Vera Eine für Viele Aus dem Tagebuche eines Mädchens
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Vera Eine für Viele Aus dem Tagebuche eines Mädchens
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Vera Eine für Viele Aus dem Tagebuche eines Mädchens
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littera scripta manet
Georg! Ich kann nicht die Deine werden! Ich habe versucht, den Abgrund zwischen uns mit der Kraft meines Willens zu überbrücken. Umsonst. Meine Empfindungen sind nicht zu bändigen. An Deiner Seite würde mein Leben an einer ewigen Lüge verfaulen müssen … Darum nehme ich Abschied von Dir – – für immer! Georg! Meine Liebe ist stärker als mein Wille zum Leben. Ich kann es, nicht ertragen, Dich leiden zu sehen – und schuldlos leiden zu sehen. Ich bin ein Opfer unserer Gesellschaftsordnung … das erste nicht – und noch lange nicht das letzte – Ich bin zu schwach, den gigantischen Kampf aufzunehmen – und zu einsam. – Aber erfülle meine letzte Bitte, Georg, meine allerletzte Bitte … Kämpfe Du für die Idee, an der ich zu Grunde ging! – Kämpfe für mein Andenken, Georg! Ich sende Dir die letzten Blätter meines Tagebuches. Es ist jedes Wort ein Fetzen meiner Seele. Du kannst es mit gefälschtem Namen veröffentlichen. Und wenn unter den wenigen, die mein Allerheiligstes betasten werden mit ihren Gedanken – nur vereinzelte sind – die mich nicht beiseite werfen mit spöttischer Geringschätzung … mir soll es genug sein! – Leb wohl, Georg! Tröste meine armen Eltern! Ich sende Dir die letzten Grüsse, aus Liebe und Leid geschmiedet. Deine treue Vera.
. September. – – – – Ich bin um Mitternacht aufgewacht. Aus einem Chaos wirrer Träume und traumhafter Aengstlichkeiten. Ich finde schon seit einigen Tagen keinen festen, befreienden Schlaf. Der Sturm peitscht zornig die Regentropfen an meine Fensterscheiben … ein einförmiges, stupides Geräusch. Die Finsternis kerkert mich in ihre Undurchdringlichkeit. Man muss sehr glücklich sein, um das Dunkel lieb zu haben oder grenzenlos elend. Ich bin fröstelnd aus dem Bette gekrochen und habe die Lampe angezündet. Es freut mich, zu sehen, wie die Lichtstrahlen in die Nacht strömen, mit ihr ringen und kämpfen, sie zu erdrücken versuchen … Und ich sitze vor meinem Schreibtisch mit übermächtigen Empfindungen. Ich möchte ganz ehrlich sein … wahr, schrankenlos wahr gegen mich selbst. Alles in mir schreit und stöhnt nach dieser Wahrheit. Was helfen all die wohlgepflegten Lügen, all die zärtlich behüteten Beete von Illusionen in der Atmosphäre der Unwahrheit? Bringt mich der systematisch kultivierte Selbstbetrug auch nur um Schritte dem Glücke näher? Oder der Selbstzufriedenheit, die ja identisch ist mit dem Glück? Die Wahrheit wird durch die Lügenlast immer tiefer und tiefer in die Seele gepresst und höhlt sie aus. Ich habe ein furchtbares Grauen vor dem Sumpf, vor der Niederung. Ich will frische, reine, klare Höhenluft atmen. – Ich will meine Wahrheiten in Worte pressen. Ich will die Hüllen von meinen Nacktheiten reissen, die versteckten Fesseln, die die freie Selbstentfaltung hemmen … Ich will versuchen, ganz ich selbst zu sein, meine ureigenste Persönlichkeit aus mir selbst zu kristallisieren. Werde ich besser, reiner, grösser, wenn ich meine Hässlichkeiten verschleiere, vor mir selbst beschönige, entschuldige, motiviere? Werde ich geringer, schlechter, wenn ich meine
Schönheiten empfinde und anerkenne? Der Priester darf sein Allerheiligstes berühren, ohne es zu besudeln … Ich bin am Fenster gestanden und habe hinabgestarrt in die milde, lautlose Dunkelheit. Und ein Knäuel von Gedanken hat sich in mir abgewickelt, leise, Faden für Faden … Fast körperlich empfand ich es. Man soll nicht grübeln über alltäglichen Dingen. Man findet immer zahlreichere Berechtigungen zum Zweifel. Die Denksäge zerkleinert alle Lebenswerte. Ich habe ein unglückseliges Temperament. Das Produkt eines reichen, gesättigten Lebens. Wunschlose Freudlosigkeit! Im Wohlleben, in der Fülle verbrauchen sich die seelischen Energien. Sie verzehren sich selbst. Die Kräfte erschlaffen ohne Anspannung. Wie der Pflug in der Scheune verrostet. Darum sage ich mir oft – wenn ich arbeiten müsste, wenn mich die Entbehrung treten würde zur Arbeit, wenn ich die Sorge kennen würde – um den morgigen Tag – vielleicht wäre ich frischer, gesünder, freudiger. Ich würde mich erneuen, verjüngen. Nicht in trübem herbstlichen Pessimismus förmlich untertauchen. Aber dieses satte Geniessen in ewiger Unzufriedenheit, dieser bourgeoise Behaglichkeits-Fanatismus, die ertöten nicht allein die Fähigkeit zu ernster Arbeit, sondern auch das Verlangen danach. Und in diesem ziellosen Unvermögensbewusstsein liegt das raffinierte Elend. Darum ist in den niedern Volksschichten so viel Kraft und Glücksfähigkeit und so wenig Nervenschwäche. Weil sie keine Zeit dazu haben, die eigenen Seelen auszuziehen und in kleine Stückchen zu zerlegen, zu ordnen, zu zerfasern, jede Nervenvibration bis in ihre Wurzeln zu verfolgen. In unsern genusskranken Kreisen ist die Heimat der Neurasthenie. Man nennt sie auch Sensibilität, Verfeinerung, Differenziertheit. Man ist stolz auf sie, schrotet sie aus, schlägt Kapital aus ihr. Unsere Kunstrichtung ist eine Brutstätte der Nervenstörungen. Unser
ganzes modernes Leben ist durchsetzt von Krankheitskeimen. Alle unsere Gefühlsäusserungen sind erfüllt von nervöser Glut. Aber der Enthusiasmus fehlt ihnen. Der ist eine Krafterscheinung. Ich sehne mich aus all der Kompliziertheit und Verworrenheit nach einfachen, natürlichen Lebensformen …
o. September. Ich fühle mich oft namenlos einsam. Nicht so sehr, wenn ich allein mit mir bin, als unter vielen fremden, gleichgültigen Menschen. Dieses Einsamkeitsgefühl ist erdrückend. Man empfindet sich so losgelöst, so als ein Teil für sich … ein Atom, das durch den Weltraum gewirbelt wird … hilflos preisgegeben. Manchmal könnte ich mich zu Boden werfen und heulen wie ein Kind. Meine teuern Eltern mit all ihrer Liebe vermochten es nicht, mich von diesem Druck zu befreien. Und selbst Georg gab mir nur in seltenen Stunden die Illusion einer möglichen Gemeinsamkeit. Seine Leidenschaft ist stark und tief, aber nicht weit. Sie will meine Persönlichkeit in ihrer Glut schmelzen und mein Wesen in die Form des seinen giessen. Dieses Nivellierungsbestreben der Liebe lässt mich an ihrer Macht zweifeln. Wenn nicht zwei Seelen sich als Ganzes, Freies, Selbstständiges zu einander gesellen, sich verstehen, erfassen, sich erfüllen, sich im vollen Ausmass ihrer Vielseitigkeiten berühren, dann kann auch eine Neigung das höchste Glück einer konzentrierten Einigkeit nicht schaffen. Und was bei primitiven Naturen erreichbar ist, wird bei seltenen, ausgeprägten Individualitäten oft Unmöglichkeit. Menschen, die viel Raum brauchen, haben nicht Platz nebeneinander. Sie erdrücken sich gegenseitig, entpersönlichen sich, ertöten ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Sie müssen sich selbst verlieren, um einander zu finden. Georg möchte mich mit seinem Ich vermischen, mich zu seiner Sache machen, zu einem Werkzeug seiner Gewalt, zu einem Mobiliar seiner Bequemlichkeit. Es giebt Frauen, die darin ihr Glück finden, die sich aller Wesenheiten entäussern, um ganz in dem geliebten Manne aufzugehen. Aus dieser sanften Hingabe und Accomodationssehnsucht des Weibes resultiert als traurige Folge die Herrenmoral des
Mannes, sein Usurpationsbedürfnis, sein Herrscherbewusstsein. Auf der Schwäche des Weibes baut der Mann seine angebliche Stärke auf. Das ist eben eine schwache Grundlage, und die berühmte Kraft der Männer, mit der sie ihre Ausschreitungen motivieren, ist längst ein Märchen, an das wir nicht mehr glauben. Aber wo Stärke sich auf Stärke türmen wird, dort mag es einmal volle Kraft geben und ein kraftvolles Geschlecht. Vorläufig stehen wir vor endlosen Wällen, die durchbrochen werden müssen. Die lieben Weiblein, mit ihrer Emancipationssehnsucht machen einen Heidenlärm, stossen sich die Köpfe blutig. Und nur in seltenen Fällen gelingt es ihnen, ein schwaches Steinchen aus dem Gemäuer zu lösen. – Dazu braucht es einen mächtigen Sprengstoff. – Unsere ganze sociale Ordnung müsste in die Höhe fliegen wie Spreu im Sturme …
. September. Georg belächelt meine Ideen mit dem typischen Lächeln des Ueberlegenen. Er behandelt mich oft wie ein Kind, wie ein Spielzeug. Er streichelt meine Haare, zupft mich am Ohrläppchen, küsst mich auf die Augen, verzerrt meine Worte zur Karikatur. Meine Erregung ergötzt ihn. Er fühlt es gar nicht, dass er mich kränkt. Er empfindet auch die Nadelspitzen nicht, die ich in meine Worte stecke. Er ist wie gepanzert gegen jede Kleinlichkeit. Damit entwaffnet er mich. Gestern schritt ich mit stummem Groll an seiner Seite über die Ringstrasse. »Ich mag keine philosophierende Frau!« sagte er. »Genug, wenn sie Novellen schreibt und Ambitionen hat.« »Also ich soll mir das Denken abgewöhnen? Nicht wahr?« erwiderte ich gereizt. »Ja, mein Liebling!« Seine unerschütterliche Ruhe erbitterte mich. »So! Du kannst es dir ja noch überlegen. Wir sind ja noch nicht offiziell verlobt!« sagte ich wütend. »Aber süsse Maus!« erwiderte er – »ganz heimlich, das ist ja viel mehr!« Ich schwieg ein wenig beschämt und kämpfte mit den ränen. Und er sagte zärtlich und gut: »Was kümmert uns die ganze dumme Welt, wenn wir uns nur lieb haben!« Er hat ja recht! Wenn wir uns lieb haben – – –
. September. Ich schreibe so gerne des Nachts, wenn alles schläft rings um mich in märchenhafter Stille. Da fühle ich mich nicht einsam. Ich habe den Trost meiner eigenen Persönlichkeit, den ich verliere in dem Gewühl der Massen. Dort werde ich zu einer Schablone, zu einer Gesellschaftsmaschine – und zwinge mich in die engen Uniformen der Bürgerlichkeit … hier bin ich ganz ich selbst, lebe ein eigenes, komprimiertes Leben, höre jeden Atemzug meines Seins, den der Lärm des Tages erdrückt. Und da ist es so. eine wundervolle Erlösung, zu sich selbst sprechen zu dürfen, schrankenlos – von allem Tiefsten und Geheimsten, das durch die Seele fliesst. Es liegt viel Selbstsucht und Eitelkeit in diesem Sich-in-sich-selbstverkriechen. Man stellt sich gleichsam in den Rahmen seiner eigenen Gedanken, Empfindungen, Betrachtungen, Worte … Jeder Rahmen hat den Zweck, seinen Inhalt zu heben, zu verschönen. Und sogar vor sich selbst fühlt man das ästhetische Bedürfnis, auch um seine Hässlichkeiten und Nichtigkeiten Grenzen zu ziehen. Es ist seltsam, wie einem oft die Roheit und Entmenschlichung anderer die eigenen Werte zu Bewusstsein bringt. Förmlich als ob man sich selbst reinigte in dem Schmutze der andern. Ein französisches Sprichwort sagt: II faut toujours un plus petit que soi! So empfand ich heute. Ich traf auf der Strasse Claire Friedrichs. Sie ist seit sechs Monaten verheiratet. In ihren Ohren baumeln grosse Diamanten. Ihre Wangen und Haare haben sich einen rötlichen Schimmer angeeignet. Der grausame Zug um ihre Lippen hat sich ins Imperatorenhafte verschärft. Sie schob mit zudringlicher Freundlichkeit ihren Arm unter den meinen. Dann erzählte sie mir ganz unaufgefordert Episoden aus ihrem Eheleben – Frivolitäten, schamlose Derbheiten, die mir den Ekel in die Kehle trieben.
