecht." "Wo ist der Kapitän?" erkundigte er sich, ohne auf meine Fragen einzugehen. "Ich muß ihn sofort sprechen." "Da unten", antwortete ich und deutete auf das Luk in der Vorpiek. "Er besichtigt die Arbeit am Schott. Soll ich ihn rufen, Dok?" Ambler war offenbar zu schwach, um mehr zu sprechen, als unbedingt nötig war, und nickte nur. Etwas beunruhigt steckte ich meinen Kopf in die Luke zu dem dunklen Piekraum und rief De Long, der tief unten auf dem Kielschwein [der auf dem Hauptkiel liegende Verstärkungsbalken] stand. Er blickte auf, ich winkte ihm, und er begann vorsichtig die vereiste Leiter heraufzusteigen. Oben angekommen, blinzelte er Ambler ungläubig durch seine beschlagenen Brillengläser an. Offenbar war er noch erstaunter als ich, den Schiffsarzt außer Bett zu sehen. Ambler verschwendete keine Worte darauf, seine Gegenwart zu erklären. "Es handelt sich um Danenhower, Kapitän. Ich habe ihn untersucht, sobald ich nur aufstehen konnte. Der Zustand seines Auges hat sich derart verschlimmert, daß er es verlieren würde, wenn ich nicht operiere. Ich komme zu Ihnen, um Ihre Einwilligung zu holen. Sie wissen ja, wie es um uns alle steht!" Das wußte der Kapitän allerdings; was sich in seiner Seele abspielte, während Ambler sprach, ließ sich leicht von seinem gequälten Augenausdruck ablesen: Unser Schiffsarzt war krank, die ärztliche Ausrüstung dürftig, das Schiff leckte, und es bestand die Möglichkeit, daß man den Patienten plötzlich auf das furchtbare Packeis hinausbefördern mußte, wo er den Unbilden des rauhen arktischen Klimas ausgesetzt war; schon für gesunde Augen
bestand bei einer Temperatur von 50 Grad unter Null die dauernde Gefahr, in ihren Höhlen zu gefrieren. Was sollte da erst aus einem gerade aufgeschnittenen Auge werden? Diese und andere Überlegungen spiegelten sich deutlich in den verhärmten Augen des Kapitäns und seiner gerunzelten Stirn wider. De Long bedachte sich einige Zeit und schüttelte dann ratlos den Kopf. "Doktor, ich kann meine Einwilligung nicht geben. Es handelt sich um Dans Auge - wenn wir das Schiff bald verlassen müssen, geht es um sein Leben! Und da entweder sein Leben oder sein Auge auf dem Spiel steht, müssen wir hören, was er selbst dazu sagt. Ja sagen kann ich nicht, und nein sagen will ich auch nicht. Fragen Sie Dan; er soll selbst entscheiden." "Jawohl, Herr Kapitän, ich werde ihm das klarmachen." Dr. Ambler drehte sich um, begab sich mühsam nach achtern und ließ mich mit dem Kapitän allein. Wir blickten einander betroffen an, und ich sagte: "Sie haben vollkommen recht, Kapitän - Dan allein muß hier entscheiden. Es ist eine zu große Verantwortung für einen anderen Menschen, falls etwas passieren sollte." De Long, der Ambler gedankenverloren nachgesehen hatte, wie er nach achtern hinkte, hatte kaum auf mich gehört. Ohne mir auch nur ein Wort zu entgegnen, wandte er sich nach der Leiter um. Seine hochgewachsene Gestalt sackte zusammen, als ob er das Leid der ganzen Welt auf seinen gebeugten Schultern trüge, und zögernd stieg er hinunter. Ich blickte ihm mitleidig nach - er hatte Dan, einen kräftigen, lebhaften jungen Menschen, in die Arktis gebracht; wie mußte es gerade in einem solchen Augenblick auf seiner Seele lasten, daß Dans Leben nun auf des Messers Schneide stand. Ich seufzte unwillkürlich laut auf
