Seewölfe 55 1
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Man schrieb den 19. Oktober 1579. Die „Isabella V.“ segelte über Backbordbug bei halbem W...
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Seewölfe 55 1
John Curtis 1.
Man schrieb den 19. Oktober 1579. Die „Isabella V.“ segelte über Backbordbug bei halbem Wind auf Kurs Ost an der Südküste Hispaniolas entlang. Der Wettergott zeigte sich an diesem Tag von seiner allerbesten Seite. Am tiefblauen Himmel stand die Nachmittagssonne und warf ihre wärmenden Strahlen über das Schiff. Die prall stehenden Segel leuchteten in ihrem Licht, und die Männer hatten es sich zum großen Teil an Deck bequem gemacht. Der Seewolf ließ seine Blicke über das Schiff wandern. Er gönnte seiner Crew diese Verschnaufpause, schließlich hatten es die vergangenen Stunden in sich gehabt. Die Befreiung der elf Männer aus Falmouth aus dem Kerker Santo Domingos war kein Kinderspiel gewesen. Sollte die Crew sich ausruhen - der Seewolf ahnte, daß ihnen dazu ohnehin nicht viel Zeit bleiben würde. Immerhin hatten sie den Hafen von Santo Domingo mit den schweren, siebzehnpfündigen Culverinen der „Isabella“ regelrecht in Klump geschossen und den Dons wieder eine verheerende Niederlage zugefügt. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Hasards Gedanken glitten weiter. Er sah das Mädchen vor sich, das sie ganz überraschend ebenfalls bei den Gefangenen im Kerker gefunden hatten und unwillkürlich schlug sein Herz etwas schneller. Gwendolyn Bernice O’Flynn! Die Schwester Dans, dessen Vater sie jetzt ebenfalls an Bord hatten, aufgefischt aus einem treibenden Boot, denn dem alten O’Flynn war es als einzigem gelungen, den Spaniern zu entkommen. Er sah die Szene wieder vor sich - das fassungslose Gesicht Dan O’Flynns, als er in dem bewußtlosen Mann mit dem Holzbein seinen Vater erkannte. Der Seewolf straffte sich. Es war eine verrückte Geschichte, dreizehn Engländern aus Falmouth, aus seiner Heimat, hier in der Karibik unter solchen Umständen zu begegnen. Verschleppt und fast schon
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versklavt von den Spaniern, die Falmouth überfallen hatten. Und wieder wanderten seine Gedanken zu Gwen. Sie waren gerade noch zur rechten Zeit gekommen, denn Gwen war ein verdammt gut gewachsenes und bildhübsches Mädchen, das diesem Schweinehund von Hafenkommandanten schon längst ins Auge gestochen und ganz bestimmte Wünsche in ihm geweckt hatte. Bei diesem Gedanken verfinsterten sich seine Züge. Der Teufel sollte jeden Kerl holen, der seine dreckigen Pfoten nach Gwen ausstreckte, ohne daß sie es ihm ausdrücklich erlaubte! Ben Brighton enterte zum Achterkastell auf und unterbrach die Gedanken des Seewolfs, indem er auf ihn zutrat und vor ihm stehenblieb. Hasard blickte auf. „Was gibt es, Ben?“ fragte er seinen Bootsmann, der auf der „Isabella V.“ zugleich die Position eines ersten Offiziers innehatte. Ben Brighton wies mit einer Kopfbewegung zum Hauptdeck hinunter. „Es wird Zeit, daß du dich um die Neuen kümmerst. Sie müssen auch offiziell in die Crew eingegliedert werden, wenn es später nicht Schwierigkeiten geben soll. Vielleicht hältst du das für eine überflüssige Formalität, aber glaub mir, ich habe in solchen Dingen einige Erfahrungen gesammelt. Sie müssen wissen, daß sie nicht Gäste an Bord der ‚Isabella’ sind, sondern wie jeder andere zur Crew gehören.“ Der Seewolf grinste. „Ich glaube, deine Sorge ist unberechtigt, Ben. Die Männer kennen mich — der alte O’Flynn und Big Old Shane sind seebefahrene Leute. Die fünf Fischer wissen ebenfalls, wie es auf einem Schiff zugeht. Blieben die Handwerker, der Stadtschreiber und Gwen.“ „Über das Mädchen brauchen wir nicht zu reden. Daß sie Gast an Bord der ‚Isabella’ ist, versteht sich doch von selbst.“ Der Seewolf ließ ein leises, Lachen hören. „Na, Ben, wenn du dich da nicht gründlich irrst. Ich kenne Gwen, die ist nicht dazu
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geschaffen, einfach so an Bord herumzusitzen, die feine Dame zu spielen und sich von uns bedienen zu lassen — o verdammt, da haben wir die Bescherung ja schon!“ Ben Brighton fuhr herum, und mit ihm auch die Köpfe etlicher Männer aus der Crew, denn Gwendolyn Bernice O’Flynn betrat soeben das Hauptdeck, gefolgt von Dan, und das Bürschchen grinste von einem Ohr bis zum andern. Gwen hatte sich ihrer Frauenkleider entledigt und trug jetzt Männerkleidung. Eine Hose, die wie angegossen paßte, und dazu eine Bluse, genauer gesagt ein Hemd, das ihr wegen seiner attraktiven hellgrünen Farbe nicht nur hervorragend stand, sondern ihre Figur erst richtig zur Geltung brachte. Der Seewolf starrte das Mädchen an, er konnte einfach nicht anders. Das rotblonde, schulterlange Haar Gwens flog im Wind, als sie jetzt langsam mit Dan zum Vorderkastell hinüberging, auf dem es sich der alte O’Flynn mit Big Old Shane und Ed Carberry bequem gemacht hatte. Auch die drei Männer starrten das Mädchen an, das da in Männerkleidern auf sie zukam. Sogar Ferris Tucker, der hünenhafte Schiffszimmermann, ließ vor Überraschung fast seine riesige Axt fallen. Und noch ein Mann starrte dem Mädchen nach, aber das bemerkte in der allgemeinen Aufregung niemand. Er hatte sich von allen anderen abgesondert. Ein dürrer Kerl mit einem Geiergesicht und grauen Augen, die sich beim Anblick Gwens unwillkürlich verengt hatten, einem Ziegenbart und schmalen, nahezu blutleeren Lippen. Seine Hände. die wie Krallen wirkten, umklammerten dabei unwillkürlich einen der Belegnägel der Nagelbank, vor der er stand. Der alte O’Flynn war aufgesprungen. Trotz seines Holzbeins bewegte er sich dabei absolut sicher. Seine Stirn zog sich unheildrohend zusammen, scharfe Falten erschienen über der Nasenwurzel. „He, Gwen, bist du total verrückt geworden?“ fauchte er seine Tochter an. „Was soll dieser verdammte Mummenschanz? Sofort ziehst du dir
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wieder Kleider an, so, wie es sich für ein Mädchen in deinem Alter gehört.“ Dan stellte sich vor seine Schwester und hielt sie mit einer Bewegung seiner Rechten zurück. „Soll sie vielleicht in Lumpen hier herumspazieren, damit ihr jeder bis in die Eingeweide gucken kann?“ „Dan!“ Die Stimme seiner Schwester wies das Bürschchen unmißverständlich zurecht. Aber Dan war nicht zu bremsen. „Ach was, wir auf der ‚Isabella’ sind nicht zimperlich. Wir sagen, wie es ist. Außerdem kannst du dich in deinen Mottensegeln hier an Bord bei Schlechtwetter sowieso nicht bewegen, die erste Bö pustet dich in den Großmars. Deshalb habe ich dir die Hose und das Hemd besorgt. Unser Segelmacher wird dir aus Segeltuch noch eine Jacke nähen, und damit basta. Außerdem wird hier an Bord jede Hand gebraucht, mit dir werden wir da auch keine Ausnahme machen.“ Ed Carberry, der anfangs gegrinst hatte, sprang nun ebenfalls auf. Er trat auf Dan zu. „He, Freundchen, du könntest dein Maulwerk ruhig ein bißchen mehr bremsen, oder ich ziehe dir die Haut in Streifen von deinem Affenar ...“ Erschrocken hielt er inne. „Ich meine, Miß, hä, ich würde Ihrem Bruder ...“ Dan lachte lauthals. „Damit du weißt, Gwen, was er mit mir vorhat: Er will mir die Haut in Streifen von meinem Affenarsch abziehen, und nun, nun wird da wohl nichts draus, was?“ Dan lachte wieder, während seine Schwester ihn etwas ratlos und verlegen ansah. Das war der Moment, in dem der Seewolf sich einschaltete. Er hatte zusammen mit Ben Brighton die Szene vom Achterkastell aus beobachtet, und auch für ihn war die Situation absolut neu. Er spürte nur, daß es leicht Ärger geben konnte, wenn sie auf Gwen und das, was sie tat, nicht gehörig aufpaßten. Jedenfalls glaubten sie das, weil niemand Gwen wirklich gut genug kannte. „Schluß jetzt, Dan“, sagte er nur. „Ich bitte mir aus, daß ihr in Gegenwart Gwens
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weniger ruppig sprecht. Schließlich haben wir mit ihr eine junge Lady an Bord unseres Schiffes. Natürlich wird sie nicht arbeiten, sie ist Gast auf der ‚Isabella’. Daß sie Männerkleidung tragen muß, wird sich wohl nicht ändern lassen, denn wir sind hier auf weibliche Garderobe nicht eingerichtet. Aber alles andere ...“ Gwen, die bisher zu allem geschwiegen hatte, blickte den Seewolf jetzt aus ihren grünen Augen an. Es war ein Blick, der sogar diesen harten Mann erstarren ließ. „Kommt nicht in Frage, Mr. Killigrew“, sagte sie leise, aber doch für jeden verständlich. „Ich werde hier an Bord meine Pflicht tun wie jeder andere. Ich werde hier kein Drohnendasein führen. Wo immer ich mich nützlich machen kann, da werde ich das tun. Sie sind der Kapitän, aber ich glaube nicht, daß Sie diesen, meinen ausdrücklichen Wunsch nicht respektieren werden.“ Ihr Gesicht überzog plötzlich ein schelmisches Lächeln. „Oder ist der berühmte Seewolf so ein Unhold, daß er eine junge Lady einfach an Bord seines Schiffes einsperrt, damit sie nur ja nicht irgendwo mit Hand anlegen kann? Denn das müßte er schon tun, um sie daran wirklich zu hindern!“ Hasard sah sie an, dann überzog auch seine Züge ein Lächeln. „Also gut, ich hatte mir das zwar anders vorgestellt, aber versuchen wir es mal auf Ihre Art, Gwen. Ich glaube nicht, daß es unter meinen Männern auch nur einen gibt, der Sie nicht respektiert. Ihn würde im übrigen der Teufel holen, und zwar auf der Stelle.“ Er deutete eine leichte Verneigung an und wandte sich an Carberry. „Ed, alle neuen Leute auf die Kuhl. Sofort. Ich will ein paar Takte mit ihnen reden!“ Ed Carberry nickte. „Aye, aye, Sir.“ Er drehte sich um, und im nächsten Moment dröhnte seine gewaltige Stimme über das Schiff: „Los, alle Neuen auf die Kuhl, aber ein bißchen Tempo, oder ich mache euch Feuer unter dem Hintern!“ Dan warf seinem Vater einen Blick zu, und er sah, wie der alte O’Flynn in sich
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hineingrinste. Die Kerls auf der „Isabella“ waren eine Bände nach seinem Geschmack, ho, auf diesem Schiff ließ es sich leben. Er marschierte nach achtern, und er bewegte sich mit seinem Holzbein erstaunlich schnell. Dan und Gwen begleiteten ihn, aber Ed Carberry fischte sich Dan heraus. „He, seit wann bist du denn neu auf diesem Schiff? Die Neuen auf die Kuhl habe ich gesagt, ist das klar?“ Aber diesmal geriet er bei Dan gerade an den Richtigen. „Nun halt doch endlich einmal deine Gorillaschnauze, du narbiger Affe!“ fauchte er den Profos an. „Wenn ich auf die Kuhl will, dann gehe ich auch dahin, ob es dir paßt oder nicht.“ Er riß sich los und ließ den verblüfften Carberry zurück. „Wie — was? Gorillaschnauze, narbiger Affe? Also das, das ist doch ...“ Ferris Tucker tauchte neben ihm auf und lachte. „Ed, das Bürschchen mausert sich so langsam. Junge, Junge, bin nur gespannt, wann er mich wieder einen rothaarigen Affen nennt, dann ...“ Ferris warf einen verliebten Blick auf seine Pranken, aber jeder an Bord wußte, daß er niemals imstande gewesen wäre, Dan ernsthaft zu verprügeln, dazu hatte er den Jüngsten der „Isabella“-Crew viel zu sehr ins Herz geschlossen. Auch Ed Carberry grinste, sein anfänglicher Ärger war verflogen. „Du hast völlig recht, Ferris. Das Kerlchen hat sich ganz schön herausgemacht. Muß nur hin und wieder eins mit dem Tauende über die Achtergalerie kriegen, sonst wird er uns zu übermütig.“ Ferris blieb plötzlich stehen, und Carberry wohl oder übel auch, denn der rothaarige Hüne hatte ihn am Arm gepackt und hielt ihn fest. „Paß ein wenig auf mit Tauende und so, Ed. Der Junge hat seine Rolle als Bürschchen endgültig satt. Er will als vollwertiger Mann behandelt werden, und, verdammt noch mal, das ist er ja auch schon längst. Wir werden ein wenig auf
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ihn aufpassen, aber sonst laß ihn man, oder du wirst noch mal dein blaues Wunder mit Dan erleben! Das ist ein guter Rat, Ed!“ Carberry starrte ihn aus schmalen Augen an. „Hä? Wie, was?“ fragte er dann. „Was soll das heißen, Ferris? Das Bürschchen halte ich mir vorläufig noch mit dem kleinen Finger vom Leib, wenn ich will. Dem ziehe ich jederzeit noch die Haut in Streifen von seinem Affenarsch, wenn ich das will.“ „Hör auf mich, oder laß es auch bleiben. Ich habe dich gewarnt, Ed, der Junge befindet sich jetzt in einer Phase, in der er in dieser Hinsicht keinen Spaß mehr versteht. Ich habe da neulich so eine Sache erlebt, abends, auf dem Hauptdeck, und sein Vater stand dabei. Und genau das ist es. Dan will seinem Vater zeigen, daß er inzwischen ein Mann geworden ist.“ Sie waren weitergegangen und auf der Kuhl. angelangt. Carberry hatte die Stirn gerunzelt, wollte etwas fragen, aber dabei fiel sein Blick auf jenen Mann, der ihm schon ein paarmal unliebsam aufgefallen war. Der Kerl mit dem Geiergesicht und den messerscharfen Lippen hockte immer noch auf der Nagelbank und traf nicht die geringsten Anstalten, sich zur Kuhl hinüber zu bewegen, obwohl sich die anderen und ein Teil der Crew dort längst versammelt hatten. „He, Ferris!“ Carberry blieb abermals ruckartig stehen. „Was ist denn mit der Type da drüben los? Der Kerl hat wohl Kakerlaken in den Ohren, was?“ Carberry setzte sich in Bewegung und ging zu dem Mann mit dem Geiergesicht hinüber. „Bist du taub? Der Seewolf hat befohlen, daß sich alle Neuen auf der Kuhl versammeln. Das gilt auch für dich. Und wenn du jetzt nicht blitzartig die Beine bewegst, bringe ich dir eigenhändig bei, wie schnell hier an Bord der ‚Isabella’ die Befehle des Kapitäns ausgeführt werden. Also, was ist?“ Carberry hatte diesmal nicht gebrüllt, sondern seine Stimme war gefährlich leise gewesen. Das allein schon hätte den
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Fremden warnen sollen, aber er kannte den einstigen Profos der „Golden Hind“ eben nicht. Statt der Aufforderung Carberrys so schnell wie möglich Folge zu leisten, verzog er verächtlich die Mundwinkel. „Hören Sie zu, Mister: Ich hatte nicht die Ehre, Sie kennenzulernen. Und deshalb halte ich es für völlig unangebracht, daß Sie mich duzen. Mehr noch, ich verbitte mir das ein für allemal. Und was die Befehle Ihres Seewolfs angeht, so interessieren sie mich nicht. Er hat mir nichts zu befehlen. Wenn er mir etwas mitzuteilen hat, dann mag er sich zu mir bemühen. Ich hätte nachher sowieso nach ihm geschickt, weil ich ihn sprechen muß.“ Carberry glaubte, nicht recht gehört zu haben. Er war viel zu verblüfft, um sofort aus der Haut zu fahren, wie es eigentlich seine Art war. Stattdessen starrte er den Geiergesichtigen aus schmalen Augen an, aber der ließ ihm keine Zeit zu langen Überlegungen. „Ich habe mir es soeben anders überlegt. Richten Sie dem Seewolf aus, daß ich ihn sprechen will!“ schnarrte er. „Sofort! Es ist überhaupt eine Ungeheuerlichkeit, daß dieser sogenannte Kapitän es nicht für nötig befunden hat, sich um mich und meine Wünsche zu kümmern, das wird ihm noch eine Menge Ärger einbringen, wenn wir wieder in England sind. So, verschwinden Sie, holen Sie jetzt endlich diesen Seewolf her!“ Carberry schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ihm war in diesem Moment zumute, als segele die „Isabella“ bei achterlichem Wind rückwärts. Langsam drehte er sich um, während sein zernarbtes Gesicht anzuschwellen schien. „Ferris, hast du das gehört?“ fragte er und zweifelte immer noch an seinem Verstand. „Diesen Armleuchter hier interessiert gar nicht, was der Seewolf befiehlt, er will stattdessen ...“ In Carberry schoß die Wut explosionsartig hoch. Er riß einen Tampen aus der Nagelbank und zog dem Mann mit dem Geiergesicht blitzschnell ein paar über. So gekonnt und so kräftig, daß der senkrecht
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in die Luft sprang und einen lauten, schrillen Schrei ausstieß, der über alle Decks schallte. Aber Carberry war jetzt nicht zu bremsen. „Was?“ brüllte er, und Ferris Tucker hatte das Gefühl, als müsse jeden Augenblick die Großrah vom Mast herabkommen. „Du dreimal geteerter Affenarsch bist immer noch nicht auf der Kuhl? He, warum haben wir dich nicht bei den Spaniern gelassen, die hätten dich am offenen Feuer geröstet! Solche Typen wie dich haben die Dons besonders gern. Mann, wenn du jetzt nicht verschwindest und dich beim Seewolf persönlich meldest, dann ziehe ich dir die Haut in Streifen ab, falls du dann überhaupt noch welche hast!“ Wieder pfiff der Tampen durch die Luft und traf klatschend die Kehrseite des Geiergesichtigen. Er vollführte abermals einen Luftsprung, sauste dann aber wie ein geölter Blitz über das Hauptdeck zwischen den Culverinen hindurch und befand sich Sekunden später schon auf der Kuhl, hinter sich den immer noch brüllenden und tampenschwingenden Carberry. Der Seewolf flankte über die Schmuckbalustrade. Dann packte er mit der einen Hand den Neuen; mit dem anderen Arm blockte er Carberry ab. „Was geht hier vor?“ fragte er scharf. „Ed, bist du total verrückt geworden? Warum prügelst du diesen Mann quer über Deck? Antwort, verdammt noch mal!“ Die eisblauen Augen des Seewolfs hatten sich zornig zusammengezogen, er funkelte Carberry an. Aber der Profos dachte gar nicht daran, sich einschüchtern zu lassen. „Was hier los ist, fragst du?“ brüllte er. „Dieser Dreckskerl sagt mir doch glatt ins Gesicht, daß ihn die Befehle des sogenannten Seewolfs nichts angingen. Im Gegenteil, wenn er ihm etwas mitzuteilen habe, dann möge er gefälligst zu ihm kommen! Das sagt mir dieser Kerl, als ich ihn aufforderte, deinen Befehl zu befolgen und zur Kuhl hinüberzugehen.“ Carberry holte Luft. „Damit das klar ist, Hasard, ein für allemal: Solange ich an Bord dieses
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Schiffes bin, werden deine Befehle befolgt, und zwar blitzartig und ohne jeden Widerspruch. Wer das nicht tut, den holt der Teufel. Was denkst du lausige Kakerlake eigentlich, wer du bist?“ brüllte er den Mann mit dem Geiergesicht in einer Lautstärke an, daß sogar den Männern der „Isabella“-Crew, die sich ebenfalls auf der Kuhl versammelt hatten, das Grinsen augenblicklich verging. Sie alle wandten dem Fremden, den niemand von ihnen bisher kennengelernt hatte, ihre Blicke zu. Big Old Shane, der riesige Waffenmeister und Schmied von Arwenack, der ebenfalls zu den Befreiten gehörte, sagte mit seiner grollenden, dunklen Baßstimme in die momentan herrschende Stille hinein: „Carberry hat völlig recht, Hasard. Ich würde jetzt auch gern erfahren, was für eine hochgestellte Persönlichkeit wir denn hier vor uns haben, wenn er. glaubt, daß er deine Befehle nicht zur Kenntnis zu nehmen braucht! Also, Mister, haben Sie die Güte und stellen Sie sich uns mal vor!“ Der Seewolf ließ Carberry los. In seinen Augen wetterleuchtete es. „Ich warte“, sagte er eisig. „Ich will jetzt wissen, wer Sie sind.“ Der Geiergesichtige, dessen Züge noch immer schmerzverzerrt wirkten, versuchte, sich hoch aufzurichten. „Ich bin Baldwyn Keymis, Friedensrichter von Falmouth. Ich bin vom Lordkanzler in dieses Amt eingesetzt worden, und ich verlange von Ihnen, Kapitän, daß Sie diesen Mann hier, der es gewagt hat, gegen mich die Hand zu erheben, sofort in Eisen schließen lassen. Danach werden Sie mir eine Kammer im Achterkastell zuweisen, mir eine meinem Amt entsprechende Sonderverpflegung servieren lassen und die junge Dame da zu meiner persönlichen Bedienung abstellen. Sollten Sie meine Wünsche ignorieren, werden Sie in England erhebliche Schwierigkeiten zu erwarten haben. Außerdem verlange ich, daß Sie auf dem schnellsten Wege nach England segeln.“ Keymis hatte das alles mit seiner arrogant schnarrenden Stimme mehr hervorgestoßen als gesprochen. Der Seewolf hingegen
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hatte sich nicht gerührt. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. „Können Sie sich legitimieren, Mr. Keymis?“ fragte er stattdessen kalt, während die Männer seiner Crew bereits zu murren begannen. Aber mit einer Handbewegung brachte er sie zum Verstummen. „Legitimieren?“ schnarrte der Friedensrichter aufgebracht. „Sie selbst haben mich und die anderen aus dem Kerker der Spanier geholt und stellen dann solche dummen Fragen. Fragen Sie die Kerls, fragen Sie das Weibsbild da, die können Ihnen bestätigen, daß ich der vom Lordkanzler eingesetzte Friedensrichter von Falmouth bin. Das wird Ihnen dann ja wohl genügen!“ Dan stand plötzlich vor dem Friedensrichter und hielt ihm seine Faust unter die Nase. „Hast du Schweinekerl eben Weibsbild zu meiner Schwester gesagt?“ fragte er drohend. „Und bedienen soll sie dich?“ fauchte er außer sich vor Wut. „Auf so was wie dich haben wir auf der ‚Isabella’ gerade noch gewartet. Strecke auch nur den kleinen Finger nach meiner Schwester aus, du lausiger Federfuchser, dann kann dich dein Lordkanzler bei den Fischen suchen, kapiert?“ Um Hasards Mundwinkel zuckte es. Er hatte Dan selten so wütend gesehen, und er selbst verspürte auch heftigen Ärger über diesen aufgeblasenen Kerl, der sich Friedensrichter von Falmouth nannte. Aber andererseits mußte er wirklich einen Teil seiner Wünsche respektieren, alles andere wäre höchst unklug gewesen. Auch wenn seine Crew ihn vielleicht nicht verstehen würde. Wieder murrten seine Männer, die inzwischen beinahe vollständig auf der Kuhl versammelt waren und die Neuen wie ein Kordon umgaben. Einer der fünf Fischer trat auf den Friedensrichter zu. „Es stimmt, du bist Baldwyn Keymis, der Friedensrichter von Falmouth. Aber das hat hier, an Bord der ‚Isabella’, keine Bedeutung. Ich begreife nicht, warum du
