MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 103
Leben im Sterben von Bernd Franz
Der Posten, der das rückwärtige Tor bew...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 103
Leben im Sterben von Bernd Franz
Der Posten, der das rückwärtige Tor bewachte, war ein vierschrötiger Barbar mit stark hervortretenden Nackenmuskeln, die an dicke Taue erinnerten. Trotzdem zerbrach sein Genick wie ein trockener Ast, als Radek ihm den Kopf mit einem harten Ruck verdrehte. Anstatt zu stürzen, blieb der Tote aufrecht stehen - gehalten von seinem vermummten Mörder, der atemlos in die Nacht lauschte. Erst als Radek völlig sicher sein konnte, dass niemand auf das verräterische Knacken reagierte, ließ er den Toten vorsichtig zu Boden gleiten. *** WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet "Christopher-Floyd" die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-
Piloten Matthew Drax, dessen Jet beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott "Maddrax" verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Seit einer Expedition zum Kratersee weiß Matt Drax um die Bedrohung durch die Daa'muren. Körperlose Wesen kamen damals mit den Kometen auf die Erde und experimentierten mit der irdischen Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine humanoide Echse mit silbern schimmernden Schuppen. Matthew, der in einer Bruthöhle ein Daa'muren-Ei zertritt, wird von ihnen als "oberster Feind" geprägt. Auf der Flucht zu den englischen Communities versorgen er und seine Gefährten die Bunkermenschen mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt, und gewinnen weitere Verbündete. Auch den Weltrat, die skrupellosen Erben der US-Regierung - hauptsächlich um die Angriffe von deren Barbarensöldnern, den Nord- und Ostmännern zu unterbinden. Unterstützt wird Matt neben Aruula von Mr. Black, dem Klon des damaligen USPräsidenten, dem Cyborg Aiko, der Rebellin "Honeybutt" Hardy, dem Albino Rulfan und seinem Staffelkameraden Professor Dave McKenzie. Die beiden Letzteren sind allerdings auf dem Weg von Russland nach England verschollen. Bei all den Vorbereitungen auf einen epochalen Krieg weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist da ein Mann, den die Außerirdischen in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Jacob Smythe, der einst mit Matt Drax den Zeitsprung machte. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten außerhalb der Milchstraße, und weiß um ihre telepathischen und
gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Die Aliens streben eine Kooperation mit ihm an, um ihr Vorgehen auf die Verhaltensweisen der Menschen abzustimmen. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Freunde um Matt, die Sippen und Bunkerzivilisationen Britanas zu einen - keine leichte Aufgabe. Auf Aiko und Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Das Gehirn des Cyborgs wurde bei den Kämpfen um Leeds geschädigt, und die junge Rebellin begleitet ihn zurück nach Amarillo. Ein ausführlicher Rückblick findet sich in Band 100 "Die neue Spezies"! *** Daraufhin löste sich ein Dutzend Männer aus der Finsternis ringsum und schloss leise zu ihm auf. Der Mond stand hoch am klaren Himmel, doch als sie näher traten, brachte kein einziger Lichtstrahl ihre gezogenen Klingen zum Funkeln. Auf Radeks Anweisung hin hatten sie den blanken Stahl mit Pech geschwärzt, denn sie kamen, um aus dem Hinterhalt zu morden. "Leise", forderte der Nosfera, dessen fahles Gesicht von einer weit vorstehenden Kapuze bedeckt wurde. Auf ihn, der in und mit der Dunkelheit lebte, wirkten die anschleichenden Barbaren so trampelhaft wie eine Wakudaherde. Einzig Vukov und Rraal, die die Gruppe flankierten, fanden Gnade vor seinen gestrengen Augen. Sie waren Bluttempler wie er. Degenmeister, geübt in allen Facetten des Kampfes! Auch den schmutzigen und hinterhältigen. Ihre sorgfältige Ausbildung wog ein halbes Dutzend der schwer atmenden Totschläger auf, die sie in Plymeth angeheuert hatten, um ihre heilige Mission zu beenden. Trotz
der überlegenen Fähigkeiten konnten es auch drei Degenmeister nicht alleine mit einer ganzen Garnison aufnehmen. Deshalb mussten sie wohl oder übel auf die Hilfe gedungener Söldner zurückgreifen, mochte deren unkontrolliertes Schnaufen und Füßescharren auch an Radeks Nerven zerren. Mürrisch zog er ein geschwärztes Messer unter dem Umhang hervor und schob es zwischen Türblatt und Rahmen, um den von innen vorgelegten Riegel anzuheben. Vorsichtig, mit viel Fingerspitzengefühl führte er die Klinge den Spalt empor, bis sie auf einen rasch nachgebenden Widerstand stieß. Metall schabte über Metall, bis der Riegel mit einem leisen Klacken aus der Halterung sprang. Die roh gezimmerte Tür schwang von alleine auf. Die gut gefetteten Angeln gaben nur ein kurzes Schmatzen von sich, danach lag der Weg frei. Auf einen kurzen Wink hin folgten ihm die Männer in das weitläufige Gebäude, das dem Erzfeind als Festung diente. Auf dem Weg hierher hatten sie bereits mehrere Wachen und Barrieren aus stachligen Dornenranken überwinden müssen, doch hier drinnen wurde es sicher noch viel gefährlicher. Vorsichtig schlich Radek voraus. Obwohl er mit seinem Lauschsinn die Umgebung erkundete, bemerkte er keinerlei menschliche Präsenz. Seltsam. Sollte der, dessen Namen nicht genannt werden durfte, so sorglos geworden sein? Einige mit Tran gefüllte Lampen beleuchteten nur spärlich den vor ihm liegenden Gang. Sich instinktiv im Schatten haltend, umrundete Radek die flackernden Lichtinseln, bis er zu einer großen Eingangshalle gelangte, in der ein breiter Treppenaufgang zu den oberen Stockwerken führte. Auch hier gab es nur einige blakende Fackeln in eisernen Wandhalterungen, aber keine Wachen, die den Zutritt verwehrten. Wenn sie sich leise genug bewegten, blieb ihre Anwesenheit sicher unbemerkt.
Der Tod des Mannes, der ihrem Orden so viel Schaden zugefügt hatte, stand unmittelbar bevor. Navok zu töten war sicher einfacher, als das Gebäude anschließend lebend zu verlassen, aber das störte Radek nicht. Erzvaters Befehle wogen schwerer als das eigene Leben. Ruhig und ohne jede Furcht bedeutete er den Söldnern mit kurzen Gesten, sich in mehrere Gruppen aufzuteilen. Zwei Männer ließ er zurück, um den Fluchtweg zu sichern. Fünf weitere postierte er unterhalb der Treppe, damit sie herbei eilende Wachen abfangen konnten, sobald der Tumult losbrach. Den anderen winkte er zu, ihm zu folgen. Nach allem, was in Plymeth zu hören war, lagen die Schlafgemächer in den oberen Stockwerken. Welches davon Navok bewohnte, würde sich rasch herausfinden lassen. Es musste ganz einfach das sein, vor dem die meisten Wachen standen. Der Verräter hatte eine ganze Armee ehemaliger Sklaven um sich versammelt, die ihm die Freiheit verdankten und deshalb treu ergeben bis in den Tod dienten. Ein kluger Einfall, das musste Radek eingestehen, aber auch die größte Streitmacht der Welt vermochte Navok nicht vor der Rache des Ordens zu schützen. Zu acht schlichen sie durch die Halle. Er selbst ging voraus, Vukov und Rraal sicherten die Flanken. Generationen von Schuhsohlen hatten bereits den Marmor zu ihren Füßen stumpf gelaufen. Die Festung stammte noch aus der Zeit vor Kristofluu und musste zwischendurch einmal als Stall gedient haben, denn in den Wänden haftete ein strenger Tiergeruch. Der ausladende Treppenaufgang ähnelte einer Anhöhe, die nur darauf wartete, im Sturm erobert zu werden. Radek unterdrückte den Impuls, rasch empor zu stürmen. Vorsichtig nahm er Stufe für Stufe, ohne den geringsten Laut zu verursachen, bis er eine huschende Bewegung im ersten Stock bemerkte. Etwas Borstiges, Großes jagte zur Linken hinter der
steinernen Brüstung hervor und richtete sich zu einem mit Klauen bewaffneten Ungetüm auf. Ein glühendes Augenpaar, das den Fackelschein aus der Halle reflektierte, starrte sie aus einer vorspringenden Fratze an. Eine Handbreit tiefer glitzerten zwei Reihen spitz zulaufender Fänge, von denen Speichel troff. Die Barbaren hinter Radek keuchten erschrocken auf. "Der Todesschatten!", kreischte einer ängstlich. "Ich hab doch gesagt, dass er uns aufspüren wird!" Radek hätte den Schreihals am liebsten eigenhändig zum Verstummen gebracht, aber leider fehlte dafür die Zeit. Die Taratze auf dem Treppenabsatz - denn um nichts anderes handelte es sich bei dem Todesschatten - ging bereits zum Angriff über. Fauchend stieß sie sich mit den kräftigen Hinterläufen ab und flog in die Tiefe. Radek knickte sofort ein, als hätte ihm jemand die Beine unter dem Leib weggeschlagen. In Wirklichkeit ging er nur in die Knie und zog den Kopf ein. Gerade noch rechtzeitig, um unter dem riesigen Nager abzutauchen, der mit ausgebreiteten Vorderläufen zwischen den Söldnern landete. Obwohl mit blanken Klingen bewaffnet, waren alle viel zu überrascht, um die Taratze mit einem gezielten Stich zu empfangen. So wurden die dummen Kerle mitgerissen und stürzten in einem lebenden Knäuel die Stufen hinab. Die nächtlichen Stille war auf einen Schlag vorbei. Ellenbogen, Köpfe, Schultern und Knie knallten auf nackten Marmor. Das Bersten der Knochen verursachte einen infernalischen Lärm, ebenso die Schreie voller Angst und Schmerz. Die geschmeidige Taratze rappelte sich zuerst wieder auf und begann sofort, nach links und rechts auszuteilen. Blutige Fontänen markierten die Wunden, die ihre Krallen bei den Söldnern hinterließen. "Alarmsss!", kreischte sie dabei. "Sssie wollenss den Herrn tötsssen!"
Radek erstarrte vor Überraschung, als er die Taratze sprechen hörte. In Ruland, seiner Heimat, wurden diese gefräßigen Viecher ausschließlich von ihren Trieben beherrscht. Um wie viel gefährlicher mussten sie erst sein, wenn sich ihre unbändige Aggressivität auch noch mit Intelligenz paarte? Das Ergebnis konnte er mit eigenen Augen beobachten. Gerade ging ein Streitkolben auf die Taratze nieder, die dem Schlag jedoch durch eine instinktive Drehung den Großteil seiner Wucht nahm. Im Gegenzug schnappte sie nach dem Waffenarm des Angreifers. Ihre Fänge drangen bis auf den Knochen durch. Muskeln und Sehen wurden durchtrennt, der Griff des Barbaren erschlaffte. Radek zog den Degen aus der Scheide, doch es war längst zu spät, um das Unglück aufzuhalten. In der Festung wurden bereits überall Stimmen laut. Der Überraschungseffekt, auf dem sein Plan beruhte, war dahin. Alarmrufe gellten die Gänge entlang, gleich darauf flogen die Flügel des Haupttores auf. Vier kahl geschorene Krieger, die draußen Wache gestanden hatten, stürmten mit gezogenem Degen herein. Vukov und Rraal nahmen sie in Empfang, doch die Glatzköpfe verstanden ihr Handwerk. In Kampf und Taktik bestens geschult, drangen sie jeweils zu zweit auf einen Nosfera ein, ohne sich um die Söldner zu kümmern, die von der Taratze zerfleischt wurden. Erst die Verstärkung, die Radek unter dem Aufgang postiert hatte, brachte die Verteidiger in Bedrängnis. Einer der angeheuerten Söldner suchte allerdings lieber das Weite, statt zu kämpfen, und die beiden im rückwärtigen Gang ließen sich erst gar nicht blicken. Sobald neue Wachen hinzu stießen, würde die Situation zu Gunsten der Verteidiger kippen. Radek besaß genügend Kampferfahrung, um die Lage realistisch einzuschätzen. Über ihm trampelte bereits Verstärkung heran.
"Wir ziehen uns zurück!", rief er seinen Ordensbrüdern im Idiom der Ruländer zu, der sich stark von dem Akzent unterschied, der auf dieser Insel gesprochen wurde. Wenn sie sich rasch zu dritt absetzten, hielten ihnen die zurückbleibenden Söldner, wenn auch unfreiwillig, den Rücken frei. Radek zog ein Wurfmesser aus dem Brustgurt und schleuderte es dem untersetzten Burschen in den Hals, der mit Vukov die Klingen kreuzte. Danach überwand er die unter ihm liegenden Stufen mit drei großen Sprüngen, ohne auf einer der sich ausbreitenden Blutlachen auszurutschen, und stieß seine Klinge Rraals Gegner unter die Achselhöhle. Schon einen Atemzug später flohen die Ordensbrüder ins Freie. Drei wehende Kapuzenumhänge, die mit dem Dunkel der Nacht verschmolzen. Herbei geeilte Patrouillen versuchten zwar noch, sie im Schein der Fackeln aufzuspüren, doch sie blieben unauffindbar. Die Nacht war nun einmal die Domäne der Nosfera. Niemand wusste das besser als die Gefährten von Navok, dem Befreier. * Dem massiven Ansturm der Verteidiger hatten die Söldner auf Dauer nichts entgegenzusetzen. Mann für Mann wurden sie niedergemacht, bis nur noch ein Hüne mit rostrotem, struppigen Haar schwerfällig mit dem Schwert um sich schlug. Er verstand es geschickt, seine überlegene Reichweite zu nutzen, doch mit dem Blut, das aus zahlreichen Wunden floss, verließen ihn auch die Kraft und das Leben. Die Augen bereits zu schmalen Schlitzen verengt, taumelte er zurück, in Richtung Wand, um sich den Rücken frei zu halten, doch auch das verschaffte ihm nicht mehr als eine kurze Verschnaufpause. Unbarmherzig rückte die kahl geschorene Streitmacht näher, bis er in ein stachliges Band aus scharfem Stahl starrte, das nur
darauf wartete, sich in seinen Körper zu bohren. Unter den Männern und Frauen, die ihn umschlossen, befand sich auch die Taratze, die allein ein halbes Dutzend seiner Kameraden getötet hatte. Sie stand Schulter an Schulter mit den Menschen, als ob sie eine der ihren wäre. Blut rann von ihren Fängen, während sie zischte: "Tötetsss ihn! Er issst ein Feind desss Herren!" Sofort zuckten einige der Klingen vor. Dem Söldner gelang es, sie mit einem schnellen Streich abzuwehren, doch sobald er nach links austeilte, entblößte er die rechte Flanke, und umgekehrt. Ehe er durchbohrt werden konnte, hallte jedoch einer neuer Befehl durch die Halle. "Lasst ihn am Leben! Nur so kann er gestehen, wer hinter diesem feigen Angriff steckt!" Die Menge hielt im Stoß inne, denn sie erkannte die Stimme, die von der Treppe aus zu ihnen sprach. Sie gehörte dem Mann, dem der Überfall gegolten hatte. Navok. Gemessenen Schrittes kam der Nosfera zu ihnen herab. Ob er schon geschlafen hatte, war nicht festzustellen. Er trug die gleiche Kleidung wie immer: geschnürtes Lederhemd, Lederhosen und feste Stiefel. Dazu einen Umhang aus braun gewirktem Wolltuch, mit einer Kapuze, die seine empfindsame Haut bei Tage vor den Strahlen der Sonne schützte. Nun, in der Nacht, hing sie im Nacken, sodass sein bleiches, ausgemergeltes Gesicht frei lag. Wie alle Nosfera, so bestand auch Navok fast nur aus Haut und Knochen. Seinen Wangen fehlte jedes fleischliche Polster. Bleiche, grobporige Haut umspannte seinen kantigen Schädel wie durchscheinendes Pergament, unter dem sich blaues Adergeflecht abzeichnete. Außer einigen spärlichen weißen Strähnen besaß er keinen Haarwuchs. Trotz des kränklichen Aussehens genoss Navok den vollen Respekt seiner Anhänger. Stolz blickten die Männer und
Frauen zu ihm auf. Mit den geschorenen Köpfen sahen sie ihm alle ein wenig ähnlich. Und das war so gewollt. Ohne auf ein Zeichen von ihm zu warten, wichen sie zurück und bildeten eine Gasse. Die Augen fest auf den Söldner gerichtet, schritt Navok an ihnen vorbei. Der Rotschopf machte erst den Anschein, als wollte er die Gelegenheit nutzen, um sich auf den Anführer der Ex-Sklaven zu stürzen, doch plötzlich deckte er seine Augen mit der freien Hand ab und ließ die Waffe fallen. Klirrend schlug sie zu Boden und blieb neben den schweren Stiefeln liegen. Dem Feuerkopf war offenbar schwindelig. Ohne Vorwarnung kippte er zurück. Eine Wand bremste den Sturz. Völlig entkräftet rutschte er am Marmor hinab. Wie tot lag er da, von eigenem Blut umgeben, beide Arme in unnatürlicher Stellung verrenkt. Nur der sich hebende und senkende Brustkorb bewies, dass weiterhin Leben in ihm war. Navok trat auf den Bewusstlosen zu und langte mit der Rechten an dessen Halsschlagader. Einige Atemzüge lang verharrte er in dieser Haltung, bevor er sich wieder aufrichtete und seine Anhänger ansah. Ein Hauch von Traurigkeit lag in seinen Augen, als er von einem zum anderen blickte. "Gab es Tote oder Verwundete auf unserer Seite?" "Ja", antwortete Sigur, einer seiner treuesten Mitstreiter. "Tik, Bala und Snuur, die draußen Wache standen, wurden mit gebrochenen Genick aufgefunden. Bei dem Gefecht hier drinnen gab es nur leichte Verletzungen. Graz hat uns rechtzeitig gewarnt. Seiner feinen Nase entgeht wirklich kein Eindringling." "Ssss warens noch drei anssdere dabei", meldete sich die Taratze zu Wort, ohne auf das Lob einzugehen. "Ssss warens Nosssfera, ich habsss genau gesssehen. Sssie trugens rote Wappens aufs ihren Mänteln." "Ich weiß, Graz." Navok zeigte sich völlig unbeeindruckt. Beinahe so, als würde das große Nagetier, das sie alle um eine
Haupteslänge überragte, nur etwas bestätigen, was er längst wusste. "Die Handschrift dieser Eindringlinge ist eindeutig. Das war eine Abordnung von Bluttemplern, die mich töten sollte." Rundum stieg ein Raunen auf, in dem sich Furcht, Empörung und Unverständnis der Menge zu einem misstönenden Kanon mischten. "Bluttempler?", fragte Sigur. "Du meinst den NosferaOrden, der es auf dich abgesehen hat?" Navok nickte nur. Mehr nicht. Die anderen schwiegen. Nur Graz zog die Schnauze kraus, als würde er Witterung aufnehmen. "Diessse miesssen Elussss!", schimpfte er aufgebracht. "Ich ssspüre sie sssofort auf und werdsss sssie..." "Das lässt du schön bleiben", unterbrach Navok in einem strengen Tonfall, wie ihn sonst nur ein Vater gegenüber seinem ungehörigen Kind anschlug. "Ihr habt es hier nicht mit normalen Nosfera zu tun, sondern mit trainierten Kämpfern, die euch im Dunkeln haushoch überlegen sind. Deshalb bleiben alle hier und verbarrikadieren sofort Fenster und Türen. Heute Nacht wurden schon genug Freunde aus unserer Mitte gerissen." Sofort eilten mehrere Männer und Frauen los, um Navoks Anweisungen auszuführen. Anderen befahl er, die Wunden des überlebenden Söldners zu verbinden. Jedem fiel plötzlich eine wichtige Aufgabe zu, die keinen Aufschub duldete. Nur Sigur und Graz wichen keinen Schritt von Navoks Seite. Sie blieben als Leibwache bei ihm, jederzeit bereit, den Anführer mit ihrem eigenen Leben zu schützen. "Aber wir werden doch wohl mit ein paar Attentätern fertig?", fragte Sigur nach einer Weile des Grübelns. "Immerhin sind sie nur zu dritt!" "Aber natürlich." Navoks Stimme zeigte nicht die geringste Spur von Nervosität. Nur der harte Glanz seiner Augen bewies
die innere Anspannung, als er aufmunternd fortfuhr: "Wir haben Rojaals und Sklavenhändler besiegt, da nehmen wir es auch mit Erzvaters Schergen auf." * Februar 2517, irgendwo nördlich von Plymeth Schon beim ersten Anzeichen von Abendröte sandte der May'jor Spähtrupps aus, um nach einem Lagerplatz zu suchen. Einige Soldaten begannen deshalb zu murren. Sie wären lieber mit den Gefangenen durchmarschiert, um die Nacht in einer warmen Unterkunft bei einem Becher heißen Brabeelenweins zu verbringen. Jene, die es besser wussten, klärten die Heißsporne darüber auf, dass diese Gegend bei Nacht nicht sicher war. Nicht mehr, seit sie von dem heimtückischen Navok heimgesucht wurde, den alle Welt den "Befreier" nannte. Geradezu dämonische Kräfte wurden diesem Nosfera nachgesagt, von dem es hieß, er könne mit der Nacht eins werden, aus dem Nichts heraus zuschlagen und wieder verschwinden. Viele dieser Geschichten waren sicher Legende, gesponnen an langen Abenden vor knisternden Lagerfeuern, doch so viel stand fest: Den feisten Emroc, den größten aller Sklavenhändler, hatte es selbst in einem streng bewachten Domizil erwischt. Im Schlaf hatte ihm Navok einfach die Kehle durchgeschnitten. Und das war nur der Auftakt zu einer langen Reihe von Mordanschlägen gewesen. Ob in den Städten oder auf einsamen Pfaden, ob mit Pfeilen, Wurfmessern oder gezielten Degenstößen, stets schlug Navok völlig überraschend zu - und immer in der Nacht. Spuren suchte man anschließend vergebens. Zweifellos ein Meister des Attentats, wurden seine tödlichen Fähigkeiten nur noch von dem verzehrenden Hass auf alle Sklavenhalter übertroffen.
