Atlan Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 06
Ein Zentralgehirn in Not von Luc Bahl
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Atlan Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 06
Ein Zentralgehirn in Not von Luc Bahl
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Er fliegt zur Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zu bergen. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er den Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Anschließend findet das scheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt. Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der Galaxis Gruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er in eine Raumschlacht zwischen Ganjasen und Takerern, die eine überraschend auftauchende Flotte des Ercourra-Clans für sich entscheidet. Um die Gesamtheit der Jungen Clans vor den Lordrichtern zu warnen, reist Atlan mit den Ercourras zur Thein-Versammlung, die in einem Massaker endet. Atlan kann mit seinen Begleitern in die Wildnis der Wälder entkommen. Auf der Suche nach einem Versteck geraten sie in ein gigantisches Robotschiff, dessen ZENTRALGEHIRN IN NOT ist …
Ein Zentralgehirn in Not
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide erlebt ein Déjà-vu der besonderen Art. Zamptasch - Der alte Jucla trifft eine einsame Entscheidung. Abenwosch-Pecayl 966. - Der Clanführer der Ercourras kämpft an Atlans Seite. Florymonthis - Ein weiblicher Homunkulus opfert sich. MITYQINN - Die Positronik des Sammlers hat sich verrechnet.
1. Atlan Der grünhäutige Koloss kam langsam auf uns zu. Er schwankte bedrohlich auf seinen elastischen Säulenbeinen. Wir wichen in den düsteren Korridor zurück. Abenwosch, zu meiner Rechten, hielt sich mutig auf gleicher Höhe. Zamptasch verkroch sich hinter meinem Rücken, als fürchtete er Bestrafung. Er hatte vor wenigen Minuten den Riesen in sinnloser Tollkühnheit mit einem Degen angegriffen, den er aus seinem Gehstock gezogen hatte. Von dessen Existenz ich nichts wusste. Am Tentakel des Riesen brach dieser in Stücke. Das Monstrum schien diesen Mückenstich gar nicht wahrgenommen zu haben. Es war vier Meter hoch und sechs Meter breit, der Kugelkopf hatte einen Durchmesser von einem dreiviertel Meter und saß halslos auf dem faltigen, fetten Rumpf. Vollkommen nackt, aber ohne erkennbare Geschlechtsattribute, versperrte es uns den Weg. Das signifikanteste Merkmal waren zwei lange Tentakel, an deren Enden sich tennisballgroße Augen befanden, mit denen es uns aus einem Meter Abstand sondierte. Seinem breiten Fischmaul entsprang eine fürchterlich schrille Stimme so unangenehm laut, dass wir uns die Ohren zuhielten: »Freundschaft, Freundschaft!« Aus den beiden stummelförmigen Armen wuchsen jedoch Waffen, mit denen es wie mit einem Fächer vor uns wedelte. Das förderte nicht gerade die Glaubwürdigkeit seiner endlosen Litanei: »Ich bin völlig harmlos! Ihr dürft mich nicht töten! Ich habe niemandem etwas getan. Ich arbeite als Ärztin auf einem Sumpfplaneten. Von allen Lebe-
wesen dieser Galaxis bin ich das friedfertigste. Niemand hat Florymonthis je etwas Bösartiges tun sehen. Erkundigt euch bei den Wurzeln, die ich vom Schlamm befreit habe.« Ähnliche Worte hatte ich vor langer Zeit schon einmal vernommen. An Bord der MARCO POLO, damals in Gruelfin, erschien ein Homunkulus fast gleichen Typs, der sich Florymonth nannte. … und der niemand mit der Waffe bedrohte. Dieses Exemplar ist gefährlicher!, schaltete sich mein Extrasinn ein. Der Logiksektor hatte Recht. Im Jahre 3438 hatten wir es lediglich mit einem Dieb zu tun. »Aggregateklau« wurde er genannt. Deutlich sah ich die Bilder der Erinnerung vor meinem geistigen Auge. Er war etwas größer gewesen und noch faltiger, dicke Speckwülste umgaben seinen kugelrunden Körper. Dieses Modell hatte eine straffere Haut, die aber sehr schmutzig aussah, was zum insgesamt heruntergekommenen Eindruck des Robotgiganten passte: Wir waren an Bord eines Sammlers. Das ist alles richtig, aber es ist höchste Zeit, etwas für die Sicherheit zu tun. Kommuniziere! Stell fest, wie er oder sie einzuschätzen ist. Ich wandte mich erst an die beiden Juclas: »Auch wenn es wie ein Lebewesen aussieht, handelt es sich um einen Roboter.« »Nehmen wir es als gutes Zeichen, dass zumindest noch das eine oder andere an Bord funktioniert«, sagte Abenwosch, einen fröhlichen Optimismus ausstrahlend, der mich nicht zu überzeugen vermochte, was ganz einfach an den auf uns gerichteten Waffen lag. »Glaubt mir doch, ihr guten Freunde! Ich bin völlig harmlos. Die geheilten Wurzeln
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Luc Bahl
sprechen voller Hochachtung von mir. Ihr vielen anderen Gefährten, nicht zu vergessen dürft mich nicht töten! Steckt eure Waffen Ovaron und Merceile, lief wie ein Film im weg!« Sein Fischmaul zuckte. Schnelldurchlauf vor meinem geistigen Au»Wir sind unbewaffnet!« Ich hob die leege ab. Ovaron, der schon vor über zweihunren Hände. »Keiner von uns will dich töten! derttausend Jahren als Ganjo in Gruelfin geWir kommen in Frieden … unsere Absichherrscht hatte. Damals war die MARCO POten sind ehrenhaft …« LO von einem Sammler enormer Größe anDer Rest meiner Worte ging in einem ungegriffen worden … geheuren Getöse unter. Mit einem Schlag Vorsicht, Kristallprinz! Du gerätst in Gebegann der Boden unter unseren Füßen zu fahr zwanghaften Erzählens. Frage dich vibrieren und sich regelrecht aufzubäumen. stattdessen, was das Ding hier zu suchen Die heftigen Stöße warfen Zamptasch zu hat. Eigentlich sollte es keine Sammler mehr Boden. Abenwosch stand breitbeinig danegeben … ben und ruderte mit den Armen. »Alles in Ordnung?« »Ein Erdbeben …«, schrie Zamptasch und Der Clanführer schaute mich besorgt an, rappelte sich ächzend wieder hoch. »Ein während Zamptasch seinen SicherheitsabVulkanausbruch, ein …« stand hielt. Schon die zweite Vermutung klang we»Ich kenne diese Art von Robotgiganten, sentlich skeptischer. Abenwosch streifte den Sammler genannt …« alten Jucla-Balg mit einem Blick aus Spott »Du weißt mehr von Gruelfin als ich. Ich und Verachtung. komme mir wie ein Fremder vor – in meiner »Nein«, sagte Florymonthis etwas leiser Galaxis.« und klang auf einmal ganz vernünftig. »Das ist lange her …« »Kommt mit …« 1374 Jahre, um genau zu sein. Mit erstaunlich grazilen und zugleich raEs lässt sich nicht wirklich gut nachdenschen Schritten lief der tonnenschwere Roken, wenn man in die Mündungen eines ganboter auf seinen Säulenbeinen voran. Die zen Arsenals unterschiedlicher Waffen starrt Mündungen der diversen Waffen richteten …, sagte ich mir. sich nun nach hinten, um sicherzustellen, … und man selbst über nicht viel mehr als dass seinem Befehl auch Folge geleistet seine bloßen Fäuste verfügt, ergänzte der wurde. Gehorsam setzten sich Abenwosch-Peca- Logiksektor höhnisch. yl 966. und ich uns in Bewegung. Mit einer »Unterschätze niemals außer Kontrolle lässigen Geste griff ich nach dem knochigen geratene Maschinen.« Arm Zamptaschs und zog ihn mit. Es war schon seltsam, mich selbst zeitRingsherum schwankte alles und bewegte gleich mit meinem Extrasinn reden zu hösich, so dass es nicht einfach war, Floryren. monthis zu folgen. Während mir jeder »Und keine hastigen Bewegungen!« Schritt so vorkam, als verforme sich der Bo»Wenn dieses Ungetüm uns hätte töten den zu Wellen unter unseren Füßen, tänzelte wollen, hätte es das schon längst getan«, die wuchtige Maschine vor uns her. Seine meinte Abenwosch. Konstrukteure hatten ihm in einem Anflug »Vermutlich will es vorher zumindest von ästhetischem Empfinden so etwas wie noch etwas über die Eindringlinge erfahren, eine Taille verpasst, die die ansonsten die sich Zugang in sein Reich verschafft hadurchweg runden Formen des Roboters in ben. Erst werden wir verhört und dann …« der Körpermitte einschnürten. »Um dir einen Funken Hoffnung zu verFlorymonth, blitze erneut die Erinnerung schaffen – ihr Bruder war nicht bösartig, im auf. Und die Reise auf der MARCO POLO Gegenteil.« mit Perry Rhodan, Roi Danton, Gucky, den »MITYQINN ist erwacht«, kreischte der
Ein Zentralgehirn in Not Roboter mit einer Lautstärke, als ob er den ganzen, kilometerlangen Sammler informieren wollte. In einer hilflosen Geste hielt sich Zamptasch die Ohren zu. »Wir sind im Weltraum. Lange keine Sterne gesehen. Wie mag es den armen Wurzeln auf den Sumpfplaneten wohl ergangen sein? Ich bin Ärztin. Ich will es wissen. Ich muss los! Beeilt euch gefälligst!« »Ja, niemand hat Zeit«, grölte Zamptasch hinter mir. »Worauf wartest du noch? Geh zu deinen verdammten Wurzeln und lass uns in Ruhe!« Wir drangen immer tiefer in das Schiff ein. An einigen Stellen funktionierten die Leuchtbänder, die, angesteuert von unserer Bewegung, aufleuchteten, an anderen nicht. Dort glühten dann ersatzweise Lichtfelder rings um Florymonthis auf, die verhinderten, dass wir über einen der zahllosen Gegenstände stolperten, die überall willkürlich verstreut herumlagen, oder in eines der ebenso zahlreichen Löcher stürzten, die sich immer wieder im Boden der Gänge vor uns auftaten. Dank meines fotografischen Gedächtnisses speicherte ich den verschlungenen Weg, den wir in raschem Tempo zurücklegen mussten, minutiös in meinem Gehirn ab und erhielt dafür ausnahmsweise mal das Lob meines Extrasinns. Während wir hinter dem Roboter herhasteten, rollten uns Metallteile entgegen und schlitterten irgendwelche Apparateteile, die nicht fest verankert gewesen waren, über einen Boden, der lebendig geworden zu sein schien. Der Homunkulus stoppte abrupt. Er riss seinen wuchtigen Körper so ruckartig herum, dass Stücke schlammiger Kruste abbröckelten und uns vor die Füße fielen. Er erinnerte mich an terranische Dickhäuter, die sich im Staub gewälzt hatten. »Hier rein!«, befahl Florymonthis und dirigierte uns durch ein riesiges Tor, in einen Raum, dessen Ausmaße atemberaubend waren. Anders als der weitläufige Schleusenbereich, durch den wir in das Wrack einge-
5 drungen waren, der trotz allen herumliegenden Gerümpels eine gewisse Funktionalität ausgestrahlt hatte, wirkte dieser Saal, der vergleichsweise leer war, großzügig konzipiert. Meterdicke Rohrleitungen wanden sich aus dem Boden und verschwanden weit oben in der bogenförmig gewölbten Decke. Die rechte Wand der Halle wurde von zahllosen bizarr geformten Maschinen beherrscht, deren Funktion sich mir nicht erschloss. Noch mehr stockte uns allerdings der Atem, als wir sahen, was ein großer Bildschirm, der die Stirnwand begrenzte, in diesem Moment zeigte …
2. MITYQINN Systemübersicht: 28,135.427.865 … Prozent nach Schockstasis. Überschreibe Kontrolle mit selbstreferentiellem Protokoll: Es ist zu früh, doch die Parameter erlauben keinerlei Aufschub mehr. Ausschleusung einer Schar Klein-Vasallen zur Selbstbeobachtung und Umgebungserkundung gelungen. Rückmeldung liegt bei deutlich über vierzig Prozent. Die ersten einlaufenden Informationen bestätigen die Notwendigkeit der eingeleiteten Prozesse. Überprüfung der Besucher noch nicht abgeschlossen. Statusfrage: Gast/ Eindringling wird vorläufig an den unabhängigen Vasallen delegiert. Protokollende
3. Zamptasch Das war ja zu befürchten gewesen, der weißhaarige Arkonide hat die Kontrolle verloren. »Dem Gewitter entronnen, von der Sturmflut fortgespült«, wie unsere Ahnen sagten, endet unsere Flucht in der Gewalt eines Unsinn quasselnden Roboters. Es wird in der Tat höchste Zeit, dass sich der alte Zamptasch wieder seine eigenen Gedanken macht, seine eigenen Pläne schmiedet … Noch immer schmerzte den Jucla die Stelle am Hintern, auf den er unsanft gefallen war, als das titanische Schiff sich plötzlich
6 und unvermittelt zu bewegen begann. Offensichtlich war das Wrack noch funktionstüchtiger, als es auf den ersten Blick gewirkt hatte. Und es schien in seiner irgendwo im Inneren verborgenen Positronik eigene Pläne zu entwickeln, die es, ohne Zeit zu verlieren, augenblicklich in die Tat umsetzte. Das beeindruckte Zamptasch, wie er sich widerwillig eingestehen musste. Selbst wenn es ihn deshalb für einen Moment umgeworfen hatte. Er hörte nicht auf das, was dieser Atlan und dieser mindestens ebenso unausstehliche Abenwosch-Pecayl 966. miteinander besprachen. Der 966. Abenwosch! Zamptasch hoffte, dass er ihm bei Gelegenheit doch noch einmal gründlich die Meinung geigen konnte, diesem pickligen Jungspund, der sich zum Führer des Ercourra-Clans hochgelogen und intrigiert hatte. Den Takt zu diesem kleinen Meinungsgeigensolo würde er dann mit seinem Stock schlagen, bevorzugt auf seinen Rücken. Wie Atlan und Abenwosch beobachtete auch Zamptasch auf dem großen Monitor die augenscheinlich von zuvor ausgeschleusten Kleinsatelliten übertragenen Bilder vom Start des stählernen Molochs, der seit Urzeiten unter dem Ringgebirge verborgen gewesen war. Dass das Geheimnis, das er so lange gehütet und bewahrt hatte, ein derart im wahrsten Sinne des Wortes großes Geheimnis gewesen war, hätte er selbst in seinen kühnsten Träumen niemals vermutet. Zuerst waren nur die schwankenden Felsen, Bäume und Berge zu sehen, die in riesige Staubwolken gehüllt auseinander brachen. Gesteinsbrocken flogen wie Geschosse durch die Luft. Während am vorderen Ende der Eruption ein Teil des gewaltigen Raumschiffs sichtbar wurde, schlugen viele Kilometer weiter hinten Flammen und Gaswolken aus dem Boden. Dann barst die Landschaft des Mondes bis zum Horizont … und weiter. Ein kilometerbreiter Riss verlief schneller, als man schauen konnte, durch die steinerne Oberfläche und ließ den Erdboden re-
Luc Bahl gelrecht Wellen schlagen. Die schützende Lufthülle des Mondes verdunkelte sich wegen der Tonnen an hochgeschleudertem Gestein, so dass der Ausblick zum Himmel beherrschenden Planeten Ept fast vollständig verdeckt wurde. Durch die Staubhülle war das eigentliche Ungetüm, das sich da aus dem Boden hervorkämpfte, anfangs nur in vagen Umrissen zu erkennen. Wie eine gewaltige, stählerne Schachtel schien das Schiff geformt zu sein, das Atlan vorhin als »Sammler« bezeichnet hatte. Zamptasch konnte nicht erkennen, ob die Unregelmäßigkeiten in der Form die Folge von Zerstörung und Erosion waren oder Konstruktionselemente darstellten. »Das Schiff muss mindestens sechzig Kilometer lang und gut halb so breit sein …«, hörte der Jucla den Arkoniden angesichts der flackernd übertragenen Bilder murmeln. Inzwischen war ein weiterer Bildschirm aufgeflammt und zeigte Ept und seinen Mond aus dem Weltraum. Über andere Monitoren zuckten immer wieder kurzzeitig einige Lichtblitze. Offensichtlich funktionierten sie nicht mehr. Misstrauisch beobachtete Zamptasch, wie Atlan über einige ausgebaute Maschinenteile hinwegstieg und zu dem Roboter ging, dessen Waffenarme immer noch jeden Einzelnen von ihnen im Visier hatten. Es beruhigte ihn keineswegs, als er sah, dass der Arkonide mit der Maschine zu sprechen begann, vor allem, weil er wegen des andauernden Lärms nichts von dem verstand, was gesagt wurde …
4. Atlan Ich setzte alles auf eine Karte, als ich Florymonthis an den »Ewigen Ganjo«, an Ovaron, erinnerte. Aber es war höchste Eile geboten. Wie ich schon die ganze Zeit vermutet hatte, war der Zaqoor-Angriff auf den Thein nicht die einzige Operation gewesen. Habe ich es nicht gesagt: Es wäre unlogisch, wenn sich die Lordrichter mit ihrem
Ein Zentralgehirn in Not Angriff nur auf eine Versammlung unbewaffneter Juclas konzentriert hätten …, kommentierte der Extrasinn. »Ovaron …«, dröhnte es aus der Maschine. »Wir hätten eigentlich noch auf seine Ankunft warten sollen …« »Ovaron ist schon vor langer Zeit aufgetaucht«, erwiderte ich und zögerte kurz. »Warum hat der Ewige Ganjo uns vergessen?«, fragte Florymonthis mit einem beinahe anrührend klingenden Unterton. Keine Sentimentalitäten gegenüber einer Maschine, schimpfte der Extrasinn. Ich ignorierte ihn. Ich war froh, dass so etwas wie ein Gespräch mit dem Roboter möglich wurde und damit letztlich mit der Positronik des Sammlers. »Die Urmutter aller Sammler hat vor langer Zeit und in einer anderen Galaxis alle Sammler zusammengezogen und sie veranlasst, sich selbst zu vernichten«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Kann man eine Positronik mit solch einer Mitteilung schocken?, überlegte ich angesichts der offensichtlichen Fehlfunktionen an Bord des Sammlers wie auch bei dem Homunkulus selbst. Wohlweislich verschwieg ich Ovarons weiteres Schicksal in Gruelfin und seine körperlose Existenz. »Daraus folgt, dass alle Anweisungen Ovarons, die du noch meinst befolgen zu müssen, hinfällig sind«, ergänzte ich hastig. »Der Sammler, seine Vasallen, wie du, Florymonth …« »Halt!«, unterbrach mich der Roboter. »Ich bin harmlos. Selbst die Ableger der geretteten Wurzeln werden dir jederzeit meinen ausgezeichneten Ruf als Ärztin der Sumpfwelten bestätigen …« Nein, nicht schon wieder …, stöhnte ich innerlich. Allmählich kam ich mir vor wie ein Krankenpfleger, der versuchte, einen gnadenlos Betrunkenen mit guten Argumenten davon abzuhalten, ins Delirium zu fallen. »Nenn mich Florymonthis …«, heulte der Roboter. Ich zuckte mit den Schultern. Du hast nur eine Chance, sagte mein Extrasinn.
