Freder van Holk Ein Mann fällt vom Himmel ERICH PABEL VERLAG KG – RASTATT/BADEN (c) 1978
1. Mike Cobber hatte es die S...
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Freder van Holk Ein Mann fällt vom Himmel ERICH PABEL VERLAG KG – RASTATT/BADEN (c) 1978
1. Mike Cobber hatte es die Sprache verschlagen. In einer Weltstadt wie London ereignete sich täglich allerhand Absonderliches, aber so etwas war ihm in seiner langen Dienstzeit als Streifenpolizist noch nicht vorgekommen. Cobber schob seinen Helm in den Nacken und kratzte sich hinter dem Ohr. Verblüfft starrte er auf den halbnackten Mann, der auf der Bordsteinkante saß und sich die Augen rieb wie jemand, der eben aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht ist und nicht weiß, wo er sich befindet. Es war verrückt, sich nur mit einer Hose bekleidet hierher zu setzen, mitten unter eine Laterne. Ein Glück, daß es neblig war und die Straße wenig benutzt wurde, sonst hätte es mit Sicherheit einen Auf lauf gegeben. Ungehörig war dieses Benehmen – einfach ungehörig! Nach dieser Erkenntnis fand Cobber seine Sprache wieder. Er tippte dem Mann mit dem Gummiknüppel auf die Schulter. »Mister, was soll das? Wie kommen Sie hierher?« Der Fremde wandte langsam den Kopf nach oben, als bereite ihm diese Bewegung Mühe. »Das weiß ich nicht. Ich ... Wo bin ich? Ist das England?« Mike Cobber schnaufte wie ein Walroß. Wollte ihn der Bursche auf den Arm nehmen? »Ja, das ist England, mein Junge«, sagte Cobber drohend. »Und Sie sind wohl eben erst aus der Wiege gefallen, was?« Der Mann in der engen glänzenden Hose schüttelte sich, als müßte er einen Zwang abwerfen. Unsicher erwiderte er: »Ich weiß nicht – vielleicht.« »Vielleicht?« wiederholte Mike Cobber ungehalten und befahl barsch: »Vorwärts, Mister! Machen Sie, daß Sie auf die Beine kommen!« Der Fremde versuchte aufzustehen. Es gelang ihm erst nach dem dritten Versuch, und auch dann schwankte er zunächst noch wie ein Betrunkener. Cobber beobachtete seine Bemühungen mit geringschätziger Anteilnahme. Betrunkene gab es in London genug. Er änderte seine Meinung erst, als der Mann unmittelbar vor ihm stand, das Gesicht kaum zehn Zentimeter von dem seinen entfernt. Auf diese Distanz hätte Cobber den Alkohol riechen müssen. Er schnupperte. Nichts. Mike Cobber wurde daraufhin eine Spur freundlicher. »Sind Sie krank? Fehlt Ihnen was?« Der Fremde schien in seiner Gesundung schnell Fortschritte zu machen. Jetzt sah er schon ganz vernünftig aus. Sein Gesicht zeigte, daß die körperliche oder seelische Befangenheit mehr und mehr von ihm abfiel. Auch seine Sprache klang nun schon ganz anders, sicher und ruhig, mit einem vibrierenden Metallton, der seine Worte fremdartig klingen ließ. »Ich bin nicht krank. Ich war nur benommen. Wer sind Sie?« Irgend etwas Herrisches im Tonfall zwang Mike Cobber zu antworten, ohne zu überlegen. »Sergeant Mike Cobber, Sir.« »Welche Stadt ist das?« »London, Sir«, sagte Cobber mechanisch. Gleich darauf bereute Mike Cobber freilich seine schnelle Antwort. Dieser Fremde machte sich doch nur über ihn lustig. Er wußte sicher genausogut wie er, daß sie sich unweit des Piccadilly Circus befanden. Deshalb reagierte er besonders unfreundlich: »Und wer sind Sie? Können Sie sich ausweisen?«
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»Ausweisen?« fragte der andere. »Paß oder Identitätskarte«, sagte Mike Cobber dienstlich. »Wie heißen Sie?« »Sun.« »Sun? Das ist doch kein Name. Was haben Sie hier zu suchen?« »Ich weiß es nicht.« »Ah«, sagte Mike Cobber gedehnt, »du weißt es nicht, mein ...« Er brach ab, als ihn ein Blick Suns traf, und hastig verbesserte er sich: »Hm, Sie wissen es nicht. Nun, dann kommen Sie mal mit aufs Revier.« Er legte dem Fremden die Hand auf den Arm, aber dort blieb sie nicht lange. Der Mann namens Sun machte eine kleine Bewegung und stand wieder frei, während Mike Cobber verdutzt auf seine große Hand starrte. »Und nun, Sergeant, hätte ich gern einige Fragen beantwortet. Das ist also London?« »Jawohl, Sir«, sagte Mike Cobber. Er ärgerte sich sogleich über seine bereitwilligen Antworten, aber im Augenblick konnte er einfach nicht anders. »Was ist das für eine Straße vor uns?« »Piccadilly Circus.« »Wo befindet sich das Hotel Excelsior?« »Hundert Meter von hier, am Piccadilly Place rechts.« »Wo wohnt Joe Evans?« »Evans? Zum Teufel... Verzeihung, Sir. Da gibt es einen bekannten Show-Manager ...« »Möglich. Ich weiß es nicht.« »Dieser Evans wohnt in der Harlow Street. Die Nummer kann ich Ihnen freilich nicht sagen.« »Danke, das war alles.« Der Mann, der sich Sun nannte, ließ den Sergeanten stehen und ging auf den Piccadilly Place zu. Mike Cobber erwachte aus seiner Benommenheit. Er hastete hinter dem Fremden her und befahl: »Sie kommen jetzt mit!« »Tut mir leid«, sagte Sun höflich. »Ich muß zum Excelsior. Wenn Sie mich bis dahin begleiten wollen ...« »Sind Sie wahnsinnig?« fragte Mike Cobber entrüstet. »Zum Excelsior? In diesem Aufzug? Was wollen Sie denn dort?« »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen anscheinend gar nichts«, sagte Mike Cobber aufgebracht. »Bilden Sie sich etwa ein, daß man Ihnen dort einen Triumphbogen baut? Ausgerechnet ins Excelsior! Haben Sie denn wenigstens Geld?« »Nein.« Soviel Gelassenheit ging über Mike Cobbers Verstand. Er verlor die Beherrschung, packte den Fremden grob am Arm und fuhr ihn an: »Jetzt hab ich's aber satt. Sie gehören ja in eine Zelle, Mann. Vorwärts jetzt!« Ein kurzer Ruck Suns und ein dumpfer Aufschlag, im nächsten Augenblick saß Mike Cobber auf dem Pflaster. Er saß dort noch eine ganze Weile und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, und es blieb ihm für den Rest seines Lebens unbegreiflich, daß gerade ihm so etwas passieren konnte. Der Fremde aber ging mit ruhigen, elastischen Schritten zum Piccadilly Place. Mit nacktem Oberkörper, der in der Lichterflut der Schaufenster bronzen schimmerte, wanderte er auf das Hotel Excelsior zu. Der Türportier eines großen Hotels ist ein Mann, den man nur schwer umgehen kann. Entweder tritt er mit einer höflichen Verbeugung beiseite und gestattet einem, der Vornehmheit seines Hauses teilhaftig zu werden, oder er pflanzt sich wuchtig vor dem Eingang auf und gibt einem mit einem verächtlichen Blick zu verstehen, daß man nicht würdig sei, das Heiligtum zu betreten. William Snake, der Türportier des Excelsior, war sich seiner Bedeutung voll bewußt. Hünenhaft, hoheitsvoll und in prächtiger Livree waltete er seines Amtes. Die Pagen rannten auf seinen Wink, um die Türen der vorfahrenden Luxuskarossen aufzureißen, die kleinen Koffer oder Schoßhündchen herauszutragen, die Türen zu halten und die Gäste zum Empfang zu geleiten. Nur in den seltensten Fällen bemühte er sich persönlich, und die davon betroffenen Gäste wußten diese Auszeichnung mit entsprechenden Trinkgeldern zu würdigen. Undenkbar, daß jemand gegen William Snakes Willen das Hotel betreten konnte. Augenblicklich herrschte Ruhe. Die Auffahrten für den Gesellschaftsabend waren beendet, und William Snake hatte Muße, die Straße zu beobachten. Er stellte fest, daß ein kleiner Auflauf nahte, und trat
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interessiert einen Schritt vor. Er war nicht abgeneigt, sich hinter der würdigen Abgeschlossenheit seines Amtes etwas zu amüsieren. Auf seiner Straßenseite näherte sich von links ein Mann mit bloßem Oberkörper. Hinter ihm drängte sich eine Schar Neugieriger. Den Mann mit dem nackten Oberkörper störte das offenbar nicht. Er blickte weder nach rechts noch nach links, sondern wanderte unbekümmert auf der Straße entlang. William Snake schüttelte mißbilligend den Kopf. Er fand es unpassend, daß sich der Mann ausgerechnet die Umgebung seines Hotels für seine unpassende Demonstration ausgesucht hatte. Der Unbekannte warf einen Blick zur Neonreklame des Hochhauses hinauf, schwenkte auf die breite Gästeanfahrt ein und nahm die drei breiten Steinstufen zum Hoteleingang. William Snake verschlug es schier den Atem. Der Kerl besaß tatsächlich die Frechheit, das Hotel zu betreten. Den vernichtenden Blick und die gebieterische Handbewegung des Portiers schien er überhaupt nicht wahrzunehmen. Gelassen, als ob er sich bei einem Passanten nach dem Weg erkundigte, fragte er höflich: »Das ist das Hotel Excelsior, nicht wahr?« »Jawohl!« antwortete William Snake mit finsterem Blick. Der Fremde nickte befriedigt. »Gut. Ich möchte hier wohnen. Lassen Sie mich bitte vorbeigehen.« »Hier ist kein Platz für Sie!« gab Snake bekannt. »Scheren Sie sich weg, aber ein bißchen plötzlich.« Sun Koh sah nicht so aus, als ob er beeindruckt wäre. Er ging einfach auf die Tür zu, und als er auf William Snake stieß, schob er ihn beiseite wie einen Vorhang. Er wandte keinerlei Gewalt an, sondern setzte nur im Vorbeigehen seine linke Hand gegen Snakes Brustkorb und drückte ihn weg. Der Portier, über ein Meter neunzig groß und zwei Zentner schwer, hatte das Gefühl, an eine hydraulische Presse geraten zu sein, die auch noch den zehnfachen Widerstand spielend beseitigen konnte. Mit hängenden Schultern und fassungslosem Blick blieb er an der Seitentür stehen, emsig bestrebt, mit dem Naturereignis fertig zu werden. Erst als später wüster Lärm aus der Halle herausdrang, kam er wieder zur Besinnung. Sun Koh betrat unangefochten die Halle des Hotels, die im Hintergrund durch eine breite, rechts und links von Lifts flankierte Treppe abgeschlossen wurde. An der rechten Seite befand sich der Counter mit der Rezeption, links standen einige Sesselgruppen, eine breite Tür führte zum Salon. Aus dem Raum klang gedämpft Musik heraus. In der Halle selbst war es fast schläfrig still. Die schwere Ausstattung mit Edelhölzern und Teppichen dämpfte alle Geräusche. Menschen, die im Excelsior abstiegen oder einen seiner berühmten festlichen Abende besuchten, unterhielten sich ohnehin nie laut. Der entzückte Aufschrei einer jungen Amerikanerin, die eben mit ihrer Mutter den Salon betreten wollte, zerriß die Stille. »Oh, Mam, sieh nur – ein nackter Mann!« Ruckartig richteten sich alle Augen auf den Eindringling, der bereits an der Rezeption angelangt war. Einige Sekunden lang stand alles wie gelähmt. Jeder starrte sprachlos auf den Unbekannten. Es lohnte sich, ihn anzusehen. Er konnte die Mitte der Zwanzig noch kaum überschritten haben, war über ein Meter achtzig groß, schlank, schmal in den Hüften und breit in den Schultern. Unter der hellen, goldbraunen Haut zeichnete sich die kräftige Muskulatur des Oberkörpers ab, aber doch so, daß die sehnige Schlankheit nicht beeinträchtigt wurde. Die Gewalt dieses Mannes ging von seinem Gesicht, von seinen Augen und überhaupt von seinem Kopf aus. Voll beherrschter Lebenskraft und doch vergeistigt, sanft und doch voll stählerner Energie, wirkte dieser blondhaarige, gutaussehende Unbekannte trotz seiner unzulänglichen Kleidung wie der Abkömmling eines edlen Geschlechts. Lange Sekunden vergingen. Dann kam es wie ein Seufzer von einem der Sessel. »Welch schöner Mann!« Damit schien der Bann gebrochen zu sein. Im nächsten Augenblick klangen einige mißbilligende Zurufe auf, die den dürftigen Bekleidungszustand des jungen Mannes rügten. Der Empfangschef des Hotels fand sich nicht so schnell zurecht, obgleich er sonst alle Situationen beherrschte. Fassungslos starrte er auf den Ankömmling, und die anderen Angestellten hinter dem Tresen starrten mit.
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Bevor er die passenden Worte gefunden hatte, wandte sich Sun Koh an ihn und fragte höflich: »Kann ich ein Zimmer haben? Mit Bad, bitte.« Wäre der Empfangschef in dieser Minute geistig auf der Höhe gewesen, hätte er sich erspart, am nächsten Tag nach einer neuen Stellung Ausschau halten zu müssen. Die Direktion machte ihm mit Recht den Vorwurf, daß er auch dieser Lage hätte gewachsen sein müssen. Er war es offensichtlich nicht. Die Überraschung war für ihn zu groß. Anstatt dem Fremden schleunigst ein Zimmer anzuweisen und ihn damit aus der Gefahrenzone des beginnenden Skandals zu entfernen, herrschte er ihn an: »Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« Gleichzeitig drückte er auf einen verborgenen Knopf, der zwar seit Jahren nicht benutzt worden war, aber trotzdem ausgezeichnet funktionierte. Es war der Alarmknopf, der sämtliche Hausdiener auf die Beine brachte. Sun Koh verzog keine Miene. Er blieb unverändert höflich. »Dieses Hotel wurde mir empfohlen. Bitte wollen Sie mir ein Zimmer anweisen.« »Hinaus!« wiederholte der Empfangschef. »Verschwinden Sie!« Er wies mit der Hand zur Tür und fühlte sich dabei napoleonisch, denn eben kamen schon die ersten Hausdiener herbeigestürzt. Sie brauchten nicht erst zu fragen. »Entfernen Sie diesen Mann aus dem Hotel!« Sun Koh fing die acht Hausdiener, die auf ihn eindrangen, mit einer Geste ab. Zwischen seinen Brauen stand eine kleine, steile Falte. Seine Stimme blieb jedoch ruhig und sanft. »Ich habe Anweisung, hier zu wohnen. Sie werden sich in Ungelegenheiten bringen, wenn Sie sich weigern, mich aufzunehmen. Schicken Sie Ihre Leute weg. Ich lasse mich nicht gewaltsam anfassen.« Der Empfangschef verzog spöttisch die Lippen. Er fühlte sich jetzt als Herr der Situation. »Hier ist kein Platz für Streuner. Hinaus mit ihm!« Die Hausdiener setzten sich erneut in Bewegung. Der erste griff fest zu. In der gleichen Sekunde flog er drei Schritte zurück, als wäre er gegen eine Mauer geprallt. Die anderen stutzten, und Sun Koh sagte: »Wer mich anrührt, beleidigt mich.« Der metallische Klang seiner Stimme verhieß nichts Gutes, aber die Hausdiener mußten dem Befehl des Empfangschefs gehorchen und fühlten sich außerdem zu acht turmhoch überlegen. So stürzten sie sich in kompakter Masse auf den Eindringling. Der Kampf war insofern höchst bemerkenswert, als er nur wenige Sekunden dauerte. Der erste Hausdiener flog wie ein Tennisball zurück, der zweite brüllte vor Schmerz auf, als seine zugreifende Hand mit mörderischer Gewalt im Gelenk gebrochen wurde, der dritte bog sich stöhnend zusammen und hielt sich den Leib, der vierte schlug hart mit dem Schädel auf und blieb betäubt liegen. Den nächsten hob Sun spielerisch an den Hüften auf und schmetterte ihn gegen den Rest der Angreifer, so daß sie ebenfalls zurücktaumelten, bis sie die Menschenmauer auffing, die sich eben bildete. Acht Männer gegen einen, und trotzdem hatte der Fremde keinen Kratzer abbekommen. Die Gegner lagen am Boden und ächzten fassungslos, während Sun noch nicht einmal heftiger atmete. Die Halle füllte sich mit Menschen, darunter auch dem Hotelmanager, der unglücklicherweise erst jetzt merkte, daß etwas nicht in Ordnung war. »Was geht hier vor?« fragte ein vornehmer Gentleman, den jeder hier kannte: Lord Eningham. Niemand würdigte ihn einer Antwort. Alles blickte auf Sun Koh und auf den Empfangschef, der fassungslos hinter seinem Tresen stand. Sun Koh schwieg. Da riß der Empfangschef sich zusammen. Seine Stimme schrillte vor Erregung. »Verzeihung – ich bitte tausendmal um Verzeihung, Ladies und Gentlemen. Ein Zwischenfall – eine kleine Störung – es ist nicht der Rede wert...« »Na, wenn das nicht der Rede wert ist!« sagte Lord Eningham höhnisch. »Was ist mit dem Mann? Was ist vorgefallen?« »Ein Zimmer«, würgte der Empfangschef. »Er wollte ein Zimmer haben. Der Ruf unseres Hauses ... Dieser halbnackte Fremde ... Ich kann doch unmöglich ... Ich wollte ihn entfernen lassen.« »So?« fragte der Lord ironisch. »Und Ihre Leute haben es nicht fertiggebracht? Rechte Schwächlinge, nicht?«
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Jetzt mischte sich der Manager ein, der nunmehr die Lage allmählich begriffen hatte. Er sah ein halbes Dutzend Hausdiener um sich herum, und von dem ersten Trupp schienen auch noch einige intakt, wenn auch im Augenblick benommen zu sein. Er war entschlossen, die Situation sofort zu bereinigen, und da es nun schon einmal einigen Wirbel gegeben hatte, hielt auch er es für das beste, den Fremden hinauswerfen zu lassen. Er hatte eben der ersten Attacke nicht beigewohnt, sonst wäre er nicht so zuversichtlich gewesen. »Verzeihung, Mylord«, sagte er beflissen. »Wir werden den Mann sofort entfernen. Ich bitte die verehrten Gäste des Hauses um Entschuldigung.« Damit gab er seinen Leuten einen Wink. Sie stürzten sich auf den Fremden, der etwas den Kopf schüttelte, sie aber sonst gelassen und stolz zugleich erwartete. Der erste mußte in seinem Eifer zuviel Anlauf genommen haben. Er schnellte im hohen Bogen über Sun Koh hinweg und knallte mit dem Kopf voran zwischen zwei Oleander. Der zweite brach schreiend zusammen und befühlte sein Knie. Der dritte rammte im Stürzen Lord Eningham den Magen und glitt gemeinsam mit ihm zu Boden. Und dann konnte man die Einzelheiten nur noch schwer erkennen. Von der anderen Flanke griffen vier Mann an, die vom ersten Trupp kampffähig geblieben waren. Sun Koh mußte sich nach zwei Seiten wehren. Viele Zuschauer schworen hinterher darauf, daß selbst in den kritischsten Minuten ein Lächeln um seine Lippen spielte. Sun Koh kämpfte mit seinem ganzen Körper. Es war unmöglich, festzustellen, ob seine Kraft oder seine Gewandtheit den Ausschlag gaben, ob er mehr mit den Beinen oder mehr mit den Armen arbeitete. Auf jeden Fall waren alle seine Bewegungen von unfaßbarer Präzision. Er deckte sich überhaupt nicht, aber dafür saß jeder Griff, jeder Schlag. Es war, als ob er überlegen mit Kindern spielte. Einer nach dem anderen mußte aufgeben, und der Kampf würde wohl kaum länger gedauert haben als der erste, wenn nicht die Hausmacht beachtliche Verstärkung erhalten hätte. Sie kam aus den Reihen der Gäste. Der Ring der Gaffer war so eng, daß Sun Koh einen Teil seiner Angreifer gegen die lebende Mauer schleudern mußte. Damit erregte er den Zorn der männlichen Zuschauer und lieferte ihnen einen Vorwand mitzumachen. So kam es, daß Sun Koh es mit einemmal nicht mehr mit zehn, sondern mit zwanzig Gegnern zu tun hatte. Seine Bewegungen verdoppelten sich, seine Verteidigung wurde nachdrücklicher. Als die Lage trotzdem bedrohlich wurde, vor allem deshalb, weil die Bewegungsfreiheit seiner Füße durch die gefallenen Gegner eingeengt wurde, packte er einen der Angreifer bei den Schultern und schleuderte ihn waagerecht um sich herum, so daß die Füße des Mannes in die Gesichter der Herandrängenden schmetterten. Dann ließ er ihn los, so daß er wie ein Sack in die zurückweichende Mauer hineinplumpste. Das half. Trotzdem blieb es fraglich, ob Sun Koh auf die Dauer den unfairen Angriffen widerstanden hätte. In das entsetzte Verharren hinein platzte in unmißverständlicher Empörung eine junge Frauenstimme: »Schämt euch! Zwanzig gegen einen!« Eine andere Frau lachte hysterisch auf. Ihre Stimme klang grell. »Na, Jack, das ist doch etwas für dich.« »Warum nicht, Darling?« Alle wandten sich um, blickten auf den dunkelhäutigen Mann, der gesprochen hatte, und jemand raunte: »Jack Holligan. Ja, Jack Holligan soll gegen ihn kämpfen.« Man bezeichnete Holligan als Neger, ohne die ungeheure Differenzierung der Bewohner Afrikas zu berücksichtigen. Er war sehr dunkel, aber er besaß weder wulstige Lippen noch krauses Haar. Er sah sehr wach und intelligent aus. Dabei war er wirklich ein Riese, zwei Meter groß, mit mächtigen Armen, ein Muskelwunder, und doch geschmeidiger und gewandter als viele andere. Jeder der Anwesenden hatte seine grandiosen Boxkämpfe gesehen und wußte, was dem Fremden nun bevorstand, aber man war viel zu erregt, um an der Ungleichheit der Partner Anstoß zu nehmen. Jack Holligan, der weltberühmte Boxer, der von keinem Manager mehr in den Ring gebracht werden konnte, weil er einfach keinen Gegner mehr fand, Jack Holligan, der seine Partner einfach über den Haufen wischte – das war der Mann, der diesem Unbekannten zeigen würde, was eine Harke war. »Bravo, Jack!« tönte es von allen Seiten, als er seine Smokingjacke auszog und sich vor Sun Koh aufbaute. »Wollen Sie es einmal mit mir versuchen, Sir?« Sun Kons Gesicht, das bisher teilnahmslos gewirkt hatte, wurde plötzlich hart, als verwandelte sich seine Haut in eine bronzene Maske. In seine Augen trat ein gebieterischer Stolz. Er stand wie ein König, der einen
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Sklaven vor sich sieht. Über seine Lippen kamen Worte in einer unbekannten Sprache. Es waren nur wenige Worte, aber ihre Wirkung überstieg alles Bisherige. Jack Holligan wurde grau im Gesicht, trat einen Schritt zurück und stand wie unter einem Krampf. Dann begann er zu zittern, und im nächsten Augenblick sank er auf seine Knie und preßte die Stirn auf das Parkett. Mit einemmal hob er die Arme, senkte sie, hob sie wieder und begann in den gleichen unbekannten Lauten zu sprechen und beschwörend zu murmeln wie Sun Koh. Die Zuschauer standen reglos und gebannt. Niemand zweifelte daran, daß dieser starke Boxer nach uralten Riten seinen Gegner als Herrn ansah und sich ihm unterwarf. Es war eine schier groteske Szene, ungeheuerlich und zugleich mit ihrer primitiven Wucht erschütternd: die Halle des Hotels, angefüllt mit dem vornehmsten Publikum der Welt, eine Ballung von Jugend, Schönheit, Reichtum und Macht, am Rand Lord Eningham, der eben die ersten Lebenszeichen von sich gab, und in der Mitte dieser halbnackte Unbekannte, vor dem der Neger kniete und betete. Eine seltsame Stimmung hing über der Szene. Jeder starrte wie hypnotisiert. Minuten vergingen, bevor die innere Abwehr in einzelnen stark genug wurde. »Schiebung!« rief jemand böse. »Schiebung! Sie kennen sich!« Die Zuschauer stöhnten und raunten. Sun Koh sprach wieder einen kurzen Satz in der unbekannten Sprache, diesmal weicher und freundlicher. Jack Holligan erhob sich mit demütigem Gesicht. Die Umstehenden hörten, wie er immer wieder das gleiche Wort vorsieh hin murmelte. »Olokun! Olokun!« »Was ist los mit dir, Liebling?« rief die grelle Frauenstimme von vorhin über die Köpfe hinweg. »Warum kämpfst du nicht? Schlag den Kerl doch zusammen! Mach ihn fertig!« Jack Holligan hob die Schultern, als wollte er etwas Lästiges abschütteln. Seine Augen waren wie hypnotisiert auf Sun Koh gerichtet. Der sprach wieder zu ihm, doch diesmal in englisch: »Sag es ihnen, Joruba.« Jack Holligan wandte sich zur Menge, aber seine Augen sahen die Menschen nicht. Sie blickten in unbekannte Fernen. Seine Lippen bewegten sich, dann sprach er deutlich und zusammenhängend. »Olokun!« sagte er. »Er ist Olokun. Das Diadem mit den Knospen leuchtet über seiner Stirn. Er ist göttlichen Geschlechts. Schange und seine fünfzehn Brüder dienen ihm. Ich bin Joruba aus dem Land, das heute Benin genannt wird. Illu-Olokun heißt es, nördlich von Ibahan. Im Urwald meiner Heimat schlafen uralte, riesige Städte unter den Dickichten. Dort betet man zu Olokun und bewahrt die alten Weisheiten. Die Menschen hier sind jung. Illu-Olokun ist so alt wie der Widderkopf Behanges, wie die Heimat Olokuns, das Götterreich, das im Meer versank. Er ist Olokun, das Diadem mit den Tautropfen...« »Schwindel!« gellte eine Stimme in seine Worte hinein. »Bluff! Nichts als Bluff!« Der Neger brach ab und duckte sich wie ein Raubtier, das zum Sprung ansetzt. Ein kurzes Wort entspannte seine Glieder. Sun Koh wandte sich gelassen und kühl an die Umstehenden. »Der Joruba darf nicht gegen mich kämpfen«, sagte er. »Seine Götter verbieten es ihm. Er würde daran sterben. Wenn ihn jemand von Ihnen für feig hält, so mag er seinen Namen nennen. Er wird sich eine Ehre daraus machen, sich dem Zweifler zu stellen.« Er ließ eine kleine Pause eintreten, um Wortmeldungen zu ermöglichen. Jeder hütete sich davor, auch der Zwischenrufer. Jack Holligans Kampfweise war allen nur zu bekannt. »Sie dürfen mir glauben«, fuhr Sun Koh fort, »daß dieser Kampf genauso sinnlos wäre wie der vorangegangene. Die Kräfte sind zu ungleich verteilt. Urteilen Sie selbst.« Er trat dichter an Jack Holligan heran und sprach einige leise Worte, die ein Nicken auslösten. Dann nahm er den Neger auf seine beiden Arme, mühelos, ohne den Oberkörper auch nur um einen Millimeter zurückzubiegen. Plötzlich warf er ihn senkrecht hoch. Die Decke der Halle befand sich mindestens acht Meter über dem Parkett. Der Körper des Negers flog waagrecht nach oben, berührte leicht die Decke und fiel, immer noch gestreckt, wie ein Stein zurück. Ein schriller Aufschrei, ein tiefes Stöhnen – im nächsten Augenblick mußte der Neger am Boden zerschmettern. Aber Sun Koh hatte schon seine Arme emporgereckt und fing ihn leicht und elastisch auf,
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ohne auch nur seine Füße von der Stelle zu bewegen, hielt ihn unbeschädigt auf seinen ausgestreckten Armen und lächelte. Und dann warf er ihn wieder hoch und fing ihn erneut auf, warf ihn ein drittes und ein viertes Mal und stellte ihn endlich auf die Füße. Alle sahen, daß sein Atem nicht heftiger ging als vorher, daß seine Brust nicht keuchte und seine Arme nicht zitterten. Alle sahen, daß er – lächelte. Die Zuschauer atmeten mit tiefen Seufzern auf und rieben sich ungläubig die Augen. Ruhig und ernst klang die Stimme Sun Kohs, als er sich an die Gäste des Hotels wandte: »Ich hoffe, daß Sie jetzt überzeugt sind. Habe ich nun Aussicht, hier endlich ein Zimmer zu bekommen?« Lord Eningham, der die letzte Szene bereits wieder miterlebte, herrschte den Manager an: »Haben Sie nicht gehört, Mann? Was stehen Sie denn noch herum? Der Gentleman ist mein Gast. Geben Sie ihm das beste Appartement, über das Sie verfügen. Sie sollten froh sein, daß er hier wohnen will.« Der Manager knickte voller Ehrfurcht zusammen und stammelte: »Ja – jawohl, Eure Lordschaft, wie – wie Eure Lordschaft wünschen.« Dann wandte er sich mit tiefer Verbeugung an Sun Koh. »Sir, wenn Sie mir die Ehre geben wollen?« Sun Koh nickte und wandte sich zum Gehen. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. Er blickte auf die Anwesenden, nicht zuletzt auf die Smokings der Herren, dann richtete er die Augen auf sich selbst. Er sah an sich herunter, und jetzt erst schien ihm zu Bewußtsein zu kommen, daß er nicht gerade salonfähig gekleidet war. Sun Koh wandte sich an den Empfangschef und bat ihn, nach einem Schneider zu schicken. Dann sah man ihn mit elastischen Schritten dem Direktor folgen.
2. Eine halbe Stunde später betrat ein Herr die Halle des Hotels, dessen Erscheinung selbst in diesen auserwählten Kreisen Aufsehen erregte. An seiner Kleidung war nichts Bemerkenswertes, es sei denn, daß sie den höchsten Ansprüchen genügte. Von den spiegelnden Schuhen bis zum Mantel war alles diskrete, fehlerfreie Eleganz. Erst das Gesicht gab die besondere Note. Es war schmal, aber die Backenknochen sprangen wuchtig heraus und bildeten mit dem spitzen Kinn ein hartes Dreieck, das von weißgelber Haut überspannt wurde. Die fahle Blässe der Haut wurde durch einen schmalen, tiefschwarzen Bartstrich über den Lippen betont, außerdem durch einen kurzen Kinnbart, der die untere Spitze des Dreiecks satyrhaft übertrieb. Den Mund sah man kaum, obgleich er sich bei näherer Betrachtung als nicht gerade klein erwies. Das kam daher, daß die Lippen außerordentlich schmal, blutleer und dicht aufeinandergepreßt waren. Dagegen stand die Nase drohend in diesem Gesicht, sprang mit leichter Hakenkrümmung wie ein Dolch hervor und bildete mit den Augen zusammen ein neues, noch gefährlicheres Dreieck. Es waren Augen, in die noch niemand länger als eine Sekunde zu blicken gewagt hatte. Manche schworen darauf, daß sie schwarz wie Steinkohle wären. Andere legten einen Eid darauf ab, daß sie grün wie das Mordwasser der Fiebersümpfe schillerten. Alle waren sich jedoch darüber einig, daß die engen Pupillen unter den wimperlosen Lidern wie Nadelspitzen hervorstachen und daß es nicht gut war, in diese Augen hineinzusehen. Eine interessante Erscheinung, dieser Señor Garcia, ein dämonischer Kopf, aber man erwachte im Angstschweiß, wenn man von ihm träumte. Das Gesicht war zu unheimlich. Eine höllische Visage. Man wußte wenig und viel von Garcia. Er war erst vor kurzem aufgetaucht und lieferte seitdem Schlagzeilen. Doch nicht ein Bruchteil dessen, was man sich über ihn erzählte, hatte bisher nachgeprüft werden können. Vielleicht war er Spanier, vielleicht auch Mexikaner. Nach seinem Aufwand mußte er ungeheuer reich sein. Man munkelte von riesigem Grundbesitz. Außerdem sollte halb Yukatan ihm gehören. Eine bekannte Schauspielerin trug seit einiger Zeit einen Diamanten, der von
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Garcia stammte. Sein Anblick ließ selbst die Frauen amerikanischer Multimillionäre vor Neid gelb werden. Man haßte und fürchtete diesen Garcia aus Instinkt und zollte doch seinem Reichtum den Tribut. Juan Garcia stutzte, als er die erregt plaudernden Gruppen in der Halle bemerkte. Äußerlich war der Raum wieder in Ordnung, und an den Vorfall erinnerte kaum noch etwas. Lediglich einige Gäste standen in Gruppen beisammen und diskutierten die Ereignisse. Der Hotelmanager eilte heran, verbeugte sich tief und beeilte sich, mit gedämpfter Stimme Garcias Fragen zu beantworten. Zweimal reagierte Garcia mit einem kurzen Laut der Überraschung. Sonst wurde der Bericht unbewegt bis zum Ende angehört. Seine nächsten Worte klangen knapp und scharf wie ein Befehl. »Ich wünsche den Mann zu sprechen.« Der Manager knickte mit einer bedauernden Geste zusammen. »Das ist leider unmöglich, Señor Garcia. Mr. Sun hat sich jede Störung verbeten.« Garcia musterte ihn kalt. »Sie sind wohl schon zu lange in diesem Job. Notfalls werde ich dieses Haus kaufen und Sie morgen auf die Straße setzen. Welche Zimmernummer?« »Appartement 16«, antwortete der Manager schreckensbleich. Garcia ließ ihn stehen und wandte sich zum Lift. Nach wenigen Schritten schien er sich jedoch zu besinnen. Er kehrte um und ging hinaus. Zwei Minuten später betrat er wieder die Halle. Diesmal ging er auf die Treppe zu. Neugierige Blicke begleiteten ihn. Hier und dort wurde er gegrüßt, hier und dort grüßte er zurück. Dicht an der Treppe stand Joan Martini mit ihren Eltern und einigen Freunden. Aus ihrem Mund stammte der Zwischenruf, der Sun Koh von der Meute seiner Angreifer befreit hatte. Garcia verhielt den Schritt. Seine Augen saugten sich an der Schönheit des jungen Mädchens fest. Sie glitten über die ebenmäßige Schlankheit ihres Körpers, über das wundervolle Oval ihres Gesichts, über ihr seidenweiches blondes Haar und suchten schließlich die Tiefe der blauen Augen, bis sie auf eine stählerne Platte erstaunter Abwehr stießen. Er verbeugte sich und streckte die Hand aus. »Hallo, Mr. Martini! Ich freue mich sehr ...« Joans Vater nahm wohl oder übel die dargebotene Hand. Er war ein bekannter Arzt, aber er war wie viele hier ein Opfer seiner Verpflichtungen. Dieser Garcia war ein unsympathischer Mensch, doch er zahlte jedes Honorar. Solche Leute stieß man nicht ungestraft vor den Kopf. Joan berührte mit noch größerem Widerwillen Garcias Hand. Zutiefst in ihr saß die Angst vor diesem Mann, die sich mit Vernunftsgründen nicht beseitigen ließ. »Hier sollen sich ja erstaunliche Ereignisse zugetragen haben«, plauderte Garcia liebenswürdig. »Gewiß«, bestätigte Joans Vater höflich. »Schade, daß Sie nicht Augenzeuge waren.« »Ja, bedauerlich. Der Manager hat mich neugierig gemacht. Ich werde mir den Helden des Abends einmal ansehen.« »Wenn er sich ansehen läßt«, entgegnete Joan spöttisch. »Ich zweifle nicht daran, Miß Martini«, sagte Garcia glatt. »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen nachher berichten.« »Danke, wir sind im Aufbruch begriffen«, lehnte Joan Martini kühl ab. »Ich glaube nicht, daß wir noch das Vergnügen haben werden.« Seine Augen verkniffen sich drohend. Die Abfuhr ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Stimme beschränkte sich freilich auf ein Bedauern. »Oh, das tut mir leid. Ich hoffe, daß ich dann den Bericht später nachholen darf.« Er schüttelte die Hände, dann schritt er die Treppe hinauf.
