Tatsachen 297
Hans Ahner
Ein Leben für die Fliegerei
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Tatsachen 297
Hans Ahner
Ein Leben für die Fliegerei
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1986 Lektor: Rosemarie Trebeß Illustrationen: Archiv Günter Schmitt Umschlaggestaltung: Hans Rade
Der Unteroffizier zog wichtigtuerisch sein Notizbuch aus der Tasche und baute sich vor dem neuen Rekruten auf. »Familien- und Vornamen?« schnarrte er. »Grade, Hans!« »Geboren?« »17. Mai 1879 in Köslin!« »Wie alt?« Grade vermochte nicht, ein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, weil sich dieser Korporal sein Alter hätte selbst ausrechnen können. »Achtundzwanzig Jahre, Herr Unteroffizier.« Dem Unteroffizier war das Lächeln nicht entgangen, daher knurrte, er in befehlsgewohntem Ton: »Hier gibt's nichts zu feixen, Grade! Beruf, falls Sie überhaupt einen haben?« »Ingenieur.« Der Korporal blickte erstaunt auf. »Ingenieur?« Dabei sprach er das g nicht weich, sondern hart aus. »Ein Studierter also?« fügte er hämisch hinzu. »Die haben wir hier besonders gern! Denken Sie ja nicht, daß Sie alles können, Sie werden noch viel lernen müssen.« Er schien zu überlegen, dann fragte er weiter: »Was arbeiten Sie da eigentlich? Sind Sie vielleicht so ein Weißkittel, der sich die Hände nicht schmutzig macht?« »Ich baue Maschinen, Herr Unteroffizier!« »Maschinen?« höhnte der Korporal. »Fleischwölfe und Feuerzeuge sind in meinen Augen auch Maschinen.« »Zweitaktmotoren.« »Was ist'n das? Noch nie gehört!« »Werden in Motorräder eingebaut.« »Motorräder? Alles so ein neumodischer Kram! Wir beim Magdeburgischen Pionierbataillon Nummer 4 ziehen unsere Pontons mit Pferden wie seit eh und je. Werden's noch lernen, damit umzugehen. Wir brauchen Ihre Rattergestelle nicht.« Und der Korporal nahm sich vor, diesem Grade besonders auf die Finger zu sehen, der sollte erst mal arbeiten lernen und schwitzen. Doch ehe er sich dem nächsten Rekruten zuwendete, stemmte er die Arme in die Hüften und verkündete lautstark: »Und Einjährig3
Freiwilliger sind Sie auch noch, Grade! Sie reißen Ihr Jahr bei uns ab, und nach einigen Übungen werden Sie Reserveoffizier, dann muß ich vor Ihnen strammstehen. Doch eins sage ich Ihnen, jetzt stehen Sie erst mal vor mir grade, Grade!« Er lachte schallend über seinen Witz. Der Korporal ließ den neuen Rekruten Hans Grade, nicht aus den Augen. Dem Herrn Ingenieur wollte er es schon zeigen. Beim Exerzieren, beim Paradeschritt und beim Griffeklopfen hatte er ständig etwas an ihm auszusetzen, obwohl Grade seine Übungen untadelig ausführte. Doch der Einjährig-Freiwillige Hans Grade ließ sich nichts anmerken, und das ärgerte den Korporal. Sein Ärger steigerte sich noch weiter, als Grade beim Schlagen von Behelfsbrücken über die Elbe hier und da etwas zu verbessern wußte und die Rekruten bei diesen Übungen mehr auf ihn als auf den Unteroffizier achteten. Als bei einer Inspektion der Kompaniechef, Hauptmann von Sommerfeld, Grade eine Weile beobachtet hatte, verkündete er vor versammelter Mannschaft, daß Grade ein außerordentlich anstelliger Mensch sei, der es noch zu etwas bringen könne. Den Korporal wurmte diese Anerkennung so sehr, daß er beschloß, diesem Grade jetzt von einer anderen Seite zu kommen. Er hatte beobachtet, daß sich der Rekrut Hans Grade nach Dienstschluß aus der Kaserne entfernte und erst am nächsten Morgen wieder zum Dienst erschien. Als Einjährig-Freiwilligem stand ihm zwar eine eigene Unterkunft außerhalb der Kaserne zu, doch der Korporal fragte sich, warum sich Grade in der Freizeit von seinen Kameraden absonderte, die abends beim Bier in der Kantine hockten. Vielleicht steckte ein Weibsbild dahinter, oder Grade verkehrte in besserer Gesellschaft. Der Unteroffizier konnte zwar nichts dagegen unternehmen, trotzdem begann er, Grade nach Feierabend nachzuschnüffeln. Anfang Oktober, als die Tage merklich kürzer wurden, versteckte sich der Korporal an einem nebligen Abend neben dem Kasernentor hinter einem Baum. Soldaten kamen und gingen, und er mußte aufpassen, daß ihm der Grade nicht entging. Er brauchte nicht lange zu warten, da entdeckte er den Gesuchten. Grade wendete sich behäbigen Schrittes dem Stadtzentrum zu, so, als ob er es nicht eilig habe. Der Unteroffizier ging
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auf den anderen Fußweg hinüber; vorsichtig trat er mit seinen schweren Militärstiefeln auf. Das Laub raschelte unter seinen Füßen, doch der Nebel dämpfte alle Geräusche. Grade sah sich nicht um. Es war dunkel, und nur die Gaslaternen warfen kleine Lichtinseln auf die Bürgersteige. Hatte es überhaupt einen Zweck, diesem Grade nachzusteigen? Wahrscheinlich würde er in irgendeine Wirtschaft gehen und sich vollaufen lassen, so wie es die Herren Offiziere im Kasino taten, wenn sie unter sich waren. Er wollte schon aufgeben, da schwenkte Grade plötzlich nach links ab und entfernte sich wieder vom Stadtzentrum. Wohin mochte er wohl gehen? Hatte er vielleicht doch in irgendeiner Vorstadt eine Liebste, bei der er die Nacht verbrachte? Der Korporal rieb sich die Hände, ging ihm nun, ohne zu zögern, nach. Vielleicht bekam er etwas heraus, was er eines Tages gegen ihn verwenden könnte. Zum Teufel! Wohin wollte dieser Grade nur hier am Stadtrand? Irgend etwas stimmte mit dem Kerl nicht. Die Einjährig-Freiwilligen suchten alle in der Nähe der Kaserne eine Unterkunft, damit sie es nicht weit hatten, aber Grade lief nun beinahe eine Stunde vor ihm her. Unversehens blieb Grade vor einem Schuppen stehen. Der Korporal verbarg sich sofort hinter einem Baum und beobachtete, wie er den Schuppen aufschloß und in ihm verschwand. Bald drang Licht durch die Ritzen der Fensterläden. Was mochte der Herr Ingenieur nur darin zu nächtlicher Zeit treiben? Hielt er es vielleicht mit den Sozis, die hier zu geheimen Treffs zusammenkamen? Die Phantasie ging mit dem Korporal durch. Er dachte an geheime Druckereien und an Falschmünzerwerkstätten. Etwas Vernünftiges würde kein Mensch zu dieser Zeit in solcher Einsamkeit treiben. Der Unteroffizier wartete - eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, doch niemand gesellte sich hinzu. Da zerriß ein heller, singender Ton die nächtliche Stille, aber schon wenige Sekunden später fiel der Lärm unversehens wieder in sich zusammen, so, als ob es ihn nie gegeben hätte. Der Unteroffizier wagte kaum zu atmen. Irgendwo schlug ein Hund an, und in der Ferne grollte ein Zug durch die Nacht.
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Wenn er nur wüßte, was in diesem Schuppen geschah! Auf Zehenspitzen, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu verursachen, schlich er näher und versuchte durch die Ritzen der Fensterläden zu spähen. Doch er konnte nichts erkennen. Da entdeckte er ein Astloch, durch das er wenigstens etwas sehen konnte. Er erkannte einige hölzerne Rahmen und Teile einer Werkbank. Der Korporal mußte wieder an eine Falschmünzerwerkstatt denken. Womöglich würde er sich zum Mitwisser eines Verbrechens machen. Er entschloß sich, die Gendarmerie zu benachrichtigen. Da trat Grade in sein Blickfeld, der trug einen blauen Kittel. Er schien in aller Seelenruhe zu werken, als ob er einer rechtschaffenen Arbeit nachging. Der Korporal drückte den Kopf gegen die Bretterwand, sah durch das kleine Astloch, aber er konnte sich keinen Vers auf all das machen, was er sah. An diesem Abend würde er nichts mehr erfahren. Da beschieß er, in irgendeiner Wirtschaft ein Bier zu trinken und zu überlegen, was er unternehmen sollte. Am nächsten Morgen, klopfte der Korporal an die Tür des Kompaniechefs und öffnete sie, so, wie es das Reglement vorschrieb, eine Handbreit. »Ich bitte eintreten zu dürfen, Herr Hauptmann!« »Herein!« schnarrte es kurz. Hauptmann von Sommerfeld sah von seinen Akten auf, als der Korporal in das Zimmer trat. »Was gibt es, Unteroffizier?« In diesem Augenblick fiel es dem Korporal wie Schuppen von den Augen. Was sollte er dem Kompaniechef eigentlich sagen? Daß er wie ein Gendarm hinter Grade hergeschlichen war? »Es ist wegen dem Grade, Herr Hauptmann«, stammelte er verlegen. »Grade? Das ist doch ein ordentlicher Mann, intelligent und anstellig. Oder haben Sie etwas anderes festgestellt, Unteroffizier? Treibt er etwa unlautere Dinge, oder ist er aufsässig?« Der Korporal berichtete stockend, wobei sich Sommerfelds Gesicht zusehends verfinsterte. »Erstens«, erwiderte er, »ist Grade ein Einjährig-Freiwilliger, der außerhalb der Kaserne wohnen darf. Zweitens ist es unwürdig, ihm nachzuspionieren. Wenn er nicht säuft wie die anderen, ist das seine Sache, doch...« Sommerfeld legte eine Pause ein. Sein Ge-