7 Und die wäre …?, fragte ich. Lass dich auf ihre Spielchen ein, noch sitzt sie am längeren Hebel … »Oh, wie Recht du hast …«, sagte ich und wandte mich wieder an die Maschine. »Verzeih mir! Ich habe dich mit deinem Bruder, ebenso Arzt wie du, verwechselt.« »Ich bin eine höher entwickelte Version«, heulte der Roboter. »Und verfüge über die vorzüglichsten Referenzen, schöner Mann …« Besonders die beiden letzten Worte sprach die gewaltige Maschine mit einem ungewohnten Schmelz in der Sirene. »Ein Weibchen!«, murmelte ich. »Dass mir das nicht direkt aufgefallen ist … Kannst du mir mehr darüber verraten«, sagte ich laut und überlegte, ob Florymonthis möglicherweise irgendwo in ihren Schaltkreisen ein Programm versteckt hatte, das sie zur Eitelkeit befähigte und dazu, wegen meiner grob unhöflichen Verwechslung beleidigt zu sein … »Ich bin Florymonthis«, wiederholte der Roboter. »Ja, und völlig harmlos«, ergänzte ich. Im gleichen Moment ließ sie ihre Waffenarme sinken. »Ich muss jetzt nachdenken«, sagte Florymonthis. »Über das, was du gesagt hast, und das, was geschehen ist. Außerdem bedarf ich einiger Ergänzungen und Zusatzprogramme, die ich mir zusammensuchen muss.« Mit diesen Worten setzte sich die gewaltige Maschine auf ihren Säulenbeinen in Bewegung und wollte den Raum, in den sie uns gebracht hatte, verlassen. »Moment mal«, rief ich und lief ihr hinterher. »Wie lange wird das dauern – ungefähr?« Sie schwenkte ihre Tentakelaugen zu mir herum, ohne dass sie stehen geblieben war. »Ich werde ein paar Vasallen abkommandieren, die sich so lange, wie euer Status ungeklärt ist, um euer Wohlergehen kümmern …« »Vorsicht!«, rief ich. Das Roboterweibchen hatte mittlerweile
8 einen Gang betreten, in dessen Boden ein riesiges Loch von mindestens sieben Metern Durchmesser klaffte. Es war zu spät. Florymonthis trat hinein und sackte tatsächlich unvermittelt ab, aber höchstens zehn, zwanzig Zentimeter. Ich konnte das schwache Schimmern eines Antigravfeldes erahnen, auf dem sie über dem Loch schwebte. Ihre Umgebungsabtastung schien also einwandfrei zu funktionieren, denn sie setzte erst dann wieder ihre massigen Beine auf den Boden, als sie sicher wähnte, dass er ihr Gewicht tragen konnte. Nachdenklich drehte ich mich um und ging zu den beiden Juclas zurück. Mittlerweile waren die Erschütterungen, die uns während des Starts so massiv durcheinander gerüttelt hatten, abgeklungen. Einige der Monitoren in dem Raum zeigten, dass der Sammler mittlerweile die Atmosphäre Eptascyns hinter sich gelassen und den Weltraum zwischen dem Mond und seinem Planeten erreicht hatte. Der eruptive Start des Sammlers hatte eine schwere tektonische Veränderung auf Eptascyn ausgelöst. Über Tausende von Quadratkilometern war die Atmosphäre des Mondes von Staub- und Aschewolken erfüllt. Durch die tödliche, dunkle Schicht sah ich das gelegentliche Aufflackern riesiger Brände, die auf der Oberfläche wüteten. Doch auch das, was die verschiedenen noch funktionierenden Ortungsgeräte vom uns unmittelbar umgebenden Weltall auf die Bildschirme übertrugen, war nicht dazu angetan, meine Stimmung zu heben. Wir platzten mitten in eine Raumschlacht hinein. Zahllose Jucla-Schiffe stürzten sich – wie es schien ohne jegliche Strategie und Absprache – in einen aussichtslosen Kampf. »Takerer und Zaqoor …«, rief Abenwosch-Pecayl 966. und verfolgte gemeinsam mit Zamptasch das Gefecht mit ebenso ohnmächtiger wie atemloser Wut. Sie veranstalten eine Art Tontaubenschießen mit den Juclas, dachte ich resigniert, und wir fliegen mitten in das Kampfgeschehen hinein, ohne auch nur den Schimmer ei-
Luc Bahl ner Ahnung, ob der Sammler beim ersten Treffer auseinander fliegt und wie sich dieses Schrottteil überhaupt steuern lässt …
5. MITYQINN Systemübersicht: 28,135427865394116 … Prozent nach Schockstasis. Überschreibe Kontrolle mit selbstreferentiellem Protokoll: Status der Besucher nach wie vor ungeklärt. Lieferten jedoch wichtigen Hinweis. Stichwort: Takerer. Status: Feind. Muss vernichtet werden. Unter allen Umständen. Ohne Verzögerung. Gnadenlos. Modus: Zorn und Erregung … Protokollende
6. Atlan Der Raum, in den Florymonthis uns gebracht hatte, besaß nicht nur gigantische Ausmaße, sondern erwies sich auch als eine Art Zentrale, allerdings ohne Steuerelemente, Konsolen und Pulte, mit denen man auf irgendeine Weise versuchen konnte, Einfluss auf das, was geschah, zu nehmen. Ein Versammlungsort, der mehr an eine Lagerhalle erinnerte, überlegte ich. Passagierdeck für Ganjasen, zweite Klasse. Wo sich die Positronik befindet, ist das wahre Zentrum des Robotschiffs. Genau dort liegt unser Ziel, meinte der Extrasinn trocken. Verloren standen wir im vorderen Drittel und starrten mit zunehmendem Entsetzen auf jene Monitoren, die funktionierten und Bilder vom Schlachtgeschehen übertrugen. Beide Seiten mochten das riesige, verbeulte Ungetüm, das sich ihnen näherte, als Feind betrachten. Wer wird zuerst das Feuer auf uns eröffnen?, spottete der Extrasinn, während mir das Lachen längst vergangen war. Wenn es mir wenigstens gelingen würde, Florymonthis von der Notwendigkeit eines Funkspruchs zu überzeugen. Ich musste dringend
Ein Zentralgehirn in Not Carmyn Oshmosh, die Kommandantin der AVACYN, sprechen … Meine einzige Verbindung zur Positronik des Schiffes, die liebreizende Roboterdame Florymonthis, hatte sich zurückgezogen, weil sie nachdenken musste … Ich spielte kurz mit dem Gedanken, den Flammenstaub einzusetzen. Dann wäre die fliegende Schrotthalde in der nächsten Sekunde generalüberholt, und ein kooperativer Homunkulus würde … Tu es nicht, flehte der Logiksektor, die Folgen wären fatal! Du darfst ihn nur noch im Moment größter Lebensgefahr anwenden! Wenn du das Fallbeil im Nacken spürst … Ich riss mich zusammen. Zu intensiv hatte sich der bisherige Gebrauch des Flammenstaubs auf mich ausgewirkt. Jedes Wort, das Tuxit mir über die letztlich selbstmörderische Wirkung dieser bösen Substanz gesagt hatte, hatte sich als wahr erwiesen. Und jeden Einsatz dieser teuflischen Energie hatte ich teuer bezahlt. Zu teuer! Mittlerweile wusste ich, dass diese Waffe in der Regel ungleich mehr von mir forderte, als sie zurückgab … Andererseits trieb mich allein der Anblick der flackernden, immer wieder ausfallenden Bildschirme allmählich zur Verzweiflung. Meinen beiden Gefährten ging es nicht anders. Es gab an den Wänden ringsum noch einige weitere Monitoren, aber sie waren wohl defekt. Das war auch kein Wunder. Schließlich ragten genug abgerissene Kabelbäume aus der Wand oder baumelten von der Decke herunter, dass der desolate Zustand der Anlage offenkundig war. Überall lag zentimeterdick Staub, der sich an einigen Stellen mit ausgelaufenen Schmiermitteln und anderen höchstwahrscheinlich toxischen Stoffen zu einer zähflüssigen, in allen Farben schillernden Pampe verbunden hatte. Man musste ständig aufpassen, wohin man trat. Spitze, scharfkantige Metallteile, die auf dem Boden lagen und zentimeterhoch senkrecht nach oben ragten, drohten Stiefel und Füße zu durchbohren.
9 Dann standen jede Menge Maschinenteile unterschiedlichster Art und Erhaltung herum. Manchen sah man ihr hohes Alter an, längst hatten sich sämtliche vor Rost schützenden Substanzen verzogen, und es schien, dass sie bei der kleinsten Berührung zerbröseln würden. Andere waren offensichtlich von Anfang an aussortiert worden, weil sie konstruktionsbedingt nicht funktionieren konnten. Wieder andere Teile hatte – wer auch immer? – zu vier, fünf Meter hohen Stapeln aufgetürmt, die teilweise während des unsanften Starts in Bewegung geraten waren. Ich war froh, dass viele der Metallmoränen der abgegangenen Schrottlawinen bereits zur Ruhe gekommen waren, bevor uns Florymonthis so nachdrücklich in diese riesige Halle hineinkomplimentiert hatte. Mannsdicke Leitungen, die sich wie Krampfadern über die Wände zogen, leckten hier und da. Aus manchen tropften undefinierbare Flüssigkeiten, aus anderen zischten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen heiße Schwaden verschiedenfarbiger Gase hervor. Entweder war der Saal groß genug, um diese Beimengungen zur Atmosphäre an Bord so weit zu absorbieren, dass es nicht allzu unerträglich wurde. Oder die Lufterneuerung schien noch einigermaßen sauber zu arbeiten. Ein Blick auf den ausladendsten der Bildschirme, der zuerst angesprungen war und ohne längere Ausfälle funktionierte, zeigte mir, dass hoffentlich die zweite Annahme die richtige war. Auf dem Monitor war nämlich unser stolzer Schiffsgigant aus einer Entfernung von ein paar hundert Kilometern zu sehen, und er dampfte regelrecht wie eine alte Lokomotive durch das All. Anders ließen sich die riesigen, nebligen Schwaden nicht deuten, die der Sammler hinter sich herzog. Es handelte sich dabei um gefrorene Atmosphärewolken, die aus den unzähligen Lecks des Schiffs in den Weltraum entwichen und den Weg markierten, den es bisher genommen hatte. Dabei bemerkte ich, dass die ursprüngliche Kastenform des Sammlers nicht nur an
10 zahlreichen Stellen eingedellt und verbeult aussah, sondern dass an einer der hinteren Ecken die komplette Kante fehlte. Dieser Riss musste viele Kilometer lang sein. Es grenzte schon an ein Wunder, dass die Kiste sich überhaupt noch hatte selbsttätig fortbewegen können. Ich fragte mich, was mir ein Blick auf eine der anderen Seiten des Sammlers, so mir die stumm vor sich hin arbeitende Positronik diesen Blick überhaupt gewähren würde, noch alles offenbaren würde. »Die Takererschiffe!«, ächzte Abenwosch. »Wir fliegen in die Reichweite ihrer Geschütze … Verflucht noch mal, merkt dieses Schiff denn nicht, dass es direkt ins Verderben steuert?« Der Anführer des Ercourra-Clans fuhr sich mit der Linken durch sein langes, blauschwarzes Haar. Für einen Moment war die durch die Schnelllebigkeit bedingte charakterliche Härte und Skrupellosigkeit wie weggeblasen. Interessante Sichtweise für einen Jucla, kommentierte mein Extrasinn ungerührt. Ich wusste genau, was er damit meinte. Hätte Abenwosch selber die Kontrolle über das Schiff gehabt, er hätte es höchstwahrscheinlich, ohne mit der Wimper zu zucken, aus purem Hass in die gleiche Richtung gedrängt, wenn er sich auch nur eine minimale Chance ausgerechnet hätte, wenigstens einen der Takerer mit in den Tod zu nehmen. In diesem Moment reagierten beide Juclas, so unterschiedlich sie sonst auch waren, im Gleichklang. Ihre ohnmächtige Wut war mit den Händen zu greifen, und ihr Zorn bezog sich nicht allein auf einen überlegenen Erbfeind, dem sie das ganze Elend ihres Daseins zu verdanken hatten, sondern vor allem darauf, dass sie nicht hinter den Kontrollpulten ihrer Waffensysteme saßen und kämpfen konnten. Im Augenblick des Todes offenbart sich noch einmal der wahre Charakter …, dachte ich nicht ohne einen Anflug von Melancholie. Obwohl für komplexe Gefühle keine Zeit blieb. Denn in diesem Moment sahen
Luc Bahl wir auf dem großen Monitor die grell leuchtende Flammenflut eines punktgenau gebündelten Strahler-Beschusses auf uns zurasen, die keine Nanosekunde später den Sammler – und uns – zu namenlosen Staubkörnern im All zerstrahlen würde. Es geschah schneller, als ich reagieren konnte. Noch nicht einmal der Logiksektor trat mir noch rechtzeitig, alle Bedenken beiseite fegend, mental in den Hintern. Keine Aufforderung, den mich möglicherweise endgültig tötenden Flammenstaub einzusetzen, ertönte. Die Bildübertragung brach zusammen, und die Reihe der funktionstüchtigen Monitoren erstrahlte in gleißendem weißem Licht. Wir standen wie zu Statuen erstarrt in dem Raum, als das weiße Leuchten langsam wieder nachließ. Ich blinzelte mit den Augen, und der kurze Schauer eines kaum beschreibbaren Glücksgefühls durchfuhr mich. Wir waren davongekommen. »Manchmal muss man einfach Glück haben«, stöhnte ich. Wenig später merkten wir, wieso. »Ein Paratronschirm und … Verdammt, die Kiste verfügt über ein ganzes Arsenal an Schutzschirmen«, gluckste Zamptasch und schüttelte sich die Erstarrung vom Leib. Abenwosch wollte auch gerade etwas sagen, da spürten wir es. Ein leichtes unregelmäßiges Zittern ging durch das Schiff. Die Darstellung auf den Monitoren begann leichte Schlieren zu ziehen, so schnelle und abrupte Erschütterungen durchführen den massigen Koloss des Sammlers. »Das Monstrum verfügt nicht nur über Verteidigungsanlagen, die es benutzen kann, sondern auch über Angriffswaffen«, sagte ich. Diese Entwicklung war, dachte ich an das Jahr 3438 alter Zeitrechnung zurück, nicht wirklich überraschend. Der Angriff des noch wesentlich größeren Sammlers auf die MARCO POLO war seinerzeit allerdings unter anderen strategischen Prämissen erfolgt. Damals hatte der Sammler einige tausend Vasallen ausgeschleust, die wie ein wütender Heuschreckenschwarm über die MARCO POLO hergefallen waren. Wenn
Ein Zentralgehirn in Not auch ohne echte Wirkungstreffer zu erzielen. Jetzt an Bord eines Sammlers, der eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen, gefiel mir die ganze Entwicklung überhaupt nicht. Tatsache war, dass das Schiff ziellos aus allen Rohren feuerte. Strategisch geplant sieht das in der Tat nicht aus, kommentierte mein Extrasinn. »Aber nicht uneffektiv, …«, knurrte ich laut. Die doppelte Verneinung traf es wahrscheinlich. Mehr als sechzig, siebzig Prozent der Schüsse gingen ins Leere, aber die ungeheure Intensität, mit der das Schiff die Schwärze des Alls durchlöcherte, führte zwangsläufig zu zahlreichen Treffern, selbst wenn die dann eher zufällig waren. Auch die überraschten Gegner merkten ziemlich schnell, dass sie es mit einem Furor zu tun hatten, der keinerlei normaler Logik mehr folgte. Einer Logik, die es selbst mitten im Krieg gibt. Zumindest manchmal. Empfindlich getroffen ergriff der Rest der Angreifer die Flucht. Wir glaubten das siegestrunkene Geschrei an Bord der Jucla-Schiffe bis zu uns herüber zu hören. In Wirklichkeit schrien hier nur Zamptasch und Abenwosch. Sie lagen sich in den Armen und klopften sich auf die Schultern. Währenddessen nahmen die Jucla-Verbände unverzüglich die Verfolgung auf, um dem Gegner den Rest zu geben. Es schien so, als sprächen der Sammler und die anfänglich hoffnungslos unterlegenen Schiffe der Jungen Clans die gleiche Sprache. Die Wut hatte jeden klaren Gedanken vernebelt, an die Stelle kühler Überlegung trat der übliche kompromisslose Wahnsinn.
* In diesem Moment rumpelten einige kastenförmige Roboter auf Rollen in den Saal. Sie sahen aus wie verkleinerte Modelle des gigantischen Schiffs, in dem wir uns befanden. Manche erinnerten mich von Größe und Form her an etwas breitere Särge, in die man zur Not auch zwei Lebewesen betten konnte.
11 Wie beim Sammler war auch hier die Beschreibung kastenförmig nur eine grobe Vereinfachung. Unregelmäßig geformte, stellenweise knotig erscheinende Röhren zogen sich über die Oberfläche. Manche dieser Leitungen erinnerten an Därme, andere an Blutgefäße. Tatsächlich pulsierte hier und da die Oberfläche. Eigentlich musste es sich weich anfühlen, dachte ich und berührte einen der Kästen vorsichtig mit der Hand. »Verdammt!«, fluchte ich leise. Ist es nicht so, dass man schon kleinen Kindern beibringt, nicht auf die Herdplatte zu fassen?, höhnte der Logiksektor. Das Ding war in der Tat heiß gewesen und – stahlhart. Mit einem Knirschen klappte an der Oberseite ein Deckel auf. Dampf entwich und ein undefinierbarer Geruch, der nicht nur mich, sondern auch Abenwosch und Zamptasch daran erinnerte, dass unsere letzte karge, aus Montonenrinde und Kriechtieren gewonnene Mahlzeit schon eine Weile zurücklag. Drei Blechnäpfe tauchten aus dem Inneren der Maschine auf und wurden auf ein Tablett abgestellt. »Keine Ahnung, was das ist«, knurrte Abenwosch, »aber ich werde es essen.« Zamptasch und ich beobachteten den Clanführer zuerst eine Weile, bevor auch wir das Zeug einer näheren Untersuchung unterzogen. Der Jucla kippte nicht um, wand sich nicht in Krämpfen und verzog auch nicht allzu angewidert das Gesicht. Mir würde in jedem Fall der Zellaktivator helfen, aber man musste es ja nicht darauf ankommen lassen. Der Inhalt der Näpfe wirkte zwar optisch eher wie ein Auflauf aus Schmieröl, schmeckte aber nach altarkonidischen Manjase-Pastetchen. Aber vielleicht gewann ich diesen Eindruck auch nur deshalb, weil die halb flüssige, halb feste Masse so teuflisch heiß war, dass man sich bei jedem Bissen den Mund verbrannte. Wenig später erfuhren wir, warum der Küchenrobot noch von drei, ähnlich ausse-
12 henden, fahrbaren Kästen begleitet wurde. Aus jedem von ihnen wuchs ein Metallarm, der in einem einzelnen Finger endete. Die Finger tippten uns kurz auf die Schultern. Dann setzten sich die Kästen in Bewegung, und eine unmissverständliche Geste der Metallfinger bedeutete uns, den Robots zu folgen. Sie waren offensichtlich nicht in der Lage, wie Florymonthis Lautäußerungen von sich zu geben. Unterhalb des Hauptmonitors, auf dem noch immer das Kampfgeschehen zu verfolgen war, öffnete sich ein Durchgang, hinter dem wir nach einigen hundert Metern auf einem schwach beleuchteten Weg zu drei nebeneinander liegenden Schotten kamen, die von den Armen der Robotkästen geöffnet wurden. Florymonthis hatte angekündigt, dass sie Vasallen schicken würde, die sich um unser leibliches Wohl kümmern würden. An rollende Särge hatte ich bei dieser Äußerung nicht gedacht, noch dass sie uns wie Pagen bedienen würden. Gepäck, wenn wir denn welches dabeigehabt hätten, wäre uns sicher abgenommen und hinterhergetragen worden. Als ich aber kurz in meine Kabine sah und mich mit einem raschen Blick über den Zustand der Räumlichkeiten meiner Gefährten orientierte, erkannte ich, dass der Sammler zwar versuchte, uns wie Gäste zu behandeln, aber eigentlich nicht darauf eingerichtet war. Wie überall in dem Schiff, jedenfalls in dem Bereich, in dem wir uns bisher aufgehalten hatten, stapelten sich auch in diesen Räumen, nur notdürftig zur Seite geschoben, Einzel- und Halbteile von Maschinen, Platinen und anderen Apparaturen. »Ich komme mir vor wie auf einem fliegenden Schrottplatz«, seufzte ich. Die Decke war hier ausnahmsweise nicht turmhoch, sondern wölbte sich in lediglich sechs Metern Höhe, was den Eindruck erweckte, ich säße in diesem ansonsten vielleicht zehn, fünfzehn Quadratmeter großen Raum auf dem Boden eines zugemüllten Schachts. Direkt über mir baumelte in halber Höhe ein etwa anderthalb mal zwei Meter
Luc Bahl messender Bildschirm. Er hing, soweit ich das erkennen konnte, lediglich an zwei filigran wirkenden Drähten und übertrug, leise schwankend, dankenswerterweise die nämlichen Bilder der um uns tobenden Raumschlacht, in die sich unser Gefährt Hals über Kopf gestürzt hatte. Ich räumte eine der Ecken leer. Falls der Monitor irgendwann dem Gesetz der künstlichen Schwerkraft an Bord gehorchen würde, wollte ich außerhalb der Reichweite sein, wobei das Zimmer nicht groß genug war, um mich auch vor herumfliegenden Splittern zu schützen. An manchen Stellen war die Wand wie Rippen strukturiert, hart und hubbelig, über die sich eine ledrig anfühlende Tapete spannte. Sie erinnerte mich an die kalte, abgestorbene Haut eines toten Tieres. Das einzige Licht, mit dem die Absteige beleuchtet wurde, kam von dem Bildschirm. Die dunkel flackernden Bilder waren kaum geeignet, die Rumpelkammer richtig zu erhellen. Etwas, das sich als Bett gebrauchen ließ, war nicht zu erkennen, aber mir stand auch nicht der Sinn nach Ruhe, Schlaf und Entspannung, sondern danach, möglichst rasch in dem Wust von mechanischen und elektronischen Teilen etwas zu finden, was sich als Funkgerät nutzen ließ – vielleicht sogar ein ganz herkömmliches Funkgerät war. Nimm mit dem Schiff selbst Kontakt auf, sagte der Extrasinn und konnte einen spöttischen Unterton nicht verhehlen. Es war nicht das erste Mal, dass mich die Kommentare meines Logiksektors nervten, und es würde nicht das letzte Mal sein. Seit einiger Zeit reagierte ich gereizter als gewohnt. Der Flammenstaub setzte mir sehr zu. Nicht nur der Teil meines Ichs litt unter dieser Substanz, den ich ganz ursprünglich als den innersten Teil meiner Identität betrachtete, sondern auch jene Bereiche, die durch die ARK SUMMIA in mir geweckt worden waren, wie etwa mein Extrasinn. Seine partiellen Logikausfälle machten mir auch zu schaffen. »Du sollst mir helfen«, knurrte ich halb-
Ein Zentralgehirn in Not laut, »und mir nicht durch dumme Sprüche die Situation noch mehr verkomplizieren, als sie ohnehin schon ist.« Der Extrasinn schwieg. Sollte ich vollbracht haben, was schlechterdings kaum möglich ist, und ihn erfolgreich zum Schweigen gebracht haben? Bedeutete sein Schweigen, dass er schmollte?