* Sun Koh erhob sich, als die elegante Erscheinung im Türrahmen auftauchte. »Was wünschen Sie?«
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Juan Garcia zog sorgfältig die Tür hinter sich zu, trat einige Schritte vor und prüfte schweigend mit seinem stechenden Blick den Bewohner des Zimmers. Sun Koh wartete ab. Unversehens begegneten sich ihre Augen. Garcia erlebte es zum erstenmal, daß jemand seinem Blick standhielt. Es war ein Duell von Sekundendauer, bei dem hinter unbewegten Mienen gewaltige Energien ausgelöscht wurden, dann gab sich Garcia geschlagen. Er leitete seinen Rückzug mit der Andeutung einer Verbeugung ein. »Ich hörte von Ihnen und wünschte Sie kennenzulernen«, sagte er langsam, jedes Wort betonend. »Ist es bei Ihnen Sitte, ungebeten in fremde Zimmer einzudringen? Gehen Sie!« Garcia dachte nicht daran, das Feld sofort zu räumen. Er lächelte zynisch. »Gut, aber zuvor einige Fragen. Sie heißen Sun?« »Sun Koh.« Garcia zuckte leicht zusammen, als erschrecke ihn etwas. Doch gleich darauf verzog sich sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. »Sieh mal an – Sun Koh! Was wissen Sie von sich?« »Nichts. Gehen Sie, sonst...« In diesem Augenblick drang von unten herauf der schreckensvolle Aufschrei einer Frauenstimme, fast gleichzeitig der Knall von Schüssen und dumpfer Lärm, Rennen und Rufen. Beide Männer lauschten. Garcias Lippen verrieten Triumph. Seine Augen vergaßen die gewohnte Vorsicht. Sun Koh faßte ihn mit einem schnellen Griff beim Arm. »Was bedeutet das? Wer sind Sie?« »Ich bin – Juan Garcia!« Er grinste. »Sagt Ihnen der Name nichts?« Sun Koh fuhr zurück. »Juan Garcia, der Mann, zu dem ...« Er griff wieder nach vorn, aber er erreichte Garcia nicht. Juan Garcia hatte blitzschnell die Hand erhoben. Ein dünnes Zischen war zu vernehmen, und ein feiner Strahl wie von Dampf schoß zwischen den Fingern heraus. Sun Koh taumelte und stürzte zu Boden. Juan Garcia nickte zufrieden. Dieses Skopolamino-Präparat in Gasform war eine gelungene Erfindung. Es lahmte schlagartig das Bewußtsein, und dann konnte man fragen, was man wollte. Man erhielt immer Antwort. Das Präparat schaltete die Gehirnpartie aus, die alle Äußerungen kontrollierte. Das kritische Bewußtsein war aufgehoben. Der Betroffene wurde redselig und war unfähig, Geheimnisse zu verbergen. Wirklich eine großartige Erfindung. Garcia beugte sich über den Gestürzten, der ihn mit offenen, aber leeren Augen anstarrte. »Wer bist du?« »Sun Koh«, kam mechanisch die Antwort. »Wer ist Sun Koh?« »Ich weiß es nicht.« Garcia zog die Brauen zusammen. »Unsinn! Erzähle von dir!« »Ich weiß nichts«, sagte Sun eintönig. »Ein Flugzeug – zwei Männer ... Wir landen in einem Park ... Olaf geht... Ein Schrei... Wir werden verfolgt – ich muß hinausspringen – falle, schwebe über Häusern ... Ein Ruck – ich erwache auf der Straße – gehe ins Hotel...« »Ist das alles?« fragte Garcia überrascht. »Haben dich diese Burschen etwa hypnotisch blockiert? Seit wann bist du in London?« »Seit heute.« »Wo kommst du her?« »Ich weiß es nicht.« »Was weißt du von deiner Abstammung?« »Nichts.« »Was willst du hier?« »Ich weiß es nicht. Ich soll hier wohnen und mit Joe Evans sprechen. Ich hörte, das wäre ein ShowManager.« Juan Garcia richtete sich auf. Er grinste wieder. In seinen Augen lag der blanke Hohn.
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»Deine Dummheit rettet dir das Leben, Bursche. Geh zu Evans. Als Show-Nummer bist du dort gut aufgehoben.« Er wandte sich ab und ging hinaus.
* Fünf Minuten waren verstrichen. Dann fuhr es wie ein Krampf durch Sun Koh. Seine Augen schlössen sich. Abermals verstrichen fünf Minuten. Dann erklang ein vorsichtiges Pochen an der Tür, das wenig später wiederholt wurde. Sun Koh regte sich nicht. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Ein junger Kopf streckte sich in den Raum hinein; ein pfiffiger, schlauer Jungenkopf, dem rasch der Körper folgte. Hal Mervin, Page im Hotel Excelsior, erfaßte die Situation und ärgerte sich. Da hatte man endlich seinen Helden gefunden, und nun lag er wie ein Mädchen ohnmächtig auf dem Fußboden. Oder sollte etwa das Aasgesicht, dem er auf dem Flur begegnet war ... Mit drei Sprüngen war er bei Sun Koh und kniete neben ihm nieder. Dann faßte er den Bewußtlosen beim Arm und rüttelte ihn. Donnerwetter, das waren Muskeln. Sie fühlten sich gut trainiert an. »Hallo, Sir! Sie sind wohl gerade aus dem Bett gefallen? He, aufwachen! Stellen Sie sich bloß nicht tot. Morgen tut Ihnen das Kreuz weh, wenn Sie hier liegenbleiben. Hier ist der Geldbriefträger, der ...« Sun Koh schnellte unvermittelt mit einem Satz hoch und riß den Jungen mit sich. Er war plötzlich bei voller Besinnung, als wäre er nie bewußtlos gewesen. »Was tust du hier?« Hal Mervin rappelte sich auf und sah seinem Helden mit leuchtenden Augen ins Gesicht. »Ich wollte Ihnen meine Anerkennung ausdrücken, Mr. Sun. Ich habe Ihren Kampf gesehen. Darf ich Ihnen die Hand schütteln?« Sun Koh reichte dem schlanken Jungen lächelnd die Hand. »Du ehrst mich sehr, aber warum lag ich eigentlich am Boden?« Hal machte eine Geste, als wäre er ein berühmter Arzt und stelle eine unfehlbare Diagnose. »Eingeschlafen natürlich, Sir. Erschöpfung nach dem Kampf. Oder hatten Sie etwas mit dem Leichengesicht – mit Mr. Garcia, meine ich?« Sun Koh strich sich über die Augen. Garcia? War das nicht der Mann, der vorhin mit ihm gesprochen hatte? War er von Garcia betäubt worden? Garcia, in dessen Augen das Gesicht eines Mädchens ... Er straffte sich. »Ich hörte vorhin Schüsse.« Hal Mervin nickte eifrig. »Ein tolles Ding. Beinahe hätten sie mich erwischt, weil ich gerade draußen stand. Schade, daß sie es ausgerechnet auf Miß Martini abgesehen hatten. War eine feine junge Dame, sage ich Ihnen. Unsereins lernt doch die Menschen kennen und ...« »Als ich vorhin kämpfte, befreite mich das Wort einer jungen Dame. War das vielleicht Miß Martini?« »Sicher, Sir, das war sie. Immer geradeaus und ...« »Also doch«, murmelte Sun Koh. »Ihr galt der Überfall. Ist sie tot?« »Aber nein, lebendig gefangen. Das waren doch Kidnapper oder so etwas. Wenn man die Kerle erwischt, müßte man sie...« »Erzähle!« Hal begann, mit Armen und Beinen zu demonstrieren. »Höchstens eine Minute hat's gedauert. Ich stand neben dem Alten – neben unserem Türportier, Mister Snake, meine ich, als Miß Martini mit ihren Eltern heraustrat. Kaum hatte sie einen Fuß auf der Treppe, da sprangen von jeder Seite zwei Männer vor, packten sie und zerrten sie in einen großen Wagen, der gerade vorgefahren kam. Sie schrie natürlich, aber nur einmal, denn dann wurde ihr der Mund zugehalten. Ihr Vater stürzte sich auf den nächsten, der Alte auf einen anderen. Da ballerten sie los, und ich duckte mich schleunigst, weil die Kugeln nur so pfiffen. Mr. Martini und der Alte brachen zusammen, die Mutter auch –
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und dann war der Wagen mit den Kerlen schon fort, bevor noch andere zuspringen konnten. Das war ein Durcheinander!« »Na und?« »Weiter nichts, Sir. Die Eltern von Miß Martini sind tot, der Alte – Mister Snake ist schwer verletzt. Die Polizei ist schon unten, aber die kriegt ja doch nichts heraus. Kidnapper! Da steht man halt machtlos da, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn da nicht der große Superdetektiv dazukommt...« Sun griff nach einem Bademantel, den ihm der Manager geschickt hatte, und ging wortlos zur Tür.
* Norman Lettingtone, der Chef von Scotland Yard, hatte sich durch den Ruf des Tatorts und die Brutalität des Überfalls bewogen gefühlt, persönlich an der ersten Untersuchung teilzunehmen. Zehn Minuten nach dem Überfall stand er in der Halle des Hotels und gab seine Anweisungen. Er war nicht wenig erstaunt, als ihn der seltsame Hotelgast im Bademantel um eine Unterredung bat. Von den Vorgängen innerhalb des Hauses hatte ihn noch niemand unterrichtet. Trotzdem wahrte er die Höflichkeit. Er wußte zu genau, welch bizarre Formen der Spleen annehmen konnte, und war geneigt, bei einem Gast dieses Hotels alles mit einem Schulterzucken zu übersehen. Deshalb verneigte er sich liebenswürdig. »Bitte, was wünschen Sie?« »Ich möchte Sie bitten, den Schuldigen an diesem Überfall festzunehmen, damit die junge Dame noch gerettet werden kann.« Lettingtone lächelte ironisch. »Selbstverständlich. Wir werden uns bemühen, den Schuldigen zu finden.« »Das ist überflüssig«, sagte Sun Koh. »Ich kenne ihn.« »Interessant! Darf ich fragen, wie er heißt?« »Juan Garcia.« Norman Lettingtone kniff die Augen zusammen. Das ging schon über einen Spleen hinaus. Irrsinn? »Sie meinen Señor Garcia, den Mexikaner?« »Ich weiß nichts über ihn. Er hat ein Gesicht wie ein Sendbote der Hölle.« Norman Lettingtone fand den Vergleich nicht schlecht, fuhr aber trotzdem hoch. »Wie können Sie eine derartige Beschuldigung wagen?« »Er war bei mir, als die Schüsse fielen ...« »Und trotzdem ...« »... und ich sah in seinen Augen das Bild des Mädchens. Er dachte an sie mit dem Triumph eines Mannes, der seine Beute gefangen sieht.« »Sir«, empörte sich der Polizeichef noch stärker, »was soll das heißen? Sie haben den Mut, eine ganz unglaubliche Beschuldigung...« »Sie befindet sich in seiner Gewalt«, unterbrach Sun Koh leise, aber fest. »Sie müssen mich mit einigen Leuten begleiten, damit Miß Martini nicht verschwindet.« »Unfug!« Norman Lettingtone bemühte sich vergebens, sich aus dem Bann der Augen zu befreien. »Nein.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Wenn Sie sich weigern, gehe ich allein. Rufen Sie wenigstens Garcia an. Veranlassen Sie, daß er hierherkommt. Sie brauchen ihn als Zeugen. Sie werden dann sehen, daß er Miß Martini entführt hat.« Der Eindringlichkeit dieser Stimme und der Augen war nicht zu entgehen. Lettingtone hob resignierend die Schultern. »Gut, ich will ihn bitten. Es ist absurd, aber es wird auch nicht viel schaden. Kommen Sie!« Sie gingen ins Hotelbüro. Lettingtone ließ sich die Verbindung geben. Es dauerte lange, bevor sich in Garcias Londoner Haus jemand meldete. Eine derbe Männerstimme mit fremdem Akzent antwortete. »Tut mir leid. Señor Garcia ist soeben mit seinem Flugzeug abgereist.« »Wann kehrt er zurück?« »Keine Ahnung. Die Villa wird geräumt. Wir sind beim Verladen.«
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»Danke«, murmelte Norman Lettingtone betroffen und legte auf. »Garcia ist abgereist. Sonderbar. Dabei weiß ich bestimmt, daß er für morgen abend bei Lady Hammersmith zugesagt hat. Rätselhaft, höchst rätselhaft.« »Also wird es höchste Zeit«, drängte Sun Koh. »Hoffentlich ist es nicht schon zu spät. Alarmieren Sie Ihre Leute.« »Unmöglich!« wehrte Lettingtone ab. »Ich habe kein Recht, Señor Garcia zu behelligen.« »Sie müssen!« Sun Kohs Stimme wurde schärfer. »Sie müssen, verstehen Sie? Genügt es nicht, daß ein Mann mitten in der Nacht flüchtet? In seinen Augen stand die Schuld. Ich brauche Ihre Leute. Nicht für einen Kampf. Den kann ich selbst austragen. Das Haus muß jedoch umstellt werden, sonst schafft man Miß Martini fort, während ich nach ihr suche. Kommen Sie!« Lettingtone gab seinen Widerstand auf. Der Fremde war entweder verrückt, oder er wußte wirklich die Wahrheit. Man würde sich vielleicht blamieren, aber es blieb eine Chance. Und Garcia befand sich nicht mehr im Land, konnte sich also nicht beschweren. Ein letztes Zögern, dann ein Nicken, zwei Telefongespräche, ein Befehl und Alarmzeichen. Dann rasten die schweren Wagen der Polizei durch die Straßen. Nur eine Querstraße weiter lag das Haus Garcias, eine Mietvilla in einem Park. Leise Befehle wurden erteilt. Behutsam rückten die Polizeiketten vor. Zwei Minuten, drei, fünf Minuten. Das Netz zog sich immer enger zusammen. Endlich war es soweit. Lettingtone, Sun Kon und ein halbes Dutzend Polizisten stürmten auf das Haus zu. Am Eingang stand ein großer Lastwagen, fast voll beladen. Männer wanderten schattenhaft durch die Nacht hin und her. Sie stutzten, als sie die Uniformen bemerkten, und rotteten sich zusammen. »Hände hoch! Das Haus ist umstellt. Keine verdächtige Bewegung ...« Ein Schuß krachte. Gerade noch rechtzeitig warf sich Sun Koh vor, schlug einen Arm nach oben und rettete damit Lettingtone das Leben. Andere Schüsse folgten. Polizisten stürzten. Über sie hinweg raste die Truppe in die Nacht hinein und zerstreute sich. Sun Koh und Lettingtone blieben unverletzt. Zu ihren Füßen lag bewußtlos der erste Schütze. Lettingtone streckte Sun Koh impulsiv seine Hand hin. »Ich danke Ihnen. Sie haben mir das Leben gerettet. Und recht scheinen Sie auch zu haben. Vorwärts, Leute!« Sun Koh schwang sich auf den Wagen, griff zu und hob die schweren Stücke herunter. Die Männer verstanden ihn und faßten mit an. Da – eine lange Kiste. Sun Koh hob sie auf, hielt sie in seinen Armen und sprang mit seiner Last weich hinunter. »Sie ist hier drin«, sagte er einfach. Eine Kante des rauhen Bretts stand vor. Ein Ruck. Es flog herunter. Noch zweimal griff Sun Koh zu, dann war der Deckel beseitigt. In der Kiste lag Joan Martini. »Bewußlos!« stellte Lettingtone fest. Dann wandte er sich an den Arzt, der den Trupp begleitet hatte. »Sie kümmern sich wohl um Miß Martini, Doktor Forsythe. Erledigen Sie aber erst die notwendigen Verbände. Tragt sie ins Haus.« Eine Weile später saßen sich die beiden Männer im bisherigen Arbeitszimmer Garcias gegenüber und beobachteten die Hantierungen des Arztes. Joan Martini lag auf dem Diwan. Ihre Augen waren noch geschlossen, aber ihre Brust senkte und hob sich regelmäßig. »Alles in Ordnung«, sagte Dr. Forsythe befriedigt, während er sich aufrichtete. »Die Bewußtlosigkeit wird nicht mehr lange anhalten. Wollte man sie kidnappen?« »Sicher«, erwiderte Lettingtone nachdenklich. »Vermutlich hatte Garcia ein Auge auf sie geworfen. Ich wünschte, er ließe sich noch einmal in London sehen. Übrigens, Mr. Sun, wie kamen Sie eigentlich darauf, daß Garcia der Täter war?« »Ich sagte es Ihnen schon, daß ich es in seinen Augen las.« »Aber, Mr. Sun«, protestierte Lettingtone liebenswürdig, »ich will Ihnen gewiß nicht Ihre Geheimnisse entreißen, und wenn Sie schweigen wollen, verzichte ich gern darauf, meine Wißbegier zu befriedigen. Nur solche Märchen – also das dürfen Sie mir nicht aufbinden.«
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»Es ist aber so«, antwortete Sun Koh höflich. »Ich habe in Garcias Augen das Bild Miß Martinis gesehen und seine Empfindungen gespürt. Es geschah, als unten die Schüsse fielen. Es lag also auf der Hand, daß er unterrichtet war.« »Aber man kann doch unmöglich im Auge eines Menschen ein Bild sehen, das von seinen Gedanken erzeugt wird!« »Unmöglich?« sagte der Arzt zweifelnd. »Ganz möchte ich diese Behauptung eigentlich nicht von der Hand weisen.« »Aber Doc...« »Nun, möglich wäre es schon. Wie sehen wir denn eigentlich? Lichtstrahlen lösen auf den Sehstäben der Netzhaut eine chemische Reizung aus. Sie wiederum bewirken Nervenreize, die zum Gehirn weitergeleitet werden. Und dann ist schon Schluß mit unserer Weisheit. Aus Wellen des Lichts und organelektrischen Wellen wird eine Vorstellung, ein Bild. Genaugenommen sieht nicht das Auge, sondern das Gehirn. Das Auge ist nur Werkzeug, gewissermaßen das Fernglas dessen, was sich das Gehirn aufsetzt. Durchschneiden wir den Nervenstrang, der Auge und Gehirn verbindet, ist es vorbei mit dem Sehen, auch wenn das Auge völlig intakt ist.« »Aber wenn man bloß das Auge zerstört, kann man auch nicht mehr sehen.« »Eben doch«, widersprach der Arzt lebhaft. »Bitte schließen Sie einmal die Augen. Denken Sie an Ihr Arbeitszimmer, an Ihren Schreibtisch, an das Bild, das darüber hängt. Sehen Sie es? Sicher sehen Sie es. Sie können es sogar genau beschreiben.« Lettingtone öffnete die Augen wieder und murmelte erstaunt: »Tatsächlich. Ich könnte ... Donnerwetter – Sie meinen ...« »Das Gehirn sieht.« Der Arzt lächelte. »Ein Blinder ist insofern noch lange nicht blind. Und die Konsequenz? Nun, wenn durch chemische Reaktionen auf der Netzhaut ein Gehirnbild erzeugt werden kann, warum sollte nicht auch umgekehrt ein fertiges Gehirnbild eine chemische Reaktion auf der Netzhaut erzeugen, die für den scharfen Beobachter zum sichtbaren Bild wird? Vielleicht gehören außergewöhnliche Befähigungen dazu, vielleicht besondere Affekte oder ungewöhnliche äußere Bedingungen, um dieses Sehen zu ermöglichen, aber theoretisch ausgeschlossen ist der Fall jedenfalls nicht.« »Jedenfalls scheint es praktisch nicht ausgeschlossen zu sein, wie diese Erfahrung lehrt«, gab Lettingtone nachdenklich zu und erhob sich. Joan Martini bewegte sich eben unruhig. Die Männer traten an ihr Lager. »Sie kann jeden Augenblick erwachen«, erklärte der Arzt nach einem prüfenden Blick. »Weiß sie, daß Ihre Eltern tot sind?« »Nein, ich glaube nicht.« »Das wird eine schwere Stunde für sie werden. Wollen Sie es ihr gleich sagen?« Lettingtone konnte sein Unbehagen nicht verbergen. Da mischte sich Sun Koh ein: »Ich will mit ihr sprechen. Lassen Sie mich bitte mit ihr allein.« »Lettingtone und Dr. Forsythe wechselten einen Blick, nickten und verließen den Raum. Sun Koh setzte sich auf den schmalen freien Rand des Diwans und wartete. Nach einer Minute regte sich Joan Martini abermals. Ein Seufzer kam über ihre Lippen, dann schlug sie die Augen auf. Ihr Blick glitt verwirrt, fragend über Sun Kohs Gesicht. Ihre Frage war wie ein Hauch. »Wo bin ich?« »In einem fremden Haus«, sagte Sun Koh mit weicher, dunkler Stimme. »Sie können es jedoch jederzeit verlassen. Man hat Sie noch rechtzeitig aus den Händen Ihrer Entführer befreit.« Sie atmete tief und erlöst auf. Doch gleich darauf fuhr ihr Körper unter dem Schreck der Erinnerung hoch. »Meine Eltern! Ist – ist ihnen etwas geschehen? Ich hörte Schüsse ...« Er drückte sie sanft an den Schultern zurück und begann zu sprechen. Seine Worte schwangen wie Töne eines alten Cellos, in die das ferne, besänftigende Rauschen eines unendlichen Meeres hineinklingt, und seine Stimme war sanft wie die eines Vaters. In Joans Seele löste sich der Krampf des Schreckens und des Schmerzes bei den Worten dieses seltsamen Mannes, der so jung aussah und doch die uralten Weisheiten verschollener Kulturen in sich trug.
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Norman Lettingtone und Dr. Forsythe standen am Fenster des Nebenraumes und blickten stumm in die Nacht hinaus. An der Tür klopfte es. »Herein!« Ein grotesk wirkendes Männchen trat ein und verbeugte sich auf altmodische Weise. Sein Bauch war unförmig dick. Die Beine schienen ihn kaum tragen zu wollen. Der Kopf schien zwischen den Schultern zu sitzen, zumal ein dünner Bart den Halsansatz verdeckte. Die dürren Beine steckten in faltigen Hosen und unförmigen Hausschuhen, den Oberkörper bedeckte eine Jacke, die an keiner Stelle paßte. Man hätte sich vor diesem Monstrum fürchten können, wenn sein Gesicht mit der Himmelfahrtsnase nicht gar so gutmütig gewirkt hätte. Als er zu sprechen begann, konnten die beiden Herren ein Lächeln kaum verbeißen. Er sprach ein schauderhaftes Englisch. Die Worte kamen weich wie Butter in der Sonne, als besäßen seine Lippen nicht Kraft genug, einen anständigen Konsonanten zu bilden. »Verzeihen Sie gütigst, ist hier ein Mr. Sun?« Lettingtone nickte. »Ja, nebenan. Was wollen Sie von ihm? Wer sind Sie?« Das Männchen schien sich zu wundern, daß man seinen Namen nicht kannte. »Ich? Ich bin der Hausverwalter. Poul Rizzo, wenn Sie gestatten.« »Ja, bitte?« Poul Rizzo zog mit beiden Händen seinen Bauch hoch. »Wissen Sie, Sir, da ist mir eben nämlich ein Ding passiert. Weiß Gott, so was hab ich noch nicht erlebt. Ich habe einen Schrecken gekriegt, daß ich dachte, ich müßte gleich auf der Stelle sterben. Da war mir nicht zum Lachen. Wenn man so in meinem Alter ist, da kann einem gleich 'ne Ader im Gehirn platzen ...« »Schon gut«, unterbrach Lettingtone hastig den Redefluß. »Was wünschen Sie von Mr. Sun?« »Ich bin doch schon dabei«, nuschelte der Hausverwalter leicht gekränkt. »Lassen Sie mich doch wenigstens ausreden. Also da hat mich vorhin doch Mr. Garcia angerufen, der das Haus hier gemietet hat. Ein feiner Mann, ein vornehmer Mann – aber wissen Sie, mir persönlich blieb immer ein bißchen die Spucke weg, wenn ich ihn sah. Na, das ist ja nun auch egal. Er täte abreisen, sagte er mir, und ich sollte mich um das Haus kümmern. Der kann ja machen, was er will, aber ich habe mir gleich gesagt: Poul, hab ich mir gesagt, hier stimmt was nicht, und vielleicht ist er sogar ein Hochstapler. Willst nur gleich einmal rübergehen und nach dem Rechten sehen, sonst nimmt er gar die Betten mit. Er hat nämlich inklusive Möbel gemietet, und da weiß man nie ...« »Na und?« drängte Lettingtone. »... ob sie's nicht darauf abgesehen haben«, ergänzte Rizzo. »Also da bin ich denn hierhergesaust, weil ich doch bloß eine Viertelstunde von hier wohne.« »Da kommen Sie aber reichlich spät.« Der Hausverwalter protestierte mit Entrüstung. »Was glauben Sie denn von mir? Sie denken wohl, ich habe unterwegs erst noch einen genehmigt? Nicht die Bohne! Dienst ist Dienst, und wenn ich schon einen zische, dann gleich ordentlich.« »Ist ja gut«, sagte Sir Lettingtone. »Kommen Sie bitte zur Sache.« Rizzo brachte seinen Bauch wieder in die richtige Lage. »Ich bin ja gleich fertig. Ich bin nämlich schon eine ganze Weile hier und habe nachgesehen, ob auch alles da ist. Und wie ich nun so durch die Räumlichkeiten wandle, da denke ich: Poul, denke ich, jetzt guckst du mal in den Keller. Nach der Arbeit muß der Mensch auch sein Vergnügen haben, und weil nun die feinen Herren so gern Wein trinken, da hab ich mir gedacht, da könnte vielleicht eine Flasche liegengeblieben sein in der Aufregung – Sie verstehen doch, was ich meine, Inspektor?« »Gewiß, gewiß«, gab Lettingtone notgedrungen zu. »Sie wollten sehen, ob nicht im Keller eine Flasche Wein übriggeblieben ist.« »Das haben Sie aufs Pünktchen geraten«, lobte Rizzo. »Sie haben den richtigen Durchblick. Kein Wunder, daß Sie so ein hohes Tier geworden sind. Also wie ich nun so in dem Keller rumgrabsche, da höre ich auf einmal ein Stöhnen. Hören Sie, das lief mir aber kalt über
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den Buckel. Ich reiße meine Ohren auf – schon stöhnt's noch einmal. Gottverflucht, hab ich da gedacht, entweder ist es die Wasserleitung, oder hier haben sie einen kaltgemacht, der auf dem letzten Loch pfeift. Von wegen Geister, da bin ich natürlich viel zu aufgeklärt. Nun dürfen Sie aber nicht denken, daß ich keine Courage habe. Ausgerissen bin ich noch lange nicht, wenn's mir auch ein bißchen durch den Bauch ging. Nein, ich bin hin an die Tür, und wie das wieder stöhnte, da hab ich sie aufgerissen und hab hineingeblökt: Ist hier wem schlecht? Aber es hat wieder nur gestöhnt, und stockdunkel war auch alles. Weil ich doch nun gar nichts sehen konnte, hab ich eben Licht gemacht. Na – und was denken Sie denn, was ich da gesehen habe?« Die beiden Herren sahen allmählich aus, als wollten sie das Männchen erwürgen. Lettingtone konnte nur noch ächzen: »Mensch, spannen Sie uns doch nicht auf die Folter! Was sahen Sie denn in dem Keller?« Poul Rizzo hob beschwörend die Arme. »Nur nicht so drängeln, Inspektor! Wenn Sie mir nun vor Schreck tot umfallen, dann hab ich die Bescherung. Nein, das können Sie mit mir nicht machen. Aber können Sie sich's nicht denken? Was soll ich denn nun schon gesehen haben? Eine Leiche natürlich.« »Eine Leiche?« »Ja, tot. Das heißt, ganz tot war sie eben noch nicht, sonst hätte sie doch nicht stöhnen können, aber viel fehlt nicht mehr daran. Nun stellen Sie sich mal vor, wie Poul Rizzo zumute war. Ich hin, und da schlägt er die Augen auf und guckt mich an wie – wie wenn ich ihm noch Geld schuldig wäre. Ich frage natürlich: Was machen Sie denn hier? Wie haben Sie sich bloß hierher verlaufen? Erst sagt er gar nichts und guckt mich immer bloß so an, daß es einem ganz anders zumute wird, und dann stöhnt er, daß man es kaum hören kann. Sun – Sun, wo ist Sun, stöhnt er. Nun hatte ich doch schon gehört, daß hier einer Sun heißt, und da sagte ich: Der ist oben. Darauf sagt er: Garcia? Und ich antworte: Der ist verblüht. Da hat er weiter gestöhnt: Sun – Sun soll kommen. Na, und da bin ich eben gesaust...« Lettingtone hastete nach einer Verwünschung und einem vernichtenden Blick ins Nebenzimmer und kam mit Sun zurück. Die drei Männer rannten hinaus. Poul Rizzo blieb zurück. Er schüttelte verwundert den Kopf. »Meine Güte, haben's die aber eilig! Der stirbt schon noch früh genug, verdammich!«
* Im Keller lag auf dem steinernen Fußboden ein Mann, der seiner Kleidung nach ein Seemann sein konnte. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, doch ließen die Schatten des Todes sein Gesicht schon verfallen erscheinen. Er lag auf dem Rücken. Die Rechte war auf die blutüberströmte Brust gekrallt. Auf der Stirn stand Schweiß. Die Augen waren weit offen, schon von jenem glasigen Schimmer des Todeskampfes, der das Entweichen der Seele verkündet. »Larsen«, murmelte Sun Koh verwundert, während er sich neben den Sterbenden kniete. »Sun«, hauchte der Mann. »Endlich!« Dr. Forsythe kniete ebenfalls nieder, um Larsen zu untersuchen, doch der Sterbende stöhnte abwehrend: »Nicht – lassen Sie. Ich halte keine Untersuchung mehr aus. Vorbei... Muß noch viel erzählen, Sun ...« Er schloß die Augen und schwieg, als sei er bereits zu erschöpft. Sir Lettingtone benutzte die Pause, um eine Frage zu stellen. »Er heißt Larsen«, gab Sun Koh leise zur Antwort, ohne den Blick vom Gesicht des Liegenden abzuwenden. »Er brachte mich nach London. Im Flugzeug. Wir landeten am Rand von Bäumen. Larsen stieg aus. Er sagte, er wolle meine Zukunft in Ordnung bringen. Olaf, mein zweiter Begleiter, sollte bei Gefahr mit mir aufsteigen und mich ins Excelsior bringen. Dann ging er. Nach zehn Minuten hörten wir Schüsse. Dunkle Gestalten schlichen heran. Wir stiegen auf. Dann verfolgte uns ein anderes Flugzeug. Olaf band mir einen Fallschirm auf den Rücken und ließ mich abspringen. Er gab mir Anweisung, ins Excelsior zu gehen und Joe Evans aufzusuchen. Ich sprang, fiel und schwebte dann in eine Straße hinein. Zehn Meter über dem Boden hing der Schirm fest. Ich schnallte mich los und ließ mich fallen.« Larsen begann wieder zu flüstern. »Du bist entkommen, Sun. Wer sind die beiden?« »Dr. Forsythe«, sagte der Polizeiarzt beruhigend.