und machte mich wieder an das Auftauen meiner Dampfleitung. Eine Stunde lang ließ ich einen mit Dampf gefüllten Schlauch auf der gefrorenen Röhre hin und her spielen, aber ich fürchte, ich war mit meinen Gedanken gar nicht bei der Sache. Mitten ,in meiner Beschäftigung und noch immer ohne besondere Aufmerksamkeit gewahrte ich Tong Sings Schlitzaugen, die mich durch die Dampfwolke, die meinen Kopf umgab, anblickten. Er zog mich am Arm, um meiner Aufmerksamkeit ganz sicher zu sein. "Mr. Danenhower sagen, vielleicht Sie mögen ihn besuchen, Chef!" Ich drehte den Dampfschlauch ab, nickte dem Steward zu und ging nach achtern. Wenn es in meiner Macht lag, des armen Dan Los zu erleichtern, wollte ich es gern versuchen. Aber, überlegte ich, was wollte er von mir, Rat oder Auskunft? Vorsichtig schob ich mich seitlich zwischen der Tür und der doppelten Decke hindurch, mit der Dans Kabineneingang verhangen war, um jeden Lichtschein auszuschließen. Innen war es stockfinster. Im selben Augenblick, als mein erster Fußtritt zu hören war, rief eine gespannte Stimme durch die Dunkelheit: "Sind Sie es, Chef?" "Ja, Dan, was gibt es denn?" "Der Doktor sagt, mein Auge ist in einem furchtbaren Zustand, Chef, und nach meinen Schmerzen zu urteilen, übertreibt er bestimmt nicht. Ich weiß nicht, weshalb es in den letzten zwei Tagen schlimmer geworden ist", klagte er und fügte dann bitter hinzu: "Wahrscheinlich sind nur die Gedanken daran schuld, die ich mir mache. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist, hier tatenlos zu
liegen und nicht mit Hand anlegen zu können, während ihr anderen euch zu Tode schuftet, um das Leck zu verstopfen und unser Schiff zu retten?" Ich tastete mich im Dunkeln zu seiner Koje und ließ meine Finger über die Decke gleiten, bis ich seine Hand fand. "Machen Sie sich doch deshalb keine Sorgen", tröstete ich ihn und drückte ihm beruhigend seine Riesenpfote. "Wir werden sehr gut mit dem Leck fertig. Eigentlich ist es so gut wie zu; es hat nicht viel Arbeit gekostet." "Hören Sie auf, mir was vorzumachen, Chef", bat Dan. "Es hat doch keinen Zweck. Ich kann zwar nichts sehen, aber hören kann ich doch. Deshalb weiß ich, was um mich vorgeht. Solange ich die Handpumpe noch höre, steht es schlecht um uns. Außerdem ist De Longs Kabine gerade über mir und Ihre eigene auf der anderen Seite der Messe. Vierundzwanzig Stunden am Tag liege ich hier und habe nichts zu tun, als zu horchen, und da sollte ich nicht wissen, wann ihr schlafen geht? Keiner von euch beiden hat in den letzten zwei Nächten auch nur ein Auge zugetan! Das können Sie mir nicht ausreden!" Ich mußte es zugeben; mir wurde unbehaglich. Trotz der undurchdringlichen Finsternis, in der er seine Tage verbringen mußte, spürte Dan, was gespielt wurde. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas weiszumachen. "Hören Sie, Dan, ich lüge Sie nicht an", erwiderte ich ihm mit aller Bestimmtheit, die ich aufbringen konnte. "Daß wir nicht viel geschlafen haben, ist wahr, aber weiter fehlt uns beiden nichts. Am Anfang sah alles sehr böse aus, doch jetzt ist das Leck wirklich so gut wie erledigt. Noch vor heute abend werden wir das Pumpen mit der Hand ganz einstellen können. Und nun wollen wir nicht