7. Zamptasch Zamptasch spürte, dass ihm die Anstrengungen der tagelangen Flucht mehr zu schaffen machten, als er in seinen düstersten Annahmen befürchtet hatte. Sein ganzes Leben war er, wenn er ehrlich zu sich war, auf der Flucht gewesen. In keinem der Clans hatte er es während seines kurzen, intensiven, von unstillbarer Neugier getriebenen Lebens lange ausgehalten. Mit einem trotzigen Ächzen streckte er sich, bog seinen nach vorne gekrümmten Rücken gerade und richtete sich auf. Erst jetzt war zu sehen, dass der alte, hagere Greis mit dem aschgrauen, schütteren Haar und den buschigen Augenbrauen mit gut 1,80 Meter Körpergröße viele andere Juclas überragte. Aber da sackte er auch schon wieder in sich zusammen. Die letzten Minuten – oder waren es bereits Stunden? – war er derart außer Atem gewesen, dass alles, was Atlan, ihr arroganter, weißhaariger Anführer getan hatte, wie im Traum an ihm vorbeigeflogen war. Ein mieser Traum …, schoss es ihm durch den Kopf, aber er war so erschöpft, dass er noch nicht einmal laut fluchen konnte. Die willkürliche und nicht mehr rückgängig zu machende Schnelllebigkeit war die Ursache für die typische Unrast, die alle Vertreter dieses Volkes auszeichnete. Bei ihm, Zamptasch, kam aber noch etwas anderes hinzu. Seit gut zehn Jahren kannte er sein düsteres Geheimnis, die Unausweichlichkeit seines ganz persönlichen Leidens. Die Krankheit, die ihn verzehrte, hieß rezessiver Genverfall, war unheilbar, schritt un-
13 aufhaltsam fort und würde ihn letztlich vorzeitig das ohnehin zu kurze Leben kosten. Der leichenblasse Arkonide, dem er und Abenwosch sich auf ihrer Flucht untergeordnet hatten, hatte sie zwar unter schlimmsten Gefahren vorläufig in Sicherheit gebracht. Das musste sich Zamptasch zähneknirschend eingestehen, aber was hieß das schon? Für die Zukunft? Für die wenigen Monate, Wochen, Tage oder gar Stunden, die ihm noch bleiben mochten? Was Atlan getan hatte, war doch genau genommen, Schnee von gestern … Selbst wenn er, Zamptasch, der Listige, sich noch kaum davon erholt hatte. Was immer Atlan und Abenwosch während des Theins wirklich vorgehabt hatten, war seit ihrer überstürzten Flucht Makulatur. Zamptasch musste nach vorne schauen, nicht zurück … Das dämmrige Licht, das von der meterhohen Deckenleuchte auf seine gelblich verfärbte Gesichtshaut fiel, ließ die scharfen Konturen der Falten noch tiefer als sonst erscheinen. Jahre der Verbitterung und des Zorns hatten sie in sein Gesicht gepflügt, unauslöschliche Spuren einer viel zu schnell vergangenen Zeit … Wie soll ich mich in diesem Dreckloch erholen? Nicht einmal eine Liege ist vorhanden, dachte Zamptasch. Schließlich überwand er seine Erschöpfung und fing an, jeden Zentimeter der Wand zu untersuchen. Zahlreiche Ausbuchtungen wölbten sich noppenartig daraus hervor. Manche waren feucht und glitschig, andere rau und scharfkantig, einige weich und nachgiebig. Alles in allem war die Kabine, die der Roboter ihm zugewiesen hatte, eine Zumutung. Ungemütlich, feucht und kalt, erinnerte sie ihn an eine Grotte oder, schlimmer noch, an eine Gruft. Es gab nichts, worauf er sich setzen konnte, ohne kleben zu bleiben. Normalerweise hätte er längst getobt und mit seinem Stock irgendwelche Gegenstände zertrümmert, wahlweise auch die Knochen lebender Wesen. Stattdessen tastete er in der dämmrigen
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Beleuchtung jenen Bereich der Wände ab, den er mit seinen Fingern erreichen konnte. Wie in den anderen Räumen hatte man auch hier eine Reihe von Gegenständen eingelagert. Darunter ölverschmierte kreisrunde Metallscheiben und verschiedene Arten von Gestänge, das sich wohl miteinander zu Gerüsten verbinden ließ. Mit einer der Stangen hatte er das zugleitende Schott blockiert, als der sargähnliche Roboter wieder auf den Gang zurückrollte. Durch den Spalt sah er, dass die funzelige Beleuchtung auf dem Gang nach dem Abzug der Roboter wieder erloschen war. Die schmalen Lichtspuren, die aus den anderen Räumen fielen, zeigten Zamptasch, dass auch Atlan und Abenwosch jeweils irgendwelche Teile zwischen Schott und Wand gelegt hatten. Nicht nur er war so schlau gewesen, sich nicht einsperren zu lassen. Es stand für Zamptasch vom ersten Augenblick an fest, dass er nicht länger als unbedingt notwendig in dieser Grotte bleiben würde. Er dachte nicht im Traum daran, sich noch länger mitzerren, herumschubsen und kommandieren zu lassen. Im Grunde sind nur diese unfähige Rotznase Abenwosch und dieser weißhaarige Arkonide an dem ganzen Schlamassel schuld! »Rücksichtsloses Pack! Kein Respekt vor Alter und Weisheit«, schimpfte er. Dann hielt er in seiner tastenden Suche inne. Zamptasch war sich sicher. Er hatte gefunden, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte …
8. MITYQINN Systemübersicht: 28,135427865394167496153 … Prozent nach Schockstasis. Überschreibe Kontrolle mit selbstreferentiellem Protokoll: Status der Besucher nach wie vor ungeklärt. Der unabhängige Vasall agiert partiell unlogisch. Zugriffsverweigerung. Und dann die Lieder der Zeit. Das Ego und die Unendlichkeit. Hier am Quell der Sehnsucht. Während Kämpfe
gekämpft, Gefechte gefochten und Schlachten geschlagen werden müssen. Protokollende
9. Atlan Ein polterndes Geräusch ließ mich herumfahren. Das Schott glitt zur Seite. Florymonthis hatte ihren wuchtigen Korpus in eine Art Sitzposition gebracht, die eine enorme Gelenkigkeit erkennen ließ. Sie füllte den Rahmen komplett aus, einen Teil – Kopf und Brust – quetschte sie in meine Kabine. »Die Feinde sind geschlagen«, heulte Florymonthis in schrillsten Tönen. Etwas gedämpfter fuhr sie fort: »Ich bin mit MITYQINN übereingekommen, euren Status vorerst als Gäste zu klassifizieren.« »MITYQINN …?«, fragte ich, obwohl ich den Begriff schon vorher von ihr gehört hatte und mir denken konnte, was damit gemeint war. »Der Name des Schiffes ist auch der Name seiner Positronik«, erläuterte Florymonthis. »Wir sind also als Freunde akzeptiert«, sagte ich erleichtert. »Als Gäste«, korrigierte mich die Maschine. »Vorerst …« »Ich muss mit MITYQINN direkt reden«, sagte ich. »Wie kann ich mit der Positronik in Kontakt treten?« »Nimm mich!«, brummelte mir die Roboterdame ins Ohr und fügte nach einer kurzen Pause noch ein »… schöner Mann …« hinzu. Ich bin zu alt, um noch verlegen zu werden, aber nach dieser Äußerung verschlug es mir doch für einen Moment den Atem. »Ich stehe in Dauerkontakt mit der Positronik«, fuhr Florymonthis fort, »willst du mit dem Befehlshaber der Schiffe sprechen, die gegen die Takerer gekämpft haben?« »Ja«, erwiderte ich und gab über die Roboterdame die Kennung der AVACYN an die Positronik weiter. Kurze Zeit später straffte sich eine der Hautfalten in der obe-
Ein Zentralgehirn in Not ren Körperhälfte Florymonthis', knapp unterhalb ihres Kugelkopfs. Ein gebogener Bildschirm erschien und begann zu flimmern. Das Gesicht von Carmyn Oshmosh erschien und starrte erstaunt auf mich herab. »Atlan«, sagte sie. Erleichterung, Erstaunen, aber auch ein gutes Dutzend Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, waren ihr deutlich anzusehen. »Ich bin in Sicherheit. Meine beiden Begleiter und ich befinden uns an Bord eines Sammlers. Seine Feuerkraft ist enorm, und wir gedenken, sie mit letzter Konsequenz gegen die Takerer und Zaqoor einzusetzen.« »Die takerische Flotte ist schon geflohen. Wenn dein Sammler etwas besser zielen würde, hätte er auch die Zaqoor vertrieben. Es sind allerdings nur ein paar Beobachter übrig. Die Juclas lassen die Korken knallen …« »Ehrlich gesagt handelt es sich nicht um meinen Sammler. Noch nicht. Wir haben einen wichtigen Verbündeten an Bord. Aber die Positronik der MITYQINN hat im Laufe der Jahrtausende Schaden erlitten, sie ist gestört, geradezu verwirrt. Wenn es uns nicht gelingt, dieses Problem zu lösen, werden wir keinen langfristigen Nutzen aus dem Giganten ziehen, fürchte ich …« »Und wie geht es dir? Du siehst mitgenommen aus …« »Wir haben uns an Bord dieses Sammlers flüchten können, nach tagelangem Marsch durch die Wälder. Ein Zaqoor überfiel den Thein und richtete unter den Juclas ein Massaker an. Abenwosch und Zamptasch sind bei mir. Weitere Einzelheiten berichte ich dir später.« »Der Sammler sieht grauenhaft aus, als ob er jede Sekunde auseinander fallen könnte. Sei vorsichtig! Gibt es Beiboote, die du notfalls …« Aus irgendeinem Grund ärgerte mich die Besorgnis, die aus ihren Worten herauszuhören war. Darüber solltest du eigentlich seit ein paar tausend Jahren hinweg sein, begann der Extrasinn in alter Form zu lästern. Ich würgte ihn ab.
15 »Wir sind durch einen Hangar eingedrungen. Die wenigen Kleinstschiffe machen einen desolaten Eindruck. Wenn etwas Zeit bleibt, suche ich ein funktionstüchtiges Beiboot. Wirklich eine gute Idee. Wichtig ist jetzt vor allem, dass ihr euch vom Sammler fern haltet, er ist noch zu unberechenbar. Bitte versuch auch, die verschiedenen Clanführer dazu zu überreden, Ruhe zu bewahren und sich nicht unnötig an den Zaqoor aufzureiben. Erst einmal müssen wir die Situation hier an Bord klären.« Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, die gigantische Plattform, in der wir steckten, vor den Ohren von Florymonthis als Schrotthaufen zu bezeichnen. »Kann ich euch irgendwie helfen?« »Nein, nein, nein«, sagte ich mit allem Nachdruck, zu dem ich fähig war. »In Ordnung«, erwiderte die Kommandantin. »Melde dich, falls du uns brauchst …« Das Gespräch war beendet, der Funkkontakt brach ab, und der Bildschirm verschwand von der Körperoberfläche Florymonthis', als wäre er nie da gewesen. »MITYQINN meint …«, sagte die Roboterdame, brach aber nach zwei Worten ab. »Was will die Positronik mir mitteilen?« »Status ungeklärt«, ertönte ihre Stimme, die sich auf einmal gedämpft anhörte. »Was soll das heißen?«, fragte ich. Florymonthis wedelte nur mit den Tentakeln. Man weiß nie, was leicht übergeschnappte Roboter als Nächstes tun. Aber das meinte ich nicht … Florymonthis' Gestik ist Ausdruck von Verlegenheit. »Was soll das heißen – Status ungeklärt!«, beharrte ich laut auf einer Antwort. »Ich habe vorübergehend den Kontakt zu MITYQINN abgebrochen«, erwiderte Florymonthis. »Das ist keine Antwort«, sagte ich. »Die kann nur MITYQINN geben.« »Heißt das, ihr seid uneins?« »MITYQINN muss nachdenken«, sagte Florymonthis. »Ich dagegen habe schon
16 nachgedacht. Schließlich bin ich ein unabhängiger Vasall. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen …« »In Bezug auf uns, eure Gäste?« »Auch – aber nicht nur …« »Florymonthis, du sprichst gelegentlich in Rätseln.« »Du auch, Fremder. Du auch …« Mit einer zärtlichen Geste strich das geschlossene Tentakelauge über meine Wange. Ein ambivalenter Schauder, angenehm und erschreckend zugleich, durchfuhr mich. In diesem Moment ertönten aus dem Gang ein schauerliches Geschrei und Geräusche, die nichts Gutes verhießen. Ich sprang auf und wollte gerade die Tür öffnen, als bereits Florymonthis in einem Tempo an mir vorbeistürzte, das ich der wuchtigen Apparatur nie zugetraut hatte. Auf dem Gang kämpften zwei medizinballgroße, kugelrunde Roboter, aus deren Körpern ein gutes Dutzend meterlange, peitschenähnliche Schlingen herausschnellten, mit den beiden Juclas. Eine der Schlingen hatte sich bereits um Abenwoschs Hals zusammengezogen, während Zamptasch mit seinem Stock auf den Blechball einschlug, der ihn mit seinen Schlingen einfangen wollte. »Sterne und Boliden!«, rief ich. »Das Ding bringt ihn um …« Ohne nachzudenken, stürzte ich zu dem Clanführer und versuchte den nur wenige Millimeter dicken Draht um seinen Hals zu lockern. Die übrigen Schlingen zischten und knallten durch die Luft wie Peitschen. Und sie schmerzten, wenn sie einen erwischten, auch genauso. Ein ersticktes Gurgeln ertönte direkt neben mir. Abenwosch, dessen Gesicht sich bereits blau verfärbt hatte, bekam wieder ein wenig Luft. Aus den Augenwinkeln sah ich eine rasche Bewegung und duckte mich instinktiv weg. Zamptaschs mindestens ein Meter fünfzig langer Knüppel zischte nur wenige Zentimeter über meinen Kopf hinweg und krachte gegen die Wand. Gleichzeitig ertönte das infernalische Heulen des Alten, dem der Roboter den Stock entwunden hatte und
Luc Bahl der ihn nun mit voller Wucht durch die Gegend wirbelte. Das alles geschah nahezu gleichzeitig. Denn nun mischte sich Florymonthis in die unbegreifliche Auseinandersetzung ein. Mit zwei kurzen, knappen Feuerstößen aus den Strahlern, die sich aus ihren Armen hervorgestülpt hatten, erwischte sie die beiden Bälle. Die Kugelkörper glühten auf und zerbröselten zu heißer Asche. Mit leisen Klackgeräuschen fielen die peitschenähnlichen Metallschlingen auf den Boden des Gangs. Erschöpft und verwirrt starrten wir uns an. »Was … was sollte das?«, krächzte Abenwosch mit kaum verständlicher Stimme und rieb sich den schmerzenden Hals. Keuchend bückte sich Zamptasch nach seinem Knüppel und hob ihn auf. Mit einem wütenden Tritt kickte er in eines der glühenden Aschehäufchen und verteilte die spärlichen Reste des Roboters in dem Gang. »Das möchte ich auch wissen«, sagte ich zu Florymonthis. »Was sollte das?« Bevor die Roboterdame, die sich auf unserer Seite in die Auseinandersetzung eingemischt hatte, antworten konnte, schrie Zamptasch: »Ich muss hier raus! Ich halte es hier nicht länger aus!« Der hysterische Unterton war kaum zu überhören. »Zamptasch hat Recht«, sagte ich. »Diese Räume sind unmöglich.« Und ein Teil des Personals auch, ergänzte der Extrasinn. »Darin kann man nicht leben …« »Ich bringe euch in Ovarons Räume«, sagte Florymonthis. »Die dürften für eure Bedürfnisse besser geeignet sein.« Aufstieg in die Nobelherberge …, kommentierte der Extrasinn. Die Ovaron-Suite … »Das wird auch höchste Zeit! Wir sind doch Verbündete«, rief Abenwosch-Pecayl 966. während wir dem riesigen Roboter durch die endlosen Gangfluchten des Sammlers folgten.
10. Zamptasch
Ein Zentralgehirn in Not Leise vor sich hin fluchend folgte Zamptasch seinen Gefährten zu den neuen Räumen. Am liebsten hätte er nicht nur leise geschimpft, sondern seinen ganzen Zorn hinausgeschrien. Aber dazu fehlte ihm die Luft und die Kraft. Keuchend und jammervoll japsend betrat er die neuen Räume. Warum nur musste ihn dieser Weißschopf immer falsch verstehen! Gerade hatte er in dem Loch, in das man ihn zuerst gesteckt hatte, das gefunden, was er so dringend gesucht hatte. Der plötzliche Angriff der kleinen, aber extrem gefährlichen Roboter war zum ungünstigsten Augenblick gekommen. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, warum die Maschinen sie angegriffen hatten … Wichtig war nur, dass die Peitschen-Roboter in ihrer Beschränktheit ihn davon abgehalten hatten, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und dann kommt auch noch dieser arkonidische Schwätzer daher und hilft Abenwosch und nicht mir! Wo ich doch eindeutig das Vorrecht des Alters genieße … Am schlimmsten aber war, dass Atlan sie ausgerechnet in dem Augenblick aus ihren Löchern herausgeholt hatte, als er in diesem verfluchten fliegenden Sarg endlich jene kleine Vorrichtung gefunden hatte, die ihm helfen sollte, diesen Ort zu verlassen. Und zwar bevor er hier vor Erschöpfung zusammenbrach und sein viel zu schnell abgelaufenes Leben aushauchte. Begriff das denn niemand? Er hatte keine Zeit mehr! Zamptasch spürte, als sie die neuen Räume betraten, dass es in seinen Augenwinkeln feucht geworden war. Bloß keine unnützen Gefühle, alter Sack!, beschimpfte er sich in Gedanken. Atlan und ganz besonders Abenwosch konnten ihm endgültig den Buckel hinunterrutschen. Er brauchte sie nicht mehr. Diese Erkenntnis hatte ausreichend Zeit gehabt, in ihm zu reifen. Und mit dieser Erkenntnis reifte die Idee. Er würde hier herauskommen, und zwar mit allen Mitteln …
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11. Atlan Florymonthis nahm auf den kurzatmigen, alten Zamptasch keinerlei Rücksicht. In einem Tempo, das selbst Abenwosch und mich zu einer raschen Gangart zwang, tänzelte die riesige Roboterdame durch die labyrinthartigen Gänge. Mehrfach bat ich sie innezuhalten, um den alten Jucla-Zausel nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Eigentlich, so überlegte ich, musste die völlige Verständnislosigkeit für Langsamkeit dem Charakter meiner Begleiter entgegenkommen. Schon kurz nachdem wir unseren alten Aufenthaltsort hinter uns gelassen hatten, begegneten wir einer neuen Schar von Vasallen, die unseren Weg kreuzte. Es war ein Trupp von mindestens fünfzig Maschinen, deren Körper wie mannshohe Flaschen geformt waren. Die langen Hälse bestanden aus einem Geflecht schlanker Röhren und waren beweglich. Wie Zöpfe waren die Leitungen miteinander verflochten, wurden zur Spitze immer dünner und mündeten in abgeflachte ovale oder runde Metallscheiben voller winziger Löcher. Insgesamt schwebten die Maschinen auf Prallfeldern, wodurch ihre Fortbewegung zu einem schwankenden Geschaukel wurde. Angesicht der Erfahrung von vorhin blieben wir ruckartig stehen. Auch Florymonthis bremste abrupt. Allerdings nur, wie sie sagte, um den Trupp vorbeizulassen. »Sie sind harmlos«, sagte sie mit ihrer hohen Stimme. Ja, so wie du, ergänzte mein Logiksektor. »Es sind Äthersammler …« Trotz ihrer Erläuterung erschloss sich mir die Funktion dieser Vasallenart nicht. Ich speicherte ihre ungewöhnliche Form in meinem Gedächtnis. Einige von ihnen waren durchsichtig, und der nur von Schmutzspuren getrübte Blick in ihr Innenleben offenbarte eine ebenfalls lichtdurchlässige, wabenförmige Struktur, die sich bewegte und pulsierte, als führe
18 sie ein Eigenleben. Die kleine Pause hatte Zamptasch gut getan. Wir gelangten zu einem Aufgang in eine höher gelegene Ebene des Schiffes. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie wir in diesem spiralförmig gewundenen Schacht nach oben kommen sollten, da er ringsum aus spiegelnd glatten Flächen bestand und sich in einer Steigung von mehr als fünfzig Prozent nach oben wand. Es war so steil, dass selbst die umgekehrte Richtung herunterzurutschen eine halsbrecherische Angelegenheit wäre. Florymonthis würde trotz ihres Gewichts keine Schwierigkeiten haben, da sie – wie ich ja schon beobachten konnte – über ein Antigravaggregat verfügte. »Falls du daran denkst, uns gewissermaßen auf den Arm zu nehmen«, murmelte ich, »vergiss es …« Florymonthis schien meine Äußerung geflissentlich zu überhören und legte stattdessen einen Schalter um, der sich unmittelbar neben dem Schachteingang fast in Bodenhöhe befand. Eine Klappe an der rechten Schachtseite öffnete sich, und drei ziemlich rostige Plattformen aus Metall schossen heraus. Sie schwebten leicht aufgefächert vielleicht eine Handbreit übereinander in dem schraubenförmigen Schacht. Mit einer Bewegung, wie sie der formvollendetste Kavalier kaum eleganter ausführen konnte, forderte die Roboterdame mich auf, die oberste Plattform zu betreten. »Ich folge dir, schöner Mann«, kreischte sie. Kaum stand ich auf der schwankenden Scheibe, schoss sie auch schon mit enormem Tempo nach oben. Ich versuchte erst gar nicht auf meinen Beinen stehen zu bleiben, sondern hockte mich hin und umklammerte mit beiden Händen den schartigen Rand der Scheibe. Ich hoffte stillschweigend, dass die Plattform trotz der rasenden Fahrt zu keiner Zeit die Schachtwände entlangschrammen würde. Vor allem nicht dann, wenn sich meine Finger dazwischen befanden. Mit tatkräftiger Unterstützung durch den Extrasinn gelang es mir so einigermaßen, dass mir
Luc Bahl nicht schwindlig wurde, während wir in irrwitzigem Tempo in dem Spiralschacht nach oben flogen. Ruckartig stoppte die Scheibe, spuckte mich regelrecht in einen weiteren Gang und verschwand mit lautem Geklapper in der Wand, bevor meine beiden Gefährten auf die gleiche Weise aus dem Schacht gespien wurden. Im Gegensatz zu mir torkelten sie wie zwei Kinder, die zu lange Karussell gefahren waren. Allerdings war auch ich etwas benommen. Nun schoss Florymonthis aus dem Schacht und verfehlte die beiden nur um Haaresbreite. Gerade zur rechten Zeit. Es schien, als hätten sie nur auf uns gewartet. Von beiden Seiten des Gangs stakten auf einmal Scharen insektoid wirkender Vasallen auf uns zu. Sie bewegten sich auf jeweils sechs langen, dünnen, mehrfach gegliederten Beinen. Dabei huschten sie immer ein Stück so rasch, dass man nur einen flüchtigen Schatten sah, hielten abrupt für einen kurzen Moment inne, als ob sie sich der Situation und Umgebung vergewissern wollten, und wuselten dann weiter. Sie waren von unterschiedlicher Größe. Klein wie eine Kinderfaust die einen, bis zur Größe eines Wolfs die anderen. Ihre ruckartigen, schnellen Bewegungen, unterbrochen vom ständigen Innehalten, drängten in mir den Vergleich zu archaischen Raubtieren auf, die sich immerzu der Witterung ihrer Opfer vergewissern mussten. Als sie uns umzingelt hatten, eröffneten sie das Feuer. Es besteht kein Zweifel, wären wir allein gewesen, hätten sie uns erwischt. Doch Florymonthis errichtete um uns einen kreisförmigen Schutzschirm, der allerdings nur anderthalb Meter hoch war. »Duckt euch!«, rief ich und ließ mich zu Boden fallen. Über unsere Köpfe hinweg erwiderte sie das Feuer. Offensichtlich klinkte sie sich auch in den Funkverkehr der Vasallen ein. Denn ebenso schnell, wie der böse Zauber begonnen hatte, war er wieder vorbei. Übergangslos stellten die Käfer-Roboter ihr Feuer ein,
Ein Zentralgehirn in Not drehten ab und waren im Nu verschwunden.