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deinen Rand so aufreißt. Hast du eigentlich vergessen, daß der Seewolf und seine Männer uns vor dem sicheren Tode unter spanischer Tyrannei bewahrt haben? Wenn ich du wäre, würde ich das Maul halten und alles tun, damit wir sobald wie möglich wieder in England sind.“ Der Mann trat zurück. Er hatte schon weißes Haar, und Hasard wußte, daß er George Garrett hieß. Seinen Worten folgte lautstarke Zustimmung, und Keymis warf giftige Blicke um sich. Aber er dachte gar nicht daran, dem Rat des Fischers zu folgen. „Also, was ist, erhalte ich nun endlich Antwort?“ schnarrte er. „Und wird dieser Kerl da“, er deutete auf Carberry, „jetzt in Ketten gelegt oder nicht?“ Der Seewolf trat hart an den Friedensrichter heran. „Schluß jetzt mit dem Theater“, sagte er. Aber der Klang seiner Stimme ließ nicht den geringsten Zweifel daran, daß das Maß endgültig voll war. „Auf meinem Schiff wird kein Mann meiner Besatzung in Eisen gelegt, schon gar nicht, wenn er nichts verbrochen hat, was eine solche Maßnahme rechtfertigen würde.“ „Nichts verbrochen?“ fuhr der Friedensrichter auf den Seewolf los. „Der Kerl da hat es gewagt, gegen mich die Hand zu erheben, er hat mich geschlagen, er hat ...“ „Er hat genau das getan, was ich auch getan hätte, Mr. Keymis!“ donnerte Hasard ihn an, denn jetzt riß ihm endgültig die Geduld. „Ich bin der Kapitän dieses Schiffes, Mr. Keymis, und mein Wort ist hier an Bord Gesetz! Meine Befehle werden befolgt, sofort und ohne Widerrede. Von allen, auch von Ihnen.“ Hasard funkelte ihn an. „Dennoch werde ich Ihren Rang respektieren. Sie beziehen eine Kammer im Achterschiff und sind vom Dienst an Bord befreit. Extraverpflegung gibt es nicht, Sie werden haargenau das essen, was alle erhalten, mich eingeschlossen.“ Er drehte sich zu Ben Brighton herum. „Ben, du gibst Keymis deine Kammer. Gwen wird ebenfalls im Achterkastell
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untergebracht, und zwar in der Gästekammer. Wenn Gwen an Bord etwas tun will, dann soll es mir recht sein, inwieweit und auf welche Weise, das bleibt ihr überlassen.“ Er wandte sich wieder den Männern zu, die auf der Kuhl standen. „Nun zu euch! Ihr wißt, daß wir nach England noch einen weiten Weg vor uns haben. Seit wir uns diese Galeone kaperten, fahren wir mit einer zu kleinen Besatzung, das hat uns sogar schon mehrfach in Gefahr gebracht. Ich begrüße daher die zahlenmäßige Verstärkung meiner Besatzung sehr. Auf uns warten Piraten, Stürme, wahrscheinlich auch noch spanische Schiffe, die alles daransetzen werden, uns unsere Beute wieder abzujagen. Deshalb verlange ich von jedem, daß er seine Pflicht tut, daß er sich so schnell wie möglich mit der ‚Isabella’, mit der notwendigen Seemannschaft und mit allem übrigen vertraut macht. Ein Teil von euch wird von Ferris Tucker und Al Conroy an den Geschützen ausgebildet, andere werden der Steuerbord- oder Backbordwache zugeteilt. Ben Brighton, Carberry, Ferris Tucker und Smoky werden sich darum kümmern. Es wird an uns allen selber liegen, ob und wann wir England wieder erreichen!“ Er sah die neuen Männer seiner Besatzung scharf an. „Das bedeutet aber, daß ihr alle ab sofort unter meinem Kommando steht und die Bordgesetze für euch alle gelten.“ Die Crew brach in wildes Gebrüll aus, in das die neuen Leute mit einstimmten. Nur der Friedensrichter sah hochmütig auf die Männer - und dem Seewolf entging das nicht. „Ben, schaff mir diesen Kerl jetzt aus den Augen“, sagte er leise. „Ich habe mit der Crew noch zu reden.“ Sein Bootsmann nickte nur, dann wandte er sich an den Friedensrichter. „Wenn Sie mir jetzt also bitte zu Ihrer Kammer folgen wollen, Mister“, sagte er, nicht ohne Spott in seiner Stimme. Baldwyn Keymis nickte arrogant. Endlich begannen die Dinge sich so zu entwickeln,
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wie er sie haben wollte. Aber sie würden sich noch ganz anders entwickeln, darauf konnte dieser verfluchte Seewolf jetzt schon Gift nehmen. Er sagte jedoch nichts. Nur an das Mädchen dachte er noch und warf ihr einen Blick zu, ehe er Ben Brighton auf das Achterkastell folgte. Es war kein guter Blick. 2. Als der Friedensrichter verschwunden war, winkte der Seewolf die Männer dichter zu sich heran. „Los, näher ran mit euch, noch näher“, sagte er. „Was ich euch jetzt zu sagen habe, braucht Mister Keymis nicht zu hören.“ Die Crew, die neuen wie die alten, bildeten einen dichten Kreis um Hasard. Dann sahen sie ihn gespannt an. „Normalerweise kann jeder Mann an Bord hören, was ich zu sagen habe“, begann er, „aber in diesem Fall ist das anders. Dieser Friedensrichter ist ein Mann, der nicht zu uns paßt. Wer Sonderrechte in Anspruch nimmt, wer sich vor der Arbeit an Bord drückt, wer die verachtet, die ihn wieder nach England bringen und für seine Sicherheit sorgen wollen, der gehört nicht zu uns. Es gibt nur ein Mittel, einen solchen Dreckskerl zu kurieren: Keiner spricht mit ihm, keiner beantwortet ihm eine Frage, gleich, um was es geht. Dieser Kerl ist für euch Luft. Er erhält sein Essen, sein Trinken. Er kann sich an Deck aufhalten oder auch im Großmars hocken, es interessiert uns nicht. Bedient wird er jedenfalls nicht, und du, Gwen, unterstehst dich, auch nur einen Finger für diesen Mann zu rühren. Dich wollte er als Bedienung haben, am liebsten hätte ich ihm für diese Frechheit vorhin ein paar reingehauen.“ Die Männer grinsten, aber irgendwie wirkten ihre Gesichter dabei gar nicht fröhlich. Sie stellten sich vor, was es für einen Mann bedeutete, innerhalb einer so engen Gemeinschaft, wie sie nun einmal an
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Bord der „Isabella“ herrschte, in Verschiß zu geraten. Ed Carberry drückte aus, was sie dachten, als er mit grollender Stimme sagte: „Für meinen Geschmack hast du dich mit diesem Halbaffen viel zu lange aufgehalten, Hasard. Dieser Keymis ist ein Arsch. Er soll sich in acht nehmen, daß ich ihm denselben nicht noch bis zu den Schulterblättern aufreiße!“ Damit wandte sich Carberry an die Neuen unter der Crew. „Und ihr habt auch gehört, was der Seewolf gesagt hat. Ich werde euch schon Feuer unter dem Hintern anzünden. Bis wir in England sind, werdet ihr euch nicht mehr daran erinnern, jemals als Landratten auf die Welt gekommen zu sein!“ Ferris Tucker, Dan, Smoky und noch ein paar andere grinsten hinter ihm her, als er zum Vorderkastell hinüberging, um am Ankergeschirr einiges zu klarieren. Sie kannten Carberry alle, seine rauhe Schale, seinen Lieblingsspruch vom Affenarsch, der sich manchmal schlimm anhörte, aber sie wußten, daß er unter seiner rauhen Schale ein weiches Herz verbarg, daß er jedem half, der Hilfe brauchte, daß er nie zögerte, einem Bordkameraden beizuspringen, und wenn er dabei sein eigenes Leben riskierte. Sie ahnten nicht, daß sie gerade diesen Mann so zornig und so unnachgiebig erleben sollten, wie ihn noch keiner von ihnen allen jemals kennengelernt hatte. Nach und nach kehrten die Männer an ihre Arbeit zurück oder ruhten sich aus, sofern sie zur Freiwache gehörten. Der Friedensrichter ließ sich nicht blicken. Gwen, das schlanke, hochgewachsene Mädchen mit den rotblonden Haaren, saß mit Dan und dem alten O’Flynn wieder auf dem Vorderkastell. Manch verstohlener, bewundernder Blick traf sie —und manchmal auch ein hungriger. Die Männer an Bord der „Isabella“ hatten schon lange keinen Kontakt mehr zu Frauen gehabt, und Gwen war bestimmt kein Mädchen, an dem ein Seemann einfach vorbeipeilte. Trotzdem hatte Gwen nicht das geringste zu befürchten, denn keiner der Männer war
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so verrückt, Gwen für ein Mädchen zu halten, bei dem man auf die schnelle Tour zwischen Topp und Takel landen konnte. Auf der „Isabella“ hatten sich Gruppen gebildet. Auf dem Vorkastell waren Al Conroy und Smoky damit beschäftigt, die „Neuen“ in verschiedene Bereiche der Bordarbeit einzuweisen. Al Conroy brachte den Fischern hauptsächlich den Umgang mit den Drehbassen bei, eine Sache, die für die „Isabella“ eines Tages über Sieg oder Untergang entscheiden konnte. Und die Fischer erwiesen sich als äußerst gelehrig, außerdem bereitete ihnen die Arbeit Spaß. Smoky hatte sich hingegen mehr mit den Landratten befaßt, in stundenlanger, unermüdlicher Arbeit erklärte er ihnen seemännische Begriffe, die Arbeit an den Brassen und Fallen, die Bedienung des Spills, scheuchte sie schließlich in die Wanten und unterwies sie in der wichtigsten Regel, die es für einen Seemann überhaupt gibt — eine Hand für den Mann, die andere fürs Schiff. Und auch Smoky mußte zu seinem Erstaunen feststellen, wie rasch sie begriffen, wie schnell sie selbst mit schwierigeren Dingen vertraut wurden. Sogar der Stadtschreiber, Robert Rowe, gab sich die erdenklichste Mühe, daß es ihm im Gegensatz zu den anderen an Kondition mangelte, dafür konnte er nichts, und das trug Smoky ihm auch nicht nach. Hin und wieder griff einer der anderen Männer helfend und unterstützend ein, die Neuen hatten jedenfalls sofort das Gefühl, an Bord keine Fremden, sondern längst in die Crew aufgenommen zu sein. Batuti und Will Thorne, der Segelmacher, saßen auf dem Hauptdeck und besserten die schweren Schlechtwettersegel aus. Sie wußten, daß es nur. noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis die „Isabella“ diese Segel wieder brauchen würde. Hin und wieder warfen sie einen Blick zu den Neuen hinüber. „Gutes Leut!“ radebrechte der riesige Gambianeger in seinem schauderhaften Englisch. „Wollen lernen! Wenn nicht verfluchtes Friedensrichter an Bord, dann alles gut. Geben Ärger, Batuti wissen,
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spüren hier!“ Batuti schlug sich gegen die Brust. Der Segelmacher nickte. Er spürte es ebenfalls. Außerdem kannte er den Gambianeger und mochte ihn. Auch schon deshalb, weil Batuti im Lauf der Zeit mehr und mehr Vorliebe für seemännische Handarbeiten entwickelt hatte, weil er spleißen konnte, wie kaum ein zweiter an Bord, und weil er des öfteren geradezu erstaunliche Verbesserungsvorschläge für die Takelage brachte, über die sogar der technisch äußerst versierte Ferris Tucker in Erstaunen und helle Begeisterung geriet. „Mir wäre auch lieber, Batuti, dieser Kerl wäre uns nie in den Kurs geraten. Aber er ist nun mal an Bord, wir sollten trotzdem ein wachsames Auge auf ihn haben. Es gefällt mir nicht, daß dieser Mensch in seiner Kammer hockt und sich an Deck überhaupt nicht sehen läßt!“ Will Thorne stach mit der Segelnadel zu. „Der brütet etwas aus, darauf kannst du Gift nehmen, Batuti. Ich kenne diese geiergesichtigen Typen, diese verkniffenen Lippen, diese arroganten Scheißkerle. Er ist von Carberry und später auch vom Seewolf gedemütigt worden, das vergißt der nie! Ich denke, wir werden in England und unterwegs noch einen Haufen Scherereien mit ihm kriegen!“ Big Old Shane, der Waffenmeister und Schmied von Arwenack, saß nicht weit von den beiden entfernt. Er hatte jedes Wort gehört. Mit einem Ruck legte er den großen Bogen, an dem er arbeitete und der wegen seiner ungewöhnlichen Konstruktion von Batuti und dem hünenhaften Schiffszimmermann schon bewundert worden war, auf die Decksplanken. Dann schob er sich, ohne aufzustehen, näher an die beiden heran. Eine Weile sah er den Segelmacher aus seinen grauen Augen an. „Ich fürchte, du hast recht“, sagte er dann. „Es paßt mir nicht, daß dieser im Achterkastell wohnt. Schon deswegen nicht, weil Gwen dort auch ihre Kammer hat.“ Batuti und der Segelmacher fuhren hoch.
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„Was willst du damit sagen, Shane? Du hältst ihn doch wohl nicht für so verrückt, daß er sich an Gwen ...“ „Ich würde es ihm nicht raten!“ grollte der Schmied und rollte die gewaltigen Arme, die von dicken Muskelsträngen durchzogen waren. „Aber wissen kann man das bei diesen Typen nie. Ich habe in Falmouth solche Herren gekannt“, und er betonte das Wort Herren auf ganz besondere Art, „die pflegten aufgrund ihres Standes jedes Mädchen als Freiwild zu betrachten, und in den allermeisten Fällen wagte auch niemand, sie zur Rechenschaft zu ziehen.“ Der Waffenmeister ballte die Rechte zur Faust. „Aber er soll sich in acht nehmen! Ich erschlage ihn wie einen tollen Hund und werfe ihn anschließend den Haien zum Fraß vor!“ Er rutschte zurück. Unwillkürlich warf er einen Blick zum Achterkastell hinüber, auf dem sich Ferris Tucker, Carberry und Stenmark befanden. Und genau in diesem Moment geschah es. Baldwyn Keymis, der Friedensrichter aus Falmouth, betrat das Deck. Einen Moment blieb er bei der dicken Bohlentür, die den Zugang zu den Wohnräumen im Achterkastell bildete, stehen und blinzelte in die Sonne. Dann stieg er langsam die Stufen zum Achterkastell hoch; An der Schmuck-Balustrade, die das Deck des Achterkastells gegen die Kuhl sicherte, blieb er stehen und blickte die drei Männer an, aber die nahmen keinerlei Notiz von ihm. Baldwyn Keymis spürte die Welle von Abneigung, die ihm entgegenschlug, und er begann sich zu ärgern. Ruckartig setzte er sich in Bewegung und marschierte auf Stenmark, den langen Schweden zu. „Welcher Kurs liegt an?“ schnarrte er. „Wo sind wir, und wann werden wir in den Atlantik gelangen?“ Stenmark rührte sich nicht. Es war, als hätte der Friedensrichter mit dem Großmast gesprochen. Keymis lief rot an.
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„Ich habe dich etwas gefragt!“ fuhr er den Schweden an. „Und ich verlange eine Antwort!“ Stenmark schien ihn gar nicht zu hören. Pfeifend schlenderte er zu einer der Drehbassen hinüber und begann sie zu reinigen. Der Friedensrichter starrte ihm nach wie einer Erscheinung. Er fuhr auf dem Absatz herum und ging auf Ferris Tucker zu. Dort wiederholte er seine Fragen, aber der Schiffszimmermann schien ihn ebenfalls nicht zu hören. Er stand an der Achterreling und blickte angelegentlich ins Wasser. Als Keymis ihn mit der Rechten erbost anstieß, um ihn damit zu zwingen, Notiz von seiner Anwesenheit zu nehmen, wischte der rothaarige Hüne den Friedensrichter zur Seite wie ein lästiges Insekt. Das war aber auch die einzige Reaktion, die Keymis bei Tucker erzielte. Er starrte Carberry an, aber der schien irgendwo an der gerade noch erkennbaren Küste von Hispaniola etwas Hochinteressantes entdeckt zu haben und reagierte ebenfalls nicht. Keymis begann zu kochen. Aber noch gelang es ihm, sich zu beherrschen. Mit langen Schritten stelzte er über das Achterkastell. Er spähte auf die Kuhl, während er den Niedergang hinunterstieg. Dort glaubte er, sein nächstes Opfer in Gestalt von Batuti entdeckt zu haben. Dieser Nigger würde es nicht wagen, ihn wie Luft zu behandeln, ihn, den vom Lordkanzler eingesetzten Friedensrichter von Falmouth! Vor Batuti blieb er stehen. Als der Schwarze sich nicht rührte, stieß er ihn mit der Fußspitze an. „He, du!“ fuhr er ihn an. „Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede, oder ich werde dafür sorgen, daß man dir dein schwarzes Fell mit der Neunschwänzigen gerbt! Ich will, daß du mir auf der Stelle einen Becher Wasser holst, außerdem liegt in meiner Kammer ein Bündel dreckiger Wäsche. Bis heute abend wünsche ich die Wäsche wieder sauber in meiner Kammer vorzufinden! Los, hoch mit dir, du dreckiges Niggerschwein!“
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Er versetzte Batuti einen kräftigen Tritt, und im selben Moment spürte er, wie zwei gewaltige Fäuste zupackten, ihm die Beine unter dem Körper wegrissen und ihn mit einem Ruck, der Keymis fast die Besinnung raubte, gegen die Steuerbordreling schleuderten. Keymis spürte nur den schmetternden Schlag, mit dem er gegen das eisenharte Holz und die schweren Beschläge. prallte. Er rang verzweifelt nach Luft und konnte nicht begreifen, was da eben mit ihm geschehen war. Als er seine Lungen wieder voll Luft gepumpt hatte, fuhr er hoch, dabei vergaß er sogar den wilden Schmerz, der seinen hageren Körper durchzuckte. Er kam auf die Füße, starrte den Schwarzen an, der weiterhin neben Will Thorn, dem Segelmacher, auf dem Deck saß und ihm beim Ausbessern eines schweren Schlechtwettersegels half. Batuti saß da, als wäre nichts geschehen. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, auf den Friedensrichter verschwendete er keinen Blick. Baldwyn Keymis explodierte. „Holt diesen Killigrew, holt den Kapitän des Schiffes. Ich will ihn sprechen, auf der Stelle! Ich befehle euch, Mr. Killigrew zu holen!“ Seine Stimme überschlug sich vor Zorn, er zitterte vor Wut am ganzen Körper. Carberry tauchte an der Schmuckbalustrade auf. „Was gibt es? Wer, zum Donnerwetter, schreit da unten so idiotisch herum?“ Er starrte Keymis an. „Ich will auf der Stelle Mr. Killigrew sprechen! Dieser dreckige Nigger da hat es gewagt, sich an mir zu vergreifen, ich ...“ „Mr. Killigrew schläft, er wird jetzt nicht gestört. Wegen solcher verrückten Beschuldigungen schon gar nicht. Batuti soll sich an Ihnen vergriffen haben?“ Carberry schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht, er ist einer der friedlichsten Männer an Bord. Außerdem, sehen Sie doch selber — er arbeitet. Seit Stunden schon. Ich vermute, Sie sind ihm irgendwie zu nahe gerückt, vielleicht hat er sich lediglich mal bewegt, das reicht dann schon für so einen
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wie Sie. Sie müssen wissen, daß Batuti ungeheure Kräfte hat. Wir alle wissen das und gehen entsprechend vorsichtig mit ihm um. Was meinst du, Ferris? Und du, Stenmark? War es so?“ „Ich denke schon“, sagte der Schiffszimmermann grinsend. „Mr. Keymis sollte sich dringend ein wenig mit dem Bordleben der ,Isabella’ vertraut machen, ich bin sicher, daß ihm dann so etwas nicht wieder passiert.“ Carberry, Stenmark und Tucker verschwanden wieder auf dem Achterkastell. Und Batuti rührte sich immer noch nicht, ebenso wenig wie Will Thorn oder einer der anderen Männer, die an Bord irgendeiner Beschäftigung nachgingen, während die große, schwere Galeone durch die grünblaue See der Karibik pflügte. Baldwyn Keymis wußte, daß die ganze Sache ein abgekartetes Spiel war. Daß diese Kerle einen Spaß daran hatten, ihn zur lächerlichen Figur zu stempeln. Der Friedensrichter schwor sich, daß sie für alles büßen sollten, jeder einzelne von ihnen. Besonders jedoch dieser verdammte Nigger und dieser Carberry. Hängen lassen, würde er die beiden in England, in Ketten legen lassen. Sie sollten sich vor ihm nur in acht nehmen! Er sah sich um, und noch immer zitterte er vor Wut. Er erblickte die herrlich gewachsene Gwen, die in der Sonne auf dem Vorkastell neben ihrem Vater zu schlafen schien. Seine Blicke wanderten an ihrem jungen Körper entlang, glitten über die Brüste, die sich unter dem hellgrünen Seemannshemd deutlich abzeichneten. Baldwyn Keymis verzog seine schmalen Lippen zu einem höhnischen Grinsen. „Gut, diese Kerle schneiden mich, wahrscheinlich auf Anordnung von diesem Seewolf, dem es nicht gepaßt hat, daß ich von Anfang an klargestellt habe, wer ich bin und wer er ist“, murmelte er. „Aber sie trauen sich nicht an mich heran, sie hüten sich, tätlich gegen mich zu werden, und wenn, wie eben dieser Nigger, dann leugnen sie es hinterher. Gut, sie sollen ihr Spiel kriegen, ich werde ihnen zeigen, wer
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Baldwyn Keymis ist und wie man sich seinem Willen unterzuordnen hat. Vielleicht wird sie das kurieren! Sie sollen toben vor Wut, aber sie können nichts gegen mich unternehmen. Zu viele Zeugen befinden sich an Bord, die später in England aussagen werden.“ Er warf abermals einen Blick zu Gwen hinüber. „Dieser Nigger wird sich noch wundern, wie bald meine Wäsche gewaschen sein wird und wie bald mich diese kleine Hure da bedienen wird. Gerne bedienen wird, so wie Baldwyn Keymis, der Friedensrichter von Falmouth, es von ihr verlangt!“ Er verließ eilig die Kuhl und verschwand im Innern des Achterkastells. Er würde jetzt erstmal ein paar Gläser Rum zu sich nehmen. Eine Flasche stand in seiner Kammer, wahrscheinlich hatte dieser Bootsmann des Seewolfs sie dort vergessen. Baldwyn Keymis goß sich ein. Es waren ungute, schlimme Gedanken, die dabei sein Gehirn durchzogen und seine Phantasie beflügelten. Als sich die ersten abendlichen Schatten über die Karibik senkten, stieß er ein böses Lachen aus, denn er hatte noch eine zweite Flasche in der Seekiste Ben Brightons entdeckt. Er würde sich die „Isabella“ und ihre Ladung mal etwas genauer ansehen. Was er in dieser Beziehung aus Gesprächen der Männer aufgeschnappt hatte, war ja wirklich höchst interessant! Dieser Killigrew unterschätzt mich gründlich, dachte er. Er ahnt nicht einmal, über welche Beziehungen ich in England verfüge, aber er wird es zu spüren kriegen, das schwöre ich. Baldwyn Keymis rollte sich zur Seite und schlief ein. Er merkte nicht mehr, wie sich die Nacht über die Karibik senkte und die dahinsegelnde Galeone mit ihrer schützenden Dunkelheit umhüllte. Baldwyn Keymis schlief fast bis Mitternacht, aber dann war er plötzlich hellwach. Gierig griff er zu der zweiten Flasche, nahm einen gewaltigen Schluck und verzichtete diesmal sogar auf das Glas.