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sicht wurde nachdenklich. »In einem Bretterschuppen sagen Sie, Korporal? Waren da noch andere Leute? Einem Soldaten ist es verboten, während seiner Dienstzeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, auch nach Feierabend ...« »Er war allein, Herr Hauptmann!« »Und was tat er in dem Schuppen?« Der Korporal hob die Schultern. »Ich habe es nicht genau beobachten können, es schien, daß er etwas baute.« »Es ist gut, Korporal, Sie können gehen!« Hauptmann von Sommerfeld verzog angewidert das Gesicht. Warum mußte ihn dieser Lümmel von Unteroffizier mit solchen Nebensächlichkeiten behelligen? Der Grade war doch sonst ein anständiger Mensch. Immerhin mußte er jetzt, da die Sache einmal gemeldet worden war, diesem Unsinn nachgehen. Er erhob sich, öffnete den Aktenschrank und suchte nach Grades Personalakte. Hier! Grade, Hans, geboren am 17.Mai 1879 ... Sommerfeld setzte sich und las: Grade, Hans ... Vater Lehrer ... Bruder Berufsoffizier ... Abitur am 9. 9. 99 ... Sommerfeld stutzte, ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht. Welch seltsames Datum! Viermal die Neun! Er las weiter: Danach ein Jahr Volontär in einer Maschinenfabrik in Grevenbroich bei Köln. Tätigkeit in Modelltischlerei, Dreherei, Schmiede und Montageabteilung. Von 1900 bis 1904 Studium an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg. Eröffnete nach seinem Studium zunächst in Köslin, später in Magdeburg eine eigene Werkstatt für Motoren und Motorräder. Teilnahme an Motorradrennen ... Sommerfeld klappte die Akte zu und legte sie zurück in den Schrank. Nein! Mit politischen Dingen dürften Grades nächtliche Geheimnisse nichts zu tun haben. Wer weiß, was der in seinem Schuppen zimmerte. Mochte er doch tun und lassen, was er wollte, wenn er nur das Ansehen des Regiments nicht beschmutzte. Der Kerl war eben Ingenieur und gehörte damit doch zur untersten Stufe in der akademischen Rangfolge, dachte Sommerfeld geringschätzig. Er, Sommerfeld, hingegen kam aus einer angesehenen adligen Familie, in der nur Offiziere etwas galten. Wer in seinen Kreisen nicht diensttauglich war, durfte sich allenfalls als
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Jurist etablieren, natürlich nur im Staatsdienst, nicht etwa als frei praktizierender Anwalt. Danach kam mit großem Abstand das sonstige akademische Volk, die Philologen, die Humanmediziner und ganz zuletzt die Ingenieure. Sommerfeld hatte sich nie ganz von der Vorstellung frei machen können, daß Ingenieure bessere Schlosser waren, die schlecht rasiert und mit schmutzigen Fingernägeln umherliefen und über keinerlei Manieren verfügten. Es gefiel ihm nicht, daß solche Leute auch noch Offiziere wurden, wenn auch nur - wie man sie spöttisch in den Kasinos nannte - »Reserveonkels«. Immerhin packte Sommerfeld die Neugier, was Grade da wohl nächtig in seinem obskuren Schuppen trieb. Er befahl ihn zu sich. Grade, ein mittelgroßer Mann mit mächtigem Schnauzbart, erschien vorschriftsmäßig mit Pickelhaube, umgeschnallten Patronentaschen und Karabiner. »Einjährig-Freiwilliger Grade wie befohlen zur Stelle, Herr Hauptmann!« Über Sommerfelds Gesicht glitt ein joviales Lächeln. »So förmlich habe ich es nicht gemeint, Grade! Ich wollte mich mal ganz zwanglos mit Ihnen unterhalten. Rühren Sie, und setzen Sie sich, aber nehmen Sie erst mal das Ding vom Kopf.« Grade stutzte. Was wollte der Kompaniechef von ihm? Sommerfeld musterte seinen Untergebenen. Äußerlich erschien Grade sympathisch, bieder wie ein rechtschaffener Handwerksmeister, offenes Gesicht, kräftige Hände, die sich aufs Zupacken verstanden, und sicherlich fand er zum richtigen Zeitpunkt auch das richtige Wort. Nein! Wie ein politischer Verschwörer sah der nicht aus. »Man sagt Ihnen nach, Sie würden sich von Ihren Kameraden absondern, Grade?« »Wie meinen Sie das, Herr Hauptmann?« »Nach Feierabend verschwinden Sie sofort aus der Kaserne. Sie sind doch ein junger Mensch, Grade! Haben Sie da nicht einmal Lust, mit Ihren Kameraden bei einem Bier zusammenzusitzen? Auch das gehört zu einem künftigen Reserveoffizier.« »Ich trinke auch gern mal ein Bier, Herr Hauptmann, habe aber keine Zeit dazu. Ich muß arbeiten«, erwiderte Grade beinahe trotzig. »Arbeiten? Wissen Sie nicht, daß Sie während Ihrer Zugehörigkeit zum Heer keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen?« »Ich arbeite nur für mich, Herr Hauptmann, und verdiene keinen Pfennig, nur meine
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Ersparnisse stecke ich hinein.« Sommerfeld blickte Grade nachsichtig an. »Das begreife ich nicht. Woran arbeiten Sie denn?« Grade senkte den Kopf und schwieg. Auch Sommerfeld sagte eine Weile nichts, dann forderte er Grade auf: »Nun reden Sie doch, Menschenskind!« »Eigentlich«, erwiderte Grade zögernd, »eigentlich sollte es ein Geheimnis bleiben. Wenn Sie schweigen, Herr Hauptmann?« »... also rücken Sie schon damit raus!« Grade richtete sich auf und antwortete fest: »Ich baue eine Flugmaschine, Herr Hauptmann.« Sommerfeld bekam einen Lachanfall, von dem er sich nur schwer erholte, dann schluckte er noch ein paarmal, ehe er um den Tisch herumkam und sich vor Grade stellte. »Ich will Ihnen mal etwas sagen. Nehmen Sie mir den Ausdruck nicht übel, solche Idioten gibt's heute wohl in allen kultivierten Ländern, denn die Menschen wissen nicht mehr, was sie tun sollen vor lauter Übermut. Nun wollen sie fliegen wie die Vögel.« »Die Brüder Wright in Amerika fliegen seit vier Jahren mit motorgetriebenen Flugmaschinen, Herr Hauptmann.« Sommerfeld begann; belustigt im Zimmer auf und ab zu gehen. »Die Wrights, die Wrights«, meckerte er, »die sind niemals geflogen. Nicht umsonst nennt man sie in aller Welt die lügenden Brüder.« Er drehte sich zu Grade, sah ihm direkt ins Gesicht. »Haben Sie schon mal ein Bild von dieser mysteriösen Maschine gesehen, he? Natürlich nicht! Nee, Grade, lassen Sie die Finger von solchem Unsinn, und bauen Sie Motoren und Motorräder, dabei werden Sie ein reicher Mann.« Grade erhob sich ebenfalls. »Herr Hauptmann! Vor zwei Jahren flog Wilbur Wright in Amerika in 38 Minuten 39 Kilometer weit. Sie halten ihre Erfindung deshalb noch geheim, weil sie fürchten, daß andere ihnen die Früchte ihrer Arbeit aus den Händen reißen. Erst soll ihre Maschine patentiert werden, ehe sie mit ihr an die breite Öffentlichkeit treten.« Sommerfeld warf Grade einen skeptischen Blick zu. »Glauben Sie doch diese Utopien nicht!« Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und zündete sich bedächtig eine Zigarre an. »Nun erzählen Sie mir
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mal, Grade«, sagte Sommerfeld mit innerer Gelassenheit, »wie sind Sie eigentlich solchen Hirngespinsten verfallen?« Grade lehnte sich bequem zurück und schlug die Beine übereinander, wobei er seinen Schnauzbart strich. »Als ich ungefähr fünfzehn Jahre alt war, hörte ich von Lilienthals Flugversuchen in und um Berlin. Doch was darüber in den Zeitungen geschrieben wurde, bezweifelten die Leute bei uns in Köslin.« »Mit Recht«, unterbrach Sommerfeld, doch Grade fuhr fort: »Und gerade weil man das alles für unglaubwürdig hielt, interessierte ich mich um so mehr dafür. Dann bekam ich Lilienthals Buch >Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst< in die Hände und verschlang es, obwohl ich wenig davon begriff. Nur die Tatsache merkte ich mir: Lilienthal hatte festgestellt, daß die Flügel, mit denen der Mensch fliegen will, gewölbt sein müssen wie die des Vogels. So machte ich mich bald daran, ein Flugmodell zu bauen, das vom Dach unseres Hauses 75 Meter weit flog. Mein Vater verbot mir weitere Experimente mit der Begründung, ich solle mich mehr der Schule widmen und ein ordentliches Abitur bauen.« »Das Flugmodell hätten Sie sich sparen können, Grade«, warf der Hauptmann ein. »Wenn ich einen Stein wegwerfe, ist es ebenfalls möglich, daß er so weit fliegt.« Grade merkte an diesem Einwurf, daß es mit den physikalischen Kenntnissen des Hauptmanns nicht weit her war, und er erklärte ihm den Unterschied zwischen dem ballistischen und dem aerodynamischen Flug. Grade spürte, daß sein Vorgesetzter ein aufmerksamer Zuhörer war. »Ich habe damals«, fuhr Grade fort, »weitere Flugversuche aufgegeben, weil mir für mein Modell eine geeignete Antriebsquelle fehlte.« Sommerfeld schüttelte den Kopf. »Es wird niemals einem Menschen gelingen, das Luftmeer zu erobern.« »Sie irren, Herr Hauptmann! Vor mehr als 120 Jahren wurde der Freiballon erfunden, und die Luftschiffe des Grafen Zeppelin und des Majors von Parseval steigen seit einigen Jahren auf. Denken Sie auch an Lilienthal, Herr Hauptmann, er ist bis zu 250 Meter weit geflogen - nach dem Prinzip schwerer als Luft.« »Lilienthal, Lilienthal! Was hat er denn vollbracht, wie? Er ist einige
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Hügel hinuntergerutscht, und schließlich brach er sich das Genick bei seinen wahnwitzigen Versuchen.« »Lilienthal«, erwiderte Grade nachdrücklich, »begründete die wissenschaftlichen Grundlagen der Fliegekunst und erprobte sie praktisch. Und die Amerikaner Wright haben selbst geschrieben, daß sie bei ihren Arbeiten bewußt an Lilienthals Erkenntnissen anknüpften...« »Meine Meinung zu den Wrights habe ich Ihnen schon gesagt,. Grade«, warf Sommerfeld ungehalten ein, obwohl er sein Interesse an Grades Darlegungen nicht mehr zu verbergen vermöchte. »Gut! Sie glauben nicht an die Wrights, aber es gibt noch andere, die sich mit dem Fluggedanken beschäftigen und zum Teil auch schon geflogen sind: Farman und Delagrange in Frankreich, Santos-Dumont, der Däne Ellehammer...« »Und wenn Sie mir noch mehr nennen, Grade, so überzeugt mich das nicht. Diese Leuten jagen einem Phantom nach.« Grade ließ sich nicht beirren. »Sogar in Deutschland wurden schon Flugversuche unternommen. Einige Monate vor den Wrights vollführte Karl Jatho 1903 in der Nähe von Hannover einige Sprünge...« »Der erste deutsche Flieger also!« höhnte Sommerfeld. Grade wußte nicht, ob Sommerfeld diese Feststellung sachlich oder ironisch meinte. »Als Flieger kann man ihn noch nicht bezeichnen«, wendete Grade ein, »weil ihm mit seiner Antriebsquelle noch kein stationärer, also gesteuerter Flug von größerer Weite gelang.« Sommerfeld schüttelte belustigt den Kopf. »Mensch, Grade, stellen Sie sich das doch einmal selbst vor: Eine Maschine steigt in die Luft, und ihr Motor zieht sie dort hinauf. Wissen Sie, was das ist? Nichts anderes als eine Münchhausensche Aufschneiderei! Der Herr Baron will sich ja auch einmal an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen haben.« Der Hauptmann lachte ungläubig. »Und Sie, Grade, was wollen Sie nun tun?« Sommerfeld musterte ihn nachsichtig. »Ich habe mich den leichten Zweitaktmotoren zugewandt, in denen ich die geeignete Antriebsquelle für eine Flugmaschine sehe. Zunächst sammelte ich mit diesen Maschinen bei Motorrädern Erfahrungen, inzwischen habe ich einen Motor von 16 PS Leistung gebaut, der einen Stahlpropeller antreibt. Wenn Sie wollen, Herr Hauptmann, führe ich