* Wir erreichten sicher unser vorläufiges Ziel. Eine weitere Vasallenschar, die uns kurz zuvor aufgelauert hatte, vertrieb Florymonthis mit einigen hastigen Bewegungen und – wie es schien – einigen Funkbefehlen. So froh ich mittlerweile war, den unabhängigen Vasallen auf unserer Seite zu wissen, so unbehaglich empfand ich die Situation insgesamt. Irgendetwas auf diesem Schiff begann immer mehr aus dem Ruder zu laufen – und zwar ganz gewaltig. Und es war klar, dass es das Schiff selbst war, genauer gesagt seine Positronik. Die Auseinandersetzung zwischen Florymonthis und MITYQINN eskalierte immer mehr. Im Vergleich mit den Rumpelkammern, in die uns die Vasallen zuerst gebracht hatten, waren die einst für den höchst unwahrscheinlichen Besuch Ovarons eingebauten Räumlichkeiten nachgerade luxuriös. Aber nur im Vergleich. Mach dir klar, wie alt diese Kiste ist, belehrte mich mein Extrasinn. Ovaron kann froh sein, dass er nicht gezwungen war, in diesem Etablissement abzusteigen, knurrte ich innerlich. Wahrscheinlich hat sich der ganze Dreck an Bord erst sehr viel später angesammelt … »Ich fürchte, weder MITYQINN noch unsere hilfsbereite Freundin hier wissen so recht, was sie überhaupt tun«, sagte ich, als ich mich ungeachtet zentimeterdicker Staubschichten vor Erleichterung auf eine weiche Sitzbank sinken ließ. Abenwosch hatte sich auf ein breites bettähnliches Gestell gefläzt und fixierte mich durch eine Staubwolke aus gut zehn Metern Entfernung. Ovarons Eventualabsteige war zumindest einigermaßen proportioniert. Immer noch groß, größer als die vorherigen Zimmer, aber längst nicht so hoch. Florymonthis passte gerade noch hinein, ohne sich zu sehr ducken zu müssen. »Der Angriff der Blechbälle und später
19 der anderen Vasallen ging zweifellos von der Positronik des Schiffes aus«, überlegte ich laut. »MITYQINN und Florymonthis sind sich offensichtlich nicht in allen Punkten einig.« »Insbesondere was uns anbelangt, unseren Status …«, ergänzte der zwölfjährige Clanführer. Er hustete trocken. Ich wusste nicht, ob wegen des Staubs oder wegen der Strangulation, deren Spur rot glänzend an seinem Hals zu sehen war. Schon bald würden die Würgemale in allen Regenbogenfarben schillern. Florymonthis hatte sich in eine Ecke gehockt und verfolgte unser Gespräch sehr aufmerksam. Die Augenkugeln pendelten leicht hin und her und beobachteten uns. »Es ist ein Jammer«, stöhnte Abenwosch, selbst bei ihm machten sich mittlerweile die Strapazen der letzten Tage deutlich bemerkbar. »Da flüchten wir uns direkt in die Arme eines natürlichen Verbündeten, eines machtvollen Verbündeten, mit dessen Hilfe es uns gelingt, unsere Feinde in die Flucht zu schlagen. Und dann stellt sich heraus, er ist …« Der Jucla tippte sich vielsagend mit dem Finger gegen die Stirn. »Ein unberechenbarer Verbündeter … Da hast du wirklich Recht, Abenwosch …«, sagte ich und setzte mich auf, um über die Lehne des alten Möbels hinwegzuschauen. Wo ist eigentlich Zamptasch?, fragte ich mich. Er verschont uns doch sonst nicht mit seinen Kommentaren … »Eben war er doch noch hier …«, murmelte ich. In diesem Moment sprang das Schott zu unseren Räumen auf. Ich erkannte am aufmerksamen Blick von Florymonthis' Tentakelaugen, dass sie die Situation scharf beobachtete. Aber sie griff nicht ein, als ein weiterer Trupp metallener Vasallen in unser neues Quartier eindrang. Die Vielfalt von Robotern hier an Bord des Sammlers erstaunte mich immer wieder. Diesmal stapfte eine Kompanie uniformer Gestalten, die sich auf zwei Beinen vorwärts bewegte, zu uns herein. An einigen der
20 Blechkameraden waren noch Spuren einer früheren Lackierung zu sehen, die mich schließen ließ, dass sie einmal blau, gelb und rot gewesen sein mussten. Ihre Körper waren wie Regentonnen geformt, aus deren Seiten zwei dünne Arme ragten, die wie bei humanoiden Lebewesen Ellenbogengelenke und fünfgliedrige Hände aufwiesen. Oben saß auf einem erschreckend dünnen Hals ein ähnlich wie ein Totenschädel geformter Kopf mit zwei glühenden optischen Sensoren an der Stelle der Augen. Eine Art kurzstopplige Drahtbürste befand sich oben auf der Schädeldecke, wahrscheinlich eine Antennenanlage in Fransenfrom. Irgendwie versuchte der Trupp so etwas wie eine militärische Ordnung aufrechtzuerhalten, sprich in Formation zu marschieren und zackige Bewegungen auszuführen. Obwohl ich äußerst angespannt war, zu was sich diese Vasallen hinreißen ließen, konnte ich ein Kichern angesichts ihres Anblicks nicht unterdrücken. Die beabsichtigte Koordination ihrer Bewegungen missglückte. Ich beobachtete, wie Abenwosch mit aufgerissenen Augen den torkelnden Einmarsch der Truppe verfolgte und kopfschüttelnd registrierte, dass sie in Schlangenlinien den ganzen Raum durchquerten. Keine der metallenen Roboterkarikaturen würdigte uns auch nur eines Blicks. Sie blieben schließlich am anderen Ende des Raums vor einer Tür stehen, die mir noch gar nicht aufgefallen war. Einer von ihnen öffnete sie. Heraus trat Zamptasch. Sofort umringte ihn der Trupp und setzte sich mit ihm in Bewegung. »Hey!«, rief ich laut. »Was soll das? Was wollt ihr mit Zamptasch …« Keiner antwortete. Selbst Zamptasch ignorierte meine Frage. Er vermied auch jeglichen Blickkontakt. In diesen Sekunden schlug meine anfängliche Belustigung über das robotische Rollkommando in Besorgnis um.
Luc Bahl
12. Zamptasch Weder Atlan noch Abenwosch fiel auf, dass sich Zamptasch, kaum dass sie ihr neues Quartier bezogen, in einen der Nebenräume zurückzog. Er zog leise die Tür hinter sich zu. Endlich allein. Erschöpft sank er auf einem schmalen Bett nieder und wäre am liebsten auf der Stelle eingeschlafen. Aber die Überlegungen, um die seine Gedanken kreisten, seit sie das Schiff betreten hatten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Bei Atlan war er sich unsicher, aber in Bezug auf Abenwosch wusste er genau, dass der Clanführer ihn im Grunde für ein nutzloses Anhängsel hielt, das zu nichts zu gebrauchen und daher höchst lästig war. Zamptasch war es seit eh und je gewohnt, unterschätzt zu werden. Sie dachten höchstwahrscheinlich, er habe die Situation an Bord dieses gewaltigen Schiffes noch gar nicht umrissen. Dabei war ihm längst völlig klar, dass innerhalb der robotischen und positronischen Einheiten, die für das Funktionieren und die Steuerung des Schiffes zuständig waren, erhebliche Differenzen herrschten. Aber wenn er sich mit etwas auskannte, dann mit Widersprüchen, Antagonismen, Zwietracht und Uneinigkeit. Längst hatte er erkannt, dass der wuchtige Roboter Florymonthis unabhängig vom Willen der Schiffspositronik agierte. Nicht nur das. Florymonthis handelte ganz explizit gegen den Willen der Schiffspositronik. Wie sonst ließen sich die Angriffe auf sie erklären? Atlan hatte sich in seiner Verblendung direkt mit diesem ebenso unförmigen wie unberechenbaren Vasallen eingelassen und die Schiffspositronik damit veranlasst, sie als Feinde anzusehen … Zamptasch gehörte nicht zu den Juclas, die angesichts einer solchen Situation resignierten. Für ihn war das eine Ausgangslage, die danach schrie, genutzt zu werden.
Ein Zentralgehirn in Not Wenn Zamptasch eines hasste, dann Verlierer. Deshalb fiel seine Entscheidung schon frühzeitig. Er würde sich auf die Seite des Siegers schlagen, auf die Seite des Stärkeren. Die Übergriffe der diversen RobotEinheiten, die Florymonthis mit Mühe abwehren konnte, zeigten ihm deutlich, wer der Stärkere hier an Bord war. Schon in ihrem ersten Quartier wollte er sich mit der Schiffspositronik in Verbindung setzen, wollte MITYQINN seine Unterstützung anbieten. Auf jedem Raumschiff gab es Kommunikationseinrichtungen, mit denen sich ein direkter Kontakt mit der zentralen Rechnereinheit herstellen ließ. Zamptasch fand die entsprechende Vorrichtung auch in dem neuen Raum, in den er sich zurückgezogen hatte. Er drückte die Taste und begann zu sprechen …
13. MITYQINN Systemübersicht: 28,1354278653941167496153546577926 4653541 … Prozent nach Schockstasis. Überschreibe Kontrolle mit selbstreferentiellem Protokoll: Statusänderung einer der Eindringlinge auf Grund neuer Informationen. Besucher Zamptasch hat Kontakt aufgenommen. Er machte die folgenden Angaben. Zugriff auf Speicher NQMITY^32 … »Hallo, hier spricht Zamptasch. Ich habe wichtige Informationen für die Schiffspositronik der MITYQINN …« »Du sprichst mit MITYQINN, was hast du mitzuteilen?« »Ich weiß nicht, wie lange ich ungestört sprechen kann. Ich konnte mich vorübergehend von meinen beiden Begleitern Atlan und Abenwosch-Pecayl 966. absetzen. Ich mache diese Mitteilung unter größter Gefahr. Bei meinen Begleitern handelt es sich um Verräter, die nicht nur meine Sicherheit gefährden, sondern vor allem die des, Schiffes …«
21 »MITYQINN verlangt nähere Erläuterungen …« »Das ist im Augenblick unmöglich. Die beiden Verräter können mich möglicherweise hören … Ich muss direkt mit dir reden … Mein Leben gegen das ihre …« »In Ordnung. Ich schicke einige Vasallen, die dich zu mir bringen werden …« Protokollende
14. Zamptasch Je länger der Weg dauerte, desto ungehaltener wurde Zamptasch. Hätte er doch mit seiner Kontaktaufnahme wenigstens noch so lange gewartet bis er selbst wieder zu Kräften gekommen wäre. Aber wer konnte schon ahnen, dass die Robotereinheit, die ihn zu MITYQINN eskortieren sollte, so rasch in ihrem Quartier eingetroffen war. Sie mussten ganz in der Nähe gewesen sein. Zum Glück kam der Robottrupp nicht gerade schnell voran, weil immer wieder einzelne Maschinen unter Ausfällen litten, die den Rest des Kommandos zwangen zu warten. So konnte er unterwegs immer wieder eine Pause einlegen und neue Energie tanken. In nahezu allen Fällen war der Schaden rasch wieder behoben, und es ging weiter durch die unendlichen Gänge, die nach einem undurchschaubaren System mal extrem verwinkelt waren, aber sich auch gelegentlich wie Prachtalleen lang, breit, hoch und gerade bis zum Horizont zu erstrecken schienen. Sie folgten nur kurz einem solchen Gang, der im Gegensatz zu den Nebenwegen einen erstaunlich aufgeräumten und verhältnismäßig sauberen Eindruck machte. Kaum waren sie wieder in einen dunkleren und kleineren Schacht abgebogen, blieb wieder einer der Roboter liegen. Er zuckte kurz mit den Armen, dass es knirschte. Der Geruch verschmorten Kunststoffs verbreitete sich. Diesmal ließ sich anscheinend nichts mehr machen. Deshalb entschlossen sich die anderen, ihn an Ort und Stelle einfach liegen zu lassen.
22 So nötig Zamptasch die Zwangspausen zur Erholung brauchte, war er doch zu ungeduldig, sie zu nutzen. Laut fluchend kommentierte er jede Verzögerung. Hätten sie nicht ein Fahrzeug schicken können? Wer weiß, wo sich in diesem riesigen Komplex überhaupt die Zentrale mit der Positronik befand? Musste er diesen Ort, orientierungslos, wie er mittlerweile war, aus eigenem Antrieb suchen, er könnte wochenoder monatelang unterwegs sein, ohne etwas zu finden. Zweifel quälten ihn. War es richtig gewesen, sich von Atlan und Abenwosch abzusetzen? Doch wie er es auch hin und her drehte, er kam immer wieder zum gleichen Ergebnis. Es gab für ihn nur eine Chance, und die bestand darin, sich mit der Schiffspositronik zu verbünden. Selbst wenn es bedeutete, dass er den Arkoniden und den widerlichen Clanführer dafür opfern musste. Anfangs waren sie kaum zu hören gewesen, doch dann wurden die grollenden Geräusche immer lauter. Sie näherten sich zielstrebig einem Bereich, in dem gewaltige Maschinen arbeiteten und dabei einen Höllenlärm erzeugten. Der Robot an der Spitze der schwankenden Truppe stieß laut scheppernd gegen die Wand. Er prallte von ihr zurück, pendelte im rechten Winkel zur Seite und stapfte, ohne weitere Irritation zu zeigen, weiter. Die Verwirrung setzte sich stattdessen in Zamptasch fort, denn die Wand, gegen die der Roboter geknallt war, hatte sich wenige Sekunden zuvor nicht dort befunden, wo sie ihnen jetzt den Weg versperrte. Nach einigen hundert Metern, währenddessen die Lautstärke weiter zunahm, sah der alte Jucla die Ursache des Lärms. Nach seiner unbeholfenen Annahme musste sie sich tief im Inneren des Schiffes befinden. Hier wurde mit Hochdruck gearbeitet. Der Gang verengte sich an dieser Stelle auf einen schmalen Pfad, den sie nur hintereinander entlanglaufen konnten. Trotz ihres gefährlich anmutenden Torkelns stürzte keiner der Roboter in den mindestens zweihundert
Luc Bahl Meter tiefen Abgrund, der sich seitlich dieses Pfads befand. Zamptasch stockte der Atem, und er wagte kaum, den gewaltigen Hohlraum näher in Augenschein zu nehmen. Das Loch wirkte kreisrund, war wie ausgestanzt und erstreckte sich nicht nur einige hundert Meter in die Tiefe, sondern ebenso hoch in die Höhe. Sein Durchmesser betrug etwa fünfhundert Meter, eine Entfernung, die die gegenüberliegenden Ebenen, Etagen, Gänge, die ringsherum überall ins Leere mündeten, winzig klein erscheinen ließ. Gewaltige, unförmige Apparaturen krochen an allen Stellen der wie ausgefräst wirkenden Seite des riesigen Lochs herum. Überall sprühten die Metall verarbeitenden Geräte. Überall wurde genietet, gesägt, gestanzt und geschweißt. Gleißende Scheinwerferbündel fokussierten sich auf die Einsatzorte der Apparaturen. Zamptasch kam sich angesichts der enormen Ausmaße der schiffsinternen Baustelle wie ein winziges Insekt vor, und auch die unkoordinierte Robotereinheit, die ihn eskortierte, wirkte an diesem Ort nebensächlich. Trotz dieses Eindrucks bestärkte ihn der Anblick, der sich ihm bot, darin, dass seine Entscheidung richtig gewesen war. Der gewaltige Hohlraum, an und in dem hier gearbeitet wurde, verdeutlichte ihm noch einmal nicht nur die Ausmaße des Schiffes, sondern auch die enorme Rechenleistung der Positronik, die parallel zu den Vorgängen außerhalb des Schiffs – wie den Kampf gegen die Takerer – diesen und zahllose andere Prozesse gleichzeitig steuerte. Und ganz nebenbei musste sie sich auch noch um das Problem der Eindringlinge kümmern. Der alte, erschöpfte Jucla war überzeugt, sich auf die richtige Seite geschlagen zu haben. Eine Frage stellte sich Zamptasch allerdings nicht: Warum arbeitete hier eine ganze Armee schweren Geräts? Welche Absicht verfolgte MITYQINN mit dieser aufwändigen Maßnahme? Handelte es sich um notwendige Reparaturarbeiten?
Ein Zentralgehirn in Not Wie auf einem Trampelpfad im Hochgebirge oder entlang einer schroffen Steilküste bewegten sie sich immer weiter vorwärts. Vorsichtig versuchte Zamptasch an den vor ihm entlangbalancierenden Robotern vorbeizuschauen, um zu sehen, wo dieser Engpass endete, konnte aber nichts erkennen. Er hoffte inständig, den Abgrund bald hinter sich lassen zu können. Tatsächlich stieß der Pfad wenig später auf eine für dieses Schiff niedrige Kammer, von der einige Schotten abgingen. Anstatt aber eine dieser Türen zu öffnen, warteten sie, bis der Letzte des Robottrupps eingetroffen war. Als die Maschine, die das Kommando anführte, einen ihrer beiden Arme senkrecht nach oben hob und sich die Metallhand um ein dünnes Drahtseil schloss, schrie Zamptasch erstickt auf. Wie erwartet wurde sein Protest ignoriert, stattdessen fühlte er sich auf einmal von den Metallfäusten zweier Robots unter den Achseln gepackt und schwebte in der Luft. Die freien Hände krallten sich um das Seil, und ehe er sich's versah, raste er mit zappelnden Beinen in die Tiefe. Das Drahtseil führte schräg nach unten und überquerte dabei die gesamte Breite des Lochs. Während der Fahrtwind heftig durch sein schütteres Haar und die buschigen Augenbrauen fuhr, hoffte Zamptasch inständig, dass die beiden Roboter, die ihn mit eisernem Griff festhielten, nicht plötzlich wegen eines Systemfehlers losließen. Mindestens hundert Meter unter ihm quollen mächtige Dampfwolken aus einigen der gewaltigen Maschinen hervor, die mit Hochdruckreinigern arbeiteten. Die Wolken versperrten ihm zwar die Sicht auf das untere Ende des Lochs, aber zwischen den Schwaden bildeten sich kleine Lücken, die ihm eine Ahnung davon vermittelten, wie tief es hier runterging. Ein stechender Geruch veranlasste ihn, seinen Kopf in den Nacken zu werfen. Was er unmittelbar über sich sah, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. Die Metallklauen der beiden Roboter, mit denen sie sich um
23 das Drahtseil geklinkt hatten, glühten bereits. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie durchgeschmolzen wären. Jetzt schrie er in gellender Lautstärke, die allerdings auch nicht ansatzweise dazu ausreichte, das Getöse rings um ihn herum zu übertönen. Ein einfacher mechanischer Fehler sollte ihn das Leben kosten, kein Systemausfall. Kaum hatte er begonnen zu schreien, ließ ihn der hintere Roboter los. Zamptasch prallte gegen den Metallkörper des vorderen, des einzigen, der ihn noch hielt. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Roboter, der ihn losgelassen hatte, mit dem zweiten Arm nach oben griff. Kaum hatte die Hand sich um den Draht geschlossen, öffnete er die rot glühende Faust, um sie im Fahrtwind abzukühlen. Der hintere Roboter rutschte jetzt mit einem heftigen Ruck direkt auf ihn drauf, so dass er nun zwischen den beiden Maschinen eingeklemmt war. Zamptasch spürte die Hitze der glühenden Faust in seinem Rücken und hob unwillkürlich den Arm. Das Handgestänge des Robots fuhr unter seiner Achsel durch und winkelte sich vor ihm wie ein Haken nach oben ab. Die immer noch dunkelrot glühende Metallfaust befand sich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er spürte, wie die Hitze des glühenden Materials seine Haut zu verbrennen drohte. In diesem Moment ließ ihn der vordere Roboter los. Unwillkürlich kippte Zamptasch zur Seite, aber der angewinkelte Arm des hinteren Roboters, in dem er jetzt hing, hielt sein Gewicht. Allerdings war der vordere Roboter mit seinem Handwechselmanöver um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Gerade als sich die Finger seiner anderen Hand um den Draht schließen wollten, hatte sich das Material durch das hell glühende Metall gearbeitet, und der Roboter stürzte in den Abgrund. Zamptasch kam nicht dazu, sich über diesen Vorfall sonderlich aufzuregen, da landeten sie bereits in einer großen, zum Abgrund hin offenen Halle. Erst jetzt fiel ihm auf,
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Luc Bahl
dass er seinen langjährigen Begleiter, seinen knorrigen Stock mit dem hohlen Knauf, auf der anderen Seite und etliche Ebenen über ihnen zurückgelassen hatte …
* Es stellte sich heraus, dass die rasende Fahrt über den Abgrund an einem schwankenden, dünnen Seil tatsächlich der kürzeste Weg gewesen war. Nach wenigen hundert Metern und nachdem sie mehrere dicke Schotten durchquert hatten, die sich mit sattem Schmatzen hinter ihnen schlossen und den infernalischen Lärm der riesigen Baustelle aussperrten, stand Zamptasch vor dem Gehirn von MITYQINN. Er hatte sich die Zentrale spektakulärer vorgestellt. Stattdessen handelte es sich um einen engen, schmucklosen Raum, sehr hoch wie alle Räume, die er bisher gesehen hatte. Zahlreiche Kabelstränge verliefen kreuz und quer über den Boden. Zwischen ölig glänzenden Lachen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, ging Zamptasch vorsichtig auf eine quecksilberartige, schimmernde Flüssigkeit zu, die ihm den restlichen Weg versperrte. Er kniete nieder, um sein Spielbild zu betrachten. Unwillkürlich erschrak er. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er wusste, dass er auch für JuclaVerhältnisse und angesichts seiner unheilbaren Krankheit ein uralter Mann war. Und er wusste, wie er normalerweise aussah. Nämlich wie ein dreißigjähriger Greis. Aber das, was er in der spiegelnden Lache für einen kurzen Augenblick zu Gesicht bekam, schockierte ihn doch. Er registrierte nicht die verzerrende Wiedergabe. Sah nur die spitzen Wangenkochen, die unnatürlich hervorstachen. Augen, die fast im Schädel verschwanden. Das gelbgraue Gesicht von roten Flecken übersät. Er blickte in eine Fratze, mehr tot als lebendig. Er ahnte in diesem Moment, als er sich selbst sah, dass er von den kurzen, optimistischen Gedanken, die ihm während ihrer Odyssee zum Zentralgehirn immer wieder
durch den Kopf geschossen waren, nicht mehr viele würde verwirklichen können. Dennoch wollte er sein Ziel unbeirrt weiterverfolgen. Alles Zukünftige schob er entschlossen zur Seite. Die vagen Möglichkeiten, die sich ihm eventuell bieten würden, wenn es ihm gelingen sollte, MITYQINN nicht nur von seinen Angaben zu überzeugen, sondern auch zu beherrschen und von ihm und seinen Befehlen abhängig zu machen … Dankbar setzte er sich auf die von einem der Roboter herbeigeschobene Metallkiste. »Warum«, ertönte unvermittelt eine kalte, androgyne Stimme, die offensichtlich aus einem schrankgroßen Kasten drang, »sind deine Begleiter Verräter?« Das also war MITYQINN. Ebenso wie der Raum, in dem sich die Positronik wenige Meter hinter der Lache befand, war auch der Kasten selbst wenig beeindruckend. Aber Zamptasch wusste, dass es darauf nicht ankam. Einer Positronik war eine repräsentative Umgebung völlig gleichgültig. Ihre Fähigkeiten und ihre Macht äußerten sich nur in dem, was sie tat, was sie bewirkte. »Ich wurde auf Eptascyn, so nennen wir den Mond, auf dem auch du dich unterhalb des Ringgebirges so lange verborgen hattest, von Atlan und Abenwosch gefangen genommen«, sagte Zamptasch. »Welchen Grund hatten die beiden denn, dich gefangen zu nehmen?« »Ich stieß zufällig auf ihre wahre Identität«, antwortete der alte Jucla. »Aber leider bemerkten sie mich, als ich eines ihrer Gespräche mitbekam. Und sie wussten, dass ich Dinge gehört hatte, die sie unter allen Umständen geheim halten mussten …« »Präzisiere das …«, forderte MITYQINN Zamptasch auf. »Atlan und Abenwosch haben in ihrem Gespräch zu erkennen gegeben, dass sie als Geheimagenten für die Takerer arbeiten …«, antwortete Zamptasch beflissen. »Ich verlange weitere Präzisierung!« »Sie arbeiten für die Takerer, deren Ziel
Ein Zentralgehirn in Not es ist, unser Volk, die Juclas, zu vernichten!« Leise Verzweiflung mischte sich in Zamptaschs Rede. War seine fix zusammengezimmerte Geschichte wirklich stichhaltig genug, um MITYQINN zu überzeugen?. »Warum sollte ich mich in eine Auseinandersetzung einmischen, mit der ich nichts zu schaffen habe?«, fragte die Positronik. »Das stimmt nicht«, antwortete Zamptasch und lächelte verschmitzt. »Wir, die Juclas, sind Ovarons Verbündete und unseren ganjasischen Freunden verpflichtet. Auf welcher Seite die Takerer stehen, weißt du selbst … Du hast ihre Schiffe schließlich schon erfolgreich bekämpft.« »Das klingt logisch«, erwiderte MITYQINN. Zamptasch jubelte innerlich. »Eine Frage aber habe ich noch, Zamptasch …« Es war das erste Mal, dass ihn die Positronik beim Namen nannte. Ein wichtiges Indiz, das dem Alten zeigte, dass er endlich von ihr akzeptiert und als Verbündeter betrachtet wurde. »Ich werde mein Bestes geben, um sie zu beantworten«, sagte Zamptasch mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein. »Wo befinden sich die Klippen der Zeit auf dem Weg in die Unendlichkeit?« Zamptasch starrte den gesichtslosen Kasten der Positronik mit vor Erstaunen weit aufgerissenem Mund an. »Da – äh … muss ich leider passen.« »Das ist sehr bedauerlich«, sagte die Positronik.