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Wieder stieg jener Gedanke in ihm hoch, über den er schon vorher nachgegrübelt hatte. Er trank weiter, und je mehr sein Gehirn sich umnebelte, je festere Gestalt nahm sein wahnwitziges Vorhaben an: Schließlich erhob er sich von seinem Lager. „Was wollen sie denn schon dagegen tun?” murmelte er. „Wenn ich, Baldwyn Keymis, der vom Lordkanzler eingesetzte Friedensrichter von Falmouth, es für richtig halte, etwas zu tun, dann haben alle anderen zu kuschen Er bewegte sich auf die Tür seiner Kammer zu, zögerte noch einmal für einen Moment, weil irgendwo in seinem umnebelten Unterbewußtsein so etwas wie eine Warnung auftauchte, das Gefühl, irgend etwas bei seinen Überlegungen übersehen zu haben. Aber dann wischte er seine Bedenken mit einer Handbewegung weg. „Was wollen sie schon dagegen tun?“ flüsterte er und verließ seine Kammer. Auf dem Gang, der zu den anderen Wohnräumen im Achterkastell führte, blieb er einen Moment stehen und lauschte. Aber alles war still, auch von Deck drangen keinerlei Geräusche in die Stille. Nur das Rauschen und Gurgeln der Hecksee, die hinter der dahinsegelnden Galeone eine phosphoreszierende Bahn bildete, war deutlich zu hören. Keymis schlich weiter. Vor der Kammer des Seewolfs lauschte er noch einmal, und wieder huschte ein böses Grinsen um seine dünnen Lippen, als sich auch dort nichts rührte. Er strich sich über seinen Ziegenbart, seine grauen Augen begannen zu funkeln. Dann schlich er weiter. 3. Gwendolyn Bernice O’Flynn warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Sie konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Zwischen diesen Gedanken tauchte immer wieder das Gesicht des Seewolfs auf. Das war nicht erst seit diesem Tage so, sondern schon lange. Praktisch seit damals, als sie ihm auf
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Arwenack begegnet war. Nur war sie sich damals nicht so genau darüber im klaren gewesen, was sie für diesen Mann empfand. Das wußte sie erst seit ihrer Befreiung aus dem spanischen Kerker in Santo Domingo, seit der Seewolf und seine Männer sie aus den Klauen dieses Hafenkommandanten Manuel de Buarcos gerissen hatten. Gwen wußte, welche gnadenlosen Prügel Hasard diesem fetten Schwein verabreicht hatte und warum. Wieder warf sich Gwen im unruhigen Halbschlaf auf die andere Seite. In der Kammer herrschte eine mörderische Hitze, und auch die stetig wehende Brise hatte unter Deck der Galeone keine spürbare Abkühlung gebracht, die Hitze steckte noch in jeder Planke, in jedem Beschlag. Gwen trug nur ein dünnes Nachthemd aus Leinen, der Seewolf hatte es ihr gegeben, und der Teufel mochte wissen, woher es stammte. Einen Moment hatte Gwen sogar so etwas wie Eifersucht verspürt, als er es ihr lächelnd gab, aber sofort schalt sie sich eine törichte Närrin. Es wäre ja noch schöner gewesen, wenn ausgerechnet ein Mann wie Hasard ein Leben geführt hätte wie ein Mönch. Gwen verfiel in einen unruhigen Schlummer, in dessen Träumen immer wieder der Seewolf auftauchte und Ungeheuer, die -ihm nach dem Leben trachteten. Sie bemerkte nicht, wie sich Zoll um Zoll ihre Kammertür öffnete und die hagere Gestalt des Friedensrichters sich hereinschob. Keymis blieb stehen, als er das Mädchen in dem schwachen Licht der nicht sehr dunklen Tropennacht erkannte, das durch das Fenster der Kammer hereindrang. Gierig glitten seine Augen über die eben noch erkennbaren Konturen Gwens. Das Denken fiel ihm schwer. Der Rum, den er in überreichem Maße zu sich genommen hatte, tat seine Wirkung. Dennoch besaß Keymis noch so viel Verstand, daß er die Tür wieder hinter sich zuzog und sogar den schweren Riegel vorschob.
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Bei diesem Geräusch allerdings erwachte Gwen. Sie fuhr hoch, immer noch im Glauben, das alles geträumt zu haben, und erblickte die hagere Gestalt des Friedensrichters, der sich in diesem Moment über sie warf. Gwen wollte einen Schrei ausstoßen, aber eine Hand verschloß ihr die Lippen. Hände und Brust des Mannes preßten sie auf ihr Lager. Man unterschätzte den Friedensrichter von seinem Äußeren her nur zu leicht. Dabei war er alles andere als ein Schwächling und außerdem geübt in Attacken dieser Art, Gwen war nicht das erste Mädchen, das er sich mit Gewalt nahm. Für einen .winzigen Moment war Gwen vor Entsetzen wie gelähmt. Dann spürte sie die Hände des Mannes, die gierig nach ihr griffen und ihr mit einem Ruck das dünne Nachthemd vom Körper rissen. Keymis warf sich auf sie, preßte seine Lippen auf ihren Mund, auf ihre Brüste und das war der Augenblick, in dem sich in ihr alles dagegen aufbäumte, von diesem widerlichen Kerl vergewaltigt zu werden. Sie riß die Arme hoch, schlug wie wild um dich, schnellte hoch, trotz des Mannes, der auf ihr lag, und stieß Keymis zur Seite. Dann schrie sie. Ihr Schrei gellte durch die Kammer, aber Gwen kam nicht mehr dazu, auch noch nach Hasard zu rufen, den sie nur wenige Yards von sich entfernt in seiner Kammer wußte. Keymis fiel über sie her. Brutal schlug er sie ins Gesicht, warf sie zu Boden und schrie auf, als Gwen ihm mit den Nägeln ihrer Finger durch das Gesicht fuhr und dort blutige Striemen hinterließ. „Du verdammte Katze!“ keuchte Keymis, vor Gier völlig außer sich. „Mit solchen Huren wie dir bin ich noch immer fertig geworden! Sei vernünftig, tu, was ich von dir verlange, und ich garantiere dir dafür, daß du als einzige von dieser ganzen Piratenbrut in England vor dem Galgen sicher bist! Denn ich bringe sie alle an den Galgen, alle, du wirst sehen! Niemand schlägt mich ungestraft, niemand macht Baldwyn Keymis ungestraft lächerlich! Komm jetzt, du kleines Luder!“
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Gwen spürte, wie er sich erneut auf sie warf. Sie war ein kräftiges Mädchen, aber gegen Keymis hatte sie keine Chance. Der Kerl war geübt, er wußte, was er zu tun hatte, und: schaudernd spürte sie, wie von Sinnen, wie gierig er war. Abermals warf sie sich herum. Es gelang ihr, den Friedensrichter abzuschütteln und aufzuspringen. Nackt, wie sie war, warf sie sich gegen die Kammertür, aber die war zu, der schwere Riegel, den Keymis vorgelegt hatte, versperrte ihr den Weg auf den rettenden Gang. „Hasard — zu Hilfe! So hilf mir doch, ich werde ...“ Ihr Schrei gellte durch die Kammer, aber Keymis war heran. Er riß Gwen zurück, hielt ihr erbarmungslos den Mund zu und schleppte sie zu ihrem Lager zurück. Gwen trat um sich wie eine Wilde, sie rammte dem Friedensrichter den Kopf unter das Kinn, wehrte sich aus Leibeskräften, aber es half ihr nichts, der Mann war der Stärkere. Er zwang sie aufs Lager, warf sich abermals auf sie und versuchte, ihren Widerstand zu brechen. Das gab ihr ein letztes Mal Riesenkräfte. Sie krümmte sich zusammen, ließ sich von ihrer Lagerstatt fallen und rollte sich blitzschnell über den Boden in Richtung Tür. Wie der Blitz war sie auf den Beinen und schob den Riegel zurück. Dabei schrie sie aus Leibeskräften. Mit einem wilden Fluch sprang Keymis sie an, aber in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, so heftig, daß sowohl Gwen als auch der Friedensrichter in die Kammer katapultiert wurden. * Der Seewolf hatte bereits den ersten Schrei gehört, den Gwen ausgestoßen hatte. Aber er war sich seiner Sache nicht sicher gewesen. Es kam auch bei ihm in letzter Zeit schon mal vor, daß er träumte und dann aus dem Schlaf hochschreckte. Dennoch war er mit einem Satz aus dem Bett und streifte sich blitzartig seine Hose über. Im nächsten Moment befand er sich auf dem Gang.
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Er hörte zunächst nichts. Aber dann plötzlich tönte ein zweiter Schrei, und zwar aus der Kammer, in der Gwen schlief. Hasard jagte los. Er riß die Tür der Kammer auf, in der der Friedensrichter schlief, und sofort sah er, daß Keymis sich nicht in seinem Bett befand. Hasard wollte es nicht glauben. So wahnsinnig konnte doch dieser Mann gar nicht sein! Aus Gwens Kammer vernahm er jetzt Keuchen und Stöhnen. Irgendetwas polterte zu Boden, dann erklang wieder ein Schrei, der dem Seewolf durch Mark und Bein ging. Er hörte, wie Gwen seinen Namen rief. Der Seewolf flog durch den Gang. Innerhalb von Sekunden befand er sich vor Gwens Kammer. Aber die Tür war verriegelt. Er hörte, wie das Mädchen da drinnen kämpfte, aber er wußte auch, daß sich diese massive Bohlentür nicht so ohne weiteres aufbrechen ließ. Die „Isabella V.“ war von einem Meister seines Fachs erschaffen worden, es gab an ihr nichts, was sich so ohne weiteres aufbrechen ließ. Hasard öffnete schon den Mund, um Gwen zuzurufen, daß er zur Stelle sei, daß er ihr helfen würde, aber dann schwieg er. Keymis, falls es sich um diesen handelte, brauchte das nicht zu wissen. Denn Hasard blieb gar nichts anderes übrig, als Ferris Tucker und seine riesige Axt zu Hilfe zu holen, anders gelangte er in die Kammer nicht hinein. Wieder drang der Kampfeslärm aus der Kammer hinaus auf den Gang: Dem Seewolf brach der Schweiß aus. Verflucht, er konnte für Gwen nichts tun, nicht im Augenblick, oder doch? Er dachte an das Fenster. Aber war es auf? Nein, Ferris mußte her! Verdammt, hörte denn keiner den Lärm? In diesem Moment schrie Gwen zum dritten Mal um Hilfe, gleich darauf riß sie den Riegel zurück. Hasard zögerte keine Sekunde. Er warf sich mit aller Gewalt gegen die Tür. Mit der ganzen Kraft seines Körpers, mit der Wucht seines Anpralls katapultierte er sie
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nach innen. Er sah, wie Gwen zur Seite geschleudert wurde – und daß sie splitternackt war. Und er erblickte Keymis, den Friedensrichter aus Falmouth. Hasard sah rot. Mit einem Satz war er heran und riß den Friedensrichter hoch. Dann schlug er zu, wieder und wieder. Keymis wimmerte, bat um Gnade, schlug plötzlich zurück, trat und biß um sich wie ein Wahnsinniger. Aber es half ihm nichts. Hasard prügelte ihn vor sich her, den Gang entlang, aus dem Achterkastell auf die Kuhl, trieb ihn mit schweren Schlägen quer über das Deck, bis Keymis zusammenbrach, liegenblieb und sich nicht mehr rührte. „Ben, Ed!“ brüllte der Seewolf, aber das war nicht mehr nötig. Denn eben tauchten die ersten der Wache auf. Allen voran Ed Carberry. „Hasard — was zum Teufel ...“ Er verstummte, als er den Friedensrichter an Deck liegen sah. Und er wurde blaß, als Hasard den Kerl mit einem Ruck von den Planken hochriß und ihn Carberry in die Arme schleuderte. „Sperr dieses Schwein in die Vorpiek, Ed. Leg ihm Eisen an, er darf nicht die geringste Chance haben, über Bord zu springen. Und genau das wird er vielleicht versuchen, wenn er wieder bei Besinnung ist. Dieser Dreckskerl ist in Gwens Kammer eingedrungen und hat versucht, sie zu vergewaltigen. Ich hoffe, daß ich noch zur rechten Zeit eingreifen konnte, dieses Schwein hatte den Riegel vorgelegt, ich wollte schon Ferris holen!“ Der Seewolf hatte diese Worte voller Zorn hervorgestoßen. Er wollte zu Gwen, so schnell wie möglich. „Morgen berufe ich ein Bordgericht ein, Ed. Schafft ihn jetzt weg, ich will ihn nicht mehr sehen!“ Damit verschwand der Seewolf. Carberry hielt Keymis in seinen Armen, aber er ließ ihn jetzt fallen, als habe er sich die Finger an ihm verbrannt. Keymis stürzte schwer auf das Deck. „Holt Ferris. Sagt ihm, er soll Big Old Shane auch mitbringen. Dieser Bursche hier kriegt ein paar solide Eisen verpaßt,
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dann ab mit ihm in die Vorpiek. Er wird die ganze Nacht bewacht, ist das klar? Und daß sich niemand an diesem Hurensohn die Finger dreckig macht. Für das, was er getan hat, wird er morgen büßen!“ Es hatte sich inzwischen eine ganze Reihe von Männern aus der „Isabella“-Crew eingefunden. Drohend schloß sich der Kreis der Seeleute immer enger um den Bewußtlosen. Erst Ferris Tucker und Big Old Shane scheuchten sie zur Seite. Jemand hatte eine Pütz mit Seewasser geholt und goß sie Keymis über den Kopf. Er erwachte und sofort war ihm klar, in welcher Lage er sich befand. Er wollte den Mund schon öffnen, um die Männer der „Isabella“ anzugeifern, aber Dan stopfte ihm mit einem Faustschlag das Maul. „Du hast hier gar nichts mehr zu reden, klar?“ fauchte er den Friedensrichter an. „Wenn es nach mir ginge, würden wir dich jetzt an der Nock der Großrah aufknüpfen. Aber der Seewolf hat es anders befohlen. Eins merke dir jedoch: Ich gehe jetzt zu meiner Schwester. Wenn du Dreckschwein sie geschändet hast, bringe ich dich um. Jetzt und hier. Und ich will sehen, wer mich daran hindern wird. Von diesen Männern ganz bestimmt keiner!“ Dan griff nach seinem Vater, der trotz seines Holzbeines mit erstaunlichem Tempo vom Vorkastell zur Kuhl geturnt war, als er erfahren hatte, was sich im Achterkastell in der Kammer seiner Tochter abgespielt hatte. Er blieb noch einmal stehen und sah Keymis an. Dann griff er plötzlich zu und zog den Friedensrichter zu sich heran. „Ich erschlage dich persönlich mit meinem Holzbein, du Hund, wenn du Gwen auch nur ein Haar gekrümmt hast“, sagte er und schleuderte Keymis von sich. Dann stelzte er mit Dan davon, und sein Gesicht verhieß nichts Gutes. * Kurz vor Sonnenaufgang erhob sich Hasard. Sofort war ihm die Sache mit Keymis wieder gegenwärtig, und er stieß eine Verwünschung aus. Er haßte derartige
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Zwischenfälle aus tiefster Seele, aber er wußte auch, daß er diesmal hart durchgreifen mußte, wenn er vor seiner Crew nicht das Gesicht verlieren wollte. Noch vor dem Einschlafen hatte er lange über das nachgegrübelt, was jetzt stattfinden sollte: das Bordgericht. Ihm war die Wahnsinnstat des Friedensrichters völlig unverständlich. Der Mann mußte doch gewußt haben, was er sich dabei einhandelte. Und daß man ihn erwischen würde, das war von Anfang an sicher. Er konnte doch nicht davon ausgegangen sein, daß ausgerechnet Gwen sich mit ihm einlassen würde. Der Seewolf schüttelte den Kopf, während er seine Kammer verließ, um sich an Deck mit ein paar Pützen Seewasser über den Kopf den Schlaf zu vertreiben. Es blieb eigentlich nur noch die Möglichkeit, daß dieser Dreckskerl sich für unantastbar hielt. Wie schief er damit lag, das würde er schon noch begreifen. Dennoch war sich Hasard darüber im klaren, daß Keymis ihm in England bestimmt erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. Er betrat die Kuhl, ging zum Hauptdeck hinunter, wo er den Kutscher schon rumoren sah. „Gib mir das Ding mal her, Kutscher“, sagte er und nahm dem Smutje und Feldscher der „Isabella“ den Holzeimer weg, mit dem der gerade Wasser schöpfen wollte. Hasard warf den Eimer, der an einem Tau hing, in Lee über Bord, zog ihn herauf, streifte die Hose herunter und warf sie dem Kutscher zu. Dann schüttete er sich das kalte Seewasser über den Körper. Noch dreimal wiederholte er die Prozedur, dann zog er sich wieder an. Seine sonnengebräunte Haut glänzte, wenn er sich bewegte, spielten die Muskelstränge. „Weck die anderen, Kutscher. Alle Mann an Deck. Sag Ben, er soll die ‚Isabella’ beidrehen lassen. Dann soll er zu mir in die Kammer kommen und Carberry, Ferris, Big Old Shane und Smoky mitbringen. Los, beeil dich. Sorge dafür, daß Keymis sein Frühstück kriegt, er wird es brauchen.“
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Der Kutscher nickte grinsend. Gleich darauf schallte seine Stimme über Deck, und es war erstaunlich, welche Lautstärke sie entwickelte. „Alle Mann an Deck. Macht schon, schwingt eure Ärsche aus der Miefmulde, oder Carberry wird euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen abzie ...“ Eine harte Hand packte den Kutscher im Genick. Der Kutscher ließ vor Schreck die Pütz fallen, denn die Hand begann ihn gehörig zu beuteln. „Hör mal zu, du halbe Portion. Wenn du nicht gleich deinen Rand hältst, werde ich mich mal eingehend um deinen Affenarsch kümmern, klar? Und hinterher weißt du kalfaterter Klabautermann nicht mehr, wo Luv und Lee ist!“ Ed Carberry ließ den Kutscher los und grinste ihn aus seinem narbenübersäten Gesicht an. Der Kutscher stieß eine Verwünschung aus, klaubte seinen Eimer auf und senkte ihn über Bord. Dann verschwand er mit der vollen Pütz blitzartig in seiner Kombüse. „He, wenn du lausige Kakerlake etwa damit unseren Kaffee kochen willst, holt dich der Teufel, mein Junge, und der wird mir verdammt ähnlich sehen!“ grölte Carberry hinter ihm her und schüttelte sich vor Lachen. Andere Männer fielen ein, aber Carberry ließ ihnen keine Zeit. „An die Brassen, Männer, klar bei Halse. Los, los, oder ich werde euch schon wachpurren! Und vergeßt nicht, euch zu waschen, ihr Hammel, ihr stinkt ja wie eine Herde von Kapaffen!“ Ben trat auf ihn zu. „Gut, daß du da bist, Ben“, sagte Carberry zu dem Bootsmann. „Übernimm jetzt, ich will mich für den bevorstehenden Staatsakt ein bißchen herrichten. Ich denke, dieses Schwein von Friedensrichter wird seine Freude am Seewolf haben.“ Ben Brighton nickte, aber im Gegensatz zu Carberry wirkte er ernst an diesem Morgen. Er dachte daran, daß sie schon einmal ein Bordgericht abgehalten hatten, und dann war der Kopf Sir Doughtys auf die Planken gerollt. Diese Szene ging ihm auch jetzt noch nach.
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Die Männer an den Brassen zogen die Rahen herum, das schwere Schiff luvte an, drehte weiter und weiter und verlor an Fahrt. Die großen Segel begannen zu killen, lautes Knattern übertönte für einen Moment jedes andere Geräusch an Bord und steigerte sich dann zu donnerndem Knallen. Danach standen die Segel back, die „Isabella“ glitt nur noch langsam durch die blaugrüne See. Ben Brighton beobachtete die Segel und die Fahrt des Schiffes genau. Dann scheuchte er die Männer in die Takelage. „Runter mit dem Tuch!“ brüllte er. „Der Teufel soll euch alle holen, wenn ihr nicht fertig seid, ehe das Schiff über das Heck davonsegelt!“ Ein Grinsen überzog sein wettergegerbtes Gesicht, als er sah, wie blitzschnell die Segel aufgegeit und dann mittels der Zurrings an den Rahen festgelascht wurden. Ben Brighton wußte nicht genau, warum der Seewolf das Beidrehen befohlen hatte. Normalerweise hätte die „Isabella“ auch während des Bordgerichts ruhig weiterlaufen können. Aber Ben ahnte Schlimmes, denn für dieses Vergehen, dessen der Friedensrichter sich schuldig gemacht hatte, gab es nur eine Strafe. Die „Isabella“ verlor auch den Rest von Fahrt und lag schließlich still im Wasser. Ankern konnten sie nicht, das Wasser war an dieser Stelle viel zu tief. Rund tausend Faden Wasser unter dem Schiff — soviel Ankertrosse hatte keine Galeone der Welt. Daher würde die „Isabella“ langsam vom Wind in Richtung Mona Passage getrieben werden, genau richtig also. Es war Zeit, daß er mit Smoky, Ed, Ferris und Big Old Shane zur Kammer des Seewolfs marschierte. Er warf einen letzten Blick zu den im Rigg arbeitenden Männern, dann winkte er die Gefährten heran. „Wir wollen den Seewolf nicht warten lassen“, sagte er. 4.