Unter den Männern und Frauen, die mit menschlicher Ware handelten, herrschte seither Unruhe. Selbst der May'jor, sonst ein Vorbild an Mut und Tapferkeit, übte sich neuerdings in Vorsicht. Seine kantigen, stets ein wenig streng wirkenden Gesichtszüge glätteten sich erst, als ihm zurückkehrende Späher eine Ruine meldeten, die als Unterschlupf taugte. "Gut gemacht, Coop'ral Three", lobte er, denn der Horizont färbte sich bereits so rot, dass es so aussah, als versänke die rote Sonne in einem Meer aus Blut. "Sorgen Sie dafür, dass die Gefangenen schneller machen. Wir müssen ein Lager aufschlagen, noch ehe das Tageslicht schwindet." Sein Untergebener, der eine mit weißer Farbe gemalte 3 auf dem von Rost zerfressenen Stahlhelm trug, nickte beflissen, bevor er den Auftrag ausführte. Wie die anderen Rojaals trug er zerschlissene Armeekleidung, die aus alten Bunkern und Depots stammte. Als Waffe diente ein altes Thomson Sturmgewehr, das schon seit Jahrhunderten nicht mehr funktionierte. Nur das aufgepflanzte Bajonett der Schutzwaffe hatte nicht an Schärfe eingebüßt. Damit ließ sich jeder Gegner mühelos aufspießen, während sich der Kolben dazu eignete, einen Schädel zu zertrümmern. Auf diese Weise waren die wie Soldaten ausstaffierten Krieger, die sich mit Dienstgraden und Nummern statt mit Namen anredeten, so manchem Schwertkämpfer überlegen. Ihren zehn Mann starken Trupp hatte der neue Gen'rel ausgesandt, um einige Gefangene nach Plymeth zu bringen, die das letzte Sklavenspiel im Tal des Todes überlebt hatten. In der Hafenstadt würden sie einen guten Preis erzielen, besonders jetzt, da kein Händler mehr den Transport von Saamton nach Plymeth wagte. Dem May'jor war deutlich anzusehen, wie gerne er auf die Ehre dieser gefährlichen Mission verzichtet hätte. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Um sich Kühlung zu verschaffen, nahm er den Stahlhelm ab.
Zugleich winkte er die einzige Kreatur näher, die dem heimtückischen Nosfera ebenbürtig sein mochte. Die halbwüchsige Taratze schoss sofort auf allen Vieren herbei, als hätte sie nur auf seine Geste gewartet. Graz war ihr Name, und obwohl kaum älter als zwei Sommer, reichten ihre Ohren dem May'jor bereits bis ans Kinn. Ihr dichtes, drahtiges Fell glänzte wie eine pechschwarze Fläche, aus der Ohrmuscheln und Nüstern hell hervor stachen. "Coop'ral Ssssero meldet sssich sssur Ssstelle", erklärte Graz beflissen. Dabei richtete er sich auf und legte - in einer grotesken Imitation des vorschriftsmäßigen Grußes - die rechte Pfote an den schäbigen Helm, der schief zwischen seinen Ohren saß. Auf der Vorderseite des Rosthaufens prangte eine große runde Null. Eine kleine Gemeinheit der Kameraden, die noch nicht bis zu dem beschränkten Geist der Taratze vorgedrungen war. Der May'jor ignorierte derlei Späße. Sein Blick galt ausschließlich dem grünen Unterholz zu beiden Seiten des Weges, das so undurchdringlich wirkte wie eine Feldsteinmauer. "Kannst du etwas wittern?", fragte er die Taratze. "Irgendwas, das nicht in den Wald gehört?" Graz sog demonstrativ Luft durch seine Nüstern, um Einsatzwillen zu demonstrieren, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. "Ssssu viele Nackthäuter hier!", bedauerte er. "Ichss riechsse nur sssie." "Schon gut", wehrte der May'jor ab. "Solange es hell ist, haben wir ohnehin nichts zu befürchten. Aber später, wenn der Unterschlupf bezogen wird, bleibst du draußen. Sobald du einen Nosfera witterst, alarmierst du die anderen, verstanden?" "Ichss sssereiße ihn in der Luftsss", versprach Graz feierlich.
"Nein, das lässt du schön bleiben", entgegnete der May'jor streng. "Du alarmierst die übrigen Wachen und führst uns auf seine Spur! Verstanden?" Graz zog den Kopf zwischen die Schultern und sah den Vorgesetzten aus großen runden Augen an wie ein hilfloses Gerulbaby. "Verssstanden", versicherte er kleinlaut. "So ist es gut", lobte der May'jor, der sich keinen folgsameren Soldaten wünschen konnte. "Und bis dahin hilfst du bei der Bewachung der Sklaven. Ab mit dir." Ein erfreutes Fiepen ausstoßend, wirbelte die junge Taratze auf den Hinterläufen herum und jagte dem davon ziehenden Tross nach. Acht aneinander gefesselte Sklaven marschierten dort einem Ungewissen Schicksal entgegen. Unter ihnen auch zwei Taratzen, die Graz mit wütendem Fauchen empfingen und nach ihm schnappten, als er ihre Fesseln überprüfen wollten. Zwei Coop'rals brachten sie mit Flammenpeitschen zur Räson. Die ledernen Riemen, die in ihr Fell drangen, hinterließen Wunden, die wie Feuer brannten. Graz streckte den gequälten Artgenossen die Zunge heraus. Was sie ihm zischend antworteten, verstand er nicht. Die Sprache der Taratzen hatte er nie erlernt. Er war unter Menschen aufgewachsen, die seine Mutter kurz nach seiner Geburt auf dem Sklavenmarkt verkauft hatten. Zuerst war er der Spielgefährte einer halbwüchsigen Barbarin gewesen, bis er ihren Eltern zu groß wurde und sie ihn an die Rojaals verkauften. Nie an ein Leben im Rudel gewöhnt, verachtete Graz die eigenen Artgenossen, ohne zu begreifen, dass ihn die Menschen, die er für seine Kameraden hielt, nur verlachten. Kopfschüttelnd sah der May'jor der grotesken Gestalt nach. Eines nicht mehr fernen Tages, wenn Graz allen über den Kopf wuchs, würde man ihn in Ketten legen müssen wie die anderen erwachsenen Taratzen. Bis dahin würde sein Spürsinn den Rojaals aber noch manchen guten Dienst erweisen.
Zufrieden stieg der May'jor in seinen Streitwagen, einen alten Jeep der Royal Army, dessen Anstrich längst einem rostroten Belag gewichen war. Auch nach fünfhundert Jahren in einem alten Hangar drehten sich die Räder weiter in ihren Lagern. Aus der porösen Plastiflex-Bereifung waren zwar einige Stücke herausgebrochen, aber damit ließ sich immer noch hervorragend fahren. Zwei angespannte Wakudas warteten geduldig, bis er saß. Dann trabten sie von alleine los, ohne dass der Fahrer die Peitsche schwingen musste. Holpernd ging es einen ausgetretenen Pfad entlang, der in leichten Schwüngen durch den Wald führte. Nach kaum drei Speerlängen sah der May'jor noch einmal unbehaglich über die Schulter. Mehr als einige Vögel mit dornigem Gefieder, die über einen dicht belaubten Baum aufstiegen, konnte er jedoch nicht entdecken. Seufzend blickte er wieder nach vorne. Das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, blieb jedoch bestehen. * Begleitet von einem heftigen Schauer bezog der Trupp Quartier in einem alten, von Moos und Schlingpflanzen überwucherten Stellwerk. Das obere Stockwerk war schon vor Dekaden eingestürzt. Durch die feuchte Zwischendecke rann an vielen Stellen Wasser herab, trotzdem boten die Mauern ein wenig Schutz vor Regen und Kälte. Und vor dem Nosfera, den sie alle fürchteten. Graz war der Einzige, der draußen bleiben musste. Während drinnen wärmende Feuer prasselten, an denen sich alle, selbst die Sklaven aufwärmen durften, blickte er traurig durch ein glasloses Fenster, bis er von einem Coop'ral mit energischen Gesten verscheucht wurde. Zu gerne hätte sich Graz unter die Menschen gemischt, doch er wusste, dass er bei ihnen nicht gut
gelitten war. Auch wenn er viele der Scherze, die mit ihm getrieben wurden, schon nach kurzer Zeit wieder vergaß, spürte er doch sehr deutlich die Ablehnung, die ihm entgegen schlug. Statt beleidigt das Weite zu suchen, versuchte er jedoch stets aufs Neue, sich den Respekt der Rojaals zu verdienen. Sie vor dem bösen Nosfera zu schützten, schien Graz eine gute Gelegenheit zu sein. Unermüdlich zog er seine Kreise um das Gebäude, blieb immer wieder stehen und versuchte Witterung aufzunehmen. Der kühle Regen beeinträchtigte jedoch seinen Geruchssinn, deshalb rollte er sich schließlich unter einem Baum zusammen, dessen tief hängende, dicht belaubte Äste vor der Nässe schützten. Das Prasseln der Tropfen auf dem Blätterdach besaß einen einlullenden Rhythmus. Als ihm bald darauf die Augen zufielen, blieben die Ohren gespitzt. So nahm er unterbewusst wahr, wie der Regen versiegte, und hörte auch das Knacken am Boden liegender Zweige. Gerade einmal einen halben Speerwurf von seinem Schlafplatz entfernt. Sofort hellwach, setzte sich Graz auf und richtete die rosafarbenen Ohrmuscheln aus, um den Ursprung der Geräusche auszumachen. Da! Schon wieder! Erst ein Knacken, dann das Rascheln von welkem Laub. Da schlich jemand näher. Ob Mensch oder Tier, ließ sich nicht feststellen, obwohl Graz die Luft tief in seine Nüstern sog. Ärgerlich registrierte er die leichte Briese von hinten. Wer immer dort lauerte, stand gegen den Wind. Vielleicht zufällig, vielleicht aber auch aus Vorsatz. Zwei Herzschläge lang überlegte Graz, ob er die Rojaals alarmieren sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Wenn da nur ein paar hungrige Gerule oder Kamauler im Wald umher strichen, würde ihn das zum Gespött der Kameraden machen. Und er wollte doch, dass der May'jor und die anderen stolz auf ihn waren. Nein, zuerst musste er sicher sein, dass es
sich wirklich um den bösen Nosfera handelte, den alle fürchteten. Außerdem - wenn er Navok ganz alleine zerfetzte, würden ihn alle noch um so mehr mögen. Graz spürte, wie heiße Ströme durch seinen Körper pulsierten und ihm Speichel von den Lefzen troff. Sein Kampfgeist erwachte. Ja, er lechzte geradezu danach, die Fänge in das dürre, zähe Fleisch eines Nosfera zu schlagen. Ohne ein Rascheln robbte er unter dem tief hängenden Ast hervor. Dabei strich er so dicht unter den Blättern entlang, dass ihm das darauf gesammelte Wasser in den Nacken lief. Es perlte von seinem fettig glänzenden Fell ab, ohne die Haut zu erreichen. Nach dem Regen roch die Luft klar und würzig, nach Baumharz, Nadeln und feuchtem Laub. Zwischen seinem jetzigen Standort und den Geräuschen klaffte eine Schneise, so breit wie ein Gleisbett. Schotter, Schienen und Betonbohlen versanken zwar längst in grünem Kraut, behinderten aber immer noch jede höhere Vegetation. Graz kannte natürlich nicht die Bedeutung des Wortes Gleisbett, trotzdem verfluchte er das dort liegende Gerümpel, das ihm jede natürliche Deckung raubte. Zum Glück war der Himmel noch bedeckt. Mond und Sterne verbargen sich hinter einer dichten Wolkendecke. Nur der flackernde Schein aus den Fenstern des Stellwerks sorgte für ein paar helle Flecken in der Nacht. Die allgemeine Dunkelheit ausnutzend, überbrückte Graz die Schneise mit zwei schnellen Sätzen. Das Gras bog sich lautlos unter seinen Tatzen. An der gegenüberliegenden Seite stoppte er ab und lauschte erneut ins Unterholz. Unter den Sklaven, die er bewachte, gab es immer wieder gefangene Nosfera. Deshalb wusste er, dass die Nachtsicht dieses Volkes der seinen überlegen war. Taratzen sahen eher auf kurze Distanz und behalfen sich zusätzlich mit dem Tastsinn ihrer weit überstehenden Schnauzhaare. Und natürlich
mit ihrem feinen Gehör, das so gut ausgebildet war wie bei keiner anderen Spezies. Eine Zeitlang verharrte Graz in absoluter Stille, bis er schon glaubte, sich getäuscht zu haben. Dann erklang erneut ein Rascheln, so kurz, als ob ein Stein über die Laubdecke des Waldbodens hüpfen würde. Der halbwüchsigen Taratze fehlte noch die Erfahrung, um zu ahnen, wie richtig sie mit dieser Einschätzung lag. Beide Vorderpfoten kampfbereit erhoben, schlich sie einen knorrigen Stamm entlang. Statt in die vor ihr liegende Dunkelheit zu starren, hätte sie lieber einen Blick in die Höhe werfen sollen. So kam sie nur drei Schritte weit. Dann fühlte sie einen Luftzug über dem Kopf, gefolgt von einem Kratzen auf den Schultern. Etwas Längliches, Stachliges fiel auf sie herab. Ehe Graz die unangenehme Belastung abstreifen konnte, zog sie sich auch schon zusammen und biss schmerzhaft in seinen Hals. Die Luft wurde ihm abgeschnürt, gleichzeitig fühlte er sich empor gerissen. Der eiserne Helm, der ihn zu einem Rojaal machte, rutsche ihm vom Schädel. Beide Hinterläufe verloren den Bodenkontakt, und der dünne Strang, an dem er plötzlich zappelte, schnitt tief ein. Panik keimte in ihm auf. So übermächtig und ausfüllend wie zuvor der Kampfgeist, der schlagartig verschwunden war. Von einer urwüchsigen Furcht beherrscht, suchte er strampelnd nach der Ursache seiner misslichen Lage, doch als er endlich die Dornenranke über seinem Schädel ertastete, wurde seine Vorderpfote schon gepackt und mit hartem Griff auf den Rücken gedreht. "Zieh die Krallen ein, Kleiner", drang es leise an sein Ohr, "oder ich lass dich baumeln, bis du erstickst." Irgendetwas in der schroffen Stimme ließ Graz sofort erkennen, dass er nachgeben musste, wenn er überleben wollte. Und er wollte überleben! Das spürte er in diesem Augenblick ganz genau.
Sobald seine Arme erschlafften, ließ ihn der Unbekannte ein Stück herab. Allerdings nur so weit, dass er sich mit seinen Pfotenspitzen auf dem Boden abstützen konnte. Während er verzweifelt um Atem rang, wurden ihm die Vorderläufe auf den Rücken gebunden. Spitze Dornen drangen tief in sein Fleisch. Nicht nur an seinen Armen, sondern auch an den Hinterläufen, die mitsamt dem haarlosen Schweif mehrfach umwickelt wurden. Erst vollständig verschnürt wie ein Fellbündel, bekam Graz seinen Gegner zu sehen. Oder vielmehr den Umhang, unter dem sich der Kerl verbarg. Es handelte sich um Kapuze und Cape, die typische Bekleidungsstücke eines Nosfera. "Navoksss", stieß die Taratze hervor, obwohl das die Dornen noch tiefer in ihren Hals trieb. "Ganz Recht", drang es unter der Kapuze hervor. "Ich sehe, mein Ruf eilt mir voraus." Wütend zerrte Graz an den Fesseln. Nur zu gerne hätte er den gefürchteten Gegner gepackt und zerrissen, um die Anerkennung der Rojaals zu erringen. Seine ungestümen Bewegungen führten jedoch nur zu einer akuten Atemnot. Grelle Sterne explodierten vor seinen Augen. Rasselnd sog er Luft ein. Es reichte kaum aus, sein Bewusstsein zu erhalten. "Versuch nicht, dich zu befreien", warnte der Nosfera. "Du strangulierst dich nur selbst. Bleib einfach regungslos stehen, bis ich zurückkehre." Die letzte Silbe war ihm kaum über die Lippen gedrungen, als Navok schon aus seinem Sichtkreis verschwand. Was danach geschah, konnte Graz nur noch mit den Ohren verfolgen. Dank seines feinen Gehörs vernahm er ganz deutlich, wie Navok zu der Ruine hinüber lief und durch eines der Fenster ins Innere drang. Kurz darauf gellten entsetzte Schreie durch die Nacht, wie sie nur Menschen ausstießen, die sich in höchster Not befanden. Graz erkannte die Stimmen von Coop'ral Three und
Five, die fließend in ein Wimmern übergingen. Der May'jor schrie sogar nach seiner Mutter, bevor er für immer schwieg. Der Tod der anderen Rojaals ging in den Begeisterungsstürmen der Sklaven unter, die sich an den Kämpfen beteiligen. Zuerst wurde ihr Triumphgeheul noch von den Mauern gedämpft, doch schon kurz darauf verfolgten sie einige Coop'rals ins Freie, um sie auf der Flucht niederzumachen. Graz versuchte in der ganzen Zeit, seine Pfoten so zu drehen, dass er die Ranke mit einer seiner scharfen Krallen durchtrennen konnte. Doch Navok hatte ihn so gut gefesselt, das er einfach nicht an sie heran kam, ohne sich dabei selbst die Luft abzuschnüren. Eine knisternde Fackel, die seine Umgebung erhellte, machte die Bemühungen endgültig zunichte. "Da is ja das stinkende Vieh!", brüllte Krol, ein untersetzter Barbar mit kurzen, aber stämmigen Beinen, in dessen leicht vorquellenden Augen stets ein grausamer Zug lag. Wer das Sklavenspiel überlebte, war in der Regel nicht zart besaitet, deshalb stellte sich Graz auf das Schlimmste ein, als Krol näher trat. Die roten Flammen, die an dem mit Pech bestrichenen Holz empor leckten, warfen dämonische Schatten auf das ohnehin von Hass verzerrte Gesicht des befreiten Sklaven. Die Lust an der Qual anderer stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er die Fackel Graz entgegen streckte. Wie jedes andere Tier, so fürchteten auch Taratzen das Feuer. Die Instinkte forderten von Graz, zurückzuweichen, doch das war nicht möglich, ohne sich selbst zu strangulieren. Stechender Schmerz fuhr durch seinen Schädel, als seine Schnauzhaare angesengt wurden. "Na, wie gefällt dir das, du Mistvieh?", fragte Krol gehässig. "Hoffentlich gut. Denn ich brenne dir jetzt jedes Haar einzeln vom Leib!"
Um seine Drohung wahr zu machen, hielt er die Fackel ein Stück tiefer, bis sich das schwarze Fell unter der Hitze zu kräuseln begann. Ein widerlicher Gestank stieg Graz in die Nüstern und folterte seine feinen Sinne. Der Wunsch, sich wie ein Fisch zu winden, wurde übermächtig, aber noch war der Druck an seinem Hals schmerzhafter als die Hitze, die seinem Brustkorb zusetzte. Und dann, kurz bevor das Fell in Brand geraten konnte, gab es eine kurze, schattenhafte Bewegung, die Krol im Gesicht traf und zurücktaumeln ließ. "Verdammt, was soll das?", fluchte der Barbar, dem plötzlich Blut aus der Nase rann. Einen Herzschlag lang sah es tatsächlich so aus, als wollte er den Nosfera angreifen, der zu ihnen getreten war, doch als Navok die Kapuze vom Kopf streifte und ihn mit stechendem Blick fixierte, schienen die Bewegungen des Unholds zu Eis zu gefrieren. "Lass die Taratze in Ruhe", forderte Navok in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. "Sie ist genauso ein Opfer der Sklavenhändler wie du." In seiner Rechten ruhte ein blutbefleckter Degen, dessen Spitze auf Krols Hals deutete. Auf dem Gesicht des Barbaren wechselten sich mehrfach Wut und Unverständnis ab, bis sich mit Blick auf die Klinge noch die Furcht dazu gesellte, die am Ende über alle anderen Gefühle siegte. "Von mir aus", brummte Krol und trat einen Schritt zurück, um seine Kapitulation anzuzeigen. Navok ließ ihn trotzdem nicht aus den Augen. Ein kluger Mann. "Verschwinde", beschied er dem Unhold, "bevor ich es bereue, dich befreit zu haben. Und achte darauf, dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen." Die Finger des Barbaren verkrampften sich um die Fackel, bis seine Knöchel weiß hervor traten. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er gerne etwas Unflätiges geantwortet hätte, doch schließlich zog er es vor, schweigend davon zu eilen.
Navok sah ihm eine Weile nach, bis er sicher sein konnte, dass von ihm keine Gefahr mehr drohte, dann wandte er sich an Graz, den Degen weiter in der Hand. "Versprichst du mir, so wie die anderen friedlich abzuziehen, wenn ich dich los schneide?" "Sssss", antwortete Graz. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage. "Ich werte das als ein Ja." Lässig setzte Navok die beidseitig geschliffene Degenklinge an den herabführenden Dornenstrang und kappte ihn mit einem kurzen Schnitt. Graz fiel in sich zusammen, denn das lange Stehen in der unbequemen Position hatte seine Muskeln steif gemacht. Während er sich keuchend im feuchten Laub wälzte, spürte er, wie die Degenspitze an den weiteren Fesseln zupfte, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu ritzen. Gleich darauf konnte er wieder frei atmen. Gierig sog er frische Luft in seine brennenden Lungen und rieb die Läufe gegen seinen Körper, um das Kribbeln zu verscheuchen. Sobald er sich auf den Pfoten halten konnte, stand er auf und trottete auf die Schneise hinaus, auf der Navok stand und seinen Degen mit einem Lappen reinigte. Die Wolkendecke war inzwischen aufgebrochen und der Mond, der die Lichtung in silbernen Schein tauchte, spendete genügend Licht, damit sich Nosfera und Taratze aus sicherer Entfernung betrachten konnten. Drüben bei der Ruine raubte Krol noch schnell die toten Rojaals aus, bevor er, wie die anderen Sklaven, Richtung Plymeth verschwand. "Was willst du?", fragte Navok, nachdem der Lappen wieder unter seiner Kutte verschwunden war. "Deine alten Herren rächen? Für die warst du nur ein Sklave, auch wenn du frei umher laufen durftest."