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»Das ist Mr. Lettingtone. Sie brauchen nichts zu befürchten. Wenn Sie wollen, lassen wir Sie mit Mr. Sun allein.« »Nein, bleiben Sie«, murmelte der Sterbende. »Geben Sie mir etwas, Doktor, eine Spritze. Ich brauche noch fünf Minuten.« Forsythe blickte fragend zu Lettingtone hinauf. Der Polizeichef nickte, worauf der Arzt mit schnellen, sicheren Händen zu hantieren begann. Der Verwundete zuckte unter dem eindringenden Feuer zusammen, begann aber fast sofort weniger matt zu sprechen. »Danke, Doc. Hoffentlich reicht's. Hör zu, Sun. Vor zweiundzwanzig Jahren zog ein Trupp Männer von Merida aus nach Süden, quer durch Yukatan. Juan Garcia und ich waren dabei. Wir wollten Schätze finden. Wir hatten dunkle Gerüchte von geheimnisvollen Riesenstädten gehört. Wir waren jung, hatten nichts zu verlieren. Es war eine Wanderung durch die Hölle ... Urwald, Sumpf, Dickicht, Moskitos und Schlangen. Und Indios, die uns umschlichen und uns niedermachten. Sechzehn Männer zogen aus. Wir waren noch fünf, als wir mitten im Urwald auf eine uralte Riesenstadt stießen. Mächtige Steinquadern, Treppen, Säulen, alles überwachsen von starken Bäumen und Schlingpflanzen. Seltsame Inschriften überall. Wir jubelten, wir Narren. Wir begannen nach Gold zu suchen. Am Abend waren wir nur noch vier. Einen hatte ein Giftpfeil geholt. Am nächsten Tag hielten wir dicht zusammen, die Gewehre entsichert, voll Wut, Angst und Gier.« Er stöhnte scharf, dann fuhr er fort: »Wir folgten einem schmalen Gang, der zwischen Platten mit Inschriften in die Tiefe führte. Eine Stunde lang. Dann erreichten wir um eine Biegung herum ein Gewölbe, dessen Wände mit Gold beschlagen waren. Die Gier trieb uns weiter. Zwei Indios versperrten den Weg. Wir schössen sie nieder. Der Gang führte wieder aufwärts. Aus einem Seitengang heraus überfiel uns ein ganzer Trupp. Wir brachten ihn um, doch fiel einer von uns. Wir...« »Höchstens noch drei Minuten«, flüsterte der Arzt Lettingtone zu. Der Sterbende mußte es gehört haben, denn er keuchte hastiger: »Drei Minuten – gut. Wir sahen seltsame Dinge auf diesem Marsch durch die versunkene Stadt und mehr Gold, als wir in tausend Jahren brauchten. Wir sahen aber auch den Tod. Mehr als dreißig Indios töteten wir, und von uns blieben nur Garcia und ich übrig. Dann fanden wir die Königshalle, in der Mitte ein Wasser, ein Brunnen, ringsum Goldplatten, mindestens einen Daumen stark, dazu Edelsteine so groß wie Taubeneier. Dort trafen wir den Weißbart und die Frau mit dem Kind. Garcia schoß den Mann nieder. Die Frau sprach eine unbekannte Sprache. Sie war schön, sehr schön. Garcia wollte sie mißbrauchen. Ich ließ es nicht zu. Ich war ein Abenteurer, aber kein Verbrecher. Wir stritten. Damals wurden wir Todfeinde. Die Frau floh. Garcia schoß sie hohnlachend nieder. Bevor sie starb, wies sie flehend auf das Kind und murmelte etwas in ihrer Sprache. Ich nahm das Kind an meine Hand. Ihr dankbarer Blick wird mich vor der Hölle bewahren. Garcia wollte den ungefähr dreijährigen Jungen ins Wasser werfen. Ich sagte ihm, daß er eine Minute später tot sein würde. Er fluchte, aber er fürchtete mich. Damals war ich ein anderer Kerl als heute. Das Kind warst du, Sun.« »Ich ahnte es«, flüsterte Sun Koh. »Sprich weiter.« Das Gesicht Larsens verfiel zusehends, aber sein Wille und die Spritze hielten ihn noch am Leben. Nur in den Pausen zwischen seinen Sätzen spürte man die Spannung des reißenden Lebensfadens. »Wir wanderten durch die Hölle – Wochen und Monate. Wir schlugen uns durch. Bei Belize kamen wir ans Meer und wußten nicht mehr, wo wir eigentlich gewesen waren. In unseren Taschen steckten ein paar Steine, die uns reich machten. Garcia hatte dem alten Weißbart ein Pergament abgenommen. Er zeigte es mir. Die Schrift war fremd. Er behielt es. Ich kehrte in meine Heimat, nach Norwegen, zurück. Das Kind war bei mir. Ich wollte anständig werden, bin's auch geworden, hoffe ich. Von Garcia hörte ich nie wieder – bis vor drei Tagen. Er scheint ein großer Mann geworden zu sein, ist aber noch der gleiche Schuft, der er stets war.« Durch Larsens Körper fuhr ein Krampf. Dr. Forsythe zog ein bedenkliches Gesicht. Aber noch wartete der Tod. »Vier Wochen war ich in meiner Heimat. Da kam eines Tages ein Fremder zu mir, vielleicht ein Inder. Ein gutes Gesicht, aber ernst und still. Er wollte dich holen, Sun Koh. Er wußte alles, als ob er dabeigewesen wäre. Ich wollte dich nicht herausgeben, aber er war stärker. Ich höre ihn noch: Das Kind ist Nachkomme und Erbe der ältesten Kultur dieser Erde, vom Schicksal bestimmt, große Aufgaben zu erfüllen. Wir wollen es so erziehen, daß es dazu fähig wird. Und es steht
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geschrieben, daß der Junge eines Tages wieder zu Ihnen zurückkommen wird. So sagte er. Und ich gab dich in seine Hände. Ich hörte nie wieder von dir. Aber vor drei Tagen kam der gleiche Fremde wieder, und du warst bei ihm. Er sagte: Sun Kohs Stunde ist gekommen. Wir müssen ihn sich selbst überlassen. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Er ist so vollkommen, wie ein Mensch nur sein kann. Mieten Sie ein Flugzeug und fliegen Sie mit ihm nach London. Dort werden Sie Garcia finden. Fordern Sie das Pergament von ihm, und suchen Sie mit ihm Joe Evans auf. Dann lassen Sie Sun Koh allein. Ich willigte ein. Bevor er ging, war er lange mit dir allein. Er sagte, er hätte dir die Erinnerung an Dinge genommen, die früher lagen. Wir mußten dich schlafend ins Flugzeug schaffen. Als du über London erwachtest, kanntest du selbst mich nicht mehr.« Der Atem des Sterbenden wollte verlöschen. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille in dem trüben, kalten Kellerraum. Endlich sprach Larsen ächzend weiter. »Garcia erschrak, als er mich sah. Ich forderte das Pergament. Er lachte mich aus. ›Idiot‹, sagte er, ›du hast keine Ahnung, was in dem Pergament steht. Ich bin der reichste Mann der Welt. Ich lasse mich nicht von deinem Findling zum Bettler machen.‹ Wir stritten. Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, und er schoß mich nieder. ›Geh zu Evans‹, höhnte er, ›laß dir erzählen, was darin steht. Dein Sun wird nie sehen, was auf seiner Brust geschrieben steht, nämlich daß…‹« Ein wilder Krampf riß den Körper des Sterbenden in die Höhe. Dumpf schlug er zurück. »Aus!« konstatierte Dr. Forsythe sachlich, aber er hatte sich geirrt. Der Wille dieses Mannes war unbändig. Seine Lippen öffneten sich noch einmal. »... daß er Erbe und König von Atlantis ist...« Ein schwaches Zucken, dann brachen die Augen. Die Männer schwiegen lange. Der Eindruck dieses Todeskampfes war zu stark gewesen. Er mußte erst abklingen. Endlich begann der Arzt den Toten zu untersuchen. Brustschuß dicht über dem Herzen. Innerlich verblutet. Fast ein Wunder, daß der Mann nicht schon seit Stunden tot war. Als er die Hände des Toten auf der Brust zusammenlegen wollte, stutzte er und öffnete die Faust, zu der sich die rechte Hand geballt hatte. Ein Stück Pergament fiel heraus, eine kleine Ecke, die mit Blut durchtränkt war. Einige Zahlen standen darauf. Forsythe reichte Sun Koh den Fund. »Er hat wohl ein Stück von dem Pergament zwischen den Fingern behalten, von dem er sprach, ohne daß es Garcia auffiel.« »Danke«, sagte Sun Koh und nahm es an sich. »Ich werde es behalten. Gehen wir jetzt.« Sie verließen den Raum und gingen nach oben. Auf die Bitte Sun Kohs hin führte Norman Lettingtone mehrere Telefongespräche, um etwas über das Schicksal jenes Olaf zu erfahren. Später faßte er die Ergebnisse zusammen. »Garcia ist mit dem Flugzeug entkommen. Dieser Olaf ist tot. Unweit der Themse hat man ein zertrümmertes Flugzeug norwegischer Herkunft gefunden, das eine verstümmelte Leich barg. Außerdem wird mir gemeldet, daß man unweit Piccadilly Circus auf dem Dach eines Hauses einen Fallschirm fand. Damit würden sich Ihre Angaben bestätigen.« »Sie haben an ihnen gezweifelt?« Lettingtone hob die Schultern. »Ich muß von Berufs wegen zweifeln, mein lieber Mr. Sun. Und Sie werden mir zugeben, daß Ihre Geschichte immerhin mysteriös klingt. Was meinen Sie, Doc?« Dr. Forsythe zuckte mit den Schultern. »Hm, teils – teils. Ich kann mir vorstellen, daß der Verstorbene eine alte Rechnung mit Garcia zu begleichen hatte. Seine sonstigen Mitteilungen sind wohl – mit einiger Vorsicht aufzunehmen. Man findet oft, daß im Todeskampf die Phantasie schweift. Diese Rederei von versunkenen Städten, Schätzen und Atlantis – ich möchte Sie nicht verletzen, Mr. Sun, aber kam Ihnen das nicht selbst phantastisch vor?« Auf Sun Kohs Gesicht erschien ein unruhiger Ausdruck. »Ich weiß nicht – ich kann mich einfach nicht erinnern. Ist es nicht sonderbar, daß ich das Gedächtnis verloren habe? Er redete nicht irre, aber es ist schwer, etwas zu tun, wenn man alle Beziehungen verloren hat. Wer ist Joe Evans? Wirklich ein Show-Manager, wie man mir sagte?«
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Lettingtone lächelte. »Ich sehe, Sie wollen sich doch an die Worte des Toten halten. Nun, das ist Ihre Angelegenheit. Leider kann ich Ihnen kaum Auskunft geben. In London leben mindestens tausend Leute, die Joe Evans heißen. Sollte es sich um den Manager handeln – er wohnt in der Harlow Street.« »Ich weiß nicht, ob er der Richtige ist«, erwiderte Sun Koh nachdenklich. »Ich müßte ihn fragen. Wo ist Miß Martini?« Sie erfuhren von einem Polizisten, daß Joan Martini inzwischen nach Hause gefahren war. »Ich habe ihr versprochen, sie zu besuchen«, sagte Sun Koh, und der Arzt nickte verständnisvoll. »Sie wird Trost brauchen. Es wäre gut, wenn Sie sich um sie kümmerten. Wir berufsmäßigen Tröster besitzen vielleicht nicht mehr das richtige Feingefühl. Nur – hm...« Er brach ab, aber Sir Lettingtone nahm den Faden wieder auf und sagte scherzend: »Nur müßten Sie schon Ihre Garderobe vervollständigen. Haben Sie eigentlich Geld?« »Geld? Nein.« »Und da wohnen Sie ausgerechnet im Exceisior? Eigentlich müßte ich Sie als Betrüger verhaften.« »Warten Sie noch«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ich werde mir schon Geld verdienen.« »Na, na«, meinte Lettingtone. »So leicht ist das nun auch wieder nicht. Aber Hals- und Beinbruch. Übrigens bin ich gern bereit, Ihnen einstweilen ...« »Danke«, wehrte Sun Koh ab. »Ich werde mir schon helfen.« »Schade! Ich wäre ganz gern einmal Gläubiger eines Königs geworden.« »Eines Königs?« »Nun ja«, sagte Lettingtone. »Sie sind doch König von Atlantis oder was weiß ich.« Zwischen Sun Kohs Augen stand flüchtig eine feine Falte. Gleich darauf stimmte er jedoch in das heitere Lachen der beiden Herren ein. Dann nahm ihn Norman Lettingtone liebenswürdig beim Arm. »Kommen Sie. Ich bringe Sie mit meinem Wagen ins Hotel.«
3. E. S. Salomon, der Inhaber eines erstklassigen Modesalons, tänzelte am nächsten Vormittag um seinen ungewöhnlichen Kunden herum und schnalzte vor Begeisterung mit der Zunge. »Wundervoll! Großartig! Diese Paßform! Ein Gott im Straßenanzug! Ihre Figur ist einmalig, Sir!« Sun Koh fand sich weniger begeisternd. Er fühlte sich sogar etwas unbehaglich. Wenn er auch nichts von seiner Vergangenheit wußte, war er doch fast sicher, daß er noch nie derartige Kleidungsstücke getragen hatte. Da aber hier alle Männer so herumliefen, mußte er sich wohl an sie gewöhnen. »Man wird Sie beneiden«, schwärmte der Kleiderkünstler weiter und unterdrückte nebenbei einen kleinen Seufzer, als er seine kurzen Beine im Spiegel sah. »Sie werden Erfolge haben, Sie werden ...« »Lassen Sie das«, unterbrach Sun Koh kühl. »Ich nehme diesen Anzug. Was haben Sie sonst noch?« »Alles, was der Herr gewünscht hatte«, erläuterte E. S. Salomon geschäftig. »Ein Anzug für den Vormittag, einer für den Nachmittag, zwei sportliche Anzüge, ein dunkler Anzug für Besuche und für den Abend, selbstverständlich auch kombiniert, dazu der Smoking, ferner Mantel, Regenmantel, Schuhe, Wäsche – alles fix und fertig. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir unser Bestes gegeben haben. Die Nacht war kurz und...« »Schon gut. Die Garderobe eines Mannes scheint hier recht umfangreich zu sein. Was bekommen Sie eigentlich?« Salomon wehrte mit einer großzügigen Geste ab. »Oh, das hat natürlich Zeit. Nur eine Kleinigkeit. Aber wenn Sie darauf bestehen – ich habe mir erlaubt, die bisherige Lieferung zusammenzustellen ...« Sun Koh nahm das lange Rechnungsformular, das ihm überreicht wurde. 13 600 Pfund! Dagegen half nur Fassung.
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»Danke, Mr. Salomon. Sie können jetzt gehen.« Der Schöpfer der Herrenmode verließ unter tiefen Verbeugungen den Raum. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, wurde sie wieder geöffnet. Hal Mervin, der Hotelpage, schlüpfte herein. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Guten Morgen, Mr. Sun. Haben Sie gut geschlafen?« »Danke.« Sun Koh lächelte. »Nett, daß du dich danach erkundigst. Hast du heute keinen Dienst?« »Unwichtig!« Hal winkte großspurig ab, während er seinen Helden musterte. »Fein sehen Sie aus!« »Fein nicht, aber teuer«, sagte Sun Koh. »Wie wäre es mit einem Tip? Du siehst aus, als ob du nicht auf den Kopf gefallen wärst. Hier. Was macht man in solchen Fällen?« Hal schielte auf die Rechnung, die ihm Sun Koh vor die Nase hielt. »13 600 Pfund? Donnerwetter, die möchte ich mal in der Tasche haben. Der nimmt's von den Lebendigen, was?« »In meinem Fall wird es nicht leicht für ihn sein. Ich besitze nämlich keinen Penny.« Hal pfiff durch die Zähne. »Pleite? Alles futsch?« »So könnte man sagen«, bestätigte Sun Koh. »Mein Schlafanzug besaß nicht einmal Taschen. Die Frage ist nun, wie man hier in London Geld verdienen kann – viel Geld sogar. Ich wurde an Joe Evans verwiesen.« Hal fuhr elektrisiert auf. »Genau, Sir. Das ist goldrichtig. Evans ist der richtige Mann für Sie. Sein Bums wird platzen, wenn Sie ...« »Herein«, sagte Sun Koh, weil jemand an der Tür klopfte. Der Zimmerkellner erschien. »Mr. Evans bittet Sie um eine Unterredung, Sir.« Sun Koh nickte, und Hal wurde vor Begeisterung lebhaft. »Sehen Sie, da kommt er schon persönlich. Er hat eine feine Nase. Lassen Sie sich nur nicht von ihm übers Ohr hauen. Und vergessen Sie die Freikarten nicht. Ich verschwinde.« Er drückte sich hinter dem Rücken des eintretenden Besuchers hinaus. Joe Evans konnte ungefähr fünfzig Jahre alt sein, aber sein Haar war schon völlig weiß. Da er jedoch eine frische, rosige Gesichtsfarbe besaß und der kaum mittelgroße, zierliche Körper ständig quecksilbrig in Bewegung war, wirkte er eher jünger. Er eilte lebhaft auf Sun Koh zu und schüttelte ihm die Hand. »Freut mich sehr, Mr. Sun, freut mich außerordentlich. Ich hörte heute morgen Dinge von Ihnen, die mich schleunigst auf die Beine brachten.« Sun Koh wies auf einen Sessel. »Ich freue mich ebenfalls, Sie zu sehen. Sie ersparen mir, Sie in Ihrem Haus aufsuchen zu müssen.« Evans schlug schwungvoll die Beine übereinander. Seine Socken waren dezent gemustert. »Ah, Sie wollten sich ohnehin mit mir in Verbindung setzen? Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Unsere Absichten begegnen sich.« »Ich hoffe es«, sagte Sun Koh. »Larsen sagte mir, ich sollte mich an Sie wenden.« »Larsen?« »Ja, Larsen. Er starb leider gestern nacht. Garcia hat ihn erschossen.« »Sehr bedauerlich«, murmelte Evans höflich. »Wirklich, sehr bedauerlich. War er Ihr Angestellter?« Sun Koh zog die Brauen hoch. »Sonst weiß ich nichts von ihm. Aber ich vermute, daß Sie ihn kannten und mir Näheres sagen können.« »Ich? Wieso ich?« fragte der Manager verwundert. »Ich kenne ihn überhaupt nicht. Larsen ... Nie gehört. Hier scheint ein Irrtum vorzuliegen.« Sun Koh hielt ihm das dreieckige Stück Pergament hin. »Vielleicht sagt Ihnen das etwas?« »Wieso? Was ist das?« »Das ist das Bruchstück einer Urkunde, das wir in Larsens Hand fanden. Die Urkunde selbst besitzt Garcia.« Joe Evans schüttelte den Kopf.
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»Ich verstehe nicht. Sicher sehr interessant, aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun hat. Ich kann mir keinen Vers darauf machen.« »Dann sagen Sie mir bitte, was Sie über mich wissen.« »Über Sie? Nun, was man in den Zeitungen liest oder im Fernsehen sieht.« »Das meine ich nicht. Ich möchte das hören, was ich selbst nicht weiß.« »Mehr weiß ich doch auch nicht«, entgegnete Evans. »Wie sollte denn gerade ich dazu kommen?« »Aber warum suchen Sie mich dann auf?« Evans atmete auf. »Endlich kommen wir zur Sache. Sie haben gestern abend hier unten in der Halle einen fabelhaften Trick vorgeführt. Jack Holligan zehn Meter hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Das ist etwas fürs Fernsehen. Das zieht. Ein großartiger Trick!« »Das war kein Trick«, widersprach Sun Koh kühl. »Na, hören Sie mal, Mr. Sun, Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie allein durch Kraft...« »Halten Sie sich fest«, riet Sun Koh, bückte sich und hob den Sessel, in dem Evans saß, mit einer Hand am nächsten Bein waagerecht auf. Evans schrie erschreckt auf und klammerte sich an die Armlehnen. Im nächsten Augenblick griff Sun Koh mit der anderen Hand zu und warf den Sessel nach oben, so daß Evans den Kopf einziehen mußte, um nicht an die Decke zu prallen. Sun Koh fing die schwere Last leicht auf, wiederholte das Spiel, setzte den Sessel ab und fragte leichthin: »Nun, wo ist der Trick?« Evans starrte ihn verstört an. Er war vor Schreck halbtot, wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und stammelte vorwurfsvoll: »Das ist doch – das ist doch ... Ich habe nicht mehr die Nerven ...« Er brach ab und setzte fast ehrfürchtig wieder an: »Verdammt – Ihre Kraft möchte ich haben – und kein Tropfen Schweiß ...« Wie vom Katapult geschnellt sprang er auf und fuchtelte mit den Händen in der Luft. »Mann, Sie sind ein Wunder – ein Phänomen! Das ist noch nie dagewesen – das schlägt ein! Unglaublich! Das müssen Sie der Welt zeigen. Was verlangen Sie pro Auftritt?« »Wofür?« Evans setzte sich wieder. Er wurde geschäftsmäßiger und nüchterner. »Ich habe die größten Shows Londons, ganz Englands – ja, überhaupt der ganzen Welt. Sie sind bei mir bestens untergebracht. Ich mache Sie weltberühmt. Treten Sie bei mir eine Stunde lang jeden Abend auf, und das Haus wird monatelang ausverkauft sein. Ich zahle Ihnen pro Abend tausend Pfund.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Varietékünstler.« »Tut nichts, tut gar nichts«, ereiferte sich Evans. »Wir sprechen vorher alles durch. In drei Stunden sind Sie perfekt. Also gut, Sie sollen sich nicht beschweren. Ich werde Ihnen tausendfünfhundert zahlen. Mann, versündigen Sie sich nicht an sich selbst.. Sie wollen doch nicht etwa die Welt um dieses Erlebnis betrügen. Denken Sie doch an die Kultur. Oder wenigstens an sich. Toben wird man vor Begeisterung, rasen wird man. Sie wollen immer noch nicht? Gut, ich werde mich ruinieren, aber ich will Sie bei mir auf der Bühne sehen. Zweitausend Pfund! Nicht? Mann, sind Sie wahnsinnig? Zweitausend Pfund? Wollen Sie den Zusammenbruch eines armen alten Mannes auf Ihr Gewissen nehmen? Dreitausend Pfund!« Er brachte es heraus, als präsentiere er den ganzen Erdball. Für ihn war es auch etwas Ähnliches. Sein Angebot lag außergewöhnlich hoch. Evans wußte freilich genau, was er tat. Dieser Mann würde seine halbvollen Häuser bis zum Bersten füllen, selbst wenn man die Preise verdoppelte. Er traute seinen Ohren nicht, als sein Angebot nicht zog. »Danke, Mr. Evans«, lehnte Sun Koh ruhig ab. »Ich könnte Geld gebrauchen, aber ich will nicht wochenlang in London bleiben. Sobald ich zehntausend Pfund habe, werde ich die Stadt verlassen.« Evans setzte zu einem Verzweiflungsausbruch an, aber da summte das Telefon. Sun Koh hob den Hörer ab. Die Telefonzentrale entschuldigte sich und bat um Mr. Evans. Sun Koh gab den Hörer an den überraschten Manager weiter. Evans meldete sich, wurde sehr verbindlich und lauschte auf eine ferne Stimme. Dann murmelte er Zustimmung, versprach Bescheid zu geben und legte auf.
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»Schmutzkonkurrenz!« sagte er verdrossen vor sich hin, aber als er sich Sun Koh zuwandte, war er nur noch melancholisch. »Sie sind eben ein Glückspilz, Mr. Sun. Meinen Glückwunsch. Ihre zehntausend Pfund haben Sie schon in der Tasche. Aber trotzdem können Sie es nicht vor der menschlichen Kultur verantworten, wenn Sie nicht in mein Unternehmen ...« »Was ist los?« unterbrach Sun Koh. »Was soll schon sein?« erwiderte Evans trübe und schulterzuckend. »Das war eben Lady Houston. Sie bittet Sie, morgen abend ihr Gast zu sein und im kleinen Kreis einige Ihrer Tricks – hm, Kraftproben vorzuführen. Zehntausend Pfund zahlt sie dafür.« »Ach? Und wer ist Lady Houston?« Joe Evans raffte sich zu einigem Entzücken auf. »Oh, Sie kennen die Lady noch gar nicht? Sie ist die schönste Frau Londons – was sage ich, der ganzen Welt, noch nicht dreißig, Witwe von Sir Edward Houston, eine Frau mit einigen hundert Millionen. Sie sind gestern abend von ihr bemerkt worden, hier im Hotel, und sie wandte sich an mich, um Ihnen das Angebot zu machen.« »Sie will mich ihren Gästen vorführen?« »Nun, – na ja, allerdings. Sie werden sich doch hoffentlich nicht daran stoßen? Seien Sie kein Narr. Das ist keine öffentliche Vorführung. Das vornehmste Publikum, das es gibt, die Spitzen von Adel, Finanz und Wissenschaft. Vom amerikanischen Multimillionär bis zu meinem superklugen Namensvetter alles ...« »Ihr Namensvetter?« fragte Sun aufmerksam. »Ja, der sicher auch. Joe Evans, der berühmteste, geistreichste Gelehrte der Welt. Wo kommen Sie her, daß Sie nicht einmal solche Leute kennen? Übrigens – vielleicht ist das der Evans, den Sie suchen?« »Hoffentlich.« Sun Koh atmete auf. »Ich nehme das Angebot an. Wann soll ich erscheinen?« »Morgen abend um 22 Uhr. Jeder Chauffeur bringt Sie zum Haus der Lady. Ich werde sie also von Ihrer Zusage verständigen. Und wie steht's mit unserer Abmachung?« Ein Kopf schütteln war die Antwort. Joe Evans wollte noch einmal loslegen, aber Sun Koh faßte ihn sanft bei der Schulter und führte ihn zur Tür. »Später vielleicht einmal, Mr. Evans. Es war mir ein Vernügen.« »Mir nicht«, murmelte Joe Evans sauer und nahm noch einmal Anlauf. »Sie sollten Ihr Glück nicht so mit Füßen treten. Denken Sie an Ihre Mitmenschen. Dreitausend Pfund für . . .« Den Rest erzählte er dem leeren Hotelgang, der sich vor ihm öffnete.
* Von den rund hundert Menschen, die sich am nächsten Abend bei Lady Houston eingefunden hatten, trug jeder einen bekannten Namen. Trotzdem war die Gesellschaft eigenartig gemischt. Neben dem müden Nachkommen adliger Vergangenheit sah man das junge Gesicht eines Piloten, neben dem geistvollen Kopf des Gelehrten den schlichten Kopf des riesigen Boxers, neben dem scharfen, blassen Brillengesicht des Citymannes den braunverwetterten Naturforscher, neben der strahlenden Schönheit eines Filmstars den fetten Kolumnisten aus Hollywood. Die Herren befanden sich bei weitem in der Überzahl. Die Gesellschaft bestand aus einem Durcheinander, das sich nur eine Lady Houston erlauben durfte, und war doch exklusiv. Man wußte natürlich, weshalb man geladen war, und erwartete voll Spannung die Sensation des Abends. Es hatte genug in der Zeitung gestanden, und es war noch mehr von Mund zu Mund gegangen, um neugierig und auch wohl skeptisch zu sein. Endlich, der Butler des Hauses meldete: »Mr. Sun Koh!« Alle Augen richteten sich zum Eingang des Saales. Es wurde totenstill. Jeder starrte auf den Ankömmling. Sun Koh hielt gelassen dem Kreuzfeuer der Blicke stand. In seinem edlen Gesicht, aus dem die Schönheit einer reifen Kultur herausleuchtete, zuckte kein Muskel. Dieses Gesicht aber bannte alle. Lady Houston schritt auf den neuen Gast zu. Sie war wirklich eine schöne Frau, und sie trug ihr Abendkleid wie eine Königin. Ihre freien Schultern waren wundervoll modelliert, und ihr Gesicht zeigte eine fast klassische Regelmäßigkeit. Überraschend für eine Engländerin wirkte ihr tiefschwarzes Haar, in dem ein herrliches Diadem mit riesigen Steinen funkelte.
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Sie war sehr schön, diese Frau, und man nannte sie nicht ohne Grund die schönste Frau Englands, aber als sie jetzt dicht bei Sun Koh stand, wirkte sie plötzlich kalt und farblos. Es gab kluge Menschen im Saal, die in diesem Augenblick wußten, daß Lady Houston keine Seele besaß. Ihre Schönheit war Schale, die des Mannes dagegen innerstes Wesen. Man hörte die begrüßenden Worte der Gastgeberin. Damit war der Bann gebrochen. Die Gespräche flackerten wieder auf. Sun ließ sich vorstellen und in Gespräche verwickeln. Er war vollkommen höflich und beantwortete alle Fragen, blieb innerlich völlig unbewegt. Diesen Eindruck gewann wenigstens Lady Houston, die ihre brennenden Augen nicht von Sun Koh losreißen konnte. Nach einer halben Stunde gab sie ein Zeichen. Ein tiefer, summender Gongschlag ertönte und machte die Gäste am Büfett, an der Bar und in den anderen Räumen aufmerksam. Eine Schar von Domestiken brachte Stühle und Sessel und stellte sie so auf, daß in der Mitte des Saales eine runde Fläche frei blieb. Die Gäste strömten herbei und nahmen Platz. Die Vorstellung sollte beginnen. Lady Houston trat mit Sun Koh in den Kreis. Eine Handbewegung schaffte Ruhe. Mit deutlicher, etwas harter Stimme sagte die Gastgeberin: »Liebe Freunde, ich habe Mr. Sun Koh gebeten, uns einige Proben seiner erstaunlichen Fähigkeiten vorzuführen. Mr. Sun ist dazu bereit und wird selbst zu Ihnen sprechen.« Sun Koh verbeugte sich leicht. »Ladies und Gentlemen, ich habe zugesagt, weil ich Geld benötige, und stehe zu Ihrer Verfügung. Leider muß ich bekennen, daß ich nicht weiß, was Sie zu sehen oder hören wünschen. Es ist Ihnen bekannt, daß ich über meine Vergangenheit nicht unterrichtet bin. Das schließt in sich ein, daß ich den Umfang meiner Ausbildung und damit meine Fähigkeit nicht kenne. Mir wurde versichert, daß ich die vollkommenste und vielseitigste Ausbildung genossen habe, die jemals einem Menschen zuteil wurde. Da ich noch keine Zeit hatte, mich selbst kennenzulernen, betrete ich in vieler Hinsicht Neuland. Ich bitte Sie, mir Aufgaben zu stellen, und hoffe, daß meine Lösungsbemühungen Ihnen ebenso interessant sein werden wie mir.« Tiefes Schweigen und allseitige Verblüffung. Dieser Sun Koh war mehr als eigenartig. Er vermutete, alles zu können. Bei einem anderen hätte das wie Anmaßung geklungen, bei ihm nicht. Erstaunlicher noch war, daß diese Vorstellung für ihn selbst ein Experiment zu sein schien und daß er allen Möglichkeiten freien Lauf lassen wollte. Einige Herren nickten grimmig. Dem wollte man schon zeigen, was er alles nicht konnte. Lady Houston unterbrach die Stille. »Ich glaube, einen allgemeinen Wunsch zum Ausdruck zu bringen, wenn ich Sie bitte, die Kraftleistung von vorgestern zu wiederholen.« Ein zustimmendes Murmeln lief durch die Reihen. Sun Koh nickte und gab ein Zeichen, worauf sich Jack Holligan erhob und vortrat. Der Saal war mindestens ebenso hoch wie die Halle des Hotels. Sun Koh ließ den Joruben fünfmal die Decke berühren, dann stellte er ihn wieder auf seine Füße. Donnernd brach der Beifall aus. Dann wurde es wieder still. »Bitte Ihre Aufgaben«, bat Sun Koh. Einige Herren flüsterten miteinander. Einer von ihnen bat um einen Augenblick Geduld. Ein anderer ging hinaus, kam bald wieder zurück und trat an Sun Koh heran. »Bitte zerdrücken Sie mit Ihren Händen diesen Billardball.« Protestierende Rufe klangen auf. Das war reichlich viel verlangt. Elfenbein ist ein festes Material, und sicherlich besaß die Struktur dieser glänzenden runden Kugel nicht den geringsten Fehler. Mit den bloßen Händen zerdrücken? Sun Koh beschwichtigte mit einer Handbewegung. »Sie befinden sich im Recht, wenn Sie mir diese Aufgabe stellen. Ich habe ja darum gebeten. Es scheint auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß man einen solchen Ball zerdrücken kann. Elfenbein ist kein Stahl und besitzt eine ähnlich interessante Struktur wie die Schale eines Hühnereis. Drückt man gegen die Spitzen, so bleibt es ganz, während es in jeder anderen Druckrichtung zerbricht. So scheint es mir auch in diesem Fall darauf anzukommen, nicht gerade senkrecht zur Gewebeversteifung zu drücken, sondern seitlich – ungefähr so ...«
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Bei diesen Worten schloß er die eine Hand über der anderen und drückte scharf zu. Ein mehliges Knirschen, kaum hörbar. Sun Koh streckte der Gesellschaft seine offenen Hände hin. Auf ihnen lagen die pulvrigen und splittrigen Reste des Billardballes. Die Menschen sprangen auf und begannen jubelnd zu klatschen. Lady Houston bat um Ruhe. »Nach dieser bewunderungswürdigen Kraftprobe ist es wohl angebracht, wenn ein anderes Gebiet gewählt wird. Oder hat sonst jemand noch ähnliche Vorschläge?« »Können Sie schießen, Mr. Sun?« fragte der junge Australier Calburne, der sich gerade den Weltmeister im Tontaubenschießen geholt hatte. Sun Koh hob die Schultern. Die Hausherrin gab Anweisungen. Ein Diener brachte zwei Sportgewehre, ein anderer Pistolen, zwei andere stellten hölzerne Scheiben an die Wand neben dem Eingang. Sie waren nicht groß, und die Entfernung betrug immerhin dreißig Meter. Calburne besichtigte die Waffen und nickte anerkennend. Präzisionsarbeit und vorzüglich gepflegt. Er lud das eine Gewehr und reichte es Sun Koh, der es zurückwies. »Bitte, schießen Sie zuerst.« Calburne zögerte nicht lange, legte an und schoß. Rand des Zentrums. Der zweite Schuß saß voll, der dritte nur im Schußkreis. Immerhin eine gute Leistung, die durch Beifall belohnt wurde. Nun war Sun Koh an der Reihe. Er lud selbst und merkte dabei, daß er das nicht zum erstenmal tat. Gelassen legte er an und drückte ab. Haargenau in der Mitte. Die zweite und dritte Kugel drückten ihre Vorgänger platt. Laute Beifallsrufe. Calburne konnte einen kleinen Ärger nicht unterdrücken. Schließlich war er ein berühmter Pistolenschütze. Er griff zur Pistole und schoß. Drei Schüsse, alle drei im Zentrum. Leider folgte Sun mit drei untadeligen Kernschüssen nach. Das reizte den Ehrgeiz. Erst die Treffer auf bewegliche Objekte zählten wirklich. Er sprach mit der Gastgeberin. Neue Anweisungen. Ein Diener stellte sich mit ängstlichem Gesicht vor die Scheibe. Calburne hielt die Pistole im Anschlag. Der Diener warf einen kleinen Gegenstand in die Höhe, eine Walnuß, wie sich später herausstellte. Calburne schoß. Die Nuß fiel unbeschädigt. Der Diener warf wieder. Diesmal saß der Schuß. Die dritte Kugel ging wieder fehl. Sun Koh holte mit drei Schüssen drei Nüsse herunter. Der Beifall raste. Jetzt sprach Sun Koh mit der Gastgeberin. Neue Anweisungen. Etwas später warf der Diener kleine, kaum sichtbare Kugeln in die Luft. Die Gäste erfuhren, daß es sich um Erbsen handelte. Sun Koh schoß. Die Erbse fiel nicht mehr zu Boden. Noch dreimal zersplitterten Erbsen in der Luft. Dann wurde Sun Koh noch kühner. Er hielt die Pistole lässig in der Hand, mit der Mündung nach unten, während der Diener schon warf. Erst als die winzigen Kugeln schon fielen, schoß er, ohne zu zielen. Dann gab er die Waffe zurück, während der Beifall um ihn dröhnte. Nach einer kleinen Pause, in der die Diener geschäftig hin und her eilten, meldete sich der Sprachforscher Herbert Alvan zu Wort. »Es würde mich interessieren, zu erfahren, wieviel Sprachen Mr. Sun spricht.« »Bitte, sprechen Sie mit mir«, bat Sun Koh liebenswürdig. Der Gelehrte begann in französisch. Sun antwortete in der gleichen Sprache. Dann folgte er Alvan ins Deutsche, Russische und immer weiter. Es begann ein Wechselgespräch aus einer Sprache in die andere, von dem die Zuhörer bald nichts mehr verstanden, das aber auf Sir Alvan von unvergleichlicher Wirkung war. Er wurde sichtlich immer nervöser, und als sich schließlich mit der 26. Sprache seine Kenntnisse erschöpften, sprang er erregt auf. »Ladies und Gentlemen, das kann unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Mr. Sun ist ein Bluff – oder ein Wunder. Er beherrscht die Sprachen besser als ich, antwortet auf Sanskrit genauso geläufig wie in Urdu. Wie ist das möglich, Mr. Sun?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Sun Koh schlicht. »Ich bin auch nicht imstande, Ihnen zu sagen, wie die Sprachen heißen, in denen Sie mit mir gesprochen haben. Aber verstehen und gebrauchen kann ich sie.«
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Alvan sank fassungslos auf seinen Sitz zurück. Dafür sprang ein anderer Gast auf, dessen kräftig modellierte Stirn und lebhafte Augen die überragende Intelligenz verrieten. »Das ist sehr interessant. Beherrschen Sie zufällig auch die Sprache der Maya?« Sun Koh lächelte. »Ich wiederhole, ich weiß es nicht. Vielleicht fragen Sie mich etwas?« Der andere lachte wie über einen guten Witz. »Das ist leicht gesagt. Es gibt keinen Menschen, der diese Sprache spricht. Wir sind gerade erst dabei, sie lesen zu lernen. Es ist meine stärkste Liebhaberei. Vielleicht können Sie mir einen Wink geben. Ich wäre Ihnen jedenfalls sehr verbunden, wenn Sie mir nachher einige Minuten schenken würden. Joe Evans ist mein Name.« Sun Koh blickte interessiert zu ihm hin. »Mr. Evans? Ich werde mich Ihnen gern zur Verfügung stellen.« Evans dankte mit einer Verbeugung und nahm wieder Platz. Lady Houston forderte auf. neue Aufgaben zu stellen. Professor Marek, der große Mathematiker, rief: »Bitte die Wurzel von 403 440,9289.« »Aber Professor ...«, tadelte die Gastgeberin. »635,17«, sagte Sun Koh gleichgültig. Die Gäste blickten überrascht von Sun Koh auf den Professor, der sich über die Augen wischte und nickte. »Stimmt. Und der Kubus von l 274,6?« »2 070 721 736,936.« »Falsch!« rief Marek triumphierend. »Bitte rechnen Sie nach.« Der Professor zog seinen Zettel heraus, von dem er das Ergebnis abgelesen hatte, und begann zu rechnen. Plötzlich stutzte er. Seine Bewegungen wurden fahrig. Nach kurzem Zögern gestand er: »Verzeihen Sie, ich hatte mich verrechnet. Ihr Ergebnis stimmt. Unbegreiflich, wie Sie das ausrechnen können.« Die Gäste wagten kaum noch, Beifall zu spenden. Sie hatten diesen Fremden ursprünglich als eine Art Belustigung angesehen, und nun zeigte sich, daß er geistig alle Anwesenden überragte. Er schien wirklich allen Anforderungen gewachsen zu sein. Lachorin, der amtierende Schachweltmeister, ein asketisch wirkender Typ, machte sich bemerkbar. »Vielleicht hat Mr. Sun die Liebenswürdigkeit, mit mir eine Partie Schach zu spielen? Sagen wir zehn Minuten lang. Höchstens dreißig Sekunden pro Zug. Setze ich ihn in dieser Zeit nicht matt, so bekenne ich mich geschlagen. Einverstanden?« Sun Koh nickte. Lady Houston gab Befehle. Die Diener brachten ein großes Schachbrett herein, stellten die Figuren auf und verschwanden. Lachorin eröffnete mit einem weißen Königsbauer und spielte beim fünften Zug ein Muziogambit. Die Züge folgten sehr schnell. Sun Koh setzte mit erstaunlicher Sicherheit. Beim zwölften Zug war der Weltmeister gezwungen, einen Turm gegen einen Läufer zu opfern. Sein Spiel wurde nun merklich langsamer. Er nutzte die Zeit bis zur Grenze aus, während Sun Koh weiterhin nach kaum einer Sekunde seine Gegenzüge brachte. In der siebten Minute frohlockte Lachorin. Sein Gegner hatte einen entscheidenden Fehler begangen und verlor die Dame. Sun Kohs Gesicht sah man freilich nichts an. Es blieb undurchdringlich. In der achten Minute kündigte er an: »In zwei Zügen matt.« Lachorin wurde grau im Gesicht, prüfte und schüttelte den Kopf. Die Zuschauer fieberten vor Spannung. Lachorin überschritt seine Frist, aber es half ihm nichts. Der nächste Zug enthüllte seinen Konstruktionsfehler, und als Sun Koh abermals gezogen hatte, war das Spiel aus, und der Weltmeister bekannte sich verstört geschlagen. Lady Houston bat, dem Gast nunmehr eine Pause zu gewähren. Sie fand keinen Widerspruch. Im Grunde hatten nämlich alle Anwesenden das Empfinden, daß sich die Situation zu stark gewandelt hatte, um noch im Stil eines Varieteprogramms fortzufahren. Dieser geheimnisvolle Sun Koh war es wert, von einer anderen Seite genommen zu werden, und man war fest entschlossen, das unverzüglich zu tun. Deshalb drängte sich auch sofort eine Schar von Bewunderern um ihn, und Sun Koh wußte beim besten Willen nicht mehr, nach welcher Richtung er sich unterhalten sollte. Er war froh, als ihn Joe Evans mit einem Scherzwort für sich in Beschlag nahm und ihn aus der Menge heraus in einen der kleinen, friedlichen Nebenräume führte.