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Hasard wartete bereits in seiner Kammer. Aber er war nicht allein. Gwen saß ihm gegenüber. Sie hatte ihn auf dem Gang abgepaßt und um eine Unterredung gebeten. Hasard sah das Mädchen an, und er mußte sich an diesem Morgen verdammt zusammennehmen, um seine Gefühle nicht zu verraten. „Also, Gwen, was gibt es?“ fragte er schließlich, weil er sah, daß dem Mädchen der Anfang offenbar schwer wurde. Gwen gab sich einen Ruck. „Ihr wollt ein Bordgericht einberufen, um Keymis zu bestrafen, für das, was er gestern nacht versucht hat ...“ Hasard stand auf und ging langsam um den großen Tisch herum, auf dem neben spanischen Seekarten auch nautische Instrumente lagen. Hinter Gwen blieb er stehen und legte dem Mädchen die Rechte auf die Schulter. „Ich wußte, daß du für diesen Kerl bitten würdest, denn das hast du doch vor, oder nicht?“ Gwen nickte. „Aber es ist wohl zwecklos, wie?“ fragte sie dann. Der Seewolf schwieg eine Weile, bevor er antwortete. „Es ist zwecklos, Gwen“, erwiderte er dann. „Ich hasse solche Verhandlungen. Ich habe noch nicht vergessen, wie Sir Thomas Doughty zum Tode verurteilt und an Bord der ,Pelican` Kapitän Drakes zwei Tage später enthauptet wurde. Doughty hatte zu meutern versucht, außerdem wurde er des Verrats für schuldig befunden. Auch in diesem Fall muß ein Urteil gefällt. werden. Ich weiß nicht, welches, denn Ben Brighton wird den Vorsitz führen, weil Keymis mich jederzeit wegen Befangenheit ablehnen könnte. Ben ist frei in seinen Entscheidungen, ich kann und will da nicht eingreifen.“ Er schwieg wieder einen Moment, während sich Gwen zu ihm herumdrehte und ihn ansah. „Ich habe die ‚Isabella’ stoppen lassen“, fuhr Hasard fort. „Wenn Ben aufmerksam war, und daran zweifle ich nicht, dann wird
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er erraten haben, was ich ihm mit diesem Manöver signalisieren wollte. Es war alles, was ich für Keymis noch tun konnte. Normalerweise hätte er den Tod verdient.“ Gwen fuhr erschrocken hoch. „Nein, nein — das nicht. Dieser Kerl ist ein Schwein, aber ihr könnt ihn doch nicht ...“ „Es wird nicht geschehen, Gwen. Ich kenne Ben lange genug. Aber die Strafe wird dennoch hart sein, daran besteht kein Zweifel. Das Leben an Bord, die enge Gemeinschaft, in der wir hier leben, verlangt das. Würde ich auch nur den Versuch unternehmen, diesen Mann zu begnadigen, ich würde vor meinen Männern das Gesicht verlieren. Und vergiß nicht, jeden hier an Bord würde ein hartes Urteil treffen, wenn er sich eines so schweren Vergehens schuldig machte. Aber es freut mich, daß du für ihn bittest, es zeigt mir, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe, von Anfang an nicht, Gwen.“ Gwen trat an ihn heran und strich ihm plötzlich mit der Hand durch das lange schwarze Haar. „Schön, daß du das gesagt hast, gerade du, Hasard!“ Für einen Moment schmiegte sie sich an ihn, dann löste sie sich wieder. „Ich werde vermutlich als Zeugin auftreten müssen?“ forschte sie. „Ja, allerdings.“ Der Seewolf zögerte. „Das ist der Punkt, der mir noch Sorgen bereitet, Gwen. Ben muß seine Anklage beweisen, es kann sein, daß er dich auffordert, dich zu ...“ Gwen legte ihm rasch die Hand auf den Mund. „Ich werde tun, was er von mir verlangt. Ich will nicht, daß an der Rechtmäßigkeit des Urteils auch nur der geringste Zweifel bestehen könnte. Niemand hier an Bord mag diesen Keymis, aber das darf keinen Einfluß darauf haben, was mit ihm geschehen wird. Und ich werde — das ist mein gutes Recht als die Betroffene — für ihn bitten, bevor das Urteil gefällt wird.“ In diesem Moment klopfte es. Nachdem Hasard „Herein“ gerufen hatte, traten Ben, Ferris Tucker, Big Old Shane und Smoky ein.
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Hasard forderte sie auf, Platz zu nehmen. „Ihr wißt, warum ich euch hierhergebeten habe. Gegen Keymis findet eine Verhandlung statt. Du, Ben, .wirst die Anklage vertreten. Ich selbst will und kann das nicht, Keymis würde mich zu Recht als befangen ablehnen. Du, Ben, stellst jetzt sofort die Jury zusammen. In deiner Entscheidung bist du völlig frei, wie die Geschworenen auch. Es versteht sich von selbst, daß keiner der beiden O’Flynns als Geschworener in Frage kommt. Also, Ben, vorwärts jetzt, ich möchte diese scheußliche Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Ben Brighton nickte. Er hatte das geahnt, aber der Seewolf handelte absolut richtig. Ben Brighton sah Big Old Shane an, dann Ferris Tucker, dann Smoky. „Du, Shane, und du, Ferris, und du auch, Smoky — ihr seid Geschworene. Außerdem ernenne ich Will Thorne, Valdez, Jeff Bowie, Al Conroy, Jean Ribault, Karl von Hutten, Sven Nyberg, Gary Andrews und Stenmark zu Geschworenen. Zwölf schreibt das Gesetz in England vor. Da wir uns auf See befinden und an Bord eines englischen Schiffes, ist jedes Besatzungsmitglied zulässig, sofern nicht verwandt oder verschwägert mit dem Beklagten oder der Klägerin. Die Nationalität spielt keine Rolle, und ich habe absichtlich keine Hitzköpfe ausgewählt. Verständigt jetzt die anderen Geschworenen. Die Verhandlung beginnt in einer Viertelstunde auf der Kuhl.“ Ben Brighton trat auf Gwen zu. „Gehen Sie jetzt in Ihre Kammer, Gwen, ich werde Sie holen lassen, sobald das notwendig wird. Vielleicht kann ich Ihnen einige Unannehmlichkeiten nicht ersparen, aber dafür bitte ich um Verständnis. Es gilt nicht, Rache gegen Keymis zu üben, sondern ihn für sein Vergehen zu strafen.“ Ben Brighton blickte das Mädchen ernst an. „Sie wissen, was auf Vergewaltigung nach englischem Recht steht?“ Gwen erblaßte.
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„Ich weiß, daß mir als Klägerin das Recht zusteht, für den Beschuldigten zu bitten, Mr. Brighton“, erwiderte sie. Ben nickte. „Ja, aber viel wird von Keymis selbst abhängen, Miß O’Flynn. Sein Glück, daß es nur eine versuchte Vergewaltigung geworden ist!“ Ben Brighton verließ die Kammer, Gwen nach einem letzten Blick zum Seewolf ebenfalls. * Die Männer hatten sich auf der Kuhl versammelt. Sie hatten sich an Backbord aufgestellt. Die Geschworenen bildeten an Steuerbord einen Halbkreis, in der Mitte der Kuhl standen zwei Stühle. Einer für Ben, der als Ankläger und Richter zugleich fungierte, der andere für Keymis. Neben Ben hatte sich Ed Carberry aufgebaut, er hatte wieder die Funktion des Profos übernommen. Die Männer verhielten sich still, Ben Brighton blickte in ernste Gesichter. Jeder an Bord der „Isabella“ wußte, daß dies hier kein Spaß, sondern ganz verdammter Ernst war. „Profos, holen Sie jetzt den Beklagten“, sagte Ben Brighton in die Stille hinein. „Und Sie, Mr. O’Flynn, rufen jetzt die beiden Zeugen Gwendolyn Bernice O’Flynn und Mr. Killigrew, den Kapitän dieses Schiffes. Außerdem ist der ehemalige Stadtschreiber von Falmouth, Mr. Robert Rowe zu verständigen, daß er bei diesem Bordgericht als Protokollführer fungieren wird. Er ist ebenfalls zu rufen.“ Carberry und der alte O’Flynn setzten sich in Bewegung. Carberry ging nach vorn, wo der Friedensrichter in der Vorpiek in Eisen lag und von Dan O’Flynn bewacht wurde, der alte O’Flynn humpelte auf seinem Holzbein zum Achterkastell hinüber, wo Gwen, Hasard und der Stadtschreiber warteten. Dabei verspürte der alte O’Flynn ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er hatte Ben Brighton noch niemals so formell erlebt und so sprechen gehört. Verdammt,
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da saß ja jedes einzelne Wort wie ein Schlag mit dem Belegnagel! Mann, o Mann! dachte er, während er im Achterkastell verschwand, in der Haut von diesem Keymis möchte ich nicht stecken. Auch der alte O’Flynn vergegenwärtigte sich, was Dan ihm über die Verhandlung gegen Thomas Doughty berichtet hatte. Er klopfte und betrat die Kammer des Seewolfs. „Ihr sollt auf der Kuhl erscheinen“, sagte er, als er die fragenden Blicke registrierte. Über Hasards Nasenwurzel erschienen zwei steile Falten. „Beide Zeugen?“ fragte er nur, und als der alte O’Flynn nickte, schwieg er. Der Stadtschreiber nahm sein Schreibzeug. Dann verließen die Männer das Achterkastell. Inzwischen hatte Carberry das Vorderkastell ebenfalls erreicht. „Öffnen!“ sagte er nur zu Dan. „Schließ den Gefangenen los, aber beeil dich, Dan!“ Dan O’Flynn sah den Profos erschrocken an. Selten hatte er diesen Mann so grimmig und so entschlossen gesehen. Er befolgte seine Anweisung und zog den schweren Riegel der Tür zurück, hinter der die Vorpiek lag. Baldwyn Keymis richtete sich auf. Aus schmalen Augen blinzelte er Dan entgegen, das Licht der Bordlaterne, die Dan vom Haken genommen hatte, blendete ihn nach all den Stunden, die er in völliger Dunkelheit verbracht hatte. Als Dan sich über ihn beugte, um die Eisen, die Hand- und Fußgelenke umschlossen, zu öffnen, fauchte er ihn an: „Endlich! Das wird aber auch Zeit! Ich werde euch Piratenpack hängen lassen, einen nach dem andern, sobald wir in England sind! Und diese verlogene Hure, diese Gwendo ...“ Dan richtete sich auf und wollte zuschlagen, aber Carberry war schneller. Er packte Dan und drückte ihn zur Seite. Dann schirmte er den Friedensrichter mit seinem breiten Rücken vor dem tobenden Dan ab. „Aufstehen!“ herrschte er Keymis an. Dabei spannte er den Hahn seiner Pistole.
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Als der Friedensrichter das Knacken hörte, fuhr er herum und starrte die Waffe in der Hand des Profos an. Er wurde blaß bis zur Kinnspitze. „Was - was bedeutet das? Sind Sie wahnsinnig, mich, den vom Lordkanzler eingesetzten Friedensrichter von Falmouth mit der Waffe in der Hand zu bedrohen?“ „Aufstehen!“ wiederholte Carberry, und in seiner Stimme war etwas, was Keymis augenblicklich gehorchen ließ. „Ich werde Sie jetzt vor die Geschworenen führen. Es findet gegen Sie eine Verhandlung an Bord dieses Schiffes statt. Beim geringsten Versuch Ihrerseits, sich dieser Verhandlung durch Flucht oder auf andere Weise zu entziehen, schieße ich Sie nieder. Vorwärts, marsch!“ Dan starrte Carberry aus offenem Mund an. So hatte er diesen sonst so lauten und derben Mann noch nie sprechen gehört. „Waas? Sie wollen-ich soll ...“ „Vorwärts!“ wiederholte Carberry eisig. „Wenn Sie mir Schwierigkeiten bereiten, wende ich Gewalt an!“ Keymis taumelte hoch, wankte die Stufen, die von der Vorpiek ins Vorkastell führten, hoch und erschien Sekunden später von Carberry gefolgt an Deck. Er war grau im Gesicht, denn er hatte den Ernst seiner Lage begriffen. Diese Kerle waren hart wie Granit! Er spürte, daß ihn hier kein Lordkanzler der Erde schützen konnte. Ohne ein einziges weiteres Wort schlurfte er über das Hauptdeck, an den sorgfältig mit Segeltuch abgedeckten Culverinen vorbei zur Kuhl. Beim Anblick der zwölf Geschworenen und Ben Brightons, der das Ankläger- wie das Richteramt versah, verschlug es ihm glatt den Atem. Er -sah den leeren Stuhl, erblickte den Seewolf und Gwen, die in einem provisorisch errichteten Zeugenstand neben dem Stadtschreiber saßen, dem man zum Protokollieren einen Tisch und einen Stuhl auf die Kuhl geschafft hatte. Der scharfe Verstand Baldwyn Keymis’ erkannte in diesem Moment die Chance, die er hatte, um dieses Gericht anzufechten. Und er zögerte keine Sekunde.
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Er schritt würdevoll auf die Kuhl - er zwang sich dazu mit aller Selbstbeherrschung, über die er verfügte. Noch bevor Ben Brighton überhaupt etwas sagen konnte, fuhr er ihn und die Geschworenen an: „Ich lehne dieses Gericht als nicht zuständig ab. Ich genieße in meiner Eigenschaft als vom Lordkanzler eingesetzter Friedensrichter Immunität und bin nicht verklagbar. Außerdem besteht dieses Gericht aus Laien, die ich als unkundig und befangen ablehne. Beweis: Zwei Zeugen im Zeugenstand, wobei doch jedes Kind weiß, daß Zeugen nicht während einer Verhandlung vor ihrer Aussage zusammengeführt werden dürfen. „Alles, was diese beiden gegen mich vorzubringen gedenken, erkläre ich hiermit vorsorglich für null und nichtig. Selbst wenn dieses Gericht seine Zuständigkeit glaubhaft nachweisen könnte - wo ist der vom Gesetz vorgeschriebene Rechtsbeistand, auf den jeder Beklagte ein Recht hat?“ Keymis hatte das alles würdevoll, ohne Hast und mit näselnder, arroganter Stimme vorgebracht. Er blickte sich triumphierend um, aber er hatte seine Rechnung ohne Ben Brighton gemacht. Ben Brighton gab Carberry ein Zeichen, und der Profos dirigierte Keymis zu dem leeren Stuhl. Als der Friedensrichter sich setzen wollte, hinderte Carberry ihn daran. „Solange das Gericht Ihnen nicht erlaubt, sich zu setzen, bleiben Sie stehen, verstanden?“ Keymis Züge verzerrten sich vor Wut, aber Ben Brighton ließ ihm keine Zeit, seinem Zorn freien Lauf zu geben. „Ich bin Ihnen als Vorsitzender, Ankläger und Richter zwar keine Erklärung schuldig, Angeklagter“, sagte Ben Brighton kühl. „Aber damit hier kein falscher Eindruck entstehen kann, werde ich Sie belehren, und mich wundert, daß ich das muß, denn Sie sollten eigentlich besser Bescheid wissen als ich.“ Bei den Männern entstand Unruhe, die Ben Brighton aber sofort mit einer Handbewegung stoppte.
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„Dies hier ist ein Bordgericht, Angeklagter. Die oberste Gerichtsbarkeit auf einem Schiff verkörpert grundsätzlich der Kapitän, solange es sich auf hoher See befindet. Da der Kapitän in diesem Fall als Zeuge fungiert, hat er mich, seinen ersten Offizier, an seine Stelle gesetzt, und damit hat er seine Befugnisse für die Dauer dieser Verhandlung auf mich übertragen. Das Gericht ist also zuständig, denn das Verbrechen, das hier verhandelt werden soll, wurde an Bord der ,Isabella V.’ begangen. Zu Punkt zwei Ihrer Einwände: Die beiden Zeugen werden von mir vor der Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten belehrt. Ihre Aussagen werden sie einzeln ‚zu Protokoll geben, und zwar so, daß keiner die Aussage des anderen verwerten kann. Damit sind sie als Zeugen zugelassen. An die beiden Zeugen richte ich hiermit die Aufforderung, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Mr. O’Flynn, führen Sie Mr. Killigrew jetzt wieder in seine Kammer. Ich werde ihn als Zeugen rufen lassen, sobald seine Aussage benötigt wird. Die Verhandlung ist eröffnet!“ Baldwyn Keymis wurde blaß vor Wut. Aber Carberry drückte ihn einfach in den Stuhl, und gegen die Bärenkräfte dieses Mannes hatte Keymis nicht die geringste Chance. „Ich lasse euch hängen, alle, einen nach dem andern, sobald wir in England sind!“ schrie der Friedensrichter, der seine mühsam aufgebaute Beherrschung in diesem Moment wieder verlor. Das war Dan O’Flynn zuviel. „Du elendes Schwein!“ fauchte er und wollte sich auf den Friedensrichter stürzen. „Erst versuchst du, meine Schwester zu vergewaltigen, und dann willst du uns hängen lassen, drohst uns hier an Bord ...“ Carberry hatte sich Dan geschnappt. „Gib jetzt Ruhe, Dan!“ dröhnte seine Stimme durch den ausbrechenden Tumult. Denn auch die anderen Männer der Besatzung hatten eine drohende Haltung angenommen. „Ihr alle gebt Ruhe!“ donnerte er. „Wir haben keine Zeit, hier bis zum nächsten Jahr herumzuliegen, die
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Verhandlung wird jetzt und hier durchgeführt und das Urteil, das verkündet wird, vollstreckt. Und damit Schluß. Zum letzten Mal: Ruhe an Bord, oder euch alle holt der Teufel!“ Das Schiff schien unter der Stimme Carberrys zu erzittern, und Ben Brighton kämpfte gegen das Grinsen an, das sich auf seine Züge stehlen wollte. Aber der Profos schaffte es mit seiner Donnerstimme tatsächlich, die Ordnung wiederherzustellen. Ben nutzte seine Chance sofort. „Miß O’Flynn, treten Sie bitte in den Zeugenstand und machen Sie Ihre Aussage.“ Gwen trat vor, blaß, aber ihre Haltung drückte Energie und Entschlossenheit aus. „Welchen Vergehens klagen Sie diesen Mann dort an?“ fragte Ben Brighton. Auch er wollte die Verhandlung nunmehr so schnell hinter sich bringen, wie das nur eben möglich war. Aus diesem Grund verzichtete er auch auf alle zeitraubenden Formalitäten wie Feststellung der Personalien des Beklagten und der Zeugen, sie waren an Bord der „Isabella“ hinreichend und jedem einzelnen bekannt, genau wie der Beklagte. „Dieser Mann hat versucht, mich in meiner Kammer zu vergewaltigen. Es ist bei dem Versuch geblieben, aber nur aufgrund des Eingreifens von Mr. Killigrew, der mir in allerletzter Sekunde zu Hilfe eilte, Ich hätte diesen Mann, der weitaus schwächer aussieht, als er ist, nicht mehr abwehren können, zumal er mich würgte und mit Faustschlägen traktierte.“ Keymis wollte aufbrausen, er fuhr von seinem Stuhl hoch, aber Carberrys Pranke drückte ihn wieder zurück. Ben Brighton nickte. „Was haben Sie dazu zu sagen, Angeklagter?“ wandte er sich an den Friedensrichter. Keymis fuhr hoch wie von der Natter gebissen. „Was ich dazu zu sagen habe?“ zischte er. „Diese elende kleine Hure hatte es darauf angelegt, mich zu verführen, sie hatte ...“
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Der alte O’Flynn durchbrach den Kordon der Zuschauer. Wie ein Wiesel sprang er trotz seines Holzbeins auf Keymis zu. „Was?“ brüllte er, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Du Lump, du dreckige Ratte wagst es, meine Tochter eine Hure zu nennen?“ Er riß an den Riemen seines Holzbeins, aber er brachte es nicht rasch genug los. Auch die Männer der Crew sprangen auf, und selbst die Geschworenen waren von ihren Stühlen gefahren. Carberry schnappte sich den rasenden O’Flynn und beförderte ihn ziemlich unsanft wieder zwischen die anderen Zuhörer. Der alte O’Flynn schrie auf, aber Pete Ballie hielt ihn fest. „Nimm endlich Vernunft an, und wenn es zehnmal deine Tochter ist, verflucht noch mal. Carberry hat recht, halt jetzt endlich die Schnauze, kapiert?“ Ben Brighton veranlaßte die Geschworenen auf ihrer aus Bohlen provisorisch hergerichteten Bank, wobei man die Bohle einfach über ein paar leere Fässer gelegt hatte, wieder Platz zu nehmen. „Also, die Klägerin wollte sie verführen?“ setzte Ben Brighton sein Verhör fort. „Wie erklären sie sich dann die Verletzungen, die sie bei ihren Verführungsversuchen immerhin recht sichtbar davongetragen hat?“ fragte Ben Brighton, und diesmal war der Hohn in seiner Stimme unüberhörbar. Keymis starrte ihn an, er begriff mit der ihm eigenen Schläue, daß er sich selbst mit seiner aberwitzigen Behauptung eine verhängnisvolle Falle gestellt hatte. „Die Verletzungen, häm — die hat sie natürlich, ich meine, die sind natürlich schon dagewesen, weil ...“ begann er zu stottern und konnte nicht verhindern, daß ihm der Schweiß ausbrach. „Miß O’Flynn, ich muß Sie leider bitten, den Geschworenen Ihre Verletzungen zu zeigen, damit Ihre Aussage die nötige Beweiskraft erhält!“
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Gwen wurde erst blaß, dann aber errötete sie. Hier vor allen Männern sollte sie sich entblößen? Hilfesuchend sah sie sich um, aber Carberry lächelte ihr zu. „Nicht alle Verletzungen, aber wenigstens einige, Gwen“, sagte er leise und spürte, wie sie aufatmete. „Wo trugen Sie Verletzungen davon, Miß O’Flynn?“ hörte sie Ben Brighton fragen. Sie gab sich einen Ruck. „Am Hals, hier!“ Sie knöpfte das Hemd auf und legte den Hals frei. Dort waren deutlich sichtbar blaue Würgemale. „An den Oberarmen“, fuhr sie fort und streifte die Ärmel hoch. „Auf den Rippen“, und sie zog das grüne Hemd so geschickt hoch, daß ihr Busen dabei bedeckt blieb, „An den Oberschenkeln“, sie streifte eines der Hosenbeine der Seemannshose hoch. „Am ...“ „Danke, Miß O’Flynn, das genügt“, stoppte sie Ben Brighton, dem mittlerweile ob solcher Entschlossenheit der Schweiß ausbrach. „Ich denke, den Geschworenen genügt das auch, oder etwa nicht?“ fügte er hinzu, aber Ferris Tucker nickte. „Vollständig, euer Ehren!“ sagte er, und .einige Männer der Crew grinsten verhalten, was ihnen sofort einen bösen Blick Carberrys eintrug. „Verdammt, ihr lausigen Decksaffen, das hier ist kein Spaß!“ sagte er drohend. Ben Brighton drängte jetzt auf raschen Fortgang der Verhandlung. „Bitte, Miß O’Flynn, berichten Sie den Geschworenen nunmehr möglichst genau, was sich in ihrer Kammer zugetragen hat, und zwar von Anfang an.“ Gwen tat es. Während sie sprach, verfinsterten sich die Gesichter der Männer, die ihr zuhörten, mehr und mehr. Ebenso finstere Blicke trafen den Friedensrichter, dem mittlerweile vor Angst speiübel war. Er hing leichenblaß in seinem Stuhl, seine anfängliche Arroganz war wie .weggewischt. Nachdem Gwen ihren Bericht beendet hatte, herrschte sekundenlanges Schweigen. Ben Brighton unterbrach es. „Den Zeugen Mr. Killigrew!“ sagte er.