Graz schüttelte ärgerlich den Kopf. "Sssie warens meinssse Freunde", behauptete er, obwohl er es besser wusste. "Nun habss ich niemandsssen mehr." "Geh zurück zu deinem Volk. Da gehörst du hin." Graz schüttelte erneut den Kopf. Diesmal traurig. "Die Taratsssen wollensss mich nichsss." Navok steckte den Degen zurück in die lederne Scheide, offensichtlich überzeugt, dass keine Gefahr mehr drohte. "Du wirst schon irgendwie durchkommen", versicherte er schulterzuckend, bevor er sich umdrehte und davon ging. Graz trottete ihm hinterher. Er wusste selbst nicht warum. Wahrscheinlich weil er nicht wusste, welche Richtung er sonst einschlagen sollte. Nach zwei Dutzend Schritten drehte sich Navok um und sah ihn aus tief liegenden Augen an. "Was ist? Was willst du noch?" Graz blieb stehen, um nicht in die Reichweite des Degens zu gelangen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und fuhr mit der langen dünnen Zunge über sein behaartes Maul. Obwohl er angestrengt nachdachte, konnte er die Frage des Nosfera nicht recht beantworten. Er wusste nur, dass... "Du hassst mich vor dem bössssen Krol bessschützt", antwortete er schließlich. "Und du hassst mich freigelassssen." "Ja, und?" Graz dachte nach. "Und ichsss weissss nich wohin." "Aha." Der Nosfera wirkte über diese Eröffnung nicht sonderlich erfreut, rang sich aber doch so etwas wie ein Lächeln ab. "Während des Sklavenspiels habe ich Seite an Seite mit drei Taratzen gefochten. Zuerst waren sie nur Kampfgefährten, aber schließlich auch so etwas wie Freunde." "Wirklichssss?" Graz war beeindruckt. Richtige Freunde? Nicht nur Kameraden, die einen ständig zum Narren hielten? "Wenn du bei mir bleibst, musst auch du gegen die Sklaventreiber kämpfen", forderte Navok von ihm.
Graz erschien das nur gerecht. Natürlich, bei den Rojaals hatte er ja auch helfen müssen, die Sklaven zu bewachen. "Gutsss, dass mach ichsss gern", versicherte er, froh wieder Anschluss zu haben. Und während er den hageren Nosfera so im Mondlicht betrachtete, kam ihm ein Gedanke, der ihm Zuversicht gab. "Ssssag", fragte er, plötzlich ganz aufgeregt, "wenn ichss die Menssschen sssusammen mit dir befreisse, werdens sssie mich dann vielleichtsss auch mögen?" "Ja, aber natürlich", versprach ihm Navok. Und sollte damit Recht behalten. * Gegenwart Cornwall, Raum Plymouth "Noch ungefähr eine Stunde Flugzeit bis zu den Ausläufern der Ruinenstadt." Selina McDuncan, der Captain der Explorer sah von einigen Instrumenten auf, die Aruula ewig ein Rätsel bleiben würden. Auf einem Band, das unterhalb der einseitig durchschaubaren Kuppel über ihren Köpfen verlief, bewegten sich geheimnisvolle Lichtlinien, die das umliegenden Gelände nachbildeten. Viel weiter als selbst das scharfe Auge der Barbarin reichte. "Es dauert also nicht mehr lange?", versicherte sie sich, obwohl sie wusste, dass eine Stunde eine überschaubarer Zeitspanne war. "Ja", antwortete Selina in beinahe entschuldigendem Tonfall. "Das wollte ich damit sagen. Wir sind bald da." Aruula nickte dankend, bevor sie das Cockpit verließ und sich nebenan wieder zu Maddrax gesellte, der gedankenverloren in einem wuchtigen Drehsessel saß. Seufzend ließ sie sich neben ihm auf einem freien Platz nieder. Sie hatten den Kuppelraum für sich allein. Das gefiel ihr.
"Noch eine Stunde bis Plymeth", wiederholte sie die Neuigkeit. Er sah zu ihr auf. Zuerst desinteressiert, mit stumpfen Augen, die jedoch an Glanz gewannen, als ob er etwas in ihrem Gesicht entdeckt hätte, was ihm zuvor entgangen war. Er langte zu ihr hinüber und strich sanft über ihren Arm. Sie genoss die Berührung. Nicht nur wegen des wohligen Schauers, der sie durchlief, sondern auch wegen dem, was hinter dieser Geste stand: Dass ihr Maddrax ansah, wenn sie sich niedergeschlagen fühlte, und sogleich Trost spenden wollte. Es waren Moment wie diese, in denen sie spürte, wie sehr er sie liebte. Auf eine unverbrüchliche Weise, die keiner von ihnen in Worte fassen musste. Aruula hütete Momente wie diesen wie einen kostbaren Schatz, der sie über die hektischen Zeiten hinweg tröstete. Zeiten wie in der Community London, wo so viel Fremdes und Neues ihren Gefährten mit Beschlag belegt hatte, dass sie sich oft an den Rand gedrängt fühlte. "Was ist mit dir?", riss Maddrax sie aus ihren Gedanken. "Ich weiß nicht recht", gestand Aruula ein, versuchte dann aber in sich hinein zu horchen und ihre Gefühle zu bestimmen. "Je näher wir dem Ziel kommen, desto unruhiger werde ich." Beinahe hilflos sah sie ihn an. "Ich weiß, es war meine Idee, einen Umweg über Plymeth zu machen. Aber jetzt..." Sie stockte, obwohl das ungute Gefühl, das an ihr nagte, beinahe bildlich vor ihr stand. Doch je stärker sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, desto rascher entglitten sie ihr wieder. Stets nur eine Nasenspitze entfernt, blieben sie außerhalb der Reichweite ihrer Gedanken, undeutlich wie hinter einer Wand aus fließendem Wasser. "Ich weiß, was du meinst", überraschte sie Maddrax mit seinem Geständnis. "Mir geht es genauso." Ihr blonder Gefährte mit den fein geschnittenen Zügen zog sie zu sich auf den Sessel und strich sanft über ihr langes schwarzes Haar. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter. Am
liebsten hätte sie die Tränen zugelassen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. Nur die Möglichkeit, dass jeden Moment eines der Besatzungsmitglieder eintreten konnte, hielt sie davon ab. Nein, so viel Schwäche in Gegenwart eines Fremden zu zeigen widerstrebte ihr. Dabei hätte sie sich nackt gefühlt. Viel nackter, als wenn sie ohne einen Faden am Leib durch das stählerne Gefährt gewandert wäre. So blieb ihr nichts weiter übrig, als den Moment festzuhalten und darauf zu hoffen, dass Maddrax aussprach, was für sie selbst verschwommen und nebulös blieb. "Es ist gerade mal drei Jahre her, dass wir in Plymouth voneinander getrennt und verkauft wurden", erklärte er. "Das Leben als Sklave ist eine demütigende Erfahrung. So etwas vergisst man sein Leben lang nicht." Aruula nickte eifrig. Ja, Maddrax hatte Recht. Was ihr zu schaffen machte, war die damals empfundene Hilflosigkeit. Aruula hatte geglaubt, sie überwunden zu haben, doch in Wirklichkeit war die Erinnerung daran nur in einer geheimen Kammer ihrer Seele verborgen gewesen. Je näher sie nun dem Ort ihrer persönlichen Schrecken kam, desto stärker drangen die alten Gefühle an die Oberfläche und lähmten sie. Maddrax schien ihre Gedanken zu erraten. "Was damals war, wird nie wieder geschehen", versicherte er leise. "Diesmal kommen wir mit einem EWAT und sind bewaffnet." "Ich weiß", sagte sie und spürte, wie das Zittern aus ihren Gliedern wich. Ganz so, als hätte sie es nur laut aussprechen müssen. Es war wie eine Magie, die sie rein instinktiv gebrauchte. Ähnlich den Geräten der Bunkermenschen, die sie bedienen konnte, ohne die dahinter stehende Technik zu begreifen. "Ich weiß", bekräftigte sie erneut, diesmal im Tonfall einer Kriegerin. "Ich will aber auch, das andere nicht das Gleiche durchleiden müssen. Und ich möchte sehen, ob Navok
vielleicht der geheimnisvolle Befreier ist, von dem die Sklavenhändler sprachen." Maddrax sah sie zweifelnd an. "Navok hat sich damals geopfert, um die Rojaals in den Tod zu führen", sagte er. Aruula schüttelte heftig den Kopf. "Aber nein! Er hat mich aus der Gefangenschaft befreit", erinnerte sie ihn. "Kurz bevor ich mit Rulfan aufgebrochen bin, um nach dir zu suchen." Matt runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, dass Aruula ihm diesen Hergang je erzählt hatte. Vermutlich hatte er es schlicht vergessen. Die Umstände ihres Wiedersehens in Washington waren mehr als turbulent gewesen. "Er hat mir erzählt, dass der Gen'rel seine Frau und sein Kind töten ließ", berichtete Aruula weiter. "Er ist bestimmt hier geblieben, um gegen die Rojaals zu kämpfen. Da bin ich mir sicher." Maddrax lächelte angesichts ihrer neu entflammten Zuversicht. "In diesem Fall werden wir Navok sicher bald wiedersehen." "Das hoffe ich sehr", bekräftigte sie. "Wenn ein Nosfera es verdient hat zu leben, dann er." Zwischen ihren Augenbrauen entstanden zwei schräg aufeinander zulaufende Falten, als ein ungewöhnlicher Gedanke durch ihren Kopf blitzte. "Ob er wohl überrascht ist, wenn er von den Bluttempler hört? Und dass du ihr Sohn der Finsternis bist?" Die weichen Gesichtszüge ihres Gefährten verhärteten sich, wie immer, wenn sein prophetengleicher Status bei dem Nosfera-Orden zur Sprache kam. Jede Form der Verehrung war Maddrax unangenehm. Schon damals, als ihr Stamm auf ihn gestoßen war und ihn für Sigwaan, einen Abgesandten aus Wudans Götterheer gehalten hatte. "Wenn ich mich recht entsinne, stammt Navok ebenfalls aus Ruland", erklärte Maddrax nach einem Augenblick des Zögerns. "Aber wahrscheinlich ist er seinen Lebtag nicht in
Moska gewesen und hat noch nie zuvor von den Bluttemplern gehört." In diesem Punkt irrte er gewaltig. Aber das konnte zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen wissen. * Als Navok von dem Toten aufsah, glänzten seine Augen so hart wie zwei polierte Steine. Thorp war einer der ersten Sklaven gewesen, die sich dem bewaffneten Kampf angeschlossen hatten. Knapp eine Halbmondphase nach Graz war er zu ihnen gestoßen und seitdem mit allen durch Dick und Dünn gegangen. Nun lag er mit durchschnittener Kehle auf dem stumpfen Boden des Foyers, die Augen in namenlosem Entsetzen aufgerissen. Was auch immer er als Letztes gesehen hatte, das Bild seiner Mörder hatte sich leider nicht in die Pupillen eingebrannt. Navok wusste aber auch so, wer hinter der blutigen Tat steckte. Der sauber ausgeführte Schnitt, der einen Blick zwischen die aufklaffenden Hautlappen gestattete, sprach genauso Bände wie die geringen Blutspuren auf Gesicht und Kleidung. Wer immer den untersetzten aber kräftigen Mann ermordet hatte, hatte das hervorsprudelnde Blut getrunken, um seinen Durst zu stillen. Dies war das Werk von Nosfera, die mit der Klinge umzugehen wussten. Ehemalige Ordensbrüder, die Navok und seinen Getreuen nun auf die gleiche Weise zusetzten wie sie den Rojaals und Sklavenhändlern zugesetzt hatten. Kein Wunder, schließlich hatten die drei Attentäter ihr Handwerk bei den gleichen Großmeistern gelernt wie Navok. Eine unbehagliche Stille lastete in der gefüllten Vorhalle. Selbst auf den Treppenstufen drängten sich Männer und Frauen, um einen Blick auf den toten Kameraden zu werfen.
Auf ihren Gesichtern zeichnete sich nicht nur Trauer ab, sondern auch Furcht, und der unübersehbare Wunsch, dass endlich alles vorbei sein möge. Nicht etwa, weil sie den Tod fürchteten. Bestimmt nicht. Jeder einzelne der ehemaligen Sklaven war ein unerschrockener Kämpfer, der schon dutzendfach mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Früher waren sie jedoch selbst die Schatten gewesen, die aus dem Verborgenen heraus zuschlugen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Nun gehörten sie zu den Gejagten, die aus dem Hinterhalt attackiert wurden. Es nützte nicht einmal, dass sie die Festung nur noch im Schutz der Gruppe verließen. Ein Pfeil oder Wurfmesser aus großer Entfernung fand trotzdem sein Ziel. Manchmal verschwand auch einfach einer aus ihrer Mitte, am helllichten Tage, ohne dass man auch nur einen Schemen des Feindes sehen konnte. Auf diese Weise hatte es auch Thorp getroffen, der zwei Straßen weiter blutleer aufgefunden worden war. Eine Reihe von seltsam geformten Schriftzeichen, die nur Navok lesen konnte, zierte seine Stirn. Du bist ebenso des Todes, stand dort, mit einem spitzen Messer in die Haut geritzt. Navok übersetzte die Botschaft nicht, trotzdem ahnte jeder, was sie bedeuten mochte. Vielleicht nicht in den exakten Worten, doch der Sinn lautete natürlich: Wir töten alle deine Anhänger, bis wir deiner habhaft werden. Was für ein unbarmherziger Plan. Typisch für die Vorgehensweise der Bluttempler, wie Navok sie kannte. "Es muss etwas geschehen", fasste Sigur die Stimmung der versammelten Menge als Erster in Worte. "Wir können doch nicht tatenlos mit ansehen, wie einer nach dem anderen niedergemacht wird. Niemand fürchtet sich davor, diesen Meuchlern im offenen Kampf entgegen zu treten. Darauf zu warten, wen es als nächsten erwischt, wird uns zermürben. Wir müssen endlich handeln. Sie aufspüren und..."
Seufzend brach er ab, als er die Nutzlosigkeit seiner Rede erkannte. Natürlich mussten sie den Kampf suchen. Aber wo? Niemand von ihnen wusste, wie sie die Bluttempler aufspüren sollten, nicht einmal der, auf dem all ihre Hoffnungen ruhten. Navok. Der Mann, den sie trotz seiner Andersartigkeit respektierten, weil er stets einen Ausweg aus jeder Lage gewusst hatte. Und der nun selbst völlig hilflos schien. Die Blicke seiner Gefolgschaft saugten sich derart an ihm fest, dass der Nosfera sie wie brennende Eisen auf der Haut spürte. Was sollte er nur sagen? Dass er keine Witterung aufnehmen konnte, weil die fremden Krieger ihre Aura zu kaschieren wussten? Dass die Bluttempler von seinem eigenen Schlage waren, ihm absolut ebenbürtig, genau genommen sogar überlegen, weil ihn die Größe seiner Gefolgschaft verletzbar machte? "Zur Zeit sehe ich keine Möglichkeit die Drei aufzuspüren", gestand Navok, weil Lügen keinen Sinn hatte. "Vielleicht in ein paar Tagen, wenn -" "In ein paar Tagen?!", rief Sinar, die ihren Gefährten vor zwei Nächten verloren hatte, empört dazwischen. "Vielleicht sind wir dann schon alle tot, oder zu schwach, um uns zu noch zu wehren!" Eine Freundin flüsterte hektisch auf sie ein, um sie zum Schweigen zu bringen. Navok reagierte mit einer unwilligen Geste. Jeder sollte aussprechen dürfen, was er dachte. Als Bluttempler hatte er viel zu lange einer hierarchischen Ordnung gehorcht. Er wollte nicht auf die gleiche Weise herrschen wie Erzvater, dessen Führungsstil ihm genauso zuwider war wie die Allmacht der Rojaals, die sie gemeinsam gebrochen hatten. Mit einem Ausdruck tiefster Trauer in den fleischlosen Gesichtszügen sah er von einem zum anderen. Ganze sechs Kameraden waren seit dem Überfall gestorben. Nicht einmal der zwanzigste Teil der Gemeinschaft. Und doch gingen den ersten schon die Nerven durch.
Navok konnte es Sinar nachfühlen, auch wenn der Degenmeister in ihm kühl berechnete, wie gut sich die bisherigen Verluste noch verschmerzen ließen. Doch er war kein Bluttempler mehr. Das spürte er in diesen Tagen deutlicher als je zuvor. Die Männer und Frauen waren ihm längst ans Herz gewachsen wie die eigene, so schmerzlich vermisste Familie. Jeder Verlust erschütterte ihn, als würde er einen weiteren Sohn verlieren. Doch er war froh um die Pein des Verlustes. Um nichts in der Welt wollte er wieder der kalte Mörder sein, der Erzvaters Urteile im Namen eines falschen Glaubens vollstreckte. "Vielleicht sollten wir uns in die alten Verstecke zurückziehen", regte Sigur an, in dem Bemühen, ein Ziel vorzugeben, das die Angst vergessen ließ. "Dann wissen die Bluttempler nicht mehr, wo sie uns auflauern sollen, und müssen ihre Deckung verlassen." Der ehemalige Sklave mit den blonden Haarstoppeln, die kaum auf der rosigen Kopfhaut auszumachen waren und die er sich trotzdem alle drei Tage schor, um seinem großen Vorbild ähnlicher zu sein, meinte es gut - das konnte Navok in seinen Gedanken lesen. Trotzdem widersprach er. "Diese Taktik wird nicht fruchten", sagte er in die anschließende Stille hinein, die das Volumen seiner schnarrenden Stimme weiter verstärkte. "Unser Gegner besitzt größere Geduld als ihr, und - vor allem anderen - er hat alle Zeit der Welt, um sein Vorhaben auszuführen." Sigur wollte etwas einwenden, doch Navok stoppte ihn mit einer kurzen Geste. "Machen wir uns nichts vor", setzte er fort. "Nach all den Wintern der Gefangenschaft und des Kampfes wünschen sich alle nichts sehnlicher, als in Frieden zu leben. Niemand von uns möchte jetzt noch sterben, da es fast so scheint, als ob Rojaals und Sklavenhändler geschlagen oder zumindest in fremde Gestade geflohen sind."
In den Gesichtern seiner Gefolgschaft las er grenzenlose Überraschung. Aber auch Betroffenheit darüber, dass er auszusprechen wagte, was die meisten von ihnen nur heimlich dachten. "Leider ist mir der Weg in den Frieden nicht vergönnt", fuhr Navok fort. Ohne jede Wehmut. Ohne jemanden ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen. "Glaubt mir. Ich habe einst schwere Schuld auf mich geladen, und nun ist ganz einfach der Zeitpunkt gekommen, an dem ich sie begleichen muss. Ihr jedoch, ihr habt euch alle ein friedvolles Leben verdient. Das, was sich hier abspielt", dabei deutete er auf den Toten zu seinen Füßen, "hat nichts mit euch zu tun. Darum möchte ich euch bitten fortzugehen, solange ihr noch wohlauf seid. Ich werde den anstehenden Kampf alleine ausfechten, so wie es sein soll." Seinen Worten folgte ein Moment der Stille, in dem nur die umher schwirrenden Fleggen zu hören waren. Dann kam ein gemeinschaftlicher Aufschrei, in dem das Wort "Nein!" hundertfach von den Wänden des Foyers widerhallte. Ein lautes Fauchen in Navoks Rücken bekräftigte die Empörung der Menschen. Der Nosfera zuckte zusammen, denn er hatte sich so sehr an seinen Todesschatten gewöhnt, dass er gar nicht mehr bemerkte, wenn Graz hinter ihm stand. "Ohne dich wären wir längst in der Gefangenschaft umgekommen!", übertönte Sigur die Empörung der anderen. "Mit Freuden geben wir unser Leben, wenn wir dich dafür schützen können!" Als wäre diese Erklärung ein Signal gewesen, versicherten ihm nun auch die anderen ihre unverbrüchliche, bis über den Tod hinaus reichende Treue. Sinar sank sogar vor ihm auf die Knie und küsste seine Hand. Navok zog sie sofort wieder in die Höhe, beschämt von ihrer Demut, aber auch erschrocken über die Macht, die ihm seine Gefolgschaft darbot. Dass jeder von
ihnen bereit war, für ihn zu sterben, erschreckte den Nosfera beinahe mehr als die Nähe seiner Häscher. "Nur die Ruhe", versuchte er die überschäumenden Gefühle zu dämpfen. "Niemand braucht sein Leben für mich zu lassen. Im Gegenteil. Wir werden eine Möglichkeit finden, der Gefahr zu begegnen. So wie wir auch bisher alles gemeinsam gemeistert haben." Große Worte, fürwahr, aber ganz genau das, was die Männern und Frauen von ihm hören wollten. Doch ehe Navok in die Verlegenheit kam, erklären zu müssen, wie er sein Versprechen halten wollte, zog zum Glück ein Wachposten, der von einem atemlosen Jungen begleitet wurde, die Aufmerksamkeit auf sich. Die Wangen des Kleinen glühten vor Aufregung, als er durch die doppelte Flügeltür in das Gebäude trat. Sein dunkelbraunes, gelocktes Haar klebte schweißnass am Kopf. Er musste gelaufen sein. Seine dünnen Beine, die in verschmutzten Fellhosen steckten, zitterten ebenso wie sein schmächtiger, mit Leinenhemd und Fellweste bekleideter Oberkörper. Von Unbehagen gepackt, weil alle Augen auf ihn gerichtet waren, trat er von einem Bein aufs andere. Den Blick senkte er jedoch nicht, sondern kreuzte ihn forsch mit allen Anwesenden, in dem festen Wissen, dass er etwas von höchster Wichtigkeit zu berichten hatte. "In der Stadt wurden drei Nosfera aufgegriffen", sagte der Posten an seiner Stelle. Selbst kaum dem Knabenalter entwachsen, zitterte auch sein Stimme vor Aufregung. "Es sollen die Bluttempler sein, die uns zu schaffen machen. Marra hat seinen Jüngsten geschickt, um uns zu benachrichtigen. Wir sollen uns beeilen, wenn wir die Meuchler noch lebend sehen wollen. Die Bürger bereiten gerade alles vor, das Pack zu lynchen."