vom Schiff und von uns anderen, sondern von Ihnen reden. Was kann ich für Sie tun, mein Lieber?" Ich strich freundlich über seine Hand und fühlte, wie sie zuckte und wie sich dann seine Finger krampfhaft um die meinen schlossen. "Ich bin in einer Zwickmühle, Melville. Der Doktor sagt, wenn er nicht operiert, werde ich blind. Wenn er aber operiert und ich vom Schiff muß, bevor das Auge geheilt ist und er den Verband abnehmen kann, werde ich wahrscheinlich sterben. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten habe ich nun zu wählen. - Einfache Sache, was, Chef?" stöhnte Danenhower, und hätte ich meine Lippen nicht fest zusammengepreßt, so wäre auch mir ein Seufzer entfahren bei seiner herzzerreißenden Frage. Mit gepreßter Stimme fuhr er fort: "Ich will nicht blind zu meiner F . (den Bruchteil einer Sekunde würgte er an dem Wort herum; dann ersetzte er es, glaube ich, durch ein anderes), zu meinen Freunden zurückkommen, aber genau wie jeder andere unter uns möchte ich, wenn es geht, lebendig zurückkommen. Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit, Chef; Sie werden doch einen blinden Kollegen nicht hinters Licht führen wollen, nur, um seine Gefühle zu schonen!" Er packte meine Hand noch fester. "Welche Chancen geben Sie dem Schiff? Ich muß das wissen!" "Das Leck ist erledigt, Dan", versicherte ich ihm ernsthaft, "deswegen werden wir nicht untergehen. Aber darüber, was das Eis noch mit uns machen wird, kann ich ebenso wie Sie nur Vermutungen anstellen. Nach dem, was die alte ,Jeannette' bis jetzt ausgehalten hat, traue ich ihren Rippen zu, daß sie dem Packeis noch eine Weile standhalten können." "Vielen Dank für die offene Auskunft, Chef!" Er drückte
mir noch einmal die Hand und ließ sie dann langsam los. "Ich werde mir die Sache also noch einmal überlegen, bevor ich mich entscheide. Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen; es tut mir leid, daß ich Sie so lange von Ihrer Arbeit abgehalten habe, nur um Sie mit meinem armseligen Kadaver zu behelligen." Ich wagte nicht, ihm zu antworten, aus Angst, daß mir die Stimme zittern würde. Schweigend schlüpfte ich hinaus und ließ den großen Dan blind und hilflos in seiner Koje zurück, wo er in der Dunkelheit für mich eine Stimme und eine tastende Hand gewesen war. Er mußte zwischen Operieren und Nichtoperieren wählen, zwischen dem möglichen Tode und der sicheren Blindheit. Wie seine Wahl auch immer ausfiel - die endgültige Entscheidung würde nicht er, sondern das Packeis der Arktis fällen. Er mußte erraten, was es mit der "Jeannette" vorhatte. Wenn er falsch riet, stand entweder sein Augenlicht oder sein Leben auf dem Spiel. Ich wandte mich wieder meinem eigenen kleinen Problem, dem Auftauen der Dampfleitung, zu. Nach einer kurzen Weile kam Tong Sing wieder nach vorn, diesmal, um den Kapitän zu rufen, der sich sofort nach achtern begab. Ob sich Danenhower schon entschlossen hatte oder nur weitere Auskünfte haben wollte, wußte der Steward nicht. Ich arbeitete eine Stunde lang weiter und wartete dabei gespannt auf De Longs Rückkehr. Als er kam, brauchte ich ihn nur anzublicken, um sofort zu wissen, wie Dan sich entschieden hatte. "Na, wann ist die Operation?" "Sie ist bereits vorüber, Melville, und, wie der Doktor sagt, gelungen. Ich war dabei und habe etwas geholfen. Chef, ich weiß kaum, was ich mehr bewundern soll - die Geschicklichkeit und Schnelle, mit der Ambler trotz seiner