»Ich habe mein höchstes Ideal erreicht!« schloss sie ihre Mitteilungen, »ich bin reich, habe ein eigenes Schlafzimmer. Mein Gatte ist schon über vierzig und war ein berüchtigter Don Juan! Kinder werde ich nie bekommen! Oh ich bin glücklich! Sehr glücklich« Eine furchtbare Wut stieg in mir auf. Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen, sie mit Beschimpfungen überhäufen mögen. Sie erschien mir als die Verkörperung der Dirnenhaftigkeit Ich schäumte in der Zwangsjacke der Konvenienz und verliess sie mit einem kühlen Gruss. Und als ich allen Abscheu erstickt hatte – da dachte ich an Georg – mit ganz reinen, klaren, einfachen Empfindungen. Und eine Woge des echten, ganzen Glücks überflutete mein Bewusstsein.
. September. Georg ist engelhaft gut zu mir. Hinter seinen schroffen Worten verbirgt sich oft eine Welle aufschäumender Weichheit und Zärtlichkeit. Jedes seiner Worte, jeder seiner Gedanken ist Liebe zu mir. Er möchte sein Leben um mich hüllen wie einen weichen, schmeichelnden Mantel. Seine Augen schauen immer tief in die meinen. Und ich empfinde, wie er in mich hineinleuchten möchte … und jeden Winkel meiner Seele durchstöbern und in all meinen Heimlichkeiten kramen … »Nichts darf mir fremd in dir sein, Vera!« sagt er mir oft. »Nicht ein einziger Gedanke darf in dir sein, den ich nicht kenne.« Manchmal ist etwas Lauerndes, Fürchtendes, Argwöhnisches in seinem Blick. Da beobachtet er mich ganz unausgesetzt, legt jedes Wort, jede Bewegung, jede Veränderung meiner Gesichtszüge auf seine Empfindungswage. Ich fühle mich beengt unter der Qual seines Zweifels, und er leidet. Einmal fragte ich ihn: »Glaubst du an mich, Georg?« Er wurde sehr traurig und sagte: »Manchmal!« Und küsste meine Hand. Aber es lag so etwas Müdes über ihm. »Ich bin nicht schlecht, Georg!« sagte ich. »Das weiss ich, mein Liebling! Könnte ich dich sonst lieben?« »Woran zweifelst, du also?« »Ich fürchte mich, dass du mir eines Tages verloren gehst!« »Aber Georg, das ist ja unmöglich!« Ich schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn. Es war zum ersten Mal. Und er presste mich so fest an sich, so wild und stürmisch … als ob er mich nie wieder aus den Armen lassen wollte. Seine Umarmung war wie ein Verzweiflungsausbruch. Hinter seiner Glut sah ich wie unter Fieberschauern ein rasendes Begehren. Es ist mir rätselhaft, dass ich in jenem Augenblick so klar und scharf und kühl denken konnte.
Er wollte mich besitzen, um mich fester, unlöslicher an sich zu ketten. Das schmerzte mich. Das Höchste, was ich geben kann, so als Zweck erniedrigt zu sein in seinen Gedanken. – Aber ich fand nicht den Mut es ihm zu sagen und die Scham zu überwinden. Wie klein und feig und schwach sind wir doch alle in unsern Gegenseitigkeiten. Wir halten uns die Augen zu vor der Wahrheit, wie furchtsame Kinder vor strengen Blicken. –
. September. Es giebt ein grosses, grosses Gewühl von Lügen, das in die Rubrik »Schamgefühl« fällt. Das Schamgefühl selbst ist, wenn man es all seiner unechten, schöngefärbten Definitionen entkleidet, im Grunde genommen nichts anderes, als ein Drang zur Unwahrheit. Es ist schwer zu begrenzen, inwieweit diese Unwahrheit berechtigt ist. Es giebt lichtscheue Wahrheiten, subjektive Wahrheiten, die das Auge der Massen profaniert. Aber auch dem Einzelnen gegenüber, dem Vollwertigen, Erkannten – hüllen wir nicht allein unsern Körper, nein auch unsere Seele in buntfarbige Kleider. Wir stehen dem Manne unserer Wahl gegenüber in einem Wall von Heimlichkeiten. Wir kämpfen einen Kampf, um ihm mit unserer Liebe unsern Körper zu enthüllen. Und oft verbergen wir ihm zeitlebens die Nacktheiten unserer Seele … wie er uns … Das Schamgefühl ist eine anerzogene Lüge. Die ersten Menschen kannten keine Scham. Ihnen war die Blösse natürlich. Auch bei Kindern findet man kein Schamgefühl. Wir klugen civilisierten Menschen aber, wir wuchern mit unsern Nacktheiten. Ich glaube, die Unsittlichkeit ist erst mit den Kleidern in die Welt gekommen.
. September. Heute morgen fuhr ich mit Georg nach Dornbach. Und wir gingen durch den Wald. Es war still und menschenlos. Nur das welke Laub stöhnte unter unsern Tritten. Die Sonnenlichter tropften durch die Zweige und tanzten auf dem matten Braun des Bodens. Wir gingen langsam, seitab vom Wege, Hand in Hand. So etwas Warmes, Leuchtendes, Kindliches war über uns. Wir schwiegen lange. Keiner wollte durch ein alltägliches Wort die Weihe dieser Stunde profanieren. Manchmal drückte Georg ganz leise meine Hand. Ich fühlte, dass er etwas Liebes, Gutes dachte und es mir zuflüsterte in diesem Drucke. Wir leben in solchen Momenten ein ganz gemeinsames Leben. Keine fremde Empfindung, kein heimlicher Gedanke ist in uns. Sogar das sinnliche Begehren schlummert. Aber eine grenzenlose Hingabe, ein unergründliches Liebesgefühl webt sammtene Bänder von Seele zu Seele. Mir war zu Mute, als ob ich in der Kirche wäre. Ich wäre gerne auf die Knie gesunken und hätte die Hände gefaltet. Es war ein Hauch der echten, wahren Frömmigkeit, der mich streifte. Und dann die Sehnsucht, ganz rein, ganz gut, schrankenlos gut sein zu können, das innerliche Glück auszuströmen in tausendfältiger Fruchtbarkeit – die Sehnsucht nach Selbstaufopferung. Man hat alle Menschen lieb in solchen Stunden – – und alle Dinge sind einem so nahe … und alle Lebensmelodien klingen und singen … Alle menschlichen Schönheiten fliessen zusammen in den Strom der Liebe. Ein Mensch, der zu lieben vermag, kann nicht ganz schlecht sein. Ein Mensch, der liebte, kann nie ganz schlecht werden. Soviel Edles, Hohes, Reines löst sich aus in einer echten Neigung. Sie durchleuchtet und durchwärmt die dunkelsten, verborgensten Winkel unseres Wesens.