Der Junge neben ihm nickte jedes einzelne Wort ab, um die Richtigkeit zu bestätigen, und fügte dann atemlos hinzu: "Ja, beeilt euch besser. Die Menge ist wie toll." Dutzendfaches Hurra-Geschrei folgte der Nachricht. Die allgemeine Begeisterung kannte keine Grenzen. Selbst Navok schöpfte ein wenig Hoffnung. Obwohl er wusste, wie trügerisch sie sein mochte. * Der äußere Stadtring, den sie in knapp zehn Meter Höhe überflogen, bestand lediglich aus zerfallenen Ruinen, die bereits von einem dichten Pflanzenteppich überwuchert wurden. Stück für Stück eroberte sich die Natur ihr angestammtes Territorium zurück. Bizarre, im Laufe der Jahrhunderte mutierte Tiere verteidigten hier ihr Revier. Gerule, Shassen und Skunkhörnchen, die von Zeit zu Zeit zwischen Ranken und Blättern hervor schauten, gehörten dabei zu den possierlichen Vertretern dieser postapokalyptischen Fauna. Die Außenkameras der Explorer fingen aber auch ein, wie zwei Tentakel aus einer schlammigen Pfütze hervor schnellten und einen zappelnden Gerul ins dunkle Nass zerrten, dessen Oberfläche gleich darauf in roten Blasen aufkochte. "Ein Kraak", erklärte Aruula ungerührt, während Corporal Farmer, der Aufklärer an Bord, ein wenig bleich um die Nasenspitze wurde. Obwohl er auf seinen Außenmissionen schon einiges zu sehen bekommen hatte, war ihm wohl eine Begegnung mit dem gefährlichen Weichtier, das seine Beute mit Nesselgift lähmte, bisher erspart geblieben. Matt stellte zu seiner Verwunderung fest, dass ihn die Szene, die nur kurz über die Bildschirme flimmerte, beinahe ebenso ungerührt ließ wie Aruula. Fressen und gefressen werden lautete nun mal die Devise in dieser lebensfeindlichen Umwelt. Darüber konnten auch zivilisierte Enklaven wie die
englischen Bunker-Communities nicht hinweg täuschen. Er war lange genug unter barbarischen Umständen durchs Land gereist, um den Kreislauf der Natur zu respektieren. Zumindest solange keine Menschen nach diesem einfachen Denkschema handelten. Mit hoher Geschwindigkeit ging es weiter. Die Landschaft veränderte sich. Immer öfter ragten erhaltene oder ausgebesserte Gebäude aus dem grünen Dickicht. Bewohnt von Barbaren, die die Einsamkeit liebten, aber die Vorzüge einer nahen Ansiedlung nicht missen wollten. Berittene Andronen tauchten auf, aber auch spielende Kinder, die mit Holzschwertern fochten oder sich an einen imaginären Feind anpirschten. Sobald der EWAT nahte, richteten sich alle Augen, ob jung oder alt, in die Höhe, um das glänzende Ungetüm zu bestaunen, das wie von Zauberhand durch die Lüfte flog. Manch einer kroch ängstlich in Deckung, andere reckten neugierig den Hals, um sich bloß kein Detail entgehen zu lassen. Sicher gab es anschließend manche Diskussion, ob das fliegende Gefährt dämonischen Ursprungs war oder durch Magie gelenkt wurde. Eines der vielen Wunder eben, die von Zeit zu Zeit geschahen und mangels sinniger Erklärung als gottgegeben hingenommen wurden. Die Küste lag mittlerweile nur noch wenige Kilometer entfernt. Durch die von innen durchsichtige Kuppel sah Matt einige Gischt gekrönte Wellenkämme in der grauen See, sowie prall geblähte Segel, die den frischen Wind zum Ein- oder Auslaufen nutzten. "Ganz schön was los in der Stadt!", rief Steve Bolton, der am Taster saß, aus dem Cockpit. Kurz darauf ließ sich auch mit bloßem Auge ausmachen, was die elektronische Anzeige vorhersagte. Die Liegeplätze im Hafen hatten sich in den letzten drei Jahren nahezu verdoppelt, und auch auf den Straßen und
Plätzen ging es lebhafter zu als je zuvor. Hier, rund um den Hafen, wo sich die Märkte konzentrierten, waren fast alle Gebäude bewohnt. Bis auf ein paar augenfällige Ruinen, denen bereits die eine oder andere Fassade fehlte und die nur noch zusammenstürzen mussten, damit sich aus ihren Trümmern etwas Neues errichten ließ. Matt sah, dass Aruula leicht verkrampfte, als sich die großen freien Flächen näherten, auf denen sie damals als Sklaven feilgeboten worden waren. Das Gedränge, das dort unten herrschte, war beinahe schon als Tumult zu bezeichnen. Irgendetwas schien die Menschen derart in Aufregung zu versetzen, dass sie nicht einmal auf den anschwebenden EWAT achteten. Es dauerte einige Zeit, bis Matt erkannte, dass die aufgebrachte Menge um ein Podest drängte, auf dem sich gerade drei nackte Männer mit abgespreizten Armen und Beinen hilflos in ihren Fesseln wanden. Nicht einmal ein Lendentuch bedeckte ihre hageren Gestalten. Die Kapuzenmäntel, die sie getragen hatten, lagen als Kleiderhaufen neben ihnen. Erst bei genauem Hinsehen fiel Matt auf, dass alle drei nicht zufällig kahlköpfig waren. Spärlicher Haarwuchs gehörte ebenso zu dem Erscheinungsbild ihrer Spezies wie die Unterernährung. Beides wurde ausgelöst durch eine mutierte Form der Sichelzellenanämie, die zu einem permanenten Blutdurst führte, an den sich ihre Verdauungsorgane im Laufe der Jahrhunderte angepasst hatten. Ja, es handelte sich zweifellos um Nosfera, deren pigmentlose Haut empfindlich auf Tageslicht reagierte. Sie nackt der prallen Sonne auszusetzen war eine äußerst perfide Art, sie langsam zu Tode zu quälen. Zumindest aus der Sicht eines zivilisierten Menschen. Die grölenden Zuschauer, die sich rund um die grob gezimmerte Plattform drängten, auf der sonst frisch gefangener
Fisch versteigert wurde, schienen das Schauspiel hingegen zu genießen. Überall klatschten die Menschen in die Hände oder reckten die Fäuste, um ihren Unmut über die Verurteilten zu bekunden. Fünf mit roten Lederwämsen uniformierte Wachen drängten gerade einige besonders aufgebrachte Barbaren zurück, die das Podest stürmen wollten. Den Hagel aus faulen Früchten und leeren Nussschalen, der auf die Gefesselten niederging, konnten sie jedoch nicht verhindern. "Navok!", rief Aruula bestürzt aus, bevor sie den Bildschirm beinahe mit der Nasenspitze berührte, in dem Versuch, die Nosfera genauer in Augenschein zu nehmen. Ob es sich bei einem der Gefesselten wirklich um Navok handelte, konnte sie trotzdem nicht feststellen. Dazu ähnelten die Nosfera einander auf die Entfernung zu sehr. "Irgendwelche Vorschläge für den Landeplatz?", fragte Captain McDuncan über Bordfunk. "Direkt neben dem Podest!", rief Aruula, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Die Kommandantin sah durch den schmalen Verbindungsgang zu ihnen herüber. Matt, der ihren fragenden Blick auffing, nickte ernst, und fügte dann hinzu: "Sie haben die Lady gehört!" Als die aufgepeitschten Barbaren den Schatten des sich langsam herabsenkenden Schwebepanzers bemerkten, drängten sie erschrocken zur Seite. Die örtlichen Bunkergemeinden waren zu klein gewesen, um eine vergleichbare Technik zu entwickeln, bevor sie sich mit einem gefährlichen Transplantationsexperiment gänzlich auslöschten. Den Anblick moderner Fahrzeuge war deshalb in Plymouth ungewohnt. Nicht mal ein Stein wurde gegen die Panzerung geschleudert. Die Menschen flohen einfach, sofern sie die Möglichkeit besaßen, oder erstarrten in einigen Metern Entfernung vor Schreck und beobachteten aus weit
aufgerissenen Augen, wie der EWAT die Kettenschuhe ausfuhr und sanft auf dem frei geräumten Platz landete. Keine fünf Meter von dem Holzpodest entfernt, auf dem nur noch die angepflockten Nosfera lagen. Selbst die Wachen hatten es vorgezogen, sich in sichere Gefilde abzusetzen. Aruula war die Erste an der Luftschleuse. Ungeduldig hämmerte sie auf den grünen Knopf, mit dem das Außenschott geöffnet wurde, ohne zu bedenken, dass erst eine Freigabe durch das Cockpit erfolgen musste. Der Umgang mit der alltäglichen Technik ging ihr leicht von der Hand, doch wenn etwas nicht wie gewohnt verlief, verlor sie leicht den Überblick und reagierte entsprechend gereizt. So wie in dem Moment, als sie den Bihänder aus der Arretieren zog, um das Schott mit purer Muskelkraft aufzubrechen. "Keine Panik", bat Matt aus sicherer Entfernung, "wir kommen noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhindern." Gleichzeitig senkte sich das Schott nach vorne ab. Aruula wartete nicht, bis die Rampe den Boden berührte, sondern sprang durch die Öffnung ins Freie und stürmte auf das Podest. Einige Bretter, die in drei Stufen nach oben führten, bogen sich unter ihren Füßen, so heftig sprang sie auf ihnen empor. Die umstehende Menge schrie erbost auf, als sie die Fesseln der Angepflockten mit schnellen Hieben zertrennte und ihnen die Kleiderberge mit dem Fuß entgegen schob. Die Bürger von Plymeth hatten sicher mit vielem gerechnet, doch dass nun eine Barbarin mit gezücktem Schwert vor ihnen stand und sie herausfordernd ansah, fand nicht gerade ihr Wohlwollen. Stolz stand Aruula da, mit einem gewissen Lauern in der Haltung, das ihre Gefährlichkeit signalisierte. Trotz ihrer Fellhosen und des gefütterten Wamses, die sie wegen der schneidenden Kälte trug, war zu sehen, wie die Muskeln ihres durchtrainierten Körpers spielten. Selbst die befreiten Nosfera sahen sie ängstlich von der Seite an, die aufgerafften Kutten an den Leib gepresst. In der
umstehenden Menge hielten sich noch Schrecken und Empörung die Waage, doch die Stimmung mochte jeden Augenblick zu Aruulas Ungunsten kippen. Dann befand sie sich in einer denkbar schlechten Position. Matthew Drax, der eben noch überlegt hatte, wie sich alles ohne Waffengewalt lösen ließ, sah sich nun gezwungen, den Driller zu ziehen und ihr hinterher zu eilen. "Danke für dein überlegtes Vorgehen", maulte er, als er die Stiege verdrossen empor stapfte. "Was ist eigentlich, wenn die Drei zu Recht Gefangene waren?" Die Nosfera wichen entsetzt vor ihm zurück, bis der Rand des Podestes sie stoppte. Rote Brandflecken schimmerten auf ihren bleichen Leibern. Sie mussten höllische Schmerzen erleiden, doch die Todesangst überdeckte alle anderen Empfindungen. Matt nahm sie genau in Augenschein, konnte aber kein bekanntes Gesicht entdecken. Der Älteste von ihnen, vermutlich der Vater der anderen beiden, schüttelte plötzlich den Kopf. "Wir sind unschuldig", versicherte er mit krächzender Stimme. "Das muss alles eine Verwechslung oder eine bewusste Verleumdung sein. Nie würden wir dem großen Navok und seinen Mannen ein Leid antun. Wir sind einfache Nosfera, die nach Plymeth kamen, um Handel zutreiben." Immerhin, Navok lebte also, und er schien das Wohlwollen der Bevölkerung zu genießen. Dass ihm diese drei bibbernden Gestalten gefährlich werden könnten, hielt Matt für eher unwahrscheinlich . "Der Nosfera sagt die Wahrheit", bekräftigte Aruula, die mit ihren telepathischen Sinnen spüren konnte, ob jemand log oder nicht. Blieb nur noch das Problem mit der umstehenden Menge, die zu erneutem Geschrei ansetzte. Diesmal, weil Lieutenant Shaw, flankiert von den Corporals Bolton und Farmer, aus der Schleuse trat. Alle drei waren mit Lasergewehren bewaffnet.
Captain McDuncan schien mit einer Konfrontation zu rechnen. Dafür sprach auch der Geschützturm, der knirschend aus dem Dach der Explorer wuchs. Ein Bündel Teleskopläufe fuhr zu allen Seiten aus dem runden Element hervor. Der Anblick ließ die brüllende Menge verstummen. Obwohl niemand die Wirkung der Kanonen kannte, spürten die Barbaren doch instinktiv die davon ausgehende Bedrohung. Ein leises Piepsen an seinem Gürtel machte Matt darauf aufmerksam, dass Captain McDuncan mit ihm sprechen wollte. Sobald er das lokale Funksprechgerät auf Empfang geschaltet hatte, erklang ihre Stimme in ungewöhnlich scharfer Form. "Wären Sie so freundlich, Commander, sich so schnell wie möglich in den EWAT zu begeben - meinetwegen auch in Begleitung ihrer nackten Freunde?" Matt konnte den Zorn der Kommandantin verstehen. Dem Octaviat gegenüber war sie für seine Sicherheit verantwortlich, und Aruulas Vorpreschen machte diese Aufgabe nicht gerade leichter. "Lassen Sie mich nur machen", bat er. "Das ist nicht mein erster Besuch in dieser Stadt." Ohne ihre zweifellos erboste Antwort abzuwarten, schaltete er das Funkgerät ab und hob weithin sichtbar die Hand. "Gibt es hier einen offiziellen Vertreter, der für euch sprechen kann?", rief er über den Platz. "Einen Häuptling, einen Ältesten, oder ein gewähltes Ratsmitglied?" Seine Frage löste neues Stimmengewirr aus. Diesmal ohne bedrohlichen Klang, sondern von Neugier bestimmt. Der Wunsch nach einer Hinrichtung schien in den Hintergrund zu treten. Immer mehr von denen, die zuvor geflohen waren, kehrten zurück und reckten neugierig die Hälse, um einen Blick auf das Stahlmonster und seine Insassen zu werfen. In den umliegenden Häusern und Speichern standen die Menschen an den offenen Fenstern und Luken, um das Geschehen mit Spannung zu verfolgen.
Nach einigem Zögern löste sich sogar ein Mann aus der Menge und trat, begleitet von einem furchtlosen Stadtgardisten, einige Schritte vor. Er war von hoher Gestalt und besaß kräftige, das Zupacken gewöhnte Hände. Sein graues Haar war schon stark gelichtet, doch seine blauen Augen funkelten noch jugendlich frisch. "Ich bin der Vorsteher dieses Marktes", verkündete er, und die auf Maß geschneiderte Kleidung, bestehend aus Lederstiefeln, gefütterten Hosen und einer Jacke aus Shassenfell unterstrich seinen gehobenen Stand. "Wer seid ihr, dass ihr vom Himmel kommt, um diese Mörder zu befreien?" Matt sah aus den Augenwinkeln, wie die drei Nosfera den Kopf schüttelten, um die Beschuldigung abzuwehren. Da Aruula die Worte des Ältesten bestätigt hatte, war er geneigt, den Beteuerungen zu glauben. "Wir sind Freunde von Navok dem Nosfera!", rief er dem verblüfften Marktvorsteher zu. "Und wir haben guten Grund, an die Unschuld dieser Männer zu glauben." Die Menge reagierte überrascht, schien seinen Worten aber keinen Glauben zu schenken. Der Eindruck, den der landende EWAT auf sie gemacht hatte, schwand allmählich dahin. Zurück blieb für sie eine Handvoll seltsam gekleideter Menschen, die sich ungefragt in fremde Dinge einmischte. "Beweise!", forderten einige, die sich drohend näher wagten. "Was du da sagst, kann jeder behaupten!" Zum Glück waren Shaw, Farmer und Bolton mit den Lasergewehren heran, um ihnen notfalls Deckung zu geben. Der Driller wog plötzlich unangenehm schwer in Matts Hand, doch ehe er in die Verlegenheit kam, einen Rückzug zu befehlen, änderte sich die Lage erneut. "Navok und die Seinen kommen!", erklang es plötzlich von allen Seiten. "Jetzt werden wir ja sehen, ob der Fremde den Befreier kennt."
Kurz darauf bildete sich an der nördlichen Flanke zwischen den Schaulustigen eine Gasse, durch die ein Trupp kahl geschorener Krieger marschierte. In ihrer Mitte ging ein vermummter Nosfera, dem eine gut zwei Meter große Taratze wie ein Schatten folgte. Ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern, hielt die Abteilung auf das Podest zu. "Ganz ruhig", wies Matt die Technos an. "Wenn wirklich Navok unter der Kapuze steckt, haben wir nichts zu befürchten." Als die in Fell und Leder gehüllten Krieger vor ihnen standen, hoben sie ihre Schilder an, um ein Dach zu bilden, das einzig und allein den Nosfera in ihrer Mitte schützen sollte. Eine bildlichere Entsprechung für das Wort Leibwache gab es nur selten zu sehen. Selbst die Taratze beugte sich ein Stück weiter vor, um ihren Herrn mit dem eigenen Körper abzuschirmen. "Aruula! Maddrax!", rief der Nosfera, bevor er seine Kapuze ein wenig nach hinten rückte, um das Gesicht freizulegen. "Bei allen falschen Göttern! Mit euch habe ich nun wirklich am wenigsten gerechnet." Matt entspannte ein wenig. Tatsächlich, das war Navok. Obwohl ihre Begegnung schon mehr als drei Jahre zurück lag, erkannte er ihn sofort wieder. Aruula rammte bei seinem Anblick erfreut den Bihänder in die Bretter des Podestes und sprang zu den Kahlköpfen hinab. Rücksichtslos drängte sie durch die Reihen der Krieger, um Navok freudig zu umarmen. Die Taratze, die sie zischend daran zu hindern suchte, bedachte sie mit ein paar unflätigen Ausdrücken aus der Sprache der Wandernden Völker. Zum Glück hielt Navok seine Getreuen im Zaum, ehe es zu Missverständnissen kommen konnte. "Alles in Ordnung!", rief er laut, damit es jeder hören konnte. "Aruula und Maddrax sind alte Freunde, mit denen ich das Sklavenspiel durchstanden habe!"
Die Ablehnung der Kahlköpfe verwandelte sich daraufhin in offene Sympathie, ganz so, als würde die Sklavenzeit sie adeln. Als Matt später erfuhr, dass sie es mit lauter Ex-Sklaven zu tun hatten, verstand er auch warum. Ohne dass einer sein Schild auch nur um einen Zentimeter senkte, lauschten sie dem Bericht der Barbarin, die sich für die unbekleideten Nosfera einsetzte. "Sicher hast du Recht", lobte Navok ihren Einsatz für die Bedrängten. "Die Degenmeister, die uns nachstellen, lassen sich bestimmt nicht einfach gefangen nehmen und fesseln. Führt die drei einmal her, damit ich sie mir näher ansehen kann." Gehorsam stiegen die Angesprochen die Stufen herab und ließen sich willig von Navok mustern und mit den Fingerspitzen an den Schläfen berühren. Matt staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit der Nosfera seine Anweisungen erteilte. Selbst der Marktvorsteher und die Wachen wagten nicht einzuschreiten. Alle schienen sich seinem Willen zu beugen. "Die drei sind unschuldig", verkündete Navok schon nach kurzer Zeit. Als begabter Telepath brauchte er schließlich nur ihre Gedanken zu lesen. Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge. Navoks Talente mussten jedermann bekannt sein, denn niemand kam auf die Idee, seine Aussage anzuzweifeln. Unter vielfacher Dankesbezeugung kleideten sich die drei Nosfera wieder an. "Aber... wie kann das sein?", jammerte der Marktvorsteher und zerraufte sein dünnes graues Haar. "Der Hinweis kam von einem der Euren, einem stattlichen Nosfera mit edel gearbeiteter Klinge. Und es passte alles so gut. Diese hier waren ebenso zu dritt wie die, die euch bedrohen..." "Ihr habt es sicher gut gemeint, mein lieber Marra", lobte Navok, bevor er tadelnd fortfuhr: "Doch ihr habt leider sehr
voreilig und unüberlegt gehandelt. Das hätte diesen Unschuldigen beinahe das Leben gekostet." In einer Mischung aus Trotz und Scham blickte der Marktvorsteher zu Boden. "Sicher war der Verleumder selbst einer der Bluttempler", gab ein Schildträger mit blonden Haarstoppeln zu bedenken. "Wir sollten schleunigst abmarschieren, bevor dich jemand von einem Dach aus unter Beschuss nimmt." Bluttempler? Matt spürte heiße Schauer über seinen Rücken jagen. Was hatte Navok mit den Ordenskriegern aus Moska zu schaffen? Gab es da eine Verbindung, von der er nichts wusste? Angesichts der näher rückenden Menschenmenge traute er sich aber nicht zu fragen. Ebenso wenig wie Aruula, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Geschult durch die Abenteuer der vergangenen Jahre besaß Matt die Gabe, sich rasch auf neue Situation einzustellen. "Wenn dein Leben in Gefahr ist, kann ich dir sicheres Geleit anbieten", schlug er vor und deutete dabei auf das offene Schott der Explorer. Navok sah in die angedeutete Richtung und hob die Augenbrauen. "Dieses Ungetüm kann fliegen?", fragte er anerkennend. "Und ich habe mich schon gefragt, wie es hierher gekommen ist." * "Wenn er in das stählerne Gefährt steigt, könnte ich ihn vielleicht erwischen." Rraal sah von dem dünnen Stab an seinen Lippen auf, der einem Speerschaft ähnelte, bei dem es sich aber um ein weit reichendes Blasrohr handelte. Der von Moos und Ranken überwucherte Raum im fünften Stock, den sie als Versteck gewählt hatten, weil ihm die Außenmauer fehlte, bot einen guten Blick auf den Marktplatz.