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* Sie nahmen in tiefen Sesseln Platz. »Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir etwas Zeit schenken«, begann Joe Evans. »Ich muß gestehen, daß ich erregt bin. Es würde eine entscheidende Wende in der Erforschung gewisser alter Kulturen bedeuten, wenn Sie auch die Sprache der Maya lesen und verstehen könnten. Vermutlich ist Ihnen bekannt, daß die Mayas ein seit vielen Jahrhunderten verschollenes Volk sind, das im heutigen Mittelamerika seinen Wohnsitz hatte. Die Mayas waren die Vorläufer der Azteken und Tolteken, jener Stämme, die durch Pizarro und seine Nachfolger fast völlig ausgerottet wurden, weil man ihr Gold haben wollte. Die spanischen Eroberer haben rücksichtslos gemordet, geraubt, gesengt und geplündert und dabei so ziemlich alles vernichtet, was eine alte, hohe Kultur geschaffen hatte, nicht zuletzt die Manuskripte. Nur ganz wenig ist uns geblieben, und aus diesem wenigen versucht man heute mühsam zu rekonstruieren. Ich habe zufällig die Kopie einer dieser kostbaren Handschriften bei mir, die freilich auch nur ein Bruchstück ist. Es handelt sich um das sogenannte Troano-Manuskript, das von Le Plongeon entdeckt und zuerst gedeutet wurde. Würden Sie bitte den Versuch machen, es zu lesen?« Sun Koh griff nach dem Blatt und warf einen Blick darauf. »Ja, das kann ich lesen«, sagte er, und anschließend las er fließend vom Blatt ab, als lese er seine Muttersprache in einem fremden, eigenartig melodiösen Idiom, weich, voll und mit einem Hauch von Melancholie. Als er schwieg, atmete Evans tief auf und sagte feierlich: »Mr. Sun, das war der größte Augenblick meines Lebens, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll. Ich vermag es kaum zu fassen, daß das Unglaubliche Wirklichkeit geworden ist. Können Sie den Inhalt dieses Schreibens auch in englisch wiedergeben?« Sun Koh nickte und begann fast ohne Stocken zu übersetzen: »Im 6. Jahre Kan, am 11. Muluk im Monat Zac fanden schreckliche Erdbeben statt, die ohne Unterbrechung bis zum 13. Chuen andauerten. Die Gegend der Schlammhügel, das Land von Mu, war das Opfer: Zweimal wurde es emporgehoben, und plötzlich war es dann über Nacht verschwunden. Das Meer wurde fortwährend durch vulkanische Gewalten aufgewühlt. Dadurch hatte sich das Land innerhalb gewisser Grenzen mehrmals an verschiedenen Stellen gesenkt und gehoben. Schließlich gab die Oberfläche nach, und zehn Länder wurden voneinander gerissen und verstreut. Unfähig, den gewaltigen Zuckungen der Erde standzuhalten, versanken sie mit ihren 64 Millionen Einwohnern. Dies geschah 8060 Jahre vor der Niederschrift dieses Buches.« »Wunderbar!« Evans seufzte. »Fast der Wortlaut von Le Plongeon. Ihre Kenntnisse werden der Wissenschaft unvergleichliche Dienste leisten. Wie sind Sie nur zu ihnen gelangt?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Sun nachdenklich, »aber mir ist, als sei das meine Muttersprache. Sie schwingt wie Musik in mir, wie ein Märchen, das wieder lebendig wird. Aber lassen wir das. Ich habe nun ebenfalls eine Bitte an Sie, Sir Evans. Man hat mir gesagt, ich sollte mich an einen Joe Evans wenden, von dem ich Aufschlüsse über meine zukünftigen Aufgaben erhalten würde. Ich weiß nicht, ob Sie damit gemeint sind. Können Sie mir Dinge sagen, die mich betreffen?« Evans schüttelte erstaunt den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. Ich sehe Sie heute zum erstenmal und weiß nicht mehr von Ihnen als das, was die Medien gebracht haben.« Sun Koh hielt ihm den Fetzen Pergament hin. »Kennen Sie das, oder stehen Sie in irgendwelcher Beziehung dazu?« Der Wissenschaftler prüfte aufmerksam, wandte das Stück hin und her und erklärte schließlich: »Wenn es nicht so rot wäre, würde ich zu behaupten wagen, daß ich es kenne.« »Als Sie es sahen, war es noch nicht mit Blut durchtränkt.« »Dann allerdings. Ja, ich weiß, um was es sich handelt. Vor einigen Tagen war ein Herr bei mir ...« »Mr. Garcia?« sagte Sun Koh, der Evans' Zögern bemerkte. »Das wissen Sie? Also ... Ja, es war Mr. Garcia. Er legte mir ein Pergament vor, das zwar erstaunlich gut erhalten war, aber sicher ein Alter von ungefähr zweitausend Jahren besaß. Es war, von einigen Abweichungen abgesehen, in der gleichen Schrift geschrieben wie das Troano-Manuskript. Denken Sie sich mein Erstaunen und meine Freude. Ich fragte Mr. Garcia nach der Herkunft. Er antwortete mir ziemlich kurz,
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daß es auf seinen Besitzungen auf Yukatan gefunden worden sei. Niemand habe es bisher übersetzen können, und nun habe er von meinen Forschungen gehört. Sie müssen wissen, daß ich außer Le Plongeon wohl der einzige bin, der sich intensiv mit diesem Gebiet beschäftigthat.« »Ist es Ihnen gelungen, das Dokument zu entziffern?« »Ich weiß nicht recht. Manches war mir durchaus undeutbar, zumal ich das Manuskript nur kurze Zeit in der Hand hatte und keine Abschrift anfertigen durfte. Ich glaube jedoch, im großen und ganzen hinter den Sinn gekommen zu sein. Ich will Ihnen gern sagen, was ich herausgelesen habe, möchte aber vorher betonen, daß mir nachträglich doch ernste Zweifel an der Echtheit gekommen sind. Der Inhalt ist – hm, gar zu ungeheuerlich.« Er lehnte sich zurück, blickte zur Decke und begann zu sprechen. »8500 Jahre nach dem Untergang des Landes Mu, der Heimat unserer Väter, im 8. Jahre Rotan, schreibe ich dieses Dokument zum Trost für jene, die nach mir kommen. Vor den Toren unserer Stadt stehen fremde Eroberer, die aus dem Norden kamen und sich Tolteken nennen. Die Stadt ist verloren und mit ihr das ganze Land. Wir werden in Knechtschaft wandern. Aber es ist beschlossen, daß noch heute die königlichen Geschwister mit ihren Kindern und ihrem Gefolge die Stadt verlassen werden, um in den Wald zu flüchten, an die Stätte der alten Königsburg, die den Feinden unerreichbar bleibt. Durch sie werden die Söhne Mas nicht aussterben, wie übel es auch unserem Volk ergehen mag. Fluch liegt über uns, seit die Königin Moo vor Aak flüchtete und gen Sonnenuntergang zog, aber die Weisen vom Dach der Erde schworen, daß dereinst wieder das Lächeln Mas über uns sein sollte. Nach tausend Jahren werden die mordgierigen Tolteken überwunden werden von neuen Eroberern, die von Norden kommen, und nach abermals tausend Jahren wird von Sonnenaufgang ein neues Geschlecht weißhäutiger Männer ins Land wandern und auch diese zu Sklaven machen. Der Stamm der königlichen Geschwister wird im Schoß des schützenden Urwalds immer wieder neue Reiser treiben bis zu dem Tag, da nur noch ein Sohn geboren wird und fremde Männer unser Volk bis auf ihn ausrotten werden. Dann werden sich die Weisen vom Dach der Welt seiner annehmen. Das aber wird geschehen 400 Jahre nach dem Jahr, in dem die verräterischen weißen Götter über das Meer kamen, und 2940 Jahre nach der Flucht der Königin Moo. Der Sohn Kohs aber wird gesegnet sein und wie eine Sonne über den Völkern werden. Wenn sich seine Geburt zum vierten Male erneuert, dann stelle er sich vor den Spiegel, der die Achsen des Viertelkreises bildet. Dann wird auf seiner Brust sein Schicksal und seine Berufung erscheinen, und er wird wissen, daß ihn die Gnade Mas zum König gemacht hat, denn zur selben Zeit wird sich das Land Mu wieder aus dem Ozean erheben. Die Länder des Ostens werden versinken, und wo jetzt das Meer rauscht, wird die Erde wieder zu blühen beginnen, und der Nachkomme Kohs wird einem neuen Volk ein segensreicher Herrscher sein.« Evans schwieg. Seine Worte hallten im Raum nach. Sun Koh hielt die Augen bedeckt. Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Evans mit belegter Stimme: »Das ist ungefähr im Wortlaut, was ich aus dem Dokument herauslas. Ich wollte, ich könnte die überzeugende Wucht der Prophezeiung besser zum Ausdruck bringen. Wenn es eine Fälschung ist, dann ist es eine der großartigsten, die ich kenne.« »Warum glauben Sie an eine Fälschung?« fragte Sun Koh leise. Evans beugte sich vor. »Sie können vielleicht nicht ganz übersehen, was in dem Dokument steht. Die Angaben sind einerseits präzis, andererseits ungeheuerlich. Nach der ersten Zeitangabe erfolgte die Niederschrift ungefähr 500 vor unserer Zeitrechnung. Woher wußte der Schreiber von der Invasion der Azteken, die tatsächlich etwa tausend Jahre später von Norden kamen und die Tolteken unterjochten? Woher wußte er, daß abermals tausend Jahre später Amerika von den Europäern erobert werden würde? Ich glaube nicht an solche Sehergabe.« »Europa ist sehr jung in solchen Dingen.« »Zugegeben«, sagte Evans eifrig, »aber deswegen braucht man noch lange nicht alles gutgläubig hinzunehmen. Da stehen nämlich noch ganz andere Dinge in diesem Manuskript. Haben Sie auf die Jahreszahlen geachtet? 400 Jahre nach dem Eindringen der Weißen in Mexiko, das wäre also gegen 1950,
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werden alle Mayas getötet bis auf den Sohn Kohs, der sich Sonne, also in unserer Sprache Sun ... Donnerwetter!« Er fuhr aus seinem Sessel halb hoch und starrte sein Gegenüber mit großen, ungläubigen Augen an. Dann sank er wieder zurück und sagte mit heiserer Stimme: »Das nenne ich ein merkwürdiges Zusammentreffen. Sie heißen Sun?« »Sun Koh«, bestätigte Sun ausdruckslos. »Warum?« »Ich weiß es nicht. Bitte vollenden Sie.« Evans schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin. In seinem Gehirn wälzten sich erstaunliche Überlegungen. Dieser junge Mann vor ihm, vollkommen in jeder Hinsicht, offensichtlich das Produkt einer alten Kultur, der das verschollene Maya wie seine Muttersprache gebrauchte und zahlreichen Reportagen nach als Kind aus Yukatan geraubt worden war ... Nein, das mußten Hirngespinste sein. Er raffte sich zusammen und murrte fast unfreundlich: »Nach den Angaben des Dokuments starben die letzten Mayas vor ungefähr zwanzig Jahren – abgesehen von dem Kind, dessen Alter nicht feststeht. Mit der vierten Geburtserneuerung dieses Kindes sollen östliche Länder untergehen und das Land Mu wieder aus dem Meer auftauchen. Das Land Mu ist jener Erdteil Atlantis, der einst zwischen Europa und Amerika versank. Er soll wieder aufsteigen. Das aber ist unmöglich!« »Wieso unmöglich?« fragte Sun Koh sanft. »Es ist das Schicksal dieser Erde, daß Kontinente versinken und andere aufsteigen. Kontinente sind brüchige Schollen. Was gehört dazu, um Katastrophen auszulösen? Vielleicht nicht viel, vielleicht nur Störungen in einem labilen Gleichgewicht, das einige Jahrtausende bestanden hat. Und die Völker sind gerade heute dabei, solche Störungen mit allen Mitteln gewaltsam zu erzeugen. Denken Sie an die Atombomben, Wasserstoffbomben, Neutronenbomben, mit denen man jetzt ununterbrochen experimentiert, jede einzelne neben allem anderen ein Schock, der an der Erde rüttelt. Ich las heute morgen in einem Magazin, daß im letzten Jahr über tausend schwere Wirbelstürme in Amerika gezählt wurden, während in früheren Jahrzehnten der jährliche Durchschnitt nur hundert betrug. Ich las von einem Hurrikan über dem Atlantik, dessen Innenzone einen Durchmesser von 850 Kilometer besaß, obgleich sonst diese Zonen unter 50 Kilometer bleiben. Und die menschlichen Angriffe auf das natürliche Gleichgewicht werden laufend mit immer stärkeren Mitteln fortgesetzt. Ist es wirklich unmöglich, daß eines Tages das bisherige Gleichgewicht endgültig gestört wird und sich das Gesicht der Erde unter tiefgreifenden Katastrophen verändert?« Evans seufzte. »Die Auswirkungen dieser fortgesetzten Attacken lassen sich tatsächlich nicht absehen. Die fortschreitende Vergiftung der Atmosphäre und des Lebens – ich persönlich nenne das organisierten langsamen Massenmord im Namen einer angeblichen Friedenssicherung – und die schwerwiegenden Wetterveränderungen stehen außer Zweifel, und es wäre vielleicht doch möglich ... Ja, möglich wäre es schon ...« Seine Gedanken liefen ohne Worte weiter. Sun Koh ließ ihm Zeit. Nach einer Weile fragte er: »Was ist eigentlich mit der vierten Geburtserneuerung gemeint?« Evans kehrte in die Gegenwart zurück und erklärte lebhafter: »Der menschliche Körper baut sich innerhalb von sieben Jahren völlig neu auf, so daß das Leben gewissermaßen in einem Rhythmus verläuft, der durch die Sieben bestimmt wird, jener Sieben, die bei allen Völkern eine so große Rolle spielt. Dabei scheint festzustehen, daß der Beginn der vierten Erneuerung, also das 28. Lebensjahr, besonders beim Mann eine besondere Bedeutung besitzt. Hier scheint ein Höhepunkt des Lebens zu liegen. Insofern ist das Dokument völlig klar. Die Erhebung von Atlantis soll im 28. Lebensjahr des letzten Maya stattfinden.« Sun Koh hielt ihm noch einmal das Stück Pergament hin. »Von diesen Zahlen haben Sie noch nicht gesprochen.« »Richtig«, bestätigte Evans. »Ich habe sie fast vergessen. Sie standen nämlich ohne Zusammenhang unter dem Bericht, schienen aber von dem gleichen Schreiber zu stammen. Was sie bedeuten, weiß ich nicht. Ich vermute, geographische Ortsbestimmungen. Es waren zwei Stück. Sie besitzen nur die eine.« »Ja. Noch eine Frage, Sir Evans. Was ist das für ein Spiegel, der die Achsen eines Kreises bildet?« Der Wissenschaftler hob die Schultern.
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»Da bin ich überfragt. Man könnte an die Spiegelordnung in einem Prismenglas denken, aber das scheint mir nicht zulässig zu sein. Der Mann, von dem hier die Rede ist, soll ja in einen Spiegel blicken und dabei eine Schrift von seiner Brust ablesen. Das müßte geradezu Spiegelschrift sein. Einen Spiegel, mit dem man unmittelbar normale Schriftzüge ablesen kann, bei dem also keine Vertauschung von rechts und links stattfindet, gibt es nicht.« »Ein kleiner Irrtum, Sir Evans«, sagte plötzlich eine Frau mit spöttischer Stimme. Die beiden Männer fuhren herum und sprangen auf. Lady Houston war unbemerkt eingetreten und stand jetzt lächelnd vor ihnen. »Ein Irrtum«, wiederholte sie. »Erstaunlich genug, daß unsere Leuchte der Wissenschaft das nicht weiß. Noch erstaunlicher ist freilich, daß sich die Herren hier über Toilettenfragen unterhalten, während ich sie im ganzen Haus suche.« »Aber Mylady«, sagte Joe Evans. »Wir unterhalten uns über ernste Dinge.« »Wollen Sie damit bestreiten, daß es Ernsteres gibt als die Toilette einer Frau?« »Nie würde ich solchen Frevel wagen. Aber im Ernst – Sie nannten meine Behauptung einen Irrtum?« »Mit Recht«, bestätigte sie. »Es gibt solche Spiegel. Kommen Sie, meine Herren, ich will es Ihnen beweisen.« Sie folgten Lady Houston über Gänge und Treppen in das obere Stockwerk und in ein luxuriöses Ankleidezimmer, durch dessen halbgeöffnete Tür das anliegende Schlafzimmer zu sehen war. Der Ankleideraum enthielt alles, was gut und teuer war. Lady Houston wies auf den großen Mittelspiegel und erläuterte: »Da haben Sie den Spiegel, der die Achsen eines Viertelkreises bildet. Es ist kein ebener Spiegel, sondern er besteht aus zwei Spiegeln, die absolut genau im rechten Winkel gegeneinander gesetzt sind. Blicken Sie doch einmal hinein, Sir Evans.« Der Wissenschaftler stellte sich vor den Spiegel, betrachtete sein Bild, schüttelte den Kopf und bemerkte schließlich: »Hm, ganz in Ordnung scheint der Spiegel aber nicht zu sein. Ich komme mir ganz fremd vor.« »Das glaube ich Ihnen«, sagte sie lachend. »Aber so, wie Sie sich jetzt sahen, sehen Sie wirklich aus. So sehen wir Sie. Der Spiegel, den Sie zu Hause haben, gibt Ihnen ein falsches Bild. Rechts und links sind vertauscht. Sie stehen Ihrem Spiegelbild nicht so gegenüber wie zum Beispiel mir. Sie sehen sich verkehrt. Nur dank unserer langjährigen Gewohnheit nehmen wir das als Selbstverständlichkeit hin. Aber versuchen Sie einmal, sich den Nacken auszurasieren, dann werden Sie schnell merken, wie unnatürlich das Spiegelbild ist.« »Das ist nicht abzustreiten«, gab Joe Evans zu. »Aber trotzdem diese Veränderungen? Ich sehe doch nicht so aus?« »Und ob«, beharrte sie. »Vor Ihrem Spiegel fallen Ihnen gewisse Dinge gar nicht auf, weil sich Ihr Spiegel damit begnügt, in großen Umrissen betrogen zu werden. Aber hier haben Sie einen unbarmherzigen Richter, dem das Auge willig folgt. Jede Unregelmäßigkeit tritt ins Bewußtsein. Sie wissen doch, daß das Gesicht des Menschen nur selten regelmäßig gebaut ist. Die eine Gesichtshälfte ist stärker entwickelt als die andere, die Nase sitzt etwas schief, die Augen sind ungleich groß, die Lippen haben auf jeder Seite einen anderen Schwung und so fort. Die gewöhnlichen Spiegel vertuschen das, dieser Spiegel aber nicht. Das ist sein Vorzug – und sein Nachteil.« »Und der Trick liegt in der Achsenstellung?« »Gewiß. Die Spiegel bilden einen rechten Winkel. Dadurch wird das einfallende Bild auf die Gegenseite geworfen und damit umgekehrt. Ganz simpel.« »Fabelhaft!« murmelte Joe Evans. »Was meinen Sie, Mr. Sun?« »Ich bewundere die Weisheit jenes Mannes, der vor Jahrtausenden diese technische Kleinigkeit sah.« Bevor Sir Evans antworten konnte, wandte sich Lady Houston an ihn: »Ach, mein Lieber, da fällt mir eben ein, daß ich Mr. Coutham eine Unterredung versprochen hatte. Würden Sie so liebenswürdig sein und ihm sagen, daß ich gleich komme?« Evans verstand, verbeugte sich und ging. Sun Koh blieb mit Lady Houston allein. Sie reichte ihm einen Umschlag. »Darf ich zunächst meinen Verpflichtungen nachkommen. Zehntausend Pfund.« »Danke«, sagte Sun Koh zurückhaltend, während er sich verneigte. »Ich hoffe, Ihnen eines Tages das Geld zurückgeben zu können.« Sie lächelte ihn gewinnend an.
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»Sie haben es verdient, und ich besitze mehr Geld, als ich verbrauchen kann. Was haben Sie eigentlich für Zukunftspläne?« »Darüber habe ich noch keine Entschlüsse fassen können.« Ihre Augen brannten förmlich auf seinem Gesicht, und ihre Stimme lockte: »Ich hoffe, Sie oft bei mir zu sehen.« »Vielleicht«, erwiderte er mit leiser Abwehr. »Mein Schicksal kann mich morgen weitergeführt haben. Wer vermag schon in den nächsten Tag zu schauen?« Sie trat dicht an ihn heran und legte ihre Hände auf seine Arme. »Bleiben Sie hier, Mr. Sun. Lassen Sie mich dafür sorgen, daß alle Ihre Wünsche erfüllt werden. Sie können auch reisen, wenn Sie wollen. Ich besitze eine Yacht. Sie wird uns beide um die Welt tragen und uns die Schönheiten der Erde erschließen.« Er sah in ihren Augen die Flammen verheißender Leidenschaft auflodern. Sein Gesicht verschloß sich stärker. Seine Stimme wurde kühl und abweisend. »Ihr Anerbieten ist sehr liebenswürdig, aber ich kann leider keinen Gebrauch davon machen. Es steht anders geschrieben. Ich muß meiner Bestimmung folgen.« Sie drängte sich dichter an ihn, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. Ihre Stimme wurde weich und schmelzend, bebend vor innerer Glut. »Sun, seien Sie nicht töricht. Bleiben Sie bei mir, und Sie werden es nicht bereuen. Ich habe noch nie einen Mann geliebt, aber jetzt kamen Sie und ...« Er wollte zurücktreten, aber sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, preßte sich an ihn und drängte leidenschaftlich: »Ich liebe dich, Sun. Ich liebe dich. Ich biete dir alles – meinen Reichtum, meine Macht, meine Schönheit. Ich ...« Er löste mit einem sanften Ruck ihre Arme und trat zurück. Sein Gesicht war hart, aber in seinem Blick lag Mitleid, und seine Stimme schonte behutsam. »Es tut mir leid, Lady Houston, aber unsere Wege führen nicht zusammen.« Sie stand einen Augenblick, als habe sie ein Schlag getroffen. Dann richtete sie sich auf und zischte: »Sie verschmähen mich? Sie wagen es, mich zurückzuweisen? Das sollen Sie mir büßen. Hüten Sie sich vor mir. Was ich will, bekomme ich. Ich will Sie haben, als Geliebten, als Spielzeug, und ich werde Sie haben, Sie hochmütigen Burschen. Auf den Knien sollen Sie vor mir betteln, daß ich Sie erhöre.« Sun Koh lächelte, gutmütig bedauernd und zugleich unendlich überlegen. Das raubte ihr völlig die Besinnung. Sie rief: »Sie lachen? Was erlauben Sie sich? Ich schwöre es Ihnen an dieser Stelle: So wahr ich hier stehe, so wahr werde ich an Ihren Fersen bleiben und jeden Ihrer Schritte bewachen. Sie werden meine Hand zu spüren bekommen und nicht eher Ruhe haben, bis Sie um Gnade winseln. Das schwöre ich Ihnen.« In Sun Kohs Gesicht trat Widerwillen. »Die Komödie ist weit genug gegangen, Mylady. Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen.« »Aber die zehntausend Pfund haben Sie genommen«, höhnte sie. »Glauben Sie im Ernst, daß es mir auf Ihre Zirkuskunststücke angekommen ist? In meiner Nähe wollte ich Sie haben. Zehntausend Pfund ist mir ein hübscher Liebhaber schon wert.« Sun Kohs Gesicht wurde noch um einen Schein verschlossener. Er zog den Umschlag aus der Tasche, den sie ihm vorher überreicht hatte, und zerriß ihn in kleine Fetzen, die er auf den Boden flattern ließ. Dann machte er eine kleine Verbeugung und schritt hinaus. Lady Houston stand wie zur Salzsäule erstarrt.
4. Sun Koh wanderte durch die Straßen. Es war bereits nach Mitternacht in der stillen Zeit, in der sich die soliden Leute bereits schlafen gelegt hatten und die Nachtschwärmer noch nicht an Heimkehr dachten. Der Verkehr war gering. Als er auf die Tower Bridge einschwenkte, sah er auf dem Geländer der Brücke einen Mann hocken. Es war dunstig über der Themse, so daß sich nichts Genaues erkennen ließ. Sun Koh wunderte sich über die merkwürdige Haltung des Mannes. Ihre Bedeutung wurde ihm in der nächsten
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Sekunde klar, als der Mann plötzlich lautlos verschwand. Die Tiefe hatte ihn verschluckt. Eine Kleinigkeit später verrieten ein Aufklatschen und ein hohles Gurgeln, daß ein Mensch in den Tod gesprungen war. Sun Koh lief mit schnellen Schritten heran und beugte sich vor. Das Wasser war frei. Mantel und Hut fielen zu Boden. Er setzte mit einem Hechtsprung über das Geländer und raste ebenfalls in die Tiefe. Der Lebensmüde war nicht schwer zu finden. Er kam gerade wieder hoch, als sein Retter die Wasserfläche berührte. Ein paar kräftige Schwimmstöße, ein Hinabtauchen, dann faßte Sun Koh den Arm des Mannes. Fünf Minuten später standen sie beide triefend am Ufer. Sun Koh, der den anderen wie ein Kind über seine Schulter geworfen und ihn so herausgetragen hatte, fragte freundlich: »Wer sind Sie? Warum sind Sie ins Wasser gesprungen?« »Dr. Peters«, murmelte der Gerettete mechanisch, noch halb benommen und recht mürrisch. »Sie hätten mich drin lassen sollen. So leicht ist es nicht, die physische Angst zu überwinden. Nun geht alles noch einmal von vorn los.« Es war die Sprache eines gebildeten Menschen. Der Akzent klang fremd. »Sind Sie krank?« »Nein.« »Warum wollen Sie dann Ihr Leben vernichten?« »Ich bin mit allem am Ende«, sagte Peters. »Mir geht es schlecht. Ich habe seit Tagen keinen Penny mehr in der Tasche.« Sun Koh schüttelte den Kopf und erwiderte: »Das ist, doch kein Grund zu sterben. Mir geht es nicht besser als Ihnen. Genaugenommen weiß ich noch nicht einmal, wie ein Penny aussieht.« »Sie wollen wohl Ihren Spaß mit mir treiben«, sagte Peters bitter. »Wahrscheinlich sind Sie es nur gewohnt, in Pfunden zu rechnen. Lassen Sie mich allein. Ich kann Ihnen noch nicht einmal danken.« Sun Koh dachte nicht daran, diese nasse, zitternde Elendsfigur sich selbst zu überlassen. »Das war kein Witz. Mir geht es wirklich genauso wie Ihnen. Trotzdem lebe ich, und ich denke gar nicht daran, darauf zu verzichten.« »Ich glaube nicht, daß Sie die Bitternis der Enttäuschungen und die Freudlosigkeit der verzweifelten letzten Wochen kennen.« »Erzählen Sie.« »Gut, es kommt jetzt auf fünf Minuten mehr oder weniger nicht an. Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, wenn ...« »Nicht hier«, unterbrach Sun Koh, während er ihn beim Arm faßte. »Wir wollen hier nicht stehenbleiben. sondern zum Hotel gehen. Eine Erkältung ist selbst für einen Selbstmörder unangenehm.« Über das hagere Gesicht des anderen ging die erste, schattenhafte Andeutung eines Lächelns. »Ihren Humor möchte ich haben, dann wäre mir vielleicht manches leichtergefallen.« Sie gingen zur Brücke hinauf, wo Sun Koh seine Sachen einem neugierigen Passanten abnahm. Während sie anschließend durch die Straßen zum Excelsior gingen, erzählte Dr. Hans Peters seine Geschichte. Er hatte studiert, seinen Doktoringenieur gemacht und war voller Zuversicht und Pläne nach England gegangen. Innerhalb eines Jahres gelangen ihm einige kleinere Erfindungen, die von seiner Firma ohne besonderes Entgelt als Betriebsverbesserungen übernommen wurden. Dann glückte ihm eine große Sache, von der sich Reichtum erhoffen ließ. Er übergab sie vertrauensvoll seinen Direktoren. Sie legten ihn herein. Er erhielt ein Trinkgeld, dazu dank der erstklassigen Rechtsanwälte seiner Direktoren den Nachweis, daß selbst das eine unverdiente Gnade war. Als er Lärm schlug, wurde er entlassen. Er versuchte es bei einem Großunternehmen. Eine neue bedeutende Erfindung glückte ihm. Das Unternehmen nahm sie für sich in Anspruch. Es besaß genug Geld, um einen Prozeß durch alle Instanzen zu führen. Als er in seiner Verbitterung unbequem wurde, wurde plötzlich wegen Spionageverdacht gegen ihn ermittelt. Man konnte ihm nichts nachweisen, aber das Gerücht genügte. Durch die Publizität des Falles war er gebrandmarkt und fand keine andere Stellung. Er schlug sich mühsam durch, aber er besaß nicht die Kraft anderer. Und nun hungerte er seit Tagen. »Das ist mein Schicksal«, sagte er leise. »Ich glaube, daß ich eine besondere Begabung für technische Erfindungen besitze. Die Ideen fliegen mir nur so zu. Ich bin erst sechsundzwanzig, aber ich müßte ein reicher Mann sein. Ich bin es nicht, weil mir der Sinn für das Geschäftliche völlig abgeht. Offen gestanden – ich fürchte mich auch etwas vor den Menschen und ihrer Gemeinheit. So wird man mir immer wieder meine
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Erfindungen abnehmen und mich an die Wand drücken, und ich werde mein Leben lang ein armer Angestellter bleiben. Davor graust es mir. Das Leben ist zu einförmig und zu bitter, um es noch ein Menschenalter zu tragen. Nein, dann schon lieber den schnellen Tod. Mögen andere meine Erfindungen machen.« Sun Koh betrachtete im Licht der Straße das Gesicht seines Begleiters. Es war jung, wenn es auch hohl und verfallen wirkte. Die untere Partie war wenig entwickelt, der Mund weich und zart, fast mädchenhaft, aber die Stirn von eindrucksvoller, hoher Wölbung, die Stirn eines Denkers und Grüblers. Der Körper war schlank und mittelgroß, sichtlich schlecht genährt und leicht gebeugt. »Haben Sie keinen Freund gefunden, der Ihren Mangel an Energie und geschäftlicher Gewandtheit hätte ausgleichen können?« »Nein«, erwiderte Peters bitter. »Meine Freunde waren Menschen meiner Art, und die, die sich Freunde nannten, waren zu geschäftsklug und zu wenig Freund. Ich mag die geldgierige Heuchelei der sogenannten Freunde nicht. Die Technik des Betrugs ekelt mich an. Erst sind sie freundlich und voller Interesse, so daß man denkt, man könnte ihnen vertrauen. Sobald man aber das Geheimnis ausgeplaudert hat, ist man es los und fliegt hinaus. Es ist alles so widerlich und so hoffnungslos. Sehen Sie, da ist mir zum Beispiel eingefallen, wie man das gefährliche Abtrudeln von Flugzeugen unmöglich machen kann. Das ist eine Erfindung, die sogar die Tragflächen überflüssig macht. Das Ganze ist eine lächerliche Kleinigkeit, kostet ein paar Pfund und bringt Millionen ein. Nur mir nicht, obgleich ich diese Erfindung sogar habe patentieren lassen. Entweder lacht man mich aus, oder man wendet einen Trick an, oder man hängt mir einen Prozeß an, den ich nicht durchstehen kann. Nein, ich verzichte.« »Das werden Sie nicht tun«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Ihr Vertrauen zu sich und zu den Menschen wird sich schon wieder stärken. Aber jetzt sind wir angelangt.« Peters blieb stehen und blickte von seinem Retter auf das Hotel. »Hier wohnen Sie? Wer – wer sind Sie?« »Ich heiße Sun Koh.« Peters schwieg eine Weile, während seine Augen Sun Koh mit neuem Interesse prüften. Dann murmelte er: »Der sind Sie? Das ahnte ich nicht. Ich las von Ihnen in den Zeitungen.« »Die Zeitungen sind mir dankbar für die Sensationen, die ich ihnen liefere«, sagte Sun Koh lächelnd. »Kommen Sie!« »Ich?« wehrte Peters erschreckt ab. »Ich soll da hineingehen? In dem Aufzug? Unmöglich! Man wird mich hinauswerfen.« Sun Koh nahm ihn beim Arm und sagte bestimmt: »Sie kommen mit. Wenn Sie sich in das Wasser gewagt haben, werden Sie sich doch wohl nicht vor einem Portier fürchten.« Sein Griff ließ keinen Widerstand zu. Arm in Arm gingen die beiden Männer in das Hotel hinein, ein seltsam verschiedenes Paar und doch so weit übereinstimmend, daß ihre nasse Kleidung keinesfalls den Ansprüchen eines ersten Hauses genügte. Niemand trat ihnen entgegen, der ihnen den Zutritt verwehrte. Der Türportier dachte an das Schicksal seines Kollegen und verbeugte sich tief. Der Empfangschef schloß schnell die Augen, damit sie ihm nicht herausfielen und daß er nichts zu sehen brauchte. Die Boys stießen sich heimlich an und grinsten vor Vergnügen und Bewunderung. Die wenigen Gäste schließlich genossen dankbar und amüsiert die neue Sensation, die ihnen der geheimnisvolle Fremde bot. Auf keinen Fall hätte es jemand gewagt, ein mißbilligendes Wort zu äußern. Trotzdem atmete Peters erlöst auf, als sie sich endlich im Wohnraum, von Sun Kohs Appartement befanden. Er seufzte humorvoll. »Offen gesagt, ich habe eine Heidenangst ausgestanden. Mir kann ja eigentlich nicht mehr viel passieren, aber es scheint mir leichter zu sein, ins Wasser zu gehen, als in diesem Aufzug ins Excelsior. Und Sie behaupten, Sie hätten kein Geld?« Sun Koh lachte. »Soll ich meine Taschen ausleeren? Sie werden nur eine unbezahlte Rechnung finden. Aber keine Sorge, das Geld wird sich schon noch einstellen. Sie steigen jetzt erst einmal in die Wanne, und dann werden wir essen. Kleider lege ich Ihnen heraus.« Peters atmete tief auf.