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Ihnen diesen Motor draußen in meinem Schuppen vor. Ich baue ihn in eine Flugmaschine mit drei übereinanderliegenden Tragflächen ein. Am Ende des Rumpfes befinden sich Stabilisierungsflächen, mit denen ich meine Flugmaschine steuern werde. Im Gegensatz zu Lilienthal hänge ich nicht mehr unter den Flügeln, sondern sitze in dem Flugapparat, der über vier Laufräder verfügt.« Grade legte eine Pause ein, ehe er seine Erklärungen beendete. »Meine Arbeiten schreiten gut voran, und wenn mich nicht alles täuscht, werde ich im nächsten Herbst die Flugversuche aufnehmen.« Hauptmann von Sommerfeld sinnierte vor sich hin, wobei er den zur Decke schwebenden Rauchkringeln seiner Zigarre nachschaute. Dann räusperte er sich und sagte langsam: »Wissen Sie was, Grade, lassen Sie sich vom Spieß ein Fahrrad geben. Ab zwei Uhr haben Sie für heute dienstfrei. Wir fahren gemeinsam zu Ihrem Schuppen, und Sie führen mir Ihr seltsames Werk einmal vor.« Am Nachmittag radelten sie zum Schuppen. Sommerfeld konnte nicht verbergen, daß ihn Grades Arbeiten beeindruckten. Als der Ingenieur dann noch den Motor laufen ließ, war Sommerfeld geradezu begeistert. »Trotzdem«, beharrte er auf seiner Meinung, »ich glaube nicht daran, daß Ihr Gestell in die Luft steigen wird.« Grade zuckte mit den Schultern. »Wenn ich ehrlich sein soll, Herr Hauptmann, was ich hier unternehme, ist sicherlich nicht falsch, aber bisher weiß ich selbst nicht, wie man eine Flugmaschine betätigt. Es wird noch eine Menge Arbeit geben. Für mich ist das alles noch eine Gleichung mit zwei Unbekannten.« »Und sie wird nicht fliegen!« beharrte Sommerfeld triumphierend. »Nun ist es an Ihnen, Herr Hauptmann, den Beweis dafür anzutreten.« Sommerfeld lachte überlegen. »Ich werde es Ihnen beweisen! Sie kennen doch den Cracauer Anger, Grade, unseren Exerzierplatz. Dort am Rande befindet sich ein leerer Schuppen. Sie werden mit Jhrem ganzen Kram dorthin ziehen, und ab sofort haben Sie jeden Tag ab zwei Uhr dienstfrei. Wenn Ihre Flugmaschine fertig ist, werden Sie sie vorführen. Was ich Ihnen dann sagen werde, kann ich Ihnen schon heute prophezeien: Es war alles für die Katz, Grade. Und damit habe ich meinen Beweis angetreten.«
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Als Sommerfeld und Grade zur Kaserne zurückradelten, wußte Grade, daß er in Sommerfeld einen interessierten Menschen gefunden hatte, dem es in Wirklichkeit gar nicht darum ging, ihm die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens zu beweisen. Das Jahr 1908 war angebrochen. Grade arbeitete Tag für Tag, oft bis in die Nacht hinein, an seiner Flugmaschine. Eine Stahlrohrkonstruktion bildete das Gerüst. Bambus wurde benötigt und Material zur Bespannung. Schlaflose Nächte brachte Grade die Steuerung. Wenn es Sommerfelds Zeit erlaubte, erschien er im Schuppen und erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeit. Grades Flugmaschine nahm allmählich Gestalt an. Meister Riese und Bruno Peters, beide aus seiner früheren Motorenwerkstatt, halfen ihm bei der langwierigen Bastelei. Nur die Batterie, die Zündkerzen und die Zündspule waren Fertigfabrikate. Der Unterbrecher und die übrigen Teile der Zündanlage entstanden in der kleinen Werkstatt. Käthe Grothum, Grades künftige Frau, nähte aus starker Leinwand die Bespannung. Sommerfeld konnte die ersten Versuche kaum erwarten. Er drängte, schneller zu arbeiten. Doch Grade ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, immer wieder brütete er neue Ideen aus, änderte da und dort etwas, nahm die Maschine auseinander und setzte sie erneut zusammen. An einem Nachmittag, Ende April, fand Sommerfeld Grade nachdenklich vor sich hin starrend. Er saß auf der Werkbank und ließ die Beine baumeln. Neben ihm lag eine aufgeschlagene Zeitung. »Na, Grade, keine Lust mehr?« begrüßte ihn der Vorgesetzte. Grade hob den Blick und sah Sommerfeld durchdringend an. »Jetzt geht's erst richtig los!« Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die aufgeschlagene Zeitung. »Haben Sie schon mal den Namen Doktor Karl Lanz gehört, Herr Hauptmann?« »Muß irgendwo so ein Großindustrieller sein.« »Richtig! Dieser Lanz hat nun einen Preis in Höhe von 40 000 Mark für den deutschen Flieger gestiftet, der als erster mit einer in Deutschland gebauten Flugmaschine um zwei 1000 Meter voneinander entfernte Wendemarken eine Acht fliegt und in 150 Meter Entfernung von dieser Strecke parallel dazu aufsteigt. 100 Meter nach dem Anrollen muß sich
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die Maschine in der Luft befinden.« Sommerfeld zeigte sich unberührt. »Na, dann beeilen Sie sich schon, Grade! Bargeld lacht.« »Schön wär's.« »Begreifen Sie denn nicht, dieser Lanz will doch nur Reklame für sich machen, ohne daß sie ihn einen Pfennig kostet. Seine 40 000 Mark werden ewig auf seinem Konto Zinsen tragen, weil sich niemand diesen Preis verdienen wird.« Grade hob den Blick und sah Sommerfeld durchdringend an. Es war abermals Oktober geworden. Der Ingenieur hatte des Kaisers Rock wieder ausgezogen, und Sommerfeld, der ihn immer noch im Schuppen auf dem Cracauer Anger aufsuchte, sprach ihn nun mit Herr Grade an. »Na, wie sieht's aus?« Grade setzte eine verschwörerische Miene auf, dann sagte er bedächtig wie ein alter Handwerksmeister: »Kommen Sie morgen nachmittag wieder, Herr Hauptmann. Da werden Sie etwas zu sehen bekommen, was Sie noch nie gesehen haben, und danach unterhalten wir uns über den Preis des Herrn Doktor Karl Lanz. - Aber sagen Sie es nicht weiter, ich brauche keine lästigen Zuschauer.« Am nächsten Nachmittag schob Grade mit seinen Helfern den acht Meter spannenden Dreidecker aus dem Schuppen, sogar Sommerfeld half mit. Der Hauptmann mußte sich eingestehen, daß ihn dieser Anblick faszinierte. Im Freien sah Grades Maschine ganz anders aus als in dem engen Schuppen, so, als ob sie gleich zum Himmel emporsteigen würde. Doch Sommerfeld schalt sich innerlich, glaubte er jetzt auch an solchen Unsinn? Grade klemmte sich auf den Sitz. Meister Riese drehte den stählernen Propeller durch, der Motor sog pfeifend das Gemisch an. Einige schüchterne Zündungen, dann begann er, hell zu singen. Grade rückte die Schutzbrille zurecht und winkte seinen Helfern zu. Dann gab er vorsichtig Gas. Die beiden ließen den Apparat los, er rollte über die Wiese. Sie liefen nebenher. Auf ein Zeichen von Grade hielten sie den Apparat an seinen linken Flügelenden fest und zogen ihn herum, so daß er eine Kurve beschrieb und zurückrollte.
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Als Grade aus seinem Sitz stieg, fragte Sommerfeld lakonisch: »War das alles? Das hätte auch ein Pferdefuhrwerk vollbracht! Ich dachte, Sie wollten fliegen?« Grade streifte ihn mit einem geringschätzigen Blick. »Erst muß ich beim Rollen das Gefühl für meine Maschine bekommen, danach beginne ich mit Sprüngen, und vom Sprung geht's zum Flug. Wenn ich meiner Maschine das Fliegen beigebracht habe, dann bringe ich es mir auf der Maschine bei. So ist das, Herr Hauptmann! Aber vom Fliegen verstehen Sie wohl nichts.« Sommerfeld lachte höhnisch. »Sie haben immer eine Ausrede, Grade! Na, dann bis morgen! Mal sehen, was Sie da zu bieten haben.« Sommerfeld bestieg sein Fahrrad und strampelte davon. Als Grade am nächsten Tag den Hauptmann von weitem sah, sagte er lachend zu seinen Freunden: »Jetzt werde ich ihm etwas zeigen, daß ihm vor Schreck der Mund offenbleibt.« Wie am Vortag rollte Grade mit seiner Maschine einige Male hin und her, aber dann sagte er bedeutungsvoll: »Ich glaube, jetzt kann ich's wagen!« Sie schoben den Dreidecker eine flache Anhöhe hinauf, Grade bestieg seinen Sitz, ließ den Propeller anwerfen und rollte immer schneller den Abhang hinab. Unversehens hörte das Poltern für einige Sekunden auf, die Maschine schwebte! Oder hatte er sich geirrt? Doch da setzte das Rumpeln wieder ein, die Maschine hatte den Boden berührt. Peters und Riese jubelten. Sie stürmten gestikulierend auf Grade zu. Er hatte einen Satz durch die Luft gemacht! Ungefähr 10 Meter weit und 30 Zentimeter hoch! »Ich habe nichts davon gesehen«, knurrte Sommerfeld zweifelnd. »Wie ein Leiterwagen sind Sie den Hügel hinabgerollt.« »Dann auf ein neues!« ordnete Grade an. Er lachte belustigt. Sommerfeld legte sich auf halber Höhe des Hügels auf den Bauch, um genau erkennen zu können, ob sich die Maschine wirklich vom Boden löste. So schnell ließ sich doch ein kaiserlicher Hauptmann nicht auf den Arm nehmen! Grade rollte abermals den Hügel hinab - und sprang in die Luft, dieses Mal einen halben Meter hoch und noch ein Stück weiter als vorher.