Schwäche gearbeitet, oder den Mut und die heroische Standhaftigkeit, mit der Dan alles ertragen hat. Er ist jetzt verbunden und wieder in seiner Kajüte. Gott gebe, daß das Schiff nicht unter uns versinkt, ehe der Verband abgenommen werden kann!" Das war also erledigt. Mit etwas erleichtertem Herzen machte ich mich wieder daran, Dampf auf meine eingefrorene Röhre zu blasen. De Long kletterte in die Vorpiek zurück und beschäftigte sich weiter mit dem Leck. Meine Gemütsruhe hielt nicht lange an. Sobald wir auf der "Jeannette" eine Sorge los waren, tauchten dafür zwei neue auf. Bald zwängte sich der Kapitän mit langem Gesicht wieder durch die Luke und stellte sich zu mir neben die Deckpumpe. "Wieviel Kohle haben wir jetzt noch in den Bunkern, Chef?" "Etwas über 83 Tonnen", war meine prompte Antwort. Ich hatte das Gefühl, daß ich sozusagen jedes Stück Kohle in unseren Bunkern beim Namen kannte. "Und wieviel verbrauchen wir jetzt?" fragte er weiter. "Eine Tonne pro Tag für die Pumpen und alles andere, Kapitän. Aber sobald das Schott fertig und das Leck geschlossen ist, müßten wir wieder mit unserem alten Quantum von 300 Pfund auskommen." De Long schüttelte traurig den Kopf. "Nein, Chef; daraus wird nichts. So wie das Schiff gebaut ist, sehe ich nicht, wie wir jemals das Schott wirklich dicht bekommen sollen; die ,Jeannette' wird weiterlecken, und wir müssen weiterpumpen. Aber eine Tonne Kohle pro Tag, das ist unser Ruin. Bei diesem Verbrauch sind die Bunker spätestens im April leer! Können Sie nichts machen, irgend etwas, um den Kohlenverbrauch herunter-
zuschrauben?" Ich überlegte schnell: Unser Hauptkessel, der natürlich dazu bestimmt war, Dampf zum Antrieb des Schiffes zu liefern, war viel größer als nötig, um nur zwei Pumpen in Betrieb zu halten, und er verbrauchte darum zuviel Brennstoff. Wenn das Pumpen, statt nur noch ein paar Tage zu dauern, eine ständige Einrichtung werden sollte, mußte ich etwas finden, was für diese Arbeit vorteilhafter war. Da, vor mir im Deckshaus, stand der kleine Baxterkessel, den ich für die Verdampfungsanlage aufgestellt hatte; der konnte die vordere Pumpe antreiben. Als ich durch die Tür des Deckshauses nach achtern Ausschau hielt, fiel mein Auge auf unsere nutzlose Schaluppe, deren Schlitten auf dem Achterdeck unter einem Haufen von Schnee und Eis halb begraben lag. In der Schaluppe befand sich ein kleiner Kessel; vielleicht konnte ich den abmontieren und ihn irgendwie so anbringen, daß er die Pumpe im Maschinenraum antrieb. Dann brauchte ich kein Feuer mehr unter dem Hauptkessel, und die ganze Arbeit ließ sich mit weniger Kohle leisten. Ich umriß dem Kapitän mein Vorhaben in kurzen Worten, und er, der bereit war, sich an jeden Strohhalm zu klammern, gab mir die Blankovollmacht, alles, was ich nur wollte, auf dem Schiff umzumodeln, wenn dadurch nur Kohle gespart wurde. "Abgemacht!" versprach ich. "Sobald ich die Pumpe hier in Betrieb habe und das Handpumpen einstellen kann, werde ich mich mit der Schwarzen Rotte daran machen, die kleinen Kessel aufzustellen und dem großen Kohlenfresser das Maul zu stopfen. Und selbst wenn wir mit Ah Sams Teekessel dem Dampf nachhelfen müssen - der große Kessel wird abgestellt; darauf können Sie sich
verlassen!" "Davon bin ich überzeugt, Chef", erwiderte De Long dankbar. "Können Ihnen die Leute von Deck dabei irgendwie behilflich sein?" "Die lassen Sie besser weiter am Leck arbeiten, Käptn. Wir nahmen 3300 Gallonen Salzwasser pro Stunde durch das Leck; jeder Liter, den sie draußenhalten, bedeutet mehr Kohle in unseren Bunkern." "Das ist mir ganz klar, Melville. Nindemann und sein Kollege arbeiten mit allen Kräften am Schott. Ich werde Cole mit der Deckwache Asche und zerzupften Filz zwischen Holzfüllung und Decke in der Vorpiek schaufeln lassen, um dort das Wasser