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Der alte O’Flynn, beiläufig zum Gerichtsdiener ernannt, holte ihn. Auch der Seewolf sagte aus, und zwar Punkt für Punkt. Er ließ nichts weg und fügte nichts hinzu. Auch nach seinem Bericht herrschte wieder Schweigen. Die Blicke, die zuvor noch zornig oder finster gewesen waren, hatten sich in Blicke voller Abscheu gewandelt, gepaart mit Eiseskälte. Keymis spürte das, und das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Nur wie von ferne vernahm er noch die Stimme Ben Brightons. „Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Angeklagter, haben Sie dazu noch etwas zu sagen?“ Keymis erhob sich taumelnd. „Lüge, nichts als infame Verleugnung“, gurgelte er, aber Ben Brighton unterbrach ihn eiskalt. „Also nichts!“ stellte. er fest. „Sie, meine Herren Geschworenen, werden jetzt entscheiden. Ist der Angeklagte des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig oder nicht schuldig. Ich werde Sie jetzt fragen, und Sie heben bitte den rechten Arm bei meinen Fragen. Die einfache Mehrheit entscheidet. Schuldig?“ Alle Arme erhoben sich ruckartig. Keymis sank auf seinen Stuhl. „Gegenprobe. Nicht schuldig?“ Alle Arme blieben unten. Ben Brighton sah den Friedensrichter an. „Angeklagter erheben Sie sich.“ Carberry zog .den zitternden Keymis mit einem Ruck vom Stuhl hoch. „Die Geschworenen haben Sie der versuchten Vergewaltigung, begangen an Miß Gwendolyn Bernice O’Flynn für schuldig befunden. Ich verurteile Sie daher ...“ „Halt — einen Augenblick!“ Es war Gwen, die Ben Brighton unterbrach. Ben fuhr herum, auch Hasard und die anderen Männer starrten das Mädchen an. Ben Brighton runzelte ärgerlich über die Unterbrechung die Stirn, aber er beherrschte sich. „Ja, Miß O’Flynn?“ fragte er. „Was haben Sie noch zu sagen?“
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„Ich bitte um Milde für den Angeklagten. Er hat wie wir alle eine Menge durchgemacht in der letzten Zeit. Vielleicht hat er dabei einen seelischen Schaden erlitten, und vielleicht ist er für seine Handlungen nicht in vollem Maße verantwortlich. Mr. Brighton, ich bitte um Milde für Mr. Keymis, schließlich ist mir ja nichts geschehen!“ Unter den Männern erhob sich Gemurre. Ben Brighton starrte Gwen mit einem eigentümlichen Blick an. Mit allem hatte er gerechnet, damit nicht. Und was ihn noch mehr verwirrte, war, daß um die Lippen des Seewolfs ein Lächeln spielte, ein Lächeln, das er im Moment nicht zu deuten wußte. Ben Brighton holte tief Luft, und er registrierte, wie Carberry ihn anstarrte, mit einem beschwörenden Blick, den er in diesem Moment ebenfalls nicht begriff. War Carberry etwa Gwens Meinung, oder beschwor er ihn, ein hartes Urteil zu fällen? „Miß Gwen“, sagte Ben Brighton schließlich, und er wurde sich nicht einmal der Tatsache bewußt, daß er das Mädchen beim Vornamen genannt hatte. „Sie wissen, welch ein schweres Verbrechen dieser Mann dort begehen wollte und teilweise begangen hat, denn auch der Versuch einer Vergewaltigung wiegt schwer. Sie wissen, daß dafür in England, unserer Heimat, unerbittlich die Todesstrafe verhängt wird, auch wenn es sich um einen bloßen, aber nachgewiesenen Versuch handelt? Sie wissen, welche Gesetze an Bord eines Schiffes wie der ‚Isabella’ herrschen?“ Atemloses Schweigen. Keymis mußte sich unwillkürlich auf Carberry stützen, so zitterten ihm die Knie. Hatte er den Ernst seiner Lage zuvor noch nicht voll begriffen, so wurde er ihm nunmehr schlagartig klar. „Aufhängen den Kerl!“ schrie einer der Männer. „Jawohl, an die Rah mit dem Schwein!“ fielen andere ein. Keymis wankte, aber Carberry hielt ihn fest.
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Ben Brighton straffte sich, er wollte dem Ganzen ein Ende bereiten. „Baldwyn Keymis, obwohl gerade Sie in Anbetracht der Tatsache, daß Sie ein- vom Lordkanzler eingesetzter und bestallter Friedensrichter sind, die volle Härte des Gesetzes treffen müßte, also Aufhängen am Halse, bis daß der Tod eintritt, verschließe ich mich nicht den Argumenten der Klägerin. Baldwyn Keymis, ich verurteile Sie hiermit rechtskräftig und unwiderruflich. Sie werden kielgeholt, das Urteil wird sofort vollstreckt! Profos, walten Sie Ihres Amtes. Die Verhandlung ist geschlossen.“ Durch die Crew ging ein Raunen, während der Friedensrichter alle Farbe verlor. „Nein!“ schrie er. „Nein, das überlebe ich nicht, das überlebt keiner. Hier gibt es Haie, sie lauern in der Tiefe, ich - ah ...“ Baldwyn Keymis verdrehte die Augen und brach zusammen. Regungslos blieb er auf dem Deck liegen, ein verkrümmtes Häufchen Elend, weiter nichts. Carberry beugte sich zu ihm hinunter. „Ein paar Pützen Wasser, schnell!“ sagte er. „Den Kerl werden wir schon wieder auf die Beine bringen. So haben wir nicht gewettet, Mister, du sollst erleben, wie das ist! Glaube nur nicht, daß ich dich in diesem Zustand unterm Schiff durchziehe!“ Der Kutscher brachte eine Pütz voll Seewasser, und Carberry goß sie dem Friedensrichter ins Gesicht. Dann noch eine zweite und eine dritte. Bei der dritten erwachte Keymis aus seiner Bewußtlosigkeit. „Los, hoch mit dir, du Ratte“, sagte Carberry, der breitbeinig vor ihm stand. „Du kannst noch von Glück sagen, daß die junge .Lady für dich gesprochen hat, sonst müßtest du jetzt baumeln, Freundchen. So hast du wenigstens noch eine Chance! Also, hoch mit dir!“ Carberry riß ihn hoch und winkte Smoky heran. „Hände fesseln! Aber gründlich. Klamotten runter bis auf die Hose. Besorge einen Tampen, und zieh inzwischen eine Leine unter dem Bug durch, damit wir den
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Tampen an Steuerbord hochholen. Der Mann wird von Backbord nach Steuerbord durchgeholt. Von der Nock der Großrah geht er in den Bach, an Steuerbord ziehe ich ihn wieder hoch. Und ein bißchen dalli, klar?“ Smoky nickte und sauste los. Carberry winkte Dan heran und flüsterte ihm zu: „Peil mal die Lage, ob du Haie entdecken kannst. Der Kerl hier soll seine Chance haben. Ich will nicht, daß er in den Zähnen von diesen Biestern sein Leben aushaucht. Natürlich, garantieren kann ich’s nicht. Was unter dem Schiff herumschwimmt, kann ich nicht sehen.“ Dan sauste los. Die Vorbereitungen waren bald erledigt. Carberry holte das Tau, an das Keymis gebunden werden sollte, eigenhändig zur Backbordnock der Großrah hoch. Er prüfte es, dann winkte er zum Deck hinunter. Er sah Keymis, der an den Händen gefesselt zwischen Ferris Tucker und Big Old Shane stand, zitternd am ganzen Leib. „Rauf mit dem Kerl, es ist alles fertig, oder glaubt ihr lausigen Affen, ich will hier anwachsen?“ Ferris Tucker gab dem Friedensrichter einen derben Stoß in den Rücken. „Vorwärts, Freundchen“, knurrte er, „jetzt geht’s los. Und wenn du einen Rat hören willst, dann vergeude deinen Atem nicht damit, daß du schreist, während du von der Rahnock ins Wasser fliegst. Du brauchst deine Puste da unten dringend, wenn du lebend wieder auftauchen willst!“ Keymis quollen die Augen aus den Höhlen, je mehr sie sich den Wanten näherten, die zum Großmars hochführten. Unmittelbar vor dem Want riß er sich plötzlich los und raste wie von Sinnen über Deck. Dabei schrie er aus vollem Hals. Luke Morgan, der kleine, stämmige Engländer, packte ihn und schleifte ihn zurück. „Laß nur, Ferris“, keuchte er und zog den sich wie wahnsinnig Gebärdenden hinter sich her. „Den liefere ich schon richtig da oben ab! Aber wenn er so weiterbrüllt, dann wird ihm unter dem Schiff die Luft
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ausgehen – na, nicht schade um das Schwein!“ Er bugsierte Keymis zum Want. Dann packte er ihn plötzlich und warf ihn sich über die Schulter. „Bind ihm die Beine zusammen, schnell!“ rief er dem Schiffszimmermann zu. Ferris Tucker tat es, und zwar gründlich. Dann enterte Luke Morgan bis zur Großrah auf, rutschte auf der Großrah entlang und wurde von Carberry in Empfang genommen. Carberrys Narbengesicht wirkte düster und verschlossen. Er haßte Bestrafungen dieser Art. Schnell und sachlich verrichtete er die letzten Handgriffe und verknotete die Leine, an der er Keymis kielholen wollte, sorgfältig an der Brust und unter den Armen. Dann packte seine Pranke das Gesicht des Verurteilten und zwang den Friedensrichter, ihn anzusehen. „Hör mir jetzt gut zu, du Dreckskerl. Der jungen Lady zuliebe werde ich dich schnell unter der ‚Isabella’ durchziehen. Aber spar dir deine Puste. Wenn ich das Zeichen gebe und Luke dich von der Rah stößt, dann hol tief Luft, oder du bist versoffen, noch bevor ich dich unterm Kiel durchgeholt habe. Es liegt jetzt an dir. Klar?“ . Carberry sah das schwache Nicken des Verurteilten. „Na, jedenfalls zugehört hast du mir, und jetzt benimm dich gefälligst wie ein Mann!“ „Aber die Haie, Mister, die Haie, wenn sie ...“ Carberry nickte düster. „Wir haben nachgesehen und keinen entdeckt. Aber das will nicht viel bedeuten. Du brauchst schon ein wenig Glück, Freundchen. Kielholen war noch nie ein Spaß, aber du hattest sowieso nur die Wahl zwischen der Rahnock und dem Kiel. Sei der jungen Lady dankbar, daß sie dir wenigstens noch eine Chance herausgeschunden hat!“ Carberry drehte sich herum, turnte die Großrah entlang und enterte dann ab. An Deck hatten sich die Männer an Backbord
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versammelt, nur Gwen fehlte. Und das war auch gut so, denn Keymis würde nicht mehr gut aussehen, wenn er wieder an Deck gezogen wurde. Dafür würde schon der scharfkantige Muschelbewuchs auf dem Unterwasserschiff sorgen. Carberry betrat das Deck. Er ging sofort nach Steuerbord hinüber und packte das Tau, das unter dem Kiel der „Isabella“ hindurchlief. Dann sah er zu Luke hinüber, der Keymis inzwischen aufgerichtet hatte und ihn auf der Rah an ihrem äußersten Ende festhielt. „Los!“ kommandierte Carberry. Luke Morgan gab dem Gefesselten einen Stoß, und der Friedensrichter stürzte von der Großrah. Sekunden später verschwand er im aufspritzenden Wasser. Er hatte nicht geschrien, keinen einzigen Laut hatte er von sich gegeben. Carberry wußte, daß sich damit seine Chancen, wieder lebend an Deck zu gelangen, außerordentlich verbessert hatten. Er packte das Tau und begann zu ziehen. 5. Baldwyn Keymis erlebte alles wie in Trance. Auch Carberrys Stimme, seinen Rat, tief Luft zu holen, war nur wie aus weiter Ferne in sein Bewußtsein gedrungen. Irgendwo tief im Innern des Friedensrichters flackerte noch der Wille, zu überleben, das Kielholen zu überstehen, irgendwie. Auch das Kommando, dem der Stoß Luke Morgans und sein Sturz von der Rahnock folgte, war nur an die Oberfläche seines Bewußtseins gelangt. Erst als sich das kühle, grünblaue Wasser der See über Baldwyn Keymis schloß, erst als das starke Tau ihn unerbittlich in die Tiefe zog, war er plötzlich wieder hellwach. Er öffnete die Augen, obwohl das Seewasser darin brannte, hielt er sie offen. Baldwyn Keymis hatte wenig Angst davor, zu ertrinken. Er war sogar ein leidlich guter Schwimmer, schon seit seiner Kindheit. Aber das hatte er wohlweislich verschwiegen, geholfen hatte ihm dabei der Schock, das Entsetzen, das ihn gepackt
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hatte, als er sein Urteil erfuhr. Nein, das alles traute er sich zu, durchzuhalten, bis man ihn auf der anderen Seite der „Isabella“ wieder an Deck zog. Wahnsinnige Angst hingegen hatte er vor den Haien. Als Kind war sein Vater vor den Küsten Cornwalls von einem Blauhai angefallen und zerrissen worden. Er, Baldwyn Keymis, hatte hilflos zusehen müssen. Dann hatten ihn die herbeieilenden Fischer aus dem Wasser gezogen, gerade noch rechtzeitig, bevor die anderen Haie auftauchten und sich auf die Überreste seines Vaters stürzten, ja, sogar noch das Boot in ihrer Gier angriffen, in dem er sich befand. Deutlich sah Baldwyn Keymis den aufgerissenen Rachen, die Reihen spitzer Zähne vor sich, die knirschend und krachend ein Stück des Dollbords zermalmten. Ein reicher Onkel hatte ihn später zu sich genommen, auf eine Schule geschickt, ihm den Zugang zur englischen Gesellschaft geöffnet. So war er schließlich Friedensrichter geworden. Ein Mann, der seinen Knacks weg hatte, der den Schock, den er in der Kindheit erlitten hatte, nie abzuschütteln vermochte. Keymis sah die dunkle Masse der Bordwand auf sich zurasen. Er spürte, wie sein Körper gegen die Beplankung schlug und an ihr entlanggerissen wurde. Er wollte um sich schlagen, aber er konnte nicht, denn Arme und Beine waren gefesselt. Ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Körper, als das dicke Tau ihn tiefer und tiefer und über den messerscharfen Muschelbewuchs zerrte. Erst zerschnitten die Muscheln seinen Rücken - Baldwyn Keymis warf sich voller Panik herum. Da zerschnitten sie ihm die Brust, zerfetzten die Hose, die Haut an den Oberschenkeln. Er sah die roten Blutschleier in der blaugrünen Dämmerung, die sein geschundener Körper hinter sich herzog. In allerletzter Sekunde gelang es ihm, sein Gesicht vor den scharfen Muscheln in Sicherheit zu bringen, indem er sich abermals herumwarf.
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Aber dann blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen. Er sah den grauen, großen Schatten, der sich ihm näherte. Undeutlich noch, aber mit jeder Sekunde deutlicher zu erkennen. Ein Hai! Und er folgte beharrlich der Blutspur, die Keymis hinter sich her durchs Wasser zog. Keymis sah die tückischen Augen, die starr auf ihn gerichtet blieben, je näher der große Fisch auf ihn zuschwamm. Keymis warf sich verzweifelt hin und her, und damit verschlimmerte er seine Lage. Der Hai schoß heran, durch sein wildes Gezappel erst richtig aufmerksam geworden. Seine spitze Schnauze stieß den Friedensrichter an, als wolle der Hai seine Beute erst prüfen, bevor er sie zerriß. Keymis registrierte, wie der Hai an ihm vorbeischoß, für einen Moment in der Tiefe verschwand, und er wurde fast wahnsinnig vor Angst und Panik, denn er wußte genau: Der Hai würde zurückkehren. Einer der Fischer aus Cornwall hatte ihm einmal von diesem merkwürdigen Verhalten der Haie erzählt, bevor sie zum tödlichen Angriff zurückkehren und ihre Beute zerreißen. Keymis Sinne umnebelten sich, stechend spürte er den Luftmangel in seinen Lungen. Wieder schrammte sein Körper über die scharfen Muscheln, die sich am Unterwasserschiff der „Isabella“ festgesetzt hatten. Wieder riß der scharfe Bewuchs ihm neue Wunden, und eine Wolke aus Blut zog ihre Spur hinter ihm her durch das blaugrüne Wasser der Karibik. Da sah er den Hai. Er stieß von schräg unten auf ihn zu. Rasend schnell diesmal, entschlossen, sich diese Beute nicht entwischen zu lassen. Hinter ihm jagten andere graue Schatten heran. Dann löschte ein gewaltiger Ruck an dem Tau, an dem er durchs Wasser gezogen wurde, fast sein Bewußtsein aus. Keymis spürte, wie eine ungeheure Kraft ihn packte, ihn über den Kiel zerrte und an der anderen Seite der „Isabella“ hochriß. Seine Sinne umnebelten sich, irgendwo sah er noch einmal den Hai, der pfeilschnell
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durchs Wasser schoß, aber die schon sicher geglaubte Bebte verloren zu haben schien. Dann wurde es dunkel um Baldwyn Keymis. * Zu diesem Zeitpunkt zogen Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane mit aller Gewalt an dem Tau. „Haie! Achteraus, an Steuerbord, sie rasen von allen Seiten heran!“ Es war Dan, der das in höchster Erregung über Deck schrie. „Beeilt euch, wenn ihr von diesem Schurken auch nur noch einen einzigen Knochen nach oben holen wollt!“ Keymis durchbrach die Oberfläche an Backbord der Galeone. Die drei Männer rissen ihn mit einem gewaltigen Schwung aus dem Wasser. Unmittelbar hinter dem Friedensrichter schnellte sich ein kleinerer Hai, ein etwa drei Yards langes Tier, aus der See. Er verfehlte die Beine des Friedensrichter nur um einen knappen Yard. Mit weit aufgerissenem Maul fiel er klatschend in die See zurück. Es war derselbe, der Keymis schon einmal wie prüfend mit seiner spitzen Schnauze angestoßen, ihn dann aber durch die ungeheure Schnelligkeit, mit der die Männer Keymis hochzogen, für einen Moment verloren hatte. Und das rettete Keymis das Leben. Als er auf die Planken des Hauptdecks prallte, erwachte er aus seiner Bewußtlosigkeit. Sofort krümmte sich sein hagerer Körper zusammen, Hustenkrämpfe schüttelten ihn, und er spie das Meerwasser aus, das er während seiner Bewußtlosigkeit geschluckt hatte. Dann erinnerte er sich. An die Haie, an die blaugrüne Dämmerung, die ihn wie ein gigantischer Sarg umgeben hatte, in dem es von Ungeheuern nur so wimmelte. Er erinnerte sich an die huschenden, grauen Schatten, die auf ihn zujagten, um ihn bei lebendigem Leib zu zerreißen. Keymis begann plötzlich zu toben. Er entwickelte zwischen seinen Hustenanfällen so enorme Kräfte, daß es weder Carberry noch dem bärenstarken
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Ferris Tucker oder Old Big Shane gelang, ihn zu bändigen. Erst ein Schlag mit dem Belegnagel, den Luke Morgan dem Tobenden verpaßte, ließ ihn verstummen. „Kutscher!“ brüllte Carberry und blickte schaudernd auf die Wunden, die die Muscheln dem Friedensrichter geschnitten und die seinen Körper in eine einzige blutüberströmte Masse verwandelt hatten. Das sah schlimmer aus, als es war, denn keine der Wunden war wirklich tief oder gar lebensgefährlich - abgesehen von den Haien, die das Blut sofort angelockt und in Raserei versetzt hatte. Trotzdem mußte der Kutscher sofort etwas unternehmen. Er war bereits zur Stelle, noch bevor Carberry ein zweites Mal zu brüllen brauchte. Wortlos begann er seine Arbeit. Er wusch den Friedensrichter sorgfältig mit Seewasser, verband ihn überall dort, wo die Muscheln ihn am schlimmsten verletzt hatten und flößte ihm schließlich eine gehörige Portion Rum ein. Der Seewolf sah wortlos zu. Breitbeinig stand er da. Seine eisblauen Augen blickten kalt auf den Bewußtlosen hinunter; der sich eben wieder zu regen begann. „Wenn er wieder auf den Beinen ist, arbeitet er wie jeder andere an Bord. Al Conroy und Ferris beaufsichtigen ihn. Er soll nicht geschunden werden, aber ihm wird auch nichts mehr geschenkt? Alle Extratouren sind vorbei.“ Der Seewolf verließ das Hauptdeck. „Ben!“ Ben Brighton war schon da und sah ihn fragend an. „Laß die Segel setzen. Kurs Mona Passage. Wir haben bereits genug Zeit verloren. Es wird Zeit, daß wir endlich den Atlantik erreichen. Im übrigen“, er legte dem langjährigen Gefährten in vielen Kämpfen und Unternehmungen die Rechte auf die Schulter, „du hast deine Sache hervorragend gemacht. Niemand an Bord hätte die Verhandlung gegen diesen Strolch besser führen können als du.“
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Er nickte ihm zu und verschwand in Richtung Achterkastell. „Ho, Männer! In die Wanten, setzt Segel! Rudergänger, Kurs Südost! Ho, beeilt euch, oder ich werde euch aufschwänzen!“ Ben Brightons Stimme dröhnte über das Deck. Die Männer enterten wie der Blitz auf. Schon bald begannen sich die ersten Segel in der frischen Brise zu blähen. Langsam schwang die „Isabella“ herum und nahm wieder Fahrt auf. 6. Der gute Wind hielt an. Die „Isabella“ segelte Tag um Tag auf die Mona Passage zu. An Bord verlief das Leben in ruhiger Routine. Lediglich Big Old Shane, Ferris Tucker und Al Conroy exerzierten mit den neuen Männern immer wieder an den Culverinen und Drehbassen. Tatsächlich saß inzwischen fast jeder Handgriff wie im Schlaf. Will Thorne und Batuti kümmerten sich um die Schlechtwettersegel, außerdem wachte der Segelmacher darüber, daß immer genügend fertige Segeltuchkartuschen in den Magazinen lagerten. Das hatte sich bei vergangenen Gefechten schon wiederholt als entscheidend erwiesen. Baldwyn Keymis erholte sich nur langsam. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Immer wieder verfiel er in wildes Nervenfieber. Dann hielt meist Gwen bei ihm Krankenwache, und selbst Hasard vermochte in diesem Punkt nichts gegen ihre Starrköpfigkeit auszurichten. Als er sie einmal darauf angesprochen hatte, hatte Gwen nur gelächelt. „Du brauchst um mich keine Sorgen zu haben. Keymis hat seine Strafe weg, ich kann und will ihm diese Sache nicht länger nachtragen. Ihr alle schneidet diesen Mann, aber er braucht jetzt Hilfe. Wenn er überleben soll, dann muß sich jemand um ihn kümmern, ich kann es nicht mit ansehen, daß er hier zugrunde geht.“ Hasard hatte sich gefügt. Er kannte Gwen gut genug, um zu wissen, daß es
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unmöglich war, sie von einem einmal gefaßten Entschluß wieder abzubringen. Am vierten Tag nach dem Bordgericht ging er selber zu Keymis und sah nach ihm. Er erwischte einen Moment, in dem der Friedensrichter wieder von einem heftigen Nervenfieber geschüttelt wurde. Manchmal schrie er auf, dann wieder murmelte er unverständliche Sätze und kämpfte mit unsichtbaren Ungeheuern. Gwen sah Hasard an. „Es gibt in seinem Leben etwas, das diesen Mann verfolgt. Irgendein Alptraum, der ihn ständig quält, aber ich kriege nicht heraus, was es ist.“ Gwen zögerte, und der Seewolf bemerkte es. Mit einem Schritt war er bei ihr. „Gwen, du verschweigst mir etwas“, sagte er und zog das Mädchen an sich. „Warum? Hast du kein Vertrauen zu mir?“ Gwen barg für einen Moment ihren Kopf an seiner Schulter. „Doch, ich habe Vertrauen zu dir, viel mehr als das“, sagte sie leise. „Ich habe Angst, um dich, um die anderen. Dieser Mann da plant etwas. Immer wieder wird das in seinen Fieberphantasien deutlich, und es muß mit der Ladung der ‚Isabella’ zusammenhängen. Er ist jetzt dein erbittertster Feind, Hasard. Nimm dich vor ihm in acht. Verstehst du jetzt, warum ich mich um ihn kümmere? Ich will wissen, was er gegen dich im Schilde führt, denn man kann nur einer Gefahr begegnen, die man kennt!“ Der Seewolf zog sie an sich. „Vielleicht ist es richtig, daß du bei ihm wachst, wenn er phantasiert. Vielleicht erfährst du wirklich etwas, was uns hilft. Nein, ich werde mich hüten, Keymis zu unterschätzen. Der Mann ist gefährlich.“ Er strich Gwen über das rotblonde Haar, und sie ließ es geschehen. Unmerklich hatte sich zwischen den beiden etwas angebahnt, aber noch hatte keiner von ihnen den Mut, sich dem anderen zu offenbaren. Hasard verließ die Kammer, in der sie den Friedensrichter untergebracht hatten, ganz entgegen allen anderen Anweisungen. Sie lag zwar nicht im Achterkastell, sondern