15. Atlan Kurz nachdem die Robotkohorte Zamptasch abgeholt hatte, verließ auch Florymonthis unser Quartier. Sie ließ uns ratlos zurück. »Er ist freiwillig mitgegangen«, mutmaßte Abenwosch, den die Ereignisse ebenso verblüfft hatten wie mich. »Ich hatte auch den Eindruck«, erwiderte ich, »und ich befürchte, dass sich da eine höchst unangenehme Entwicklung anbahnt
25 …« Gleichzeitig machte ich mir aber auch Gedanken über Florymonthis. Obwohl mein Extrasinn die Avancen der wuchtigen Roboterlady mir gegenüber mit unverhohlener Schadenfreude quittierte, konnte ich selbst darüber kaum noch schmunzeln. Ich erinnerte mich an ihren Bruder Florymonth, der im Jahr 3438 alter Zeitrechnung in die MARCO POLO eingedrungen war – übrigens mit etwas einem Fiktivtransmitter Vergleichbarem, über das Florymonthis offensichtlich nicht verfügte. Die – gelinde gesagt – Verärgerung, die sein einnehmendes Wesen unter nahezu allen Besatzungsmitgliedern damals ausgelöst hatte, war mir so präsent, als hätten sich die Vorfälle erst gestern ereignet. Nur Perry Rhodan hatte seinerzeit ruhig die Entwicklung abgewartet und die notwendige Geduld im Umgang mit diesem Wesen bewiesen. Im Gegensatz zum extrovertiert agierenden Florymonth war sein weibliches Gegenstück diskreter. Aber nicht weniger verrückt, um es mal auf den Punkt zu bringen. Selbst wenn man von der bizarren Zuneigung absah, die die Robotlady für mich an den Tag legte. Hatte sich Florymonth seinerzeit an allen Ecken und Enden der MARCO POLO bedient und ohne Rücksicht jedes Instrument vereinnahmt, von dem er glaubte, es zu benötigen, reagierte Florymonthis diesbezüglich regelrecht verschämt. Aber auch sie schien noch nicht fertig zu sein und bestimmte Geräte zu benötigen. Auf dem Weg zu unserem derzeitigen Quartier hatte sie einige Male angehalten, hatte uns gebeten, einen Moment zu warten, und war kurz verschwunden. Meist entfernte sie sich nicht sehr weit. Die Geräusche, die dann zu hören waren, belehrten mich eines Besseren. Es klang, als zerkaue, zerbeiße und zerfetze jemand Metall, so, wie andere Leute Papier zerknüllen oder zerreißen. Anders als bei Florymonth hatte ich bei ihr noch nicht beobachten können, dass sie nach Belieben ihre Körpergröße verändern konnte. Keine Sorge, sie arbeitet daran, höhnte
26 mein Extrasinn. Schließlich will sie, dass ihr zusammenpasst … Ob Florymonthis die Fundstücke ähnlich in sich aufnahm wie seinerzeit Florymonth, der problemlos ganze Maschinenteile zwischen seinen Hautlappen verschwinden ließ, weiß ich nicht. Sie bewahrte in diesem Punkt eine schon fast zwanghafte Diskretion. Ich vermutete allerdings, dass sie hier etwas anders konstruiert war, da ihre Haut zwar ähnlich grün gefärbt war wie die Florymonths, aber viel straffer über ihrem Korpus saß. Als sie uns kurz nach Zamptaschs besorgniserregendem Abgang ebenfalls verließ, sagte sie: »Ich bin bald wieder zurück, schöner Mann. Ich muss nur rasch etwas besorgen. Keine Sorge, ich lasse dich nicht lange allein …« Sie hielt Wort. Es war keine halbe Stunde vergangen, da betrat sie wieder unser Quartier. Das ist für einen Einkaufsbummel in der Tat eine bemerkenswert kurze Zeit …, weckte mich mein Extrasinn. Wir schraken hoch. Abenwosch war ebenso wie ich angesichts der endlosen Strapazen eingenickt. Ohne es zu wollen und ohne es abzusprechen oder gar eine Wache einzuteilen. Irgendetwas war in der Zwischenzeit geschehen. Florymonthis wirkte sichtlich aufgeregt. Ihre Tentakel mit den Augenbällen kreisten unablässig um sie herum und verbargen kaum ein unablässiges, leichtes Zittern. »Kommt! Kommt schnell!«, rief sie mit deutlich höherer Stimme als zuvor. »Ihr seid in Gefahr!« Sie winkte hektisch mit einem der Arme, die – wie ich wusste – ein stattliches Waffenarsenal in sich bargen. Abenwosch und ich erhoben uns gähnend und streckend von den staubigen Liegen, auf denen wir eingenickt waren. Ich nickte dem ebenso kleinen wie zähen Clanführer zu. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, folgten wir Florymonthis. »Schnell, schnell!«, schrie sie und zerrte Abenwosch mit einem entschlossenen Griff
Luc Bahl um eine Gangbiegung. In diesem Moment hörten wir das schrille Pfeifen, das rasch unerträglich laut wurde. In einer mit zahllosen Bauteilen, Platinen und Gussformen angefüllten Halle, die direkt an unser ehemaliges Quartier grenzte, öffnete Florymonthis mit geschickten Handgriffen ihrer sich zu Universalwerkzeugen formenden Hände eine Bodenplatte und stopfte uns ohne Umstände in den Hohlraum darunter. Die Platte schob sich halb darüber, und den Geräuschen konnte ich entnehmen, dass sie sich darauf setzte. Ein leises Surren mischte sich unter das Pfeifen. »Ein kleiner Bildschirm«, zischte Abenwosch. Durch den noch offenen Spalt hatte Florymonthis, bevor sie sich endgültig in einen Stand-by-Modus versetzte, ein kleines Kommunikationsgerät herabgelassen, das uns erlaubte, die Ereignisse aus ihrer Sicht mitzuerleben. Trotz des winzigen Monitors war das Bild zweigeteilt. Jede Hälfte zeigte den Sichtbereich eines ihrer Augenbälle, die jetzt bewegungslos einen Teil der Lagerhalle und ein Stück des Gangs wiedergaben. Atemlos beobachteten wir eine gespenstische Szenerie. Anfangs lagen Gang und Halle im üblichen Halbdunkel, das auf dem Schiff herrschte. Dann steigerte sich erneut das Pfeifen, und ein schrilles Kreischen mischte sich unter die ohnehin unerträgliche Geräuschkulisse. Gleichzeitig begannen grelle Lichtblitze durch den Gang zu zucken, die sich mit einem wellenartigen Pulsieren in Blau- und Rottönen abwechselten. Schließlich – wir pressten längst beide Hände auf die Ohren – schossen mit rasender Geschwindigkeit rotierende Scheiben aus dem Gang in die Lagerhalle. Sie waren nur ein, zwei Millimeter dick, besaßen einen Durchmesser von vielleicht einem halben Meter und wiesen wie Sägeblätter rasiermesserscharfe Spitzen an den Rändern auf, aus denen Lichtblitze hervorschossen. Die Blitze sind harmlos, analysierte mein Extrasinn trocken. Sie scannen nur die Umgebung … Gefährlich sind die wellenförmi-
Ein Zentralgehirn in Not gen Impulse, die sich regelmäßig um die Scheiben ausdehnen. »Ihre Frequenz ist in der Lage, unvorstellbare Schäden im Nervensystem zu verursachen …«, ergänzte ich leise. Aber bei dem Lärm hätte ich mich, selbst wenn ich geschrien hätte, kaum selber verstanden. Dennoch nickte Abenwosch und hielt sich weiter die Ohren zu. Er hatte die Bedeutung dessen, was ich gemurmelt hatte, von meinen Lippen abgelesen. Die fliegenden Sägeblätter waren ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Aber sie blieben unüberhörbar in der unmittelbaren Nähe. Offensichtlich erfüllte das einfache Versteck, in dem uns Florymonthis vor ihnen verborgen hielt, seinen Zweck. Von unserer unbequemen Position aus war nicht ersichtlich, ob sie vielleicht einen Schutzschirm um sich errichtet hatte. Sollte dies der Fall sein, taugte er jedenfalls nicht gegen den infernalischen Lärm. Das unangenehme Geräusch war jetzt auch deutlich aus den Räumlichkeiten zu hören, in denen wir uns vorhin noch friedlich schlummernd aufgehalten hatten. Es vergingen quälend lange Minuten, die wir in schmerzhafter Verkrümmung verbrachten. Und ich schalt mich einen naiven Idioten. Da auch der Bodenraum, in den wir uns gezwängt hatten, mit Rohren, Gerümpel und Kabelsträngen voll gestopft war, hatte uns Florymonthis zur Bewegungslosigkeit verdammt. Ihr tonnenschwerer Körper saß quasi direkt auf uns. Hoffentlich hat sich die Dame nicht endgültig und für alle Zeiten abgeschaltet, schoss es mir siedend heiß durch den Kopf. Narr!, erwiderte der Logiksektor. Wie könnte dann noch die Bildübertragung funktionieren, die sie euch zuspielt … Selber Narr, schimpfte ich in Gedanken zurück. Wer weiß, ob sie aus ihrem Standby-Modus wieder hochfahren kann – und falls ja … wann? Es gab keine Chance die schwere Lady anzuheben und zur Seite zu kippen, sollte
27 meine Befürchtung zutreffen. Dazu waren auch Abenwosch und ich mit vereinten Kräften und sämtlichen Reserven, die der Zellaktivator würde mobilisieren können, nicht in der Lage. Doch momentan war dies ohnehin nur das müßige Gedankenspiel eines zur Untätigkeit Verdammten. »Diese Höllenscheiben halten sich ganz schön lang auf«, fluchte Abenwosch. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte – und hörte ihn. Wenn auch so, wie man unter Wasser hört, undeutlich, dumpf und entfernungslos. Diese Worte hatte ich eindeutig verstanden, nicht wie er bei mir von den Lippen abgelesen. Die enervierende Lärmquelle der fliegenden, rotierenden Sägescheiben wurde langsam, aber stetig leiser. Sie entfernten sich. Ich griff nach seinem Arm und drückte ihn. Er nickte. Auch er hatte verstanden, dass es schien, als ob sich die Gefahr verzöge. Vielleicht war es aber auch nur eine Falle. Hoffentlich gab es keine Nachhut, die auf das Aufspüren derartiger verräterischer Geräusche programmiert war. Meine Befürchtung in Bezug auf Florymonthis erwies sich zum Glück als gegenstandslos. Zuerst zog sie den kleinen Bildschirm hoch, dann öffnete sich die Klappe. »Komm heraus, schöner Mann«, flötete sie mit ihrer üblichen tiefen Stimme. »Und auch du, treuer Diener deines Herrn …« »Moment mal!«, brauste Abenwosch auf. »Ich bin nicht … ich denke noch nicht einmal daran …« Er stammelte sichtlich fassungslos ob der von Florymonthis geäußerten Unverschämtheit vor sich hin. Sein schmales Gesicht hatte sich puterrot verfärbt. Ein Zorn, dem er keine Luft machen konnte. Ich sah, dass ihm genau das bewusst war, und versuchte ihn mit beruhigenden Gesten zu besänftigen. »Schöne Frau«, sagte ich, »Abenwosch-Pecayl 966. ist kein Diener, weder von mir noch von jemand anderem. Im Gegenteil, er ist der stolze Herrscher über seinen Clan. Ich bitte dich, das zukünftig zu berücksichtigen …«
28 Ich sah, dass die Worte die erhoffte Wirkung auf den heißblütigen Jucla hatten, für den ich sie eigentlich ausgesprochen hatte. Florymonthis geriet nun aber sichtlich außer Fassung. »Ich bin harmlos«, rief sie mit einem hysterischen Unterton, der mir nur zu gut erinnerlich war. »Ich bin Ärztin auf einem Sumpfplaneten und helfe armen Wurzeln. Ihr dürft mir nichts tun!« Während aus ihren Augen tatsächlich Tropfen einer undefinierbaren Flüssigkeit spritzten, wie die auf Bestellung erzeugten Tränen eines trotzigen Kiemkinds, handelte der Rest von ihr nach einem anderen Programm. An jener Stelle ihres Körpers, an der man bei einem humanoiden Wesen den Magen vermuten würde, leuchtete auf einmal ein kleiner roter Punkt auf, der rasch heller wurde. Die Färbung wechselte zu einem Gelbton, und aus dem Punkt wurde eine ovale Fläche. In drei, vier ruckartigen Schritten wuchs diese glühende Fläche an. Sie strahlte jetzt mit flirrender Helligkeit. Florymonthis tauchte einen ihrer Arme in das Feld und zerrte mit vernehmlichem, grummelndem Ächzen eine Reihe von Gegenständen aus dem Inneren ihres Körper hervor und ließ sie vor uns auf den Boden fallen. Neben Strahlenwaffen bestand die plötzlich hervorgezogene Ausrüstung aus zwei Multifunktions-Schutzanzügen, die mit Antigrav, Defensivschirm, Sauerstoffversorgung, Funk und weiteren Extras ausgestattet waren. Sie wirkten zwar ziemlich altmodisch und entsprachen – wie auch der Rest des Schiffes – nicht gerade neuester Technologie: Wie sollten sie auch – Hauptsache, sie waren einsatzbereit. Ein flacher Tornister auf dem Rücken enthielt Sauerstoff, so dass der Anzug unter Umständen für kurze Zeit sogar weltraumtauglich war. Womöglich würde sich das noch als lebensrettend erweisen. Ohne ein Wort zu verlieren, streifte sich Abenwosch bereits den kleineren der beiden
Luc Bahl Anzüge über und machte sich mit den verschiedenen Funktionen vertraut. Einer der Strahler baumelte an seinem Gürtel. Ich hatte etwas größere Probleme, in den Anzug zu kommen, da er ein gutes Stück zu klein war; dennoch gelang es mir schließlich, mich hineinzuzwängen, obwohl er an allen Ecken und Enden, vor allem im Schritt, ziemlich kniff. In der Zwischenzeit informierte uns Florymonthis über den aktuellen Stand der Dinge. »Es ist mir gelungen, mich unbemerkt in einige der internen Funksprüche zwischen MITYQINN und diversen Vasallen einzuklinken«, brüllte sie. »Das Robothirn des Schiffes funktioniert nur noch sehr eingeschränkt. Es hat eine eigene Philosophie entwickelt. Nicht nur des Denkens, sondern vor allem auch des Handelns. Die Befehle, die es erteilt, werden das Schiff letztlich ins Verderben stürzen.« »Und was können wir dagegen unternehmen?«, fragte ich. »Wir müssen ein schlafendes System wecken«, antwortete Florymonthis. »Was für ein System?«, wollte Abenwosch wissen. »Es ist der Schlafende Zwilling von MITYQINNs Positronik«, erwiderte Florymonthis. »Ein mit dem derzeit tätigen Robothirn identisches Backup-System …«, sagte ich. »Wir müssen den Schlafenden Zwilling finden. Und zwar so schnell wie möglich!« Ich spürte schmerzhaften Zweifel in mir aufkeimen, wenn ich mir die gigantische Größe des Schiffes vor Augen hielt. Selbst mit Hilfe der Schutzanzüge würden wir uns einen Wolf suchen. Selbst wenn Zamptasch noch bei uns gewesen wäre und wir getrennt voneinander, was in jedem Fall unklug wäre, das Zweitsystem systematisch suchen würden, wären wir wochen-, möglicherweise monatelang unterwegs. »Weißt du, wo sich MITYQINN und das Backup-System befinden?«, fragte ich. »Nicht genau«, erwiderte Florymonthis.
Ein Zentralgehirn in Not »Leider verlegt die zentrale Positronik immer wieder ihren Platz, lässt sich von ihren Dienern mal hierhin, mal dorthin tragen und installieren. Natürlich ist dies wegen der zahlreichen Kabel nur in einem begrenzten Radius möglich und geht nur sehr langsam vonstatten …« »Wie auch immer«, sagte ich und unterdrückte einen Fluch. »Wir müssen den derzeitigen Aufenthaltsort der Positronik und ihres Zwillings finden. Koste es, was es wolle. Und du, Florymonthis, wirst uns führen. Immerhin weißt du die ungefähre Richtung!« »Du kannst die Dinge so wunderschön formulieren und auf den Punkt bringen. Ich werde euch mit Freuden führen, denn um den Zwilling zu wecken und die jetzige Positronik stillzulegen, bin ich unabdingbar auf deine Hilfe angewiesen, schöner Mann …«, brummelte die Robotdame und rückte ein Stück näher zu mir heran. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, was für eine Hilfe sie von mir erwartete. Doch bevor ich dazu kam, sie danach zu fragen, und bevor sie mir zu sehr auf die Pelle rücken konnte, rumpelte ein Kettenfahrzeug in den Lagerraum. Es sah entfernt aus wie ein archaischer Panzer aus dem Ersten Weltkrieg, der vor langer Zeit über mein terranisches Exil hinweggefegt war. In einem Punkt allerdings unterschied sich die unheimliche Maschine von den Tanks auf den europäischen Schlachtfeldern. Statt einer Kanone, die Explosivgeschosse abfeuern konnte, schwenkten die Abstrahlläufe mehrerer schwerer Strahler in unsere Richtung und begannen ohne Vorwarnung zu feuern.