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Doch Sommerfeld ließ sich trotzdem nicht beeindrucken. »Wissen Sie, Herr Grade, wenn Sie im Winter mit einem Schlitten den Berg hinabrodeln und dabei über einen Buckel sausen, dann springt der Schlitten auch durch die Luft, aber Sie wollen doch nicht behaupten, daß so ein Schlitten deshalb fliegt.« Grade erwiderte nichts, er kaute grimmig auf seinem Schnauzbart, und Sommerfeld stieß sofort nach: »Sie haben mir doch irgendwann einmal von diesem Jatho erzählt, dem in der Nähe von Hannover einige Luftsprünge gelungen sein sollen? Sie sagten damals zu mir, das wäre noch kein richtiger Flug gewesen...« »Stationärer Flug«, verbesserte Grade. »Sie haben recht, Herr von Sommerfeld. Was ich Ihnen eben vorführte, war auch kein stationärer Flug, nur ein Sprung, aber ich muß mich langsam an den Flug herantasten, um die Maschine beherrschen zu lernen.« Der stationäre Flug ergab sich rascher, als Grade zu denken wagte, beinahe unfreiwillig. Wenige Tage später, am 28. Oktober 1908, lief bei einem neuen Versuch unversehens eine Frau, quer über die Wiesen. Grade erschrak. Der Stahlpropeller würde die Frau schwer verletzen, Wenn nicht gar töten. Fast instinktiv zog er den Steuerhebel an sich heran: Seine Maschine erhob sich steil in die Luft und flog 8 Meter hoch und 60 Meter weit. Sie wäre wohl noch weiter geflogen, aber Grade verlor die Gewalt über den Apparat. Er rutschte seitlich ab. Grade versuchte zu korrigieren, doch vergeblich. Er stürzte zu Boden, hatte jedoch Glück und stieg unverletzt aus den Trümmern. Trotz des Mißgeschicks stimmte Sommerfeld dieses Mal begeistert zu, als einer der Helfer rief: »Das war der erste richtige Maschinenflug in Deutschland!« Grade erwiderte lakonisch: »Den ersten Flug habe ich hinter mir und eine zertrümmerte Maschine vor mir.« Dieses Malheur beeinträchtigte den Eifer des Fliegers aber nicht. Bereits nach einigen Tagen war die Maschine wieder flugbereit, und Grade vollführte Flüge mit weiteren Strecken als am 28. Oktober. Doch zu seinem Ärger stellten sich von Tag zu Tag mehr Neugierige ein, die den fliegenden Mann sehen wollten. Dazu erschienen noch Zeitungsleute und Fotografen, die nicht mehr von seiner Seite wichen. Sie kamen nicht nur aus Magdeburg, sondern reisten auch aus Berlin und anderen
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Städten an. Denn es hatte sich rasch herumgesprochen, daß auf dem Cracauer Anger zu Magdeburg ein Mann mit einer richtigen Flugmaschine durch die Luft flog. Aus dem Zweifler Sommerfeld wurde ein begeisterter Verteidiger Grades. Grade wurde dieses Treiben bald lästig, denn die Reporter stellten unaufhörlich Fragen, und er mußte sich vor seiner Maschine von allen Seiten fotografieren lassen. Doch noch unangenehmer waren die undisziplinierten Zuschauer, die sich scharenweise auf dem Flugfeld tummelten. Sommerfeld ließ zwar Soldaten für Ordnung sorgen, aber kaum hatten sie einige Dutzend Menschen zur Seite getrieben, stürmten sie von der anderen Seite herbei. »So geht es nicht weiter«, sagte Grade grimmig zu Sommerfeld. »Wenn mir einer in den Propeller läuft, werde ich wegen fahrlässiger Tötung eingesperrt. Ich brauche einen anderen Platz, wo ich ungehindert üben kann. Außerdem machen die Herbststürme für dieses Jahr weitere Flüge unmöglich. Und dann noch eins!« Grade zog Sommerfeld zur Seite. »Meine Flugmaschine ist viel zu schwer. Der Motor macht sie kopflastig. Ich werde eine leichtere bauen, einen Eindecker, so wie Lilienthal. Da werde ich sogar mit einem schwächeren Motor auskommen, weil bei dieser Maschine das Verhältnis von Flugmasse zu Motorleistung viel günstiger sein wird.« Auf dem Cracauer Anger wurde es wieder still, als ob es dort niemals den sensationellen fliegenden Mann gegeben hätte. Grade zog im Dunkel der Nacht in seinen alten Schuppen zurück. Er wollte den Eindruck erwecken, als ob er seine Versuche aufgegeben hätte. Bald sprach niemand mehr davon. Am Tage beschäftigte er sich mit der Herstellung von Motoren für die Motorradfabrik Burghardia. Mancher, der Grades Flugversuche verspottet hatte, meinte nun: Jetzt ist der Grade doch noch vernünftig geworden. Was sollte, aus seiner Flugmaschine auch werden? Höchstens eine Zirkusnummer. Daß sich Grade mit den Motoren aber nur das Geld verschaffte, das er für die Weiterführung seiner Versuche brauchte, wußte außer ihm, seinen beiden Helfern und Sommerfeld nur noch seine junge Frau Käthe. Auch die Eheschließung trug mit dazu bei, daß viele Magdeburger meinten, die Frau habe ihm seine
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Flausen wohl ausgetrieben. Doch Abend für Abend, sobald sich die Dunkelheit über die Stadt senkte, begab sich Grade mit seinen Helfern heimlich, als ob er etwas zu verbergen hätte, wie ein Dieb zu seinem Schuppen in der Vorstadt. Er wollte keinen Anlaß zu neuem Gerede geben. Gelegentlich erschien auch Sommerfeld, um den Fortschritt am Bau der neuen Flugmaschine zu begutachten. Grade arbeitete unentwegt. Im Frühjahr sollte der neue Apparat fertig sein. Alle wußten, warum er es so eilig hatte, obwohl er selbst nie darüber sprach. Sommerfeld sagte es ihm eines Abends auf den Kopf zu: »Sie wollen doch unbedingt den Lanz-Preis gewinnen, Herr Grade.« Grade mochte Sommerfelds Direktheit unangenehm sein, er erwiderte ärgerlich: »Unsinn, mir geht es bei allem nur ums Fliegen, selbst, wenn ich den Preis gewinnen sollte.« »Daran zweifle ich nicht, aber schließlich sind 40 000 Mark kein Pappenstiel, und Ihre Motoren werden nicht so viel abwerfen, daß Sie Ihre Flugversuche lange fortsetzen könnten.« Grade gefiel das Gespräch nicht. »Die 40 000 Mark«, erwiderte er, »werden ewig auf Lanz' Konto bleiben! Sagten Sie das voriges Jahr nicht selbst, Herr von Sommerfeld?« Sommerfeld schmunzelte. »Sie haben recht. Das Geld wird Doktor Lanz behalten.« Er scheute sich, offen zuzugeben, daß er Grades Arbeiten längst ernst nahm. Grade wiederum wußte, daß er inzwischen in dem Hauptmann einen Verbündeten gefunden hatte, der ihn trotz seiner ständigen Einwände bei seinen Arbeiten anspornte. Kam er einmal abends nicht, knurrte er vor sich hin: »Möchte wissen, wo der Hauptmann heute bleibt.« Niemand außer seinen Geschäftspartnern sprach in Magdeburg mehr von Hans Grade, und die Eingeweihten bewahrten ihr Geheimnis. Abend für Abend und Woche für Woche verrannen. Nach zehn Wochen stand der kleine, zierliche Eindecker fertig montiert im Schuppen. Sommerfeld, der von der Flugtechnik nichts verstand, ging nachdenklich um den Eindecker herum. »Und damit wollen Sie fliegen, Herr Grade? Mit so einer winzigen Libelle? Nee, da wäre mir mein Genick zu schade.« Er betrachtete den zehn Meter weit spannenden Flügel, der nach oben gegen den Spannturm und nach unten gegen das Fahrgestell
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mit einem Gewirr von Drähten abgespannt war, den aus einem dünnen Rohr bestehenden Rumpf, an dessen Ende sich die beiden Steuerflächen befanden. Der Vierzylinder-Zweitaktmotor am Bug sagte ihm, dem technischen Laien, gar nichts. Grade erklärte: »Die vierundzwanzig Pferdestärken werden meiner Maschine eine Geschwindigkeit von etwas mehr als achtzig Kilometer pro Stunde ermöglichen. Fast so schnell wie ein D-Zug!« Sommerfeld lachte schallend. »Sie greifen wieder einmal nach den Sternen, Grade.« Doch der Konstrukteur erwiderte nichts, er mochte sich seiner Sache sicher sein. Am abenteuerlichsten aber fand Sommerfeld den Sitz. Er hing unter dem Flügel und ähnelte einer Hängematte oder einem Liegestuhl. »Wenn das Ding mal reißt, fallen Sie aus Ihrem Luftgestühl direkt auf den Arsch, Grade.« Sommerfeld ging kopfschüttelnd um das seltsame Luftfuhrwerk herum. »Und wann soll's losgehen?« »Sobald die Frühjahrsstürme vorüber sind und ich ein geeignetes Feld gefunden habe.« »Na, dann Hals- und Beinbruch, Herr Grade!« kommentierte Sommerfeld ironisch. »Werd' mir's merken!« Grade fand keinen geeigneten Platz, auf dem er zu größeren Flügen, die er von seinem neuen Eindecker erwartete, aufsteigen konnte. Um jedoch weitere Erfahrungen zu sammeln, zog er zur Überraschung der Magdeburger, die geglaubt hatten, er habe seine Flugversuche für immer aufgegeben, mit seinem alten Dreidecker in den Innenraum der Städtischen Radrennbahn. Die Verwaltung dieser Sportstätte witterte ein gutes Geschäft und erhob von allen Schaulustigen Eintrittsgelder. Grade benötigte keinen Hügel mehr wie auf dem Cracauer Anger, er hatte im vergangenen Winter auch an seiner alten Maschine Verbesserungen vorgenommen. So erzielte er Flüge von mehr als einhundert Meter Weite, mehr aber ließ die Radrennbahn nicht zu. Grade fliegt wieder! Grade fliegt wieder! Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht in der Stadt. Zu Hunderten strömten die Menschen herbei, Begeisterte und Kritiker.
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Da betrat ein würdig aussehender Herr in mittleren Jahren den Innenraum der Rennbahn. Er trug einen harten Hut und einen dunklen Paletot wie ein Geheimpolizist. »Herr Grade!« sagte er nachdrücklich. »Sie können zwar fliegen, aber Ihre Tragik besteht darin, daß Sie es wiederum nicht können. Sie hopsen hier von einem Ende der Arena zum anderen, als ob Sie in einer Mausefalle steckten.« Grade, der nicht begriff, worauf der andere hinauswollte, antwortete schlagfertig: »Sie haben recht, ich brauche nur dreißig Meter Anlauf, dann bin ich in der Luft. Bedenken Sie: So wenig Erde, und über mir ist der ganze, weite Himmel, aber ich komme nicht hinauf.« Der andere nickte beifällig. »Das ist es ja, wenn Sie weiter auf diesem Platz fliegen, werden Sie niemals höher als einen Meter kommen.« Grade erwiderte nichts, stimmte dem Mann zu, er brauchte unbedingt einen größeren Platz. Sommerfeld mischte sich ein. »Gehen Sie wieder auf den Cracauer Anger, dort können Sie höher und weiter fliegen. Hier können Sie doch nur mit Ihrem alten Dreidecker herumhopsen, aber mit dem Eindecker werden Sie hier niemals fliegen können.« Grade strich sich, wie immer, wenn er über etwas nachdachte, den Schnauzbart und schüttelte den Kopf. »Dort gibt es ein Unglück, wenn die Leute umherlaufen.« »Genauso ist es!« hakte der Fremde ein. »Sie brauchen ein richtiges Flugfeld, so wie man es jetzt in Johannisthal herrichtet: Hier die Fläche für die Aviatiker, dort die Plätze für die Zuschauer, und alles hat seine Ordnung.« Grade merkte auf. »In Johannisthal sind sie noch nicht fertig, und ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas wird. Soll ich mir vielleicht selbst ein Flugfeld herrichten? Ich habe ohnehin genug zu tun, das ginge über meine Kräfte und meine Mittel.« Der andere schien auf diesen Einwand nur gewartet zu haben. »Das, Herr Grade«, entgegnete er triumphierend, »werde ich für Sie übernehmen. Ich richte den Platz her, zu bauen gibt's da nicht viel, außer einem Schuppen für Ihre Apparate, und das alles kostet Sie keinen Pfennig. Die Zuschauer hole ich heran aber hübsch hinter einer Umzäunung, so daß es kein Unglück gibt - für einen kleinen Obulus, versteht sich.