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im Vorschiff und war von Ben Brighton extra zu diesem Zweck hergerichtet worden, aber Keymis in seinem gegenwärtigen Zustand im Vordeck verkommen zu lassen, war unmöglich und wäre auch unmenschlich gewesen. Der Seewolf jedenfalls war nicht der Mann, der so etwas duldete. Allerdings — von diesem Tage an trat bei Keymis eine Besserung ein. Seine Anfälle wurden seltener. Aber er war und blieb nur noch ein Schatten seiner selbst. Als er eines Tages wieder an Deck erschien, erschraken sogar die hartgesottenen Männer der Crew. Keymis hockte immer irgendwo, wie ein Gespenst wirkte er auf die Mannschaft, aber ihm entging nichts. Ob er arbeitete oder döste, so lädiert sein Körper auch war, er hatte einen scharfen Verstand, vorzügliche Augen und war trotz seiner zur Schau getragenen Apathie in Wirklichkeit hellwach. Doch zunächst hatte die „Isabella“ mit ganz anderen, wesentlich bedrohlicheren Problemen fertig zu werden. * Am Nachmittag des vierten Tages trat ein, was der Seewolf schon lange befürchtet hatte. „Wahrschau — Mastspitzen voraus!“ schallte Dan O’Flynns Stimme über Deck. Hasard und Ben Brighton fuhren herum. „Verdammter Mist!“ stieß der Seewolf hervor, und sein Bootsmann wußte ganz genau, was er damit sagen wollte. Sie näherten sich nunmehr der Mona Passage. Jener Passage, die zwischen Hispaniola und Puerto Rico in den Atlantik führt, Ben Brighton war sich völlig im klaren darüber, daß sie diese Passage durchsegeln mußten, koste es, was es wolle. Wichen sie noch weiter nach Osten aus, bis zur Anegada Passage etwa, wurde dadurch nichts mehr besser, im Gegenteil. Denn dort erwarteten die „Isabella“ unzählige kleinere und größere Inseln, auf denen es von Seeräubernestern nur so wimmelte. Außerdem mußten sie damit rechnen, dort auch auf spanische Schiffe zu
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stoßen. Und zum dritten hatten sie bereits genug Zeit verloren. Wollten sie die schweren Winterstürme im Atlantik vermeiden, dann mußten sie sich höllisch beeilen. Ben Brighton wußte nur zu gut, wie weit diese Stürme, die manchmal wochenlang mit unverminderter Stärke tobten, ein Schiff vom Kurs abdrängen konnten, wenn es sie überhaupt überstand. Das alles ging ihm blitzartig durch den Kopf, als er jetzt zum Großmars hochpeilte, in dem Dan hockte. „He, Dan, kannst du die Schiffe erkennen?“ rief der Seewolf gerade hinauf. „Nein, noch nicht. Ich sehe nur ein Teil der Takelage. Es sind drei Schiffe, zwei kleinere und ein größeres. Könnte eine Karavelle sein, Wenn wir unseren Kurs beibehalten, werden wir uns ihnen rasch nähern.“ Hasard nickte grimmig. Er würde den Kurs beibehalten, und zwar bis zur Isla Mona, die fast in der Mitte zwischen Hispaniola und Puerto Rico lag, hinter der die Mona Passage begann. Dort würde er dann raumschots Kurs Nordost segeln, falls der günstige Wind weiterhin anhielt. Aber es sah ganz danach aus, mehr noch, schon seit einigen Stunden hatte es aufgebrist. Hasard warf einen Blick nach Steuerbord. Irgendwann, seiner Schätzung nach in knapp zwei Stunden, mußte dort die Silhouette der Isla Saona auftauchen. Sie war der Südspitze Hispaniolas vorgelagert. Der Seewolf entschloß sich rasch. „Klar Schiff zum Gefecht!“ Seine Stimme scheuchte auch die letzten Schläfer hoch. Die Männer hasteten über die Decks und entfernten in fieberhafter Eile die Persennings von den schweren Siebzehnpfündern. „Ben, geh runter. Sag den Männern, daß es noch dauern wird, bis wir vielleicht Feindberührung kriegen. Aber sag ihnen auch, daß sie von jetzt an jederzeit bereit sein sollen. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir auf einen alten Bekannten stoßen, der auch hier noch mal sein Glück gegen uns versuchen will.“ Ben blieb ruckartig stehen.
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„Du denkst an Caligu?“ fragte er, und gleichzeitig erschien vor seiner Erinnerung das Bild dieses großen, braunhäutigen Piraten, der ihnen schon verdammt zugesetzt hatte, der wie wild hinter den Schätzen herwar, die tief im bauchigen Rumpf der „Isabella“ steckten. Ben Brighton dachte in diesem Moment an die erbarmungslose Schlacht in der Windward Passage, wo sie ihrem Untergang nur noch gerade entronnen waren, weil sich ein Freund für sie geopfert hatte. Ein unangenehmes Prickeln überzog seinen Nacken, aber er ließ sich nichts anmerken. Er sah, wie der Seewolf nickte. „Ja, Ben. Caligu. Dieser Hund will es wieder versuchen, und ganz bestimmt hat er uns aufgelauert. Er ist mit seiner Karavelle schneller als unsere schwere ‚Isabella’. Wir werden uns vor ihm in acht nehmen müssen. Denn wenn er es diesmal nicht schafft und wir ihm wieder entwischen, dann ist ihm die Beute für immer verloren.“ Ben wollte schon den Niedergang zum Hauptdeck hinunterturnen, als der Seewolf ihn abermals zurückhielt. „Ich habe neulich gesehen, wie Big Old Shane an einem gewaltigen Bogen bastelte. Ich weiß, was für ein guter Bogenschütze er ist. Frag ihn, ob er damit fertig geworden ist. Wenn ja, dann sollen er und Batuti die Marse besetzen und unseren Gegnern von dort aus mit ihren Brandpfeilen gehörig einheizen. Ich habe Big Old Shane auf Arwenack mit seinem Bogen schießen sehen, ich weiß, wie weit solche Waffen tragen und auf wie große Entfernungen er damit absolut sicher zu treffen weiß! Batuti noch dazu, also, kümmere dich um die beiden! Ich werde inzwischen zu Dan aufentern. Mal sehen, ob mir mein Spektiv etwas zeigt!“ Ben Brighton marschierte zum Hauptdeck, während Hasard an ihm vorbei zum Steuerbordwant des Großmastes ging. Die Wache auf dem Achterkastell übernahm Ed Carberry, dazu bedurfte es nicht besonderer Anweisungen.
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Ben erspähte Big Old Shane bei den Geschützen. Der einstige Waffenmeister von Arwenack. beschäftigte sich gern und viel mit den Culverinen oder Drehbassen. Und zusammen mit Ferris Tucker und Al Conroy hatte er bereits fast Wunder vollbracht. Alle Geschütze, Stückpforten, Brooktaue und Lafetten befanden sich in einem so gepflegten Zustand, wie die Galeone es in ihren allerbesten Tagen nicht erlebt hatte. Der Waffenmeister sah Ben entgegen. Auf seinem kantigen Gesicht breitete sich ein freundliches Grinsen aus. „He, Ben, was treibt dich denn vom Achterkastell in unsere pulverdampfgeschwängerten Niederungen?“ flachste er den Bootsmann an. Ben Brighton erwiderte das Grinsen. „Nichts Besonderes, mein Freund“, erwiderte er. „Aber Hasard rechnet damit, daß ein alter Freund von uns die Mona Passage zu blockieren gedenkt. Deshalb möchte er gern wissen, ob du deinen neuen Bogen schon fertig hast?“ Der Waffenmeister, der bisher neben einem der Geschütze gekniet hatte, um die Verankerung eines Brooktaus zu überprüfen, richtete sich auf. Seine Augen zogen sich zusammen, bis sie nur noch Schlitze waren. „Also daher weht der Wind! Na, da habe ich gute Nachrichten für den Seewolf. Der Bogen ist fertig, und er funktioniert. Frag mal Batuti, der hat ihn ausprobiert. Der wollte ihn gar nicht wieder hergeben, und du weißt, daß sein eigener Bogen auch nicht ohne ist. Jedenfalls mußte ich ihm versprechen, ihm ebenfalls einen Bogen meiner Konstruktion anzufertigen. Aber es gehört Kraft dazu, ihn zu spannen, Ben. Das ist kein Ding für Kinder!“ Ben nickte. „Wie sieht es denn mit den Pfeilen aus, Shane? Ich hörte, du brauchst für dieses Zauberding eine ganz besondere Sorte von Pfeilen?“ Der Hüne nickte. „Da liegt das Problem. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir genügend von den Dingern anzufertigen.“
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Ben war mit einem Schritt bei ihm. „Ich kenne Hasard jetzt lange genug. Ich ahne, was er vorhat, wenn wir wirklich auf diesen dreimal verfluchten Caligu treffen sollten, wenn er es wieder ist, der uns die Mona Passage sperren will. Nimm dir, wenn du willst, Ferris, aber sorge dafür, daß du genügend Brandpfeile zur Verfügung hast. Ihr habt aller Wahrscheinlichkeit nach noch ein paar Stunden Zeit.“ Der Waffenmeister von Arwenack starrte Ben Brighton an. „Gut, das soll ein Wort sein. In ein paar Stunden regelt Big Old Shane so manches. Besonders mit einem Mann wie Ferris Tucker!“ Er verlor keine Zeit mehr, sondern ging sofort zu Ferris hinüber, der die Culverinen der Backbordseite überprüfte, während Al Conroy den Neuen letzte Instruktionen an der Steuerbordseite erteilte. Ferris Tucker nickte nur ein paarmal, dann verschwanden die beiden unter Deck, wo der Schiffszimmermann seine Werkstatt hatte. Unterdessen stand der Seewolf längst im Mars des Großmastes. Er hatte das Spektiv angesetzt und beobachtete seit einer geraumen Weile die drei Schiffe, denen die Galeone sich rasch näherte. Dan, auf dessen Schulter der Schimpanse Arwenack hockte und hin und wieder die Zähne fletschte, als ahne er schon, daß wieder eines dieser ihm zutiefst verhaßten, lärmenden Seegefechte bevorstand, beobachtete den Seewolf. Am plötzlichen Zucken seiner Lippen erkannte er, daß der Seewolf entdeckt hatte, wonach er suchte. „Hölle und Teufel!“ stieß er hervor. „Es ist tatsächlich dieser verfluchte Caligu mit unserer alten ,Isabella V.’! Ich könnte mich in den Hintern beißen, daß ich das Schiff damals in der Bucht von Grand Cayman nicht versenkt habe! Was wäre uns alles erspart geblieben, wenn ich da besser aufgepaßt und einmal mehr nachgedacht hätte!“ Er reichte Dan das Glas. „Sieh mal durch, und dann sage mir, ob auch du unsere alte ‚Isabella’ erkennst! Ich
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meine, sie segelt den anderen voraus. Eins der Schiffe drehte eben ab, wahrscheinlich, um sich als Fühlungshalter hinter uns zu setzen. Genau wie damals in der Windward Passage!“ Der Seewolf stieß diese Worte fast heiser vor Wut hervor. Das Grinsen Dans verbesserte seine Laune keineswegs. „Nur daß es damals ein paar Schiffe mehr waren“, sagte Dan in seine Überlegungen hinein. „Wenn die Kerle damals schon nicht den Mumm hatten, sich in die Reichweite unserer Geschütze zu wagen, diesmal müssen sie sich erst recht vorsehen. Denn soweit ich sehe, handelt es sich um unsere alte ‚Isabella’, sie ist der einzige wirklich gefährliche Gegner. Aber da wir dieses Schiff kennen, besser kennen als der verdammte Caligu, wissen wir auch, was sie kann und was sie nicht kann. Die anderen beiden sind Schaluppen, schnell ihrer Takelung nach, aber nur schwach armiert. Seit wann kann denn eine Krähe den Seeadler beunruhigen?“ Der Seewolf starrte Dan an, als sei er eine Erscheinung. Was war eigentlich in der letzten Zeit aus dem einst so vorlauten Bürschchen geworden? Der Junge führte neuerdings Reden, die verdammt Hand und Fuß hatten! Hasard beschloß, Dan auf die Probe zu stellen. „Was schlägst du vor? Wenn du an meiner Stelle wärst, was würdest du tun?“ „Ich würde Caligu entgegensegeln. Ihn verwirren. Er würde sich außerhalb der Reichweite unserer Culverinen halten, aber unsere beiden Bogenschützen könnten seine Segel mit ihren Brandpfeilen erwischen. Ich glaube nicht, daß Caligu das einkalkuliert, denn er wird sich auf die Wendigkeit und Schnelligkeit seines Schiffes verlassen.“ Hasard bedachte den Jungen mit einem merkwürdigen Blick. Aber Dan redete schon weiter. „Big Old Shane hat sich einen neuen Bogen gebaut. Einen Langbogen, der aber von der Konstruktion her Besonderheiten hat und auch besondere Pfeile verwendet. Ich glaube, er hat sich schon lange damit
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beschäftigt, auf Arwenack schon. Dieser Bogen soll eine viel größere Reichweite und Durchschlagskraft haben als der von Batuti. Big Old Shane müßte Caligu die Hölle ganz schön heiß machen können!“ Dans Wangen glühten vor Kampfeslust, und seine Augen blitzten. Der Seewolf, der das Bürschchen schon immer tief in sein Herz geschlossen und ganz besondere Pläne mit ihm hatte, nutzte die Gelegenheit. Denn sobald würde sie sich nicht wieder in dieser Form ergeben. Er sah den Jungen fest an, und in diesem Augenblick mußte er sich eingestehen, daß Dan sich längst von jenem vorlauten Bürschchen zum Mann gemausert hatte. „Dan, ich finde deinen Plan hervorragend. Du sollst ihn selber in die Tat umsetzen. Ich übertrage dir hiermit das Kommando über die ‚Isabella V.’, bis wir Caligu geschlagen haben. Jeder Mann an Bord wird deine Befehle für die nächsten Stunden so ausführen, als hätte ich sie gegeben. Ich werde allenfalls als dein Berater zur Verfügung stehen, und das auch nur, wenn du mich fragst.“ Dan starrte den Seewolf aus großen Augen an. „Heißt das, ich kann – ich soll – ich meine, ich kann alles bestimmen, was wir, was die ‚Isabella’ in den nächsten Stunden tut? Welche Besegelung, welchen Kurs, welche....“ „Genau das, Dan. Du hast das Kommando, als ob ich es wäre. Und jetzt runter mit dir aufs Achterkastell, da ist dein Platz!” Dan wischte den Schimpansen von der Schulter, was Arwenack mit einem empörten Keckern beantwortete und blitzartig im Rigg verschwand. Dan hingegen sauste wie ein geölter Blitz die Wanten hinunter und dann zum Achterkastell. Der Seewolf folgte ihm, etwas langsamer. Er war gespannt, wie Dan der Mannschaft diese Neuigkeit beibringen würde, aber er wollte zur Stelle sein, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Er sah, wie Dan mit Ben Brighton redete und der Bootsmann einen zweifelnden Blick zu Hasard hinüberwarf, dann jedoch
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begriff, daß Dan es ernst meinte und sich eine solche Order wohl doch nicht aus den Fingern gesogen haben konnte. Der Seewolf mußte grinsen. Dan war wirklich ein helles Bürschchen. Er schob Ben einfach den Schwarzen Peter zu, indem er ihn als seinen ersten Offizier damit beauftragte, die Mannschaft von seiner Kommandoübernahme in Kenntnis zu setzen. Hasard lehnte sich gegen den Hauptmast. Absichtlich blieb er dort stehen, er wollte wissen, wie die Männer reagierten. Ben Brighton zögerte, überdeutlich spürte der Seewolf, wie merkwürdig sich Ben in seiner Rolle als Herold vorkam. Dann fand auch dieser Hundesohn wahrhaftig einen Ausweg. Der Seewolf beobachtete, wie er sich Edwin Carberry griff, den Mann, der mit seiner Stimme die Masten der ‚Isabella’ zum Schwanken bringen konnte. Carberry schnappte nach Luft, aber als er in Dans funkelnde Augen blickte und den Seewolf grinsend am Hauptmast lehnen sah, stieß er entschlossen sein Rammkinn vor. „Alle Mann an Deck!“ brüllte er. „Alle Mann herhören!“ Er wartete eine Weile, bis auch der letzte an Deck gestürzt war. Seine Blicke wischten noch mal zu Dan herüber und dann zum Seewolf, aber ‚der nickte ihm zu. Carberry ergab sich ins Unvermeidliche und holte tief Luft. Befehl war Befehl, da gab es nichts. „Hört her, ihr lausigen Decksaffen. Auf Anordnung des Kapitäns übernimmt ab sofort bis auf Widerruf Dan O’Flynn das Kommando über die ‚Isabella’. Der Kapitän erwartet von euch, daß ihr seine Befehle so schnell und so genau ausführt, als kämen sie von ihm selbst.“ Ein Raunen ging durch die Männer, einige rissen Mund und Augen auf, Buck Buchanan sprang auf die Kuhl. „Was? Seid ihr denn alle verrückt geworden?“ schrie er. „Wir segeln klar Schiff zum Gefecht, und dann soll so ein Hänfling, so ein Hosenscheißer das
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Kommando über eine Crew von ausgewachsenen Männern übernehmen?“ Lachen brandete auf, und Carberry wollte schon wie eine gereizte Bulldogge dazwischenfahren, aber Dan hielt ihn zurück. Irgendetwas in dem Blick des Jungen — des jungen Mannes, wie Carberry sich augenblicklich verbesserte — gefiel dem Profos ganz und gar nicht. Aber Buchanan bemerkte von alledem nichts. Er bog sich auf der Kuhl vor Lachen. „He, Dan, Junge“, grölte er, „weißt du, was du mich kannst? Nein, weißt du nicht? Na, dann zeig ich’s dir mal!“ Er drehte sich um und ließ mit einem Ruck seine Hose ‘runter. Dann bückte er sich und drehte Dan den nackten Hintern zu. Die Crew brach in brüllendes Gelächter aus, das aber sofort erstarb, als Dan mit einem Satz über die Schmuckbalustrade flankte und unmittelbar hinter Buck Buchanan auf den Decksplanken landete. Schneller als die meisten Männer es registrieren konnten, verpaßte er Buchanan einen so derben Tritt in den dargebotenen Hintern, daß Buck Buchanan über die Kuhl schoß und eine unsanfte Bauchlandung vollführte. Er wollte hoch, aber die herabgelassene Hose behinderte ihn. Und noch ehe er seine Blöße wieder bedecken konnte, war Dan heran. Ein weiterer Tritt traf Buchanan ins verlängerte Rückgrat, und er stürzte abermals auf die Planken. Dan fackelte nicht. Er war sofort wieder bei ihm, riß ihn hoch und deckte den völlig Verblüfften mit einem Hagel glasharter Hiebe ein, und er war nicht zimperlich dabei. Buck Buchanans Hose rutschte, schließlich verlor er sie, in dem verzweifelten Bemühen, seine Füße freizukriegen, ganz. Mit einem gewaltigen Schwinger streckte Dan ihn auf die Bretter und versetzte ihm abermals einen Tritt in den Achtersteven, der Buchanan durchschüttelte. Ächzend blieb er liegen. Dan schnappte ebenfalls nach Luft, aber nach einigen Sekunden hatte er schon
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wieder genügend Puste. Er baute sich breitbeinig vor Buchanan auf. „Hattest du das gemeint, Buck, als du mich fragtest, ob ich wüßte, was ich dich könnte? Oder hattest du dir das anders vorgestellt? Los, hoch mit dir, oder ich poliere dir deine Arschbacken, daß du dich hinterher für den großen Weltarsch hältst, der alles zuscheißen soll ...“ Brüllendes Gelächter der gesamten Crew war die Antwort. Nur Gwen, die unfreiwillig Zeugin dieser Auseinandersetzung geworden war, starrte ihren Bruder entgeistert an. „Dan!“ entfuhr es ihr, und Dan wirbelte herum. Ein Grinsen überzog seine Züge, dann aber verneigte er sich artig vor seiner Schwester. „Es tut mir leid, junge Lady, daß du die Entblößung und Bestrafung eines männlichen Achterstevens mit ansehen mußtest ...“ Der Rest ging in dem dröhnenden Gelächter Ed Carberrys unter, der verzweifelt nach Luft schnappte und sich gar nicht beruhigen konnte. Aber auch allen anderen ging es so, selbst Hasard konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er ging lachend zu Gwen hinüber und zog sie mit sich fort in Richtung Achterkastell. Buck Buchanan erhob sich. Wie benommen schüttelte er den Kopf, als er seine Hose von den Planken aufklaubte und hineinstieg. Unmittelbar vor Dan blieb er stehen, und nun überzog auch sein vierschrötiges Gesicht ein freundliches Grinsen. „Aye, aye, Sir, du hast gewonnen“, sagte er laut und vernehmlich. Damit war der Bann endgültig gebrochen. Dan knuffte ihn kameradschaftlich in die Rippen und marschierte zum Achterkastell zurück. Es war höchste Zeit. Denn die Karavelle Caligus wuchs bereits bedrohlich über den Horizont hoch. Das Schiff segelte schneller als die Galeone, und diesen Vorteil spielte der Pirat eiskalt aus. *
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Zwei Stunden vergingen, Caligu peilte die Lage. Er hütete sich, auf Schußweite an die Galeone heranzusegeln.Das verschaffte Ferris Tucker und Big Old Shane die nötige Zeit, genügend Pfeile für den Bogen des Waffenmeisters herzustellen. Die beiden Schaluppen segelten inzwischen fast im Kielwasser der „Isabella“ — wie Haie, die ihrer Beute folgen. Unermüdlich, Stunde für Stunde. Kühl und gelassen gab Dan seine Befehle, und der alte O’Flynn warf ihm mehr als einmal einen anerkennenden Blick zu. Sie passierten die Isla Saona, und als die Dämmerung ihre ersten Fäden über den Westhorizont zog, kam die Isla Mona in Sicht. Der Wind hatte weiterhin aufgebrist, die blaugrüne See der Karibik hatte sich verdunkelt, von Süden rollten schäumende Wogen heran, deren Gischtkronen weithin leuchteten. Für die Galeone war es ein nahezu ideales Wetter, denn ihr schwerer Rumpf und ihre starke Besegelung wurden mit dem Wetter spielend fertig. Anders die beiden Schaluppen. Sie hatten bereits jetzt mit der See zu kämpfen, und auch die Karavelle Caligus verschwand immer wieder hinter den glasgrünen, drohenden Bergen der See, die unablässig heranrollte und die „Isabella“ zum Schlingern brachte. „An die Brassen!“ Dans helle Stimme durchschnitt das Heulen des Windes. „Kurs Nordost! Alle Mann auf Stationen!“ Der Seewolf warf Dan einen anerkennenden Blick zu. Dan hätte keinen geeigneteren Moment erwischen können, um den Kurs zu ändern. „In die Wanten, Männer, setzt jetzt jeden Fetzen, den die Masten tragen! Zeigt es ihnen, zeigt den verdammten Ratten, wie der Seewolf und seine Crew die ,Isabella’ segeln!“ Dans Wangen glühten. Mit Argusaugen verfolgte er die Arbeiten der Männer, die die Wanten hinauf turnten und jeden Fetzen Segel setzten, der an den Rahen noch unterzubringen war.