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»Gut, wie Sie wollen. Von Ihnen geht eine Lebenskraft aus, die selbst mich miesen Greis wieder munter macht. Ich für meine Person lehne jede Verantwortung ab – und die Themse wird ja nicht gleich austrocknen.«
* Eine gute halbe Stunde später saßen sich Sun Koh und Peters am gedeckten Tisch gegenüber. Peters sah jetzt erheblich manierlicher aus. Sun Kohs Anzug war für ihn zu groß, aber er paßte noch erträglich. Er aß – wie ein Halbverhungerter ißt, den seine Erziehung daran hindert, gleich alles auf einmal hinunterzuschlingen. Er aß mit einer tiefen Andacht, und jeder Bissen schien seine Wangen um eine Kleinigkeit mehr zu runden und in seinen Augen einen neuen Lebensfunken zu zünden. Sie plauderten, und Peters wußte so gescheit und geistvoll zu erzählen, daß sich Sun Koh immer von neuem wunderte, wie dieser Mann zu einem Verzweiflungsschritt hatte kommen können. Offenbar gehörte er zu den Menschen, die nur auftauen, wo sie restlos und hingebungsvoll vertrauen. Sie hatten ihre späte Mahlzeit eben beendet, als es an der Tür klopfte und Hal Mervin hereinhuschte. Sun Koh, der den schlanken, wendigen Jungen gut leiden konnte, machte ihn in aller Form mit seinem Gast bekannt. Hal war verlegen und druckste herum. Schließlich platzte er heraus: »Ich hätte was für Sie, Mr. Sun, aber...« Sun Koh verstand den schiefen Blick, den Hal auf Peters warf. »Du darfst ruhig reden. Doktor Peters wird dich nicht unterbrechen.« »Hm, es ist nur«, würgte Hal, »es ist nur, weil Sie doch gestern sagten – von wegen Zartgefühl und so weiter ...« »Zartgefühl und so weiter?« wunderte sich Sun. »Nun ja, von wegen des Geldes«, sagte Hal in dem Versuch, seine Hemmungen zu überwinden. »Sie sagten doch gestern früh, daß Sie kein Geld hätten. Nun war ja Mr. Evans da, aber ich habe mir gedacht, daß man von Geld nie zuviel haben kann, und ...« »Der geborene Philosoph«, sagte Sun Koh lächelnd. »Im übrigen nur keine Hemmungen. Ich besitze noch immer keinen Penny. Also zur Sache.« »Fein.« Hal strahlte. »Da habe ich's also doch richtig gemacht. Da war nämlich heute abend ein Reporter bei mir ...« »Bei dir?« »Klar, Sir. Sie wissen doch, was man über Sie schreibt. Aber im Grunde weiß niemand was Gewisses. Deswegen haben wir natürlich seit gestern die Reporter auf dem Hals. Sie wollten alle an Sie heran, aber da Sie keinen sehen wollten, war nichts zu machen. In der Hinsicht geht nichts über ein Excelsior. Der Wunsch des Gastes ist Befehl, und was sonst noch alles in der Hausordnung steht. Am Eingang sind sie rausgefeuert worden, aus den Gängen haben wir sie geholt, vom Dach und was weiß ich. Ist ja auch keiner an Sie herangekommen. Na, und deswegen hat sich eben heute einer an mich herangemacht. Daily Mail. Hundert Pfund hat er mir geboten, wenn ich die Sache managen würde. Hundert Pfund sind kein Pappenstiel, aber deswegen war's nicht. Er will tausend Pfund an Sie zahlen, wenn Sie ihm ein Interview geben. Na, und weil Sie sagten, Sie hätten kein Geld – tausend Pfund sind bei manchem das letzte –, da habe ich mir eben gedacht, es ist besser, wenn ich Sie erst einmal frage. Er wartet unten.« Hal schwieg, sichtlich erleichtert, daß er seinen Vers aufgesagt hatte. Er blickte erwartungsvoll auf Sun Koh. Und Sun Koh blickte heiter zurück. »Du bist ein geschäftstüchtiger junger Mann, Hal. Sie sollten sich an ihm ein Beispiel nehmen, Doktor Peters. Tausend Pfund? Warum nicht? Bring den Reporter her. Aber vergiß nicht, dir deine Provision geben zu lassen.« Hal salutierte strahlend. »Fein, Sir! Ich sause! Die hundert Pfund sind mir sicher. Toi, toi – und vielen Dank!« Einige Minuten später trat der Reporter ein, ein junger, beweglicher Mann, sehr salopp gekleidet, der Dutzende von Fragen stellte. Anfangs war er befangen, aber er taute schnell auf. Sein Bleistift flog über das
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Papier. Eifrig notierte er alles, was Sun Koh in diesen Tagen über sich erfahren hatte oder vermutete, was er zu den verschiedenen Fragen zu sagen hatte und was er beabsichtigte. Sun Koh sprach sehr offen. Nur die Prophezeiung vom Wiederaufstieg des Erdteils Atlantis verschwieg er. Zum Schluß zückte der Reporter seinen Scheck und bedankte sich in überschwenglichen Worten. »... haben mich persönlich durch Ihr Entgegenkommen mehr verpflichtet, als Sie ahnen. Das ist die Reportage meines Lebens. Das wird mich hochbringen. Aber jetzt muß ich mich beeilen. Nur noch eine Bitte: Wenn Sie wieder etwas erleben, denken Sie an mich. Wir honorieren großzügig, wie Sie sehen, und wenn wieder einmal was anliegt...« »Warten Sie«, unterbrach Sun Koh, »ich habe noch eine Frage. Verstehen Sie etwas von technischen Dingen, besonders vom Flugzeugwesen?« Der Reporter hob die Schultern. »Unsereins versteht von immer mehr immer weniger. Meinen Sie in bezug auf eine Reportage?« »In gewissem Sinn, ja. Welche Bedeutung hätte für die Öffentlichkeit eine Erfindung, durch die Flugzeuge trudel- und absturzsicher werden, selbst wenn sie die Tragflächen verlieren?« »Große Sache!« versicherte der Reporter, ohne zu überlegen. »Ganz große Sache! Für uns natürlich nur eine einmalige Sensation, aber für den Erfinder – Donnerwetter, der möchte ich sein. Gibt's so etwas? Wissen Sie etwas? Was wissen Sie? Eine Andeutung nur. Ich biete jedes Honorar, notfalls auch das Doppelte.« »Nichts für Sie«, lehnte Sun Koh ab. »Wenn es für die Presse reif ist, werde ich Sie verständigen. Wiedersehen.« Der Reporter warf beschwörend die Arme hoch. »Aber nicht doch, Mr. Sun. So geht es nun auch wieder nicht. Erst machen Sie mich neugierig, und nun wollen Sie mich an die Luft setzen. Ohne Tragflächen absturzsicher? Das ist eine Schlagzeile! Eine Sensation! Zweitausend Pfund für einige Andeutungen. Ich beschwöre Sie, nur eine Andeutung!« Sun Koh nahm ihn kameradschaftlich bei der Schulter und schritt mit dem Widerstrebenden zur Tür. »Nichts mehr. Für heute ist genug erzählt. Gute Nacht!« »Königssohn des ältesten Kulturvolkes – der letzte Maya – umarmt Zeitungsreporter und begleitet ihn eigenhändig zur Tür«, murmelte der Reporter und griff wieder nach seinem Bleistift. Sun Koh drückte die Tür hinter dem Mann zu und blickte auf Peters. Und dann lachten sie beide wie auf Kommando – der lebensmüde Erfinder und der geheimnisumwobene Erbe von Atlantis.
* Eine Weile später klopfte es. »Herein!« Über die Schwelle schob sich ein erstaunliches Individuum, ein Mann, der eher wie ein aufgetakeltes Knochengerüst als wie ein Mensch aussah. Die Kleider schlotterten an seinem Körper, und man hatte den Eindruck, daß sie bei einer unglücklichen Bewegung herunterfallen konnten. Selbst der hungrigste Kannibale hätte angesichts dieser traurigen Gestalt auf seine frevlerischen Gelüste »mangels Masse« verzichtet. Nur die Nase war stattlich. Sie sprang übermäßig groß aus dem hohlen Gesicht heraus und gab ihm etwas Verzerrtes, und der niedrige Schädel mit dem glatten Haar vervollständigte den halb komischen, halb unheimlichen Eindruck. Zu der grotesken Erscheinung paßte die dünne, rauhe Stimme, mit der der Mann jetzt loslegte. »Guten Abend. Ich bin schwer krank, damit Sie es nur gleich wissen. Magen- und Lungenkrebs im letzten Stadium. Der Arzt gibt mir nur noch einige Tage. Nichts mehr zu hoffen. Gevatter Tod zieht sich schon die Handschuhe an. In einigen Wochen bin ich ohnehin verfault, hinüber, futsch. Wer weiß, ob es die Würmer noch für wert halten, an mir herumzuknabbern.« »Wozu erzählen Sie uns das?« fragte Sun Koh mit starrer Miene, während er die fortwährend schlenkernden Hände des Mannes beobachtete. »Wozu?« Der Dürre grinste fahl. »Natürlich bloß, damit Sie sich wegen mir nicht erst aufregen. Sie brauchen mich nicht aus den Latschen zu kippen. Das kommt von ganz allein, und wenn schon, dann ist es
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mir auch egal. Mir ist überhaupt alles egal. Mit mir können Sie anstellen, was Sie wollen. Aber Sie werden aus mir nichts herauskriegen. Wenn Sie mich derb anfassen, ist es mit mir aus. Es ist also besser, wenn wir uns in aller Ruhe unterhalten.« »Was wollen Sie?« »Ein Geschäft, ein Bombengeschäft, das Sie zum reichen Mann macht. Ich ...« »Sie?« »Nun, was heißt Sie?« Der Besucher grinste. »Jim Knudge, das wäre also mein Name, hat noch niemals zehn Pfund beieinander gehabt. Aber ich komme von einem guten Bekannten. Von Señor Garcia, falls Sie es genau wissen wollen.« Sun Koh streckte sich überrascht. Dann griff er unwillkürlich in die Tasche. Dort befand sich die Selbstladepistole, die er beim Haus Garcias dem ersten Angreifer abgenommen hatte. Er entsicherte mechanisch. Seine Nerven meldeten Gefahr, als der Name Garcia erklang. Die Stimme des Dürren wurde nun sachlicher. »Sie besitzen ein Stück Pergament, das Señor Garcia gehört. Der Señor ist Sammler von alten Handschriften. Er besitzt das Dokument, von dem Ihr Fetzen abgerissen ist. Wenn Sie schon jemals gesammelt haben, werden Sie verstehen, daß der Señor großen Wert darauf legt, das Schriftstück wieder in Ordnung zu bringen. Sie brauchen es ja nicht, und einen Anspruch haben Sie auch nicht darauf. Señor Garcia will aber großzügig sein und Ihnen fünfhundert Pfund zahlen, wenn Sie das Stückchen freiwillig zurückgeben.« Stille herrschte im Raum. Sun Koh schien intensiv nachzudenken. Peters lächelte vor sich hin. Das Geld schien hier in Strömen hereinzufließen zu dem Mann, der eben noch keinen Penny sein eigen genannt hatte. Jim Knudge wechselte nach einer Minute seine Fußstellung und fuhr vertraulich aufmunternd fort: »Nun, wie ist's? Sie sind natürlich von soviel Großmut überrascht. Ich versichere Ihnen, daß Sie das Geld bekommen, bar. Ich habe es bei mir. Soll ich ...« »Lassen Sie die Hand von der Tasche«, befahl Sun Koh leise, aber nachdrücklich. »Bestellen Sie Señor Garcia, daß ich sein Angebot ablehne.« »Sie lehnen ab?« staunte Knudge. »Aber warum denn?« »Das ist meine Angelegenheit. Ich werde das Stück Pergament behalten. Das genügt. Gehen Sie!« »Was denn, was denn?« wehrte Jim Knudge vorwurfsvoll ab. »So kann man doch keine Geschäfte machen. Wir sind doch erst am Anfang. Ich biete Ihnen tausend Pfund.« Sun Koh schüttelte den Kopf. Der Todgeweihte hob die Schultern. »Also schön, dann zweitausend Pfund. Nicht? Gut, ich will nicht so sein. Dreitausend – viertausend – fünftausend Pfund bar auf den Tisch. Ist das ein Wort?« In Sun Kons Gesicht blitzte das Interesse auf. Der Mann war recht großzügig mit seinen Geldangeboten. In zwei Minuten von fünfhundert auf fünftausend Pfund. Was mußte Garcia das kleine Stück Pergament wert sein? Jim Knudge hatte sein Angebot eine Weile wirken lassen. Als er sah, daß es ohne Erfolg blieb, bohrte er weiter. »Sie wollen immer noch nicht? Fünftausend Pfund sind ein schönes Stück Geld, nicht? Aber gut, ich biete mehr. Sehor Garcia hat mich ermächtigt, bis zu zehntausend Pfund zu gehen. Zehntausend Pfund – was sagen Sie nun?« Sun Koh warf einen flüchtigen Blick auf Peters. Dessen Augen waren groß und rund geworden. Seine Lippen bewegten sich leise. Wahrscheinlich berechnete er gerade, daß die angebotene Summe in Deutscher Mark ein Mehrfaches ausmachte. Viel Geld für eine Kleinigkeit. Aber Sun Koh ahnte, daß eben diese Kleinigkeit für Garcia das Tausendfache von dem wert sein mußte, was er bot. An die Sammlerwut glaubte er natürlich nicht. Im übrigen besaß Sun Koh nicht die geringste Neigung, mit diesem Mann Geschäfte zu machen. Deshalb erklärte er gelassen: »Das Stück Pergament ist unverkäuflich. Geben Sie sich keine Mühe mehr. Sie erhalten es nicht, auch wenn Sie gleich hunderttausend Pfund bieten.« Jim Knudge wurde warm. Er grinste vertraulich.
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»Sie werden lachen – biete ich auch. Hunderttausend Pfund! Ich gehe nicht von der Stelle, bevor ich nicht das Ding habe. Alles hat seinen Preis. Hunderttausend Pfund. Nicht? Aber verehrter Herr, damit sind Sie reich und unabhängig, können leben wie der Herrgott in Frankreich. Aber was zwickt mich da alles. Hunderttausend Pfund – das sollte mir einmal einer bieten. Dafür könnte er von mir meinen ganzen Geburtsschein haben und nicht bloß so eine lächerliche Ecke von einem halbvermoderten Blatt. Hunderttausend Pfund! Und Sie überlegen noch? Gut – zweihunderttausend Pfund! Auch nicht? Na, so was Hartes habe ich noch nicht erlebt. Dreihunderttausend Pfund! Schlägt Ihnen noch immer nicht das Gewissen? Also schön, wenn Sie mich mit aller Gewalt um mein bißchen Profit bringen wollen – fünf hunderttausend Pfund!« Jetzt staunte auch Sun Koh. Das Angebot war ungeheuerlich. Phantastisch! Dabei stand nichts auf der Ecke als ein paar Zahlen, vielleicht eine geographische Ortsbestimmung. Sollte da irgendwo ein Riesenschatz verborgen sein? Hatte Garcia vergessen, welche Zahlen auf dem abgerissenen Stück standen? Die Zahlen mußten für ihn von größter Wichtigkeit sein. »Ihr Angebot ist immerhin erstaunlich«, sagte Sun Koh trocken. »Ich erwähnte aber wohl schon, daß ich das Pergament nicht herausgebe. Damit Sie ihre Kräfte nicht unnütz vergeuden, will ich Ihnen beweisen, wie unwiderruflich meine Abweisung ist. Haben Sie ein Streichholz da, Doktor?« Peters zog stumm die Schachtel, warf einen fragenden Blick auf Sun Koh, und als dieser nickte, zündete er ein Streichholz an. Sun Koh holte mit der Linken die umstrittene Ecke Pergament aus der Tasche. Jim Knudge schrie entsetzt auf. »Sie wollen es doch nicht etwa verbrennen? Sind Sie wahnsinnig, Mann? Sie werfen fünfhunderttausend Pfund ins Feuer. Lassen Sie mich wenigstens einen Blick darauf werfen. Ich biete Ihnen eine Million Pfund für einen einzigen Blick.« Das Streichholz brannte nieder. Sun hielt das Pergament noch in der Hand. »Ich denke. Señor Garcia braucht das Stück für seine Sammlung?« »Sie sind ein Teufel!« fauchte Jim Knudge wütend. »Sie wissen ganz genau, daß das mit der Sammelei Humbug war. So doof sind Sie nun auch wieder nicht. Der Señor braucht die Zahlen. Nehmen Sie meinetwegen an, daß er vergessen hat, wo seine Großmutter begraben liegt. Er braucht die Zahlen, und ich versichere Ihnen, daß Sie keine ruhige Minute mehr in Ihrem Leben haben werden, wenn Sie sich auf die Hinterbeine stellen. Treiben Sie mich nicht zum Äußersten. Geben Sie den Fetzen raus und nehmen Sie Ihre Million.« Sun Koh gab dem Doktor einen Wink. Ein Streichholz flammte auf und brannte mit kleiner, unruhiger Flamme. Langsam senkte Sun Koh den Arm und die Hand, die den Pergamentrest hielt. Die Hitze griff nach ihm. Die faserige Spitze verfärbte sich, rollte sich ein. Im nächsten Augenblick mußte die Flamme übergreifen. Sun Koh beobachtete aufmerksam den Vorgang. Das war für Jim Knudge zuviel. Mit einem Fluch riß er eine Pistole heraus und schoß. Sun Koh war schneller. Er hatte in Wirklichkeit den Besucher nicht aus den Augen gelassen. Seine Rechte war nicht grundlos in der Tasche geblieben. Dort umspannte sie schon lange den Kolben eines Selbstladers, und als Knudges Waffe sichtbar wurde, hatte er losgedrückt. Der Dürre brüllte auf und schlenkerte seine Hand. Seine Kugel fuhr irgendwohin, nur nicht in das Herz Sun Kohs. Die Waffe fiel auf den Boden. Peters rückte mit einem Aufschrei weg. Sein Gesicht war vor Schreck blaß und verstört. Er mußte nach Luft ringen, bevor er stammeln konnte: »Sind – sind Sie verletzt?« Sun Koh schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem heimtückischen Angreifer zu lassen. »Nein, nur der Anzug hat ein Loch. Zünden Sie ein neues Streichholz an.« Peters strich mit unruhigen Händen das dritte Streichholz. Sun Koh hielt mit den Fingerspitzen den Pergamentrest an die Flamme. Sie schoß hoch. Das Pergament krümmte sich brennend, flatterte schon halb im Erlöschen zu Boden und blieb dort als verkohlter Rest liegen. Es war nicht viel mehr als Asche, die noch die Form bewahrt hatte, sie aber im nächsten Augenblick verlor, als die Schuhspitze Sun Kohs über sie hinwegfuhr. Eine Million Pfund flogen als winzige Kohleblättchen und Rußflöckchen davon. Jetzt trat Sun Koh auf Jim Knudge zu, der mit einem Auge auf ihn und mit dem anderen auf seine durchschossene, blutende Hand starrte.
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»Sind Sie nun überzeugt, daß Señor Garcias Wunsch nicht erfüllt wird?« Jim Knudge knurrte wütend. »Verdammt, hätten Sie lieber das Geld genommen. Wie konnte ich ahnen, daß Sie aus der Tasche heraus schießen? Nun ist die Hand kaputt, und ich kann mein Lebtag lang so herumlaufen.« »Ihr Pech«, sagte Sun Koh gleichgültig. »Es macht Ihnen ja wohl nichts aus, da Sie ohnehin in Kürze sterben wollen.« »Das glauben Sie wohl selbst nicht!« fuhr es grob aus Jim Knudge heraus. »Ich bin gesund wie irgendeiner, und ich hoffe, daß ich mir noch manches Jahr um die Ohren schlagen kann.« »Ach? Und warum führten Sie sich dann als Todeskandidat ein?« Jim Knudge grinste schief. »Ich weiß doch, was mit Ihnen los ist, nicht? Und außerdem haben Sie Señor Garcia auf dem Kieker. Glauben Sie, ich lasse mich von Ihnen die Treppe hinunterwerfen, bevor ich noch einen Ton gesagt habe?« Sun Koh lächelte grimmig. »Unsere Nachtruhe haben Sie gestört, und geredet haben Sie auch genug. Jetzt können wir wohl das Hinauswerfen nachholen.« Ein Ruck, und schon schwebte Jim Knudge hoch in der Luft. Er begann sofort zu jammern: »Um Gottes willen, Sir, denken Sie an meinen Krebs. Das kann mein Tod sein. Ich gehe ja schon von allein. Nicht zum Fenster hinaus, wir sind doch nicht im Erdgeschoß. Denken Sie an meine Familie, an meine sechs unmündigen Kinder und an ihre wimmernden Mütter ...« Sun Koh hatte den Zappelnden durch die Tür auf den langen Flur getragen. Ein Schwung, und Jim Knudge sauste durch die Luft, landete unsanft auf seinem Hinterteil und rutschte hilflos auf dem Boden entlang, bis ihn eine Wand aufhielt. Dann rappelte er sich hoch und schlich wehmütig die Treppe hinunter. Die Hand war zerschossen, der ganze Körper geprellt, das Pergament zum Teufel – und das nannte sich Geschäfte! Sun Kohs Tür war schon längst wieder geschlossen. Aber das Licht in seinem Zimmer brannte bis zum Morgengrauen.
5. C. K. Belmore, der Generaldirektor der BAC, begrüßte die Besucher höflich. »Es ist mir eine außerordentliche Ehre, Mr. Sun, Sie begrüßen zu dürfen. Mr. Peters, nicht wahr? Freut mich sehr. Bitte, nehmen Sie Platz. Whisky? Zigarren? Zigaretten? Bitte, bedienen Sie sich. Nichts? Wie Sie wünschen. Haben Sie irgendwelche besonderen Wünsche – oder wollen Sie das Werk besichtigen?« »Ich brauche ein Flugzeug«, sagte Sun Koh mit einigem Zögern, aber überraschenderweise nickte Belmore sofort. »Eine ausgezeichnete Idee, ganz ausgezeichnet. Ich kann Ihnen sogar unseren neuesten Typ zur Verfügung stellen. Eine fabelhafte Maschine.« »Wie teuer ist so ein Flugzeug?« Der Generaldirektor bewegte den Kopf hin und her. »Das richtet sich nach Ihren Ansprüchen. Die Maschine, die ich im Auge habe ... Aber nein, das ist ja im Grunde ganz uninteressant...« »Woran dachten Sie eben?« »Hm, wie soll ich mich ausdrücken?« sagte Belmore. »Es ist – nun, gewissermaßen eine Werbe-Idee. Wir wollen einen neuen Typ auf Serie legen, aber bisher fehlt noch ein Einfall für eine wirksame Kampagne. Aber die Berichte über Sie bringen mich auf eine Idee – Sie für unsere neue Maschine zu begeistern. Sie wissen ja wohl, daß solche Dinge heutzutage durchaus üblich sind. Den ersten Wagen einer neuen Autoserie erhält ein Star aus dem Show-Busineß, wofür er seinen Namen zu Werbezwecken hergibt. Neue Seifen oder
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Zahncremes werden mit Filmstars angepriesen, namhafte Persönlichkeiten bezeugen – gegen entsprechende Bezahlung – die besondere Güte von Tabakspfeifen oder Zigaretten und so weiter. Wenn Sie uns erlauben würden, Ihren Namen mit der neuen Maschine in Verbindung zu bringen, wäre das schon ein Gag, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und wenn Sie ohnehin ein Flugzeug benötigen...« »Eine teure Werbe-Idee, nicht wahr?« Belmore lächelte verschmitzt. »Im Gegenteil, die billigste für uns. Zur Zeit gibt es keinen Mann, der berühmter wäre als Sie. Ihr Name ist überall im Gespräch. Das spart uns allein mehr an Werbung, als die Kosten der Maschine ausmachen. Insofern können Sie unbesorgt sein. Abgesehen davon – Maschinen dieser Art sind keine Massenartikel, sondern werden nur von einer bestimmten Gruppe von Privat- oder Geschäftsleuten gekauft, bei denen Ihr Vorbild noch erheblich stärker wiegt. Ich war lediglich nicht sicher, ob Sie überhaupt fliegen können.« »Das kann ich auch nicht«, erwiderte Sun Koh. Belmore blickte zunächst verdutzt, faßte sich dann aber schnell und zeigte, daß es ihm nicht an Kaltblütigkeit fehlte. »Sie können nicht... Ja, aber ... Ach, was rede ich denn? Das hat natürlich überhaupt nichts zu besagen. Sie werden es eben lernen. Es wird Ihnen sicher nicht schwerfallen. Bei Ihren Fähigkeiten ... Sie nehmen also meinen Vorschlag an?« Sun Koh lächelte höflich. »Ich habe nichts dagegen, daß Sie mir ein Flugzeug überlassen, und ich habe nichts dagegen, wenn Sie das der Öffentlichkeit mitteilen. Alles in allem liegt jedoch ein kleines Mißverständnis vor. Ich kam eigentlich nicht, um mir ein Flugzeug zu meinem privaten Vergnügen zu beschaffen, sondern um ein Experiment anzustellen. Wollen Sie mir bitte eine Frage beantworten: Was würde Ihnen eine Erfindung wert sein, die das Abtrudeln und das meist damit verbundene Abstürzen von Flugzeugen unmöglich macht?« Belmores Oberkörper schoß interessiert vor. »Ist das eine theoretische oder eine praktische Frage?« »Nehmen Sie das letztere an.« Belmore war jetzt kühl und ganz wach. »Dann also nichts und alles. Es kommt auf die Art der Erfindung an.« Sun Koh nickte und wies auf seinen Begleiter. »Doktor Peters hat eine vielversprechende Erfindung gemacht. Das Flugzeug behält völlige Bewegungsfreiheit, auch für Kunstflüge. Die Erfindung würde sogar die Tragflächen überflüssig machen, so daß also der bloße Rumpf flugfähig sein würde, und dabei sind die Herstellungskosten außerordentlich gering.« »Sie scherzen?« »Das liegt nicht in meiner Absicht. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen eine Erfindung zum Kauf anbieten.« »Patente?« »Liegen vor.« »Man müßte Einzelheiten wissen.« »Das ist leider im Augenblick unmöglich. Die Erfindung ist so einfach, daß sich nähere Angaben erst machen lassen, wenn die Rechte des Erfinders gesichert sind. Ich schlage Ihnen vor, erst einen Vertrag abzuschließen und dann auf die Einzelheiten einzugehen.« Belmore protestierte kühl: »Aber, Gentlemen, das ist selbstverständlich unmöglich. Ich kann Ihnen doch keine Erfindung abkaufen, die ich nicht kenne.« »Damit würden wir Ihnen allerdings zuviel zumuten«, gab Sun zu. »Der Vertrag muß eben so abgefaßt werden, daß er für den Eventualfall gilt. Ich beabsichtige, Ihnen einen überzeugenden Beweis für den Wert der Erfindung zu liefern, falls Sie mir ein Flugzeug zur Verfügung stellen. Gelingt mir das, so gilt der vorher abgeschlossene Vertrag. Geben Sie mir eine Ihrer Maschinen, an der ich die Erfindung anbringen kann. Ich werde mit ihr aufsteigen, in der Luft die Tragflächen mit dem Fallschirm abwerfen oder einziehen – es gibt doch wohl solche Maschinen – und trotzdem unbeschädigt mit dem Rumpf wieder herunterkommen. Würde Ihnen das genügen?« Belmore griff in seinen Kragen, Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn. »Sie wollen – in der Luft – die Tragflächen ... Aber das ist ja Selbstmord.«
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»Das lassen Sie meine Sorge sein, Mr. Belmore. Nehmen Sie an?« Der Generaldirektor sprang erregt auf. »Aber, Mr. Sun, unser Gespräch hat eine phantastische Wendung genommen! Sie wollen... Mein Gott, und dabei können Sie noch nicht einmal fliegen! Sie sprechen hier von einer Erfindung, die unter Umständen Millionen – äh, immerhin einiges wert sein könnte, bieten mir eine derartige Probe an und erwarten, daß ich mich jetzt schon festlege. Das – entschuldigen Sie – das ist doch kein geschäftliches Verfahren. Man muß doch wirklich erst Einzelheiten wissen, die Patente genau prüfen, die Experten heranziehen und ...« »Ich weiß, Mr. Belmore«, unterbrach Sun Koh ruhig, während er einen Blick mit Peters wechselte. »Unser Verfahren ist höchst ungewöhnlich. Wir haben jedoch gute Gründe für unser Verhalten. Doktor Peters hat bereits böse Erfahrungen hinter sich und möchte nicht abermals betrogen werden. Die Erfindung, deren Auswirkungen ich Ihnen andeutete, liegt vor. Sie ist, wie Sie ganz richtig sagten, Millionen wert. Doktor Peters will sie Ihnen sehr billig überlassen, fordert aber dafür die Berücksichtigung seiner Wünsche. Er verlangt von Ihnen nicht mehr als das Flugzeug, das Sie mir ohnehin aus Werbegründen überlassen wollten, dazu hunderttausend Pfund in bar, zur Hälfte zahlbar nach meinem Probeflug, zur Hälfte innerhalb von vier Wochen danach. Dafür tritt er Ihnen sämtliche Rechte an seiner Erfindung ab. Das ist für Sie mehr als günstig. Und für Sie handelt es sich ja zunächst nur darum, ob Sie meinen Probeflug ohne Tragflächen als hinreichend beweiskräftig ansehen wollen. Wir haben hier einen Vertragsentwurf mitgebracht. Vielleicht könnten Sie sich einmal das Papier ansehen.« Belmore verschluckte einiges, nahm den Bogen und las die verschiedenen Absätze aufmerksam durch. Er brauchte viel Zeit dazu. Schließlich sagte er kopfschüttelnd: »Ungewöhnlich, aber die Bestimmungen sind klar. Eigentlich müßte sich erst unsere Rechtsabteilung damit befassen, aber ich glaube, ich kann es wagen, auf diese Vereinbarung einzugehen. Wenn Ihre Erfindung wirklich ermöglichen sollte, einen derartigen Flug durchzuführen ... Aber es hat wohl keinen Sinn, jetzt schon darüber zu sprechen. Ich werde die erforderlichen Reinschriften anfertigen lassen. Wenn es Ihnen recht ist, können wir inzwischen die Maschinen besichtigen.« Sun Koh und Peters nickten und erhoben sich.
* Die Monteure schoben ein blitzendes, nagelneues Flugzeug aus dem großen Hangar, einen funkelnden Pfeil mit tief angesetzten, schräg zurückfallenden und ungewöhnlich kurzen Tragflächen, eine Maschine, die auf den ersten Blick hin gefiel und erregte. »Das ist sie!« sagte Belmore mit einem Stolz, als wäre er persönlich für die gelungene Konstruktion verantwortlich. »Sie hat noch keinen Namen, aber ich denke, wir werden sie ›Sun‹ taufen – die Sonne! Die beiden Turbo-Düsen bringen sie auf eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 960 Stundenkilometern. Ein schnelles und sportliches, zugleich aber auch luxuriöses Flugzeug, wenn ich mich so ausdrücken darf. Übrigens haben wir hier gleich einen Typ, bei dem die Tragflächen dicht hinter den Turbo-Düsen eingeschlagen werden können.« Eifrig erklärte er weiter, während sie um die Maschine herumgingen und später das Innere betraten. Belmores Begeisterung war berechtigt. Das Flugzeug war nicht nur technisch hervorragend ausgestattet, es wies auch ungewöhnlichen Komfort auf. Sun Koh interessierte sich am stärksten für den Pilotenraum und das schier verwirrende Instrumentenboard. Er versuchte, mit den Anzeigen, Knöpfen und Schaltern fertig zu werden, und bat schließlich Belmore um Erläuterungen. Der Generaldirektor winkte jedoch ab. »Sie verlangen zuviel, verehrter Mr. Sun. Ich bin weder Techniker noch Pilot. Unter uns gesagt – ich habe noch nie einen Steuerknüppel selbst in die Hand genommen. Dafür ist Mr. Jepper zuständig, unser Testpilot und Fluglehrer. Wenn Sie erlauben . . . Hallo, Mr. Jepper!« Jepper kam herauf. Er sah wie einer der Monteure aus, die um die Maschine herumstanden. Belmore stellte ihn vor. Jepper verlor kein unnützes Wort. Er sprach sachlich, klar und präzis, zeigte und erklärte und beantwortete die Fragen, die Sun Koh stellte.
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»Nein, Fliegen ist keine Kunst«, sagte er trocken. »Sie können eine Wissenschaft daraus machen, aber Sie können auch einfach fliegen. Im Grunde ist das leichter, als einen Wagen zu fahren. Reaktionsfähigkeit und ein bißchen Feingefühl, das ist alles, wenigstens solange die Maschine in der Luft ist.« Nach einer halben Stunde war er mit seinen Erklärungen fertig. Sun Koh nickte ihm dankbar zu. »Ich denke, ich weiß jetzt ungefähr Bescheid. Können wir einmal zusammen fliegen?« Der Ingenieur blickte zu Belmore, und als dieser nickte, nickte er auch. »Wenn Sie Lust haben – warum nicht?« Eine Viertelstunde später saß Sun Koh neben Jepper in der Maschine. Die Rollbahn wurde frei gemacht, die Düsen fauchten auf, die Maschine stieg. Abermals eine Viertelstunde später landete die Maschine wieder. Belmore und Peters liefen auf das Rollfeld hinaus. Bevor sie jedoch ihr Ziel erreicht hatten, startete die Maschine durch und hob sich von neuem in die Luft. Belmore schüttelte den Kopf. »Mr. Sun scheint an seinen ersten Versuchen besondere Freude zu empfinden. Gewöhnlich sind Anfänger froh, wenn sie nach dem ersten Flug wieder auf sicherem Boden stehen.« »Er nicht.« Peters lächelte nachdenklich. »Ich vermute, daß er jetzt bereits selbst hinter dem Knüppel sitzt.« Als die Maschine nach dem ersten Flug wieder zum Stillstand gekommen war, hatte Sun Koh tatsächlich einen Platzwechsel vorgeschlagen. Jepper hatte ihn verdutzt angeblickt und protestierend abgewinkt, aber sich dann doch schulterzuckend gefügt. Wenn der Mann nach einer halben Stunde Theorie und nach einer Viertelstunde Gastflug selbst an den Knüppel wollte, war das reichlich wagemutig. Irgendwann mußte ja jeder einmal anfangen. Jepper erlebte sein blaues Wunder. Dieser Fremde zog die Maschine in die Höhe, als wäre er seit Jahren mit ihr vertraut. In seinem ganzen Wesen lagen so viel Konzentration und instinktmäßige Reaktion, daß sich Jepper bereits nach wenigen Minuten entspannte, sich locker zurücklehnte und auf die weitere Kontrolle verzichtete. Dieser Mr. Sun Koh hatte offenbar geblufft. Er hatte sich gestellt, als sähe er zum erstenmal ein Flugzeug von innen, und dabei war er ein alter, erfahrener Hase. Die Maschine durchschnitt pfeilschnell die Luft, hob und senkte sich, kurvte über das Werkgelände hinweg und rollte endlich vorschriftsmäßig wieder ein. Belmore rief Sun Koh schon von weitem entgegen: »Nun, wie war's?« »Großartig!« bekannte Sun Koh mit leuchtenden Augen. »Ich werde in den nächsten Tagen noch einige Male fliegen, und dann können wir den Versuch mit der Erfindung wagen.« Der Generaldirektor traute seinen Ohren nicht. »Wie? Was? Was denn – Sie wollen... Sind Sie etwa doch schon selbst geflogen?« »Allerdings!« »Das – das ist doch wohl nicht möglich?« Jepper, der gerade heruntersprang, machte eine wegwerfende Geste. »Stimmt schon. Er ist eben nicht zum erstenmal geflogen.«
6. Peters hatte einige längere Unterredungen mit den leitenden Ingenieuren des Werks geführt, nun fuhr er mit Sun Koh zusammen ins Hotel zurück. In ihrem Appartement hatte Sun Koh für Peters eine Überraschung bereit. »Ich werde London verlassen. Das habe ich mir lange Zeit genau überlegt.« »Wohin?« »91 Grad 2'. 17 Grad 12'.« »Hm, das wäre – Yukatan, nicht wahr? Sie folgen der Ortsangabe auf dem Rest Pergament?« »Den ersten Zahlen. Und wenn dort wirklich meine Heimat liegt...« »Sie suchen Ihr Schicksal, nicht wahr?« fragte Peters. »Darf ich mitkommen?« Sun Koh richtete seine Augen auf ihn. Sein Gesicht wurde heller. »Wenn Sie wollen – gern. Ich möchte das Flugzeug benutzen, und es hat Platz genug.« »Fein!« sagte Peters erfreut. »Von mir aus kann es morgen losgehen.«
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»Morgen und übermorgen noch nicht«, sagte Sun Koh. »Schließlich müssen wir ja erst mit Belmore ins reine kommen. Ohne Flugzeug und Reisegeld sitzen wir fest. Aber in einigen Tagen können wir reisen.« »Sie wollen fort?« fragte eine harte Frauenstimme von der Tür her. Lady Houston, die wohl am Türspalt die letzten Worte belauscht hatte, trat in den Raum. Sun Koh musterte sie kalt. »Ich habe Anweisung gegeben ...« Sie parierte mit einem hochmütigen Blick und erwiderte verächtlich: »Glauben Sie im Ernst, daß es solche Leute wagen, Lady Houston entgegenzutreten?« »Was wünschen Sie?« fragte Sun Koh noch kälter. »Ich möchte Sie allein sprechen.« Sie blickte auf Peters, und der Wissenschaftler schickte sich schon an, den Raum zu verlassen, doch Sun Koh hielt ihn zurück. »Bleiben Sie, Peters. Was diese Dame zu sagen hat, kann sie in Ihrer Gegenwart sagen.« Lady Houston wurde bleich vor Zorn. Ihre Stimme bebte. »Gut, dann will ich Sie nur daran erinnern, daß ich mein gestriges Angebot aufrechterhalte.« Sun Kohs Gesicht wurde ausdrucksloser. »Ich habe keine Erinnerung mehr daran und wünsche auch keine zu haben. Gehen Sie, Lady Houston.« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und zischte: »Ich lasse mich nicht beiseite schieben wie ein Stück Möbel. Ich biete Ihnen noch einmal mein Vermögen, wenn Sie in meiner Nähe bleiben.« »Danke, ich verzichte.« Die Frau duckte sich wie unter einem Schlag, doch dann fuhr sie schrill wieder hoch. »Ach, ich verstehe. Sie sind in diese Joan Martini verliebt. Sie waren ja heute beim Begräbnis rührend um sie bemüht. Wie raffiniert sie sich ohnmächtig stellte, um sich von Ihnen auffangen zu lassen. Wenn Sie auf solche blöden Gänse hereinfallen ...« »Ihre Worte sind beleidigend«, unterbrach Sun Koh kalt. »Gehen Sie, Sie sollten sich nicht so erniedrigen.« Lady Houston war schon zu dicht am Rand der Hysterie, um ihre Handlungsweise noch unter Kontrolle zu haben. Sie riß eine Waffe aus ihrer Handtasche heraus und fuchtelte damit herum. Peters wollte sich ihr entgegenwerfen, aber Sun Koh zog ihn am Arm zurück. Dann trat er einige Schritte auf die Frau zu. Er sah sie fest und durchdringend an. Auf seinen Lippen lag eine Andeutung von Spott und Verachtung. Mit leiser, aber bezwingender Stimme sagte er: »Sie machen sich lächerlich, Lady Houston. Gehen Sie endlich.« Die Waffe fiel zu Boden. Der Kopf der Frau senkte sich. Dann wandte sie sich stumm ab und verließ den Raum.