aufzuhalten. Verkleinern können wir das Leck, wenn ich auch nicht weiß, wie weit; aber schließen können wir es nicht - das sehe ich schon." Und De Long kletterte wieder in die eiskalte Vorpiek zurück. Obwohl er seine Gefühle zu verbergen suchte, sah er aus, als ob ihm der Anblick das Herz brechen wollte. Ich war stark versucht, ihn am Arm zu nehmen und ihn in seine Koje zu schicken, aber ich hatte Angst, er würde dann das gleiche mit mir versuchen; doch ich mußte die Leitung auftauen und die Pumpe in Gang bringen, ehe ich mich ausruhen konnte. Deshalb ließ ich den Kapitän gehen. Nach vielen bitteren Enttäuschungen gelang es mir ein paar Tage später, den Hauptkessel durch die beiden kleineren zu ersetzen. Zusammen mit den endlosen Bemühungen Nindemanns, das Leck einzudämmen, wodurch sich die stündlich eindringende Wassermenge fast auf die Hälfte verringerte, führte das nach und nach zu einer Senkung unseres Kohlenverbrauchs auf nur eine Vierteltonne pro
Tag. Damit war die Gefahr für die "Jeannette" einstweilen gebannt. Und als wollte die Natur selber uns Mut zusprechen, ging Ende Januar, nach 71 Tagen, zum erstenmal wieder die Sonne am Horizont auf.
Heft 107
Der Name Port Said ist Ihnen natürlich bekannt. Sie wissen auch, daß Port Said der nördliche Endpunkt des Sueskanals ist, daß der Kanal 160 km lang und 12 m tief ist, schleusenlos, von Ferdinand Lesseps erbaut und 1869 eröffnet wurde. Welche Bedeutung der Kanal für die Schiffahrt hat, wäre müßig, Ihnen zu erzählen. " . fährt doch nach Port Said", heißt unsere nächste Erzählung; denn das heißt, allen Schwierigkeiten zum Trotz fährt der Supertanker "Spyros Niarcos" durch den Kanal nach Port Said. Aber nicht nur er, sondern auch Bert Rothaar, der es eigentlich gar nicht wollte. In Hamburg, im Alster-Pavillon, fängt es ganz harmlos an, ein Engländer, eine reizende Hamburger Deern und ein Seemann natürlich. Der Seemann landet glücklich in Port Said, die Deern, nun, auch die wird bald am Nil sein, und der Engländer - den werden Sie vergeblich dort suchen. Was zwischen Hamburg und Port Said geschieht? So allerhand! Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihnen Ihr Felix
Eigentlich sollte ich ja schon im Heft 104 getauft werden. Doch leider machte sich eine kleine Verschiebung dieses für mich so großen Festes notwendig. Zuviel Gäste - sprich Postkarten - kamen an. Ja, und da war es gar nicht leicht, aus der Vielzahl der vorgeschlagenen Namen den besten auszuwählen. Ihr wißt ja, wie die Leute sind. Jeder glaubt natürlich, daß nur sein Vorschlag in Frage kommen kann. Einige nannten sogar ihre eigenen Namen. Das geschah wohl nur aus dem Wunsch heraus, einmal so wie ich um die Welt zu reisen, Menschen und Länder kennenzulernen, in Büchern zu schmökern. Aber laßt den Kopf nicht hängen, vielleicht begegnen wir uns noch mal in der großen Welt. Bis dahin spiele ich eben für euch den Reporter. Aus der großen Lotto-Trommel habe ich mir den Namen Felix ausgesucht. Ja, jetzt sind zwei unter uns froh. Das bin erstens ich, da ich nun einen Namen habe, und das ist zweitens Horst Schneider, Dresden A 27, der jetzt ein Jahr lang kostenlos mit mir auf Reisen gehen kann und als Lektüre den spannenden Roman "Die Verschwörung vom Rio Cayado" von Werner Legere erhält. Herzlichen Glückwunsch! Mein nächster Weg führt mich wieder nach Berlin in den Verlag. Mal sehen, was es da Neues zu erfahren gibt. Doch darüber mehr in 14 Tagen. Euer Felix