16. Zamptasch Nach einer Pause, die Zamptasch länger vorkam, als sie tatsächlich war, beendete das Zentralgehirn seine Befragung. »MITYQINN ist von der Richtigkeit deiner Angaben überzeugt«, dröhnte es unterkühlt aus dem Kasten. »Ein unabhängiger
29 Vasall namens Florymonthis hat sich auf die Seite von Atlan und Abenwosch-Pecayl 966. geschlagen …« »Ich kenne den verräterischen Vasallen«, sagte Zamptasch und jubilierte innerlich. »Ich kann dich nur noch einmal dringend ersuchen, Atlan und Abenwosch schnellstmöglich einzufangen und unverzüglich hinzurichten!« »Eine entsprechende Anweisung ist bereits an alle Einheiten hinausgegangen. Die Verräter können der Übermacht meiner Vasallen nicht entrinnen.« Zamptasch versuchte, sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen. Wenn er seinen Plan bis zu diesem entscheidenden Punkt hatte verwirklichen können, sollte der Rest ein Kinderspiel sein. Gegen die Übermacht an Robotern, von der er bereits auf dem Weg zum Standort der Positronik einen Eindruck gewonnen hatte, besaßen seine beiden Exgefährten nicht die geringste Chance. Auch dann nicht, wenn diese verrückte Florymonthis auf ihrer Seite stand. »Sobald das Problem Atlan und Abenwosch beseitigt ist«, sagte Zamptasch, »biete ich an, zwischen dir und den JuclaSchiffen zu vermitteln. Ihr habt einen gemeinsamen Gegner, weshalb ihr nicht nur eine strategische, sondern eine dauerhafte Allianz eingehen solltet …« Die Positronik schwieg. War sie mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie seinen Vorschlag gar nicht wahrgenommen hatte?, überlegte Zamptasch. Er musste aus diesem zwar machtvollen, aber schrecklichen Sammler raus, und zwar so schnell wie möglich. Trotzdem war es für ihn unvorstellbar, MITYQINN sofort darum zu bitten, ihn mittels eines Beiboots auszuschleusen. Erst musste er Gewissheit darüber bekommen, dass die beiden Zeugen seines Verrats den Tod fanden und keine Gefahr mehr für ihn darstellten. Und dann – fast noch wichtiger und trotz seiner nur noch geringen Lebenserwartung – war Zamptasch immer noch bis in die kleinste Faser ein waschechter Jucla. Das bedeutete, dass er eine Waffe mit schier
30 unermesslichen Möglichkeiten erst mit seinem letzten Atemzug aus der Hand geben würde, und nichts anderes als eine Waffe war in seinen Augen der Sammler MITYQINN. »Das kann ich vorerst akzeptieren«, meldete sich die Positronik erneut. »Aber du hast es selbst betont, zuerst müssen die Verräter vernichtet werden, und wie, ich gerade erfahre, ist es ihnen mittlerweile schon einige Male gelungen, meinen Vasallen zu entkommen …« »Ich kenne sie besser als du«, erwiderte Zamptasch rasch. »Ich kann dir helfen, sie zu stellen …« »Dann sag mir, was du in diesem Fall gemacht hättest«, sagte die Positronik. Zeitgleich flammte ein Bildschirm an der Wand auf. Aus mehreren beweglichen Perspektiven, die von verschiedenen Vasallen aufgezeichnet wurden, war das Eindringen eines panzerartigen Kettenfahrzeugs in einen Lagerraum zu sehen. Auch das Fahrzeug selbst übertrug Bilder aus seinem Sichtbereich. Mit Erstaunen registrierte Zamptasch, dass Atlan und Abenwosch mittlerweile in Schutzanzügen steckten und bewaffnet waren. Der ersten noch überraschenden Serie an Strahlerschüssen entgingen sie nur durch Glück, weil sich zwischen ihnen und den Vasallen ein meterhoher Schrotthaufen befand, hinter den sie sich fallen ließen. Er registrierte, dass die Schüsse wohl dosiert abgefeuert wurden und auf eine exakt kalkulierte Reichweite eingestellt waren, um weiter hinter Atlan und Abenwosch befindliche Gegenstände oder Zwischenwände nicht zu beschädigen. Nach kurzer Zeit sah Zamptasch auf dem Monitor, wie Abenwosch seine Deckung blitzartig verließ. Er hatte mittlerweile seinen Schutzschirm aktiviert. Die Kürze der Zeit reichte dem Vasallen, um ihn mit einem gut gezielten Schuss zu erwischen. Der Schirm allerdings fing die abgestrahlte Energie mit einem Funkenblitzen auf. Trotzdem wurde der Clanführer quer durch den Raum geschleudert. Hier verschwand er hinter ei-
Luc Bahl ner weiteren Schrottbarriere. Diese wenigen Momente hatten ausgereicht, um Atlan zu erlauben, unbemerkt die Deckung zu verlassen. Mittels Antigrav schoss er bis unmittelbar unter die gewölbeartige hohe Decke des Raumes. Ab hier hatten ihn nur noch die Kameras einiger kleiner Begleitvasallen im Visier, deren Bewaffnung nicht ausreichte, um Atlans Schutzschirm wirklich gefährlich zu werden. Der Panzer drehte sich jetzt im Kreis, bekam aber kein Ziel mehr erfasst, da der Schwenkbereich seiner Strahlerkanonen in der Höhe eingeschränkt war. Eine kurze Verwirrung, die auch Abenwosch genutzt hatte, mittels Antigrav unterhalb der Decke entlangzufliegen. Er und Atlan schwebten jetzt unmittelbar über der Maschine und setzten gemeinsam ihre Strahler ein. Der punktgenaue Beschuss einer Versorgungsleitung brachte das stählerne Monstrum schließlich abrupt zum Stehen. Kleine Schmauchwölkchen, die sich von den Mündungen der Strahlerkanonen des Panzers lösten, zeigten deutlich, dass das Gerät von einer Sekunde auf die andere aufgehört hatte zu funktionieren. Wenn es niemand beiseite räumte, würde es als eines von unzähligen weiteren Schrottteilen an der Stelle vor sich hin gammeln, wo es zum Stillstand gekommen war. »Sie sind Lebewesen«, kommentierte Zamptasch die Vorgänge und präzisierte: »Atlan und Abenwosch sind biologische Wesen. Ihr Denken und Handeln funktioniert anders als das von Maschinen.« »Eine bedenkenswerte Ansicht«, sagte die Positronik. »Erzähl mir mehr darüber …« »Gerne«, erwiderte Zamptasch eifrig, »aber um die richtigen Schlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen, müssen wir sie noch eine Zeit lang beobachten. Biologische Lebewesen verhalten sich nämlich besonders in solchen Situationen gerne völlig irrational. Ihre Taktik bezieht ihre Ängste mit in ihre Handlungen ein. Deshalb reagieren sie oft völlig unerwartet …« »Interessant«, sagte die Positronik.
Ein Zentralgehirn in Not »Sprich weiter …«
17. Atlan »Wo ist Florymonthis?«, fragte Abenwosch ächzend. Es war ihm anzusehen, dass ihm die Flucht vor den wild gewordenen Vasallen der Schiffspositronik noch mehr zusetzte als mir. »Ich habe sie gebeten, in anderen Teilen des Schiffes für Unruhe zu sorgen«, antwortete ich. »Getrennt marschieren, vereint zuschlagen …« »Das war keine gute Idee«, erwiderte der Clanführer kopfschüttelnd. »Warum nicht?« »Weil wir bisher fast immer auf ihre Hilfe angewiesen waren – im Kampf gegen die Maschinen …« »Fast …«, betonte ich. »Den Panzer haben wir alleine ausgetrickst. Und mit Hilfe der Schutzanzüge und Strahler sind wir längst nicht mehr so hilflos wie zuvor …« »Das mag ja sein, aber ich würde mich offen gestanden wohler fühlen, wenn die dicke Dame an unserer Seite wäre.« Ich konnte Abenwoschs Bedenken gut nachvollziehen. Aber es gab noch einen weiteren Grund, weshalb ich nach dem Gefecht mit dem Panzer meine Meinung und Taktik geändert hatte. Florymonthis hatte nach kurzer Überlegung meinem Vorschlag, vorläufig getrennte Wege zu gehen, zugestimmt. »Ich überspiele dir eine Wegbeschreibung auf das Navigationssystem deines Schutzanzuges«, sagte sie. »Das ist fast genauso hilfreich, als würde ich euch persönlich führen …« Ich wusste nicht, was der Roboterdame noch alles zu ihrem Glück, besser gesagt, zur Optimierung ihrer Funktion fehlte, aber dass ihr noch einige Teile, wahrscheinlich auch noch positronische Programmelemente fehlten, war offensichtlich. Sie lernte von Stunde zu Stunde hinzu. Die Strahler und Schutzanzüge waren der beste Beweis. Vielleicht – so hoffte ich – kamen noch ein paar
31 Funktionen hinzu, die wir dringend benötigen würden. Ich spekulierte vor allem auf diesen Transmitter, wie ihn damals Florymonth in seinem Bauch »aufbaute« und uns zur Verfügung stellte. Das behielt ich für mich, denn ich wollte Abenwosch keine vage Hoffnung präsentieren. Wir schwebten gerade in etwa drei, vier Metern Höhe durch einen fast unbeleuchteten Gang, als ich den Zeigefinger der rechten Hand auf meine Lippen legte und Abenwoschs Blick mit der linken auf einen schmalen Schacht seitlich von uns wies. Es handelte sich nur um eine knapp einen Meter breite Öffnung, die die Seitenwand des Gangs über die gesamte Höhe teilte. Hier verlor sich auch der letzte Rest des Lichts in undurchdringlicher Schwärze. Meine Warnung kam jedoch den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Schwach glühende Fäden schossen aus dem dunklen Schacht heraus und griffen nach uns. Mir gelang es auszuweichen. Abenwosch hatte weniger Glück. Die dünnen Tentakel, die an die Fäden von Medusen erinnerten, schlangen sich um seine Beine und zogen ihn mit einer unerwarteten Heftigkeit rasend schnell in den Schacht. Der setzte sich auch unterhalb der Bodenebene des Gangs fort, denn der Jucla versuchte noch, sich am Rand festzuklammern. Für einen Moment schien er Halt gefunden zu haben, begann aber im gleichen Moment wie am Spieß zu schreien. Inzwischen feuerte ich mit dem Strahler in die Schwärze hinter ihm. Ich zielte sorgfältig über Abenwosch hinweg, ohne zu wissen, ob und wenn ja, was ich treffen würde. Der Geruch von verschmortem Kunststoff sagte mir, dass das seltsame Ding, das wie lebendig gewirkt hatte, letztlich auch nur eine Maschine war. Ein heftiger Ruck bewegte seinen Körper, und die Kraft seiner Hände, mit denen er sich an der Kante des Gangbodens festhielt, ließ nach. Mit einem schrillen Schrei sackte er nach unten weg und verschwand in der Finsternis.
32 Ohne nachzudenken, flog ich hinterher. Inzwischen hatte ich das Visier meines Schutzanzugs geschlossen. Eine Helmlampe erleuchtete den Schacht. Es war, als würde ich tauchen. Die rein über den Antigrav gesteuerte Fortbewegung ließ mich in den schmalen Schacht gleiten wie einen Tiefseetaucher in eine Unterwasserhöhle. Ich sah ein gutes Stück vor mir einen Ausschnitt von Abenwoschs Schutzanzug aufblitzen und dann sofort wieder in der Dunkelheit verschwinden. Direkt unterhalb des Gangs, den wir entlanggekommen waren, erweiterte sich der Schacht zu einer geräumigen, fast leeren Halle, deren Ausmaße ich auf die Schnelle nur ahnen konnte. Immer wenn der Strahl meines Scheinwerfers eine Säule oder eine Wand traf, konnte ich mich wieder etwas besser orientieren. Außerhalb des Lichtkegels meiner Helmlampe war es stockdunkel. In diesem Moment zuckte in für die Kürze der Zeit erstaunlich weiter Entfernung ein bläuliches Blitzen auf, das von einem Strahlerschuss herrühren musste. »Abenwosch!«, rief ich über die Außenlautsprecher meines Anzugs mit voller Lautstärke. Und bewegte mich mit der größtmöglichen Geschwindigkeit in die Richtung des Lichtblitzes. Ein weiterer Strahlerschuss zeigte mir, dass das seltsame Ding, das Abenwosch in seiner Gewalt hatte, erneut seine Richtung geändert hatte. Ich versuchte abzukürzen, da die Bewegung einem Zickzackkurs entsprach. Schließlich flammte auch die Helmlampe des Juclas auf. Endlich gab es genug Licht, um ordentlich zielen zu können. Im Gleitflug feuerte ich zweimal auf die ineinander verknäulte Masse, die Abenwosch in ruckartigen Bewegungen mit hoher Geschwindigkeit vor sich herschob. Ich sah, dass das künstliche Tentakelwesen mit seinen dünnen Greiffäden Arme und Beine des Juclas fest umklammert hatte, so dass er mit seinem Strahler nur hilflos ins Leere feuern konnte. Trotz mehrfacher Treffer schienen die Schüsse das Wesen kaum zu beeindrucken.
Luc Bahl Doch dann sah ich, dass ich es mit dem Strahlerbeschuss zumindest in eine bestimmte Richtung lenken konnte. Mit einigen wohl platzierten Treffern scheuchte ich es wieder zurück in den Schacht und von dort in den Gang, den wir laut Florymonthis' Beschreibung zu nehmen hatten. Nach weiteren Lenkschüssen hatte ich das Wesen, das im schwachen Licht aussah wie eine fliegende Wollkugel von etwa einem halben Meter Durchmesser, dorthin dirigiert, wo ich es haben wollte. »Abenwosch!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Kommst du an die Bedienung für den Schutzschirm?« »Ich versuch's«, krächzte er mit erstickter Stimme. »Schnell!«, rief ich. »Jetzt!« Während sich der Schutzschirm seines Anzugs aufbaute, stieß ich zwei unterarmdicke blanke Kabelbündel, die aus der Wand ragten, in das Knäuel hinein. Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie standen unter Spannung. Hochspannung. Überschlagsenergie erzeugte mehrere Lichtbögen. Das Ding verbrutzelte vor unseren Augen. Mit einigen zusätzlichen Strahlerschüssen vertrieb ich einige weitere Kleinvasallen, die wie eine Schar Ratten die Flucht ergriffen. Mittlerweile wusste ich, dass diese allgegenwärtige Art von Maschinen keine unmittelbare Gefahr darstellte. Unterschätze diese Dinger nicht, meldete sich der Extrasinn. Wahrscheinlich dienen sie dazu, euch zu beobachten und der Positronik immer euren aktuellen Standort zu übermitteln … »Eine Sekunde früher, und auch ich wäre geröstet worden«, sagte Abenwosch mit belegter Stimme. Mit der einen Hand beschattete er die Augen vor dem grellen Licht, mit der anderen streifte er die Reste der dünnen, aber unwahrscheinlich zähen Fäden von sich ab. »Wenn der Schutzschirm dieses Anzugs nicht ein paar hunderttausend Volt abhält, ist Florymonthis' Arbeit nicht der Rede wert«, erwiderte ich.
Ein Zentralgehirn in Not »Ich wollte damit sagen, dass mein Leben buchstäblich an einem seidenen Faden hing«, grinste er. »Du hast mir das Leben gerettet, Atlan.« Ich winkte ab. Eine zugegeben schwache Geste, die Abenwosch als Verlegenheit falsch interpretierte und daher das Thema wechselte. »Hast du nicht auch den Eindruck, dass die Fallen, die uns die Positronik stellt, immer raffinierter werden?«, fragte er. »Es sieht so aus, als ob der Sammler dazulernte. Oder?« Ich zuckte die Achseln. Insgeheim aber gab ich dem Clanführer Recht und fragte mich, ob etwa der alte Zausel dahintersteckte – Zamptasch, dieser schäumende Greis der Tücke. Wäre er fähig, einen solchen Verrat zu begehen? Aber immer …, antwortete mein Logiksektor …
18. MITYQINN Systemübersicht: 28,1354278653941167496153546577926 46535416663823922318 … Prozent nach Schockstasis. Überschreibe Kontrolle mit selbstreferentiellem Protokoll: BioKomponente erweist sich als sinnvolle Ergänzung im Zusammenhang mit biobasierten Eindringlingen. Deren Eliminierung ist jedoch noch nicht gelungen. Als Problemstellung erkannt: Die verbündete Bio-Komponente reagiert viel zu langsam. Aufgabenstellung besteht in einer Paradoxie-Auflösung. Zielvorgabe ist, die BioKomponente besser in den internen Kommunikationsprozess zu integrieren. Protokollende
19. Zamptasch Es war der Positronik nicht anzumerken, ob sie in ihrer Funktionsweise eine Entsprechung dafür besaß, was für Zamptasch sch-
33 licht und ergreifend ein Ärgernis war. Die neutrale Stimme klang unverändert. Egal ob es einem der zahllosen Vasallen gelang, sich an Atlans und Abenwoschs Fersen zu heften, oder ob es den beiden ehemaligen Gefährten glückte, eine neuerliche Attacke auf ihr Leben abzuwehren. Zamptasch aber konnte seinen Zorn über die Niederlagen der Maschinen, die den Arkoniden und den Clanführer eliminieren sollten, nicht unterdrücken. Lauthals fluchte und schimpfte er, als er auf dem Bildschirm mitverfolgte, wie es Atlan nach zähem Kampf gelang, Abenwosch aus den Fängen eines Vasallen zu befreien, der ihn schon sicher eingefangen hatte. Er regte sich so auf, dass er die Veränderung zuerst überhaupt nicht bemerkte. In dem engen, mit zahllosen Kästen, Regalen und Kabelsträngen voll gestopften Raum drängten sich eine Reihe von Hilfsrobotern, die hektische Aktivitäten entfalteten. Es sah zuerst wie ein harmloser Putztrupp aus, der zu Aufräumarbeiten abkommandiert war. Geräte, die offensichtlich nicht gebraucht wurden, wurden wegtransportiert. Einige Gestelle, in denen Platinen, Messinstrumente und andere Vorrichtungen untergebracht waren, die für das reibungslose Funktionieren der Positronik unverzichtbar waren, wurden – so weit es ging – zur Seite geschoben. Wenn hier und da ein Kabel nicht lang genug war, warteten sie geduldig, bis wenige Minuten später eine entsprechend längere Verbindung aufgetrieben wurde. Anfangs kümmerte sich Zamptasch nicht um diese Aktivitäten. Er wollte auf keinen Fall den Augenblick verpassen, wenn Atlan und Abenwosch wieder in den Aufnahmebereich eines neuen Vasallen gerieten. Doch seit der Vernichtung des knäuelförmigen Roboters blieben die beiden verschwunden. Es war ihnen sehr zu Zamptaschs Ärger gelungen, die Verfolger zumindest vorläufig abzuschütteln. »Das Schiff ist groß und bietet ihnen natürlich zahllose Verstecke«, knurrte er halb-
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laut vor sich hin. »Aber der schieren Übermacht Zigtausender Roboter, die ihnen auf den Fersen sind, können sie auf Dauer nicht entgehen. Sie dürfen ihnen nicht entgehen!« »Zamptasch …?« »Ja …« Erstaunt löste der alte Jucla seinen starren Blick von dem Bildschirm. In dieser vorsichtigen Weise fragend hatte sich die Positronik bisher nicht an ihn gewandt. Täuschte er sich, oder klang die Stimme der Positronik zögerlich? »Wir müssen reden …« Bildete er sich das nur ein, oder schwang in dieser kühlen Stimme eine süffisante Note mit? »Bitte …«, erwiderte Zamptasch verunsichert. In diesem Augenblick sah er die fünf schlanken Roboter. Lebewesen dieser Größe hätte er als hochgewachsen bezeichnet. Sie hatten unmittelbar neben der Positronik einen schmalen, fahrbaren Tisch aus blitzendem Stahl gerollt. »Wir müssen besser miteinander reden«, sagte MITYQINN. Nun hoben sie eine längliche, halb transparente Wanne auf den Tisch, in der eine trübe Flüssigkeit hin und her schwappte. Zamptasch zuckte vor Schreck zusammen, als er den stahlharten Griff spürte, mit dem ihn ein weiterer Roboter am rechten Oberarm packte. Er war unbemerkt von hinten an ihn herangetreten. Ohne Umstände wurde er von seinem Stuhl hochgerissen und nach vorne geschoben. Er sah, dass einer der schlanken Roboter einen kleineren Beistelltisch heranrollte, auf dem zahllose große und kleine Werkzeuge lagen. Bohrer, Sägen, Skalpelle und weitere Geräte, die er in Verbindung mit Chirurgie brachte. Er begriff schlagartig. Und begann lauthals zu schreien …
20. Atlan Nachdem wir die letzten Beobachter-Ratten vernichtet oder vertrieben hatten, sah ich überdeutlich an seinem eine graue Farbe an-
nehmenden Gesicht, dass der junge Clanführer dringend eine Pause benötigte. Und zwar sofort. »Wir bleiben an Ort und Stelle.« »Ist das nicht zu gefährlich?«, keuchte Abenwosch erschöpft. »Natürlich nicht mitten im Gang«, erwiderte ich, »aber wir bleiben hier. Bewegen uns nicht sehr weit fort. Das wird die Positronik am allerwenigsten erwarten. Sie rechnet eher damit, dass wir versuchen werden, uns näher an ihren Standort heranzuarbeiten. Sie weiß schließlich, dass unsere einzige Chance zu überleben darin besteht, sie auszuschalten …« Ich sah mich um. Im Moment waren wir hier tatsächlich völlig ungestört und allein. »Oder«, fuhr ich mit meiner Überlegung fort, »sie zwingt uns mittels ihrer Vasallen zu fliehen. Diese beiden Optionen wird sie bei ihrer Suche nach uns vorrangig verfolgen. Dass wir hier am Fleck stehen bleiben, erwartet sie am allerwenigsten. Trotzdem brauchen wir natürlich ein gutes Versteck, um möglichst sicher zu sein, wenn wir uns ausruhen …« Ich schwebte in den schmalen Schacht, wo uns der Knäuelroboter aufgelauert hatte. »Hier«, sagte ich und leuchtete mit meiner Helmlampe. Unmittelbar unter dem Gangboden, der die Decke der Halle darunter bildete, verliefen einige quadratische, fast anderthalb Meter im Querschnitt durchmessende Lüftungsschächte. Mit wenigen Handgriffen ließ sich ein Stück der Verkleidung abschrauben, so dass man ins Innere kriechen konnte. Zuvor aber durchsuchten wir noch gründlich die Halle, fanden jedoch keine weiteren Roboter, die dort in der Finsternis auf uns lauerten. Ich übernahm die erste Wache. Abenwosch war, kaum hatte er sich auf den kalten, blanken Boden gelegt, sofort eingeschlafen. Im Schlaf wirkte der Jucla entspannt und friedlich. Rastlosigkeit und Unbeständigkeit auf der einen Seite, Wankelmütigkeit, Härte und ein gnadenloser Egoismus auf der anderen Seite
Ein Zentralgehirn in Not waren die zwangsläufigen charakterlichen Folgen, die ihn im Besonderen und sein Volk generell auszeichneten. Dennoch bist du nicht verkehrt, grübelte ich, während ich Abenwosch in unserem Versteck die dringend notwendige Ruhepause gönnte. Im Gegensatz zu Zamptasch …, ergänzte mein Extrasinn, der mich wie mein Zellaktivator erfolgreich daran hinderte, ebenfalls einzuschlafen. Im Grunde hatte ich eine Ruhepause genauso nötig und hoffte, dass auch ich noch die Gelegenheit bekommen würde, mich für ein paar Stunden aufs Ohr zu legen. Ich war mir sicher, dass wir an dem Ort, den ich als unser Versteck ausgewählt hatte, kaum entdeckt werden würden. Hoffentlich nutzte Florymonthis die Zeit und tat, worum ich sie gebeten hatte, bevor sich unsere Wege trennten: Unruhe stiften und für Verwirrung der Positronik und ihrer Vasallen sorgen. Vor allem aber dachte ich über das nach, was ich von Florymonthis über MITYQINN erfahren hatte. Und darüber, wie ich es mit dem, was ich über Sammler wusste, ergänzen konnte. Auch dieser Sammler war vor einer halben Ewigkeit von dem »Urmutter« genannten Riesenroboter gebaut worden. Ovaron hatte die Urmutter einst mit dem Bau der gewaltigen Sammlerflotte beauftragt, um während seiner Abwesenheit das Volk der Ganjasen zu schützen. Allein 340.000 Sammler bildeten bis zum Jahr 3438 alter Zeitrechnung den künstlichen Planeten Sikohat, der später auch ARRIVANUM genannt wurde. Rund 160.000 Sammler fielen Vascolo, dem Krummen, einem Takerer, in die Hände. Mit dieser gewaltigen Flotte bedrohte er das Solsystem. Später erkannte die Urmutter, dass von ihrer eigenen Schöpfung eine dauerhafte Bedrohung ausging, eine Gefahr, die – wie etwa Vascolo bewies – nicht immer zu kontrollieren war. Auf Höhe der Plutobahn vernichtete die Urmutter schließlich die rund eine halbe Million umfassende Sammlerflotte. Eine Aktion, bei der nicht
35 nur sie selbst, sondern auch Pluto zerstört wurde. Bis ich mit Zamptasch und Abenwosch auf dem Mond Eptascyn auf das Sammlerwrack stieß, in dem wir uns nun befanden, war ich immer davon ausgegangen, dass es nach der gewaltigen Vernichtungsaktion der Urmutter im Außenbereich des Solsystems, kein einziges dieser robotisch gesteuerten Schiffe mehr gebe. Schiffe, die ja selber nichts anderes als Vasallen waren und ihrerseits über zahllose Vasallen verfügten. Der Weckbefehl Ovarons im Jahr 3438 erreichte die MITYQINN seinerzeit nicht, weil sie zu dieser Zeit längst als verschollen galt. Wegen eines Funktionsfehlers, den mir auch Florymonthis nicht näher erläutern konnte, war MITYQINN nämlich bereits vor 145.555 Jahren über Eptascyn abgestürzt. Als eine der letzten Selbstschutzmaßnahmen war es dem Schiff gelungen, nicht frontal mit der Oberfläche des Mondes zu kollidieren, sondern den Aufschlagwinkel so weit abzuflachen, dass sich der Sammler wie eine gigantische Ramme in den Boden bohrte, ohne dabei in unzählige Teile zu zerbersten. Mit dem Absturz versank das Schiff und vor allem seine alles steuernde Positronik in eine Schock-Stasis. Während sich über dem Schiff im Lauf der Jahrtausende Erdreich ansammelte, Pflanzen ansiedelten und schließlich das Ringgebirge formte. Jene auffällige geografische Landmarke, die das Ziel unserer Flucht war. In seinem komatösen Zustand hätte der Sammler sicher bis ans Ende aller Tage verharrt, wenn er nicht vor 1734 Cappin-Jahren, die 1274 terranischen Jahren entsprachen, einen galaxisweiten Impuls aufgefangen hätte, der an Intensität dem Weckruf Ovarons noch überlegen gewesen war. Zweifellos das Signal der Urmutter, das die Sammlerflotten zum Abflug Richtung Milchstraße aufforderte, ergänzte mein Extrasinn. Nur dass dieses Signal bei MITYQINN lediglich bewirkte, aus der Schock-Stasis aufzuwachen. Das Schiff war zu sehr be-
36 schädigt, um in der Lage zu sein, den wahren Sinn des Befehls zu verstehen, geschweige denn ihm Folge zu leisten. Stattdessen warf es die Selbstreparaturprogramme an und machte sich an die Arbeit, um irgendwann wieder flugtauglich zu werden. Eine Arbeit, die nur sehr langsam vonstatten ging und im Grunde bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war. Die Sextadim-Technik erwies sich beispielsweise als vollständig irreparabel, weshalb MITYQINN derzeit nur mit Unterlichtgeschwindigkeit durchs All dümpeln konnte. Als endlich zumindest passive Funkfähigkeit wiederhergestellt war, erfuhr die schwer gestörte Positronik ihren nächsten Schock. Im Eschnat-Kugelsternhaufen herrschte kaum Funkverkehr. Er schien nahezu unbesiedelt zu sein. MITYQINN erfuhr ein positronisches Äquivalent absoluter Einsamkeit. Die wenigen Nachrichten, die sie auffangen konnte, trugen nur zur weiteren Verwirrung bei. Das Schlimmste aber war: Zu keiner Zeit konnte das Schiff irgendein Indiz ausmachen, das im Kugelsternhaufen Eschnat auf die Existenz von Ganjasen hinwies. MITYQINN war an den Klippen der Unendlichkeit gestrandet. Florymonthis hatte diese für eine Positronik alarmierend poetische Formulierung wortwörtlich so zitiert. Es ist offensichtlich, kommentierte mein Extrasinn, die Positronik hat sich in der Unendlichkeit ihrer eigenen Formel- und Zahlenwelt verloren. Sie dreht sich mit ihrer artifiziellen Intelligenz nur noch im Kreis. Aber was ist mit den Selbstkontrollprogrammen?, erwiderte ich in Gedanken. Jede Positronik verfügt doch über eine systemimmanente Kontrolle, eine Art »Moral«-Programm, das ihr sagt, was richtig und was falsch ist, das sie notfalls bei Ausfällen dazu veranlasst, sich selbst herunterzufahren und neu zu starten … Alles kann ausfallen – auch ein Selbstkontrollprogramm …, sagte der Extrasinn.