Manchmal ist es mir unerklärlich, wie ich zwanzig Jahre meines Lebens in Finsternis leben konnte – und ohne Zweckbewusstsein mich von einem Geschehnis zum nächsten schleppen … wie ich überhaupt ohne Georg existieren konnte. Die Tage schlichen damals müde und abgelebt an mir vorbei. In den zwei Jahren unserer Liebe ist jeder Augenblick ein Aussichtspunkt, jede Stunde ein Erlebnis … jeder Tag der Antipode des nächsten. Jeder Schmerz ist erfüllt von Schönheit – und jede Freude. Ich bedaure die kleinen, ärmlichen Menschen, denen diese Paradiese verschlossen sind … Georg empfindet es wie ich. Wir sassen in einer Waldlichtung auf einer kleinen Anhöhe, eng aneinander geschmiegt und hielten Rückschau. – – Und viele kleine Einzelheiten fielen in unser Gedächtnis aus der Zeit unseres ersten schüchternen Zueinanderstrebens. Wir suchten nach den ersten Keimen der Leidenschaft, die in uns erblühten. Als wir uns das erste Mal sahen – es war in einer lauen Sommernacht – im Salzkammergut – bei einem Mondscheinspaziergang … und uns ignorierten, von vielen Vorurteilen einander belastet … Und als wir dann doch zu einander fanden – unter dem Einfluss eines unbestimmbaren Fluidums – uns verbanden in unsern Aehnlichkeiten und schroff aufeinanderstiessen in unsern Gegensätzen … Das Werden unserer Liebe war ein Kampf … ein trotziges Sichaufbäumen und ein siegendes Unterliegen. Wir mussten lächeln in der Erinnerung an die Zeit, wo konventionelle Barrieren uns trennten und tausend Förmlichkeiten uns knechteten: wo er »gnädiges Fräulein« sagte und ich »Herr Doktor«. Und wir mussten auch lächeln in der Erinnerung an unser erstes, zaghaftes Rendezvous, bei dem ich zitterte und bebte vor Angst und er die Gespenster sämtlicher tratschlüsterner Bekannten in der Nähe sah …
Seither ist vieles anders geworden in uns. Wir haben alle Aeusserlichkeitsbedenken beiseite geschleudert. Wir gehen sorglos und selbstsicher den Weg unserer Liebe. Und wenn Georgs Hoffnungen sich erfüllen … werden, wir in längstens einem Jahre – uns angehören – für immer – – – Die Welt ist uns nur Hintergrund und Boden, auf denen wir das Kunstwerk unseres Lebens aufbauen – – –
. September. Meine Eltern kämpfen von jeher einen geheimen Kampf gegen meine Liebe. Anfangs wurde ich mit Nadelstichen gefüttert. Jetzt hagelt es häufig moralische Keulenschläge. Meine teuren Eltern sind trotz ihrer Liebe verblendet genug, in einer reichen Konvenienz-Heirat das einzige Glück ihres Kindes zu erkennen. »Das von der Liebe, das ist Unsinn«, meint mein Vater … »leere Phrasen, Romangeschwätz. Ein langer Brautstand ist das Grab der Liebe. Deine Mutter und ich, wir haben uns kaum gekannt, als wir uns verlobten – und sind sehr glücklich geworden …« »Aber das ist ja ein Hazardspiel!« wagte ich schüchtern einzuwenden. »Papperlapapp«, erwiderte meine Mutter in ihrer derben, vierschrötigen Art. »Zuerst ein angenehmes Leben, dann kommt die Liebe von selbst. Vor der leeren Krippe beissen sich die Pferde.« Mir läuft bei solchen Gesprächen eine philiströse Gänsehaut über den Rücken. Und wenn mein Vater seine Vorstellungen mit den Worten schliesst: »Vergiss nicht, dass wir die Gescheiteren sind – und vor allem mehr Erfahrungen besitzen«, erwidere ich mit trotziger Entschlossenheit: »Ich will eben diese Erfahrungen machen.« Um ernste Zwistigkeiten zu vermeiden, lebe ich mit Georg ein ganz heimliches Leben neben dem Alltag … und werde diese Doppelexistenz erst aufgeben, bis Georgs Avancement uns die Ehe ermöglicht. Dann werde ich mit einem energischen Ruck das Recht dieser freien Wahl erkämpfen – wenn es überhaupt eines Kampfes bedarf. Kein Opfer wird mir zu gross sein … kein einziges. Und was meiner tiefsten bettelnden Kindesliebe versagt bleibt … wird meine Leidenschaft mich erzwingen lassen. Ich fürchte die Not des Lebens nicht. Ich fürchte mich vor physischen Entbehrungen nicht – – – auch nicht vor Arbeit, Verantwortungen, Pflichten.
Alles in mir verlangt nach einem grossen, erfüllenden Lebensinhalt. Meine grosse Vereinsamung hat mich frühreif, stark und selbständig gemacht. Ich sehne mich nach Kraftentfaltung … nach voller Entwicklung meiner Möglichkeiten. Die Gefahren des äussern Lebens schrecken mich nicht. Wenn ich mich nicht in den Schleichwegen meines eigenen Wesens, in dem Labyrinth meiner Seele verirre – das laute Leben wird mich gerüstet finden. Nie, nie wird es mich zum Philiströsen bändigen, nie! Lieber im offenen Meer auf turmhohen Wogen – Unsicherheit, als im Hafen – scheitern. Ich kenne Furcht und Reue nicht. – Das sind für mich leere Begriffe … ohne Inhalt, ohne Vorstellungsmassen. Mag sein, dass die grelle Selbstverständlichkeit meiner Ueberzeugungen mir viel von den Süssigkeiten des Beeinflusstwerdens geraubt hat. Mag sein, dass meine rechthaberische Eigenmächtigkeit einmal noch viel Leid über mich bringen wird. Vielleicht wäre alles anders geworden, wenn ich einen Bruder gehabt hatte. Ich hätte mich nach anderen Richtungen entwickelt. Ich wäre mehr Epheu geworden und weniger Mauer. Das Weib ist, seiner ganzen psychophysischen Veranlagung nach mehr zum Epheu geschaffen. Aber es giebt Saiten in der Weibesseele, die nur der Einfluss eines Mannes in früher Jugend zum Schwingen zu bringen vermag. Mit meinem Vater verbindet mich eine seltene, tiefe, abgöttische Liebe, aber die Aehnlichkeit unseres psychischen Lebens hat jede Einfluss-nahme von vornherein unmöglich gemacht. Und von allem männlichen Verkehr wurde ich hermetisch ferngehalten. – Die freie Kameradschaft zwischen den Geschlechtern stempelt man heute noch zu etwas Verbotenem – und dadurch allein zu etwas Reizvollem, Verlockendem, Gefährlichem. – Man könnte seinen Ruf beflecken. Man könnte durch den Tratschsumpf des Bekanntenkreises geschleift werden. Und die Reinheit
des Mädchens, ihr höchster Schatz, kann besudelt werden unter der Brille des Vorurteils. Welches Armutszeugnis für diese Reinheit! Die lieben kurzsichtigen Eltern, die ihren Töchtern jedes tête-à-tête mit einem Manne energisch verweigern, finden es allerdings ganz in der Ordnung, wenn jene auf dem Balle, halb angezogen, von einem Arm in den andern fliegen und sich die frivolsten Unzüchtigkeiten in die Ohren flüstern lassen. Das entspricht wohl nicht der Sittlichkeit, aber der Sitte. Und das ist ja die Hauptsache. An dem intensiven, fast ans Unsittliche grenzenden Unterstreichen des rein sexuellen Moments im Verkehr der Geschlechter trägt nicht zum geringsten Teile jenes Absperrungssystem schuld. Wohl der Generation, die einmal bessere, gesündere Zeiten sehen wird!
. Oktober. Heute hatte ich mit Georg einen kleinen Streit, der für einige Stunden eine Verstimmung zwischen uns legte. Mein lieber Georg war fuchsteufelswild vor Eifersucht; Hans Waldau, der mich vor Jahren in Tanzstundenzeiten liebte, hatte die Kühnheit, mir die Hand zu küssen. Dieses Verbrechen konnte Georg ihm nicht verzeihen und machte mich dafür verantwortlich. »Meine Braut hat sich nicht von fremden Herren die Hand küssen zu lassen! Verstehst du?« Ich versuchte ihn zu besänftigen. Umsonst. Wie ein Bergstrom brach die Flut seines Jähzorns über mich herein. »Du hast mit ihm kokettiert! Du hast seine Blicke erwidert! Du hast ja schon einmal eine Liebschaft mit ihm gehabt. Sag’ es mir nur, wenn du mir den Hohlkopf, den dummen Kerl vorziehst … Sag’ es mir nur …« Es ging lange in diesem Tone fort. Das Tyrannische, Herrschsüchtige des männlichen Wesens kam so recht zum Vorschein in all den erzürnten Worten. Ich wäre vielleicht ernstlich böse geworden, wenn er mir nicht gerade in seiner eifersüchtigen Aufregung so süss erschienen wäre. Es giebt keine Frau, die nicht grausam wäre, die nicht Freude empfindet, wenn der Mann ihrer Wahl leidet – aus Liebe zu ihr … Ich sonnte mich fast an all der grundlosen Wut. Nach einigen Stunden bat er mich zerknirscht um Verzeihung. Da gestand ich ihm dieses Empfinden. Er lächelte nicht. Er küsste leise die Innenfläche meiner Hand. Seine Augen waren traurig.
. Oktober. Ich kann wieder einmal nicht schlafen. Ein Chaos von Angstvorstellungen taucht aus dem Dämmern und führt einen wirren, gespensterhaften Reigen um meine Gedanken auf. Ich habe die Lampe angezündet und zur Feder gegriffen, um die zusammengepressten Kräfte durch das Ventil des Ausdrucks zu verdünnen. Da sitze ich nun, schreibe dummes Wort-G’schnas nieder und betäube all das Verzweifelt-Sehnsüchtige, das in meiner Seele wühlt … Wenn Georg meine Sehnsucht empfinden würde und zu mir käme … jetzt in diesem Augenblick. Wenn er leise die ür öffnete – und meinen Namen flüsterte … mit seiner zärtlichen, liebkosenden Stimme … Seine Worte sind manchmal wie gesprochene Küsse … Wie ich ihm entgegenfliegen würde – und mich in seine Arme schmiegen und an seiner Brust vergraben … Wie ich innerlich jauchzen würde in seiner Umarmung … wie ich seine Küsse in mich trinken wollte. Ich glaube, ich müsste mich ihm geben, ganz und gar. – – – Es giebt innere Notwendigkeiten. In dieser Stunde könnte ich nicht widerstehen. Alles in mir fiebert nach einer schrankenlosen Hingabe, nach einem Untertauchen in dem Taumel besinnungsloser Liebe, den ich nur ahne. Mir ist zu Mute, wie wenn auf meinen Nerven Ameisen kriechen würden. – – – Ich möchte mein Kopfpolster umarmen und mein Gesicht hineinwühlen und schluchzen … Die Eruptionen meiner Leidenschaft sind schroff, plötzlich, unvermittelt, wie mein ganzes Wesen. Ich leide unter dieser erotischen Sehnsucht … Ich kranke an den atavistischen Begriffsüberbleibseln meines Milieus. Die Unze Goldes, die zum Ehering geschmiedet wird, soll mir das Recht geben, meinen Körper zu verschenken – und meiner Liebe ist dieses Recht verwehrt?