* Sie war kaum draußen, als auf dem Flur streitende Stimmen aufklangen, die allerdings nur sehr gedämpft hereinkamen. Irgend etwas dröhnte gegen die Tür, als ob sich an ihr jemand herumbalgte. Dann wurde sie aufgestoßen. Jack Holligan, der Jorube, schob sich herein. In der Linken schleppte er einen ansehnlichen Koffer. An seinem rechten Arm hing Hal Mervin und versuchte, ihn zurückzuhalten. »Raus mit dir, du schwarzes Walroß! Ich habe dir gesagt, daß dich Mr. Sun nicht brauchen kann. Wenn sich jeder größenwahnsinnige Fliegendreck einbilden wollte ... Loslassen – raus mit dir!« Der Neger schleuderte ihn gutmütig hin und her und zeigte dabei seine weißen Zähne. Dann setzte er seinen Koffer ab und erklärte selbstbewußt: »Da bin ich, Herr.« Sun Koh antwortete trocken: »Das sehe ich. Und was ist nun wieder los?« Hal riß sich los und stellte sich vor dem schwarzen Hünen in Positur. »Lassen Sie mich reden, Mr. Sun. Der Kerl kommt hierher und will einfach so mir nichts, dir nichts in Ihre Dienste treten. Auf der Matte will ihn keiner mehr haben, weil er alles zusammenschlägt, und jetzt möchte er bei Ihnen anheuern. Das ist doch lächerlich. Ich habe ihm natürlich klargemacht, daß das überhaupt nicht in Frage kommt. Wenn einer bei Ihnen anheuert, dann bin ich der richtige Mann. Aber das will er einfach nicht
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begreifen. Marmelade im Gehirn. Werfen Sie ihn zum Fenster hinaus. So was von Anmaßung! Soll ich das Fenster öffnen?« Der Jorube grinste verlegen, als ihn Sun Kohs fragender Blick traf. »Tun Sie es nicht, Herr. Die kleine Laus hat ein zu großes Mundwerk. Ich dachte doch nur ...« »Du willst dich von mir anstellen lassen?« »Genau das, Herr.« Jack Holligan atmete auf. »Ich kann alles. Ich war jahrelang Steward, Butler und Koch, bevor mich der Manager entdeckte. Sie können mich unbesorgt nehmen. Ich werde vor Ihrer Tür schlafen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Es geht nicht. Ich verreise.« »Um so besser«, sagte der Hüne eifrig, und seine Augen glänzten. »Ich sterbe ohnehin in dieser Stadt. Ich möchte sowieso raus. Ich folge Ihnen überallhin. Wer soll für Ihre Kleidung sorgen, für Ihr Rasierwasser, für Ihr Essen? Ich kann alles.« »Einen Dreck kannst du«, mischte sich Hal giftig ein. »Bildest du dir etwa ein, Mr. Sun will dauernd so einen wüsten Brocken wie dich um sich haben? Da könnte er ja gleich im Zoo wohnen. Wenn hier einer alles kann, dann bin ich es. Ich kann sogar Knöpfe annähen. Ich werde seinen Diener machen. Und nun verschwinde endlich.« »Du willst auch mein Diener werden?« fragte Sun Koh belustigt. »Sicher, Sir«, sagte der Junge. »Mit mir fahren Sie bestimmt nicht schlecht.« Jack Holligan tippte gegen seine Stirn. »Recht so!« fauchte der Junge. »Tippe nur gegen deinen leeren Briefkasten. Auf den Kopf kommt es an. Auf deinen Muskelladen brauchst du dir nichts einzubilden. Zieh nur wieder ab mit deinem Koffer. Hier ist nichts für dich drin.« »Nicht so heftig, Hal«, sagte Sun Koh amüsiert. »Du bist noch zu jung, um in meine Dienste zu treten. Warte noch ein paar Jahre.« »Oh ...«, entfuhr es Hal enttäuscht. Sun Koh wandte sich bereits an Peters. »Was meinen Sie, wollen wir Jack Holligan mitnehmen?« Peters blickte zweifelnd auf die herkulische Erscheinung. »Mir ist es schon recht. Wenn Sie meinen, daß er sich wirklich für Ihre Dienste eignet...« Das war das Stichwort für Jack Holligan. Er griff schnell in die Brieftasche und holte ein ganzes Bündel Papiere heraus – hervorragende Zeugnisse. Daraufhin entschied Sun Koh: »Also gut, du kannst bleiben. Laß dir ein Zimmer anweisen. Wie heißt du eigentlich?« »Nimba, Herr«, sagte der Joruba strahlend. »Der Name paßt auch besser zu dir«, sagte Sun Koh. »Nun geht.« Mit einem triumphierenden Seitenblick auf Hal ging Nimba. Der Junge schien große Lust zu haben, noch einmal sein Glück zu versuchen, resignierte dann aber und schloß sich an.
* Das Telefon summte. Sun Koh meldete sich. Am anderen Ende war der Empfangschef. »Verzeihen Sie die Störung, Mr. Sun. Wir fangen selbstverständlich alle Besucher ab – aber nun ist Miß Martini gekommen, und ich weiß nicht...« »Lassen Sie sie zu mir«, unterbrach Sun Koh. Zwei Minuten später begrüßte er das junge Mädchen. Peters, der sie zum erstenmal aus der Nähe sah, stellte fest, daß sie eine außergewöhnliche Schönheit war. Das stumpfe Schwarz der Trauerkleidung beeinträchtigte ihre Erscheinung nicht. In ihren Augen stand der Schmerz über den Tod ihrer Eltern, trotzdem war das wundervoll geschnittene Gesicht von jener edlen Reinheit, welche die Natur so geizig verleiht. Sie war schön – schön wie Sun. Leise ging Peters hinaus. »Ich fürchte mich«, sagte Joan Martini. »Ihre Seele ist noch voller Schrecken«, besänftigte Sun Koh. »Sie werden bald weichen, und Ihre Träume werden wieder schöner.«
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Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Ich liebte meine Eltern zu sehr, als daß sie mir quälende Geister werden könnten. Nein, es ist eine nackte, körperliche Furcht. Der Tod schreckt mich, obgleich ich sonst nie ängstlich war. Er schleicht von hinten an, man will mich vergiften.« Sein Körper versteifte sich. »Vergiften?« »Ja. Vorhin brachte ein Bote ein Paket, das Gebäck enthielt. Ein Begleitschreiben lag nicht dabei. Ich nahm an, es käme von einem Bekannten, der mich auf diese Weise trösten wollte. Ich packte es aus und stellte es beiseite. Ein Stückchen war abgebrochen. Das gab ich meinem Kanarienvogel in den Bauer. Ich achtete nicht auf ihn. Als ich mich nach einigen Minuten wieder ihm zuwandte, lag er tot am Boden.« »Des Gebäck war vergiftet?« murmelte Sun Koh düster. »Ich dachte nicht einmal daran. Erst unsere Wirtschafterin, die ich herbeirief, brachte mich auf die Vermutung. Daraufhin habe ich das Gebäck eingepackt und zu dem Gerichtschemiker Jarring gebracht, einem guten Bekannten meines Vaters. Mir graust vor dem unbekannten Gegner. Deshalb bin ich aus meiner Wohnung geflüchtet.« »Lady Houston ...« »Lady Houston? Ich habe mit ihr nichts zu schaffen. Sie blickte mich allerdings während des Begräbnisses an, als haßte sie mich. Aber ... Darf ich Jarring anrufen?« Die Verbindung war schnell hergestellt. Joans Gesicht wurde noch bleicher, und durch ihren Körper lief ein Schauer, als sie seinen Bericht hörte. Sie legte auf. »Das Gebäck enthielt genügend Gift, um ein Dutzend Menschen zu töten.« Zwischen Sun Kohs Augen stand eine tiefe, drohende Falte. »Die Mörderin wird ihrer Strafe nicht entgehen, aber vor allem müssen Sie vor Wiederholungen geschützt werden.« »Vielleicht ist es am besten, wenn ich verreise«, sagte sie zögernd. »Einige Tage muß ich freilich noch hierbleiben, bis ich die Angelegenheiten meiner Eltern geregelt habe. Bis dahin möchte ich hier im Hotel wohnen.« »Das wird das beste sein«, stimmte Sun Koh zu. »Ich werde selbst auf Sie aufpassen oder Nimba – Jack Holligan beauftragen. Wir werden in London bleiben, bis Sie Ihre Reise angetreten haben.« »Sie wollen auch fort?« »Ja, zu einer Forschungsreise.« Sie schwieg einige Sekunden, dann bat sie zaghaft: »Werden sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, mich mitzunehmen?« »Das ist nicht möglich«, sagte er. »Wir reisen in die Urwälder von Yukatan, in denen zahllose Gefahren lauern. Es wird hart werden, und Sie sind solche Strapazen sicher nicht gewöhnt.« Sie sah ihn bittend an. »Nehmen Sie mich trotzdem mit. Was Sie an körperlicher Anstrengung leisten, kann ich auch. Ich bin gut trainiert, schieße sicher und fürchte die Gefahren des Urwalds nicht.« Er griff behutsam nach ihren Schultern, blickte tief in ihre Augen. »Es ist wirklich unmöglich, Joan. Mein Leben wird aus einem Abenteuer ins andere stürzen, wenn mir das bestimmt ist, was ich ahne. Meine Seele aber würde nicht mehr ruhig sein, wenn Sie unablässig in Gefahr wären. Wenn sich eines Tages erfüllt hat, was geschrieben steht, werde ich wiederkommen. Aber bis dahin ist es besser, wenn ich allein meinen Weg gehe.« »Ich – ich weiß nicht...« Plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn, innig und doch so scheu, daß er kaum die seidige Weichheit ihrer Lippen spürte. Und gleich darauf schlug die Tür hinter ihr zu.
* Einige Tage später saß Sun Koh wieder dem Generaldirektor der BAC gegenüber. »Sie wollen den Versuch schon heute wagen?« vergewisserte sich Belmore kopfschüttelnd. »Offen gestanden halte ich das für Leichtsinn. Sie sind ja nur ein paarmal geflogen. Und überhaupt... Peters muß seiner Sache schon sehr sicher sein, und Sie müssen ihm schon reichlich vertrauen. Aber gut, Ihre
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Angelegenheit. Nur – sagen Sie – was verspricht er sich eigentlich von diesen Röhren, mit denen er den Rumpf weitgehend ummantelt?« »Hm.« »Immer noch mißtrauisch?« fragte Belmore. »Also hören Sie mal! Schließlich bin ich Ihnen ja auch entgegengekommen. Was glauben Sie wohl, was allein diese teuren Pyroceram-Röhren kosten, mit denen Ihr Peters so großzügig umgeht? Wenn ich schon so viel riskiere, können Sie auch ein bißchen Vertrauen haben. Ich werde unseren Vertrag auf alle Fälle halten. Sie können mir also getrost wenigstens eine Andeutung machen.« »Gut«, sagte Sun Koh. »Ich will Ihnen die Erfindung verständlich machen.« Er trat an das offene Barschränkchen, aus dem Belmore sich und seine Gäste versorgte. Vorn stand ein schmaler Glasbehälter mit Saughalmen aus Kunststoff. Er nahm einige von ihnen heraus und zeigte sie Belmore. »Sie sehen diese Halme, dünne, beidseits offene Röhren.« »Gewiß«, bestätigte Belmore, »aber ...« Sun Koh sprang auf den Tisch, reckte die Arme. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen Saughalm so, daß er mit der Öffnung nach unten zeigte. Nun öffnete er die Finger. Der Halm fiel zunächst senkrecht, aber dann, etwa einen Meter über dem Parkett, ging er in einen Gleitflug über, so daß er auf seine ganze Länge fiel. Der zweite Saughalm, den Sun Koh fliegen ließ, verhielt sich genauso. »Nun, was sagen Sie dazu?« fragte er freundlich. »Ich ... Nichts. Ich verstehe nicht, was diese Spielerei ...« »Dann kommen Sie bitte einmal herauf und versuchen Sie, einen Halm so zu werfen, daß er mit der Öffnung aufschlägt.« Belmore blickte zweifelnd zu ihm hinauf. »Auf den Tisch? Na – oh ...« Er stand schon oben. Sun Koh hatte sich gebückt und ihn einfach an den Schultern hochgehoben. Belmore war einigermaßen verdutzt und blickte mißtrauisch auf die Tischplatte und weiter hinunter, als befürchte er, daß die Tischplatte sein Gewicht nicht aushalte. Sun Koh drückte ihm die Halme in die Hand. »Nun versuchen Sie, bitte.« Belmore nahm ungeschickt einen der Halme zwischen seine Finger und ließ ihn fallen. Er kam flach nach unten an. Ein zweiter ebenfalls. Den dritten warf Belmore erst zur Decke, den vierten in die Ecke des Zimmers und den fünften wieder senkrecht. Stets kam der Halm flach auf, nie fiel er auf die Öffnung. Belmore schüttelte den Kopf. »Hm, wenn's der Teufel will, läßt er mich noch dreißigmal werfen, ohne daß der Halm einmal mit der Öffnung auftrifft.« Sun Koh sagte langsam und bedeutungsvoll: »Ich habe den Versuch zweihundertmal gemacht. Nicht ein einziges Mal ist es mir gelungen, den Halm mit der Öffnung auftreffen zu lassen, wenigstens nicht von solcher Höhe aus. Wenn man aus ganz geringer Höhe wirft, ist es natürlich etwas anderes. Dann ist ein solcher Halm ein unzulängliches Mittel zur Vorführung.« Belmore faßte ihn beim Arm. »Genug, ich habe begriffen. Das ist das Großartigste, was mir je vorgekommen ist. Und dabei so einfach, so lächerlich einfach. Eine Art Düsenwirkung. Wenn ich richtig verstanden habe, fallen die Röhren infolge einer solchen Düsenwirkung niemals auf ihre Öffnung.« »Richtig«, bestätigte Sun Koh. »Höchst einfach, nur muß man eben den angeborenen Blick dafür und für die sich ergebenden Möglichkeiten haben, um so etwas auswerten zu können. Offene Röhren fallen nie auf die Öffnung, sondern schwenken immer im Gleitflug ab und fallen auf die Mantelfläche. Auch Peters nennt das eine Düsenwirkung. Die wirkenden Kräfte kann er Ihnen besser als ich darlegen. Uns interessieren mehr die praktischen Auswirkungen.« »Der Effekt verstärkt sich natürlich, wenn mehrere Röhren gekuppelt fallen?« »Ja.« Belmore atmete auf.
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»Dann weiß ich, wozu Peters die Pyroceram-Röhren braucht. Er bringt sie am Flugzeug an und erreicht damit, daß es damit immer im Gleitflug zur Erde kommt, ganz gleich, wie es oben herumgewirbelt wird. Alle Achtung – das ist eine Erfindung.« Sun Koh lächelte. »Ich sehe, daß Sie das Wesentliche begriffen haben. Denken Sie sich am Rumpf oder auch an den Tragflächen eines Flugzeugs ein System solcher Röhren, das natürlich in der Schwerpunktebene liegen muß. Nehmen wir an, die Maschine wird überzogen. Bisher war damit sehr oft ihr Schicksal besiegelt. Sie stürzte wie ein Stein zur Erde. Durch die Röhren wird das verhütet. Sie wollen nicht auf ihre Öffnung fallen, biegen ab und reißen das Flugzeug mit in ihren Gleitflug hinein. Und damit ist es gerettet.« »Das ist großartig!« begeisterte sich Belmore. »Ich könnte Sie umarmen. Ein Riesenfortschritt der Technik. Aber sagen Sie – ist es nicht doch zu gewagt, die Tragflächen einzuklappen?« Sun Koh fragte zurück: »Ist es nicht völlig belanglos, ob die Röhren an den Tragflächen oder am Rumpf befestigt sind? Die Tragflächen sollen ja eben nur den Gleitflug ermöglichen, der jetzt durch die Röhren ohnehin erzwungen wird. Wenn man Verwindung und Höhensteuerung mit auf den Rumpf überträgt, wofür Peters mit seinen Umbauten ja wohl sorgen wird, kommt es nur noch darauf an, Zahl, Stärke und Lage der Röhren richtig zu treffen. Aber das können wir Peters überlassen.« »Und wenn er sich irrt?« »Es ist eben eine Vertrauensfrage«, sagte Sun Koh einfach. »Und ich vertraue auf ihn. Und nun kommen Sie, wir wollen zur Halle hinüber.«
* Das Flugzeug hatte sich erheblich verändert, ohne seine sportlichen Linien einzubüßen. Im Schwerpunkt der Maschine lagen um den Rumpf herum dicht beieinander mattblinkende Röhren mit papierdünnen Wandungen und geringen Querschnitten, die vorn und hinten offen waren. Von der Seite sah es so aus, als hätte das Flugzeug im vorderen Drittel einen gerillten Mantel bekommen. Von vorn sah man die Öffnungen, die sich um den Rumpf herumlegten. Am stärksten fielen die Veränderungen am Heck der Maschine auf. Dort waren die Steuerflächen kräftig verstärkt und ergänzt worden. Sun Koh ließ sich von den Monteuren die Kombination überziehen und stieg in das Flugzeug hinein. Peters drückte ihm noch einmal die Hand. Die Düsen heulten immer höher. Sun Koh gab der Maschine Schub. Sie rollte an, hob sich und begann steil zu steigen. In ungefähr zweitausend Meter Höhe donnerte sie über den Platz und zog gleichmäßige Schleifen. Sie wurden schnell enger und schärfer. Immer steiler ging die Maschine in die Kurve. Die Männer auf dem Platz vergaßen bald das gleichmäßige Atmen. Jetzt – ein Stöhnen. Die Maschine war überzogen worden, mit Absicht, wie jeder sah. Sie schmierte über die linke Tragfläche ab und begann in enger Spirale zu trudeln. In einigen Sekunden mußte sie sich splitternd und explodierend in die Erde bohren. Die Männer hielten den Atem an. Da geschah das Wunder – oder war es unwahrscheinliches Glück? Das Flugzeug glitt aus der tödlichen Spirale heraus und ging in Gleitflug über. Mann und Maschine waren gerettet. Die Düsen setzten heulend wieder ein. Die Maschine schraubte sich in engen Spiralen erneut nach oben. Nerven hatte der Mann. Er ging wieder hinauf, obgleich er eben dem Tod ins Auge gesehen hatte. Wieder das gleiche Spiel. Immer enger wurden die Kurven, immer gefährlicher. Jetzt – jetzt stürzte er unhaltbar. Die Hände fuhren unwillkürlich über Stirnen, auf denen kalter Schweiß stand. Absturz! Nein, doch nicht. Wieder wurde die Maschine aus dem Wirbel herausgerissen und glitt in eine schräge Bahn hinein, und schon stieg die Maschine abermals. Immer steiler. Jetzt senkrecht. Sie stand auf den Düsen. Plötzlich setzten die Triebwerke aus. War der Mann wahnsinnig geworden? Natürlich kam, was kommen mußte. Die Maschine sackte lautlos wie ein Stein senkrecht in die Tiefe. Doch sie zerschmetterte nicht. Die Düsen schwiegen noch immer, aber das Flugzeug schwenkte aus der Senkrechten heraus in den Gleitflug. Und dann fauchten die Düsen von neuem. Unten atmeten die Zuschauer auf. Es klang wie schweres Stöhnen. Hier und dort schüttelte man die Köpfe. Wenn das eine neue Erfindung
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war, so konnte man dazu nur gratulieren. Aber trotzdem war diese Probe aufs Exempel allerhand. Der Mann konnte als Testpilot reich werden. Würde er nun herunterkommen? Nein, jetzt ging es erst richtig los. Die Maschine befand sich ungefähr auf tausend Meter Höhe. »Die Tragflächen!« schrien ein Dutzend Stimmen auf. Sie sahen es alle ganz deutlich. Die Tragflächen schwenkten ein. Der Metallvogel hatte sich absichtlich die Schwingen gebrochen. Und das Wunder geschah. Die Maschine flog ruhig und sicher weiter, als ob die Tragflächen noch ausgespannt wären. Jetzt flog sie eine Schleife. Etwas unsicher, wie es schien. Stieg höher. Wieder Kurve. Ganz ruhig. Noch höher. Die Düsen heulten Spitzentöne. Der fliegende Rumpf bäumte sich auf, überschlug sich und raste kopfüber weiter. Wieder Kurve, scharf und steil – aus! Quirlend wirbelte die Maschine nach unten. Mancher schloß die Augen. War sie schon unten, schon aufgeschlagen? Nein, dreihundert Meter hoch raste die Maschine im Gleitflug davon, kehrte zurück, senkte sich und rollte aus, etwas taumelnd, aber ohne zu kippen. Dicht an der Füllstation kam sie zum Stand. Sun Koh sprang heraus und riß den Helm herunter. Sein Gesicht leuchtete. In seinen Augen lag die jubelnde Freude des Himmelsstürmers. Der Wind ließ seine hellen Haare flattern. Die Zuschauer stürmten in heller Begeisterung auf den Mann zu und gratulierten ihm. Sun Koh wehrte sie lachend ab, eilte Peters entgegen und drückte ihm die Hand. »Es war herrlich, Peters. Ihre Erfindung ist wunderbar!« Peters gab den Händedruck bewegt zurück. »Meine Erfindung ist nichts. Ihr Flug war alles. Grauenhaft und schön. Ich habe um Sie gezittert.« »Denken Sie etwa, ich nicht?« polterte Belmore, um seine Erregung zu verbergen, während er ebenfalls Sun Kohs Hand preßte. »Mann Gottes, wir haben verrückte Testpiloten, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich war schon halb eine Leiche. Tun Sie mir den einzigen Gefallen und nehmen Sie das Flugzeug als Geschenk unseres Werks an. Darf ich Sie in mein Büro bitten?« »Noch nicht«, wehrte Sun Koh ab. »Ich möchte noch einmal aufsteigen und die Maschine weiter ausprobieren. Wir wollen schon in den nächsten Tagen reisen, und ich möchte mich noch besser einf liegen. Die Tragflächen können ja wieder ausgespannt werden.« Belmore wollte ihn zurückhalten, aber er blieb bei seinem Vorsatz. Wenig später schoß die Maschine wieder in die Luft.
* »Was denn, was denn?« schnauzte der Taxifahrer den Pförtner an, der sich ihm breitbeinig entgegenstellte und ihm den Zutritt verwehrte. »Was heißt hier, Eintritt verboten? Gibt es hier einen Mr. Sun oder nicht?« Die BAC-Werke begnügten sich selbstverständlich wie andere große Industrie-Unternehmen nicht damit, Neugierige durch das übliche Schild »Unbefugten ist der Zutritt verboten!« vom Werksgelände fernzuhalten. Sie besaßen eine Werkspolizei, der die Überwachung des gesamten Betriebs und nicht zuletzt der Eingänge oblag. Alle im Werk Beschäftigten besaßen einen Ausweis, auf dem durch Lichtbild, Unterschrift und Fingerabdruck die Identität des Inhabers vermerkt war. Ohne einen derartigen Ausweis war das Betreten des Geländes nur möglich, wenn eine entsprechende Anweisung von innen kam. Der Pförtner des Südtors handelte deshalb vollkommen korrekt, als er den Mann in der Kleidung der Taxifahrer, der eben aus seinem Wagen herausgesprungen war, abwies. Die Tatsache, daß der Fahrer nach einem Mr. Sun fragte, der sich im Werk aufhielt, berechtigte den Pförtner nicht zu einer Überschreitung seiner Dienstvorschriften. Deswegen erwiderte er auch gelassen: »Mr. Sun ist hier, aber herein dürfen Sie trotzdem nicht. Ich kann höchstens mal in der Zentrale nachfragen.« Der Fahrer stemmte die Arme in die Seite. »Na, da kann das arme Mädchen lange warten. Was döst du denn noch rum? Häng dich ans Rohr und flüstere los.« Der Pförtner wollte heftig werden, aber die Augen des Fahrers blitzten ihn so wütend an, daß er es vorzog, die Antwort zu verschlucken. Voll gekränkter Würde wandte er sich langsam um und ging durch die Tür in die Wachstube, in der das Telefon stand.
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Darauf hatte der Fahrer nur gewartet. Als er das Klicken der Gabel hörte, duckte er sich unter der Barriere hinweg und rannte so schnell, wie er konnte, auf den Platz hinaus. Bevor der Pförtner noch die Situation erfaßt hatte, war er schon bei der ersten Montagehalle angelangt und bog um sie herum auf das Flugfeld ein. »Haltet den Mann auf!« brüllte der herausstürzende Pförtner und fingerte an seiner Pistolenhalfter herum. Als die Waffe schußfertig in der Hand lag, war von dem Eindringling nichts mehr zu sehen. Der Fahrer ließ sich nicht aufhalten. Er hielt geradewegs auf die Gruppe am Rollfeld zu, ohne sich darum zu kümmern, daß man um ihn herum rief und schrie und ihm nachrannte. Erst kurz vor seinem Ziel fingen ihn einige Monteure ab. »Was wollen Sie? Was ist los?« fuhren sie ihn an. »Ein Dreck ist los!« antwortete er heftig atmend. »Einen Mr. Sun suche ich. Er soll hier herumgurken.« Die Monteure führten ihn zu Belmore und Peters, die auf die Rückkehr Sun Kohs warteten. »Wen suchen Sie?« fragte Belmore kurz, während er mißtrauisch das erhitzte, derbe Gesicht des Fahrers musterte. »Mr. Sun. Wo finde ich ihn?« »Dort oben.« Belmore zeigte zum Himmel. »Was wollen Sie von ihm?« »Sie denken wohl, das binde ich jedem auf die Nase. Wer sind Sie denn überhaupt?« »Das ist Mr. Belmore, der Generaldirektor dieses Unternehmens«, mischte sich Peters ein. »Sie können ruhig sprechen. Ich bin Doktor Peters, der Begleiter von Mr. Sun.« Der Fahrer fixierte ihn und nickte. »Geht in Ordnung. Also ich will Ihnen die Geschichte verklaren, aber es wird gut sein, wenn Sie Mr. Sun herunterholen lassen. Es handelt sich nämlich um Kidnapping, und viel Zeit wird da nicht mehr sein. Vielleicht täuschen mich meine Augen, aber die Miß sah jedenfalls mächtig ratlos aus.« »Welche Miß?« fragte Peters hastig. Der Fahrer hob die Schultern. »Ihren Namen hat sie mir nicht gesagt. Sie ist blond, hübsch und wohnt im Excelsior. Außerdem hat sie Trauer. Vielleicht können Sie sich darauf einen Vers machen.« »Miß Martini«, flüsterte Peters und wandte sich an Belmore. »Bitte, Mr. Belmore, wir müssen alles versuchen, um Mr. Sun so schnell wie möglich zur Landung zu bringen. Es scheint sehr dringend zu sein.« »Wie – wie soll ich denn das machen?« stotterte Belmore. »Er hat zwar Funk an Bord, aber die Hörer bestimmt nicht angeschlossen ...« »Flaggen! Notsignale auslegen. Vielleicht eine Sirene?« »Wir müssen es versuchen. Ich ...« Er hastete davon. Im Laufen schrie er seine Anordnungen heraus. Peters wandte sich wieder an den Fahrer. »Berichten Sie!« Der Fahrer räusperte sich. »Die Sache ging gleich komisch los. Sie müssen wissen, daß ich ein Taxi fahre. Mein Standplatz ist gewöhnlich gar nicht weit vom Excelsior. Vorhin komme ich gerade von einer Fuhre zurück und schleiche langsam am Hotel vorbei, da winkt der Pförtner. Ich hin und den Schlag auf, und schon kommt die junge Dame heran und sagt ganz leise und aufgeregt, sie möchte ganz schnell zum Flugplatz.« »Zu diesem?« »Nein, International Airport. Der liegt ja bloß fünf Minuten von hier. Ich habe jedenfalls gedacht, daß sie dorthin will, und ich denke nicht, daß sie was anderes gemeint hat. Also jedenfalls, wie sie mir das eben sagt und einsteigen will, da kommt doch einer ran und latscher t sie an von wegen: Nicht diesen Wagen. Hier steht schon der richtige und so weiter. Tatsächlich hatte sich hinter mir ein großer blauer Ford aufgepflanzt. Nun, versetzen Sie sich mal in meine Lage, Mister. Ich hatte mich schon gefreut, weil es hier nach ein bißchen Trinkgeld roch, und nun will mir das Ohrfeigengesicht eine Fuhre wegschnappen. Na, da hab ich natürlich aufgedreht.« »Sie sind grob geworden?« vermutete Peters. »Und ob ich grob geworden bin«, sagte der Fahrer befriedigt. »Natürlich ganz auf die feine Tour. ›Ich lasse mir nicht vor die Nase scheißen, aber ein feiner Mann bleibe ich trotzdem. Was bilden Sie sich denn ein, Sie grüner Giftpickel?‹ habe ich geflüstert. ›Die Miß hat mich engagiert, und dabei bleibt's, und wenn Ihnen das zehnmal nicht in den Kram paßt. Die Miß will zum Flugplatz, und sie hat ein Auge auf mich geworfen und mir den Auftrag gegeben.‹ Der Kerl sah aus, als hätte ich ihm auf die Hühneraugen getreten, und er starrte mich an, als ob er einen Rollmops hypnotisieren wollte. Nun blieben natürlich ein paar Leute
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stehen und grinsten. Das schien ihm auch nicht zu passen, und die Miß sagte, es wäre eilig, und ich sollte nur schnell losfahren. Also kurz und gut, da habe ich eben auf den Löffel getreten und bin losgebrummt. Der Knabe ist aber im letzten Moment mit hineingesprungen, der blaue Ford ist auch immer hinterher.« »Zum Flugplatz?« »Wie ich sage. Ich wollte draußen halten, aber der Kaffer meinte, ich sollte gleich auf den Platz hinausfahren. Na, mir war das auch recht, und so bin ich bis ans Flugzeug ran, das ziemlich weit draußen in einer Ecke stand. Eine Privatkiste. Der Mensch steigt also aus, die Miß ebenfalls. Wie er mir gerade mein Geld hinhält, fragt die Miß: ›Wo ist Mr. Sun?‹ Da habe ich gestutzt, denn den Namen kennt doch jedes Kind. Und nun war ich platt, wie der Kerl auf einmal ganz höhnisch lacht und sagt: ›Der ist dort drüben bei der BAC und bricht sich hoffentlich den Hals bei seinen Flugübungen.‹ Verstehen Sie mich recht, Mister, ich merkte erst jetzt, daß da was nicht in Butter war. Sie schrie auf, aber da hielt ihr schon ein anderer Kerl, der plötzlich hinter ihr auftauchte, den Mund zu und schleppte sie ins Flugzeug. Übrigens, ein kleiner Sportbrummer mit zwei offenen Sitzen hintereinander. Nun kann mir mein ärgster Feind nicht nachsagen, daß ich keine Courage habe. Ich das sehen und rausspringen wollen, war eins. Aber Scheibenkleister – da hält mir der vornehme Heini einen Revolver unter die Nase und zischt: ›Behalten Sie das Geld und machen Sie, daß Sie fortkommen. Ich zähle bis drei, wenn Sie dann noch nicht in Fahrt sind, knallt's.‹ Was sollte ich machen? Ich mußte Gas geben und abfahren, und wie ich mich umdrehe, da rollt die Maschine schon los – mit der Miß natürlich. Wenn mich der dämliche Pförtner nicht erst aufgehalten hätte, wäre ich schon eine Weile hier. Das Flugzeug kann noch nicht weit sein, und wenn sich Mr. Sun beeilt, kann er vielleicht noch . . .« In diesem Augenblick berührte Sun Kohs Flugzeug den Boden und rollte heran. Peters rannte ihm entgegen. Sun Koh ließ die Schiebetür zurückrollen und beugte sich heraus. Peters berichtete hastig. Sun Kohs Gesicht wurde eine steinerne Maske. Er blickte zum Himmel, winkte Peters zur Seite – und schon heulten die Triebwerke wieder auf. Die Maschine rollte kurz und schoß steil in die Höhe.