Luc Bahl
* Abenwosch wachte nach einigen Stunden erholsamen Schlafes von selbst auf und übernahm die zweite Wache. Ich hatte indessen eine Vorstellung davon entwickelt, wie dem unseligen Treiben der SammlerPositronik ein Ende bereitet werden könnte. Ich sagte Abenwosch allerdings noch nichts davon, sondern wollte meine Überlegung erst einmal überschlafen. So viel Zeit musste sein. Auch meine Ruhephase verlief ohne Zwischenfälle. Wir aßen, nachdem ich wieder wach war, einige Riegel des Nahrungskonzentrats, das zur Ausstattung des Schutzanzugs gehörte. Mit der Flüssigkeitsversorgung war es nicht ganz so gut bestellt. Bei sorgfältiger und sparsamer Einteilung der festen Nahrung hätte man wahrscheinlich ein bis anderthalb Wochen von den Vorräten des Anzugs überleben können. Die flachen, breiten Beutel mit isotonisch angereichertem Wasser würden selbst bei äußerster Zurückhaltung nur für wenige Tage reichen. »Du brauchst dich nicht zurückzuhalten«, sagte ich, als ich sah, dass Abenwosch nur wenige, kleine Schlucke zu sich nahm. »Atlan, die Roboter jagen uns«, erwiderte er mit einem leichten Lächeln. »Sie werden uns kaum noch einmal ein warmes Essen servieren …« »Das trifft nur auf die abhängigen Vasallen zu«, erwiderte ich. »Wenn Florymonthis in der Lage ist, ganze Schutzanzüge inklusive Überlebensausstattung zu produzieren, dann ist sie sicher auch in der Lage, flüssige wie feste Nahrung herzustellen.« »Daran zweifle ich nicht«, sagte Abenwosch. »Aber dieses Schiff ist so groß, dass Wochen vergehen können, bis wir wieder auf sie stoßen …« »Trink«, sagte ich. »Wir werden sie schon sehr bald wiedersehen …« Ich habe nicht vor, diese Spielchen noch länger mitzumachen, fügte ich noch in Ge-
Ein Zentralgehirn in Not danken hinzu. Weder tage- geschweige denn wochenlang … Einen Moment lang musterte mich der Jucla misstrauisch, dann setzte er die Getränketüte an die Lippen und saugte sie gierig leer. Ich lächelte. Er beginnt, dir zu vertrauen, bemerkte mein Logiksektor. Wir verließen den dunklen, auf Dauer unbequemen Lüftungsschacht und schwebten wieder in den wenigstens teilweise beleuchteten Gang zurück. Niemand war zu sehen. So weit man blicken konnte, bewegte sich nichts. Es schien, dass ich Recht behalten hatte mit meiner Annahme, dass die Vasallen der Positronik uns an anderen Stellen des Schiffes suchten. Dieser Sektor hier wirkte wie ausgestorben. Ich zog das transportable Funkgerät aus einer Brusttasche und schaltete es ein. »Atlan!«, rief Abenwosch entsetzt. »Schalt das Ding aus! Wenn diese Mordmaschinen eines anmessen können, dann die Strahlen eines Funkgeräts …« »Du hast Recht, Abenwosch«, erwiderte ich. »Aber es gibt keine andere Möglichkeit, Florymonthis herzurufen …« Ich sprach den zuvor mit ihr vereinbarten Code in das Gerät und setzte den Spruch ab. »Wir können nur hoffen, dass sie schneller bei uns ist als die Truppen der Positronik …«, fügte ich noch an Abenwosch gewandt hinzu. Trotzdem trafen wir für den Ernstfall die notwendigen Vorkehrungen. Um uns notfalls nur nach zwei Richtungen hin verteidigen zu müssen, zogen wir uns ein Stück weit von jener schmalen Schachtöffnung zurück, aus der wir herausgeklettert waren. Ich wies auf einen Schrotthaufen, der ein Stück weiter fast den halben Gang versperrte und hinter dem wir notfalls in Deckung gehen konnten. Wir hatten diese Position noch nicht erreicht, als ein knisterndes Geräusch in unserem Rücken erklang. Wir wirbelten herum, sahen jedoch nur ein kaum wahrnehmbares Flimmern, das die Luft an der Stelle erfüllte, an der wir uns noch vor wenigen Augenblicken befunden
37 hatten. Es roch nach Ozon. Dann zeichneten sich wie beim Entstehen einer Fata Morgana plötzlich Umrisse und Konturen ab. »Florymonthis …«, sagte Abenwosch. In diesem Moment materialisierte die massige Roboterlady und setzte sich unverzüglich in Bewegung. »Ich bin harmlos«, heulte sie in höchsten Tönen. »Ihr dürft mir nichts tun! Freundschaft, Freundschaft …« »Freundschaft«, erwiderte ich. »Auch wir sind harmlos und freuen uns, dass es dir gelungen ist, so schnell zurückzukommen … Hast du tun können, was ich dir gesagt habe?« »Oh ja, schöner Mann«, antwortete sie. »Ich habe die Vasallen ganz schön auf Trab gehalten. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie zunehmend mehr über das Verhalten biologischer Lebewesen gelernt haben.« Ich verstand, dass Florymonthis Unterschiede zwischen biologischen und anderen Lebensformen machte. »Weil sie es jedoch die ganze Zeit mit mir zu tun hatten, nützte es ihnen nicht viel. Aber ich fürchte, ihr seid der Übermacht bald hilflos ausgeliefert. MITYQINN hat ihre stärksten Kampfroboter mobilisiert …« »Warum jetzt erst?«, wollte Abenwosch wissen. »Sie hat euch unterschätzt. Und sie wollte das Schiffsinnere schonen, ihre Eingeweide …« Es wird eng, meldete sich mein Extrasinn mit Nachdruck. Verdammt eng … Auch Abenwoschs Miene drückte große Besorgnis aus. »Ich sehe, dass du deine Transmitterfähigkeit immer besser beherrschst«, sagte ich zu Florymonthis. »Es ist mir gelungen«, erwiderte sie, »auf meinen Streifzügen die noch fehlenden Komponenten zu finden und zu integrieren …« Als der Aggregateklau Florymonth damals die MARCO POLO heimgesucht hatte, wurden die Transmitterfähigkeiten dieses
38 Roboters auch für Passagiere verwendet. Schließlich hatte ich mich seinerzeit von dem Cappinmädchen Merceile mittels einer Pedotransferierung übernehmen lassen – keine angenehme Erfahrung. Perry Rhodan ließ das Bewusstsein Ovarons in seinen Geist eindringen. Gemeinsam zu viert in zwei Körpern hatten wir die Reise durch den Transmitter Florymonths angetreten, während die Pseudokörper der beiden Cappins als leblose Plasmamasse auf der MARCO POLO zurückblieben. Florymonthis enttäuschte mich nicht. »Ich bin jetzt in der Lage, nicht nur mich selbst zu entstofflichen, sondern auch euch …«, kreischte sie triumphierend. Ihre Augenbälle fuhren dabei in einer Weise um mich herum, dass mir ganz anders wurde. Hoffentlich versteht sie den Vorgang des Transmittierens nicht falsch und lässt dich nur in sie eindringen, ohne dich jemals wieder freizugeben …, höhnte mein Extrasinn. Ich beschloss, seine Bemerkung zu ignorieren. »Das heißt, du kannst uns mit einem Schritt an den Ort bringen, wo sich das Backup-System der Positronik befindet?«, fragte ich. Florymonthis' kugelrunder Kopf, der halslos direkt auf dem Rumpf saß, versuchte ein zustimmendes Nicken. Ich verkniff mir das Grinsen. »Der Schlafende Zwilling ruht ganz in der Nähe der aktiven Positronik«, sagte sie. »Hervorragend«, sagte ich, »dann mal los …« Ich erläuterte Florymonthis mit knappen Worten mein Vorhaben. Wie nicht anders zu erwarten, war sie überhaupt nicht von meinem Plan begeistert. Im Gegenteil. Letztlich aber musste sie sich der Kraft meiner Argumente beugen. Sie sah ein, dass wir keine andere Chance besaßen. Ich bemerkte, dass auch Florymonthis zumindest eingeschränkt über die Fähigkeit verfügte, die Ausdehnung ihres wuchtigen Körper zu verändern. Florymonth hatte sich seinerzeit an nahezu alle Größen, Höhen, Ausdehnungen angepasst. Obwohl die Ro-
Luc Bahl boterdame breiter als hoch war, besaß sie in der Körpermitte eine Art Taille. Nun wurde sie gänzlich unförmig. Auf ihrer breiten Vorderseite begann sich die grünfarbene Haut zu verändern. Die Wülste verschwanden, die Falten strafften sich. Hinzu kam ein Flimmern und Flirren, ähnlich dem, als sie vorhin selbst materialisiert war. Diesmal allerdings wurde das Leuchten verschluckt, die undefinierbare Fläche immer dunkler. Schließlich sah es aus, als ob sich ein fast quadratisches, gut zwei mal zwei Meter messendes Tor in ihrem Körper öffnete. Fast erwartete ich, in der Schwärze, die sich vor meinen Augen auftat, einsame Sterne aufblitzen zu sehen. Aber dieser Transmitter würde uns nicht durchs All befördern, sondern wahrscheinlich nur ein paar Kilometer tiefer ins Zentrum des Schiffes hinein, direkt zu einem gesunden und einem kranken Gehirn. Ein plötzliches Misstrauen durchflutete mich. Einen Moment lang zögerte ich. Konnte ich der nicht sehr viel weniger verrückten Florymonthis vertrauen? Wenn du hier stehen bleibst, wirst du es nie erfahren, sagte der Extrasinn. Denn dann bist du tot … fügte er noch in seiner unnachahmlich trockenen Art hinzu. Hastig blickte ich mich um. »Beeilt euch!«, schrie Florymonthis aufgeregt. Noch während sie sprach, bog am Ende des Gangs ein Trupp schwerbewaffneter Roboter um die Ecke. Ich packte Abenwosch, und mit einem Satz sprangen wir in die Leere des absolut schwarzen Nichts …
21. Zamptasch Zamptasch schrie aus Leibeskräften. Dann hielt er am ganzen Leib zitternd inne. »Du machst einen Fehler«, wimmerte er. »Es wird nicht funktionieren, was du vorhast …« »MITYQINN ist gar nicht in der Lage,
Ein Zentralgehirn in Not Fehler zu begehen. Das wäre unlogisch. Aber MITYQINN ist fähig zu lernen. Wenn ihr bestimmte Fähigkeiten fehlen, muss sie diese erwerben. Muss sie sich unter allen Umständen einverleiben.« »Glaub mir«, flehte Zamptasch, »ich nütze dir mehr, wenn du nicht tust, was du ganz offensichtlich vorhast …« »Du unterschätzt meine Fähigkeiten«, erwiderte die Positronik. »Die Technik der Reizverbundschaltungen gehört zum Standardprogramm. Du bist der ideale Lieferant für gewisse Denk- und Handlungsweisen, die nur biologischen Lebewesen zu Eigen sind. Das hast du selbst bewiesen. Deine biologische Komponente wird mir helfen, unser gemeinsames Ziel zu verwirklichen, unsere Feinde zu vernichten …« Tränen rannen über Zamptaschs faltige Wangen. Als die Roboter ihn packten und hochhoben, begann er wieder zu schreien, so lange, bis er heiser war und seine Stimme versagte. Die Vasallen, die ihm rasch und brutal die Kleider vom Leib rissen, kümmerten sich nicht um sein Gebrüll. Und das verzweifelte Gezappel des greisen Juclas ignorierten sie einfach. Um sie herum standen bereits jene mit Skalpellen, Knochensägen und Spachteln, die den Auftrag hatten, ihn aus seiner Haut zu pellen. Als das erste Skalpell in sein Fleisch drang, spürte er den Schnitt kaum. Sein Atem ging rasend schnell, und wie unbeteiligt beobachtete er die Blutfontäne, die aus seinem Körper spritzte. »Du machst einen riesigen Fehler …«, ächzte er noch einmal mit letzter Kraft. Seine letzten Gedanken kreisten zu seiner eigenen Verwunderung um Abenwosch. Er hatte ihn immer gehasst. Aber jetzt … nicht mehr. Es wurde ihm plötzlich bewusst, dass er sich den Clanführer gut als Sohn hätte vorstellen können … Und dann kam der Schmerz, begrub ihn wie eine Woge unter sich. Die Prozedur zur Eingliederung seines Bewusstseins in die Schaltkreise der Positro-
39 nik hatte begonnen …
22. Atlan Ich hätte mich gewundert, wenn es so einfach gewesen wäre. Wir materialisierten an der vorbestimmten Stelle tief im Inneren des Schiffes. Die Korridore waren röhrenförmig und kreuzten sich häufig. Da der schlauchartige Gang hinter uns steil nach oben führte, vor uns ebenso steil nach unten, oben dann nach rechts abknickte und sich unten in drei weitere Schläuche gabelte, wirkte die Umgebung ziemlich verwirrend. In sich waren die Schläuche gerippt, so dass wir trotz der Steigung auch ohne Antigrav Halt fanden. Keiner dieser schlauchartigen Tunnel besaß einen Durchmesser von weniger als sieben Metern. Als kurz nach uns auch Florymonthis in dem Gang materialisierte, pressten wir uns unwillkürlich gegen die gebogene Wand. Vor uns ging es steil runter, und unwillkürlich befürchteten wir, der massige Körper der Robotlady würde über uns hinwegrollen. Äußerst zweifelhaft, ob wir das überlebt hätten. Doch sie schwankte nur kurz und blieb dann stehen. Florymonthis schien sich gut auszukennen. Sie füllte den vielfach gewundenen Tunnel beinahe wie ein Korken, und ich hoffte inständig, dass wir hier nie an eine Stelle kommen würden, die so eng war, dass sie sich hoffnungslos darin verkeilte. »Hier!«, kreischte sie und wies auf ein verschlossenes Schott direkt neben uns. Ich öffnete es und flog regelrecht wieder in den Gang zurück. Die Hitze, die der gelb leuchtende Schutzschirm abzustrahlen schien, war enorm. Die Hitze rührt nicht vom Schutzschirm her, belehrte mich mein Extrasinn unnötigerweise. Die gestörte Positronik ist nicht gestört genug, sämtliche für sie lebenswichtigen Bereiche mit einem Energieschirm zu sichern. »Das war zu erwarten«, sagte Aben-
40 wosch. »Unmöglich, daran vorbeizukommen«, murmelte ich. Durch die Energieschlieren des Schutzschirms war der Schlafende Zwilling gut zu erkennen. Befehlspult, Schalttafeln, Eingabetastaturen, Kontrollmonitoren – alles schien zum Greifen nah und war doch unerreichbar. Wenigstens hatte die anfängliche Hitze nachgelassen, die sich unmittelbar hinter dem Schott aufgestaut hatte. Es blieb uns jedoch keine Zeit, weiter nachzudenken. Unten, wo sich der Gang in drei weitere Gänge gabelte, quollen Scharen von Vasallen aus den drei Abzweigungen hervor. »In Deckung!«, dröhnte Florymonthis und eröffnete augenblicklich das Feuer auf die Angreifer. Das war besser gesagt als getan. Wohin? Im Gegensatz zu den Tunneln und Hallen im äußeren Bereich des Schiffes wirkten die schlauchartigen Gänge beinahe sauber und aufgeräumt. Nahe der Positronik wurden sie offensichtlich viel häufiger genutzt. Da die Roboter aus allen Gängen gleichzeitig in unseren Tunnel strömten, behinderten sie sich gegenseitig, was uns einen kurzzeitigen Vorteil verschaffte. Ich zerrte Abenwosch hinter den schmalen Vorsprung, der durch das zur Seite geschwenkte Schott gebildet wurde. Unmittelbar neben uns glühte der Schutzschirm, der nur darauf zu warten schien, uns so zu behandeln wie ein rohes Ei, das in eine heiße Pfanne geschlagen wurde. Florymonthis schob sich aus allen Rohren feuernd an dem offenen Schott vorbei. Sie blieb schließlich nach wenigen Zentimetern an der etwas in den Gang hineinragenden Schotttür hängen. »Beeilt euch!«, rief sie, und nicht nur mir kam es so vor, als habe sich Verzweiflung in ihre sirenenhafte Stimme gemischt. »Flieht!« Wieder packte ich Abenwosch am Arm. Wir schalteten die Antigravs ein und schossen den Gang nach oben. Da sie den Schlauch mit ihrem Körper fast verstopfte,
Luc Bahl konnten wir nur durch einen schmalen Spalt am Rand von ihr vorbeisehen. Der kleine Ausschnitt wütend angreifender Vasallen, der auf diese Weise zu erkennen war, genügte vollauf, um uns davon zu überzeugen, dass Florymonthis' Lage aussichtslos war. Hastig blickte ich mich immer wieder um, ob auch aus der anderen Richtung heranstürmende Roboter zu sehen waren. Doch vorläufig schien von dieser Seite die Luft rein zu sein. Fragt sich nur, wie lange. Wir waren jetzt auf der Scheitelhöhe des Schlauchs, dort, wo er nach rechts abzweigte. Das verschaffte uns etwas mehr Übersicht. »Oh weh!«, rief Abenwosch. »Florymonthis kann der Übermacht nicht mehr standhalten!« Tatsächlich hatte sie einige starke Treffer hinnehmen müssen, die sie glatt durchschlagen hatten, und schwankte jetzt einen Schritt zurück. »Warum schützt sie sich nicht mit ihrem Schutzschirm?«, knurrte Abenwosch. Florymonthis stand nun direkt neben der Zwillingsanlage, unserer einzigen Hoffnung auf Rettung, die zugleich unerreichbar war. Ich sah, dass sich tiefe Falten der Verzweiflung in das aknevernarbte Gesicht des Clanführers gruben. »Was tut sie da?«, schrie er voller Panik. Die Robotdame musste inzwischen zahllose Schüsse abbekommen haben. Es war ein Wunder, dass sie immer noch auf ihren beiden kurzen Säulenbeinen stand. Denn mittlerweile begann sie sich zu verfärben, das schmutzige Grün ihrer Haut wurde heller. Ihr massiger Körper glühte auf, und ich begriff, dass dies, obwohl es zuerst danach aussah, keine Folge der Strahlertreffer war. Ihre unnachgiebige Gegenwehr provozierte immer stärkere Feuerstöße der Gegner. Und sie absorbierte die Urgewalt der Strahlwaffen mit ihrem Transmitterbauch. »Will sie sich transmittieren?«, rief Abenwosch atemlos. Das wäre in der Tat die schlechteste aller Möglichkeiten. Die Flut
Ein Zentralgehirn in Not der angreifenden Vasallen würde über uns hinwegschwappen, bevor es uns gelungen wäre, zu entkommen. Wenn Florymonthis wirklich einen solchen Rückzug erwogen hatte, war es jetzt dafür zu spät. Ihr Leib blähte sich monströs auf, an zahlreichen Stellen platzte die Haut. Flammen leckten aus ihrem Inneren hervor. Die Luft kochte, und Energieblitze zuckten die Rippen des Gangs entlang. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aktivierte Abenwosch seinen Schutzschirm. Ich tat es ihm gleich. Keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Augenblick explodierte der Roboter mit unvorstellbarer Wucht. Trotz unserer Schutzschirme wurden wir von der Energiewelle gepackt und wie Styroporkugeln fast hundert Meter weit hinweggefegt. Kaum war die Druckwelle verebbt, schoss ich in die Höhe und flog zurück zum Zentrum der Detonation. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Abenwosch mir folgte. Florymonthis hatte sich gänzlich atomisiert. Von der Schar der Angreifer, die ihr am nächsten gekommen waren, waren ebenfalls kaum noch Einzelteile übrig geblieben. Von den meisten, die an vorderster Front gekämpft hatten, gab es nur noch Asche und Staubspuren. In den Reihen dahinter befanden sich noch glühende Metallreste, die sich immer höher auftürmten, je weiter sie vom Zentrum der Explosion entfernt waren. Das Metall war durch die Hitze grotesk verformt und geschmolzen. Die Schar der Angreifer, die an jener Stelle, an der die drei Gänge in den unsrigen mündeten, sich gegenseitig behindert hatten, bildeten jetzt fest verkeilte, unbewegliche Stopfen, die so schnell nicht zu beseitigen waren. »Der Schutzschirm …«, rief ich. Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in mir aus. Unter der ungeheuren Energie, die freigesetzt worden war, als sich Florymonthis in einem heroischen Akt der Selbstaufopferung in die Luft gesprengt hatte, war der Schutzschirm zusammengebrochen. Ne-
41 ben der finalen Abwehr des angreifenden Roboterheeres war das der Hauptzweck gewesen, den die Robotlady verfolgt hatte. Der Schirm hatte gerade noch so lange gehalten, dass die wertvollen Geräte, die sich dahinter befanden, nicht ebenfalls pulverisiert worden waren. Florymonthis hat die Wucht der Detonation exakt berechnet, meldete sich mein Logiksektor zu Wort. Ich spürte, dass ihm diese Präzision Respekt abnötigte. Später, erwiderte ich. Jetzt ist keine Zeit für schlaue Kommentare! Gefolgt von Abenwosch, stürmte ich in den Raum. Ich zwang mich zu eiskalter Ruhe und studierte die Anordnung der Geräte und die Bedienungselemente. Das bin ich ihr schuldig, dachte ich. Jetzt bloß nichts wegen nervöser Hast falsch machen … Allerdings fand ich mich schneller zurecht als gedacht. Die Informationen, die mir die Robotdame über die Funktionsweise des Schlafenden Zwillings gegeben hatte, waren in meinem Gedächtnis sicher abgespeichert. Nach wenigen Handgriffen und Eingaben erwachte die Zwillingspositronik zum Leben. Es dauerte nur Sekunden, bis sie hochgefahren war. Und es dauerte nur wenige Minuten, bis ihr Kontrollsystem erkannte, dass das Brudergehirn schwer geschädigt war. Es wurde augenblicklich abgeschaltet. Etwas länger dauerte es, das von der alten Positronik im Sammler angerichtete Chaos wieder in den Griff zu bekommen. »MITYQINN ist dir zu Dank verpflichtet«, meldete sich schließlich die Stimme der neuen Positronik zu Wort. »Ich konnte anhand der Protokolle und Aufzeichnungen der gestörten Anlage den Schluss ziehen, dass das kranke System das ganze Schiff schon in kürzester Zeit ins Verderben gestürzt hätte. Ohne dein Eingreifen wäre ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstanden. Der unabhängige Vasall Florymonthis, dein Gefährte und du selbst haben diese Katastrophe in letzter Sekunde verhindert. Dafür bin ich dir zu tiefstem Dank verpflich-
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tet.« »Wenn du mich als Verbündeten betrachtest, ist das Dank genug«, erwiderte ich. Es klang bescheiden, war aber letztlich mehr, als ich erwarten konnte. Mir war nicht klar, ob die neue Positronik in der Lage war, solche Feinheiten und Unterschiede wahrzunehmen. »Wir sind Verbündete«, antwortete sie.