Ein Treffer aus dieser Entfernung lag für Rraal durchaus im Bereich des Möglichen. Doch er zögerte, aus dem gleichen Grund, aus dem Radek die Aktion schließlich abbrach. "Nein", erklärte er mit kaum verhohlener Enttäuschung. "Nicht solange der Sohn der Finsternis zugegen ist." "Bei Murrnau!" Vukov musste an sich halten, um nicht vor Enttäuschung auf den Boden zu spucken. "Was taucht der Kerl hier plötzlich aus dem Nichts auf? So weit von Zuhause entfernt?" "Vielleicht weit entfernt von unserem Zuhause", antwortete Rraal spöttisch, während er die mit Tollkrautsaft getränkte Nadel aus dem Rohr schüttelte. "Aber Maddrax wohnt auf dieser Insel, schon vergessen?" Ohne eine Entgegnung abzuwarten, hob er das Geschoss mit spitzen Fingern an dem feinen Federbausch auf, der zur Stabilisierung der Flugbahn diente. Rraals Vorsicht war berechtigt. Das hochdosierte Pflanzengift drang sogar über die Haut ein. Vukov funkelte den Ordensbruder böse an, doch Radek ging dazwischen, bevor ein Streit ausbrechen konnte. "Rraal hat Recht", entschied er. "Wir sind dem Verräter schließlich nur über Maddrax auf die Spur gekommen. Es war damit zu rechnen, dass er ihn früher oder später aufsuchen würde. Wir sind einfach zu langsam gewesen." Bedrückt starrten sie zu dritt in die Tiefe, wo sich die aufgehetzte Menge langsam zerstreute, um wieder den alltäglichen Geschäften nachzugehen. Die drei von der Sonne verbrannten Nosfera wurden von kahlköpfigen Kriegern begleitet, die sich zu Fuß in Richtung Festung aufmachten, während Navok, Maddrax und Aruula im Bauch des stählernen Zylinders verschwanden, der so lautlos davon flog, wie er gekommen war. "Drei der eigenen Art verraten, ohne etwas zu erreichen", knurrte Vukov bitter. "Verflucht seien die Attentate bei Tage."
Rraal sagte nichts zu diesem Ausbruch, sondern schraubte schweigend das Blasrohr auseinander. Radek schwieg ebenfalls. Was gab es auch noch groß zu sagen? Das Schicksal der Unschuldigen berührte ihn ebenfalls, trotzdem war es ein guter Plan gewesen, der zweifellos aufgegangen wäre, wenn... ja, wenn nicht der Sohn der Finsternis dazwischen gekommen wäre. "Ob das etwas zu bedeuten hat?" Vukov trat von der Kante zurück. Radek wusste sofort, was sein Bruder meinte, auch ohne seinen Lauschsinn zu bemühen. "Du denkst, sein Auftauchen könnte ein Zeichen Murrnaus sein?" Vukov nickte nur, als ob er seine Zustimmung nicht laut auszusprechen wagte. "Vielleicht hast du Recht", gestand Radek ein. "Nur, was will uns Murrnau damit sagen? Dass unsere Aufgabe bisher zu leicht war? Oder dass der Verräter am Leben bleiben soll? Was glaubst du?" Vukov schwieg betreten. Natürlich. Er wusste schließlich so gut wie die anderen, dass es keinen Platz für Zweifel gab. Dass der Pfad, den sie beschritten, nur in eine Richtung führte. "Ich bin Degenmeister, kein Prophet", schloss Radek ab. "Mir ist nicht klar, wie Maddrax' Anwesenheit zu deuten ist. Aber eins weiß ich genau: Dass wir nur nach Moska zurückkehren können, wenn Erzvaters Auftrag erfüllt ist. Der Verräter muss sterben. Je früher, desto besser. Darum ist es an der Zeit, die Taktik zu ändern." Die anderen sahen ihn überrascht an. "Hast du schon einen Plan?", wagte Vukov als erster zu fragen. "Allerdings." Während sie durch den rückwärtigen Teil des Gebäudes verschwanden, erläuterte Radek in groben Zügen, was ihm vorschwebte. Da keiner der anderen einen Einwand
vorzubringen hatte, galt die Sache als abgemacht, noch ehe sie sich an einer armdicken Ranke auf ein benachbartes Dach schwangen. Lautlos und geschmeidig ging es über Häuser, Markisen und Straßenzüge hinweg. In der Kunst der unauffälligen Bewegung geübt, waren die drei auch bei Tageslicht nicht mehr als ein paar flüchtige Schatten. Obwohl sie die ganze Zeit über ein hohes Tempo anschlugen, war keiner von ihnen außer Atem, als sie sich schließlich über eine Regenrinne auf den Balkon eines weiß getünchten Hauses schwangen. Trotz der Kälte stand die Holztür einen Spalt weit auf, sodass sie sofort eintreten konnten. Drinnen erwartete sie ein prasselndes Kaminfeuer - und eine Abordnung von vier Männern, die sie erwartungsvoll ansahen. Ihre Wangen schimmerten rot vor Aufregung, und wegen der halb geleerten Krüge Brabeelenwein, die neben ihnen standen. "Und?", fragte Nordon, der Wortführer. "Hat es geklappt?" Früher einmal hatte er sich May'jor genannt. In einer anderen Zeit, als er noch voller Stolz einen der Helme getragen hatte, die nun auf einem klapprigen Schrank verstaubten. Die übrigen Männer waren Sklavenhändler, die sich ebenfalls die Vergangenheit zurückwünschten, in der die Geschäfte so gut für sie gelaufen waren. Aus diesem Grund gewährten sie den Bluttemplern Unterschlupf und versorgten sie mit Informationen. Nichts sehnten sie mehr herbei als Navoks Tod, denn nur seinen strategischen Fähigkeiten hatten sie es zu verdanken, dass sie sich heute vor denen verstecken mussten, die einst unter ihrer Peitsche starben. "Was ist?", fragte Nordon ungeduldig. "Hat es euch die Sprache verschlagen? Sagt schon, ob der elende Crooch tot ist." Radek wartete, bis seine Ordensbrüder links und rechts von ihm standen. Dann schlug er die Kapuze zurück, schenkte den
Verbündeten ein freudloses Grinsen und goss sich ein wenig Wein in einen Becher. "Ist leider was dazwischen gekommen", sagte er knapp. Ein dreifacher Stoßseufzer erfüllte den dunklen, nur von dem flackernden Kamin beleuchteten Raum. "Ich hab's doch gewusst", greinte Liiam, ein feister Kaufmann. "Gegen diese Brut ist einfach kein Kraut gewachsen. Die muss man schon einzeln totschlagen, um an den verdammten Blutsäufer und seinen Todesschatten heranzukommen." Dass er gerade drei weiteren Blutsäufern gegenüber saß, fiel ihm erst ein, als die Beleidigung schon ausgesprochen war. Schweiß trat auf seine Stirn, die im fahlen Licht wächsern glänzte. Mühsam rang er sich ein Lächeln ab, bevor er um Vergebung heischte: "Das war natürlich nicht gegen euch gerichtet. Wir stehen ja auf der selben Seite." Radek, der genau wusste, wie sehr der Anblick seines Schädels die Männer anekelte, entblößte die spitz angefeilten Zähne in einem breiten Grinsen. Liiam und die anderen Kaufleute verstummten daraufhin. Nordon ließ sich nicht so leicht einschüchtern. "Was ist denn schon wieder schiefgegangen?", bellte er, als ob sie unter seinem Kommando stünden. Radek stellte mit unauffälligen Seitenblicken sicher, dass seine Ordensbrüder bereit standen. Dann nippte er an dem Wein und winkte mit der freien Hand leichthin ab. "Es wäre zu kompliziert, alles zu erklären." Der May'jor stieß laut hörbar die Luft aus den Lungen. Diesen Laut gab er stets von sich, wenn er äußerste Empörung demonstrieren wollte. "Lass das nur unsere Sorge sein", stellte er anschließend klar. "Wir vier haben den ganzen Tag Zeit, uns eure Entschuldigungen anzuhören. Es gibt ja sonst nichts, was wir tun können, solange dieser elende Rebell das Regiment in dieser Stadt führt."
"Geht nicht", wehrte Radek ab. "Navok hat Besuch von einem Mann bekommen, der über Mittel und Wege verfügt, die uns gefährlich werden können." Diese Ankündigung riss die Männer glatt aus den Sitzen. Liiam stieß vor Schreck sogar den Krug um, der neben ihm auf einem Hocker stand. Der Wein ergoss sich in einer klebrigen Fontäne über seine fleischige Hand. "Was? Das sagt ihr uns erst jetzt?", fluchte er, das Nass von seiner Hand schüttelnd. "Dann sollten wir schleunigst von hier verschwinden!" Radeks Grinsen wuchs weiter an, bis es seine gesamte untere Gesichtshälfte einnahm. "Nein, nein", versicherte er. "Ihr könnt ruhig hier bleiben." * Die Explorer landete nicht weit vom alten Strandhotel, das Navok und seine Getreuen zur Festung ausgebaut hatten. Ein Wall aus gerollten Dornenranken umgab das Gebäude wie eine militärische Barriere aus Stacheldraht. Diese Taktik hatten sie sich bei den Rojaals abgeschaut. Die Torwache öffnete das aus Latten gezimmerte Gatter, als Navok, Graz und Sigur aus dem Schott des EWATs stiegen. "Bei Wudan, ihr seid es nur!", rief der Barbar, kahlköpfig wie all die anderen, erleichtert aus. "Ich dachte schon, die Sklavenhändler hätten einen fliegenden Gejagudoo heraufbeschworen, um uns allen den Garaus zu machen." Matt und Aruula wurden freundlich mit eingelassen, während Captain McDuncan und ihre Besatzung an Bord des EWATs blieben. Navok führte seine Gäste in einen großen, mit Fensterläden abgedunkelten Raum, der von Kerzen und Öllampen erhellt wurde. Derart vor Sonnenlicht geschützt, setzte er seine Kapuze ab. Ein hölzerner Thron nahe einem Aufgang, der in das nächste Stockwerk führte, war extra für ihn
angefertigt worden. Zufrieden machte er es sich darauf bequem. Die Taratze, die in der ganzen Zeit kein einziges Mal von seiner Seite gewichen war, ließ sich daneben auf dem Boden nieder. Ein Bein locker über die Lehne geschlagen, nahm Navok eine Hand voll gelber Trauben aus einer bereit stehenden Schale, aß einige davon und warf die übrigen Graz zu, der sie ohne zu kauen herunterschlang. Herbeieilende Männer und Frauen deckten die Tische mit Schüsseln voller Früchte und kaltem Braten. Matt und Aruula setzten sich auf zwei freie Plätze und bedienten sich. Weitere Barbaren kamen im Laufe des Abends hinzu, begierig darauf, nicht nur ihren Hunger, sondern auch ihre Neugier zu stillen. Abgesehen von den gelben Trauben begnügte sich Navok mit einem Kelch frischen Blutes, das noch Körpertemperatur besaß. Zumindest ließen das die feinen Dämpfe vermuten, die über den Rand stiegen. Matt erfuhr, dass Navoks Getreue der Reihe nach freiwillig zur Ader gingen, um ihn auf diese Weise zu ernähren. Ein Freundschaftsbeweis, den wohl nur wenige Nosfera in Britana erhielten. Während sie aßen, berichtete Navok in knappen aber präzisen Worten, wie seine stetig anwachsende Streitmacht in den vergangen Jahren gegen die Sklaverei in Cornwall gekämpft hatte, bis die überlebenden Rojaals und Sklavenhändler schließlich das Feld räumen mussten. Danach waren nur noch die treuesten Gefährten an seiner Seite geblieben und hatten gemeinsam mit ihm dieses Gebäude instand gesetzt. Matt überraschte es, dass Navok so anerkannt war, obwohl die Stadt zuvor gut an den Sklaven verdient hatte. "Ein richtiges Geschäft haben nur die Wenigsten in Plymeth gemacht", gab der Nosfera zu bedenken. "Anderen hat die Sklaverei mehr geschadet als genutzt. Viele auswärtige Karawanen haben sich gar nicht hierher gewagt, aus Angst,
selbst in Gefangenschaft zu geraten. Viele Kaufleute waren deshalb insgeheim auf unserer Seite. Ohne ihre Hilfe wäre der Kampf nicht so erfolgreich verlaufen. Seit die Sklaverei in Plymeth offiziell beendet wurde, hat sich die Zahl der Schiffe, die im Hafen anlegen, verdoppelt. Der Wohlstand in der Stadt wurde dadurch vermehrt. Außerdem", ein Lächeln huschte über sein Gesicht, "muss jetzt keiner mehr Angst vor einem Aufstand haben. Das lässt viele ruhiger schlafen." Freudige Zustimmung begleitete seinen Bericht. Manch einer der Barbaren wollte nun in Anekdoten über einzelne Kämpfe und Attentate verfallen, doch Navok war neugierig, was seine Freunde zu erzählen hatten. Und so war es nun an Matt und Aruula, von ihrem Schicksal zu berichten. In kurzen Sätzen umrissen sie ihr Wiedersehen in Meeraka, um dann, wesentlich ausführlicher, von den Entdeckungen am Kratersee zu sprechen. Während sie die Bedrohung durch die Daa'muren schilderten, gab es kritische Bemerkungen seitens einiger Zuhörer, doch Navok bestätigte den Getreuen ihre Glaubwürdigkeit. Zwischendurch trat eine junge Frau in den Saal, die eine blutbefleckte Schürze trug und Navok etwas ins Ohr flüsterte. Was sie erzählte, bleib den übrigen verborgen, doch Navoks Miene nach zu urteilen musste es eine erfreuliche Neuigkeit sein. Seine gute Laune verging jedoch wieder, als die Sprache auf Moskau kam. Das Matt von den Bluttemplern als Sohn der Finsternis verehrt wurde, entlockte Navok nur ein verächtliches Schnaufen. "Erzvater und seine Propheten sind Scharlatane, die nur die eigene Macht im Auge haben", warnte er aufgebracht. "Du darfst ihnen nicht trauen, Maddrax. Was auch immer sie planen, sie wollen dich nur für ihre Zwecke benutzen." Der Verdacht, dass Navok sich bestens mit dem Orden auskannte, schien damit bestätigt.
"Hast du nicht behauptet, du würdest aus Schernobil stammen?", fragte Aruula, ungeniert an dem abgenagten Knochen einer Shasse lutschend. "Der Orden war schon damals nicht gut auf mich zu sprechen", erklärte Navok gereizt. "Deshalb musste ich meine Spuren so gut wie möglich verwischen. Lange Zeit ist mir das auch gelungen, doch nun haben sie mich trotzdem aufgespürt." Matt spürte ein unangenehmes Prickeln im Nacken. Konnte es etwa sein, dass...? "Schon merkwürdig", sprach er aus, was ihm gerade in den Sinn kam. "Ausgerechnet jetzt, so wenige Monate nachdem wir in Moska waren." "Wahrscheinlich hat ein Geistmeister eure Gedanken erlauscht", vermutete Navok ohne jeden Vorwurf. "Das ist gut möglich", gab Aruula unumwunden zu. "Ich habe in jener Zeit oft an dich gedacht." Matt verspürte ein schlechtes Gewissen. "Tut mir Leid, wenn wir dich in eine üble Lage gebracht haben", entschuldigte er sich. "Dafür gibt es keinen Grund", stellte Navok klar. "Ihr konntet ja nichts von dieser unseligen Verbindung ahnen." Was genau vorgefallen war, ließ sich der abtrünnige Degenmeister nicht entlocken, doch es musste etwas Schwerwiegendes gewesen sein, wenn ihm der Orden deshalb immer noch nachstellte. Plötzlich kam Matt ein Gedanke. "Vielleicht kann ich ja mit den Attentätern verhandeln", schlug er vor. "Wenn sie mich wiedererkennen, werden sie sicher die Waffen strecken. Schließlich bin ich ihrer Meinung nach der Einzige, der die zweite Zeit der Sonne verhindern kann. Das ist natürlich Unsinn, aber warum sollten wir diesen Aberglauben nicht dazu benutzen, um -?" "Auf gar keinen Fall", fiel ihm Navok ins Wort. "Ich will nicht, dass du wegen mir noch tiefer in diese Sache gerätst. Hör
auf mich. Halte dich von den Bluttemplern fern. Erzvater und seine Spießgesellen sind Meister der Täuschung, denen du nicht gewachsen bist." Diese Behauptung hielt der Pilot zwar für maßlos übertrieben, doch er musste einsehen, dass Navok nicht auf seinen Vorschlag eingehen wollte. Ein wenig verstimmt hielt er sich von nun an zurück. Über die ganze Unterhaltung war es längst tiefe Nacht geworden, und der Wein, der immer wieder nachgeschenkt wurde, sorgte dafür, dass Matts Augenlider langsam schwer wurden. Nachdem er einige Male ausgiebig gegähnt hatte, regte Navok an, ein Lager für ihn und Aruula bereiten zu lassen. Zum Abschied klopfte er dem Mann aus der Vergangenheit noch einmal aufmunternd auf die Schulter. "Es gibt noch eine andere Möglichkeit, dem Problem Herr zu werden", versprach er in Anspielung auf die Frau, die ihm die Neuigkeit ins Ohr geflüstert hatte. "Schon morgen werden wir die Initiative ergreifen. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns gerne dabei unterstützten." * Bis zu dem Augenblick, da die Tür aufschwang, herrschte in der fensterlosen Kammer völlige Dunkelheit. Wie ein Fallbeil schnitt die einfallende Lichtbahn durch die Schwärze, bevor sie auf dem Gesicht des Schlafenden endete. Verwirrt schreckte der rothaarige Barbar in die Höhe und kniff die Augen zusammen. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Pupillen so weit verkleinert hatten, dass er die vier eintretenden Gestalten erkannte. Tapfer versuchte er jeden Schrecken zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. Besonders die Taratze, die sich am Fußende der Pritsche aufbaute und ihn böse anfunkelte, jagte ihm Angst
ein. Sein Blick klebte förmlich an ihren scharfen Krallen. Matt konnte es dem Mann nachfühlen. Wenn nur ein Bruchteil von dem stimmte, was über Graz verbreitet wurde, hatte er den Beinamen Todesschatten wirklich verdient. Schon ein kleiner Wink von Navok genügte angeblich, um aus dem gezähmt wirkenden Tier eine reißende Bestie zu machen. Die Macht über Leben und Tod umgab den Nosfera, der ans Kopfende trat, mit einer unheiligen Aura. Matt und Aruula, die zwei aus Blech gehämmerte Laternen trugen, blieben dagegen, schon allein aus Platzgründen, im Hintergrund. Eine weitere Person hätte auch nicht mehr in den kleinen Raum gepasst. Der Gefangene versuchte sich aufzusetzen. Vergeblich. Gerade dem Wundfieber entronnen, war er noch zu erschöpft, um den Körper aus eigener Kraft zu halten. Bei dem Versuch gab die zur Seite rutschende Zudecke den Blick auf zahlreiche Verbände um Arme und Oberkörper frei. Ein betäubender Geruch von Eukalyptus und Melisse stieg von entzündungshemmenden Tinkturen auf. Schicksalsergeben sah der Kranke von einem zum anderen, offensichtlich auf das Schlimmste gefasst. "Was wollt ihr?" Schon bei diesen drei Worten versagte ihm die Stimme. Der Mann war ein gedungener Meuchelmörder, der Navok und seine Getreuen im Schlaf hatte überfallen wollen. Jemand wie er hatte keinen Grund, Gnade zu erwarten. Auch wenn ihm bisher das Leben geschenkt worden war. "Ich will Namen", forderte Navok. Im Laternenschein wirkte sein fleischloser Schädel wie ein sprechender Totenkopf. "Und das Versteck der Bluttempler." Die Augen des Rothaarigen weiteten sich vor Schreck, doch obwohl er die Lippen tonlos bewegte, drang kein Wort über seine Lippen. Ängstlich schüttelte er den Kopf, um die Aussage zu verweigern.
Navok sah zu Graz hinüber. Es war nur ein Seitenblick, doch der genügte schon. Sofort riss die Taratze beide Vorderpranken empor und stieß ein bedrohliches Zischen aus. Trotz seines geschwächten Zustands schob sich der Kranke auf Händen und Ellenbogen zurück, um den Abstand zu den gelb glänzenden Krallen zu vergrößern. "Ich kann euch nichts sagen!", rief er verängstigt. "Versteht doch! Die Nosfera würden mich umbringen!" "Das werden wir auch, wenn du schweigst", versetzte Navok trocken. "Also rede gefälligst, oder bereite dich darauf vor, Wudan gegenüber zu treten. Hoffentlich erkennt er dich noch, nachdem Graz mit dir fertig ist." Drohend schob die Taratze ihren Oberkörper über das Fußende. Der faulige Atem, der ihrem offenen Maul entströmte, überdeckte selbst den penetranten Gestank der Heiltinkturen. Geifer flockte zwischen ihren Lefzen hervor. Der Barbar riss den rechten Arm vors Gesicht. "Nein", kreischte er panisch. "Ihr versteht nicht. Sie würden auch meine Familie umbringen. Mein Weib... mein Kind!" "Das können wir ebenso besorgen!", brüllte Navok zurück und packte ihn im Gesicht. "Also denk gefälligst nach! Wer hat es auf uns abgesehen? Wie sind die Namen? Und wo sind sie zu finden?" Es sah beinahe so aus, als würde Navok den hilflosen Mann mit bloßen Händen erwürgen. Matt wollte schon dazwischen gehen, doch Aruula hielt ihn am Arm zurück. Nur die Ruhe, signalisierte sie damit. Es verläuft alles nach Plan. Matt ballte beide Hände zu Fäusten, so sehr zerrte das entwürdigende Schauspiel an seinen Nerven. Dabei wusste er, dass Navok den Körperkontakt nur suchte, um seine telepathischen Fähigkeiten besser einsetzen zu können. Von der Pritsche drang nur noch leises Wimmern herüber. Der Kranke fürchtete die Bluttempler so sehr, dass er lieber
sterben wollte, als zu reden. Dass er über die ihm gestellten Fragen nachdachte, konnte er allerdings nicht verhindern. Rein äußerlich war nicht zu erkennen, wie Navok in die Gedanken des Söldners drang. Einem unbedarften Beobachter musste es scheinen, als würde er nur den Kopf des Mannes fixieren. In Wirklichkeit rangen jedoch ihre Geister lautlos miteinander. Es war ein ungleiches Kräftemessen, in dem nur einer als Sieger hervorgehen konnte. Gut zwanzig Sekunden lang presste Navok seine Fingerspitzen gegen die Schläfe des Söldners und stellte seine Fragen. Dann richtete er sich auf und betrachtete beide Hände, als verspürte er das dringende Bedürfnis, sie zu waschen. "Radek!" So wie er den Namen des Degenmeisters aussprach, klang es wie ein Fluch. "Ausgerechnet Wladirs Liebling." Matt fühlte sich wie vom Donner gerührt. "Ihr beide kennt euch?", fragte er überrascht, um dann zu präzisieren: "Ich meine, zwischen euch gibt es einen persönlichen Zwist? Das kann ich mir kaum vorstellen. In Moskau hatte ich einen guten Eindruck von ihm." "Natürlich." Navok entschloss sich, beide Hände an der Kutte abzuwischen. "Dich betet Radek auch an, mich will er töten." Ohne den haltlos schluchzenden Barbaren eines Blickes zu würdigen, wandte sich Navok ab. Bevor er gehen konnte, musste Aruula erst aus der Tür treten, um Platz zu schaffen. Matt wartete dagegen, bis Navok und Graz an ihm vorbei waren, um sicher zu stellen, dass dem Gefangenen kein weiteres Leid geschah. Die tiefe Angst des Mannes erregte sein Mitgefühl, auch wenn er es vielleicht nicht verdient hatte. Auf dem Flur angekommen, zog Matt die Tür hinter sich zu und folgte den anderen. "Konntest du noch mehr erfahren?", fragte er Navok.