* Es war eine Frage des Glücks. Wenn die fremde Maschine die angegebene Richtung nach Westen eingehalten hatte, würde es nicht schwer sein, sie zu finden. Wer bürgte aber dafür, daß sie nicht den Kurs gewechselt hatte? In Sun Kohs Gesicht regte sich kein Muskel. Eine kalte, vernichtende Wut lag in seinen Augen. Würde er den Entführer finden? Würde der Treibstoff ausreichen? Was konnte er unternehmen? In der Tiefe glitten Felder und Wiesen, Flüsse und Seen, Ortschaften und Häuser zurück. Da – ein silbriger Punkt! Eine kleine Kursänderung. Die Entfernung verringerte sich sehr schnell. Bald ließen sich Einzelheiten erkennen. Das fremde Flugzeug war eine kleine Sportmaschine, vorn der Pilot, dahinter eine zusammengekauerte Gestalt. Sun Koh drosselte, um nicht zu überholen. Zwanzig Meter unter ihm flog der Entführer. Der Pilot schielte dann und wann nach oben, flog aber gleichmütig seine Strecke weiter. Wahrscheinlich triumphierte er innerlich. Es machte ihm nichts aus, wenn jemand hinter ihm herflog. Er hatte sein Ziel, und am Ziel standen genug Leute bereit, um den Verfolger gebührend zu empfangen. Und bis dahin konnte nichts passieren. Sun Koh erriet diese Gedankengänge. Er befand sich in einer verzweifelten Lage. Es gab kein Mittel, um den anderen zur Landung zu zwingen, und ob sich am Ziel noch eine Chance bot, war fraglich. Wenn er wenigstens eine Waffe bei sich gehabt hätte – vielleicht wäre es dann möglich gewesen, den fremden Motor zu beschädigen und damit den anderen zur Landung zu zwingen. Er spähte hinunter. Joan Martini war angeschnallt. Die Arme konnte sie frei bewegen, aber um ihren Körper lagen breite Sturzriemen. Sun Koh blickte sich im Pilotenraum um. Irgendwo mußte es doch einen Zettel und einen Stift geben. Am Funkgerät die Schublade mußte alles enthalten, was für Notizen benötigt wurde. Unten flog die fremde Maschine ihren Kurs, als gäbe es keine Bedrohung. Der Pilot kümmerte sich kaum noch um das Flugzeug über ihm. Joan Martini blickte unentwegt nach oben. Ihr Gesicht verriet, wie sehr ihre Seele zwischen Hoffnung und Mutlosigkeit schwankte.
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Sun Koh drosselte noch stärker und drückte auf den Knopf, der den kleinen Hilfsmotor anschaltete. Draußen schwenkten die Tragflächen langsam zurück, kippten ein, legten sich an. Sun Koh wurde ganz Instinkt und feinfühlige Witterung. Bei diesem geringen Tempo gehörten die nächsten Minuten mehr dem Tod als dem Leben. Trotz aller Zuverlässigkeit der Maschine – jetzt konnte eine Kleinigkeit, eine einzige falsche Reaktion zur Katastrophe führen. Hundertfach geprüfte Bowdenzüge strafften sich dehnend. Links Tiefensteuer, rechts Höhensteuer. Ein träger Körper, solch ein Flugzeug, aber wenn er einmal in Bewegung geriet, konnte er leicht ins Rotieren kommen. Was hier richtig war, ließ sich nicht mehr berechnen. Instinkt, weiter nichts. Langsam drehte sich das Flugzeug um seine Längsachse, während es über der fremden Maschine durch die Luft schoß. Sun Kohs Körper hing waagrecht in den Gurten. Wenn er ihren Druck nicht gespürt und nicht zur Erde geblickt hätte, hätte er meinen können, normal zu fliegen, während sich der andere auf der Flügelspitze hielt. Jetzt das Seitensteuer, das nun zum Höhensteuer geworden war. Eine Winzigkeit nur. Der Abstand zwischen den beiden Maschinen verringerte sich auf zehn, auf fünf Meter. Das genügte. Ein Druck auf den Knopf – die Schiebetür glitt ein Stück zurück. Die Hand hielt den Schreibblock des Funkgeräts, dessen Blätter durch eine Klammer gesichert waren, wurf bereit. Der Pilot im unteren Flugzeug drehte den Kopf zurück. Er riß nun doch die Augen auf. Sein Gesicht wurde fahl. Sah er Gespenster? Wo hatte der Verfolger die Tragflächen. Wollte der Mann in dem fliegenden Rumpf ihn rammen? Die Maschine sackte unter dem Schreck ein Stück ab. Der Pilot riß sich zusammen. Sun Koh kam nach. Er lag über dem Schwanzende. Der rückwärtige Sitz glitt ihm entgegen. Da war Joans Gesicht, überwältigt von Schreck und Staunen, Entsetzen und Hoffnung. Ein Ruck – der Block flog. Der Fahrtwind wuchtete gegen ihn, schien ihn ablenken zu wollen – nein, richtig berechnet. Er landete bei Joan Martini, schlug gegen ihren Arm. Eine Sekunde nur, dann schoß der silberne Rumpf nach vorn, gewann jäh Geschwindigkeit und zog steil nach oben. Joan Martini hatte Sun Koh erkannt. Sie begriff, daß er ihr eine Botschaft sandte. Ihre Hände griffen nach dem Block. Ein einziges Wort: Losschnallen! Die Angst würgte sie ab, obgleich sie dagegen anging. Sie besaß selbst ihren Flugschein und wußte, welches Risiko sie einging. Die Gurte waren das einzige, was ihr leidliche Sicherheit gab. Wenn sie sich losschnallte, genügte ein Luftloch, um sie herauszuschleudern. Mühsam riegelte ihr Wille die Furcht ihres Körpers ein. Ihre Finger zitterten, aber sie lösten die Schnallen. Die Gurte fielen zur Seite. Ihr Körper war frei. Es war höchste Zeit. Schon schoß der fliegende Rumpf wieder heran, war dicht hinter ihr und ein Stück über ihr. Dreißig Meter. Zwanzig Meter. Dem Piloten saß das Grauen im Nacken. Er begriff nicht mehr, was vorging. Was wollte dieser Verrückte? Rammen? Der Kerl würde sich hüten. Die Beute war zu wertvoll, um sie zu gefährden. Nur nicht bluffen lassen. Sun Koh hing wieder seitlich in den Gurten. Die Tür rollte ganz zurück. Wütend schlug der Fahrsturm mit igroben Fäusten herein. Die nächste Sekunde würde alles entscheiden. Joan hatte begriffen. Und sie besaß Mut. Ihre Augen suchten ihn. Sie verließ sich auf ihn. Ihr Gesicht war farblos, aber sie nickte und erhob sich geduckt, als wollte sie dem rettenden Griff entgegenkommen. Sie erwartete den Tod oder die Rettung. Eine Kleinigkeit drosseln. Der liegende Rumpf kam auf die gleiche Geschwindigkeit wie die kleine Maschine. Eine Winzigkeit Steuer. Er senkte sich langsam. Die Sekunde dehnte sich im Zeitlupentempo. Zwei Flugzeuge rasten am Himmel entlang, aber ihre relative Geschwindigkeit zueinander wurde immer geringer. Jetzt nur noch zehn Kilometer, jetzt nur noch fünf – nicht mehr als die Geschwindigkeit eines Fußgängers. Beide Maschinen schienen nebeneinander stehenzubleiben. Nur zur Erde durfte man nicht sehen, nur auf den Druck der Luft durfte man nicht achten.
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Langsam, fast schneckenhaft langsam holte der fliegende Rumpf von hinten her auf. Sun Koh hing in den Gurten, die er um seine Hüften geschlungen und doppelt gesichert hatte. Dafür war sein Oberkörper frei. Einen Meter wenigstens mußte er seine Hände vorwerfen können, sonst war alles verloren. Er hing nun über dem Rücksitz, genau über Joan. Der Fuß erreichte das Tiefensteuer. Ein Krachen und Splittern, ein wilder Aufschrei. Sun Kohs Maschine fiel wie ein Stein auf das kleine Sportflugzeug und schlug es in die Tiefe. Aber im gleichen Augenblick, in dem Metall auf Metall krachte, warf sich Sun Koh nach vorn und griff zu. Er packte die Arme, die Joan ihm unwillkürlich entgegenstreckte, riß sie mit einem Ruck aus dem Sitz heraus und griff nach. Mit einem zweiten Ruck, der alle seine Kraft erforderte, warf er sich mit seiner Last in den Pilotenraum hinein. Die beiden Flugzeuge stürzten eng beieinander wie Steine in die Tiefe. Die Erde wuchs ihnen jäh entgegen. Hundert Meter, zweihundert Meter. Jetzt lösten sie sich. Aus der kleinen Maschine schlug eine Flamme. Ein Rauchschweif zog hinterher. Die Maschine stellte sich auf den Kopf, bäumte sich explodierend wieder auf – eine Tragfläche und eine dunkle, rauchende Masse schmetterten der Erde entgegen. Der fliegende Rumpf wirbelte in eine enge Spirale hinein. Sie öffnete sich, wurde weiter. Jetzt glitt das Flugzeug aus ihr heraus und ging in den Gleitflug über. Nur noch dreihundert Meter über dem Boden. Die Düsen nahmen es wieder auf ihren kraftvollen Strahl. Der Rumpf rollte langsam herum. Die Tragflächen schwenkten aus. Eine normale Maschine glitt über die Landschaft, als wäre nichts geschehen. Jetzt senkte sie sich weiter. Wald, dann weites Wiesengelände. Die Räder kamen heraus, faßten den Boden und rollten. Die Maschine stand. Sun Koh hob Joan aus seinen verkrampften Armen heraus und setzte sie in den Sessel des Chefpiloten. Sie hatte im Augenblick des Zusammenstoßes die Besinnung verloren und war noch nicht wieder bei Bewußtsein. Er machte sich von den Gurten frei, atmete erlöst auf und ging nach hinten. Im Waschraum fand er Wasser und Tücher. Joan schlug die Augen auf, so langsam und zögernd, als wage ihre Seele nicht, ins Leben zurückzukehren. Ihre Augen gingen leer über das Gesicht Sun Kohs, das dicht vor ihr war. Dann zuckte das Erkennen auf. Und dann seufzte sie tief. »Sun? Wir sind gerettet?« Er nickte und lächelte sie liebevoll an. »Ja, wir sind gerettet.« »Danke, Sun. Ich rechnete nicht mehr damit, aber ich dachte, der Tod würde immer noch leichter sein als ein Leben in Garcias Gewalt.« Sie berichtete ihm, was geschehen war. »Es waren also Garcias Leute?« fragte Sun Koh. »Sie sprachen von ihm. Er wartet irgendwo auf mich, und sie sollten mich zu ihm bringen.« Sie zögerte und blickte in das düstere Gesicht Sun Kohs, dann fuhr sie fort: »Ich – ich fürchte mich vor ihm, Sun. Er wird es immer wieder versuchen, und dann sind Sie nicht mehr da, um mich zu beschützen. Lassen Sie mich mit Ihnen reisen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es geht nicht, Joan. Die Gefahren würden an meiner Seite doch ungleich größer sein.« »Aber...« »Keine Angst vor Garcia. Peters weiß in seiner Heimat einen Ort, an dem Sie sich sicher fühlen können. Wir werden Sie dort hinbringen, bevor wir nach Yukatan fliegen. Niemand wird erfahren, wo Sie sich aufhalten, auch Garcia nicht.« In ihre Augen traten Tränen, und sie senkte den Kopf. »Ich muß mich wohl damit abfinden, Sun.« Er nahm sie in seine Arme. Seine Stimme klang weich: »Nicht weinen, Joan. Wir wollen vernünftig sein. Du bist mir zu lieb, um dich in den Urwäldern Yukatans zu gefährden. Warte auf meine Rückkehr.« Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. »Ich werde auf dich warten, Sun. Die Tage werden zu Ewigkeiten werden, aber mein Herz wird bei dir sein und für dich beten.«
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7. Tage später senkte sich das silberglänzende Flugzeug mit dem röhrenbewehrten Rumpf in eine Lichtung des unübersehbaren Urwaldes hinein, der die Halbinsel Yukatan filzartig überwuchert. Drei Männer sprangen heraus! Sun Koh, Peters und Nimba. Sie musterten stumm die seltsame Umgebung. Sie befanden sich mitten im Urwaid, aber vor ihnen erhoben sich mächtige Terrassen, die mit Schutt und Trümmern übersät waren. Auf der obersten Terrasse lastete ein mächtiger, langgestreckter Bau von fremdartiger Schönheit, mit reich ornamentierter Fassade, izum Teil zerstört und abgesprengt, von Baumwurzeln durchzogen und aufgebrochen, halb versunken in einem alles überschwemmenden Dickicht. Dahinter hob sich eine steinerne Pyramide gegen den Himmel, flankiert von mächtigen Ruinen. Eine verschollene Stadt im Urwald. Das war es, was sie gesucht hatten, aber der Anblick überwältigte trotzdem. »Phantastisch!« murmelte Peters schließlich beklommen. »Das ist wie ein Traum.« »Ja«, sagte Sun Koh. »Man erzählte uns ja in Merida, was wir zu sehen bekommen würden.« »Meinen Sie, daß das der riesige Platz ist?« »Ich weiß es nicht. Für die hiesigen Behörden scheint es jedenfalls die einzige Ruinenstadt im Urwald zu sein, die unseren Erwartungen entsprechen könnte. Aber ich wundere mich. Hier in Uxmal sollen doch Ausgrabungen erfolgen. Man hat uns doch erzählt, daß sich gegenwärtig hier ein Dutzend Wissenschaftler mit einer ganzen Menge von Arbeitern befindet. Ich sehe aber keinen Menschen.« Seine Begleiter blickten ihn bestürzt an. Er hatte recht. Die Lichtung war leer und unheimlich still. Selbst die Tierwelt schien ausgestorben zu sein. Von den seltsamen Ruinen ringsum schien ein Bann auszugehen, der wie ein Leichentuch lastete. Doch schon wies Nimba mit der Hand. »Dort – ein Mann!« Sun Koh wandte sich um. Um die Ecke des riesigen, hundert Meter langen Palastes bog eben ein Mann. Er sah reichlich merkwürdig aus. Der helle Tropenanzug war zerrissen, beschmutzt und zerknittert. Er hatte sich wohl seit vielen Tagen nicht gewaschen und rasiert. Zwischen den Stoppeln des Bartes glänzte die schweißige Schmutzkruste. Der Mann schwankte heran. Sein Weg hatte mit einer geraden Linie nichts zu tun. Er beschrieb dauernd Kurven. Ohne erkennbare Ursache taumelte er bald nach rechts und bald nach links. »Der ist ja betrunken«, sagte Peters. So war es auch. Der Mann stank aus allen Poren nach Alkohol. Und er schien es zu wissen. Während er herantorkelte, rief er: »Nur nicht aufregen, ich komme schon zu euch. Bin besoffen bis oben hin.« Sun Koh griff zu, packte ihn an seiner zerrissenen Jacke. »Wer sind Sie?« Der Betrunkene riß die Augen auf. »Ich – wer ich bin ... Ich bin – Ralph Harding – Tiefbau-Ingenieur im Dienst der National Geographie Society. Totengräber hätte ich lernen sollen. Und wer sind Sie?« »Was ist hier los?« fragte Sun Koh scharf. »Wo sind Ihre Leute?« Der Körper des Betrunkenen schwankte haltlos hin und her. »Sie sind direkt in der Hölle gelandet.« »Wo sind die anderen?« beharrte Sun Koh. »Die anderen?« murmelte Harding, während ihn ein Krampf zusammenzog. »Wir – wir waren achtzehn in der NGS-Kommission, dazu 76 Arbeiter. Die größere Hälfte ist tot, der Rest wahnsinnig.« »Das heißt?« fragte Sun Koh, während er das verwüstete Gesicht des Mannes durchforschte. Der Ingenieur hob apathisch die Schultern. »Ich grüble seit Tagen darüber und bin zu keinem Ergebnis gekommen. Ich kann Ihnen nur die Tatsachen berichten. Kommen Sie mit, ich will Ihnen etwas zeigen.« Er schritt mit gesenkten Schultern die dreistufige Terrasse hinauf, auf der sich die gewaltigen Quadermauern mit den riesigen Ornamenten erhoben. An einer der Öffnungen blieb er stehen und wies auf den Toten, der dort lag. Der Tote sah grauenhaft aus. Gesicht, Arme und Beine waren aufgetrieben und entstellt. Es fiel nicht leicht, in ihm noch einen Menschen zu erkennen. »Hier, sehen Sie sich den Mann an«, murmelte Harding. »Er starb vor drei Tagen wie die anderen. Ich sah ihn fallen. Er rannte wie ein Irrer hier hinein, als könnte ihn der Schatten retten. Er liegt so seit drei Tagen, aber das sind nur zum Teil Verwesungserscheinungen.
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So sah der Mann schon vor drei Tagen aus, so aufgedunsen, entstellt und verrenkt. Und alle anderen, die ich gefunden habe, sehen genauso aus.« »Erzählen Sie«, bat Sun Koh, während sie wieder in die scharfe, blitzende Sonne hinaustraten. »Gut, soweit es etwas zu erzählen gibt. Das war vor drei Tagen. Ich ging wie gewöhnlich an meine Arbeit. Eine verfluchte Hitze wie heute. Plötzlich brüllt einer auf, wirft sich nieder und will sich in den Boden hineinwühlen. Seine Glieder verrenken sich, sein Gesicht schwillt schnell an. Verrückt geworden, denke ich. Sonnenstich oder so etwas. Ich renne hin. Da war er schon tot. Damit begann es. Eine Viertelstunde später lagen von den drei Dutzend Leuten, die bei mir waren, zwei Dutzend als Leichen herum, und die anderen krochen wie die Wahnsinnigen in die Baracken, unter die Bäume und überallhin, wo Schatten war. Genützt hat es ihnen nichts. Sie sind nur langsamer gestorben.« Peters griff sich unwillkürlich in den Nacken und blickte zur hochstehenden, stechenden Sonne. Der Ingenieur bemerkte es und lachte miß tönig auf. »War auch mein erstes, mich an die Sonne zu halten. Sie muß mit der Geschichte zu tun haben. Ich weiß bloß nicht, wieviel. Was nicht gleich tot war, floh vor ihr. Acht von unserer Kommission habe ich draußen tot gefunden und begraben. Die anderen habe ich bis jetzt noch nicht wiedergesehen. Hinten am Wald stehen unsere Baracken. Ich wollte mit den anderen sprechen, aber sie hatten alles verbarrikadiert, sogar die Ritzen verstopft. Ein paar stöhnten. Nur Campbell war leidlich auf der Höhe. Er schien mich für einen Geist zu halten, als er meine Stimme hörte. Wollte wissen, wieso ich nicht tot wäre und ob bei mir nicht die Sonne schiene. Ich wollte hinein, aber er wollte nicht. Er schoß, als ich an die Tür herankam. Er meinte, absolute Dunkelheit wäre die einzige Rettung für alle, die noch lebten. Der Doktor hätte im Sterben vor der Sonne und dem Wasser gewarnt. Ich sollte Hilfe aus Merida holen, Hilfe und frisches Wasser.« »Und?« »So wahnsinnig war ich noch nicht, in den Urwald hineinzulaufen. Die Lastwagen standen da, aber die Fahrer waren mit den Zündschlüsseln verschwunden. Habe mich lieber auch in eine Baracke verkrochen – und dort lag unser Whisky-Vorrat... Na ja, es blieb mir nichts anderes übrig, als zu trinken, wenn ich nicht verdursten wollte. Im Wasser sitzt der Tod.« »Wie meinen Sie das?« »Campbell hat mich gewarnt. Habe natürlich darüber nachgedacht. Komisch, daß alle dran glauben mußten, nur ich nicht. Das mußte doch seine Gründe haben. Nun, sie waren leicht zu finden. Vermutlich war ich nämlich der einzige im Lager, der an jenem Morgen keinen Tropfen Wasser über seine Lippen gebracht hat. Ich hatte am Abend vorher einen Dunstschädel und einen höllischen Brand. Dagegen gibt es kein besseres Mittel als einen Schluck von dem gleichen Stoff, von dem man sich's geholt hat. So schickte ich meinen Boy mit der Teebrühe weg und kippte nur ein Glas Whisky hinunter.« »Sie meinen also, das Wasser ist vergiftet?« fragte Sun Koh. »Ich denke schon«, erwiderte Harding mit schwerer Zunge. »Und ich denke, daß das Gift nur in der Sonne wirkt, sonst könnten die anderen in der Baracke nicht mehr leben.« »Leben sie noch?« Der Ingenieur drehte sich herum und wies stumm auf ein feines Rauchwölkchen, das wie ein blauer Faden am Waldrand hochstieg.
* Don Estobal della Chimarez, der Gouverneur der mexikanischen Provinz Yukatan, hielt in seinem weißen, palastartigen Gebäude am Rand der Hauptstadt Merida seine Siesta. Er lag in seinem dunklen, mit viel Mühe kühl gehaltenen Zimmer auf einem Diwan und schnarchte. »Don Estobal ist jetzt nicht zu sprechen«, sagte der ebenfalls aus seiner Ruhe aufgeschreckte Haussekretär. »Kommen Sie in zwei Stunden wieder.« Sun Koh ging mit einer knappen Handbewegung darüber hinweg. »Sie haben mich vermutlich nicht verstanden. Es handelt sich um das Schicksal der NGS-Kommission und vielleicht auch um das der gesamten Bevölkerung von Merida. Uxmal ist ein Leichenfeld. Soll es Merida ebenfalls werden? Wecken Sie Ihren Herrn, sonst muß ich es tun.«
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»Ich darf nicht«, sagte der Sekretär stur. »Gedulden Sie sich, bitte.« »Dann werde ich ihn also selbst wecken«, erwiderte Sun Koh ungeduldig, schob den Sekretär beiseite und betrat den nächsten Raum. Der Sekretär war über die Gewalt dieses Armes so verblüfft, daß er sprachlos hinterherstarrte. Der Raum war leer. Sun Koh hielt sich nicht lange auf, sondern schritt durch die nächste Tür. Damit traf er richtig. Don Estobal, ein mittelgroßer, schwarzhaariger Mann, schreckte hoch und starrte auf den Fremden, der im Türrahmen stand. »Was – was wollen Sie?« »Eine dringende Unterredung, Don Estobal. Meine Angelegenheit ist dringend.« Sun Koh trat an das nächste Fenster und riß den schweren Vorhang zurück, so daß Licht in den Raum flutete. »Sie dürfen sich meinetwegen aufregen, aber ich muß mit Ihnen sprechen.« Don Estobal verschlug es die Sprache. Eine derartige Unverschämtheit war ihm noch nicht vorgekommen. Er setzte an, um das zu sagen, verzichtete dann aber doch. In dem Wesen des Fremden lag etwas, das zur Vorsicht riet. »Also, was wollen Sie?« fragte er mürrisch, nachdem er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte, ohne dem Besucher einen Platz anzubieten. »Ich komme von Uxmal«, antwortete Sun Koh ernst. »Sie wissen, daß dort eine Expedition der National Geographie Society Ausgrabungen vornimmt. Es waren insgesamt 94 Menschen. Davon leben höchstens noch zehn.« »Was?« Den Gouverneur riß es hoch. »Sie wollen sagen ... Wer sind Sie überhaupt?« »Ich heiße Sun Koh. Ich bin gestern mit zwei Begleitern hier gelandet und heute nach Uxmal weitergeflogen.« »Ah, Sie sind dieser Sun Koh?« Don Estobal wurde einen Schein höflicher. »Man hat mir von Ihnen berichtet. Und Sie wollen im Ernst behaupten, daß in Uxmal...« »Das ist eine Tatsache«, sagte Sun Koh knapp. »In Uxmal liegen rund achtzig Leichen. Der Rest der Leute hält sich versteckt und läßt niemand heran. Wir haben einen einzigen Lebenden angetroffen, und der befindet sich jetzt völlig zerrüttet im hiesigen Krankenhaus. Die Leute sind vergiftet worden, und das Gift befindet sich im Wasser der Cenotes.« »Unmöglich!« entfuhr es Don Estobal, doch Sun Koh ging darüber hinweg. »Sie kennen die geologische Beschaffenheit und insbesondere die Wasserverhältnisse Ihres Landes. Berichtigen Sie mich, wenn ich irre. Yukatan ist im wesentlichen eine flache Platte, die sich auf ausgedehnten, ehemaligen Korallenbänken gebildet hat. Yukatan besitzt keinen einzigen sichtbaren, wohl aber Hunderte von unterirdischen Flüssen und Seen. Nur dort, wo die Erdkruste eingebrochen ist, wird das Wasser sichtbar und zeigt sich an der Oberfläche. Das sind dann gewöhnlich Teiche oder Seen, die Sie als Cenotes bezeichnen. Ist meine Darstellung richtig?« »Gewiß«, bestätigte Don Estobal. »Dann wissen Sie auch, daß von Uxmal ein unterirdischer Fluß direkt nach Merida fließt. Das bedeutet, daß das Wasser, das sich vergiftet in den Cenotes von Uxmal befand, in verhältnismäßig kurzer Zeit in Merida eintreffen wird. Wenn die Vergiftung des Wassers stark genug ist oder gar anhält, bedeutet das weiterhin, daß die Bewohner dieser Stadt von dem gleichen Verhängnis bedroht sind wie die Archäologen. Ich weiß nur nicht, ob das Wasser der Cenotes hier ebenfalls als Trinkwasser benutzt wird.« »Ja, was denn sonst?« Der Gouverneur sprang erregt auf. »Aber wer sollte denn das Wasser in Uxmal vergiften? Zu welchem Zweck? Und woher sollte er soviel Gift nehmen, um die Cenotes völlig zu verseuchen? Senor, Sie haben entweder geträumt, oder Sie wollen mich zum Narren halten!« Das bronzene Gesicht Sun Kohs blieb unbewegt. »Nehmen Sie an, daß beides nicht der Fall ist, daß ich Ihnen also die Wahrheit sage. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Trinkt man in Merida aus den Cenotes?« »Ja, nur geht das Wasser erst in die Behälter der Wassertürme und fließt von dort aus gereinigt in die Stadt. Wir haben in den Neubauvierteln eine Wasserleitung ...« »Deswegen also blieb die Stadt bisher verschont«, sagte Sun. »Aber schon jetzt kann vergiftetes Wasser durch die Leitungen laufen. Sorgen Sie dafür, daß die Leitungen gesperrt werden, selbstverständlich auch die Cenotes. Lassen Sie zur Trinkwasserbeschaffung einen der unterirdischen Flußläufe anschließen, die keine Verbindung mit Uxmal besitzen.«
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Don Estobal hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Es dauerte eine Weile, bevor er den richtigen Mann aus seiner Siesta herausgeholt hatte. Dann glitten Fragen und Antworten durch den Draht. Der Gouverneur gab einen erstaunten Ausruf von sich, dem ein wilder Schwall von Worten folgte. Sein Gesicht verfärbte sich. Es war sehr blaß, als Don Estobal später mitteilte, was er gehört hatte. Im Laufe der letzten Stunden waren völlig rätselhafte Erkrankungs- und Todesfälle gemeldet worden, die alle die ärmste Bevölkerung am Rand der Stadt betrafen. Dort holte man das Trinkwasser direkt aus den Cenotes. »Sie hatten also doch recht«, gab Don Estobal bestürzt zu. »Eine Seuche bedroht uns. Ihre Warnung verhütet eine Katastrophe. Ich werde sofort die entsprechenden Anordnungen treffen. Können Sie mir sonst noch einen Rat geben?« »Man müßte die Ursache der Vergiftung feststellen«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Haben Sie einen Fachmann für Gifte hier?« »Señor Madriga. Der Präfekt hat ihn bereits zugezogen. Er hat jedoch bisher noch keine Erklärung gefunden.« »Ich möchte ihn sprechen. Außerdem brauche ich Leute und Transportmittel, um die Überlebenden von Uxmal zu retten. Wenn Sie mir behilflich sein würden...« »Selbstverständlich, selbstverständlich«, versicherte Don Estobal jetzt sehr diensteifrig.
* Sie fanden Madriga am Rand der Stadt in einer schmutzigen Hütte über einen Toten gebeugt. Der Gelehrte war alt, mindestens siebzig, und körperlich nicht mehr sehr rüstig, aber seine Augen waren noch lebendig und voller Klugheit. Er ließ die Vorstellung über sich ergehen, hielt sich aber nicht mit Förmlichkeiten auf. »Ich habe keine Zeit für Redereien«, erklärte er unwirsch. »Diese Sache sieht übel aus, und ich weiß noch nicht, was los ist. Sie meinen, daß es am Wasser und an der Sonne liegt? Warum nicht?« »Gibt es ein Gift, das solche Wirkung haben könnte?« Madriga blickte Sun Koh neugierig an und wurde darüber zugänglicher. »Hm – ein derartiges Gift ist mir nicht bekannt. Dabei beschäftige ich mich seit Jahrzehnten mit der Toxikologie. Aber dieses Gift – ein Gift, das im Dunkeln unwirksam ist, dagegen bei Sonnenlicht unter Ausdünstungen der Hautpartien, Entstellungen und Verrenkungen zum Tode führt – nein, das gibt es nicht, das... Oder doch? Wo habe ich denn bloß ... Da war doch eine Notiz ... Ich muß sofort einmal nach Hause und nachsehen ...« Der Gouverneur sagte: »Wir kommen selbstverständlich mit. Mit meinem Wagen kommen Sie viel schneller nach Hause. Bitte, steigen Sie ein.« Sefior Madriga blieb auf der ganzen Fahrt mit seinen Gedanken beschäftigt. Ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, was niemand verstand. Sobald der Wagen vor seiner Haustür hielt, sprang er heraus und hastete ins Haus, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern. Sun Koh und Don Estobal, die langsamer nachfolgten, fanden ihn bereits in seinem Arbeitszimmer über einem Wust von Zeitungen und Zeitschriften, die er wild durcheinanderwarf. Wenig später schwenkte er voll Genugtuung ein Blatt durch die Luft. »Hier ist es. Ich wußte doch, daß ich da irgendwo irgendwas flüchtig gelesen hatte. Hier ist die Lösung. Hören Sie selbst... Die Heilwirkung des Sonnenlichts ist eine bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist, daß bei Tieren und auch bei Menschen durch das Sonnenlicht schwerste Krankheitserscheinungen und schließlich der Tod hervorgerufen werden, wenn sich im Blut bestimmte Farbstoffe befinden. Diese Substanzen – es handelt sich zumeist um Farbstoffe, die dem normalen Blutfarbstoff verwandt sind – haben die Eigenschaft, den Organismus gegen die Einwirkungen des Lichts überempfindlich zu machen. Professor H. Fischer fand, daß ein solcher Farbstoff, das Hämatoporphyrin, im Blut mancher Menschen in übernormaler Menge auftritt. Diese Menschen erkranken nicht, wenn sie sich im Dunkeln aufhalten, sobald sie sich aber dem Licht aussetzen, zeigen sich die schädlichen Wirkungen: Die Körperteile, die vor dem Licht am wenigsten geschützt sind, werden völlig zerstört. Sämtliche bestrahlten Hautpartien schwellen an und werden fürchterlich entstellt. Um die Ursache dieser unheimlichen Krankheit aufzudecken, hat der Wiener Forscher Professor Hausmann
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Tierexperimente vorgenommen. Er spritzte verschiedenen Tieren die Farbstofflösungen ein und fand genau dasselbe Ergebnis wie beim Menschen. Manche Tiere starben sofort nach der Bestrahlung, während andere schwer erkrankten und allmählich eingingen. Es besteht also die höchst seltsame Tatsache, daß das Sonnenlicht unter bestimmten Umständen Menschen und Tiere zu töten vermag. Über die näheren Einzelheiten dieser Erscheinung ist sich die Forschung vorläufig noch nicht im klaren.« Er schwieg. Eine Weile lastete Stille im Raum. Dann sagte Sun Koh leise: »Hämatoporphyrin? Würde das Rätsel damit nicht noch größer werden? Wie sollte ein solcher Blutfarbstoff auf einmal in das Wasser der Cenotes kommen?« »Braucht ja kein Blutfarbstoff zu sein«, überlegte Madriga. »Vielleicht ein anderer Stoff, der sekundär die Bildung solcher Blutfarbstoffe im Körper bewirkt? Damit wird freilich das Rätsel auch noch nicht kleiner. Wir müssen eine Lösung von dort aus versuchen, wo es zuerst auftrat.« »Also nach Uxmal«, sagte Sun Koh.
* Sie standen wieder zwischen den Ruinen von Uxmal. Madriga hatte es vorgezogen, sich von Sun Koh mit dem Flugzeug mitnehmen zu lassen und sich nicht der langsameren Fahrkolonne des Gouverneurs anzuvertrauen. »Haben Sie sich hier schon umgesehen?« fragte er, und als Sun Koh verneinte, wurde er eifrig. »Dann wollen wir das jetzt nachholen, bevor die anderen eintreffen. Ich bin mit dem Gelände hier ziemlich vertraut.« Sie standen fast an der gleichen Stelle, an der sie bereits am Vormittag gelandet waren. Vor ihnen erhoben sich die drei mächtigen Terrassen, die den riesigen Bau trugen. »Die Casa del Gobernador«, erklärte Madriga. »Der Gouverneurspalast. Die größte Ruine dieser Stadt. Die unterste Terrasse ist fast zweihundert Meter lang und hundert Meter breit. Die beiden anderen Terrassen sind jedesmal um zehn Meter höher, mit zehn Meter breiten Absätzen. An den Trümmern sehen Sie noch, daß alle drei Terrassen ehemals mit Mauerwerk bekleidet waren. Kommen Sie, sehen wir uns den Bau aus der Nähe an. Der Palast selbst ist hundert Meter lang, aber nur zwölf Meter breit. Seine frühere Höhe läßt sich nicht mehr feststellen, aber noch heute beträgt die Höhe der stehenden Reste acht Meter.« »Allerhand!« sagte Peters bewundernd. »Wie kommen bloß diese mächtigen Bauten hierher?« »Toltekenbauten«, erwiderte Madriga. »Zweifellos haben hier vor Jahrtausenden Völker gesessen, denen gegenüber die heutige Bevölkerung Yukatans nur ein Stamm primitiver Wilder ist. Jene Völker sind versunken und verschollen. Nur ihre riesigen Bauten blieben stehen. Hier sehen Sie solche stummen Zeugen. Wer waren ihre Erbauer? Azteken oder die noch früheren Mayas? Wenn wir erst einmal imstande sein werden, diese zahlreichen Hieroglyphen zu deuten, werden wir mehr wissen.« Der drei Meter hohe Unterbau der Casa del Gobernador zeigte nur kahles Mauerwerk aus Steinquadern. Die Fassade darüber wies jedoch reiche Ornamentierung auf, zum Teil zerstört und abgesprengt und überwuchert von Sträuchern und Pflanzen, die eine üppige Tropennatur auf dem Dach und zwischen den Steinen hatte gedeihen lassen. Die Männer traten durch eines der drei schmalen Tore an der Ostseite in das Innere. Eine Flucht von Gemächern öffnete sich. Merkwürdige, reiche Skulpturen bedeckten die Wände: verschlungene Arabesken, Menschen, Tiere und verschiedene Figuren in grotesken Formen. Über den Räumen wölbten sich eigenartige Spitzbogendecken. Sie wurden dadurch gebildet, daß der höhere Baustein immer ein Stück über den nächstunteren hinausragte. Die obersten Steine standen mindestens einen halben Meter voneinander ab und trugen sieben Meter über dem Boden als Verbindung eine einzige große Deckplatte. »Kühn, nicht wahr?« sagte Madriga lächelnd, der das Staunen in den Augen seiner Begleiter richtig zu deuten wußte. Sie nickten und folgten ihm wortlos hinaus. Von der Höhe der Terrasse genossen sie einen gewissen Umblick. Hier und dort blinkten aus dem Urwald fahle Steintrümmer. »Hier liegen Dutzende von Palästen im Dickicht«, sagte Madriga, während sie hinabstiegen. »Dort drüben zum Beispiel die Casa de la Vieje, weiter links die Casa de las Palomas. Hier die Casa de las Monjas, das
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sogenannte Nonnenhaus, ist wohl die am schönsten geschmückte Ruine.« Sie erreichten einen quadratischen Hof, der von vier langen Gebäuden umschlossen wurde. »Jedes dieser Gebäude ist achtzig Meter lang«, sagte Madriga. »Hier wohnten wahrscheinlich die TempelJungfrauen, die bei den religiösen Festlichkeiten sangen und tanzten. Muß ein netter Betrieb gewesen sein.« Wenig später standen sie am Fuß einer quadratischen Pyramide, die sich mindestens dreißig Meter über das grüne Dickicht des Urwaldes hinaushob. »Sagen Sie mir um Himmels willen, wie diese Pyramiden hierherkommen«, bat Peters. »Haben hier etwa Ägypter gewohnt? Es ist doch unmöglich, daß zwei so grundverschiedene Völker, die durch einen Ozean getrennt sind – hier die Tolteken oder Mayas, dort die Ägypter – fast zur gleichen Zeit die gleichen Bauten ausführen.« Señor Madriga machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Man kann nicht für unmöglich erklären, was von vornherein durch solche steinernen Tatsachen als wahr belegt wird. Die Zusammenhänge zwischen den Ruinen Yukatans und denen Ägyptens sind tatsächlich überraschend. Ihnen fallen gerade die Pyramiden auf. Gut, bleiben wir dabei. Im Urwald unserer öden Halbinsel gibt es Dutzende solcher Ruinenstädte wie Uxmal, von denen der größte Teil vermutlich noch nie vom Fuß eines Weißen betreten wurde. In diesen Städten befinden sich Hunderte solcher Pyramiden. Ihr Alter wird auf rund drei- bis viertausend Jahre geschätzt. Das Alter der Castillo-Pyramide bei Chichen Itza zum Beispiel ist auf 4130 Jahre festgelegt worden.« »Die Pyramide von Gizeh, in Ägypten, wird nicht viel älter sein«, sagte Peters. »Da Sie gerade Gizeh erwähnen – in Chichen Itza fand man sogar eine Sphinx. Sie ist etwas kleiner und älter als die in Ägypten, aber bis auf die kleinsten Einzelheiten der Gesichtszüge von auffallender Ähnlichkeit. Es ist ein steinerner Leopard mit einem Menschenhaupt, der in charakteristischer Haltung auf einem prächtigen Grabmal sitzt.« »Das wäre ein wichtiger Beweis für die Übereinstim7 mung der Kulturen Ägyptens und Yukatans«, warf Sun Koh ein. »Gewiß«, stimmte Madriga zu, »aber das ist nur ein Teil davon. Sie glauben gar nicht, wieviel Pyramiden es in Mexiko gibt. Bei Teotihuacan, in der Nähe der Stadt Mexiko, befinden sich wohl die ältesten. Bei Cholula stehen allein vierhundert Stück. Es ist leicht, eine Erklärung zu fordern, aber schwer, sie zu geben. Versuchen Sie, sie selbst zu finden. Stellen Sie sich das Kartenbild des Atlantischen Ozeans vor. Im Osten Europa und Afrika, im Westen Amerika mit Mexiko. Pyramiden in Ägypten, Pyramiden in Mexiko. Aber nicht dort allein. Wir dachten bisher immer nur an die riesigen Spitzenerzeugnisse der alten Baukulturen. Ihre Vorläufer waren sicher einfacher, kleiner und schlichter. Auch sie dienten zur Bestattung der Toten oder als Träger von Tempeln. Sie finden nun hier auf Yukatan unzählige solcher kleiner Erdpyramiden, aber Sie finden sie auch an den Ufern des Mississippi und Ohio. Die gleichen Frühformen entdeckt man in Europa wieder. In den italienischen Provinzen Modena und Parma gibt es Lehm- und Mergelhügel – Terramare genannt -, die von einer Urbevölkerung aufgeworfen wurden, die schon zur Zeit der ersten Römer verschollen war. Der Salisbury-Hügel bei Aveborough in England ist ein künstlich aufgeworfener Erdhügel mit Steinkreisen und Zeichen, die den am Mississippi gefundenen gleichen. In Irland wurden die Toten in Steingrüften beigesetzt, über die man Erde in Form von Pyramiden aufschüttete und an der Spitze abflachte.« »Es scheint mir kein Zweifel zu sein, daß die Kulturen dieser pyramidenbauenden Völker Yukatans und Ägyptens eine gemeinsame Quelle haben müssen«, überlegte Peters vorsichtig. »Ganz richtig«, bestätigte Don Madriga etwas spöttisch. »Und wo soll sie sich befinden?« »Ich bin Techniker, aber nach meinem simplen Verstand ist der Mittelpunkt dieser Übereinstimmung der Atlantik. Ich möchte also annehmen, daß früher eine Landverbindung zwischen Yukatan und Ägypten bestanden hat.« Madriga lächelte wohlwollend. »Sie drücken genau meine persönliche Überzeugung aus. Es muß ehemals einen verbindenden Erdteil gegeben haben, der Menschen und eine hohe Kultur trug. Ägypten und Yukatan sind gewissermaßen nur nachgelassene Kolonien. Der Erdteil selbst ist versunken. Aber er war da, und wenn es hundert Gelehrte abstreiten. Er liegt unter den rollenden Wogen des Ozeans begraben. Diese steinernen Denkmäler zeugen von ihm, gewichtiger und
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unerschütterlicher selbst als die Überlieferungen und Sagen der Völker. Sein Schicksal kennen wir nicht genau, aber sein Name geistert durch alle Jahrtausende – Atlantis!« »Atlantis!« sannen die Männer und schritten stumm nebeneinander her.