23. Atlan Ein gründlicher Systemcheck verriet der neuen Positronik, dass das alte Gehirn zahllose Anweisungen an die Heerschar der schiffseigenen Vasallen erteilt hatte, die endgültig vor allem eines bewiesen: Es war höchste Zeit gewesen, die alte Anlage abzuschalten. »Der grundlegende Fehler, der letztlich alle anderen Fehlfunktionen ausgelöst hatte«, sagte der Zwilling, »war ein einfaches mathematisches Versagen in der Systemkontrolle.« »Inwiefern?«, fragte ich. »Statt sämtliche Bereiche abzuchecken, ist die Systemkontrolle an einem Punkt in eine Unendlichkeitsfalle getappt und hat nur noch die Stellen hinter dem Komma errechnet. Eine unendliche Ziffernfolge …« »Ähnlich der Zahl Pi …«, vermutete ich. »Ja, ganz ähnlich.« Es erschien mir unwahrscheinlich, dass die Lösung so einfach war. Oft sind es sehr kleine Fehler, die große Wirkungen erzielen. Mein Extrasinn konnte es nicht lassen. Ich war zu erschöpft, um über verrückt gewordene Positroniken zu grübeln. Ich verspürte nur noch den Wunsch, auszuruhen, etwas zu schlafen. Abenwoschs Anblick verriet mir, dass er das gleiche Bedürfnis hegte. Aber in seinen Augen stand unausgesprochen die letzte Frage, die noch zu klären wäre. Ich nickte. Wo war Zamptasch? »MITYQINN, wir waren zu dritt. Kannst du uns etwas über unseren Begleiter sagen?«
Der Zwilling schwieg eine Minute. Sie kam uns wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte ein mieses Gefühl. Der Clanführer schaute betreten auf den Boden. Als schließlich die androgyn klingende Stimme ertönte, fuhr ich regelrecht zusammen. »Atlan und Abenwosch-Pecayl 966.« Die Positronik sprach tatsächlich leiser und langsamer. »… ich habe Zamptasch gefunden …« »… und?«, drängte ich ungeduldig. »… die Überreste Zamptaschs. Er ist tot.« »Wo ist … seine Leiche?« »In der Zentrale. Es ist nicht weit. Ein Vasall wird euch führen.« Ein schwebender Roboter, in der Form eines schlanken Zylinders, erschien. Wir folgten ihm in den röhrenförmigen Gang. »Atlan und Abenwosch-Pecayl 966.« Wir blieben wie angewurzelt stehen. »Es tut mir Leid.«
* Wir folgten dem Zylinder in eine wenig anheimelnde Umgebung, die noch ganz dem charakteristischen Verfall der kranken Positronik entsprach. Ich hatte ja schon viel gesehen, und auch der junge Clanführer war bereits so manchem wenig erfreulichen Anblick ausgesetzt gewesen. Was sich hier aber unseren Augen darbot, überstieg das meiste davon. Mühsam kämpfte Abenwosch dagegen an, sich zu übergeben. Auch ich schluckte angestrengt. So sehr nahm uns der grausige Anblick, die ganze schaurige Szenerie gefangen. Von Zamptasch war nicht sehr viel übrig geblieben. Sie hatten seinen Körper regelrecht ausgeweidet und dann achtlos beiseite geworfen. Lediglich der Kopf lag mit geöffneter Schädeldecke in einer flachen Wanne mit einer Art Nährflüssigkeit auf einem Operationstisch. In der Gehirnmasse steckten eine Reihe von Drähten, Rezeptoren und Kontakten, die allesamt in einen wuchtigen, schrankähnlichen Kasten führten.
Ein Zentralgehirn in Not »Das ist das Kernstück der alten Positronik.« Der Zwilling sprach über den zylindrischen Vasallen. »Sie hat offensichtlich versucht, auf diesem Weg einen Kontakt zu einer biologischen Komponente zu finden.« Ich schluckte und wandte mich ab. Der Anblick wurde endgültig unerträglich. Ich würde ihn nie vergessen, aber dafür sorgen, dass er in einem unberührten Winkel meines Geistes verstaut würde, den ich – so hoffte ich – nie wieder aufzusuchen brauchte. »So funktioniert das nicht«, sagte ich und bemühte mich um einen gleichgültig klingenden Tonfall. Keine Ahnung, ob das gelang. »Ein Kontakt zwischen einem biologischen Lebewesen und einer Maschine funktioniert immer noch am besten auf verbale Weise …« »Warum sprichst du nicht weiter?« »Das Gespräch«, sagte ich. »Man braucht nur miteinander zu sprechen. So, wie wir das ja jetzt auch tun … Das ist doch nicht so schwer zu begreifen – oder?« »Nein.« Wir verließen den Ort des Schreckens. Ich verdrängte nicht nur das Gesehene, sondern auch die Frage, inwieweit es der alten Positronik noch gelungen sein mochte, einen direkten Kontakt zu Zamptasch herzustellen. Selbst wenn ihr noch ein unmittelbarer Zugang zum Bewusstsein des alten Juclas möglich gewesen war, konnte sie nur noch das letzte Aufbäumen des Sterbenden empfangen haben. Unendlichen Schrecken, unendliche Angst. Nein, ich wollte es überhaupt nicht genauer wissen … Später, als Abenwosch und ich durch die labyrinthartigen Gänge, Tunnel und Hallen des Sammlers geleitet wurden, waren die Spuren der selbstinduzierten Zerstörung überall zu sehen. Es gab also mehr als genug zu tun. Die Strapazen, denen Abenwosch und ich seit unserer Flucht vom Jucla-Thein auf Eptascyn ausgesetzt gewesen waren, machten sich nun bemerkbar. Ständig auf der Flucht,
43 unzähligen Gefahren ausgeliefert, kaum in der Lage, Ruhepausen einzulegen, einseitige, fremdartige Ernährung – all das forderte seinen Tribut. Selbst bei mir, dessen physische Konstitution vom Zellaktivator nachhaltig unterstützt wurde, machten sich die Folgen der Entkräftung bemerkbar, die vielleicht noch vom Einsatz des Flammenstaubs herrührten. Abenwosch war jedenfalls nur noch ein Schatten seiner selbst. Wir ließen uns also in die ursprünglich für Ovaron vorgesehenen Räume zurückbringen, um uns gründlich auszuschlafen. Ich staunte nicht schlecht, als wir die Unterkünfte betraten. Eine Schar von kleinen, aber höchst aktiven Robotern war damit beschäftigt, aufzuräumen und zu putzen. Alles strahlte in frischem Glanz und war kaum wiederzuerkennen. Die angrenzenden Kabinen waren entrümpelt worden, so dass wir schließlich jeder über eine eigene Suite verfügten. Nach einem ausgiebigen Schaumbad schlief ich ein …
* … und erwachte erst fünfzehn Stunden später von einem ohrenbetäubenden Lärm. Vermutlich wurden irgendwelche Schäden in unmittelbarer Nähe ausgebessert. Ich vernahm einen tiefen Brummton wohl maschineller Herkunft. Dann klopfte es heftig am Schott. Ich rieb mir die Augen und konzentrierte mich auf die Kakophonie. Es handelte sich eindeutig um sprachliche Laute, die ich schließlich immer besser verstand und die sehr vertraut waren – in einer anderen Tonlage. »Freundschaft, Freundschaft! Bist du schon wach, Atlan? Es ist Zeit, die verdienstvolle Ärztin sumpfiger Welten zu begrüßen.« »Florymonthis …« Träumte ich noch? Ein herzhaftes Gähnen verriet mir, dass ich wach war. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch mit
44 dem Frühstück warten soll, schöner Mann.« Jetzt war ich endgültig wach und erinnerte mich daran, was ich vor Stunden mit dem Zwilling besprochen hatte. Ich hatte ihn gefragt, ob eine Rekonstruktion der Roboterlady möglich sei. Die Positronik hatte versprochen, das Problem zu prüfen. »Ich muss ohnehin die Konstruktion eines unabhängigen Vasallen ganz nach oben auf die Prioritätenliste setzen«, hatte der Erwachte Zwilling gesagt. »Eine unabhängige Instanz ist für das Funktionieren an Bord unerlässlich …« Ich gab der Positronik Recht, hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass die Anfertigung einer neuen Florymonthis sich so schnell verwirklichen lassen würde. In diesem Moment hatte ich aber auch noch nicht realisiert, wie lange ich tatsächlich geschlafen hatte. Ich öffnete das Schott. »Florymonthis«, sagte ich, »ich freue mich, dass es dir gut geht …« »Freundschaft, Freundschaft«, erwiderte die neue Roboterdame, die sich nur in zwei Details von der alten unterschied: Das Grün ihrer Haut leuchtete – es waren keine Spuren zu sehen, die auf das Äonen umfassende Alter ihrer Vorgängerin hindeuteten. Und in ihrer Tonlage. »Ein großer Teil ihres Gedächtnisses war als Sicherungskopie in den Datenbanken der alten Positronik abgelegt. Schlauerweise hatte Florymonthis sie vor dem Zugriff der alten Positronik gesichert.« Die Stimme, die nun aus Florymonthis sprach, kam eindeutig direkt vom Erwachten Zwilling. »Ich habe alles überprüft und festgestellt, dass die Programme harmlos sind. Teilweise – etwas ungewöhnlich, aber harmlos.« »Ein unabhängiger Vasall braucht seine eigene Persönlichkeit«, sagte ich. »Du kommst also damit klar?« »Ich hoffe es«, sagte ich grinsend. »Wenn nicht, dann weiß ich immerhin, wo bei dieser Dame der Knopf ist, der sie zum Explodieren bringt …«
Luc Bahl Na, na, na!, schimpfte der Extrasinn mit gespielter Empörung. Immer diese unsachlichen Anspielungen … Ich betrachtete es als Vertrauensbeweis, dass die Zwillingspositronik ihre Maßnahmen mit mir absprach und offenkundig an meiner Meinung und Einschätzung interessiert war. Die gegenüberliegende Tür öffnete sich, und ein völlig verschlafener Jucla mit zerzaustem Haar erschien. Die Anwesenheit von Florymonthis schien ihn überhaupt nicht zu überraschen. »Ah, Frühstück«, sagte er nur.
* Es wäre ungewohnt gewesen, wenn Florymonthis plötzlich nicht mehr ihre alten Macken gehabt hätte. So mussten wir uns nur an ihr neues, strahlendes Aussehen gewöhnen, auch wenn dieses Aussehen immer noch meilenweit vom arkonidischen oder cappinschen Schönheitsideal entfernt war. Der tiefe Bass ihrer Stimme schlug so auf den Bauch, dass sie geradezu verdauungsfördernd wirkte. Ich bat sie eindringlich, sich wenigstens während der Mahlzeit herunterzudimmen. Nachdem wir uns gestärkt hatten, wurde es höchste Zeit, endlich mit der AVACYN Verbindung aufzunehmen. Sie hatten seit langer Zeit nichts mehr von uns gehört und machten sich mittlerweile sicherlich große Sorgen. Doch bevor ich dazu kam, den Zwilling mittels Florymonthis um eine Funkverbindung zu bitten, sprach mich die Positronik durch die Robotdame von sich aus an. »Ich empfange Funksignale vom ganjasischen Raumschiff AVACYN.« »Stell die Verbindung her.« Florymonthis erzeugte einen Monitor, auf dem schon nach wenigen Augenblicken das Gesicht von Carmyn Oshmosh erschien. Ich berichtete der Kommandantin, ohne auf allzu viele Einzelheiten einzugehen, dass ich die Situation an Bord des Sammlers
Ein Zentralgehirn in Not mittlerweile vollends unter Kontrolle hatte. Sie atmete sichtlich erleichtert auf, ihre ernste Miene deutete aber an, dass auch ihr noch etwas auf der Seele brannte. »Was gibt's?«, fragte ich. »Bei allen Seelen, die auf der SextadimHalbspur umherirren!«, stieß sie hervor. »Wir haben während deiner Abwesenheit äußerst betrübliche Nachrichten erhalten. Die Lordrichter haben endgültig ihre Masken fallen lassen …« Ich nickte ihr aufmunternd zu. »Gemeinsam mit takerischen Truppen«, fuhr sie fort, »haben sie den offenen Krieg gegen die Ganjasen eröffnet …«
Epilog Ich hatte seit geraumer Zeit eine Eskalation befürchtet. Nun war es geschehen. Wir liefen eine Zeit lang ziellos durch die endlosen Gänge des Sammlers. Ich musste nachdenken. Irgendwann stießen wir auf eine riesige, kreisrunde Öffnung von mehreren hundert Metern Durchmesser. Ein bizarrer, sinnloser Schacht, der zahllose Decks durchschnitt. Ein in negativer Hinsicht eindrucksvolles Zeugnis für die Fehlfunktionen der alten Positronik. »Atlan«, rief Abenwosch auf einmal, der mir die ganze Zeit zusammen mit Florymonthis schweigend gefolgt war. Ich drehte mich zu ihm um. Der Clanführer stand gefährlich nah am schroffen Abgrund und wies auf etwas. Langsam näherte ich mich. Abenwosch hatte etwas gefunden. »Das ist doch …«, sagte ich. »Zamptaschs Stock«, ergänzte Abenwosch. Der alte Jucla musste ihn hier verloren haben. Ich hob ihn hoch und betrachtete ihn gedankenverloren. Der knorrige Stab war schwerer, als ich gedacht hatte. Ich schraubte langsam an dem hohlen Knauf und zog den zerbrochenen Degen heraus. Werde nicht rührselig wegen des alten Juclas, mahnte mein Extrasinn. Erinnere dich lieber daran, dass er euch verraten hat
45 … »So ein Schicksal wünscht man selbst seinem ärgsten Feind nicht«, erwiderte ich laut und kategorisch. Der Logiksektor schwieg. Ich drehte den Stock so, dass seine Spitze nach oben zeigte, und wollte den Degenrest wieder hineinschieben, als ich innehielt. Da war noch etwas in dem hohlen Inneren. Ich schüttelte den Stock. Schließlich fuhr ich mit dem Finger hinein und bekam etwas zu fassen. Vorsichtig zog ich es heraus. »Was ist das?«, fragte Abenwosch. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hielt eine kleine, zusammengerollte, kaum handtellergroße Folie zwischen den Fingern. Vorsichtig strich ich sie glatt. Durch die Berührung mit meiner Haut begann sie leicht zu flimmern. Ich fuhr noch einige Male darüber und aktivierte durch meine Körpertemperatur die Nanopartikelchen, die in die Folie eingelassen waren. Sie formten sich zu einer kurzen, halb verblassten Abfolge von Bildern. Ein junger Jucla war zu sehen, wie er in die Kamera winkte. »Unverkennbar Zamptasch«, murmelte Abenwosch, dem es leichter fiel, den alten Kerl wiederzuerkennen. Der junge Zamptasch grinste und sagte irgendetwas, das nicht aufgezeichnet worden war. Die Bildfolie blieb stumm. Stattdessen zeigte sie jetzt ein hübsches Mädchen mit ebenmäßigen, glatten, jugendlichen Gesichtszügen, die von langen, dunklen Haaren umrahmt wurden. »Kennst du sie?«, fragte ich. Abenwosch verneinte. »Aber vielleicht lässt sich das herausfinden«, erwiderte er. »Wird nicht einfach sein, schließlich sind die Aufnahmen schon sehr alt …« Ich sagte nichts. Für ihn bedeutete alt etwas ganz anderes als für mich. Juclas hatten ein anderes Zeitempfinden. Dann erloschen die Bildaufzeichnungen. Mit einer Erwärmung durch die Hand konnte man die kurze Bildfolge wieder von vorne starten. Jedenfalls zeigen die Aufnahmen, dass der alte Zausel zumindest einmal in seinem verdammt kurzen Leben für einen Moment
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Luc Bahl
glücklich gewesen ist, kommentierte mein Extrasinn. Ich erwiderte nichts. ENDE ENDE
Entscheidung auf Extosch von Wim Vandemaan Atlan hat den uralten Sammler MITYQINN erobert. Mit dem – allerdings sanierungsbedürftigen – Schiffsgiganten steht ihm ein gewaltiges Machtmittel zur Verfügung. Als Kommandantin fungiert nun das kuriose Robotwesen Florymonthis. Mit dem nächsten Band wechselt der Schauplatz in einen Sternenarm Gruelfins namens Kaylan. Dort befindet sich die ganjasische Handelswelt Extosch, Sitz der mythischen Infothek. Auf diese wertvolle Einrichtung haben es die lordrichterlichen Truppen, zusammen mit den aufgestachelten Takerern, abgesehen.