Das Champagnergelage der Hochzeitsgäste und ihre frivolen Spässe sollen mir den Augenblick weisen, in dem ich meinem Geliebten ganz gehören darf? Inzwischen soll ich meine Sinne einschläfern, meine Impulse ertöten und mich in einen Käfig von Konvenienz sperren? Und dann aus der Kirche ins Hochzeitsbett, das die Sanktion der Gesellschaft geheiligt hat … Wie abscheulich! Wie entwürdigend! So ökonomisch notwendig die Ehe als gesellschaftliche Institution für die Masse mir erscheint, so entehrend erscheint es mir für den Liebesbund der einzelnen, diesen Augenblick erwarten zu müssen, … Ich rassle mit den Ketten, ohne die Kraft, sie zu zerbrechen. – – –
. Oktober. Heute morgen – ich war bereits in meine normale Empfindungslage zurückgeschnappt – kam Georg zu einer ungewöhnlich zeitlichen Stunde – ohne anzuklopfen in mein Zimmer gestürzt. Ich trug ein lichtes Morgenkleid und war gerade im Begriff mein Haar durchzukämmen. Er murmelte weder eine obligate Entschuldigung, noch den üblichen Begrüssungsgruss. Statt dessen packte er mich, presste mich an sich, küsste mich heftig auf den Mund. Seine Zähne wühlten sich in meine Lippen und bissen sie blutig. In furchtbarer Erregung keuchte er: »Vera, ich habe mich heute nacht so rasend nach dir gesehnt!« Ich war unfähig ein Wort zu erwidern. Ich glaubte in diesem Augenblick an ein Wunder. Während dieses seltsame Zusammentreffen doch nichts anderes war, als ein notwendiger Gefühlsweg, den wir, vielleicht angeregt durch dieselbe Aeusserlichkeit, gemeinsam zurückgelegt hatten. Georg war fassungslos, wie ich ihn noch nie gesehen. Er liess mein Haar wie verzückt durch seine Finger gleiten, Die andere Hand klammerte sich schmerzhaft um meinen entblössten Unterarm. Seine Wangen brannten. Seine Augen frassen mich förmlich. Dabei wimmerte er leise wie ein angeschossenes Tier. Ich streichelte besänftigend seine Stirn. »Was ist dir denn, Georg?« fragte ich. »Das ist die Freude, Vera, die Freude!« murmelte er. Eine sonderbare Freude! »Worüber freust du dich denn?« »Du gehörst jetzt mir, Vera! Mir, mir ganz allein!« schrie er. Und ein neuerlicher Umarmungsparoxismus folgte. Nachdem ich mich von ihm befreit hatte und um eine endliche, verstandesmässige Erklärung bettelte, berichtete er mir, dass er heute zum Adjunkt ernannt worden sei und dass wir heiraten müssten, heute, morgen – – so schnell es ginge …
Ich fühlte deutlich, wie sich in dem Augenblick mein Herzschlag beschleunigte … wie ein Zittern durch meine Glieder rieselte … wie ein Auauchzen des Glückes sich in mir losrang … Aber es war nur ein Moment. Ich brachte nichts hervor als: »Wirklich? Georg, wirklich?« »Du freust dich nicht genug«, fand er und riss mich neuerdings in seine Arme. »Mein Weib!« flüsterte er. »Mein süsses, angebetetes Weib!« Wie seltsam er das Wort »Weib« aussprach! Die ganze starke, männliche Zärtlichkeit verkroch sich in dem Tonfall seiner Stimme. Aber auch der Triumph des uneingeschränkten Besitzes. In diesem Augenblick trat Mutter ins Zimmer. Und ich erkannte auf den ersten Blick, dass sie über Georgs Morgenbesuch aufs höchste indigniert war. »Georg ist Adjunkt geworden,« rief ich ihr entgegen und vereitelte so jedes vorwurfsvolle Wort. »Morgen heiraten wir!« fügte ich mechanisch hinzu, ohne mir dabei irgend etwas zu denken. Mutter wurde sehr blass, umarmte mich und Georg mit einer gewissen, schmerzlichen Resignation und sprach viele salbungsvolle Worte, wie sie Mütter bei solchen Gelegenheiten zu sprechen pflegen. Aber viel liebevolle Güte war darin – und auch heimliche Sorge und Betrübnis. Die Stimmung wurde feierlich, bedeutungsvoll, mit Pathos getränkt. Ich versteckte mein Gesicht an Georgs Brust und schluchzte ganz unmotiviert. Mutter wischte sich die Augen, Georg hatte seine Ruhe wiedergefunden und sprach gute sanfte Worte. Wir stritten schliesslich über den Termin der Hochzeit und konnten nicht einig werden. Es war alles programmmässig konventionell – wie in allen gut bürgerlichen Familien … Als ich allein war, wusste ich nur, dass mir bang und beklommen zu Mute war … und dass all das erwartete Glücksgefühl mich im
Stich gelassen hatte. Ich durchforschte vergebens alle Schlupfwinkel meines Empfindens nach einem Schimmer der Freude – – Und ich schämte mich, dass im Augenblick des Erreichens mein Enthusiasmus so gänzlich versagte. – – Nachts. Da bin ich nun wieder mit wachen Augen und mit einer schlaflosen Seele. Ich versuche krampfhaft, mich zu freuen. Aus den aufblitzenden Seligkeitsmomenten kippt meine Stimmung in ein falsches Pathos, in eine Pose des Glückes, deren Bewusstheit mich schmerzt. Die Hochzeit wurde auf den . Dezember festgesetzt. Ich wünsche mir den Termin nicht nähergerückt. Ist meine Liebe so klein und schwach, dass selbst das Glück des Geliebten ihr seine Rückstrahlung zu weigern vermag? Ich zerfasere jede Regung, jeden Gedanken. Ich krame in meinem Innersten, in meinem geheimsten Archiv nach den Ursachen dieser Apathie. Ist es denn möglich, dass auch ich – wie so viele Gegenwartsmenschen – alle Naivetät und Unmittelbarkeit des Erlebens verloren habe? Vielleicht grämt mich auch die Unzufriedenheit meines Vaters, der mir Reichtum und Ueberfluss zum Lebensziel steckte? Vielleicht ist es eine Ahnung von Leid und Trauer, die ihre Schatten vorauswirft? Ich bin abergläubisch …
. Oktober. Heute kam das Heer meiner sogenannten Freundinnen aufmarschiert. Ich war von jeher ein beliebter Spucknapf für vertrauliche Mitteilungen und funktionierte prächtig als Ratschlagsautomat … Ich teilte mit ganzem Herzen die kleinen Leiden und Freuden und Backfischhaftigkeiten meiner Geschlechtsgenossinnen, Aber mich selbst versperrte ich vor ihren Blicken wie eine Wertheim-Kassa. Ich war von jeher ein in mich selbst verstecktes lichtscheues Wesen, ein Produkt der gänzlichen Einzelerziehung. Meine Verlobung war eine Sensationsnachricht. Nun kamen sie alle gelaufen, um mit ihren Fragen ein Miniaturbild meiner Erlebnisse zu erbetteln. Mein Mangel an Mitteilsamkeit war wohl ein harter Schlag für diese neugierglühenden Geschöpfe. Regine, die einzige, die mir mit ihrer warmen, rückhaltlosen Herzlichkeit manche trübe Stunde gelindert, kannte meinen kleinen Roman. Der Phantasie aller übrigen habe ich freien Spielraum gelassen. Sie dichten vielleicht in diesem Augenblick an der würdigen Ausschmückung meines Lebensschicksals. Wenn ich so all die Mädchen meines Kreises betrachte, die vor Oberflächlichkeit strotzen und Gesinnungslosigkeit, die von Flirt zu Flirt taumeln und denen alle wichtigsten und kostbarsten Lebensmomente nur Brücken von Genuss zu Genuss bedeuten – – – dann empfinde ich mit tiefem Schmerz, dass die Frau, trotz aller Emancipationsgelüste, der Vormundschaft des Mannes noch lange nicht entwachsen ist. Alle diese gedankenlosen, oberflächlichen Wesen sind trotz der aufgepfropften Bildung jeder ernsten Arbeit feind. Sie treten in die Ehe, ohne den ureigensten Beruf des Weibes zu kennen, ohne die schweren, ernsten Pflichten des Weibes voll zu ermessen. Sie sollen Mütter werden, Erzieher, sie sollen das höchste Kunstwerk, die Seele des Kindes erbauen helfen – Geschöpfe, die
nur an Lust und Vergnügungen, an Tand und Flitter Gefallen finden – und schliesslich seufzen und stöhnen unter den Lasten der Mutterschaft … Unsere Erziehung hat viel gesündigt an uns. Und manchmal bin ich meinem ernsten, starren, selbstsichern Wesen dankbar dafür, dass es mich vor dieser furchtbaren Alltäglichkeit bewahrte …
. Oktober. Ich habe nur wenig Zeit für mein Beichtbuch! Meine Tage teilen sich gewissenhaft zwischen Arbeit und Liebe … eines durch das andere verherrlicht. – Die Wirtschaft kann meine helfende Hand nicht entbehren. Meine liebe Mutter jammert, wenn sie an die Zeit denkt, in der ich meine strenge Herrschaft wieder in ihre Hände legen werde. Die Vorbereitungen zur Hochzeit nehmen mich in Anspruch – und tausend Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen. Des Abends sitze ich mit Georg in einer Zimmerecke. Oft sprechen wir stundenlang kein Wort. So reich ist dieses Schweigen. Eine grosse Ruhe ist über uns gekommen. Wir atmen unsere Nähe. Er küsst meine Fingerspitzen mit andächtigem Ernst – eine nach der andern … Und dann lächeln wir beide, gleichzeitig … ganz leise … In diesen stillen, zärtlichen Abendstunden ist das Glück …
. November. Zwei Wochen trennen mich von der seligen Stimmung der letzten Zeilen. Zwei Wochen! Mir sind es Jahre, Jahrzehnte! Man kann in Tagen seelisch zum Greise werden. Es giebt Augenblicke, die wie Schwertspitzen sind. Langsam, langsam verblutet man an ihnen, ganz langsam … Ich kann noch nicht alle Gedankenreihen zu Ende denken. Wie ein schwerer Alp lastet es auf mir. Das Atmen thut mir weh. Und die ungeweinten ränen sickern zurück in die Tiefen meines Ichs, wühlen sich in mich hinein … ertränken alles Schöne, Hoffende, Gläubige, alle Glücksmöglichkeiten in mir … Vor wenigen Tagen geschah es. Ich kam mit Georg aus der Oper. Man empfängt die Schönheiten eines Kunstwerks mit tieferem, reinerem Verstehen, wenn man es mit einem Menschen geniesst, den man lieb hat. Wir schritten Arm in Arm durch die Stadt … wie erfrischt und erneut unter den gewonnenen Eindrücken … Georg fand so seltene, begeisterte Worte. Und ich freute mich seiner jungen Freude. Plötzlich verstummte er mitten in einem Satze. Mir war, als ob er blass würde. Uns entgegen kam eine Dame am Arm eines Mannes. Sie war nicht mehr jung und hatte einen watschelnden Gang. Ihr Gesicht war von zerknitterter Schönheit. Als sie an uns vorüberschritt, mass sie Georg mit einem auffordernden, schamlosen Blick. Ihr Kleid streifte ihn mit einer gewissen Absichtlichkeit. – – – – Georg wandte mit unverkennbarer Verlegenheit den Kopf auf die andere Seite. Instinktiv wusste ich alles. Einige Sekunden lagerte ein dumpfes Schweigen zwischen uns. »Wer war sie?« fragte ich dann.