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Dan warf einen Blick zu Caligu zurück, der mit seiner Karavelle etwas abgefallen war. „Wenn er heute noch angreifen will, dann wird er es jetzt tun, Hasard! Er muß merken, daß unsere ‚Isabella’ gar nicht so langsam und schwerfällig ist, wie er sich das wohl gedacht hat. Daß sie die schwere See viel besser nimmt als seine beiden Schaluppen! Er muß damit rechnen, daß wir ihm während der Nacht, falls sich das Wetter weiterhin verschlechtert, glatt davonlaufen!“ Der Seewolf nickte. Dan hatte die Lage völlig richtig beurteilt. Die beiden Schaluppen schlossen auf. Auch die Karavelle Caligus änderte ihren Kurs und glitt näher an die „Isabella“ heran, hielt sich aber sorgfältig außerhalb der Reichweite der schweren Geschütze. „Caligu wartet auf die beiden anderen!“ stieß Dan hervor. „Er will uns in die Zange nehmen! Na warte, du braunhäutiger Bastard, du sollst dein blaues Wunder erleben!“ Er gab Big Old Shane und Batuti ein Zeichen. Die beiden enterten sofort auf. Batuti in den Vormars, Big Old Shane in den Hauptmars. Jeder hatte seinen schweren Bogen und einen Köcher voller Brandpfeile bei sich. „Luke, Blacky!“ Die beiden spritzten heran. „Rauf mit den Kohlebecken. Der Tanz geht los! Da, jetzt wollen sie es wirklich wissen!“ 7. Caligu ließ die „Isabella V.“ nicht aus den Augen. Er war weit davon entfernt, den Seewolf, dessen Gefährlichkeit und Entschlossenheit er bereits wiederholt kennengelernt hatte, als Gegner zu unterschätzen. Auch dann nicht, wenn er drei Schiffe hatte und die Galeone von mehreren Seiten zugleich in die Zange nehmen konnte. Maria Juanita, die spanische Hure, die längst seine ständige Geliebte geworden war, stand neben ihm. Caligu störte die
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brandrote Narbe nicht, die das Gesicht Juanitas durchzog und die ihr Valdez an Bord der „Isabella“ während eines harten Kampfes zugefügt hatte. Nein, das störte den braunhäutigen, geschmeidigen Piraten überhaupt nicht, denn Juanita hatte einen scharfen Verstand. Sehr oft hatte es sich als gut erwiesen, auf ihre Ratschläge zu hören. Außerdem war sie eine Frau, die zu ihm paßte. Sie liebte ebenso leidenschaftlich und hemmungslos, wie sie haßte. Und Juanita haßte den Seewolf und seine Männer, wie keinen Menschen jemals zuvor in ihrem Leben, denn der Seewolf hatte ihr alles genommen, was sie und die anderen Huren sich in all den Jahren bei den Spaniern in der Neuen Welt verdient hatten. Caligu beobachtete, wie auf der „Isabella“ jeder Fetzen Tuch gesetzt wurde, den sie tragen konnte. Er stieß ein wütendes Knurren aus, Denn die See war von Stunde zu Stunde ruppiger geworden. Seine kleine Karavelle und die beiden Schaluppen, die sie begleiteten, spürten sie weit mehr als die große, dickbäuchige Galeone, die zudem noch durch eine viele Tonnen schwere Ladung tief unten im Rumpf stabilisiert wurde. Eine Ladung, auf die Caligu scharf war, koste es, was es wolle. Denn sie bestand aus für ihn geradezu unvorstellbaren Mengen an Gold und Edelsteinen, Perlen und Diamanten. Caligu warf einen Blick in den Himmel. Langsam wanderten seine Augen zum westlichen Horizont, und er sah, daß sich der Tag seinem Ende zuneigte. Die ersten Vorboten der herannahenden Nacht zeichneten sich über der Kimm bereits ab. Eine Stunde noch, dann war es stockdunkel. Außerdem würde sich das Wetter weiterhin verschlechtern und damit ein Angriff auf die Galeone immer schwieriger. Er mußte handeln –jetzt! Juanita sah den Piraten an. Sie erkannte seine Absicht. „Ich würde es nicht tun, nicht jetzt, Caligu! Du erwischst diese Galeone immer wieder, sie kann dir nicht entgehen.“
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„Wenn dieser Hund den Atlantik erreicht, dann ist er weg! Oder glaubst du, er wird so närrisch sein und den Kurs segeln, den wir vermuten, wenn er weiß, daß wir immer noch in seinem Kielwasser sind? Dieser Kerl ist gerissen, Juanita. Nicht nur das, er hat auch Glück! Das haben wir ja in der Windward Passage erlebt. Ich habe herumgehört, wer dieser verrückte Fremde mit der Galeone war, der alle unsere Pläne zum Scheitern brachte, auch wenn er und seine gesamte Mannschaft dabei selbst zum Teufel gingen. Er war ein Freund dieses verdammten Seewolfs, wahrscheinlich wollten sie zusammen nach England zurück. Aber jetzt ist dieser Hundesohn allein, und jetzt hole ich ihn mir, ihn und seine Schätze. Du wirst sehen, wie lange ein Mensch zu sterben vermag, wenn Caligu es will! Schreien sollen sie, um ihr Leben winseln, alle, aber es wird ihnen nichts helfen!“ Caligu gab einem Mann, der in seiner Nähe auf dem Achterkastell stand, das Zeichen, die Schaluppen zu verständigen. „Wir greifen an! Die Bogenschützen in die Takelage, Brandpfeile bereithalten, alle Geschütze und Drehbassen bemannen. Ich werde diesem Hund das Ruder zerschießen, die beiden Schaluppen greifen gleichzeitig an, aber sie sollen ihn erst überholen und dann auf Gegenkurs gehen. Von vorn kann er seine schweren Geschütze nicht einsetzen, er kann nur die Drehbassen benutzen. Alle Schiffe klar bei Enterkommandos!“ Maria Juanita sagte nichts, sie sah Caligu nur an. Ich hätte das nicht getan! dachte sie nur, aber sie wußte, daß sie sich in diesem Moment gegen Caligu nicht durchsetzen konnte. Caligu brüllte Kommandos über das Deck der Karavelle. Seine Männer sprangen in die Wanten oder stemmten sich in die Brassen. Das Schiff luvte an, und wieder einmal zeigte es, was an Schnelligkeit in ihm steckte. Caligus Plan war gut. Trotz und auch gerade wegen der hochgehenden See. Die Wogen, hinter denen der Rumpf seines
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Schiffes immer wieder verschwand, boten ihm gute Deckung. Wenn er von achtern an die Galeone heranlief, hatte er tatsächlich ihren wundesten Punkt erwischt, denn die „Isabella V.“ hatte auf dem Achterkastell lediglich Drehbassen, mit denen sie einen von achtern heranlaufenden Gegner unter Beschuß nehmen konnte. Die schweren Culverinen ließen sich nicht einsetzen, solange der Feind sich außerhalb ihres Richtwinkels hielt. Schnell genug zu manövrieren, das war die schwere Galeone auch nicht, da war ihr die schnittige, leichtere Karavelle überlegen. Caligus Schiff lief bei nahezu achterlichem Wind durch die See, daß es eine Freude war. Caligu beobachtete, wie ein paar Männer auf der „Isabella“ über das Deck liefen, wie sie heftig gestikulierten, auf die heranbrausende Karavelle deuteten und sich gleich darauf den beiden Schaluppen zuwandten, die an Backbord und Steuerbord heraufstaffelten, aber noch außerhalb der Schußweite blieben — ja, die „Isabella“ offenbar überholen wollten. Caligus Augen leuchteten triumphierend auf. „Ja, du Bastard!“ schrie er. „Diesmal mußt du allein kämpfen, und diesmal wirst du zur Hölle fahren! Niemand kann dir helfen, niemand!“ Er begann dröhnend zu lachen, als er sah, daß die Aufregung an Bord der Galeone des verhaßten Seewolfs immer größer wurde. Wahrscheinlich hatten sie dort jetzt begriffen, was auf sie zukam und in welche Zange sie geraten waren. Caligu gab ein paar Ruderkommandos. Die Karavelle schwang herum und lief jetzt von schräg achtern auf den Gegner zu. „Backbordgeschütze klar zum Feuern!“ brüllte der Pirat. Jetzt erfaßte auch ihn die Aufregung. „Ihr da unten, klar bei Brassen! Ho, wenn wir schnell genug herumkommen, dann verpassen wir diesem Hund gleich noch eine Breitseite, und dann ist er hinüber, dann haben wir ihn! Zielt auf das Ruder,
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ihr müßt es zerschmettern, dann ist er wehrlos, dieser Hurensohn!“ Caligu feuerte seine Männer an, und die Piraten hatte das Jagdfieber ergriffen, zumal auch die beiden Schaluppen unaufhaltsam der verabredeten Position entgegensegelten. Es konnte diesmal gar nichts mehr schiefgehen. * Caligu konnte nicht ahnen, daß Dan die Hektik an Bord der „Isabella“ eiskalt befohlen hatte. Einen Trupp von sechs Mann hatte er dazu abgestellt, der vor Caligus Augen die ganze Schau abzog, und der Pirat war auch prompt darauf hereingefallen. Dan grinste sich eins, und auch um die Lippen des Seewolfs zuckte es verdächtig. Das Kerlchen macht seine Sache phantastisch! dachte er. Wenn das nicht mal ein hervorragender Kapitän wird, dann fresse ich einen Wal mit Haut und Flossen! Dan ließ die heranbrausende Karavelle nicht aus den Augen, ebenso wenig wie Big Old Shane und Batuti, die in den beiden Marsen hockten, Bogen und Brandpfeile schußbereit in den Händen. Die starke Brise aus Süd würde die Flammen entfachen, bei solchem Wetter brannten Segel wie Zunder. Der verdammte Caligu sollte sich wundern! Der riesige Gambianeger spannte seine Muskeln und rollte seine Schultern, während Big Old Shane gelassen, aber wachsam in jeder Sekunde, die verstrich, das feindliche Schiff im Blick behielt. Noch ein paar Minuten! dachte er. Zu weit durften sie Caligu nicht heranlassen, denn daß der Kerl ihnen das Ruder zerschießen wollte, war Big Old Shane von Anfang an klar. Big Old Shane griff nach dem Bogen. Wie prüfend spannte er ihn, mit seinen gewaltigen Kräften schaffte er das spielend. Dann wog er einen der Pfeile in der Hand — auch eine Spezialkonstruktion von ihm. Denn der hohle Schaft war mit Pulver aufgefüllt, das sich entzündete, sobald die brennende Spitze weit genug
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heruntergebrannt war. Das aber hatte der hünenhafte Waffenmeister schon auf Arwenack immer wieder probiert. Er wußte, daß keiner seiner Pfeile versagen würde. So eine Ladung Pulver erzielte eine ganz andere Wirkung als ein normaler Brandpfeil. Die Pfeile waren schwer im Vergleich zu anderen, klar. Das konnte nicht anders sein, aber deswegen hatte er für sie ja auch extra .einen Bogen gebaut, der mit ihrem Gewicht spielend fertig wurde. Big Old Shane grinste. Er war gespannt, wie sich die ganze Sache bewähren würde, das hier war der erste Einsatz seiner neuen Waffe. Dann war es soweit, aber noch bevor er seinen ersten Pfeil auflegen konnte, ließen ihn laute Rufe herumfahren. Er starrte nach vorn und sah, wie die beiden Schaluppen gerade zu einer Halse ansetzten. Ihre Absicht war klar und der Plan dieses Piraten teuflisch. Denn die „Isabella“ würde es nie schaffen, sie schnell genug auszumanövrieren! „Jetzt mußt du zeigen, Dan, was du beim Seewolf gelernt hast“, murmelte er. „Ich werde dieser Piratenbrut erst mal ein bißchen Feuer über ihren Schädeln anzünden!“ Er nahm den Bogen hoch, brannte die Pfeilspitze im bereitstehenden Kuhlbecken an, legte den Pfeil auf die Sehne — und schon zischte er los. Big Old Shane wartete nicht, bis er in die Segel der Karavelle schlug, sondern schickte sofort einen zweiten hinterher, aber an eine andere Stelle. Auch Batuti hatte das Feuer eröffnet, die beiden schossen um die Wette. Pfeil um Pfeil jagten sie hinaus. Und dann passierte es. Drüben, in den Segeln der Karavelle Caligus, zuckten blauweiße Stichflammen hoch. Sie waren so heiß und so groß, daß die Segel sofort Feuer fingen. Der steife Wind aus Süd tat ein übriges, Flammen züngelten empor, leckten an den Segeln hoch und erfaßten mehr und mehr von dem Tuch.
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Voller Panik flohen Männer aus der Takelage, andere schossen ebenfalls Brandpfeile auf die Galeone ab, aber die Pfeile erreichten ihr Ziel nicht, sondern zischten ins Wasser. Big Old Shane und Batuti feuerten weiter. Schön wenige Minuten später brannte die Besegelung des Fockmastes der Karavelle lichterloh, das Schiff lief aus dem Ruder und fiel zurück. Batuti und Big Old Shane sahen, daß Caligu sich an Deck wie ein Rasender gebärdete, aber es half ihm nichts, gegen die teuflischen Pulverpfeile des Waffenmeisters gab es keine Rettung. Und auch jede Löschaktion erfolgte zu spät, die Karavelle brannte, und der heftige Wind, der durch das Rigg brauste, entfachte die Flammen immer mehr. „Jetzt die Schaluppen, Batuti!“ brüllte Big Old Shane. Der Gambianeger nickte ihm zu, tanzte vor Vergnügen in seinem Mastkorb hin und her und schwang drohend seinen Bogen. „Du Batuti versprochen, Bogen wie du, Pfeile mit Pulver! Du machen, Big Old Shane, oder Batuti dich schlachten, so!“ Er zog sein breites Entermesser und vollführte damit eine Bewegung, als wolle er sich die Kehle durchschneiden. Dabei grinste er aber über das ganze Gesicht! Doch dann verschwand er wieder hinter der Wand des Mastkorbes. Dan tat das einzig Richtige, er hielt stur auf die Schallippen zu. Bei dem Wind lief die schwere Galeone eine Mordsfahrt. Sie schob eine gewaltige Bugwelle vor sich her. Dan brauchte den Männern nicht zu sagen, daß sie sich zu einem blitzschnellen Manöver bereithalten mußten. Auf dem Geschützdeck glühten die Lunten. Ferris Tucker und Al Conroy führten dort das Kommando, während Smoky und Ben Brighton sich um die Steuerbordund Backbordwache kümmerten. Auch die Drehbassen auf dem Vorkastell waren bemannt, es war das erste Mal, daß die „Isabella V.“ unter Hasards Kommando über eine ausreichend starke
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Besatzung verfügte und damit auch ihre schwere Armierung hervorragend ins Treffen bringen konnte. Auf der Schaluppe, die der „Isabella“ am nächsten war, reagierte man bereits nervös. Die heranbrausende Galeone, die offenbar keinerlei Anstalten traf, auch nur einen Strich vom Kurs abzuweichen, mußte von dem viel kleineren Schiff aus verdammt bedrohlich wirken. Big Old Shane dachte gar nicht daran, seine kostbaren Pfeile zu vergeuden. Er wartete eiskalt seine Zeit ab, dann aber jagte er Schuß auf Schuß hinaus, und wieder taten seine furchtbaren Pfeile ihre Wirkung. Es geschah jedoch noch etwas, womit an Bord der „Isabella“ niemand gerechnet hatte. Die Segel der vorderen Schaluppe brannten, und auch sie lief, wie zuvor schon Caligus Karavelle, aus dem Ruder. Dabei schor sie der anderen vor den Bug, die inzwischen herangesegelt war. Es war unmöglich für sie, ihren Kurs noch rasch genug zu korrigieren. Sie krachte voll in die brennende hinein. Der Fockmast brach, stürzte auf die brennende Schaluppe und fing selber Feuer. Unter der Wucht des Aufpralls zersplitterte die Bordwand des einen Schiffes — und dann war die „Isabella“ heran. Durch ein blitzschnelles Manöver war sie dem drohenden Zusammenstoß ausgewichen. In einer Entfernung von knapp fünfzig Yards passierte sie die beiden havarierten Schiffe an Backbord. Al Conroy und Ferris Tucker warteten eiskalt, längst hatten sie die Stückpforten öffnen lassen, drohend ragten die Rohre der siebzehnpfündigen Culverinen aus den Luken. „Feuer!“ Al Conroy brüllte das Kommando durch den allgemeinen Aufruhr, durch das Siegesgeschrei der „Isabella“-Crew. Die Culverinen entluden sich donnernd. Pulverdampf wölkte auf, grelle Mündungsfeuer stachen auf die beiden
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Schaluppen zu — und dann schlugen die schweren Kugeln ein. Die Wirkung war verheerend. Die der „Isabella“ am nächsten gelegene Schaluppe zerbarst förmlich unter dem Hagel der einschlagenden Geschosse. Splitter flogen umher, die Drehbassen an Deck der „Isabella“ wummerten los und überschütteten die Decks der feindlichen Schiffe mit gehacktem Blei und Eisen. Die von der Breitseite getroffene Schaluppe sackte so schnell und lautlos weg, wie es die Männer der „Isabella“ noch nie erlebt hatten. Sie sahen, wie einige der Piraten über Bord sprangen, schwach drang ihr Geschrei herüber, dann war die „Isabella“ vorbei und ließ zwei brennende und ein gesunkenes Schiff hinter sich zurück. Noch eine Weile sahen sie die Flammen, dann, irgendwann, erloschen sie. Der Weg in den Atlantik war für die „Isabella“ endgültig frei. 8. An Bord der „Isabella“ herrschte Hochstimmung. Die Männer feierten den Sieg über Caligu, und sie feierten Dan, Big Old Shane und Batuti, die Helden dieser Schlacht. Buck Buchanan brachte Dan persönlich einen Becher Rum. Er blieb vor ihm stehen und sah ihn aus seinen kleinen Augen an. „Aus dir wird einmal was, Dan“, sagte er. „Du bist ein ganz verfluchter Sauhund, aber ich habe Respekt vor dir, Mann. Wenn du mal ein eigenes Schiff hast, dann kannst du den alten Buck anheuern, trotz der Tritte in den Hintern. So, das wollte ich man bloß gesagt haben, Prost!“ Er hob den Becher, trank ihn mit einem Ruck aus und klopfte Dan noch einmal auf die Schulter. Der alte O’Flynn, der mit Hasard und Gwen ebenfalls auf dem Hauptdeck zwischen den Culverinen saß, schüttelte den Kopf, denn ihm war die Szene nicht entgangen, die sich eben keine zehn Yards von ihm entfernt abgespielt hatte.