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Und«, der Unbekannte hob die Stimme; »einen Namen habe ich auch schon: Das künftige Flugfeld wird >Mars< heißen.« »Und wo liegt es? fragte Grade skeptisch. »Ein ganzes Stück von hier entfernt, knapp einhundert Kilometer, in der Abgeschiedenheit der Heide, beim Bahnhof Bork an der Wetzlarer Bahn, in der Nähe von Beelitz.« »Sind Sie des Teufels, Herr!« fuhr Grade auf, doch dann fügte er ruhiger hinzu: »Noch nie gehört von dem Nest.« »Sie werden es kennenlernen«, erwiderte der andere mit der Sicherheit eines Menschen, der von seinem Erfolg überzeugt war. Im August 1909 wurden auf dem Güterbahnhof zu Magdeburg zwei Waggons an einen Güterzug gekoppelt, der Grades Aeroplane, zerlegt in ihre Einzelteile, die Werkbänke und den Hausrat des jungen Ehepaares enthielt. Zwischen Schraubstöcken und Motoren türmten sich Betten, Schüsseln und Möbelstücke. Die jungen Grades fuhren mit ihren beiden Helfern einem großen Abenteuer entgegen. Mit der Motorenproduktion, die das Geld ins Haus gebracht hatte, war es vorerst vorbei. Was Grade jetzt tun wollte, schluckte alle Ersparnisse: Er mußte seinen neuen Apparat, den Eindecker, zum Fliegen bekommen, und zwar so, daß er sich um den Preis des Herrn Doktor Lanz bewerben konnte. 40 000 Mark! Ein riesenhaftes Vermögen! Damit könnte man etwas anfangen. Grade war überzeugt, daß nur er, wenn überhaupt einer, Chancen besaß, den Preis zu gewinnen. Nur fliegen mußte sein Eindecker. Er war immerhin der erste Deutsche, dem es gelungen war, in einer von Maschinenkraft getriebenen Flugmaschine aufzusteigen, wenn seine Flüge auch kaum mehr als 100 Meter währten. Für den Lanz-Preis indessen mußte er mehr leisten. Ob er das wohl schaffte? Von dieser Frage hing alles ab. Außer ihm bewarb sich noch ein anderer, ein gewisser Dorner, um den Preis, doch soviel er, Grade, wußte, waren dem bisher nur unbedeutende Sprünge gelungen. Immerhin! Er mußte sich beeilen. Ein verheißungsvoller Augustmorgen stieg über der Heide empor. Hans Grade stand nachdenklich vor seinem neuen Flugzeugschuppen. Der Mann mit dem harten Hut hatte nicht zuviel versprochen. Vor ihm
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lag ein großer, fast 800 Meter langer, von Kiefernwäldern umgebener Platz. Grade wußte, lange würde es hier nicht mehr so ruhig sein. Sobald ihm die ersten Flüge gelangen, wollte der Mann schon dafür sorgen, daß genügend Zuschauer aus Berlin und Magdeburg herbeiströmten. Diesen Tribut mußte Grade seiner Erfindung zollen. Im Grunde genommen, war es überhaupt seine Erfindung? Er hatte lediglich, auf den Erkenntnissen Lilienthals fußend, zwei Flugmaschinen gebaut, von denen der kleine Eindecker bisher noch nicht einmal den Beweis erbracht hatte, daß er fliegen würde. Und außerdem hatte er sich die zahlreichen Flieger im Ausland zum Vorbild genommen, die längst viel weiter flogen als er. Eine ungewohnte Bitterkeit stieg in ihm auf. Eigentlich hatte er nur das nachvollzogen, was andere vor ihm schon längst erreicht hatten. Am Ende des vorigen Jahres war der Amerikaner Wilbur Wright in Frankreich nun in aller Öffentlichkeit 124 Kilometer weit geflogen, während er nur lausige 100 Meter schaffte. Vor 3 Wochen hatte der Franzose Louis Blériot mit seinem Aeroplan sogar den Ärmelkanal von Frankreich nach England überquert. Was bedeuteten da schon seine kümmerlichen Flüge? Der silberne morgendliche Dunst löste sich unter der aufsteigenden Sonne auf. Heute wollte Grade mit seinen beiden Helfern den Eindecker aufmontieren und ihn am Abend, wenn es windstill war, zum ersten Male ausprobieren. Unverdrossen machten sich die Männer an die Arbeit. Gegen Mittag erschien der Mann mit dem Hut und erkundigte sich, wann Grade wohl das erstemal fliegen wolle? Grade wich aus. Das könne man bei solch einem Unternehmen vorher nie genau sagen. Es sei nur wegen der Reklame, wendete der andere ein, außerdem müsse er für Zuschauerplätze sorgen und die Presseleute herbeirufen. »Warten Sie damit noch etwas«, erwiderte Grade mürrisch, obwohl er wußte, daß er dem Trubel und Spektakel nicht entgehen konnte. Die Männer montierten die Tragflächen, verspannten sie und bauten mit Hilfe eines Flaschenzuges den Motor ein. Gegen Abend kam Käthe, in den Schuppen. Sie ahnte wohl, was ihr Mann vorhatte. »Sei vorsichtig, Hans!« mahnte sie beklommen. Sie vermochte ihre Angst nur mühsam zu unterdrücken. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als Grade befahl, die Libelle
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aus dem Schuppen, zu schieben. Jetzt sollte sie zeigen, was in ihr steckte. Zunächst wollte er nur auf dem Boden rollen. Grade wies seine Helfer an, die Maschine an den Wendepunkten an der Tragfläche herumzuziehen, weil bei der geringen Rollgeschwindigkeit das Seitenruder nicht reagierte. Er kroch in seinen winzigen Sitz unter der Tragfläche und betätigte probeweise den Steuerhebel, der einem Pumpenschwengel ähnelte und von oben herabhing. Die Ruder und die Verwindung an den Tragflächen reagierten, wie es sein mußte. Danach drehte einer der beiden Helfer den Propeller durch; pfeifend sog der Motor das Gemisch an, und gleich darauf zerrissen die ersten Zündungen die abendliche Stille. Die beiden hielten die Maschine fest, und auch Frau Grade half, so gut sie konnte, um die Maschine am Wegrollen zu hindern. Grade gab Gas, das Knattern des Motors ging in ein hohes Singen über. Die Spannung aller Beteiligten wuchs, niemand hatte in dieser Stunde einen Blick für die stille Einsamkeit der abendlichen Heide. Es dämmerte schon, und im Schein der untergehenden Sonne breitete sich spätsommerliche Melancholie aus. Da gab Grade das Zeichen! Die Helfer ließen die Maschine los, und die Libelle rollte immer schneller über das Flugfeld. Keuchend liefen die Mechaniker hinterher, um beim Wenden zu helfen. Drei- oder viermal vollzog sich das gleiche, dann beschleunigte Grade noch mehr, bis er spürte, daß sie sogleich abheben würde. Doch er nahm den Gashebel zurück und rollte zum Schuppen. »Jetzt muß es gelingen!« schrie er durch den Motorenlärm. Die Libelle schnurrte abermals über das Flugfeld, und ehe sich's alle versahen, stieg sie in die Luft und flog in zwei Meter Höhe davon. Als sie wieder den Boden berührte, hatte sie fast die Hälfte des Platzes überquert. »Ich hätte noch weiter und höher fliegen können«, jubelte Grade, als seine Helfer atemlos bei ihm anlangten, »doch erst muß ich lernen, Kurven zu fliegen. Die Maschine ist vortrefflich.« Unbemerkt war der Mann mit dem harten Hut hinzugetreten. »Es ist gut, daß Sie das sagen, nun werde ich für Zuschauer sorgen ...« Grade flog von nun an jeden Tag, verbesserte da und dort etwas, und flog danach wieder unermüdlich. Vorsichtig tastete er sich in die ersten
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Kurven hinein, lernte Seitenruder und Verwindung zu koordinieren, und als der Monat August zu Ende ging, war er davon überzeugt, daß er nun bald um den Lanz-Preis fliegen könnte. Eines Morgens drückte ihm der immer geschäftige Mann mit dem Hut die »Tägliche Rundschau« in die Hand. Er deutete auf einen angestrichenen Zeitungsartikel. »Lesen Sie, Herr Grade!« Grades Augen glitten skeptisch über das Blatt: »Ingenieur Grade, der, wie berichtet, seit einigen Tagen auf dem Flugfeld >Mars< am Bahnhof Bork weilt, hat seinen neuen Eindecker montiert... Am gestrigen Sonntag gelangen dem Flieger bereits mehrere Flüge von 300 bis 400 Meter Länge und etwa 2 Meter Höhe. Die nächsten Tage werden sicher eine weitere Steigerung seines Könnens ergeben, so daß von jetzt ab Zuschauer in beschränkter Anzahl zugelassen werden sollen. Bis die Einrichtungen für eine größere Zahl Zuschauer getroffen sind, ist der Eintrittspreis an der Kasse auf 4 Mark festgesetzt, während im Vorverkauf Karten zu 3 Mark ausgegeben werden. Vorverkaufskarten können an den Fernbahnhöfen der Stadtbahn und am Potsdamer Bahnhof gelöst werden, und zwar, in den auf diesen Bahnhöfen gelegenen Zigarrenhandlungen. Die Versuche finden bei günstigem Wetter täglich statt.« Der Reporter behielt recht: Grade steigerte seine Flugleistungen von Tag zu Tag. Am 11. September umflog er den Flugplatz dreimal, ohne dazwischen auf die Erde niederzugehen. Damit stellte er einen deutschen Dauerrekord von zwei Minuten und sechs Sekunden auf. Der Mann mit dem steifen Hut verstand sein Geschäft. Es gelang ihm, nicht erwartete große Menschenmengen herbeizulocken. Auf dem kleinen Bahnhof Bork stiegen täglich Hunderte, ja Tausende Zuschauer aus den Zügen. Doch nicht alle waren von Grades Leistungen überzeugt, viele meinten, es handle sich um bedeutungslosen Firlefanz, aus dem niemals etwas werden würde. Eines Tages hatte jemand am Schuppen eine Holztafel mit einem Spottgedicht angenagelt: Ich kann das gar nicht loben, was wollt ihr denn da oben? Wir sind in früh'ren Jahren
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doch unten stets gefahren. Doch der ständig zu Späßen aufgelegte Grade hatte dafür nur ein Lächeln übrig. In diesen Tagen erhielt er ein Schreiben vom Berliner Verein für Luftschiffahrt. Grade möge an der Eröffnungsflugwoche des neuen Flugplatzes Johannisthal-Adlershof vom 26. September bis zum 3. Oktober 1909 teilnehmen. Grade lehnte ab. Er wollte sich auf den Lanz-Preis vorbereiten. Der erste Tag der Herbstflugwoche zeigte sich in und um Berlin nicht von seiner besten Seite. Ein trüber, verhangener Himmel hing über dem Land, und ein schwacher, wenn auch andauernder Nieselregen ging nieder. Trotzdem entschloß sich Grade an diesem Tag zur Generalprobe für den großen Preis. Als am Vormittag in Bork der zierliche Eindecker aus dem Schuppen geschoben wurde, säumten ungefähr 150 Zuschauer das Flugfeld. Alles vollzog sich wie an den Vortagen. Knatternd sprang der Motor an, Grade gab Gas, und nach wenigen Metern Anlauf war er bereits in der Luft. Er flog nicht mehr in zwei Meter Höhe wie am Anfang, seine Maschine stieg jetzt auf 25 bis 30 Meter. Runde um Runde zog er in leichter Schräglage um das Flugfeld. Beifallstürme stiegen zu ihm hinauf. Da zerriß ein Knall das gleichmäßige Motorengeräusch, und irgend etwas flog davon. Die Zuschauer konnten nicht erkennen, was es war. Doch Grade hatte die Situation sofort erfaßt: Der Propeller war zersplittert! Die Maschine drohte nach hinten wegzukippen, Grade drückte daher den schwengelartigen Steuerhebel nach vorn. Aber zu spät! Die Maschine sackte durch und stürzte in eine Kiefemschonung. Grade hatte großes Glück, wie damals auf dem Cracauer Anger war er unverletzt geblieben, doch die Libelle hatte es arg mitgenommen. Grade wäre nicht Grade gewesen, wenn er jetzt aufgegeben hätte. Unverzüglich machte er sich mit seinen Mechanikern an die Arbeit, und schon bald stand sein Apparat wieder flugbereit vor dem Schuppen in Bork. An diesem Tag, dem 11. Oktober 1909, umflog er das Flugfeld in 11 Minuten und 12 Sekunden mehr als sechsmal. Das war weitaus länger, als der Lanz-Preis verlangte.