»Die Frau eines ehemaligen Studien-Kollegen.« »Du kennst sie?« »Früher einmal …« Er war peinlich berührt von meinen inquisitorisch fordernden Fragen. Aber ich konnte sie nicht aufhalten. »Du liebtest sie?« sagte ich. »Nein!« war seine schroffe Antwort. Meine Erregung wuchs von Augenblick zu Augenblick. »Was denn?« »Ich hatte vor Jahren ein Verhältnis mit ihr.« Er sagte das mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, als ob er mir erzählen würde: »Ich habe gestern Gullasch zum Nachtmahl gegessen.« Mir traten ränen in die Augen und ein verzweifeltes Gefühl, aus Enttäuschung, Zorn und Eifersucht gemischt, wuchs in mir empor. Er schwieg und wartete mit einem gewissen Trotz auf den Sturm, der seinen Worten folgen würde … Ich dachte ganze wirre Haufen von Gedanken in den wenigen Sekunden. Mir schien es plötzlich unbegreiflich, dass ich ihn nie um seine Vergangenheit befragt hatte, dass ich im naiven Enthusiasmus meiner ersten Liebe an seine Reinheit geglaubt hatte wie an ein Evangelium. Er hatte mir so oft beteuert, dass er nie ein Weib vor mir geliebt hatte. Ich habe es in blindem Glauben hingenommen und es nicht für möglich gehalten, dass er sich ohne Liebe wegwerfen konnte … wie die andern … ohne Liebe! – Darin liegt das Gemeine, Verächtliche … Jener Augenblick des Erkennens hat etwas von dem Heiligsten in mir besudelt, das nichts mehr reinzuwaschen vermag.
Ich schritt lange wortlos an seiner Seite, unfähig, der Erregung Herr zu werden. Dann erwachte das Verlangen in mir, alles zu erfahren … alles zu wissen … alles … Es war mir Wollust, in dieser Wunde zu wühlen. »Erzähl’ mir alles, Georg!« sagte ich. Er drückte meinen Arm zärtlich an sich. Er hatte erwartet, dass ich ihn mit einer Flut von Beschimpfungen und Beleidigungen überschütten würde. Meine Sanftmut rührte ihn. Er verstand mich so wenig in diesem Moment. Eine tiefe, brückenlose Kluft war zwischen uns. »Alles sollst du erfahren, Vera! Nichts, gar nichts will ich dir verbergen!« erwiderte er. Und dann sprach er. Mit ahnungsloser Milde und Güte und Freundlichkeit zerriss er mein heiligstes Leben und zertrümmerte das heimliche Königreich, das ich um unsere Liebe erbaut hatte. Ich habe ihn für einen Gott gehalten. Und er ist eben nur ein Mensch wie alle andern. Das ist das Ganze. Und doch genug, um ein junges, blühendes Glück zu zertreten. Ich kann all das Grässliche nicht wiederholen, das er mir erzählte. Ich habe nicht den Mut, den Düngerhaufen dieser Jugend zu durchstöbern … Er führte das Geschlechtsleben der meisten Männer. Leichtgelöste Verhältnisse ohne Gefühlsketten, bezahlte Liebe in wahllosem Sinnenbedürfnis, ein Leben, das das Edelste verschwendete, ohne dessen Wert zu kennen. Er warf seine Reinheit fort, wie einen schmutzigen Papierfetzen. Ja, er hatte nie das Bewusstsein von dem Werte dieser Reinheit. Er dachte nie, nie einen Augenblick daran, dass das Wesen, das sich ihm einst geben würde in vollster, reinster Hingabe – diese Reinheit von ihm fordern könnte. Nein. Er war diesem Wesen seit einem Jahre treu, seit einem Jahre – das erschien ihm wahrscheinlich schon als grosses Opfer. Mehr durfte
es nicht verlangen. Alles andere war ein notwendiges Genussmittel seiner Jugend, ein Requisit der Gesundheit … Die Aerzte erklärten es sogar als unerlässlich. – – – Und dann – die andern machten es ja nicht anders!! Warum sollte er gerade eine Ausnahme sein?? – – – Gerade er!!! – Mir ist es bis zu dieser Stunde ein Rätsel, wie ich an jenem Abend ruhig neben ihm bis zu meinem Hause kam, wie ich überhaupt fähig war, all diese unterstrichenen Aeusserungen einer robusten, ja brutalen Männlichkeit fast ohne Erwiderung mitanzuhören. Meine Erregungen frassen sich lautlos in mich hinein und ringelten sich um all meine Empfindungen wie giftige Nattern … Er sprach noch einige pflichtschuldige Phrasen vom Verstehen meiner mädchenhaften Scheu, von tapferem Ueberwinden und Verzeihen, von dem Sieg über mich selbst – Ich biss die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Er umarmte mich zum Abschied. Ich hatte einen Impuls des Widerwillens, das Bedürfnis, ihn von mir zu stossen. Ich that es nicht – und verachtete mich selbst ob dieser Verlogenheit! Ich stürzte in mein Zimmer, warf mich angekleidet auf das Bett – und zerbiss mein Polster – weil ich nicht weinen konnte … Ich ging die halbe Nacht wie in einem Fieberanfall im Zimmer auf und nieder … vom Fenster zur üre, von der üre zum Fenster … Ich stampfte mit den Füssen und ballte die Hände. Ich schlug mit einer Faust in eine Fensterscheibe und lauschte auf das Klirren der Scherben. – Erst gegen Morgen linderte ein lautes, thränenloses Schluchzen den furchtbaren Druck, der auf mir lastete … Seither sind Tage vergangen. Die Stunden kriechen an mir vorüber in grinsender Hoffnungslosigkeit. – – – Die Gedanken stülpen sich übereinander und wühlen wie Maulwürfe in meinen Wesensschichten. Georg ist ahnungslos heiter und wie entlastet seit jenem Abend. Er weiss nichts von dem Zerstörungswerk, das er entfesselt. Ich bin ihm entrückt. Ich versperre mich vor ihm. Ich will mein Elend nicht mit ihm teilen!
. November. Ich schleppe mich durch die Stunden und Tage wie ein müdes Lasttier. Alles, was mir früher Freude war, ist mir zum tiefsten Leid geworden. Jedes Wort von meiner zukünftigen Häuslichkeit peinigt mich. Georgs Zärtlichkeiten widern mich an. Ich muss immer daran denken, dass er andere vor mir umarmt hat. – Dirnen von der Strasse und ehebrecherische Frauen. – – – Mir thut es manchmal weh, wenn seine Augen auf mir ruhen. Mir ist dann, als ob seine Blicke mich entkleiden würden. Der Hauch des Unbewussten scheint mir von ihm genommen. Er weiss jetzt, dass das Gespenst seines vergangenen Lebens zwischen uns steht. Er will es überwinden, mit Güte und Liebe, mit der Hingabe seines Lebens – sagt er … Manchmal wird es plötzlich licht und sanft in mir. Und ich denke … wie gut ich sein wollte, wenn er käme, wie ich ihn einspinnen wollte in meine Liebe – und jeden trüben Hauch von seiner Stirne küssen … Aber dann fällt die Erinnerung gewaltsam in mein Bewusstsein… Und mir ist, als ob ich etwas zu Ende denken müsse, etwas Furchtbares, Grauenhaftes, das wie eine Lawine – – – –
. November. Ich wollte nicht blind über Dinge urteilen, die ich nicht verstehe. Das Gefühl ist ungerecht, ohne die Wage des Verstandes. Darum habe ich einige Werke gelesen, über das Geschlechtsleben des Mannes, Ernste, sachliche, wissenschaftliche Bücher, die mit kalten, dürren Worten all meine traumhaft idealen Vorstellungen entblätterten … Die kahlen Wahrheiten thaten meiner entheiligten Stimmung wohl. Sie zerstörten meine letzten Illusionen. Aber sie vermochten meinen Glauben an die mögliche Reinheit des Mannes nicht zu erschüttern. Dort waren in trockenen, sachlichen Ausdrücken die Gefahren, Krankheiten und Laster des ausserehelichen Liebeslebens beschrieben, der Schmutz und das Elend der beklagenswerten Wesen, die Tag für Tag physisch und psychisch daran zu Grunde gehen. Dort waren die Möglichkeiten und Bedingungen eines gesunden Lebens geschildert, die keusche Ehe in jungen Jahren als erste Grundlage eines kraftvollen Zukunftsgeschlechts. Um diesen strengen Standpunkt des Physiologen, der ein ethisches Moment gar nicht in seine Erörterung zieht, führt der Weg meiner Empfindung. Mir ist es unfassbar, wie ein hochstehender Mann sich aus niedrigen, sexuellen Trieben in diesen parfümierten Sumpf begeben kann … wie er seine Reinheit besudeln kann mit dem Gemeinen, Entehrenden, Depravierenden eines seelenlosen Verhältnisses … wie er seinem reinen Weib gegenübertreten kann unter der Last dieser Vergangenheit! Ist denn wirklich die Geschlechtsehre des Mannes eine andere als die des Weibes? Ist die Notwendigkeit der geschlechtlichen Befriedigung in den jüngsten Jahren nicht ein wohlorganisierter Schwindel? Oder ein
grosses Irren der Aerzte? Kann die Keuschheit je so furchtbare, leben- und glückzerstörende Krankheiten nach sich ziehen wie die Unkeuschheit? – – – Und ist es nicht eine schreiende Sünde, selbst wenn irgendwelche Befürchtungen gerechtfertigt wären, ein Geschlecht von Frauen seelisch und körperlich unter Qualen zu Grunde zu richten? Man giebt unsern Erwerbsschwierigkeiten und dem von Tag zu Tag wachsenden Existenzkampf, der dem Manne erst in späten Jahren die Ehe ermöglicht, schuld an diesen Verhältnissen. – Und dennoch, wenn man jeden einzelnen Fall aus gewissenhafter Nähe prüfen würde, müsste man erkennen, dass gerade die wohlhabendsten, ja reichsten Männer über die Abgründe der Ausschweifung zu einer krüppelhaften Ehe steigen – und dass oft die ärmsten darben und sparen, um das Glück einer jungen Ehe zu geniessen. Die tiefste Ursache dieser kulturfortschrittswidrigen Zustände liegt in der herrschenden moralischen Bewertungsnorm unserer Zeit. Der Mann verlangt von dem Mädchen seiner Wahl nicht Keuschheit allein, sondern auch einen unbefleckten Ruf. Mit Recht! Und das Weib soll ihren Gatten mit Strassendirnen teilen? Sie soll die Schmerzen der Mutterschaft tragen, mit dem furchtbaren Bewusstsein, dass der Vater ihrer Kinder in gekauften Umarmungen seine Jugendkraft vergeudete – – sich nicht scheute vor dem Schmutz, vor ekelhaften Krankheiten, in gemeiner tierischer Sinnlichkeit seine Reinheit fortwarf … Der Vater ihrer Kinder – sage ich. Und das Weib soll diesen Mann achten können, soll ihm täglich und stündlich mit freudigem Herzen Opfer bringen … soll ihm ihre Persönlichkeit weihen? – – Ja, ist es denn möglich, dass ein reines, ganzes Geschöpf mit unbeflecktem Empfindungsleben nicht zurückschaudert vor diesem Abgrund von Ekel?