"Die anderen beiden sind mir ebenfalls bekannt. Vukov und Rraal. Wie es scheint, hat Radek sie in der Hierarchie überholt. Kein Wunder, er war schon als Adept sehr begabt." "Ist er dir überlegen?", wollte Aruula wissen. Navok wiegte nachdenklich den Kopf. "Vielleicht", antwortete er mit einem leisen Lächeln. "Aber ich habe die größere Erfahrung." Matt scherte es nicht, welcher der beiden Nosfera stärker war. Er hoffte immer noch, zwischen ihnen vermitteln und eine friedliche Lösung herbeiführen zu können. "Was ist mit dem Versteck der Drei?", fragte er deshalb. Ein Schatten verdunkelte den Anflug von Navoks guter Laune. "Die Söldner wurden von einem ehemaligen May'jor der Rojaals rekrutiert. In einem der Gedankenfetzen konnte ich das Haus sehen, in dem er residiert. Es muss irgendwo in Plymeth stehen, doch die hiesigen Ruinenfelder sind groß. Bisher ist es mir unbekannt. Sobald sich der Barbar wieder beruhigt hat, werde ich ihm noch einmal zusetzen müssen. Im Augenblick hat es keinen Zweck mehr. Seine Frucht überdeckt die Erinnerungen." Matt war bei dem Gedanken, dass Navok dem Kranken erneut zusetzen wollte, nicht wohl zumute. "Ein zweites Verhör wird nicht nötig sein", versicherte er schnell. "Es gibt leichtere Wege, dieses Haus ausfindig zu machen. Wir müssen nur die Möglichkeiten der Technik nutzen." * Auf dem Weg zum EWAT begegneten sie den drei Nosfera, die sie vor dem aufgebrachten Mob gerettet hatten. Der Sonnenbrand auf ihrer Haut verheilte dank einiger spezieller Salben aus der Explorer-Bordapotheke schneller als gewöhnlich.
Looigi, der Älteste des Trios wollte nun in ihr Stadt-Quartier zurückkehren, um das Gepäck zu holen. Seine Söhne blieben dagegen in der Festung, um sich weiter auszukurieren. Looigi bedankte sich noch einmal bei allen überschwänglich für die Rettung aus höchster Not. Dann stapfte er winkend von dannen. Aufsteigende Frühnebel verschluckten seine Konturen schon nach wenigen hundert Metern. An Bord sprach Matt seinen Plan zuerst mit der Kommandantin ab und suchte danach Corporal Farmer auf. "Wir brauchen einige Luftaufnahmen, um ein bestimmtes Haus zu findig", erklärte er. "Vermutlich steht es am Rand des bewohnten Zentrums, vielleicht aber auch weiter außerhalb." "Kein Problem", versicherte der Aufklärer. "Meine kleinen Lieblinge brauchen sowieso etwas Bewegung." Pfeifend schritt er zu den Käfigen im Laderaum, um die dressierten Kolkraben freizulassen. Die handzahmen Tiere trauten sich erst nicht heraus, weil sie den Geruch einer Taratze witterten. Erst als Graz nach draußen verschwand, sammelten sie sich auf einer speziell dafür vorgesehenen Haltestange und spannten die Flügel, als müssten sie noch den Schlaf aus ihren Federn schütteln. Zwischen ihrem schwarzen Brustgefieder wurde dabei ein unnatürlichen Schimmer sichtbar, der sich bei genauerer Betrachtung als leicht konvexer, undurchsichtiger Kristall entpuppte. Nicht größer als eine Zehn-Cent-Münze und von graublauer Färbung, enthielt er eine Miniaturkamera mit einer Speicherkapazität von mehreren Stunden sowie ein lokales Funksystem, das die Aufzeichnungen bis auf eine Entfernung von zehn bis maximal fünfzehn Kilometern an die Explorer übertragen konnte, je nach der Intensität der CFStrahlung. Insgesamt vier Raben standen zur Verfügung: Digger 1, 3, 4 und 6. Digger 2 und 5 waren der gefräßigen Tierwelt dieses Jahrhunderts zum Opfer gefallen.
Die Kolkraben flatterten durch das offene Schott davon. Anfangs kreisten sie über dem EWAT, bis ihnen Corporal Farmer per elektrischen Impuls ein zuvor berechnetes Suchmuster übermittelte. Die leichten Stromstöße des implantierten Chips wirkten direkt auf das neurale System der Vögel. Dank der entsprechenden Dressur wussten sie anschließend, welches Ziel sie ansteuern mussten. Über einige Bildschirme, die sich um den Platz des Aufklärers gruppierten, konnte man ihre Route lückenlos verfolgen. Navok wurde ein freier Platz zugewiesen. Obwohl ihm die moderne Übertragungstechnik unbekannt war, nahm er die Aufnahmen ohne großes Erstaunen hin. Vielleicht hielt er das Ganze für eine besondere Form der Magie, die anderen so selbstverständlich war wie ihm der Lauschsinn. Vielleicht scherte es ihn aber auch einfach nicht, woher die Bilder stammten, solange sie nur dabei halfen, seine Feinde ausfindig zu machen. Geduldig verfolgte er, wie die Raben das Hafenviertel erreichen und von dort aus Planquadrat für Planquadrat absuchten. Graz hielt in der ganzen Zeit vor dem EWAT Wache, bereit, jeden Unbefugten, der sich dem Flugpanzer näherte, mit bloßen Pranken zu zerreißen. Drei Stunden vergingen auf diese Weise. Die Morgennebel lösten sich auf und die Sonne erreichte schon fast ihren Zenit, als Navok erfreut aufschrie. "Das ist es! Dieses Gebäude dort! Genau wie in der Erinnerung des Söldners!" Andrew Farmer eilte sofort herbei, um die Stelle zu lokalisieren. Anhand der zuvor gesammelten Aufnahmen besaß er bereits ein umfassendes Luftbild, auf dem sich problemlos ein Weg vom Hafen bis zu dem Versteck der Bluttempler finden ließ.
Navoks angespannte Gesichtszüge glätteten sich. "Endlich", seufzte er erleichtert. "Endlich kann ich den Spieß umdrehen. Von nun an bekommt es Radek mit mir persönlich zu tun." * Um keine Zeit zu verlieren, überwanden sie die Entfernung mit allen Andronen, die den Stallungen der Festung zur Verfügung standen. Corporal Farmer begleitete den gut fünfzig Mann starken Tross auf dem Rücken einer Riesenameise, den er sich mit drei Barbaren teilen musste. Allzu wohl war ihm dabei nicht in seiner Haut, das war deutlich zu sehen, doch er hielt sich beachtlich. Äußerlich unscheinbar, steckte in ihm ein tapferer Kerl, der sich noch dazu freiwillig zu diesem Unternehmen gemeldet hatte. Offiziell besaß die Mannschaft der Explorer keine Handhabe, sich in den inneren Zwist nicht verbündeter Barbaren - so der amtliche Community-Sprachgebrauch einzumischen. Aus diesem Grunde hatte Captain McDuncan vor einem Einsatz des EWATs gewarnt, den Matt aber sowieso ausgeschlossen hatte. Schließlich wollte er die Bluttempler gefangen nehmen, nicht mitsamt des ganzen Gebäudes in Schutt und Asche schießen. "Nur noch zwei Häuserzeilen, dann sind wir da." Andrew Farmer sah von dem Trilithium-Rechner in seiner Hand auf. Auf dem kleinen Display waren zwei noch kleinere Fenster zu sehen, mit denen er die Aufnahmen von Digger 1 und Digger 6 verfolgte. Die knapp zweihundert Meter entfernt kreisenden Kolkraben waren schon mit bloßem Augen zu erkennen. Navok gab ein weithin sichtbares Handzeichen, um den Tross zu stoppen. Um sie herum überwogen längst die überwucherten Ruinen. Nur vereinzelte Rauchsäulen kündeten von, nun ja, zivilisiertem Leben. Wenn man denn die notdürftig
hergerichteten Räume, die nicht viel mehr Komfort als eine Steinzeithöhle boten, als zivilisiert bezeichnen mochte. Die meisten, die hier hausten, waren zu schwach oder zu faul, um sich etwas Besseres zu suchen. Oder sie verweilten hier, weil die Stadtwache für gewöhnlich einen großen Bogen um diese Gegend machte. Genau aus diesem Grund hatte sich May'jor Nordon auch in der nahe gelegenen Ladenzeile eingenistet. In einem einsam stehenden Haus, das einmal eine Bäckerei beherbergt hatte. Wohl ein Familienunternehmen, wie die verrotteten Lettern MILLER & SON vermuten ließen. Die Andronen brachten sie in einer dachlosen Ruine unter. Nur vier Mann als Wache zurücklassend, schwärmten sie aus, um das anvisierte Ziel weiträumig zu umkreisen. Jeder einzelne von Navoks Getreuen, gleich welchen Geschlechts, hatte im Laufe der letzten Jahre Dutzende ähnlicher Unternehmungen mitgemacht. Es bedurfte keiner großen Anweisungen, damit sich alle gleichmäßig verteilten und den Ring unauffällig enger zogen, bis keine Ratze mehr unbemerkt entkommen konnte. Im Anschleichen geübt, kreisten sie das Gebäude ein und warteten geduldig auf das Signal zum Angriff. Matt hielt sich dicht bei Corporal Farmer, der von allen Beteiligten die wenigste Kampferfahrung besaß. Gemeinsam verfolgten sie auf dem T-Rechner, wie die Barbaren vorgingen. Aus der Vogelperspektive war zu erkennen, dass sie perfekt aufeinander eingespielt waren. Navok war nicht nur ein guter Kämpfer, er verstand es auch, andere auszubilden. "In der ganzen Zeit hat sich niemand an Fenster oder Türen blicken lassen", flüsterte Corporal Farmer, der sich auf einen Stein niederließ, um seine Kolkraben neu zu instruieren. "Entweder schlafen die alle noch, oder sie sind längst ausgeflogen." Dass kein Rauch aus dem behelfsmäßigen Schornstein quoll, gab auch Matt zu denken. Andererseits waren die Winter
in diesen Breitengraden nicht mehr so kalt, dass tagsüber geheizt werden musste. "Hoffen wir das Beste", machte er sich selber Mut, während Digger 3 vor dem ehemaligen Schaufenster landete. Auch nach über fünfhundert Jahren klemmten noch einige Glassplitter im Rahmen. Die Masse der Scherben war jedoch längst aus der Bäckerei entfernt worden. Dafür lag Heu und Stroh auf dem Boden. Als Digger 3 ins Innere hüpfte, entdeckte Matt einen mit Regenwasser gefüllten Trog, der nichts anderes war als eine rosa emaillierte Badewanne. Aus der Rückwand ragten eingeschlagene Eisenringe, die zum Anleinen dienten. Ein Stall! Nur die dazugehörigen Reittiere fehlten. "Mist", fluchte der Mann aus der Vergangenheit. "Jetzt mache ich mir doch langsam Sorgen. Bleiben Sie bitte hier, Corporal, und rühren Sie sich nicht von der Stelle, während ich Navok Bescheid gebe." Farmer nickte sein Einverständnis. Er war Realist genug, um einzusehen, dass er den anderen beim Kampf nur im Wege stehen würde. Navok hatte längst einen guten Aussichtsplatz im zweiten Stock eines leer geräumten Supermarktes gefunden. Hier drinnen war nicht einmal ein einziges Regalbrett zurückgeblieben. Nur gähnende Leere auf einhundertfünfzig Quadratmetern. Matts Schritte hallten über feuchten, mit Pfützen bedeckten Beton, als er zu dem Nosfera aufschloss. "Kannst du da drüben etwas Verdächtiges entdecken?", fragte er. Navok verneinte, bevor er hinzufügte: "Leider spüre ich auch nicht das Geringste. Aber das muss nichts heißen. Radek und seine Begleiter sind in der Lage, meinem Lauschsinn zu entgehen." Unter ihnen, auf der mit Unrat übersäten Straße, ließ sich weder Mensch noch Tier blicken. Der Aufmarsch der ExSklaven war nicht unbemerkt geblieben. Die Nachbarschaft
wusste, dass etwas bevorstand, und hielt nun den Atem an, bis die Gefahr vorüber war. Navok warf einen letzten Blick auf das vor einigen Jahrzehnten weiß gekalkte Haus, das mit seiner Dachzisterne, den stabilen Fensterläden und dem Stall durchaus gehobenen Ansprüchen genügte. "Was soll's?", knurrte er. "Indem wir hier herum stehen, finden wir's auch nicht heraus." Zusammen mit Graz und Sigur eilte er die Treppe hinab. Matt und Aruula folgten ihm auf dem Fuße. Als Navok ins Freie trat, schlossen sich ihm weitere Getreue an, um ihn erneut mit Schildern und dem eigenen Leib nach allen Seiten abzuschirmen. Schrille Pfiffe gellten durch die Luft. Das Zeichen zum Angriff. Sofort sprangen auch die Letzten aus ihrer Deckung und rannten mit gezückter Klinge auf das Haus zu. Laut schreiend einige, verbissen schweigend die anderen. Von allen Seiten drangen sie in das Gebäude ein - ohne auf Widerstand zu stoßen. Matt und Navok gehörten zu den ersten, die ins obere Stockwerk gelangten. Bereits auf der Treppe schlug ihnen ein süßlicher Geruch entgegen, der das Schlimmste ahnen ließ. Ein rückwärtiges Zimmer mit Balkon bestätigte, was Matthew schon auf den letzten Stufen befürchtet hatte. Sie stießen auf ein Bild der Verwüstung. Das Mobiliar lag zerschlagen im Zimmer. Schränke, Tische und Hocker waren nur noch als Feuerholz zu gebrauchen. Mit tönernen Krügen und Bechern sah es nicht besser aus. Dazwischen lagen zerrissene Kleidung und einige verbeulte Rojaal-Helme mit aufgemalten Zahlen. Und dann gab es natürlich noch die vier Männer, die alle keines natürlichen Todes gestorben waren. Zwei von ihnen hingen mit durchschnittenen Kehlen kopfüber von der Decke. Ihre Füße waren mit festen Stricken an eiserne Haken
gebunden. Unter ihnen auf dem Boden vereinigten sich zwei Blutlachen zu einer großen roten Pfütze, die aber bei weitem nicht der ausgetretenen Menge entsprach. Offensichtlich war ein Teil davon getrunken worden. Dafür sprachen auch die Bißmale an den Hälsen der Toten. Die beiden anderen lagen wie schlaffe Gliederpuppen vor der frei geräumten Innenwand. Ihr Blut war dazu benutzt worden, eine Reihe von kyrillischen Schriftzeichen auf den nackten Stein zu malen. Es war ein längerer Text, der etwas zu bedeuten haben musste. Selbst Navok, dem Blut Genuss bereitete, schüttelte es bei diesem Chaos. Nicht wegen der Toten; das waren Rojaals und Sklavenhändler, die es seiner Meinung nach nicht anders verdient hatten. Doch die Nachricht, die ganz speziell für ihn hinterlassen worden war, schien Übelkeit in ihm auszulösen. Langsam, Schritt für Schritt ging er näher heran. Ruhelos glitten seine Augen über die verlaufenen, frisch glänzenden Zeichen, bis er gedankenverloren nickte und sich umdrehte, sein Gesicht eine Maske aus Stein. "Was steht dort?", fragte Aruula. "Nichts Wichtiges", antwortete der Nosfera. "Nur religiöser Unsinn." Aruulas Gesicht verfinsterte sich. Sie glaubte ihm kein Wort, auch wenn sie nicht das Gegenteil beweisen konnte. Bei Navok versagten ihre telepathischen Fähigkeiten. Er verstand es, sich gegen sie abzuschirmen. "Dort steht, dass ich des Todes bin", führte er weiter aus, um ihren Ärger zu mildern. "Falls Radek und seine Vasallen scheitern, werden andere kommen. Das übliche eben." Matt spürte einen kalten Eiszapfen, der langsam über sein Rückrat wanderte. Ihm fröstelte angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der hier vorgegangen wurde. Immerhin war Radek kein Unbekannter, sondern ein Mann, der Aruula
und ihm das Leben gerettet hatte. Was musste nur vorgefallen sein, dass er Navok mit solchem Hass verfolgte? "Woher wussten sie, dass wir ihnen so dicht auf den Fersen waren?", sprach Matt aus, was ihm schon seit einigen Minuten auf der Zunge lag. Die Anspannung wich aus Navoks Gesicht. "Sicher hat Radek auf dem Marktplatz erlauscht, dass einer der Söldner überlebt hat", mutmaßte er. "Vielleicht sollte uns dieses Blutbad aber auch nur anlocken. Sie hätten dann schon dafür gesorgt, dass wir irgendwie Wind davon bekommen." Knurrend stieß er den hölzernen Laden der Balkontür auf und trat furchtlos ins Freie. "Vermutlich haben sie sich irgendwo in der Nähe vor Freude über unser Auftauchen auf die Schenkel geschlagen." "Dann komm lieber wieder rein", schlug Matt vor. "Nicht nötig." Navoks Hände umkrampften die morsche Brüstung, bis sie zwischen seinen Fingern zerfiel. "Die sind schon längst unterwegs." Matt verstand nicht. Aruula umso besser. "Unterwegs wohin?", fragte sie erschrocken. Der Nosfera drehte sich mit brennenden Augen zu ihr um. "Ich denke da an eine Festung, die wir beinahe schutzlos zurückgelassen haben..." * "Reichen Sie mir bitte mal die braune Soße", bat Selina McDuncan. "Natürlich, Captain." Peter Shaw griff in das kleine Seitenfach und stellte die Flasche auf den Tisch. Gewürze gehörten zur Grundausstattung eines jeden EWATs, ebenso wie Mikrowelle und Teebeutel. Irgendein Feldherr aus den Zeiten lange vor dem Kometen hatte einmal gesagt, eine
Armee marschiere auf ihrem Magen, und die Wissenschaftler der Community hatten sich diese Äußerung zu Herzen genommen. Die Feldrationen, die sich in einem verschließbaren Regal stapelten, schmeckten besser als die meisten Gerichte, die in der Gemeinschaftskantine serviert wurden. Und definitiv besser als der Fraß, den sie in der Festung essen, dachte Shaw und spülte seine Steak-Nieren-Pastete mit einem Schluck Tee herunter. Er und Captain McDuncan waren in den EWAT ausgewichen, bevor einer der Ex-Sklaven auf die Idee kommen konnte, sie zu dem einzuladen, was sie beschönigend als Mittagessen bezeichneten. Shaw hatte nur einen Blick auf den Kessel geworfen, der im Kamin an einer Eisenstange hing, und sich schaudernd abgewandt. Dinge schwammen darin, formlose Gebilde, die zwischen Fettaugen und Gemüsefetzen wie Seeungeheuer aus einem Ozean auftauchten, um einen Herzschlag später wieder darin zu verschwinden. Mochte der Teufel wissen, was Corporal Bolton dazu bewog, dieses Zeug zu essen. Er war jedenfalls Captain McDuncan dankbar, dass sie irgendeine unsinnige Ausrede erfunden und sich mit ihm in den EWAT zurückgezogen hatte. "Es ist eine Schande, dass es so etwas in England gibt", sagte McDuncan zusammenhanglos. Shaw hob die Augenbrauen. "Dass es was genau gibt?" "Sklaverei. Wir sollten etwas dagegen unternehmen, nicht nur zusehen, wie dieser Navok die Sklavenhändler bekämpft." "Meinen Sie, wir sollten jetzt etwas dagegen tun?", fragte Shaw. "Damit wären wir, denke ich, etwas überfordert." McDuncan schob ihren Teller weg und stand auf. "Nein, natürlich nicht jetzt sofort, aber die Communities sollten etwas unternehmen. Bis jetzt konnten wir uns bequem hinter unserer Immunschwäche verstecken, aber jetzt haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, diesen Leuten zu helfen und so etwas wie Recht und Gesetz zurück ins Land zu bringen."