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Grade schrieb an den Berliner Verein für Luftschiffahrt, der mit der Überwachung der Preisvergabe betraut worden war. Man möge eine Sportkommission und Schiedsrichter nach Bork schicken, er sei bereit, den Flug zu wagen. Die Herren in Berlin lehnten ab. Der Flug müsse - obwohl das nicht in den Bedingungen stand - über dem Flugplatz Johannisthal-Adlershof absolviert werden. Offensichtlich versprach sich der Berliner Verein hier besonders hohe Einnahmen durch den Menschenzulauf. Grade nahm es schulterzuckend hin und stimmte zu. Am 22. Oktober brachte er seinen Eindecker mit der Eisenbahn nach Johannisthal. Er stand sofort im Mittelpunkt, Presseleute bestürmten ihn, denn die ausländischen Teilnehmer der vergangenen Herbstflugwoche, die viel größere Leistungen als er vollbracht hatten, waren längst wieder abgereist. Ein Reporter schrieb: »Am Freitag tauchte ein neuer Mann in Johannisthal auf, Hans Grade. Mit ein wenig schief geneigtem Kopf, auf dem eine Schirmmütze saß, zuweilen den mächtigen schwarzen Schnurrbart streichend, stapfte er über das Feld; er lächelte oft und gern, war aller Welt Freund, so wie sie der seine; seine Anzüge waren miserabel, seine Schlipse entsetzlich, seine Hosen staken in nicht sehr schönen Schaftstiefeln; er hatte keinen Sinn für Aufmachung; er hatte nur Sinn für seinen Eindecker.« So sehr man auch Grade ans Licht der Öffentlichkeit ziehen wollte, so gut verbarg er sich mit seinen Helfern fast eine Woche lang in dem ihm zugewiesenen Schuppen, in dem er seinen Eindecker montierte. Er ließ sich auch nicht, dazu bewegen, den Flugapparat einmal aus dem Schuppen zu rollen, damit ihn die Presseleute und die Zuschauer, die täglich nach Johannisthal pilgerten, sehen konnten. Das alles war gar nicht nach dem Geschmack der Leiter des Vereins für Luftschiffahrt und des Flugplatzes, die sich mit Grade ein Geschäft versprachen. Dafür ließen sie in und um Berlin Flugzettel zu Hunderttausenden verbreiten: Hans Grade fliegt um den Lanz-Preis der Lüfte in Höhe von 40 000 Mark
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auf dem Flugplatz Johannisthal-Adlershof Sonnabend, den 30. und Sonntag, den 31. Oktober 1909 Der vorletzte Oktobertag des Jahres 1909 stieg trübe herauf. Zweifelnd erwarteten der Direktor des Flugplatzes und die Herren vom Verein für Luftschiffahrt den Zuschauerstrom. Doch der ließ auf sich warten. Erst am späten Vormittag kamen einzelne Schaulustige. Was würde sie schon an diesem trüben Tag in Johannisthal erwarten? Ein gewisser Grade sollte zwei oder drei Minuten um einen märchenhaften Preis fliegen. Die Berliner hatten schon andere Aviatiker gesehen. Vor acht Wochen war Orville Wright, einer der beiden »Erfinder« der Motorflugmaschine, um das Tempelhofer Feld geflogen, und während der vergangenen Herbstflugwoche hatten sie den berühmten Blériot und seinen Landsmann Henri Farman gesehen. Der Franzose Hubert Latham hatte es sogar gewagt, von Tempelhof nach Johannisthal herüberzufliegen, worüber ihm ein Gendarm 150 Mark wegen »groben Unfugs« abnahm. Am tollsten hatte es jedoch der Franzose Henri Rougier getrieben: 2 Stunden und 41 Minuten war er unentwegt um den Flugplatz gekreist. Und nun kam dieser Grade und wollte zwei oder drei Minuten fliegen. Was bedeutete das schon? Trotzdem hatten sich bis zum frühen Nachmittag immerhin zwei- bis dreitausend Menschen versammelt. Sie harrten aus, und sie mußten lange ausharren. Von Grades Maschine war nichts zu sehen, auch ihr Erbauer ließ sich nicht blicken. Am Nachmittag wurde der Schuppen endlich geöffnet. Aber die Zuschauer wurden abermals enttäuscht. Nicht der Flugapparat wurde ins Freie geschoben, sondern Schiedsrichter und Ingenieure versammelten sich, um zu überprüfen, ob Grades Maschine wirklich aus deutschem Material gefertigt worden war. Stunden verrannen, und schon machten sich die ersten Zuschauer verärgert und schimpfend auf den Heimweg. Von einem hölzernen Turm aus nannte ein Sprecher durchs Megaphon die Namen der Herren: der Stifter des Preises, Herr Doktor Karl Lanz, Herr Major August von Parseval, der Erbauer der bekannten unstarren Luftschiffe, Herr Diplomingenieur Hermann Dorner, Herr Ingenieur
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Hans Grade und und und ... Neben ihnen stand auch Frau Grade, aber von ihr nahm niemand Notiz. Außerdem interessierte diese Gesellschaft die Zuschauer nicht, sie wollten Grade fliegen sehen; Man munkelte, daß an diesem Tage gar nichts mehr geschehen werde, sondern erst morgen, am Sonntag ... Schließlich wurde der zierliche Apparat doch noch aus dem Schuppen bis 100 Meter vor die Startlinie geschoben, und viele, die bereits gehen wollten, kehrten noch einmal um. Grade lief hinter seiner Maschine her, dabei rutschte das linke Hosenbein aus dem Stiefel. Mit größter Gelassenheit, als ob es für ihn nichts Wichtigeres gäbe, zog er den Stiefel aus und brachte seine Hose wieder in Ordnung. Dann nahm er in dem schmalen Sitz unter der Tragfläche Platz. Das Raunen der Zuschauer erstarb. Der Motor sprang an, und stein Knattern zerriß die atemlose Stille, Rasend rotierte der Propeller. Nach einigen Minuten rollte der kleine Apparat. Frau Grade lief einige Schritte nebenher und rief ermunternd: »Fliege, Hans, fliege!« Aber weder Grade noch die Zuschauer hörten es. Die Maschine wurde immer schneller, als ob sie eine Zauberkraft antrieb, und nach knapp 30 Meter Anlauf sprang sie in die Luft. Die Massen zollten nun frenetischen Beifall. Die Startlinie, an der sich Hans Grade hatte vom Boden lösen müssen, überflog er schon in drei Meter Höhe. Dann ging er in eine flache Linkskurve und nahm Kurs auf die 500 Meter abseits liegende Prüfstrecke, deren Wendemarken er in Form einer Acht zu umrunden hatte. Die Zuschauer schwiegen jetzt beinahe andachtsvoll. Gut! Sie hatten schon die Größten unter den Aviatikern fliegen sehen, doch der jetzt da oben flog, war schließlich ein Landsmann von ihnen, der erste Deutsche, dem es gelungen war, mit einem Motorflugzeug in die Luft zu steigen. Die kleine Maschine jagte auf den ersten Wendepfahl los, legte sich in eine imponierend steile Kurve und umrundete ihn.-Erneut brauste Beifall auf. Nun steuerte Grade den Apparat auf den zweiten Wendepfosten zu. Würde der Apparat durchhalten? Scheinbar schwerelos zog er dahin. Es sah lustig aus, wie Grade in seinem Sitz hing und mit sichbarer Gelassenheit steuerte. Da näherte sich auch schon der zweite Pfahl, Grade umflog ihn dieses Mal von rechts. Die Massen brüllten stärker als bei einem gewagten Torschuß
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beim Fußballspiel. Johlend rannten sie auf das Flugfeld. Gendarmen drängten sie zurück. Der Flugapparat glitt herab und landete fast genau vor dem Schuppen. Vier Minuten und vier Sekunden war Hans Grade in der Luft gewesen. Die Erklärungen des Sprechers auf dem Turm gingen in tosendem Lärm unter. Lachend kletterte Grade aus seinem Sitz. Umarmungen, Händeschütteln! Als erster gratulierte Doktor Lanz. Er überreichte Hans Grade den 40 000-Mark-Scheck. In diesem Augenblick schob sich ein Major zwischen die Gratulanten. Grade stutzte einige Sekunden, doch dann drängte er sich zu ihm hin und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Ich gratuliere zum Major, Herr von Sommerfeld!« Doch Sommerfeld wehrte bescheiden ab. »Was ist schon ein preußischer Major gegen den ersten deutschen Motorflieger! Jetzt sind Sie der Größte, Grade!« »Ohne Ihre Hilfe hätte ich das bestimmt noch nicht geschafft, Herr Major! Vielleicht wäre mir dann ein anderer zuvorgekommen. Es liegt nämlich irgend etwas in der Luft«, ergänzte Grade zweideutig. Sommerfeld schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie doch nur unterstützt, um Ihnen zu beweisen, daß es nicht möglich ist, mit solch einer Maschine zu fliegen. Und nun mußte ich sehen, wie Sie das Unmögliche möglich gemacht haben. Man wird sich jetzt um Sie reißen, Grade, da brauchen Sie den Sommerfeld nicht mehr.« An diesen beiden letzten Oktobertagen stieg Grade noch mehrere Male auf und erreichte unter dem Beifall der Massen Höhen bis zu 30 Metern und Flugzeiten bis zu 7 Minuten. Dieses Mal behielt Major von Sommerfeld recht. Noch in Johannisthal erreichten Grade die ersten Telegramme aus vielen deutschen Städten. Man forderte ihn auf, in Hamburg, Bremen, Dresden, München, Düsseldorf und Leipzig zu fliegen. Aber auch aus dem Ausland kamen Einladungen. Hans Grade war zu einem der populärsten Männer jener Tage geworden. Er begnügte sich aber nicht mit Schauflügen, die ihn immer höher und weiter führten, sondern er wollte als Ingenieur zur technischen Entwicklung des deutschen Flugwesens beitragen. Noch im November desselben Jahres gründete er in Bork die Grade-Flieger-