8. Die Nacht warf blitzschnell ihr dunkles Tuch über die tropische Erde. Im Ruinenfeld von Uxmal flammten gespenstisch Fackeln und Laternen auf. Die Hilfskolonne trug die Toten zusammen. Ein Trupp Männer näherte sich der Baracke, die stumpf und schweigend am Waldrand stand. Nichts regte sich in ihr. Ungehindert gelangten die Männer bis zur Tür. Eine Hand drückte die Türklinke. Sie gab nicht nach. Dumpf dröhnte eine Faust gegen das Holz. »Ich schieße!« kam matt eine Stimme heraus. »Wer seid ihr?« »Polizei und Ärzte von Merida. Öffnet!« »Nein, das wäre der sichere Tod. Die Sonne tötet.« »Es ist dunkle Nacht. Wir brechen auf.« Keine Antwort. Sun Koh trat in den Lichtkreis und stemmte sich gegen die Tür. Ein ächzendes Ziehen, ein schärferes Knirschen, dann ein kurzer Krach – die Tür flog auf. Pestend quoll ein Luftschwall heraus. Mit einem letzten Rest von Kraft taumelte ein Mann in Suns Arme. Sein Haar war weiß, seine Wangen waren hohl und seine Augen fiebrig glühend. Sun Koh trug ihn in die frische Luft und flößte ihm einen Schluck Alkohol ein. Die anderen durchsuchten die Baracke. Was sie fanden, war grauenhaft. In den wenigen Räumen lagen vierzehn Tote, entstellt und verrenkt. Acht Männer lebten noch, nicht mehr als ein Häufchen Elend. Vorsichtig wurden sie abtransportiert. Don Estobal, Madriga, Sun Koh und Peters standen neben dem Mann, den Sun Koh herausgetragen hatte. Es war Campbell, der Leiter der Expedition. Er kam langsam zur Besinnung. »Wir sind fast verhungert«, murmelte er. »Am Tag durften wir nicht hinaus und waren dann zu schwach, um zu flüchten. Wir hatten nur ein paar Biskuits. Gott sei Dank war genügend Sodawasser vorhanden, sonst wären wir verdurstet. Das Wasser ist hier vergiftet.« »Wir wissen es«, sagte Sun Koh. »In das Wasser ist ein Stoff eingedrungen, der das Blut überempfindlich gegen Sonnenstrahlen macht. Daher wirkt die Sonne tödlich, während Sie im Dunkeln am Leben bleiben.« »Der Doktor ahnte es«, flüsterte Campbell. »Er starb als einer der ersten. Vorher rief er noch einen lateinischen Namen, und daß die Sonne schuld sei und vielleicht auch das Wasser. Wir sollten uns um Gottes willen vor dem Licht hüten. Absolute Dunkelheit – das waren seine letzten Worte. Wir handelten sofort danach, aber die Hälfte von uns war schon tot, bevor noch die Ritzen verstopft waren.« Madriga beugte sich über ihn. »Geschah am Tag vorher etwas Besonderes, das mit dem Wasser in Verbindung stand?« »Nein, nichts.« »Hatte die Expedition Feinde, denen ein solcher Anschlag zuzutrauen war?« »Unmöglich!« hauchte Campbell. »Völlig ausgeschlossen. Alles rätselhaft.« Er sank wieder zusammen. Don Estobal winkte Träger mit einer Bahre heran. Sun bettete den Bewußtlosen behutsam. Man trug ihn fort. Don Estobal räusperte sich. »Also nicht der geringste Anhaltspunkt. Wenn die Überlebenden nichts wissen ...« Sun Kon fühlte eine Berührung an seinem Arm. Nimba war unhörbar neben ihn getreten und hielt ihm ein Blatt Papier hin. »Das wurde eben für Sie abgegeben.« »Für mich?« wunderte sich Sun Koh. »Von wem?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Nimba leise. »Jemand lief an mir vorbei, drückte mir das Blatt in die Hand und sagte, es wäre für Sie.«
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Das Licht fiel auf das Papier. Es war ein einfacher weißer Bogen ohne Kennzeichen. Darauf standen wenige Zeilen. »Ihre Ankunft in Merida wurde mir gemeldet. Ich wünsche nicht, daß sie Yukatan überfliegen. Kehren Sie um. Wenn Sie diese Aufforderung mißachten, ist Ihr Leben in Gefahr. Eine weitere Warnung erfolgt nicht.« Keine Unterschrift. Sun Kon wollte eben das Blatt an Peters weitergeben, als einer der Fahrer an Don Estobal herantrat, salutierte und ihm einen Brief überreichte. Der Gouverneur verbarg sein Erstaunen hinter einem Scherz. »Die Postzustellung scheint hier besser zu funktionieren als in Merida.« Der Gouverneur überflog das Schreiben und vermochte dabei seine Überraschung nicht zu verbergen. »Wichtige Nachrichten?« erkundigte sich Madriga. »Nichts Besonderes. Gehen wir.« Sie schritten durch die Ruinen auf die Stelle zu, an der die Wagenkolonne wartete. Don Estobal reichte Sun Koh die Hand. »Ich bitte Sie, heute abend mein Gast zu sein. Hoffentlich bereitet Ihnen der Aufstieg bei Nacht keine Schwierigkeiten.« Sun Koh beobachtete ihn scharf, antwortete aber leichthin: »Vielen Dank für Ihre liebenswürdige Einladung, aber leider kann ich sie nicht annehmen. Ein Start während der Nacht ist unmöglich.« »Schade, wirklich. Dann darf ich also morgen mit Ihnen rechnen.« »Ich bin untröstlich, aber wir wollen morgen schon ein gutes Stück weiter im Innern sein. Meine Zeit ist beschränkt. Ich hoffe, daß ich morgen noch einiges zur Aufklärung dieser rätselhaften Vergiftung beitragen kann, aber dann muß ich weiter.« Don Estobal zog nervös an seinem Kragen. »Señor, es ist mir ungeheuer peinlich, aber Sie werden Ihre Pläne wohl ändern müssen.« Die Luft war plötzlich voller Spannung. »Warum?« fragte Sun Koh. »Ich kann Ihnen die Erlaubnis, das Land zu überfliegen, nicht geben«, sagte Don Estpbal. »Ich besitze sie bereits.« »Sie wird hiermit zurückgezogen.« »Aus welchen Gründen?« »Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen die Gründe zu nennen.« »Stehen sie in dem Schreiben, das Sie erhielten?« »Nun – ja. Mir sind gewisse Mitteilungen gemacht worden, die mich zwingen, Ihren Flug ins Innere zu untersagen. Ich gestehe, daß mir das unlieb ist, da wir Ihnen viel zu verdanken haben, aber ich kann nicht anders. Versuchen Sie, mein Amt von meiner Person zu trennen. Ich bin an gewisse Weisungen gebunden.« »An die Weisungen Garcias?« »Señor, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich – ich muß jetzt wirklich fahren. Señor Madriga?« Der Gouverneur war so bestürzt und fassungslos, daß er zu seinem Wagen hastete und den Fahrer losfahren ließ, sobald Madriga nachgekommen war. Sun Koh und Peters blieben im Lichtkreis von Nimbas Stabscheinwerfer zurück. Sie blickten der abfahrenden Wagenkolonne nach, dann gingen sie langsam zu ihrem Flugzeug. »Ich erhielt einen Drohbrief«, erklärte Sun Koh seinen Begleitern. »Kurz darauf kam das Schreiben für Don Estobal. Da sich hier kein Postamt befindet, können beide Schreiben nur vom gleichen Absender kommen. Don Estobal erhielt von einem einflußreichen Mann die Anweisung, unseren Weiterflug zu verhindern. Er muß dem Befehl Folge leisten. Vermutlich wird man uns schon vor Morgengrauen mit einem Polizeiaufgebot überfallen.« »Garcia?« fragte Peters. »Wahrscheinlich. Von seiner Macht sprach man sogar in London, und er ist der einzige Mexikaner, den ich als Feind bezeichnen könnte.« »Und die Giftkatastrophe?« »Damit hat er wohl nichts zu tun. Die Ursachen der Vergiftung liegen eher in einem Naturereignis. Wir werden uns morgen früh auf die Suche begeben.« Sun Koh stand noch lange an den Rumpf des Flugzeugs gelehnt. Seine Augen schienen in die Jahrtausende zurückzublicken. In seinen Ohren wandelte sich das wirre Lied der Urwaldmacht zu einem dumpfen, feierlichen Sang, der mit Geisterstimmen aus der Tiefe der Zeiten herauf schwoll.
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* Mit einem Schlag war die Nacht gewichen. Sun Koh und Peters machten sich wenig später auf den Weg. Nimba sollte beim Flugzeug wachen und Alarm geben, wenn die erwartete Polizeimacht aus Merida anrückte. »Versuchen wir es an der Ausgrabungsstelle«, schlug Sun Koh vor, während sie zwischen den Trümmern wanderten. »Ich sehe nur drei Möglichkeiten, um dieses Unglück zu erklären. Die erste wäre ein bewußtes Attentat. Dann wären unsere Bemühungen zwecklos. Man müßte bei den Menschen suchen. Aber meiner Meinung nach scheidet diese Möglichkeit aus. Ein solches Verbrechen wäre allzu sinnlos.« »Sie denken an einen Unglücksfall?« »Man könnte es so nennen. Unsere Erde birgt zahllose Quellen merkwürdigster Zusammensetzung, von der radioaktiven Quelle bis zum Arsenbrunnen. Daran dachte ich vor allem, wenn durch irgendeinen Umstand eine bisher verschlossene Quelle ihr giftiges Wasser in diesen unterirdischen Strom ergießt...« »Aber wie sollen wir das feststellen?« fragte Peters etwas hilflos. »Wenn der Zufluß im Urwald erfolgt, wäre es unmöglich«, räumte Sun Koh ein. »Es bleibt aber die dritte Möglichkeit, und ich halte sie für sehr wahrscheinlich. Das Wasser ist erst seit einigen Tagen vergiftet. Vorher war es rein. Es muß also vor vier Tagen eine Veränderung erfolgt sein, durch die jene unterirdische Quelle geöffnet wurde. Schalten wir den Zufall aus. Wo und durch wen erfolgten hier in der letzten Zeit Veränderungen am Bestand der Erdoberfläche innerhalb dieses Stromgebiets?« »Durch die Ausgrabungen natürlich.« »Richtig. Und das ist unsere Chance.« Sie schwiegen. Der Weg wurde immer schwieriger und anstrengender. Mächtige Steintrümmer erschwerten ihren Weg. Kurz darauf standen sie am Rand einer flachen Senke, einer Sandmulde, aus der Säulen und Mauerreste herausragten. Innerhalb der Senke gab es wieder einzelne Mulden, die noch tiefer führten. Feldbahngleise, Kipploren und allerlei Geräte ließen keinen Zweifel daran, daß hier die Ausgrabungen stattgefunden hatten. Sie schienen jedoch noch nicht weit fortgeschritten zu sein, denn das, was rechts und links aus dem Sand aufragte, waren keine Grundmauern, sondern Gesimse. Erst die Tiefe der Mulden zeigte Steinplatten, über die vor Jahrtausenden Menschen gewandelt waren. »Eigentlich merkwürdig«, sagte Peters. »Dort fast unverschüttet die verfallenen Paläste, und hier zwanzig Meter tiefer vom Sand bedeckt abermals Ruinen. Das sieht fast aus, als ob es sich um zwei verschiedene Städte handelte.« »Leicht möglich«, sagte Sun Koh. »Vielleicht stand vor vielen Jahrtausenden hier eine Stadt, die durch eine Katastrophe zugrunde ging. Jahrhunderte oder Jahrtausende später wurde dann an der gleichen Stelle wieder eine Stadt gebaut, vielleicht ohne daß man ahnte, was sich unter dem Sand verbarg. In Nordafrika wie in Indien gibt es vorgeschichtliche Städte mit acht Kulturgeschichten und mehr übereinander, also Städte, die achtmal und häufiger neu auf den verschütteten Fundamenten älterer Städte aufgebaut wurden.« Sie glitten auf der Schräge der ersten Mulde hinunter und gelangten auf den Boden des Kessels. Er zeigte weiter nichts als breite, steinerne Fußplatten und beiderseits den Ansatz von glatten Mauern. Hier war nichts zu finden. Sie stiegen wieder hinauf. Der zweite Trichter bot ein wesentlich anderes Bild. Er war mitten in ein Gebäude hineingegraben worden. Mehrere Meter hohe, mit Figuren und allegorischen Darstellungen geschmückte Wände ragten heraus. Der Fußboden zeigte ebenfalls Steinplatten, die aber mit einer Art Glasur überzogen waren. An einer Stelle waren sie durchbrochen und gaben eine dunkle Öffnung frei. Die beiden Männer beugten sich interessiert hinunter. Unter den Steinplatten schien sich ein weiterer Raum zu befinden. Er war völlig dunkel. Das Licht der Scheinwerferlampe fiel auf einen Block, der seitlich unter der Öffnung stand. Sun Koh schwang sich hinein und sprang auf den Block. Peters war das nicht geheuer.
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»Die Luft ist in Ordnung. Ich stehe auf einem würfelförmigen Stein, ungefähr einen Meter hoch. Der Raum ist sonst ganz leer. Glatter Steinboden wie oben. Kommen Sie herunter.« Peters folgte ihm, während Sun Koh schon auf den Boden sprang und den Stein untersuchte. »Sie müssen versucht haben, den Stein loszubrechen. Er ist etwas verschoben. Man sieht es an den Fußplatten. Hier sind auch Spuren ihrer Brecheisen. Ah – Hieroglyphen!« Während Peters weiter heruntersprang und sich neben Sun Koh stellte, tastete dieser den Block mit dem Lichtstrahl ab. Die Zeichen hoben sich scharf und unzerstört heraus. »Maya!« sagte Sun Koh leise. »Hören Sie: Im 7. Jahre Rohr erschlug in dunkler Nacht an dieser Stelle ein Mann aus dem Stamme Rhomal seinen Bruder. Das fließende Blut stand nicht still, sondern kam als Quelle wieder aus der Erde heraus und floß in die Brunnen. Der Gott der Sonne, der sich über den geschehenen Frevel erzürnte, tötete mit seinen Strahlen alle Menschen, die an diesen Tagen von den Wassern tranken. 65 000 Menschen starben eines schrecklichen Todes, und die Stadt wurde zur Wüste, und die Überlebenden vergruben sich in die Erde, um den rächenden Strahlen der Sonne zu entgehen. Sie flehten zum Himmel, und einer der Erleuchteten wurde der Gnade teilhaftig und vernahm die Stimme der Sonne. Sie versprach Gnade zu üben, wenn man über dieser Stelle einen Tempel zu ihrer Ehre errichte. An der Stelle aber, wo der Mord begangen wurde, sollte ein Loch bis auf den Felsen gegraben werden. Dort werde man eine Spalte finden, aus der die Quelle herausdringe, wie das Blut aus der Wunde des Sterbenden. Diese Spalte sei durch einen geweihten Stein zu verschließen. Also geschah es. Es wurde aber über dem Stein ein Gewölbe gebaut und in dessen Decke ein Stein eingelassen, der mit dem geweihten Stein verbunden ist. Diesen Stein, auf dem diese Inschrift zu lesen ist, sollen nur die Diener der Sonne kennen, und auch sie sollen ihn nicht anfassen dürfen, es sei denn, daß Feinde die Stadt eroberten. Dann soll der Quell der strafenden Sonne wieder fließen, auf daß alle Feinde getötet werden.« »Frommer Wunsch«, murmelte Peters. »Und nun hat der Stein Jahrtausende hier gelegen, bis ihn die Amerikaner unwissentlich verschoben. Wenn man ihn nun wieder an den richtigen Fleck bringen würde ...« »Das würde wenig Zweck haben. Die nächste Kommission würde ihn wieder verrücken und dann ebenfalls eine Katastrophe erleben. Ich will doch mal sehen ...« Er hatte sich mit seiner ganzen Kraft gegen den Stein gestemmt, aber der Block glitt so leicht zurück, daß er fast in das Loch gestürzt wäre, das sich unter dem Block öffnete. Wahrscheinlich hatten die Arbeiter gar nicht versucht, den Block zu schieben, sondern waren gleich mit Hebeln herangegangen, um ihn zu kippen. Sie hätten sonst das Geheimnis des Steins leicht entdecken können. Ganz ließ sich der Stein freilich nicht wegschieben. Er deckte immer noch ein Stück von der Öffnung. Die Ursache fand Sun Koh, als er sich in die Öffnung hineinbeugte und die Unterseite des Blocks ansah. Sie war spiegelglatt poliert. An ihr befand sich ein dicker Metallring, in dem eine Stange aus gleichem Metall beweglich befestigt war, die in die Tiefe führte. Wie sich bald herausstellte, bildete diese Stange den längeren Arm einer einfachen, aber sinnvoll konstruierten Hebelvorrichtung, durch die der Verschlußstein der Quelle gelockert werden konnte. Der Lampenschein glitt in die Tiefe. Ein Schacht, der sich nach unten verbreiterte, wurde sichtbar. Genaugenommen war es freilich kein Schacht, sondern ein kleines Gewölbe, das durch mächtige, nach oben immer mehr vorspringende Steinquadern gebildet wurde. Unten lag nackter Fels. Der Abstand bis dahin mochte fünf Meter betragen. Irgendwo in der Nähe mußte ein Fluß strömen, denn die Luft war feucht, kühl und voller Brausen. Eine weitsprossige Leiter führte senkrecht in die Tiefe. Sie erinnerte stark an eine Feuerleiter. Peters stutzte an dem gelbglänzenden Holmansatz. Er ritzte mit dem Fingernagel. »Keine Patina, kein Grünspan«, murmelte er. »Wissen Sie, was das ist? Pures Gold!« Sun Koh lächelte. »Ich sah es schon. Wichtiger ist jetzt, daß sie uns aushält.« Peters folgte Sun Koh nach unten. Der Felsboden besaß eine Ausdehnung von ungefähr fünfzig Quadratmetern. Er war völlig eben. Zweierlei fiel sofort auf: Ein feines Rinnsal drang aus dem Felsen, wo die zweite Hebelstange endete, und im Hintergrund führte ein niedriger Gang weiter. Sun Koh wies auf das Rinnsal, das in einer kaum sichtbaren Rinne wie ein dünner Faden der Gangöffnung zufloß. »Das Gift!«
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Sie sahen die Ursprungsquelle genau an. Ein Riß war im Fels, ein angeschrägter Stein stand um eine Kleinigkeit heraus. »Ich bin überzeugt, daß hier kein Tropfen mehr herausdringt, wenn wir den Stein aus diesem Hebel befreien«, sagte Sun Koh. Er griff prüfend nach dem Ring, der im Stein saß. Die Stange selbst griff mit einem zweiten Ring in den ersten hinein, straff und fest, denn augenblicklich hing ja das Gewicht des Verschlußsteins daran. Sun Koh faßte mit der Rechten die Stange, griff mit der Linken in die goldene Schlaufe und zog. Sein Körper bog sich wie eine Stahlfeder. Die Schleife öffnete sich, wurde flach und glitt aus dem Ring heraus. Mit einem feinen, quietschenden Seufzer schloß sich die mordenden Quelle. Das Rinnsal versiegte fast augenblicklich. »Aus!« stellte Peters befriedigt fest. »Das Wasser wird bald wieder trinkbar sein. Sicher ist das Gift dort hinten in den Strom getropft.« Sie gingen auf die Öffnung zu. Ein drei Meter langer Gang, der tadellos glatt behauen worden war, dann folgte eine Verbreiterung. Sie standen wie auf einer Estrade. Unter ihnen donnerte ein unterirdischer Strom. Über ihnen schloß sich der ausgewaschene Fels in seinem natürlichen Bogen. Gespenstisch glitt das Licht über die Wände und das schwarze Wasser. Minutenlang standen sie dort. Dann griff Sun nach Peters' Arm und bedeutete ihm mit einer Gebärde, den Rückweg anzutreten. Als Peters etwas später wieder das glatte Gold der Leiter unter seinen Händen spürte, konnte er sich eines Bedauerns nicht erwehren. Er war zeit seines Lebens ein armer Mann gewesen. Blankes Gold wog für ihn. Sun Koh bemerkte es, sagte aber nichts. Erst als sie wieder oben waren und den Steinblock an die ursprüngliche Stelle gerückt hatten, kam er leichthin auf die stillen Überlegungen Peters' zurück. »So schnell wird man nicht wieder mit den Ausgrabungen beginnen, nachdem alle Mitglieder der Kommission arbeitsunfähig geworden sind. Vielleicht sind wir eines Tages doch wieder die ersten, die diese goldene Leiter sehen, und dann können Sie sie immer noch als Andenken mitnehmen.« Oben überfiel sie die Sonne mit blendender Wucht. Ihre Augen blinzelten eine Weile, bevor sie sich wieder an die scharfe Helligkeit gewöhnt hatten. Der Vormittag war schon weit vorgeschritten. Eigentlich hätten die Leute von Merida längst eintreffen müssen. Hatte Nimba noch kein Zeichen gegeben – oder hatten sie es überhört, während sie sich in der Tiefe befanden?
* Nimba hatte schon ein ganzes Magazin verschossen, aber von Sun Koh und Peters war noch immer nichts zu sehen. Und schon bog die Autokolonne heran. Polizei war dabei. Der Gouverneur hatte sich selbst wieder bemüht. Er atmete erleichtert auf, als er das Flugzeug noch an Ort und Stelle sah. Gewichtig kam er heran, hinter ihm ein ganzer Troß Untergebener. Nimba putzte an seiner Waffe, als ob ihn die Ankommenden nichts angingen. Don Estobal pflanzte sich vor ihm auf. »Wo ist Mr. Sun?« fragte er barsch. »Spazieren. Dorthin.« Nimba wies in eine Richtung, in der sich Sun Koh und Peters bestimmt nicht befanden. »Du hast geschossen? Warum?« Nimba richtete bedächtig den Lauf auf den vor ihm Stehenden und blickte über Kimme und Korn. Don Estobal trat hastig zur Seite. Er fand es unbehaglich, in eine Pistolenmündung zu blicken, zumal er nicht wußte, ob die Pistole nicht plötzlich losgehen würde. »Muß die Waffe nachsehen«, sagte Nimba. »Reinigen und so.« »So?« murrte Don Estobal. »Ihr werdet in London keine brauchen. Hat dir Mr. Sun noch nicht gesagt, daß ihr zurückfliegt?« »NO.«
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Don Estobal wandte sich ab und widmete sich seinen Leuten. Sie blieben fünfzig Meter entfernt bei den Wagen. Nimba beobachtete sie, gab sich aber nach außen hin unbeteiligt. Als er schließlich sah, daß sie nicht die Absicht hatten, sich an dem Flugzeug zu vergreifen, stieg er nach oben. Nach einer Weile scharrte ein Fuß auf der Gangway. Nimba blickte gespannt auf. Der Kopf eines Mannes wurde sichtbar, dann der ganze Körper. Es war einer der mexikanischen Fahrer, ein Mann mit einem durchtriebenen Fuchsgesicht. »Hallo«, grüßte er vertraulich, »darf man wohl hineinschauen? Die Maschine interessiert mich. Ich habe noch nie so eine moderne Kiste gesehen.« Nimba sagte: »Ich kann dir keine Erlaubnis geben.« »Angst?« stichelte der Mexikaner. »Spielst wohl noch den Domestiken, obgleich du leicht dein eigener Herr könntest.« »Hm«, sagte Nimba. »Wäre schon eine feine Sache, wenn ich so ein vornehmer Herr wie du sein könnte.« Der Fahrer spürte den Spott, blieb aber trotzdem obenauf. »Denkst du, ich laufe alle Tage so herum? Ich kann leben wie ein Fürst, und du könntest es ebenfalls, wenn du Lust hättest. Wie war's mit zwanzigtausend?« »Wofür?« »Für nichts. Die Sache ist bloß so, daß Mr. Sun sein Leben bei uns versichert hat. Zwanzigtausend für dich, falls ihm zufällig etwas passiert. Es gibt so viele Möglichkeiten ...« »Gib das Geld her«, sagte Nimba sanft und streckte die Hand aus. Der Mexikaner griff sofort in die Brieftasche und holte ein Bündel Scheine heraus. Nimba nahm sie an sich und steckte sie ein. »Und nun raus, du Stinktier! Raus, oder ich breche dir sämtliche Knochen!« Der Mexikaner begriff, daß er geprellt worden war. Er zischte wütend wie eine Schlange hoch und riß eine Waffe aus der Tasche. Darauf hatte Nimba gewartet. Er griff zu, drehte dem Mann das Handgelenk herum und nahm ihn zugleich mit der anderen Hand vorn am Kragen, so daß sein Hals in einen Schraubstock geriet. »Laß mich los!« würgte der Mexikaner. »Das war doch nur Spaß.« »Feiner Spaß!« knurrte Nimba. »Wer hat dich geschickt? Señor Garcia?« Der Mann erschrak trotz seiner Nöte. »Woher weißt du...« »Das genügt«, sagte Nimba, ließ die Tür zurückrollen und warf den Mexikaner hinaus. Er flog in hohem Bogen durch die Luft und landete mitten im Steingeröll. Sun Koh und Peters, die eben das Flugzeug erreichten, beobachteten es mit Verwunderung. Nimba konnte ihnen eben noch berichten, als schon der Gouverneur herangehastet kam. »Geh hinein, Nimba«, befahl Sun Koh. »Bereite alles zum Abflug vor.« Nimba verschwand. Peters, der über die Absichten Sun Kohs unterrichtet war, folgte ihm. Sun Koh blieb unten und erwartete gelassen den Gouverneur, der ihn mit wortreichen Redensarten begrüßte. Es dauerte eine Weile, bevor er zum Kern der Sache kam. »Ich fürchtete schon, Sie wären gegen mein Verbot weitergeflogen. Ich freue mich, daß Sie vernünftig sind. Ich hoffe, daß Sie Ihre Pläne aufgegeben haben.« »Und wenn es nicht so wäre?« fragte Sun Koh leichthin. »Dann müßte ich Sie leider mit Gewalt hindern«, bedauerte der Gouverneur. »Ich habe meine Leute. Sie werden die Maschine bewachen.« »Nicht nötig«, beschwichtigte Sun Koh. »Wozu wollen Sie Ihre Leute der Sonne aussetzen? Ich will Sie Ihrer Sorge entheben. Treten Sie zurück.« Er blickte nach oben und gab Peters ein Zeichen. Peters drückte auf den Knopf, der den Hilfsmotor anschaltete. Unten schwenkten langsam die Tragflächen ein und legten sich auf den Rumpf. Don Estobal verfolgte das Manöver mit aufgerissenen Augen. »Zufrieden?« fragte Sun Koh. »Oder fürchten Sie, daß wir ohne Tragflächen aufsteigen könnten?« »Selbstverständlich nicht«, versicherte Don Estobal hastig. »Dann wird es Sie hoffentlich auch nicht beunruhigen, wenn wir die Düsen ausprobieren. Die Turbinen arbeiten nicht mehr ganz gleichmäßig.«
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Don Estobal war wieder ganz edelste mexikanische Höflichkeit. »Aber, ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Tun Sie alles, was Sie für richtig halten. Ich hoffe, daß Sie mir dann die Ehre geben, mit mir zusammen das Frühstück einzunehmen. Jetzt muß ich allerdings erst sehen, ob es meinen Leuten gelungen ist, irgendwelche Feststellungen über die Ursache der Vergiftungen zu treffen. Übrigens – Sie waren unterwegs. Ist Ihnen etwas aufgefallen?« »Allerdings«, sagte Sun Koh. »Ich konnte sogar die Quelle des Unheil entdecken und schließen.« »Nicht möglich!« »Überzeugen Sie sich durch Tierversuche«, erwiderte Sun Koh kühl. »Das Wasser der hiesigen Cenotes wird bald wieder trinkbar sein.« »Das ist – das ist ja ganz außerordentlich!« stotterte Don Estobal. »Ich muß schon sagen – hm, wo fanden Sie die Stelle?« »Unwichtig«, sagte Sun Koh. »Seien Sie mit dem Ergebnis zufrieden.« Don Estobal setzte erregt zu einem Protest an, aber der Protest ging im Aufheulen der Düsen unter. Peters hatte seinen Auftrag durchgeführt. Man verstand kein Wort mehr. Sun Koh legte die Hände trichterförmig an den Mund und schrie dem Gouverneur zu: »Entschuldigen Sie mich, ich muß mich um die Maschine kümmern.« Don Estobal erriet mehr, als er verstand. Er blickte mißtrauisch hinter der schlanken Gestalt her, die im Flugzeug verschwand. So ganz geheuer war ihm die Geschichte denn doch nicht. Er beeilte sich jedoch, aus dem Bereich des Flugzeugs herauszukommen. Der Aufenthalt in der Nähe der immer wilder auffauchenden Düsen war doch zu gefährlich. Er winkte auch seine Leute zurück, die aufgesprungen waren und auf einen Befehl warteten. »Kümmert euch nicht um das Flugzeug«, wies er seine Leute an, nachdem er sie erreicht hatte. »Seid jedoch wachsam. Sobald sie versuchen, die Tragflächen zu spannen, besetzt ihr das Flugzeug und schießt, falls Widerstand geleistet wird.« Drüben im Flugzeug sprach Sun Koh mit seinen beiden Begleitern. »Es ist besser so. Ein Kampf würde uns zwingen, Leute zu töten, die nur ihre Befehle auszuführen haben. Die kleine List ist menschlicher.« »Und wohin wollen wir fliegen?« fragte Peters. »Zur Sonnenstadt. Uxmal war ein Irrtum. Irgendwo tiefer im Urwald liegt die Sonnenstadt, die wir suchen. Und wir werden sie finden.« Die Düsen fauchten. Die Polizisten achteten bald nicht mehr darauf. Nur ab und zu ging ein schläfriger Blick zu dem silbernen Vogel hinüber. Doch dann fuhr einer der Männer hoch und wies mit der Hand. »Da – da!« »Wird gleich umkippen«, murmelte ein anderer, während alle auf den anrollenden Rumpf starrten. »Das kommt von der Probiererei.« Die Hände, die schon nach den Gewehren gegriffen hatten, sanken wieder. Natürlich, dieses Flugzeug konnte ja nicht fliegen. Und doch hob sich jetzt der flügellose Vogel vom Boden ab, während die Düsen aufheulten. »Schießen!« brüllte einer. Die Schüsse krachten in die leere Luft. Das Flugzeug schoß steil in die Höhe. Minuten später kehrte es hoch oben zurück, und jetzt waren seine Tragflächen ausgespannt. Unten murmelten die Männer Gebete und Flüche. Don Estobal verwünschte diese Fremden am stärksten, denn das Flugzeug nahm Kurs in das Innere der Halbinsel, und das war genau das, was der allmächtige Señor Garcia verhindern wollte.
ENDE
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Als SUN KOH Band 2 erscheint: Freder van Holk Kampf um die Sonnenstadt Undurchdringlicher Urwald liegt über der verschollenen Königsstadt der Mayas. Geister erscheinen am hellen Tag, ein Toter erwacht wieder zum Leben, und ein teuflisches Wesen steigt aus der Tiefe. Eine Schatzkammer öffnet sich, in der sich in Jahrtausenden märchenhafter Reichtum angesammelt hat. Und dann erschließt sich vor der Expedition, mit der Sun Koh durch den Urwald zieht, ein unterirdisches Reich mit den modernsten technischen Einrichtungen. Doch die Brüder Garcia sind Sun Koh auch jetzt auf den Fersen – niederträchtig der eine, verbrecherisch und kaltblütig mordend der andere. Sun Kohs Kampf um seine Zukunft und um Atlantis scheint vergeblich zu sein – denn um einen Freund zu retten, wird er selbst zum Gefangenen ...
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