Und kann die Frau auch in vollem Masse die Heiligkeit der Ehe ehren und nie mit einem Gedanken die Treue verletzen, wenn sie weiss, dass ihr Mann, vielleicht vor kurzem noch … mit der Gattin eines Studienkollegen die Ehe gebrochen? … Und da stehen die Frauen auf und fordern gleiche Rechte in Staat und Leben, gleiche Gesetze, gleiche Berufszweige. Dieselben Frauen, deren höchster, edelster Beruf die Liebe ist, die in der Ehe allein ihre Erfüllung, ihr Glück zu finden vermögen. Nur selten wird das Verlangen nach gleichen ethischen Rechten wach, nach Abschaffung der bisherigen Doppelmoral. Dort nennen sie es freie Liebe. Ein Phantom, dessen Umrisse niemand festzuhalten vermag – – – Die reine, wahre Ehe ist die einzige Möglichkeit der freiesten Liebe, ob sie nun von der Gesellschaft sanktioniert ist oder nicht. Das Weib, das sich einem ungeliebten Manne hingiebt, steht ethisch nicht höher als die Dirne, die davon ihr Leben fristet. Und prostituiert sich der Mann, der sich in Ausschweifungen fortwirft, nicht genau wie diese? Die Unreinheit liegt nicht im Körper, sondern im Geiste. Das Denken, das Empfinden wird unrein. Der Wertbegriff der Reinheit geht verloren. Das Sittlichkeitsgefühl zerbröckelt. Aber darum sollen wir Mädchen das Recht haben, von dem Manne unserer Wahl dieselbe Reinheit, dasselbe unbefleckte Sinnenleben zu verlangen, das er als strenger Richter von uns fordert! Wir sollen uns nicht mit den Resten begnügen müssen, die uns andere übrig gelassen! – – – Wir sollen nicht seine moralische Minderwertigkeit empfinden müssen! Dann wird es auch mehr Glück geben, mehr Liebe, mehr Gesundheit und Lebensfreude.
Ich spreche hier ganz unpersönlich, losgelöst von meinem eigenen Schicksal. Man schlägt den Bäumen Wunden, um Harz zu gewinnen. Aus solchen Wunden tropfen meine Gedanken. Was ich leide, lässt sich nicht in Worte pressen …
. November. Georg geht neben mir, Schritt für Schritt in gleicher Freundlichkeit und Güte. Aber ich kann ihm nichts mehr geben. Leidenschaftslos, müde und farblos stehe ich ihm gegenüber. Er fühlt instinktiv die Verzweiflung, die in mir höhlt und vermag sie nicht zu lindern. »Vera«, sagte er gestern zu mir, »wenn ich meine Vergangenheit ungeschehen machen könnte, ich möchte alle glücklichen Tage meines Lebens dafür geben.« Ich starrte zu Boden und half ihm mit keinem Wort. »Das sind lauter Phrasen!« dachte ich. Und da fuhr er fort: »Vera, glaub mir! wir werden von der Gesellschaft zu Grunde gerichtet, die das geheime Laster nicht nur duldet, sondern unterstützt, die diese Brutstätte der Krankheit pflegt, die keine Schranken setzt. Glaub mir, Vera! Wir wissen nicht, was wir thun! Wir treten in der ersten Dunkelheit der Jugend in den Morast. Wir leben ein Augenblicksleben – – – taumeln von Blüte zu Blüte wie die Schmetterlinge – – Es ist viel Gemeinheit und trübe Erfahrung in diesem Mannesleben …« »Was hilft alles Bereuen, wenn man sich besudelt hat!« sagte ich kalt, unerbittlich. »Ich konnte keinen Hauch des Mitleids finden. In Georgs Augen war etwas wie ein verzweifeltes Angstgefühl. »Vera«, sagte er, »man kann sich wieder reinigen, läutern in den Strahlen einer grossen, echten Liebe! Ein Leben der Aufopferung vermag das Vergangene zu sühnen! Sag nicht nein! Vera! Sag nicht, ›nein‹!« Es lag so viel flehende, bettelnde Angst in seiner Stimme. Ich zuckte kaum merklich mit den Achseln. Vielleicht hat er recht! Ich will nicht anklagen. – – – –
. November. Ich sass auf einer Bank im Stadtpark, bis in den sinkenden Abend hinein. Es war still und menschenleer rings um mich. Eine tiefe, schweratmende Ruhe umfing die greise Natur und ein kranker, sterbender Ernst. Die welken Blätter fielen senkrecht zur Erde wie tote Vögel. Die müde, trostlose Herbststimmung harmonierte so wohlthuend mit meinem stumpfen, zerrissenen Gemüt. Die Nacht kroch am Himmel empor. Leise, leise, fast mit Zärtlichkeit umfing sie den sterbenden Tag, umarmte ihn, hüllte ihn ein. Ein sanftes, mildes Dunkel rieselte durch die Luft. Die entlaubten Bäume hatten einen todestraurigen Ausdruck. Tiefe blaue Schatten flatterten auf den weissen Wegen … Ich sann und sann. Meine Gedanken stachen wie feine glühende Nadeln in mein Gehirn. Vergebens versuchte ich an etwas Aeusserliches, Gleichgültiges zu denken … an etwas Stilles, Gutes … das besänftigte wie das Streicheln einer lieben, kühlen Hand. Mein Denken haftet unlöslich fest an dem einen. In mir wütet ein Orkan, der alles aufwühlt. Vergebens zwinge ich meine Empfindungen in den Stall des Willens. Ich bin unfähig zu Entschliessungen. Und sie sind doch das einzig Erlösende aus dem Chaos dieses seelischen Kampfes … Ich dämmere von einem Augenblick zum folgenden, unfähig, meine Zukunft zu formen. Gestern sagte ich zu Georg: »Könntest du je eine Dirne heiraten?« Er schaute mich ängstlich und entsetzt an und schüttelte ganz leise den Kopf. Und ich schwieg. Innerlich dachte ich: »Alle diese Männer sind nicht besser als Dirnen!« Er musste meinen Gedanken empfinden, denn er zuckte plötzlich zusammen, wie unter einem Hieb. –
. November. Ich erkenne oft so deutlich auf meinem seelischen Seciertisch, wie sich Extreme in mir berühren, wie persönliche und unpersönliche Empfindungen ineinanderfliessen, wie sich aus meiner Selbstsucht eine tiefe Menschenliebe losschält. Es lindert mein eigenes Leid, wenn ich es in die Tonart der Massen transponiere. Die Walze unseres ethischen Polyphons wird bald abgelaufen sein. Ich fühle es mit meinem intuitivsten Erkennen, dass das Schablonenhafte, Programmatische unserer Erziehung und Entwicklung … sich immer mehr individualisieren wird – und dass auf dem Wege – ich möchte fast sagen – geistiger Zuchtwahl des einzelnen – unsere socialen Zustände sich langsam verändern werden … dem Vollkommenem zu. Individualismus und Solidarismus, die Kampfströmungen unserer Gegenwart, kommen divergierend aus Unendlichkeiten und streben einem Vereinigungspunkte zu. Ich glaube, er liegt in dem Gebiete der Sexualethik, dem, neben ökonomischen Fragen für die Zukunft Bedeutsamsten und Entscheidendsten, welches unlöslich mit allen andern Zeitfragen verknüpft ist. Und aus den Irrungen und Uebertreibungen aller kämpfenden Parteien unserer Zeit werden sich langsam neue Werte ausscheiden, neue reiche Glückserkenntnisse, eine einigende und reinigende Kraft … Ich ahne und fühle – aus meinem eigenen Erleben heraus – die Zeit einer grossen ethischen Umwälzung. Die Zeit, in der die Männlichkeit sich nicht mehr in erotischen Ausschweifungen dokumentieren wird, sondern in dem vollen Ausleben einer keuschen Liebe … für die kein Lebenseinsatz zu hoch ist. Die Zeit, in der die Frauen aufhören werden, nur Geschlechtswerte zu repräsentieren und sich zu verkaufen oder zu verschleudern wie eine Marktware; in der es eine wirkliche Einehe geben wird und
nicht das fürsorglich vom Staat organisierte polygamische Leben, eine Zeit mit Ganzheitsforderungen, in der man aufhören wird mit seinen Ueberzeugungen zu handeln und Kompromisse zu schliessen. Und das höchste erreichbare Glück eines gemeinsamen Zusammenlebens bis in die feinsten Schattierungen des Daseins, das jetzt nur ganz vereinzelten Feiertagsmenschen zu teil wird … das wird immer grössere Kreise ziehen … immer tiefer hinabdringen … Wie die Sonne zuerst die Bergesgipfel mit ihren Strahlen umfängt … und dann langsam hinableuchtet in die äler und Schluchten …
. November. Heute habe ich mein Brautkleid probiert. Es war wie ein Stück Wirklichkeit, das sich in mein Traumleben schob. In drei Wochen ist meine Hochzeit. Ich kann es nicht ausdenken. Meine Gedanken schleichen sich um diesen Termin herum. Es ist eine Vorstellung, die plötzlich aus meinem Bewusstsein gefallen ist. Früher war sie der süsseste Traum meiner einsamen Stunden … Jetzt flüchte ich mich vor ihr. Alles, was mir als höchstes Glück erschien, verdorrt langsam unter den Gluten meiner Erregung. All das wundervoll Erwartende in mir geht unter krampfhaften Zuckungen zu Grunde. Ich sehe nur Hässliches und Gemeines in allen Bewegungen des Lebens. Mir ist manchmal, als ob ich selbst schmutzig geworden wäre … in dem Strom dieser Enttäuschung … Georg fühlt, dass ich ihm entgleite. Er klammert sich an mich. Er hascht mit krankhafter Sehnsucht nach jedem Blick, nach jedem Hauch von Wärme. Er hungert nach meinen Zärtlichkeiten von einst. Aber er wagt nicht mehr, mich zu berühren. Nur seine Augen umarmen mich … und seine Worte … Ich versuche krampfhaft meinen Widerwillen zu betäuben, mit Verstandesgründen und Selbstvorwürfen. Und manchmal werde ich mild und zärtlich und hingebend und sehne mich nach einem weiten, endlosen Vertrauenkönnen … Und oft wachen meine schlummernden Sinne auf in heissem Begehren … und strecken gierig ihre glühenden Arme aus … Aber hinter meiner Hingabe lauern mit bösen Augen die furchtbaren Vorstellungen – und machen mich hart und grausam.