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Werke, um seinen Eindecker zu verbessern und in Serie bauen zu können. Leistungsfähigere Einsitzer entstanden, aber auch solche Maschinen, in denen zwei Personen Platz fanden. Die Sitze erhielten eine bootsförmige Verkleidung, und die Apparate flogen schneller, höher und weiter. Grade blieb aber, trotz mancher Aufforderung, nach dem Zentrum des deutschen Motorflugs Johannisthal überzusiedeln, in Bork. In Johannisthal entstanden neue, kapitalkräftigere Firmen als die GradeFlieger-Werke; Firmen, die sich von Anfang an auf die militärische Verwendbarkeit der Flugmaschinen konzentrierten. »Ich glaube, Sie fangen es falsch an, Herr Grade«, bemerkte Major von Sommerfeld, als er ihn wieder einmal in Bork besuchte. »Ihre leichten Maschinen werden kaum das Interesse der Herren im Kriegsministerium finden.« »Ich bin auch kein Geschäftsmann, sondern Ingenieur. Ich werde neben meiner Fabrik eine Fliegerschule eröffnen, in der jeder, der will, auf meinem Eindecker fliegen lernen kann. Ich glaube, daß sich dann der Erfolg einstellen wird.« Grade behielt zunächst recht. Der Zustrom derer, die bei ihm eine Pilotenausbildung erhalten wollten, war beträchtlich. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges bildete er annähernd 100 Piloten aus, ohne einen tödlichen Unfall. Anfangs kauften die meisten Schüler nach Abschluß ihrer Ausbildung einen Grade-Eindecker, der damals, je nach Ausführung, 10 000 bis 16 000 Mark kostete. Doch mit der zunehmenden Militarisierung des Flugwesens kamen fast ausschließlich Offiziere zu Grade, und die kauften sich nach ihrer Ausbildung keine Privatmaschine. Ihnen standen wesentlich leistungsfähigere Flugzeuge von Rumpier, Albatros und Aviatik zur Verfügung. Mit Grades Werk begann es abwärtszugehen, weil er an seiner Grundkonstruktion festhielt und keine neuen Wege einschlug. Über seiner Fabrik und der Fliegerschule hatte er beinahe vergessen, daß er selbst noch kein Pilotenzeugnis besaß. Er beantragte es erst Anfang 1910, lange nach seinem Flug um den Lanz-Preis. Man erließ ihm die Prüfung und erkannte seinen Lanz-Flug dafür an. So erhielt er erst, obwohl erster deutscher Motorflieger, nach einem gewissen August Euler das deutsche Pilotenzeugnis Nummer 2. Das grämte ihn nicht.
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»So ist es ganz in Ordnung«, sagte er. »Nicht die Eins, sondern die Zwei ist eine >grade< Zahl. Im übrigen ändert das nichts an der geschichtlichen Tatsache, daß der Zweite der Erste ist, und ich bin mehr auf den ersten Flug als auf die Nummer meines Pilotenzeugnisses stolz.« Es wäre falsch, in Grade nur den nüchtern denkenden Flugpionier zu sehen. Auch wenn er jeden Schritt gründlich durchdachte, hatte er doch etwas für Bravourstücke und Sensationen übrig. Um 1911 beabsichtigte eine Filmgesellschaft, einen Film zu drehen, bei dem eine Frau - es war die damals berühmte Filmschauspielerin Tilla Durieux - von einem brennenden Turm mit einer der neumodischen Flugmaschinen gerettet werden sollte. Man wußte nicht, wie das zu bewerkstelligen sei, und suchte einen Piloten, der eine Lösung fand und auch selbst flog. Als Grade davon hörte, erklärte er sich sofort bereit, den Flug zu übernehmen. Eine günstige Gelegenheit für ihn, ein fliegerisches Bravourstück zu zeigen. Man zündete den Turm an, Grade näherte sich mit seinem Eindecker. Er schleppte ein Seil hinter sich her, an dem sich eine Fangvorrichtung befand, und rettete die Frau aus dem Feuer: Allerdings nicht Tilla Durieux oder einen Kaskadeur, sondern eine Puppe. So wurde Hans Grade vermutlich der erste Filmflieger der Welt. Ein anderes Mal wurde Grade verlacht, weil er höchstens mit zwei Personen zu fliegen in der Lage sei. Andere seien schon mit drei oder vier Personen aufgestiegen. Grade überredete sofort vier Liliputaner aus einem Zirkus und flog mit ihnen um den Flugplatz Bork. Fünf Mann in einem Flugzeug! Das sollte ihm erst einmal einer nachmachen. Mitte Oktober 1910 - fast ein Jahr nach seinem Flug um den LanzPreis - fuhr Hans Grade wieder einmal, wie er es oft tat, mit dem Motorrad nach Johannisthal hinüber, um zu fachsimpeln und nachzuschauen, was es dort Neues gäbe. Vom Flugfeld winkten ihm zwei Männer zu; Der eine, ein großer, schlaksiger, ein gewisser Eugen Wiencziers. Er hatte gerade vergeblich versucht, die Alpen mit seinem französischen Blériot-Eindecker zu überqueren. Der andere, ein schweigsamer mit traurigem Gesicht, Robert Thelen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und kaute, wie meist, auf einer Zigarette herum. Grade
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kannte ihn sehr gut. Er versuchte, aus einem alten Wright-Doppeldecker immer größere Leistungen herauszuholen. »Hallo, Hans!« begrüßte ihn Wiencziers, während Thelen nur etwas Unverständliches murmelte. »Schämst du dich nicht, immer nur mit diesem alten Schinken«, er deutete auf das Motorrad, »nach Johannisthal herüberzukommen?« Grade verstand die Anspielung. »Soll ich mit meinem >Drachen< herfliegen? Du willst doch nur, daß ich damit auf den Pinsel falle«, erwiderte er lachend. »Die Idee ist gar nicht schlecht, ich werde es tun, aber nur unter einer Bedingung: Ihr müßt mit von der Partie sein. Ich habe schon oft an diesen Flug gedacht.« Wiencziers und Thelen wechselten einen Blick miteinander, Thelen verzog sein Gesicht. »Einverstanden!« sagte er. Wiencziers nickte zustimmend. »Wir werden auch die anderen fragen, ob sie mitmachen. Vielleicht setzt die Direktion des Flugplatzes Prämien aus.« »Was denn sonst!« rief Grade. »Das bringt doch einige tausend Zuschauer auf den Platz.« Doch es fand sich niemand weiter, der am ersten Luftrennen in Deutschland von Bork nach Johannisthal teilnehmen wollte. Man bedenke: Immerhin betrug die Entfernung 60 Kilometer. Was konnte da nicht alles passieren! Am 30. Oktober, dem Jahrestag von Grades Flug um den Lanz-Preis, sollte der Flug stattfinden. Sie benutzten zweisitzige Maschinen, aber niemand war bereit, als Passagier mitzufliegen. Der 30. Oktober war ein warmer und sonniger Tag, geradezu verheißungsvoll für solch ein Unternehmen. Die Laubwälder prangten noch einmal in leuchtenden Farben, und nach Bork, Trebbin und Johannisthal pilgerten Tausende, um das spektakuläre Ereignis mit eigenen Augen zu sehen. Als erster startete Wiencziers mit seinem 50-PS-Blériot. Kaum war Wiencziers am Horizont verschwunden, hoppelte Grades Eindecker über den Platz und stieg rasch 50 Meter hoch. Er knatterte über die Bork umgebenden Wälder auf Beelitz zu. Dann wurde es schwieriger. Vor ihm tauchten Hügel bis zu 100 Meter Höhe auf. Grade meisterte diese
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Hindernisse, indem er auf 150 Meter hochging. Wenn nur der Motor nicht versagte! Man würde ihn verspotten, wenn gerade ihm, dem großen Grade, ein Mißgeschick widerfuhr. Aber bald tauchte vor ihm ein dunkel qualmendes Feuer auf, das ihm anzeigte, daß er Trebbin erreicht hatte. Hier wollte er zur Unterhaltung der Zuschauer einen Kreis fliegen und dann Kurs auf Johannisthal nehmen. Grade warf einen Blick in die Tiefe: Tausende schwenkten begeistert ihre Hüte und winkten mit Taschentüchern. Der letzte Abschnitt war der schwierigste, denn er war nicht markiert. Doch Grade störte das wenig, oft genug war er die Strecke mit dem Motorrad gefahren. Fast jeder Kirchturm, ja beinahe jeder Baum war ihm hier bekannt. Da tauchten auch schon der Teltowkanal und die Schuppen vom Flugplatz Johannisthal auf. Geschafft! Grade stellte den Motor ab und glitt unter dem tosenden Beifall der Massen zur Erde. »Grade! Grade! Grade!« Doch zum Sieg hatte es nicht gereicht. Er war 12 Minuten 30 Sekunden länger als Wiencziers geflogen, dessen Blériot einen viel stärkeren Motor hatte, und wurde Zweiter. Alle drei Flieger hatten das erste Luftrennen erfolgreich beendet. Die Reporter umringten sie und richteten ihre Fragen besonders an Grade. »Empfinden Sie Furcht bei Ihren Flügen?« »Mich hat niemand gezwungen, da hinaufzusteigen«, erwiderte Grade, »wie sollte ich mich da fürchten?« »Fühlen Sie sich unsicher in der Luft?« »Man fährt oder fliegt vielmehr sehr sicher und ruhig. Nur bei starkem Wind empfindet man so etwas wie eine wellenartige Schaukelbewegung.« »Können Sie aus der Höhe alles erkennen, was hier unten vorgeht?« »Man sieht alles, auch die einzelnen Menschen, nur wenn man aus der Höhe niedergeht, ist einem der Höhenbegriff verlorengegangen, man kann nicht mehr sicher beurteilen, ob man zehn oder nur noch fünf Meter hoch ist und ...« Ein stämmiger Mann drängte die Reporter zur Seite und gratulierte Grade. Grade schüttelte dem anderen die Hand. »Ich freue mich, Sie jetzt hier zu sehen, Herr von Sommerfeld.«