Sie klappte den Stuhl in die Wand, um Platz zu schaffen. Die Kabine war nicht groß, aber so gut konstruiert, dass man sie mit nur wenigen Handgriffen in einen Ess- oder Schlafraum verwandeln konnte. "Dieses Land war immer schon ein Vorreiter der Freiheit", fuhr McDuncan fort. "Denken Sie nur an die Magna Charta, Lieutenant. Einer solchen Tradition sind wir verpflichtet." "Ja, Captain", antwortete Shaw und unterdrückte ein Gähnen. McDuncan war eine fähige und pragmatische Offizierin, neigte jedoch manchmal zu Monologen. Er blickte an ihr vorbei in den Laderaum. Obwohl es kalt draußen war, hatten sie die Schleuse geöffnet, um frische Luft in den EWAT zu lassen. Eine Wohltat. Und ein Luxus von ungeahntem Ausmaß. Erst seit wenigen Monaten, genauer: seit Commander Drax und Mr. Black das Serum in die Community gebracht hatten, waren sie dazu in der Lage. Die klare ungefilterte Luft, die Shaw auf der Zunge schmeckte, erschien ihm noch immer als etwas Wunderbares. Selina McDuncan ging es wohl ähnlich, denn sie beschwerte sich nicht über die Kälte. Auf einem der Bildschirme, die die Aufnahmen der Außenkameras übertrugen, sahen sie zwei vermummte Nosfera, die ruhigen Schrittes näher kamen. Die beiden Jungs aus der Festung, die unter schwerem Sonnenbrand litten. Noch so eine Ungerechtigkeit, die sie zum Glück verhindern konnten, bevor das Schlimmste eingetreten war. "Sklaven", sagte McDuncan kopfschüttelnd und goss ein wenig Milch in ihren Tee. "Was für eine Barbarei. Wir müssen auch den Menschen oben im Norden klar machen, dass es falsch ist, andere Menschen wie Vieh zu halten und in Gladiatorenkämpfen aufeinander zu hetzen. Wenn wir wieder in London sind, sollten wir die Octaviane bitten, über diese Angelegenheit zu beraten. Es gibt schließlich..." Sie sagte noch mehr, aber Shaw nahm ihre Worte nicht mehr wahr. Wie gebannt starrte er auf die lange polierte
Schwertklinge, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sich jetzt auf McDuncans Rücken richtete. "... wir müssen dafür sorgen, dass unser Wissen kein Monopol wird, das wir hüten und..." "Captain", sagte er leise. Seine Hand tastete zur Waffe an seiner Hüfte, berührte sie jedoch nicht. Die Klinge war nur wenige Zentimeter von McDuncan entfernt. Eine blasse, mit tiefblauen Adern durchzogene Hand hielt den Griff fest. Der Rest der Gestalt war hinter dem Türrahmen nicht zu erkennen. "... hat jeder das Recht dazu. Sogar die Lords konnten wir..." "Captain!" Erst jetzt reagierte McDuncan auf seinen Blick. Sie drehte sich um und wich hastig einen Schritt zurück. "Die Waffen weg", sagte eine Stimme hinter dem Schott. Sie gehörte keinem der Knaben, so viel stand fest. "Werft sie auf den Boden." Der zweite Nosfera erschien in der Kabine. Er zog eine Armbrust unter der Kutte hervor und richtete sie auf Shaw. Seine Hände waren ebenso bleich und von Adern durchzogen wie die des Schwertträgers. Bluttempler, dachte Shaw. "Folgen Sie dem Befehl, Lieutenant", sagte McDuncan. Ihre Waffe fiel zu Boden. Shaw löste seine nach kurzem Zögern. Er zuckte zusammen, als sie polternd aufschlug. "Schiebt sie mit dem Fuß zu uns", sagte der Schwertträger. Er hatte eine unangenehm leiernde Stimme. Die Armbrust des anderen Nosfera bewegte sich um keinen Zentimeter, blieb auf Shaws Brust gerichtet. Beide Waffen rutschten in Richtung Durchgang. Der Schwertträger trat sie auf die Schleuse zu und vielleicht sogar hinaus. Das war in der Kabine nicht zu erkennen. "Wer sind Sie und was wollen Sie?", fragte McDuncan. Die emotionslose Translatorstimme übersetzte weder ihre
Verärgerung noch den Schock, der in ihrem Tonfall durchklang. Die beiden Nosfera ignorierten die Frage. Der Schwertträger, wohl der Wortführer, beschrieb einen Kreis mit der Klinge, als wolle er den EWAT halbieren. "Bringt es zum Fliegen und lebt", sagte er, "oder bleibt am Boden und sterbt. Trefft eure Wahl." Shaw sah McDuncan an. Sie blickte zurück und nickte. "Wir fliegen", sagte sie. * Sie erreichten die Festung gerade noch rechtzeitig, um den Start mitzuerleben. Beinahe quälend langsam, nur mit einem Bruchteil der möglichen Geschwindigkeit, zog der EWAT davon. Wo sie eben noch gestanden hatte, graste nun eine herrenlose Androne, vermutlich aus dem Stall der alten Bäckerei. Matt ahnte sofort, dass da etwas nicht stimmte, und versuchte die Besatzung mit dem Funkgerät zu erreichen. Nach einigen vergeblichen Rufzeichen drang tatsächlich Captain McDuncans Stimme aus dem Äther. "Ich muss ihnen leider mitteilen, dass wir von einigen Nosfera überrumpelt wurden", erklärte sie knapp. "Unser Ziel ist bislang unbekannt, aber ich hoffe, wir fliegen nicht bis zur Yoshiro Anweisung 5." Im Hintergrund erklang eine wütende Stimme im charakteristischen Tonfall der russischen Barbaren. Die Übersetzung durch Selinas Translator wurde nur undeutlich übertragen, doch sie wiederholte gleich darauf: "Ich höre gerade, ich soll nicht so viel quatschen, sondern ausrichten, dass wir und unser fliegendes Rohr so lange festgehalten werden, bis der Sohn der Finsternis dieses Gebiet verlässt."
Weitere Anweisungen unterbrachen ihre Rede. Gleich darauf ertönte ein Knacken. Danach gab es nur noch atmosphärische Störungen zu hören. Matt fluchte herzhaft. Navok enthielt sich jedes Kommentars. Dafür meldete sich Corporal Farmer zu Wort. "Diese Yoshiro Anweisung Nr. 5...", begann er zaghaft. "Ja?" Matts Frage fiel heftiger aus als beabsichtigt, doch Farmer ließ sich davon nicht beirren. "... sie besagt, dass bei einem terroristischen Akt, wie der Kaperung eines EWATs, aktiver Widerstand zu leisten ist. Jede Möglichkeit muss genutzt werden, die Angreifer auszuschalten. Captain McDuncan wird sich daran halten." Farmer war deutlich anzusehen, dass er gerade an die ausgebluteten Leichen der Sklavenhändler dachte. Wenn Radek schon so mit seinen Verbündeten umging... Matt nickte düster. "Wie es scheint, läuft bereits der passive Widerstand an. Die Explorer fliegt nur mit zwanzig Prozent ihrer Kapazität. Auf diese Weise können wir sie leicht verfolgen." "Am besten mit einigem Sicherheitsabstand", fügte der Corporal hinzu und begann, ohne eine weitere Erklärung abzugeben, auf der Tastatur seines T-Rechners herum zu hämmern. Die über ihnen kreisenden Kolkraben nahmen daraufhin eine neue Formation an und flogen dem entschwindenden EWAT nach. Entwischen würde ihnen das Gefährt also schon mal nicht. "Ich stelle dir sofort frische Frekkeuscher und weitere Krieger zur Verfügung", bot Navok an. "Gegen Radek und seine Bande kommen wir nur mit einer geballten Übermacht an." Um die Angelegenheit zu beschleunigen, machte er sich persönlich auf den Weg in die Festung. Graz wollte ihm folgen, doch Navok wies ihn in ungewöhnlich scharfer Form zurück.
"Bleib bei Maddrax und Aruula", befahl er. "Du siehst doch selbst, dass sie mehr Schutz benötigen als ich!" Matt erlebte zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen, dass der Nosfera derart heftig reagierte. Auch auf den Gesichtern seiner Anhänger zeichnete sich Überraschung ab. Die Ereignisse der letzten Tage mussten ihn stärker angegriffen haben, als alle dachten, wenn seine Nerven derart blank lagen. Graz schüttelte verwirrt den Kopf, trottete dann aber mit hängenden Ohren zu Matt und Aruula. In diesem Moment gab es wohl niemanden, der nicht Mitleid mit dem treuen Tier verspürte. Selbst Aruula, die sonst eine starke Abneigung gegen die Spezies der Riesenratten besaß. Die ganze Situation war jedoch viel zu prekär, um sich lange mit Gefühlsduseleien aufzuhalten. In den nächsten Minuten ging es nur darum, die erschöpften Andronen gegen die schnelleren Riesenheuschrecken auszutauschen und alles startbereit zu machen. Corporal Bolton war einer der Ersten, der sich zu ihnen gesellte. Navok kehrte schnell aus dem alten Hotel zurück. Vielleicht etwas zu schnell. Seine unerklärliche Wut schien immer noch nicht verraucht zu sein. Ohne Graz eines Blickes zu würdigen, stieg er auf einen bereitstehenden Frekkeuscher und gab Matt ein Zeichen, dass er die Verfolgung leiten sollte. Der Pilot, der schon ungeduldig im Sattel herum rutschte, reagierte sofort. Während Aruula sich von hinten an ihm festklammerte, schlug er dem Tier die Hacken in die Flanken. Sekunden später stieß es sich auch schon mit den gewaltigen Sprungbeinen ab und eilte der Explorer hinterher, die nur noch als dunkler Punkt am Horizont auszumachen war. *
Vukov war es noch nie so schwer gefallen, sich zu konzentrieren. Das dumpfe Wummern des Fluggeräts kitzelte in seinem Magen und irritierte seine Ohren. Überall in dem Raum hoch in der Luft blitzte und leuchtete es. Fremde Geräusche und Gerüche, Worte, die er nicht verstand und das seltsame Gefühl, über der Welt zu schweben, lenkten ihn vom dem ab, was eigentlich seine Aufgabe war: die Bewachung der Gefangenen. Er stand hinter dem Sitz und richtete die Degenklinge auf den Nacken der Frau. Rraal stand ein Stück hinter ihm, unmittelbar neben der geschlossenen Tür. Selbst wenn es den Fremden gelingen sollte, sich gegen den Degen zu wehren, würden sie an der Armbrust scheitern. Die Entfernung zur Tür war zu groß, Rraal zu gut. Vorausgesetzt er passte auf, was er im Moment jedoch nicht zu tun schien. Vukov ertappte ihn dabei, wie er immer wieder durch die Kuppel nach draußen sah. Die Frau, die anscheinend Ceeptn hieß, sagte etwas. "Wir haben die Stadt verlassen", hörte Vukov einen Lidschlag später. Er wusste nicht, wie die Magie der körperlosen Stimmen funktionierte. "Gut", antwortete er. "Fliegt weiter nach Norden." "Es wäre einfacher, wenn wir wüssten, wohin genau ihr wollt." Luutenent, der Mann, drehte den Kopf und sah Vukov an. Ein Knurren und ein Heben der Klinge brachten ihn dazu, sich sofort wieder nach vorne zu drehen. "Das werdet ihr früh genug erfahren." Schweigen legte sich über das Fluggerät. Vukov entging nicht, dass Ceeptn und Luutenent sich immer wieder Blicke zuwarfen, so als schmiedeten sie einen Plan zu ihrer Befreiung. In diesem Moment wünschte er sich Radeks Gabe, in die Gedanken der Menschen zu schauen, doch leider war ihm diese Magie nicht vergönnt. Er musste sich mit dem Wissen und der Fertigkeit eines Kriegers und Bluttemplers begnügen.
Unauffällig nahm er den Degengriff fester in die Hand. Es machte ihn nervös, dass sie über Gegenwehr nachdachten, obwohl sie doch eigentlich keine Chance hatten. War es möglich, dass er etwas übersehen hatte, eine Waffe vielleicht? "Guck mal", hörte er Rraal schräg hinter ihm sagen. "Von hier oben sehen die Andronen aus wie Holzspielzeug. Wenn..." Im gleichen Moment geschah es. Ein gezischter, unverständlicher Befehl, und die Welt kippte zur Seite. Vukov schrie auf. Mit einem Ruck wurde er von den Füßen gerissen und prallte schwer gegen die Wand. Oben war plötzlich unten, dann wieder oben. Ein Armbrustpfeil schoss an ihm vorbei und bohrte sich in die Lehne eines Sitzes. Er fiel, schlug auf dem harten Boden mit dem Kopf zuerst auf. Verschwommen sah er, wie die beiden Gefangenen die Schnüre lösten, mit denen sie sie an den Sitz gefesselt hatten. Luutenent trat nach Rraal und prellte ihm die Armbrust aus der Hand. Ceeptn griff nach dem Degen, den Vukov verloren hatte, ohne es zu bemerken. Todesangst brachte ihn auf die Beine. Ein Schritt genügte, um in Ceeptns Nähe zu gelangen. Sie hob den Degen und stach nach ihm, als hielte sie einen Speer in der Hand. Vukov wich mühelos aus. Sie war nicht geübt im Umgang mit der Klinge, und der Schlag, den sie zu führen versuchte, war langsam und ungeschickt. Er rammte ihr den Ellbogen in den Magen. Sie brach zusammen, krümmte sich und würgte. Vukov wandte sich von ihr ab und sah zu Rraal, der Luutenent die Spitze eines zerbrochenen Pfeils gegen den Hals drückte. Der Mann stand starr wie ein Baum neben ihm, wagte kaum zu atmen. In seinen Augen entdeckte Vukov die gleiche Todesangst, die er eben noch selbst gespürt hatte. Es war erstaunlich, wie schnell sich die Dinge manchmal änderten. "Wir werden euch nicht töten", sagte er, um die Situation zu entspannen. "Erzvater würde niemals dulden, dass wir die
Freunde des Sohns der Finsternis töten. Seid ihm dankbar dafür." "Das sind wir." Ceeptns Stimme klang heiser. Ihr Gesicht war fast so blass wie die seiner eigenen Art. "Wir sind ihm sehr dankbar." "Dann zeigt es, in dem ihr denen helft, die ihn verehren." Die beiden nickten, aber Vukov hatte nicht den Eindruck, dass sie es ernst meinten. Das war egal. Der gescheiterte Befreiungsversuch hatte ihnen den Kampfgeist genommen. Sie würden keine Schwierigkeiten mehr machen. Er blickte aus der durchsichtigen Kuppel auf die Landschaft, die unter ihnen vorüber glitt. Rraal hat Recht, dachte er. Von hier oben sehen die Andronen wirklich wie Spielzeug aus. * Da keiner der Frekkeuscher seine instinktive Furcht vor Graz ablegen konnte, musste er auf allen Vieren neben ihnen her rennen. Dabei legte er eine beachtliche Geschwindigkeit und Ausdauer an den Tag. Zwischendurch fiel er zwar ein wenig zurück, doch als sie eine Pause einlegten, um den Abstand zur Explorer zu wahren, schloss Graz wieder zu ihnen auf. Wie befohlen, suchte er die Nähe von Matt und Aruula, die seinen Schutz keineswegs benötigten. Graz sah das genauso. Er fühlte sich bestraft, ohne den Grund dafür zu verstehen. "Navok bössse auf michsss", flüsterte er so leise, dass Matt ihn kaum verstand. Danach sah Graz zu Navok hinüber, der sich gut zwanzig Meter entfernt aufhielt und überhaupt jeden Kontakt zu den anderen vermied. Graz konnte keine Erklärung dafür finden. Traurig reckte er den Hals, um seinen Herren wenigstens von weitem zu sehen. Sogar als der Wind drehte und ihnen plötzlich von vorne kalt
ins Gesicht schnitt. Sofort begann die Taratze mit kraus gezogener Nase zu schnuppern, als ob sie eine Witterung aufnehmen würde. Sekunden später sprang sie auf und hetzte zwischen den Frekkeuschern durch direkt auf Navok zu. Einige Sekunden lang sah es so aus, als wollte Graz zu einem Sprung ansetzten, um seinen Herren aus der Enttäuschung heraus anzufallen. Stattdessen bremste er jedoch ab und richtete sich auf den Hinterläufen auf. Es war nur eine Scheinattacke gewesen, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Voller Panik wich der Frekkeuscher zur Seite, während Navok die Arme schützend in die Höhe riss. Seine knochigen, blassgrauen Hände fuchtelten wild umher, als wollte er einen Schwarm lästiger Fleggen verscheuchen. Nicht unbedingt die Reaktion eines Kriegers. Genauso wie die tumbe Art, mit der er sich am Hals des Frekkeuscher festklammerte, um die Balance zu wahren. Graz sah das wohl ähnlich. Enttäuscht machte er auf den Hinterpfoten kehrt und hetzte davon, zurück auf dem Weg, den sie bisher genommen hatten. "Der Nosfera hat Angst", keuchte Aruula hinter Matthew auf. "So sehr, dass ich es bis hierher spüren kann." "Na ja, Navok ist eben auch nur ein Men...", begann der Matt, bevor ihm klar wurde, was seine Gefährtin eigentlich andeuten wollte. "Du meinst, du kannst plötzlich erlauschen, was er empfindet?", fragte er. Matt kam ein Verdacht, noch bevor Aruula ihn bestätigen konnte. Er zog ihren Frekkeuscher um die Hand und trabte auf Navok zu. Verfolgt von den Blicken der übrigen Krieger, hielten sie neben ihm an. Beschämt blickte der Nosfera zu Boden, doch das nutzte ihm nichts. Aruula langte schon nach seiner Kapuze und zog sie ihm - unter dem entsetzten Aufschrei der anderen - in den Nacken. Unter dem Stoff kam ein graues, von roten Flecken durchzogenes Totenkopfgesicht
zum Vorschein. Es gehörte einem der beiden jungen Männer, die an Sonnenbrand litten. "Lasst mich in Ruhe", flehte er ängstlich und versuchte seine empfindliche Haut mit den weiten Ärmeln der Kutte zu bedecken. "Ich habe nichts Böses getan. Nur den Wunsch unseres Gastgebers befolgt." Aruula ließ von ihm ab. "Was hat das zu bedeuten?", fragte sie, während der Nosfera seine Kapuze zurecht rückte. "Warum ist Navok heimlich in der Festung geblieben?" "Ich weiß es nicht", beteuerte der Mutant. "Er sprach nur von einer Herausforderung, die er annehmen müsste, um das Unheil von seinen Getreuen abzuwenden." Die in Blut geschriebene Botschaft im Versteck des May'jors! Das war ihre wahre Bedeutung. "So ein Dummkopf", schimpfte Matt. "Wieso lässt er sich auf so etwas ein?" "Weil sonst alles in Trümmer fällt, was ihm lieb und teuer ist", antwortete Aruula überraschend sicher. "Denk nur daran, wie das Zimmer des Rojaals ausgesehen hat. Das war Teil der Botschaft. Vielleicht sogar Teil eines Rituals, das nur Bluttemplern verständlich ist." Matt sah sie betreten an. Natürlich, darauf hätte er selbst kommen können. Doch einmal mehr war es die Barbarin, die sich besser in die archaische Gedankenwelt dieser Zeit hineindenken konnte. "Was machen wir jetzt?", fragte Sigur, der mit einigen anderen näher gekommen war. Matt sah zum Horizont. Wenn sie nicht aufpassten, verloren sie noch die Spur des EWATs. Durfte er das Leben der Besatzung aufs Spiel setzen, nur, um vielleicht ein anderes zu retten? "Es ist Navoks Entscheidung, das sollten wir respektieren", antwortete Aruula für ihn. "Er allein weiß, was wirklich
zwischen ihm und den Bluttemplern steht. Und er ist erfahren genug, das Richtige zu tun." Ihre Worte klangen vernünftig, trotzdem wusste unter den Kriegern niemand so recht, wie er reagieren sollte. Matt überließ die Entscheidung jedem selbst. Er hatte seine gefällt. Entschlossen trieb er den Frekkeuscher an und machte sich wieder auf den Weg. Andrew Farmer und Steve Bolton folgten ihm sofort. Dann Sigur und alle anderen. Wenn Navok wollte, dass sie den Menschen in dem fliegenden Rohr halfen, so wollten sie ihm diesen Wunsch erfüllen. So gab es nur einen, der zur Festung zurück eilte. Navoks Todesschatten. * Nachdem er alle verbliebenen Getreuen aus der Festung gewiesen hatte, sogar den verwundeten Barbaren, ging Navok in den Speisesaal und ließ sich auf dem hölzernen Thron nieder. Eine merkwürdige, beinahe unmenschliche Ruhe überkam ihn, während er, ein Bein über die Lehne geschwungen, auf das Unvermeidliche wartete. Es dauerte nicht lange, bis er Schritte hörte. Nicht mehr als ein kurzes Schaben von Leder auf stumpfem Marmor. Da trat Radek auch schon durch die gegenüberliegende Tür. Bekleidet mit einem Mantel, in dem die Insignien der Bluttempler mit rotem Faden eingestickt waren: zwei gekreuzte Degen. "Verräter oder nicht", sagte er mit einem Hauch von Bewunderung. "Immerhin hast du noch so viel Ehre im Leib, dich zum Duell zu stellen." Navok schnaubte verächtlich. "Was versteht einer von Erzvaters Speichelleckern schon von Ehre?" Radek ging nicht auf die Provokation ein.