Und dann weiss ich, dass ich Georgs Frau nie werden darf … So zerrissen ist meine Seele. So wirr und hilflos bin ich. Meine armen Eltern ahnen nichts. Ich hülle mich in alle Fetzen und Flitter der Verstellung.
. November. Heute traf ich auf meinen unsinnigen Streifzügen in einem Vorstadtbezirk ein armes buckliges Mädchen. Sie bettelte nicht, aber sie hob ihre Augen zu mir empor, so hoffnungslos flehend und weh. Mir war, als ob sie mich zu Hilfe rief in ihrem Elend. Ich gab ihr alles Geld, das ich bei mir hatte. Sie sagte »Vergelts Gott!« mit ihrer kindlichen Stimme, leise und traurig … Und da wuchs ein tiefes, echtes Mitleid in mir empor und etwas wie Zärtlichkeit zu dem armen verkrüppelten Geschöpf. Und ich beugte mich herab und streichelte liebkosend seine Haare. Das bucklige Mädchen begann heftig zu schluchzen – und küsste meine Hände so inbrünstig … so voll überschäumender Dankbarkeit … Es war ein Schimmer von Glück in ihrem lieblosen Dasein … Ich möchte mich auch an eine Strassenecke stellen und betteln mit flehenden Augen und erhobenen Armen … um eine Gabe von Reinheit und Ganzheit und Kraft … wortlos betteln wie das bucklige Mädchen, aus meinem verkrüppelten Leben – – – – Aber alle gehen vorüber mit lüsternen Augen und erbarmungslosen Herzen in feiger Halbheit. – Und keiner schenkt mir ein Almosen … keiner.
. Dezember. Heute habe ich einen Absehiedsbrief an Georg geschrieben. So einen Brief, bei dem man bitterlich weint und sich an seinem eigenen Schmerze berauscht, ohne den tiefen Ernst voll zu erfassen. Viele schone volltönende Worte von schuldlosem Elend und zerstörenden Irrungen und zertretenen Glückswahrscheinlichkeiten. So einen Schablonenbrief voll rührender Verzeihung und gefälschten Selbstanklagen … Ich schämte mich vor mir selbst, als ich ihn durchflog, und zerriss ihn in kleine Stückchen. Und dann drehte ich gewaltsam mein Gefühlsleben in eine andere Richtung. Ich will erwachen aus diesem Ohnmachtsrausch meines Willens. Ich will stark sein und überwinden. Ich will mich verschwenden in Liebe, ohne etwas dafür zu empfangen. Wie die Sonne Licht und Wärme verstreut in selbstloser Geberseligkeit … Ich will schenken, ohne zu messen … Wie klein und schwach und ärmlich war doch meine Liebe bisher! Vielleicht gehört es zur echten Tapferkeit, dass sie über Leichen schreitet. – – – –
. Dezember. Ich freue mich meines Entschlusses. Er ist mir, wie ein Prüfstein meiner Liebe. Alles Kleinliche, Niedrige in mir ist versunken. Das Weib wächst in seinen Innerlichkeiten, wenn es dulden muss. Darum lässt man es so viel dulden.
. Dezember. Den Männern fehlt diese Dulderfähigkeit, wie ihnen die Kraft des passiven Widerstandes fehlt. Ein dummer, frivoler, junger Bursche, eine recht perverse Grossstadtblüte sagte einmal zu mir: »Wir Männer müssen treulos sein, weil die Treue keine Aktionsmöglichkeit enthält. Wir Männer müssen werben, erobern, verführen! Das ist – Kraft!« Solche Ansichten sind eine recht bequeme Etikette der Ausschweifung, ein Freibrief des Lasters – – wie das berühmte »Sich-aus-leben-müssen« der modernen Jugend. Und wo der Staat nicht mit seinen »segensreichen« Institutionen die Wege ebnet, dort hüpft man eben über die niedrigen Gitter, die man – Ehe nennt – Liebe … Treue – Das furchtbare Geschlechtselend ist eine Folge der verkehrten Erziehung. Die ungerechte Doppelmoral ist das Produkt missbrauchter Kräfte. Die männliche Jugend darf sich mit Sanktion der Eltern, der Erzieher, der Gesellschaft und der – Sittlichkeit in den schmutzigsten Genüssen wälzen – und bleibt ehrenwert, ethisch, moralisch – wenn sie dann nach gründlicher Absolvierung aller Orgien – – ein junges unschuldiges Wesen in der Ehe unglücklich macht – oder was tausendmal verächtlicher ist, in Gemeinheit und Untreue treibt. Die jungen Mädchen der wohlhabenden Kreise aber werden in einer Treibhausatmosphäre erzogen, sorgsam behütet und bewacht. Blind und unwissend treten sie ihrer Lebensbestimmung entgegen. Leider ist noch in den weitesten Schichten der Irrglaube verbreitet, dass die physische Jungfräulichkeit mit der totalen Unkenntnis der natürlichsten Lebensvorgänge Hand in Hand gehen müsse. Jeder Fehltritt wird zum Verbrechen gestempelt.
So wenig ausgerüstet für ihre Zukunft stehen die Mädchen plötzlich in einem Kreise von Pflichten und Verantwortungen – und mit nicht allzuvielen glücklichen Ausnahmen – finden sie sich eines Tages betrogen und belogen … Und so werden die schönsten, reinsten, edelsten Empfindungen im Weibe getötet. Sie besitzt nicht die herrliche Unabhängigkeit von ihrer seelischen Muttererde – wie der Mann. Wenn sie edel und gut ist, krankt sie ihr Leben lang an der ersten Enttäuschung. Und wenn sie die Keime zum Bösen in sich trägt, sinkt sie zum Gemeinsten herab. Und so erzieht sie ihre Söhne für den Sumpf – – – und so bewahrt sie ihre Töchter in den engen vier Wänden ihrer Unschuld – – nicht aus ethischer Ueberzeugung – oh nein! sondern weil diese ganze Keuschheit die Käufer anlockt und den Kaufpreis erhöht. Das ist der Weg, der langsam und sicher zu einem furchtbaren Verfall führt. Es sind keine Uebertreibungen, denn die Wirklichkeit unterstreicht sie täglich und stündlich. Die guten Porträts erscheinen immer ein wenig karikiert.