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»Wenn Grade fliegt, wie sollte ich da fehlen?« erwiderte der Major lächelnd. Grade blickte zum Himmel. Die Sonne sank allmählich dem Horizont entgegen und färbte den westlichen Himmel blutrot. »Wollen Sie nicht mit mir zu einem kurzen Flug aufsteigen, Herr von Sommerfeld? Beeilen wir uns, es wird bald dunkel.« Man sah Sommerfeld die Überraschung an, er wußte offenbar nicht, wie er sich entscheiden sollte. Schließlich stimmte er zu. »Also fliegen wir!« Die Umstehenden verfolgten jetzt alle interessiert Grades Maschine, die bereits anrollte. Kurz darauf löste sie sich vom Boden und stieg in flachen Kreisen empor. Ihre Tragflächen schimmerten golden im Licht der untergehenden Sonne. Sie flogen nach Adlershof hinüber. Sommerfeld schaute gebannt in die Tiefe. Unter ihm jagten Vorortzüge wie feurige Schlangen vorüber, und aus dem benachbarten Teltowkanal, den Seen und der Spree stiegen Dunst und Nebel empor. So schön hatte sich Sommerfeld einen Flug niemals vorgestellt. Dieses schwerelose Schweben war ein wunderbares Gefühl. In der Ferne grüßte das Lichtermeer von Berlin. Sommerfeld vermochte nicht, sich von diesen zauberhaften Bildern loszureißen. Er hätte ewig so fliegen mögen. 1914 - in Europa tobte der Krieg. Der Oberstleutnant ließ Grade etwas Zeit, um seinen Vorschlag zu überdenken. Dann aber wiederholte er langsam, doch sehr nachdrücklich: »Sie haben die Wahl, Herr Grade! Entscheiden Sie sich! Wenn Sie uns Ihre Fabrik als Reparaturwerk für beschädigte Frontflugzeuge zur Verfügung stellen, bleibt sie Ihnen unter Ihrer Leitung erhalten.« Der Offizier legte abermals eine Pause ein, ehe er fortfuhr, wobei er sich bemühte, alles Drohende zu unterdrücken: »Andernfalls übernimmt das Deutsche Reich Ihr Werk, doch Sie würden.dann von der Leitung ausgeschlossen und dürften das Gelände nicht mehr betreten.« Grade trommelte ärgerlich mit den Fingern auf den Tisch. Was sollte er tun? Mit dieser Möglichkeit, die sich ihm jetzt offenbarte, hatte er niemals gerechnet, obwohl er seit langem wußte, daß er mit den großen Finnen in Johannisthal und im Reich, mit Rumpier, Aviatik, Albatros, Fokker und wie sie alle hießen, die sich von Anfang an auf den Bau von Militär-
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flugzeugen orientiert hatten, nicht konkurrieren konnte. Für ihn war die Flugmaschine immer nur das Sportgerät. Er überlegte daher lange, doch schließlich unterschrieb er den Vertrag. Er hatte keine andere Wahl. Was nunmehr in seiner Fabrik aus den Flugzeugwracks entstand, forderte selbst den großen Firmen höchste Bewunderung ab. Doch Grade, den ewigen Tüftler, der ständig Neues schaffen wollte, erfüllte das nicht. Außerdem gefiel ihm nicht, daß ihm die Militärs ständig Vorschriften machten. Bald verkaufte er daher sein Werk an das Deutsche Reich. Mochten sie damit machen, was sie wollten. Er schuf sich etwas nördlich von seinem alten Gelände eine neue Werkstatt, in der er wieder zu basteln und zu knobeln begann. Der Krieg ging zu Ende, und der Friedensvertrag von Versailles zwischen den Siegerstaaten des ersten Weltkrieges einerseits und Deutschlands anderereits, unterband nahezu das gesamte deutsche Flugwesen. Diese Tatsache und die Gewißheit, keine Abnehmer mehr für seine Flugzeuge zu finden, veranlaßten Grade, sich dem Automobilbau zuzuwenden. Er entwickelte einen zweisitzigen Kleinwagen, der für breite Käuferschichten gedacht, an einen Flugzeugrumpf erinnerte. Grade hatte ganz bewußt die Erkenntnisse des Flugzeugbaus auf seine Autos übertragen, um sie möglichst leicht, billig und leistungsfähig zu bauen. Er entwickelte zwei Modelle, die in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre nicht nur große Erfolge bei Automobilrennen errangen, sondern ihre außerordentliche Leistungsfähigkeit auch bei Langstreckenfahrten auf den Routen Berlin-Paris und Berlin-Riga bewiesen. Obwohl ihre nahezu ausgefeilte technische Einfachheit und ihr niedriger Preis den Käuferwünschen entgegenkamen, konnte sich Hans Grade mit seiner Automobilproduktion gegen so kapitalkräftige Firmen wie Daimler-Benz, Opel und Ford nicht behaupten. Verbittert zog sich Hans Grade vom Automobilbau zurück und wendete sich abermals seiner großen Leidenschaft, der Fliegerei, zu. Doch über kleine Entwicklungsaufträge für große, inzwischen renommierte Flugzeugwerke kam er nicht hinaus. Trotzdem gelangte Hans Grades Name auch gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre noch einmal an die Öffentlichkeit.
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Wie 20 Jahre zuvor, nach seinem nun beinahe legendären Flug um den Lanz-Preis der Lüfte, erhielt er wiederum von vielen deutschen Städten Einladungen, an Flugveranstaltungen teilzunehmen. Allerdings - und das war Bedingung - nicht mit einem modernen Flugzeug, sondern mit seiner Libelle aus dem Jahre 1909. Inzwischen war das Flugzeugwesen längst seinen Kinderschuhen entwachsen. Drei- und viermotorige Ganzmetall-Verkehrsflugzeuge flogen bei Tag und Nacht, von Land zu Land, überquerten Ozeane, und unter diesen Giganten sollte noch einmal der erste deutsche Motorflieger an den Start gehen. Ständig zu Späßen aufgelegt, sagte der inzwischen fünfzigjährige Grade zu. Er baute sich einen Anhänger, auf dem er sein demontiertes Flugzeug verstaute, hängte ihn an seine damals schon antiquierte Ford-Limousine und zog damit von Stadt zu Stadt. Doch diese Schauflüge waren mehr als nur ein Spaß, verdeutlichten sie doch angesichts der großen Flugzeuge, welch rasanten Fortschritt das Flugwesen - nicht zuletzt dank Grades Mitwirkung - genommen hatte. Obwohl Grade nur in 30 oder 40 Metern Höhe 10 Minuten lang um die Flugplätze kreiste, jubelten ihm, dem verdienten Fliegerveteranen, doch aber Tausende zu, so, als ob er gerade erst den ersten Flug der Menschheitsgeschichte absolvierte. Hans Grade selbst aber kam sich wie eine Zirkusnummer vor und machte daraus auch keinen Hehl. Nach solch einem Schaufluge sagte er lachend: »Ich komme mir bei diesen Flügen oft wie ein Wanderartist vor. Früher, in der Pionierzeit, hat man uns Flieger Akrobaten und Artisten genannt. Damals hat uns dieses Wort, oft verächtlich ausgesprochen, beleidigt. Aber heute«, und dabei deutete Grade auf. sein Auto-FlugzeugGespann, »komme ich mir selbst wie ein Zirkusdirektor vor.« Sonntag für Sonntag stieg er an einem anderen Ort auf und erhielt dafür ansehnliche Honorare. Er selbst schrieb in ungelenken Zeilen darüber: Nein, fliege alter Fliegersmann, damit dich in der Luft seh'n kann, die Jugend und das Alter. Den alten Gaul hol aus dem Stall
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und pump ihn auf, recht drall und prall, und fliege wie ein Falter. Eines Tages, Mitte der dreißiger Jahre, saß er mit seiner Frau am Mittagstisch. Vor seinem Haus hielt ein Auto, und der Fahrer kam auf seine Tür zu. »Nicht mal in Ruhe essen lassen sie einen«, brummte Grade. Doch seine Frau ließ den Besucher eintreten. Er trug weder eine Uniform, wie es in jenen Tagen üblich war, noch das Naziabzeichen, und er grüßte auch nicht mit einem forschen »Heil Hitler«, sondern wünschte freundlich, guten Tag. Das versöhnte Grade mit seinem Besucher. Doch er stutzte. Irgendwo hatte er den kaum Vierzigjährigen schon einmal gesehen, doch er wußte nicht wo. Als der andere sich vorstellte: »Mein Name ist Liebeneiner, Wolfgang Liebeneiner«, konnte er sich erinnern. Aha, der bekannte Filmschauspieler und Regisseur! »Wollen Sie etwa einen Film mit mir drehen?« ulkte Grade. »Sie haben es erraten, Herr Grade«, antwortete Liebeneiner mit entwaffnendem Lächeln. Grade lachte schallend. »Und dazu suchen Sie sich so einen Greis wie mich aus?« Er schüttelte den Kopf. »Nee, mein Lieber! Als ich jung war, habe ich so etwas schon einmal gemacht, mit der Durieux, aber heute? Da gibt es es ganz andere Experten, die so etwas viel besser können als ich. Holen Sie sich den Udet oder den Stör, meinetwegen auch den Segelflieger Dittmar. Aber mich? Was soll ich denn spielen?« fragte er nun doch neugierig. Liebeneiner zog eine Mappe aus der Tasche. »Lesen Sie bitte das Drehbuch, Herr Grade, darin erfahren Sie alles, was Sie zu spielen und zu sagen haben.« Grade las den Titel: »Ziel in den Wolken«. - Ein Film über Johannisthal damals. »Was soll ich also spielen?« fragte Grade mißtrauisch. »Sich selbst, so wie Sie damals, 1909, geflogen sind.« Grade lachte und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf. »Mit dieser Glatze?« Längst war von Grades dichtem Haarschopf nichts mehr geblieben. »Unser Maskenbildner wird Sie schon herrichten, wie Sie damals aus-
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sahen.« Grade schüttelte verwundert den Kopf. »Was Ihr so alles ausgrabt!« »Also, wie ist es?« stieß Liebeneiner nach. »Werden Sie zustimmen?« »Wenn es durchaus sein muß«, antwortete Grade nach einer Pause. »Ich habe niemals jemandem den Spaß verdorben.« So flog der alte Hans Grade noch einmal mit seiner Flugmaschine. Diesem großen Flugpionier wurde in der DDR bleibende Ehrung zuteil. In Magdeburg und im Dresdener Verkehrsmuseum haben Nachbauten des berühmten Grade-Eindeckers von 1909 ihre Ehrenplätze gefunden. Der Rat der Gemeinde Borkheide, in der Hans Grade am 22. Oktober 1946 siebenundsechzigjährig starb, ehrte ihn im Herbst 1980, als er ein von der Potsdamer Bildhauerin Petra Paschke geschaffenes Denkmal errichten ließ. Magdeburger GST-Flieger und Mitarbeiter der INTERFLUG pflegen außerdem einen Grade-Gedenkstein auf dem Flugplatz Magdeburg-Süd. In Olvenstedt, dem neuen Magdeburger Wohngebiet, erhielt eine Hauptstraße seinen Namen. Auch ein in Bronze gegossenes Relief an der Tür des historischen Rathauses auf dem Alten Markt erinnert an Hans Grades ersten Motorflug in Deutschland.
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