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„Ich habe gar nicht gewußt, daß in dem Bengel soviel steckt“, sagte er und warf Gwen einen sorgenvollen Blick zu. „Hoffentlich schnappt uns das Bürschchen nicht total über.“ Hasard schaltete sich ein. „Nein, bestimmt nicht“, sagte er. „Ich kenne Dan fast besser als mich selbst. Aus dem wird ein hervorragender Kapitän, dafür werde ich sorgen. Mir scheint, ihr O’Flynns seid ein guter Schlag, was?“ Er blinzelte Gwen zu, die ihre Verlegenheit nur mit Mühe überspielte. Und gerade deswegen rettete sie sich in die Offensive. „Stimmt genau, wir brauchen uns nicht zu verstecken, wir ...“ Sie brach plötzlich ab, als sie das Grinsen des Seewolfs bemerkte, der sie mit einem eigentümlichen Blick musterte, so, als sähe er sie zum ersten Mal. „Nein, Gwen, ihr braucht euch wirklich nicht zu verstecken“, sagte er dann leise, als er sah, daß der alte O’Flynn gerade von Matt Davies und Jeff Bowie, den beiden Männern mit den Hakenprothesen am Unterarm, mit Beschlag belegt wurde. „Du bist dafür das allerbeste Beispiel, und das denke ich schon verdammt lange, hast du das nicht gewußt?“ Gwen blickte zu Boden, um die Röte zu verbergen, die ihr Gesicht plötzlich übergoß. Aber das spärliche Licht der Deckslaterne war immer noch nicht spärlich genug, als daß ihr das gelingen konnte. „Du brauchst gar nicht rot zu werden, Gwen“, sagte Hasard leise und zog sie von dem leeren Faß, auf dem sie saß, hoch. „Komm, Gwen, es ist Zeit, daß wir miteinander reden. Ich lade dich zu einem Glas Wein in meiner Kammer ein, oder ist dir das nicht recht? Ein Schiff wie dieses bietet nicht viele Möglichkeiten, aber dort könnten wir wirklich einmal ungestört und in Ruhe miteinander reden. Ich hatte mir das vorgenommen, seit wir dich in Santo Domingo ...“ „Komm“, sagte Gwen nur und streckte ihre Hand aus. Ihre anfängliche Verlegenheit war wie weggewischt. Sie liebte diesen Mann schon lange, und sie würde es ihm
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auch sagen, wenn er das wollte. Gwen war kein Mädchen, das lange Umwege liebte. Hand in Hand gingen Hasard und Gwen zur Kuhl hinüber. Ed Carberry und Ferris Tucker, denen Big Old Shane gerade Rum einschenkte, blickten den beiden unwillkürlich nach. Ferris ließ seinen Becher wieder sinken. „He, Ed“, brummte er, „das sieht verdammt nach Segeln im Verband aus. Fragt sich nur, wer von den beiden das Admiralsschiff ist!“ Carberry hatte sich ebenfalls aus seiner liegenden Haltung aufgerichtet. Ein Grinsen lief über sein Narbengesicht. „Also, von wegen Admiralsschiff, das mußt du schon unseren alten Shane fragen, der kennt Gwen besser als wir. Also, was sagst du dazu?“ Big Old Shane schien die Worte Carberrys gar nicht zu hören. Versonnen, tiefe Falten auf der Stirn, blickte er Hasard und Gwen nach, als sie im Achterkastell verschwanden. Dann goß er sich ruckartig den Becher voll und stürzte ihn hinunter. „Freunde, ich glaube, heute wird sich der alte Shane erst mal Mut ansaufen. Da sind ein paar mächtige Klippen in meinem Kurs, und ich habe verdammt das Gefühl, daß ich gehörig aufbrummen werde!“ Carberry und Tucker starrten ihn verständnislos an, aber dann gossen sie sich ebenfalls einen hinter die Kiemen, und der Profos richtete sich auf eine lange Nacht ein. Der Wind heulte in den Wanten und Pardunen, der mächtige Bug der Galeone stieß immer wieder in die nachtschwarzen Wogen, daß der Gischt vom Vorderkastell bis auf das Hauptdeck sprühte, aber das störte die Crew nicht. Sie hatte einen Sieg zu feiern, bei dem es keinen Toten, keinen Verwundeten, ja nicht einmal den geringsten Schaden an Bord ihres Schiffes gegeben hatte. Außerdem hatten sie endlich den Durchbruch in den Atlantik geschafft. Nicht mehr lange, und sie würden Englands Küsten wiedersehen. *
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Hasard und Gwen hatten die Kammer des Seewolfs erreicht. Gwen lächelte, während sie sich umblickte. Die Ordnung, die in der Kammer herrschte, gefiel ihr, ebenso die Sauberkeit. Der Seewolf drückte die Tür zu, dann ging er auf Gwen zu. „Gwen, ich ...“ Das Mädchen lächelte ihn an und legte ihm eine Hand auf den Mund. „Ich weiß, über was du mit mir reden wolltest, Hasard“, sagte sie leise. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und küßte ihn. Lange, immer wieder. Hasard preßte sie an sich und hielt sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Schließlich lehnte sich Gwen erschöpft an ihn. „Siehst du, wir brauchen gar nichts zu reden“, sagte sie. „Ich wußte es schon lange, länger vielleicht als du. Aber ich hätte nie geglaubt, daß ich es dir einmal sagen würde, daß es hier sein würde, an einem Tag, an dem ihr, du und deine Männer, euch den Zugang zum Atlantik freigekämpft habt.“ Sie sah ihn an, ihre grünen Augen leuchteten. „Und nun sag es mir doch, was du sagen wolltest. Ich möchte es hören, damit ich es glaube, damit ich es in diesem Leben nie wieder vergesse!“ Der Seewolf zog sie an sich. „Ich liebe dich, Gwen“, sagte er. „Ich will, daß du meine Frau wirst. Gleich, an Bord dieses Schiffes!“ Gwen verschloß ihm abermals mit einem langen Kuß die Lippen. „Ja, Hasard“, flüsterte sie dann. „Ja, ich will deine Frau werden, nur der Tod wird mich wieder von dir trennen!“ Sie schmiegte sich an den Seewolf, und er spürte ihren jungen, biegsamen Körper in seinen Armen, spürte ihre Küsse, ihre streichelnden Hände, und dann vergaßen die beiden alles - die „Isabella“, den um das Schiff heulenden Wind, das Klatschen der Wogen, das Ächzen und Knarren der Takelage …
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Der alte O’Flynn fiel am nächsten Morgen glatt aus den Schuhen, als Hasard und Gwen ihm die Neuigkeit unterbreiteten. Er warf dem Seewolf einen schiefen Blick zu, dann einen gleichen auf Gwen. „Also du willst diese Gans da heiraten? Junge, hast du dir das auch gut überlegt? Nichts gegen mein eigen Fleisch und Blut, aber sie ist manchmal ein verdammt harter Brocken. Das kannst du einem in Ehren ergrauten Vater schon glauben.“ Der Seewolf grinste. „Keine Angst, auf harte Brocken bin ich spezialisiert, daran soll es nicht liegen. Aber wenn ich ehrlich bin, es gab da eigentlich eine ganze Menge Stellen, die mir gar nicht so hart erschienen, im Gegenteil.“ Der alte O’Flynn grinste ebenfalls. „Also, du müßtest doch nicht der Seewolf sein, wenn du nicht vollendete Tatsachen geschaffen hättest. Aber da meine Tochter auch mit von der Partie war, brauche ich dich nicht erst mit meinem Holzbein für diese Hinterlist durchzubläuen. Also schön, meinen Segen habt ihr und nun seht zu, wie ihr miteinander zurecht kommt. Bin gespannt, was Dan zu seinem neuen Schwager sagen wird. Und die Crew wirst du ja wähl auch einweihen, was? Mann, das gibt ein Fest!“ Er drückte den beiden die Hand, und das wollte beim alten O’Flynn schon etwas heißen. Gwen konnte sich jedenfalls nicht erinnern, jemals von ihrem Vater einen Händedruck erhalten zu haben, stattdessen aber hin und wieder ein paar mit dem Holzbein. Der Seewolf machte kurzen Prozeß. Er schnappte sich Gwen und stürmte mit ihr aufs Achterkastell. Dort rannte er beinahe Ben Brighton über den Haufen, und der konnte sich nur noch durch einen Satz zur Seite retten. „He, welcher Orkan ist euch denn in die Beine gefahren?“ fragte er. Carberry, der sich ebenfalls auf dem Achterkastell befand, war das nicht entgangen. Er stieß sein Rammkinn vor
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und baute sich vor dem Seewolf auf. Dabei streifte sein Blick das junge Paar, dann Ben. „Hast du keine Augen im Kopf, Ben, daß du fragst, warum die beiden so stürmisch sind? Ich weiß ein paar Leute, die das gestern nacht schon bemerkt haben. Und ich weiß auch ein paar Leute, die dafür gesorgt haben, daß heute nacht Ruhe im Schiff war, trotz der Sauferei. So, und jetzt versammle ich wohl am besten die Mannschaft, denn ihr beide habt sicher etwas mitzuteilen, oder nicht?“ „Du bist ein ganz verdammtes Schlitzohr, Ed!“ sagte der Seewolf. „Aber recht hast du. Los, her mit der Crew. Ich will sie in einer Minute auf der Kuhl versammelt sehen, klar?“ „Aye, aye, Sir!“ Carberry salutierte, wie er es früher bei Drake oft getan hatte. Dann dröhnte seine Stimme über Deck, daß die Planken bebten. In Rekordzeit hatte sich die Mannschaft auf der Kuhl versammelt. Auch Baldwyn Keymis befand sich unter ihnen. Es war der erste Morgen, an dem er wieder an Deck erschienen war. Nur noch ein Schatten seiner selbst, hockte er miteingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen auf dem Backbordschanzkleid. Sein einst grauer Ziegenbart war weiß geworden, ebenso sein Haupthaar. Unter gesenkten Lidern starrte er zum Achterkastell hinauf, auf dem nun Gwen, der Seewolf, der alte O’Flynn, Dan, Den Brighton und Carberry standen. Aber es war kein guter Blick, den er diesen Männern zuwarf. Als der Seewolf seine Neuigkeit verkündete, wurde er grün vor Wut. Er ballte die Hände, und ganz tief unten in seinen Augen funkelte abgrundtiefer Haß. Es kümmerte Baldwyn Keymis nicht, daß Gwen ihn in aufopfernder Weise gepflegt hatte, im Gegenteil. So sehr er der Pflege bedurft hatte, jedesmal wenn Gwen seine winzige Kammer im Vorschiff betrat, kostete es ihn übermenschliche Beherrschung, sie nicht anzufallen, zu erwürgen oder zu erstechen. Denn sie war der Grund seiner ganzen Demütigungen,
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sie war die Ursache, daß er, Baldwyn Keymis, der vom Lordkanzler eingesetzte Friedensrichter von Falmouth, jetzt auf diesem Schiff und mit dieser Bande von Piraten niedrigste Arbeit verrichten mußte und dabei nach wie vor von den Männern geschnitten wurde. So jedenfalls sah er das. Während die Männer vor Begeisterung brüllten und ihrem Kapitän und seiner jungen Frau, Dan und den alten O’Flynn eingeschlossen, gratulierten und ihnen vor Händeschütteln fast die Arme aus den Gelenken rissen, schwor Baldwyn Keymis Rache. Er nahm sich vor, von nun an wieder an Deck zu bleiben. Er mußte seine Augen und Ohren offenhalten, er mußte Material sammeln gegen diesen Seewolf und seine Freibeuter. Die Kerle sollten sich noch wundern, sie würden schon noch begreifen, was es hieß, sich an Baldwyn Keymis vergriffen zu haben. Unbemerkt von allen stahl er sich davon, und niemand Vermißte ihn. Als sich der Trubel endlich gelegt hatte und die Männer an ihre Arbeit zurückgekehrt waren, stieg Big Old Shane die Stufen zum Achterdeck hoch. Der Gang fiel ihm nicht leicht, aber so sehr er auch hin und her überlegt hatte, es mußte sein. Und es mußte jetzt sein, an diesem Morgen. Vor dem Seewolf blieb er stehen, Gwen befand sich unter Deck. „Ich muß mit dir reden, mein Junge“, sagte er. „Es wird gut sein, wenn du ein paar Minuten Zeit für mich hast.“ Der Seewolf sah den Waffenmeister von Arwenack aufmerksam an. „Natürlich. Hier, oder wollen wir in meine Kammer gehen?“ „Gehen wir unter Deck, dort redet es sich besser. Es ist eine etwas schwierige Sache, na, du wirst sehen.“ Hasard ging Big Old Shane voraus. Auf dem Weg dorthin begegnete ihnen Gwen. Sie lachte ihnen zu. „Ich habe an Deck zu tun, Hasard. Vorbereitungen für das Fest — das kann ich unseren Gästen schließlich nicht allein überlassen. Heute abend geht’s los!“
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Sie hauchte Hasard einen Kuß auf die Lippen, dann lief sie weiter. Big Old Shane sah ihr nach. „Du hast eine gute Wahl getroffen, Hasard. Eine bessere Frau hättest du in ganz England nicht finden können!“ Sie betraten die Kammer des Seewolfs. Hasard holte eine Flasche Rum aus einem Schapp und stellte sie auf den Tisch. „Trocken redet es sich schlecht“, sagte er. „Die Kehle kratzt dann so!“ Er goß ein, und der Waffenmeister nahm einen langen Schluck aus seinem Becher. „Du erinnerst dich an meine Worte, die ich dir bei deinem letzten Besuch auf Arwenack im Dezember 1576 gesagt habe?“ begann Big Old Shane unvermittelt. Hasard starrte ihn an. Blitzartig überfiel ihn die Erinnerung an dieses Gespräch. Er runzelte die Stirn. „Ja, ich erinnere mich. Du wolltest mir sagen, wer ich bin. Aber wir kamen nicht mehr dazu ...“ Der alte Shane nickte. „Ja, stimmt genau. Die Sache hat jedoch einen Haken. Wer du bist, das weiß auch ich nicht genau. Ich weiß nur, daß du kein Killigrew bist. Dem Namen nach ja, aber nicht dem Blut nach.“ Einen Moment herrschte in der Kammer Schweigen. Der Seewolf starrte den Waffenmeister aus großen Augen an. Er erinnerte sich an einige Szenen in Spanien, bei denen er diesen Verdacht auch schon mal gehabt hatte. Und er erinnerte sich daran, wie anders geartet die Sippschaft der Killigrews war als er. Unwillkürlich stand er auf, seine eisblauen Augen richteten sich auf den alten Shane. „Sage, was du weißt!“ forderte er ihn auf. Der Waffenmeister nickte und nahm noch einen Schluck aus seinem Becher. „In einer Sturmnacht im November 1556 lief eine vom Sturm schwer angeschlagene Kogge der Hanse in den Hafen von Falmouth ein. Sie suchte dort Schutz. Wahrscheinlich wollten die Männer auch die Sturmschäden ausbessern. Das Unglück der Kogge war, daß einer ihrer Seeleute zu geschwätzig war. Er erzählte in
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einer Kneipe, daß die Kogge Wein geladen habe. Jene Sorte, für die Sir John immer eine besondere Vorliebe hatte - du kennst ihn ja.“ Wieder nahm der Waffenmeister einen Schluck. „Sir John befand sich zu dieser Zeit nicht in Falmouth, sondern in der Irischen See. Und weil das so war, ergriff Lady Killigrew die Initiative. Gegen Mitternacht wurde die Kogge unter ihrer Führung überfallen, die gesamte Besatzung erschlagen und in den Ebbstrom geworfen. Im Laderaum aber, zwischen den Weinfässern, aufgehängt in einer Hängematte, fand man dich. Dein Glück war, daß Lady Killigrew sich sofort in diesen kleinen, hübschen Burschen vernarrte. So nahm sie dich an Sohnes Statt an, zusätzlich zu deinen drei mißratenen Stiefbrüdern.“ Hasard stand wie versteinert. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. „Wie war der Name der Kogge?“ fragte er schließlich, und sein Atem ging schwer. „,Wappen von Wismar`“, erwiderte der Waffenmeister. „Sir John hat das Schiff später nach Irland verkauft. Mehr weiß ich nicht, aber ich hatte mich verpflichten müssen, Stillschweigen gegen jedermann zu bewahren. Nur jetzt, da du Gwen zur Frau genommen hast, solltest du es erfahren. Es ist dein gutes Recht, mein Junge. Vielleicht findest du mehr heraus!“ Der alte Shane erhob sich. „Ich wünsche euch beiden viel Glück. Und wenn ihr für euren ersten Sohn einen Paten sucht, dann vergeßt Big Old Shane nicht.“ Gleich darauf verließ er die Kammer. Unter der Tür blieb er noch einmal stehen und sah den Seewolf an. „Ich werde auch weiterhin über alles Schweigen bewahren - wie in den vergangenen Jahrzehnten. Wem du es sagst, das mußt du selbst entscheiden, Hasard!“ Hasard schenkte sich nach, dann trank er den Becher aus. Eine Bindung an Arwenack bestand für ihn nur zu Lady Killigrew und zu Big Old Shane. Die ganze andere Brut konnte ihm
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den Buckel hinunterrutschen. Aber wer war er wirklich? Wer waren seine Eltern, und wie gelangte er auf die Kogge, in eine Hängematte im Frachtraum zwischen Weinfässern? „Ich werde es herausfinden“, murmelte er. „Und wenn ich dafür bis ans Ende der Welt segeln müßte!“ 9. Das große Fest stieg am Abend dieses ereignisreichen Tages. Der Kutscher hatte wahre Wunder vollbracht, der Teufel mochte wissen, wo er alle die guten Dinge gehortet hatte, die jetzt plötzlich appetitlich hergerichtet an Deck erschienen. Und weiß der Himmel, die ganze Bande ließ es sich schmecken. Ben, Carberry, Ferris Tucker und der Seewolf hatten Mühe, überhaupt noch ein paar der Männer halbwegs aktionsfähig zu erhalten. Dan, der alte O’Flynn, Jean Ribault und Karl von Hutten führten gegen Mitternacht die wildesten Tänze auf, die der Seewolf und seine junge Frau bis dahin jemals gesehen hatten. Und der alte O’Flynn entwickelte eine geradezu erstaunliche Beweglichkeit, trotz seines Holzbeins. Als der Morgen graute, lag der größte Teil der Crew irgendwo in irgendeinem Winkel an Deck, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Carberry, selbst keineswegs mehr nüchtern, sah das und runzelte die Stirn. „Man sollte ihnen allen die Haut in Streifen von ihren ...“ Weiter gelangte er nicht, denn da kippte er ebenfalls um und rührte sich nicht mehr. Dennoch lief die „Isabella“ gute Fahrt. Der Wind blieb ihr treu, die gefürchteten Stürme bei den Azoren blieben aus. Am 20. Januar, 1580 lief sie an Kap Vincente vorbei und steuerte den Golf von Cadiz an. Der Seewolf hatte ein Versprechen gegeben, und jetzt war die Zeit, es einzulösen. Er hatte Valdez, dem alten spanischen Landsknecht, den er auf Gran Cayman in seine Besatzung aufgenommen hatte, versprochen, ihn an der spanischen Küste abzusetzen.
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In einer kleinen Bucht an der Mündung des Guadiana in der Nähe von Ayamonte warf die „Isabella“ Anker. Der Seewolf winkte den Spanier zu sich heran. „Es ist soweit, Valdez“, sagte er. „Und als Mitglied meiner Besatzung sollst du nicht mit leeren Händen von Bord meines Schiffes gehen. Hier, nimm das! Du hast dich hervorragend geschlagen. Ich werde dich jetzt selbst an Land bringen - nein, kein Wort mehr, das bin ich dir schuldig!“ Er überreichte ihm einen Lederbeutel mit Perlen. Valdez, über den Wert der Perlen genau orientiert, starrte den Seewolf an. Er wußte, daß er mit diesem Beutel ein Vermögen in Händen hielt. „Sir, das - Sie können doch nicht -ich ...“ Die Tränen schossen ihm in die Augen. Hasard klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast dir deinen Anteil redlich verdient, Valdez. Perlen kannst du in deinem Land am unauffälligsten verkaufen. Ich will nicht, daß du irgendwann Not leiden mußt. Lieber hätte ich dich bei meiner Crew behalten, aber ich respektiere deinen Wunsch, in deine Heimat zurückzukehren. Komm jetzt! Zu lange kann ich hier nicht ankern, oder die Dons erwischen mich doch noch zu guter Letzt!“ Keiner der beiden Männer bemerkte den Friedensrichter, der sich ganz in ihrer Nähe, aber in guter Deckung aufgehalten hatte. Ein hämisches Grinsen überzog sein eingefallenes Gesicht. So war das also, dieser Killigrew verteilte das Eigentum der Krone an Feinde Ihrer Majestät. Der Kerl war vielleicht sogar ein Sympathisant der Spanier! Wer konnte überhaupt wissen, ob dieser Valdez nicht ein Spion war? Zumindest ließ er. sich mit etwas Geschick dazu abstempeln! Das hämische Grinsen von Keymis verstärkte sich. Jetzt endlich hatte er den Seewolf da, wo er ihn haben wollte. Er sollte nur nach England segeln, dort mußte er ihn, den Friedensrichter wieder laufenlassen, dort war die Herrschaft des
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Seewolfs zu Ende und seine, die von Baldwyn Keymis, begann wieder. Keymis zog sich unauffällig zurück. Es war nicht nötig, daß irgendjemand erfuhr, daß er Zeuge dieser Szene geworden war. Und es war gut. daß niemand die Gedanken erraten konnte, die er hinter seiner Stirn verbarg. Baldwyn Keymis blieb vor einer der Nagelbänke stehen und begann, die herabhängenden Tauenden zu ordnen zum ersten Mal in seinem Leben, daß er freiwillig ein Tau auf diesem Schiff anfaßte. An Land gab es noch eine herzzerbrechende Abschiedsszene von Valdez. Dann pullte der Seewolf zur „Isabella“ zurück. Er ahnte nicht, daß er Valdez wiedersehen und dann auf diese alte Freundschaft angewiesen sein sollte. * Eine Stunde später lichtete die „Isabella“ wieder den Anker. Die Crew war halb verrückt vor Freude -auf Heimatkurs nach all der langen und entbehrungsreichen Zeit, nach all den Stürmen und Gefahren, die sie durchgestanden hatten! An Bord herrschte eine tolle Stimmung, und mit jeder Meile, die die „Isabella“ zurücklegte, wurde sie noch besser. Sogar Carberry dämpfte seine Stimme, und niemand wußte zu sagen, ob das nun seiner guten Laune oder der Tatsache zuzuschreiben war, daß sich Gwen, die junge Frau ihres Kapitäns, fast immer tagsüber an Deck zeigte. Am dritten Tag dieser letzten Etappe, nach einer langen und zärtlichen Nacht, die Gwen mit dem Seewolf verbracht hatte, hielt sie ihn morgens, als er gerade aufstehen wollte, fest. Der Seewolf sah sie an und wußte den Ausdruck in ihren Augen nicht zu deuten. Aber Gwen spannte ihn nicht auf die Folter, sie legte ihm die Arme um den Hals. „Hasard, wir werden bald nicht mehr alleinsein – ein kleiner Seewolf hat sich angemeldet ...“
John Curtis
Seewölfe 55 44
Hasard erstarrte mitten in der Bewegung. Dann drückte er sie an sich, daß ihr fast die Luft ausging. Und im nächsten Moment jagte er an Deck. Als die Männer nun auch noch diese Neuigkeit erfuhren, war tatsächlich der
Ein Mann wird kielgeholt
Teufel los an Bord. Die Männer feierten ein Fest, daß sich die Spanten bogen. Selbst Pete Ballie, der Rudergänger, war voll wie eine Haubitze. Zum ersten Mal in seinem Leben steuerte er Girlanden. Ein ganzes Schiff spielte verrückt...
ENDE