. Dezember. Als Georg heute in der Dämmerung in mein Zimmer trat, sass ich am Fenster und weinte. Es war etwas Frohes, Befreiendes in meinen ränen, nichts Schmerzliches. Er musste es empfinden mit instinktiver Sicherheit, denn er schlang wortlos seine Arme um meine Schultern und zog mich an sich. Seine Küsse brannten auf meinem Gesicht. Meine müden Sinne konnten die plötzliche Glut nicht erwidern, aber ich entzog mich ihr nicht. Er keuchte besinnungslose Worte der Zärtlichkeit. Und dann sank er auf die Knie vor mir und bettelte um mich, um meine Liebe, um ein ganzes, uneingeschränktes Vergessen. »Vera!« stöhnte er, »lass’ mich nicht als Einzelner leiden für eine grosse sociale Schuld. Lass’ mich nicht an den Irrtümern einer verrotteten Gesellschaft zu Grunde gehen! Du hast es mich erkennen gelehrt, Vera, du allein. – – – Wenn alle Mädchen seit jeher so dächten wie du … vielleicht wäre alles anders. Vielleicht wird noch einmal die Zeit kommen, wo auch der Mann seine Reinheit wie ein Heiligtum bewachen wird. Das menschliche Gefühlsleben wird durch die Werturteile seiner Umgebung in seiner Entwicklung bestimmt. Aber Vera, lass mich heute nicht zu Grunde gehen. – Reiss’ diese Vergangenheit aus deinem Gedächtnis … Ich flehe zu dir, Vera! Hörst du?! …« Er umklammerte meine Knie. Sein ganzer Körper zitterte. Alles an ihm war fieberhafte Spannung … Ich fühlte, wie meine Gedanken nach allen Richtungen auseinanderstoben. Ein Chaos der Empfindung blieb. Ein gewaltiger Wille hätte Welten daraus zu formen vermocht. Aber ich war schwach. Leise, ganz leise strich ich mit der Hand über Georgs Stirne … und streichelte sein Haar … »Ich will’s versuchen!« murmelte ich. Und Georg presste sein Gesicht in meinen Schoss und schluchzte …
. Dezember. Wir haben eine reizende kleine Wohnung gemietet, in einer ganz stillen Gasse, im vierten Stock. Und Georg hat die Reflexe seines echten Künstlersinns in die Ausschmückung unserer Häuslichkeit, getragen. Alles protzt mit Einfachheit. Matte Farben und ruhige selbstverständliche Linien. Kein lautes, aufdringliches Barock oder Rokoko … lauter schmucklose englische Formen. Viele schöne Bilder hängen an den Wänden, Reproduktionen alter Meister, Georgs Lieblinge, Leonardo, Bellini, Botticelli … Auch eine Nachbildung von Böcklins Toteninsel – – – – Ich stehe der Kunst, die ich so liebe, oft fremd gegenüber. Sie ist ein Leckerbissen für Gourmands. Und das sind Menschen, die sich glücklich fühlen … Noch schwebt ein Hauch von altem toten Moderduft über unsern Räumen, der die Seele beengt und einschnürt, die Unheimlichkeit des Unbewohntseins – aber auch ein Fluidum von Schönheit. Ich schleiche mich manchmal unbemerkt hinauf … ganz allein … und versuche mit konzentrierten Gefühlen durch die Schleier der folgenden Tage zu sehen – – – – Ich wage nicht daran zu denken, dass in zehn Tagen … in zehn Tagen … Und dann – – – Ein Zimmer steht noch ganz leer – – –
. Dezember. Die Tage gehen an mir vorbei wie grosse Fragezeichen. Jeder erwartet etwas, – etwas Plötzliches, Starkes … Unbändiges … Mechanisch verrichte ich meine tägliche Arbeit. Mechanisch denke ich meine täglichen Gedanken. Manchmal ist mir, als ob sich mein Bewusstsein in zwei Teile spalten würde, in einen beobachtenden und in einen erlebenden Teil. Der eine bekrittelt den andern in unpersönlicher Ruhe … der andere ächzt in Verzweiflung. Der eine ist in seiner Mittelbarkeit selbstsüchtig und lügenhaft … der andere ist wahr und gut. Und die beiden Bewusstseinshälften bekämpfen sich in ihren Gegenteiligkeiten und prügeln sich in mir. Die beobachtende Hälfte sagt mir: »Ueberwinde, weil du liebst!« und die erlebende: »Entsage, weil du liebst!« Das ist die Ebbe und Flut meines Empfindungslebens. Ein ewiges Auf- und Niederwogen … Und Georg geht umher in einem Taumel seliger Unruhe … und träumt den Kindertraum von Glück und Liebe … Dieser Wunderglaube ist die Lebenskrücke des Menschen. – – – –
. Dezember. Ich finde keine Ruhe. Ich irre von einer Beschäftigung zur andern. Nichts lockt mich. Nichts macht mir Freude. Ich habe alles Zweckgefühl verloren. In meiner Seele ist etwas Fremdes, ein harter, schmerzender Körper. Es hält mich nicht zu Hause. Ich stürme durch die Strassen. Ziellos schiebe ich mich durch das Menschengedränge. Mechanisch bleibe ich vor den Auslagen stehen. Mechanisch flackern meine Blicke über die vorübereilenden Menschengesichter … Manchmal kriecht ein Gedanke durch mein Inneres und bohrt in der tiefen zuckenden Wunde. Rings um mich braust das Leben. Die Wagen rasseln. Die Marktweiber schreien. Die Menschen sind in sich vertieft. Frauen gehen an mir vorüber, mit auffallenden Hüten und provozierendem Lächeln. Und eine Empfindung von Hass bäumt sich durch meine Seele … Solche waren es vielleicht … solche – – Die Männer schauen mich an, mit schamlosen, nackten Blicken. Ich empfinde es wie eine körperliche Züchtigung. Früher schritt ich durch die Strassen, wie in eine Wolke gehüllt, blind für die Hässlichkeiten des Alltags … und jetzt … Alles gewinnt für mich persönliche Bedeutung … Alles schreit mir Grausamkeiten zu. Das Leben triumphiert über mich. Und ich bin allein … so ganz allein. –
. Dezember. Heute stiess ich Georg von mir, als er mich liebkosen wollte. Mir war, als ob ich plötzlich tief hinabschaute in seine seelischen Kanäle, in denen all der Schmutz der vergangenen Jahre abgelagert ist. Es stieg wie eine Vision mit greifbarer Deutlichkeit die Vorstellung in mir auf, von den Zärtlichkeiten, die er sich für Geld gekauft. Fast plastisch sah ich ihn vor mir … mit denselben brennenden Augen … mit denselben sinnlichen Lippen … mit denselben Begehrungen in den Armen der andern. Die Vorstellung ätzte sich in mein Hirn. Es war mir Wollust, ihn damit zu beschmutzen, zu profanieren … vor meinem eigenen Empfinden … ihn von dem Postamente zu zerren, das meine Liebe ihm errichtet hatte. Es war mir, als ob er mich entweiht hätte, mit demselben unreinen Kusse, mit dem er seine Jugend vergeudet. Ich fühlte mich befleckt von seinen Gedanken … von den oft erprobten Ausdrücken der Zärtlichkeit, die er stammelte … und von den wohleinstudierten Umarmungen. Seine Sinnlichkeit widerte mich an. Derb und roh und gemein erschien sie mir – – Er ging von mir, aufs tiefste verletzt. Ich fühlte, dass alle Fäden zwischen unsern Leben zerrissen waren … dass alle Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft zerstäubten – dass mein Glaube ertötet war … Ich kann seiner Liebe, seiner Treue nicht mehr vertrauen. Die Läuterung, die Katarsis der Ehe – nach der ausgetollten Jugend … das sind Worte, an denen man sich sonnt … leere, falsche Worte … Man kann die Gepflogenheiten, die starken Wesenseindrücke der Jugend nicht mit einem Ruck aus seinem Lebenshorizont hinaus schleudern.
Man kann vielleicht die Oberfläche reinwaschen; aber was in die Poren eindringt und durch die Adern fliesst und sich dem ganzen Seelenorganismus mitteilt … das kreist weiter unter dem hohlen Glücksboden … Das wacht wieder auf in den Mitternachtsstunden des Lebens und steckt seine Fangarme aus den lebendigen Gräbern – und klammert sich mit giftigem Atem um die neu erblühten Schönheiten … Heute stieg zum erstenmal wie eine Gewitterwolke der Gedanke in mir empor … der furchtbare Gedanke – – – –
. Dezember. Es giebt Früchte, die nur in verfaultem Zustande genossen werden. Ich empfand immer einen undefinierbaren Abscheu vor ihnen – und berührte sie nie. Als ich mich einmal gewaltsam überredete und eine zu kosten versuchte … spuckte ich sie aus. – – –
. Dezember. Ich quäle mich mit einem furchtbaren Zweifel. Bin ich nicht meinen Eltern schuldig, auszuharren … zu dulden … zu ertragen … mein Leben, wenn ich es auch von meinem schönsten Traum losreissen muss … in Liebe und Dankbarkeit ihnen zu weihen? Ist es nicht meine heilige Pflicht? Begehe ich nicht ein Verbrechen, wenn ich mich ihnen raube? Veruntreue ich nicht ein Gut, das sie mir anvertraut haben? Giebt es überhaupt ein Selbstbestimmungsrecht? Es ist ein hohle Phrase … wie tausend andere gewichtige Worte. – Eine Phrase, die die Bilderstürmer, die Unterwühler aller Autoritäten in blindem Glauben in die Welt schleudern. Wir sind mit Ketten überladen. Die kleinste Aeusserlichkeit knechtet uns, zwingt unsere Handlungen in vorgeschriebene Formen – beherrscht unsern Willen und seine Aeusserungen. Wir sind nicht Motoren, wir sind Werkzeuge des Lebens … Räder eines Uhrwerks … ineinandergreifend … zerstört, wenn eines den Dienst versagt. So pflanzt sich das Leid fort … immer weiter … immer weiter … Ich leide unter diesem entsetzlichen Zwiespalt, der mir selbst das einzig Erlösende in Qual verwandelt. Aber ich habe keine Kraft mehr. Ich kann mich nicht mehr aufbäumen unter ewigen Peitschenhieben … Vielleicht schlüge ich eine tiefere Wunde in das Leben meiner Eltern, wenn ich mich an ihrer Seite weiterschleppte als lebender Kadaver … langsam verwitternd, verwesend – in meiner blühendsten Jugend … Haben Eltern trotz aller Liebe und Opfer – ein Recht an das Leben ihres Kindes, wenn dieses ein sicheres, unheilbares Elend bedeutet? Ist es eine Sünde, wenn ich – – – Aber ich habe nicht mehr die Kraft, gut zu sein. Das ist das Furchtbare – – –
. Dezember. Ich bin mit allem zu Ende, mit meinen Wünschen, meinen Hoffnungen, mit meinem Stolz – mit allem. – – Ich habe nichts als eine grenzenlose, ausgestorbene Leere … Es war Wahnsinn, an ein angefressenes Glück zu glauben … auf morschem Grund ein Leben erbauen zu wollen … Klar und deutlich und furchtlos steht das Ende vor mir. Nichts schreckt mich. Ich habe mit allen Rücksichten gebrochen. Ich kann nicht mehr zurück. Ich flüchte mich aus der erbärmlichen, feigen Halbheit, die den Mädchen meiner Klasse Alltagsatmosphäre geworden. Ich kann meine Persönlichkeit nicht langsam zerbröckeln lassen. Ich folge einer Gewalt, die stärker ist als alle bessern Ueberzeugungen. Wie ein Stein, der hinabgeschleudert wird, bin ich. Die Schwerkraft eines hoffnungs- und illusionsleeren Lebens zieht mich hinab. Ich kann den Mann nicht betrügen, den ich liebe wie nichts in der Welt. Ich kann mich nicht in seine Arme legen mit physischem Widerwillen. Ich kann nicht an seiner Seite leben … mit der unauslöschlichen, erniedrigenden Vorstellung seiner Vergangenheit. Aber ich liebe ihn nicht weniger darum – Und weil ich nicht mit ihm leben kann … und nicht ohne ihn leben kann … darum … wähle ich den letzten Weg … Eine grosse, erlösende Ruhe ist über mich gekommen, seit ich es erkannt habe. – Sogar mein Schuldgefühl ist zu Grunde gegangen in dem furchtbaren Kampf der letzten Tage. Die Leute, die in ihrer robusten Alltäglichkeit meine Ideen als überspannte Unmöglichkeiten belächelt haben, die Männer, die
mich – nicht ohne verstecktes Schuldgefühl – verspottet haben … die werden einen Augenblick aufhören zu lächeln, wenn sie es erfahren. – Und manches reine, feinfühlende Weib, das von meinem Schicksal liest … wird es mit mir verstehen – – vielleicht erleiden und erleben … Und wenn ich nur ein einziges Steinchen zu dem Wunderbau einer reinem, keuschem Zukunft zu tragen vermöchte … es wäre nicht zu teuer erkauft mit meinem Leben.