"Weiß du eigentlich, dass dein Name nicht mehr in Moska genannt werden darf?", fragte er stattdessen. "Die Schande der Niederlage, die du über uns gebracht hast, kann nur mit Blut abgewaschen werden." Seine Rechte wanderte zum Degenknauf. "Schande?" Navok machte keine Anstalten, seine bequeme Position zu verlassen. "Nur weil ich das Gespinst aus Lügen zerrissen und Erzvaters Joch abgeworfen habe? Das war das Edelste, was ich je im Leben getan habe. Frag die Bewohner von Moska. Sie werden es dir bestätigen." Sein Gegenüber zuckte wie erhofft zusammen. "Du bist wohl auch noch stolz auf deinen Verrat?" Angewidert trat Radek einen Stuhl zur Seite, der ihn im Wege stand. Es waren nun keine fünf Schritte mehr bis zum Thron. Eine Leichtigkeit für einen Meister seines Faches. Navok spannte unwillkürlich die Muskeln. "Vor allem bin ich stolz darauf, dem Mörder meines Sohnes das Augenlicht geraubt zu haben", knurrte er böse. "Und glaub mir, ich habe nicht vergessen, welche Rolle du damals gespielt hast." Einen geschmeidigen Sprung später stand er auf beiden Füßen und hielt den Degen in der Hand. Radek zog im gleichen Moment blank. Lauernd umkreisten sie sich, die tödliche Klingenspitze jeweils auf den anderen gerichtet. Keiner sprach noch ein Wort, um Atem zu sparen. Eben schienen sie noch zu Granit erstarrt, einen Lidschlag später explodierten sie schon vor Bewegung. Der Schein der umliegenden Fackeln reflektierte auf ihren Klingen, die wie Blitze aufeinander zu schossen und sich funkensprühend kreuzten. Einmal. Zweimal. Gleich dreimal hintereinander. Da gab es kein vorsichtiges Abtasten, nein, sie wussten ohnehin, dass sie ebenbürtig waren. Nur kurz lösten sie sich voneinander, um eine neue Position einzunehmen,
dann ging es auch schon wieder los. Hauend und stechend, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Kampf auf Leben und Tod. * "Das ist weit genug", befahl der Nosfera, der von seinem Kameraden Vukov genannt wurde. Dabei deutete er auf ein freies, nur von Büschen und vereinzelten Bäumen bewachsenes Feld, auf dem weder Mensch noch Tier auszumachen war. Und schon gar kein Versteck oder eine Fluchtmöglichkeit der Entführer. Die Wahl des Landeplatzes schien völlig willkürlich zu erfolgen. Verwundert reduzierte Selina den Schub und nahm die Energie aus dem Magnetfeld, das sie in der Luft hielt. Langsam schwebten sie auf die Erde hinab. Einige fliehende Shassen sorgten für Lichtpunkte auf dem Taster, sonst blieb alles ruhig. Zwei Meter über dem Boden fuhr sie die Kettenschuhe aus. Lieutenant Shaw sah aus den Augenwinkeln herüber, doch sie dachte gar nicht daran, die Explorer auf einen Schlag absacken zu lassen. Ihr steckte noch das Fiasko mit der Seitenrolle in den Knochen. Nein, der nächste Versuch musste schon besser geplant sein. Sanft setzten sie auf. Eine Landung wie aus dem Bilderbuch. Die Degenspitze, die sie zuletzt im Nacken gefühlt hatte, löste sich von ihrer Haut. Selina atmete auf. "Sehr gut", lobte Vukov, als ob sie plötzlich alte Freunde wären. Arschloch. Natürlich behielt sie diese Wertung für sich. "Wie geht's weiter?", fragte sie stattdessen. Es dauerte nicht lange, bis der Translator übersetzt hatte. Die Antwort kam noch schneller. Sie bestand nur aus zwei Worten.
"Wir warten." Selina war bekannt für ihr ruhiges, ausgeglichenes Wesen, doch nun stand sie kurz davor, aus dem Pilotensitz zu springen, diesen Nosfera an seiner stinkenden Kutte zu packen und kräftig durchzuschütteln. Obwohl es in ihr brodelte wie in einem Vulkan, rang sie sich ein Lächeln ab. Vielleicht zog bei diesen Spinnern ja eine Portion weiblicher Charme? "Darf ich fragen, worauf?", flötete sie so süßlich, dass man den Zucker mit dem Hammer abklopfen konnte. Vukov sah auf sie herab. Ob belustigt, traurig oder hasserfüllt war unter der verdammten Kapuze nicht auszumachen. Er verstand es sehr gut, sein Gesicht stets im Schatten zu halten. Wenn er allerdings dachte, sie mit dieser Darth-Vader-Nummer einschüchtern zu können, täuschte er sich. Selina behielt das Lächeln auf den Lippen, als wäre es mit dem Messer eingeschnitzt. "Wir warten auf unsere Verfolger", bequemte sich Vukov endlich zu einer Antwort. Nun war sie doch einigermaßen überrascht. "Es wird sicher nicht sehr lange dauern", fügte er hinzu und beugte sich dabei weit genug vor, dass sie die Häme auf seinem hässlichen Gesicht sehen konnte. "Wir sind ja sehr langsam geflogen!" Verdammt. Wusste dieser Kinderschreck etwa, wie schnell der EWAT normalerweise flog? Und falls ja, warum hatte er dann nichts gegen die Verzögerung unternommen? Vukov machte nicht den Eindruck, als ob er Fragen dieser Art beantworten würde. Wortlos ließ er sich in einem freien Sessel nieder, ohne diesen verdammten Degen, mit dem er so geschickt umgehen konnte, aus der Hand zu legen. Während er Shaw und sie keine Sekunde aus den Augen ließ, starrte Rraal zur Kuppel hinaus. Das freie Feld verschaffte ihm eine gute Sicht. Er würde Commander Drax fast ebenso früh entdecken wie sie auf dem Lichtband des Tasters.
Gleichmütig legte Selina die rechte Hand auf das Sensorpad, mit dem die Energiezufuhr geregelt wurde. Der Nukleargenerator hing noch am Netz. Sie verfügten über volle Energie. Vorsichtig erhöhte sie die Spannung der indirekten Beleuchtung, beließ es aber bei der niedrigen Amperezahl. Ein leises Summen erfüllte den Raum, doch in dem Brummen des Generators fiel es gar nicht weiter auf. Dachte sie zumindest. "Hey, was machst du da?" Vukov stand plötzlich neben ihr. "Ich lasse Energie ab", log sie frech. "Ein EWAT funktioniert wie eine Dampfmaschine. Wenn sich zu viel Druck aufbaut, fliegt alles in die Luft." "Dampfmaschine?", fragte der Nosfera verständnislos. Selina schüttelte traurig den Kopf. Diese Typen wussten ja wirklich gar nichts vom Leben. "Schon mal Wasser in einem Topf gekocht, bis der Deckel zu klappern anfing?", versuchte sie es eine Spur einfacher. Vukov nickte. "So etwas in groß", erklärte sie. "Wenn hier nicht der Deckel klappern soll, muss ich Energie ablassen." Zum Beweis überschrieb sie eine Sicherheitsabfrage und speicherte Energie in einem Zwischenpuffer. "Siehst du?", fragte sie den Nosfera, der natürlich nicht zugeben wollte, dass er gar nichts sah. "In Ordnung", sagte er und setzte sich wieder. "Weitermachen." Und das tat sie. Ganz allmählich, damit nicht auffiel, dass es heller wurde, nahm sie weitere Leuchtkörper in den Kreislauf. "Sie kommen", meldete Rraal von seinem Ausguck. Selina sah auf die Monitore der Außenkameras. Tatsächlich. Da nahte eine ganze Horde von berittenen Riesenheuschrecken. Und wenn sie nicht alles täuschte, leuchtete über einem der blonde Schopf von Commander Drax!
"Bolton und Farmer", kommentierte Lieutenant Shaw seine eigenen Beobachtungen. Er hatte Recht. Ihre Corporals eilten ebenfalls zur Hilfe. "Da ist ein Nosfera bei ihnen", gab Rraal an seinen Kameraden weiter. "Aber so wie der reitet, ist es nicht Navok." Vukov nickte zufrieden, als ob alles nach Plan verlaufen würde. "Wie geht es weiter?", wagte Lieutenant Shaw zu fragen. "Wie bisher", erklärte Vukov. "Wir warten." Drax und seine Mannen schienen anfangs unentschlossen, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich stieg der Commander ab und kam alleine herüber, offensichtlich in der Hoffnung, dass ihm die Bluttempler nichts antun würden. Damit lag er wohl richtig. Die beiden Nosfera beratschlagten nervös, ob sie einen neuen Landeplatz suchen sollten. Allerdings schienen beide nicht sonderlich scharf aufs Fliegen zu sein. "Kann Maddrax hier unerlaubt eindringen?", fragte Rraal plötzlich. "Nicht wenn ich ihm den Zugang verweigere", antworte Selina und machte sich flugs daran, das Außenschott für den manuellen Code freizugeben. "Hey, was machst du da schon wieder?" Misstrauisch stürzte Vukov heran, um ihr auf die Finger zu sehen. Sobald er sich auf der Konsole abstützte, setzte Selina die Energie aus dem Zwischenpuffer frei und erhöhte die Spannung so schlagartig auf 12.000 Volt. Ein hässliches Summen erfüllte die Kanzel, kurz bevor die Beleuchtungskörper unter der Überlastung platzten. Lieutenant Shaw riss die Arme vors Gesicht, in dem Wissen, was gleich passieren würde. Selina wartete hingegen völlig gelassen, bis der weiße Lichtblitz mit einem lauten Knall durch den Raum zuckte. Alle vier wurden von den faserigen Ausläufern berührt und zu Boden gestreckt.
Der Schmerz war nur kurz, aber intensiv. Jeder Muskel im Körper wurde gelähmt, sodass Selina aus dem Sessel rutschte, während sich die Ohnmacht wie ein schwarzen Tuch über ihr Bewusstsein legte. * Schlag folgte auf Schlag. Navok fintierte nach links und setzte dann zum Stich aufs Herz an, doch Radek ließ den Ausfall mühelos an seiner Klinge abgleiten. Ohne Vorwarnung kam der Gegenangriff. Die Klinge in Radeks Hand schien lebendig zu werden. Zischend durchschnitt sie die Luft, zuckte vor wie die giftigen Fänge eines Kraak. Navok hatte diese Attacke erwartet. Blitzartig schwang er die eigene Waffe in die Höhe, ließ sie gegen den heranrasenden Stahl prallen, und lenkte so den Stoß ins Leere. Fluchend sprang Radek zurück, um kurz darauf erneut auf seinen Gegner einzudringen. Wirbelnde Lichtreflexe zeichneten den Weg des warm geschlagenen Stahls, klirrende Funkenregen zeugten von dem harten Aufschlag der tödlichen Klingen. Die Auseinandersetzung währte bereits eine halbe Ewigkeit, und selbst der beste Fechter konnte mit den schweren Waffen nicht unablässig zuschlagen, ohne dafür seinen Tribut zu zahlen. Die vor Anstrengung schmerzenden Muskeln zeigten Anzeichen von Schwäche, erste Konzentrationsfehler traten auf. Leichte Treffer auf beiden Seiten waren die Folge, doch keiner der beiden beachtete die Schnittwunden. Sie waren nur ein paar weitere Narben in dem zerkratzten Geflecht, das ihre Haut überzog. Navok wich zurück, bis er eine Tischkante in seinen Waden spürte. Stehenbleiben konnte er nicht, das hätte seinen Tod
bedeutet. Also kippte er nach hinten über, schwang die Beine in die Höhe und vollführte eine klassische Rolle, an deren Ende er wieder auf den Füßen landete. Radek folgte ihm mit einem raschen Sprung, und schon ging der Kampf auf der Tischplatte weiter. Teller, Schüsseln und Kerzen, die im Wege standen, wurden ein Opfer ihrer schnellen, tänzelnden Bewegungen, mit denen sie ein ums andere Mal die Position wechselten. Funken stoben auf, als sich das blanke Metall knirschend ineinander verbiss. Die Vibration der Rückschläge ließ die Handflächen schmerzen, doch ihre trainierten Körper arbeiteten weiter mit der Präzision rotierender Mühlsteine. Der durch die Anstrengungen austretende Schweiß war das Wasser, das ihre Bewegungen fließend und geschmeidig hielt. Was Navok an Routine voraus hatte, ersetzte Radek durch Kraft und wilde Entschlossenheit. Die Macht des fanatischen Hasses gab ihm den unermüdlichen Arm eines Dämonen. Jede Kombination, jeder bekannte oder geheime Trick wurde angebracht. Oft waren es nur Instinkt und Reflexe, die vor den überraschenden Angriffen des anderen schützten. Dieses einsame Duell wäre eines großen Publikums würdig gewesen. Beide Männer kämpften in hervorragendem Stil. Anfangs gelang es nur selten, die Verteidigung des jeweils anderen zu durchbrechen. Bis Navok einen Hieb an der Stirn fühlte, dem ein klebriger Strom folgte, der seine Wange hinab lief. Radek brüllte auf. Zuerst aus Triumph, dann laut vor Wut heulend. "Verräter!", schrie er. "Ich hätte wissen müssen, dass man dir nicht trauen kann!" Navok hielt das zuerst für einen Trick, bis er das wütende Fauchen einer Taratze hörte, die wie ein schwarzer Blitz in den Saal zischte.
Graz! Guter, treuer Graz. Ließ sich einfach nicht abschütteln. Er musste das Duell schon einige Zeit aus dem Verborgenen heraus beobachtet haben und wollte sich nun, da er seinen Herren in Bedrängnis wähnte, auf Radek stürzen. "Bleib wo du bist!", herrschte ihn Navok an, denn so sehr ihm die Anhänglichkeit der Taratze imponierte, so durchkreuzte sie doch gerade seine Pläne. "Du entehrst mich, wenn du zu meinen Gunsten eingreifst!" Graz stoppte tatsächlich ab. Zitternd vor Aufregung sah er in die Höhe und zischte: "Ssseisss auf die Ehre, ichss will, dass diessser Kerl ssstirbt." "Nein", befahl Navok. "Was hier geschieht, geht dich nichts an. Du musst dich heraushalten, egal wie die Sache ausgeht. Hörst du?" Graz schüttelte unwillig den Kopf und stieß ein unartikuliertes Zischen aus. Das war seine Art, Dampf abzulassen. Nachdem er ein wenig getobt hatte, fügte er sich jedoch Navoks gestrengem Blick und trollte sich auf die Treppe in den ersten Stock. Radek, der das Ende des Disputs abgewartet hatte, schlug eine Acht in die Luft, bevor er rief: "Mach dir keine Sorgen um diesen wandelnden Pelz. Falls er mich nach deinem Tod angreift, steche ich ihn genauso ab wie dich!" Obwohl er sich vornahm, die Provokation zu ignorieren, spürte Navok, wie ihn der Zorn packte. "So weit wird es nicht kommen!", schwor er. Gleich darauf hallte der Saal erneut von dem Gesang zusammenprallender Klingen wider. Schwielige Handflächen platzten unter der Belastung der Rückschläge auf. Schon bald waren die Degengriffe mit einer klebrigen Schicht halb trockenen Blutes überzogen. Noch überdeckte der Rausch des Kampfes den ersten Schmerz. Doch in das befreiende Keuchen,
welches jeden Schlag begleitete, mischten sich bereits die ersten gequälten Untertöne. Navok wurde an den Rand des Tisches gedrängt, bis er herunter springen musste. Das Blut aus der Kopfwunde lief ihm mittlerweile ins Auge, sodass Radek immer häufiger von rechts auf ihn eindringen konnte. In einem Anfall von Übermut sprang er sogar auf den Holzthron, um seinem Kontrahenten aus der Höhe zuzusetzen. Graz zischte wütend über diese Anmaßung, Navok nutzte die Ablenkung, um unter der fremden Klinge hinweg zu tauchen und mit der Spitze bis zu Radeks Oberschenkel vorzudringen. Der scheinbar sichere Stich wurde im letzten Moment abgeblockt, doch er reichte noch aus, eine Wunde zu reißen. Danach ging es auf den Fliesen weiter. Verbissen und mit großer Ausdauer. * Wie erwartet, ließen ihn die Nosfera ungehindert herankommen. Matt erreichte das Außenschott und gab seinen persönlichen Code ein. Zu seiner Freude reagierte es umgehend und glitt auf. Zuerst zögerte er, doch der Driller an seiner Hüfte gab ihm Sicherheit. Kurz entschlossen drang er in den Flugpanzer ein, jederzeit darauf gefasst, aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Niemand ließ sich blicken. Weder im Frachtraum noch in einer der angrenzenden Kanzeln. Erst im Cockpit wurde er fündig. Technos und Nosfera lagen dort, in Bewusstlosigkeit vereint, einträchtig nebeneinander. Matt reagierte unverzüglich. Mit einer Rolle Klebeband fesselte er Vukov und Rraal an Händen und Füßen. Erst als beide "versorgt" waren, winkte er Aruula und die Corporals heran.
Während sich die Technos um die Bewusstlosen kümmerten, ließ sich Matt auf den Pilotensitz nieder. Eine erste Untersuchung der Instrumente ergab, dass außer der Beleuchtung noch alles funktionierte. "Was haben Sie vor?", fragte Steve Bolton, während Farmer erste Hilfe leistete. "Ich fliege auf dem schnellsten Weg zurück nach Plymouth", erklärte Matt. "Um zu retten, was noch zu retten ist." * Lange Zeit verlief die Auseinandersetzung ausgewogen, schlussendlich setzte sich aber Radeks Jugend gegenüber dem älteren Kontrahenten mehr und mehr durch. Während Navok wieder einmal zurücksprang, um seinen Armen eine Ruhepause zu gönnen, suchte er fieberhaft nach einem Ausweg. Wenn er noch siegen wollte, musste er diesen Kampf so schnell wie möglich beenden. Erneut schlugen die verschwitzten Nosfera aufeinander ein. Radek kam immer wieder von der rechten Seite. Zwei kleine Oberarmtreffer waren der Lohn für diese Strategie. Navok seinerseits versuchte diese Position durch geschickte Beinarbeit zu umgehen. Die Schlagkombinationen erfolgten so schnell, dass sie für das menschliche Auge nicht mehr zu verfolgen waren. Radeks Klinge verfehlte nur um Haaresbreite die Kehle seines Gegners. Navok revanchierte sich, indem er den weiten Umhang seines Feindes mit wuchtigen Schlägen in Fetzen schlug. Immer öfter und in immer kürzeren Abständen wurde die Haut des Gegners zerschnitten. Jede der Wunden bedeutete Schmerz und einen Verlust an Kraft. Das Gesicht zur Fratze verzerrt, ließ sich Navok bis zu einem Wandvorhang zurückdrängen. Davor hatte sich bereits
Blut auf den Fliesen gesammelt. Er glitt aus, konnte sich aber noch mit der freien Hand in dem Stoff neben ihn festkrallen. Während er um sein Gleichgewicht kämpfte, tauchte er geschickt unter einem mit der Rückhand geführten Kopfhieb hinweg und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Vorhang. Knallend rissen die oberen Schlaufen aus der Verankerung. Gleich darauf rauschte der Stoff in die Tiefe, direkt auf den überraschten Radek hinab, der sich zwar mit einem schnellen Seitenschritt in Sicherheit bringen konnte, aber dafür seine Klinge einen Lidschlag lang aus den Augen lassen musste. Noch ehe er wieder hinsah, sauste ein schwerer Hieb auf sie nieder, direkt vor dem Griffkorb. Seine taub geschlagenen Finger konnten den Degen nicht mehr halten. Scheppernd flog die Waffe zu Boden. Radek keuchte überrascht. Aber nur ein einziges Mal. Danach spürte er eine scharfe Klingenspitze an der Kehle. "Unfair", protestierte er. "Wie so vieles im Leben", bestätigte Navok. Eine Zeitlang standen sie sich gegenüber. Unbeweglich, wie aus Stein geschlagen. Graz wieselte dagegen aufgeregt herum. "Ssstich ihn ab!", forderte er. "Du hassst gewonnssen!" "Wir brauchen ihn als Geisel, um Maddrax' Freunde freizupressen", wehrte Navok ab. "Lauf in mein Gemach und hol mir das Kletterseil aus der Kiste, damit ich ihn fesseln kann." Eilfertig wieselte die Taratze davon. Dabei hätten die Kordeln, mit denen die Wandbehänge zur Seite gerafft wurden, einen ebenso guten Strick abgegeben. Graz war nun mal nicht besonders helle. Sobald er fort war, senkte Navok die Klinge. An Radeks Kehle blieb ein rotes Mal zurück, das bald wieder verheilen würde. "Was soll das?", fragte der Bluttempler verwirrt.
"Ich bin des Tötens müde", antwortete Navok. Gleichzeitig packte er den Degen an der Klinge und reichte ihn mit dem Griffkorb nach vorne zu seinem Gegner. "Beeil dich", forderte er, "und verschwinde, bevor Graz zurück ist." Ein Ausdruck des Verstehens glitt über Radeks Gesicht, als er die Waffe packte und auf Navok richtete. "Nach mir werden Dutzende andere kommen", bestätigte er den unausgesprochenen Gedanken zwischen ihnen. "Hunderte, wenn nötig." "Und sie werden alles töten wollen, was mir lieb und teuer ist", fuhr Navok fort. "Aber das lasse ich nicht zu. Ich beende diese unselige Blutrache hier und jetzt. Für alle Zeiten. Nicht für dich oder Erzvater, sondern um meinen Getreuen ein freies Leben zu ermöglichen." Darum hatte er den Kampf gesucht. Sich einfach wie ein feiger Swampa erstechen zu lassen, hätte Erzvater als doppelten Triumph gewertet, und das stand ihm nicht zu. Radek verstand, was hinter seiner Handlungsweise steckte. Auch ohne viele Worte. Denn obwohl es Navok schmerzte, waren sie doch vom gleichen Schlag. So hob denn der Jüngere die Waffe und setzte ihre doppelseitig geschliffene Spitze über Navoks Herzen an. "Den Bunkermenschen wird kein Leid geschehen", versicherte er, bevor er den Druck verstärkte. "Schließlich sind sie Maddrax' Verbündete." Navok nickte nur und machte sich bereit, den tödlichen Stoß zu empfangen. Mühelos fuhr die Spitze durch das feste Tuch der Kutte und stach in seine Haut, stoppte dann jedoch. Nicht etwa, weil Radek die Kraft fehlte, sondern die Entschlossenheit. "Es ist Erzvaters Wille, dass du sterben musst", entschuldigte er sich. "Ich habe dir längst verziehen." "Wie gütig von dir", knurrte Navok. "Und jetzt beeil dich, bevor ich wütend über diese Unverschämtheit werde."
Radek setzte erneut an, doch er hatte zu lange gezögert. Draußen, im Foyer, wurden Stimmen laut. "Maddraxssss, ssssnell", übertönte Graz alle anderen. "Navok hatsss den bösssen Nosssfera gefangen." Die Freude der Taratze verging abrupt, als sie sah, wie sehr sich das Blatt in ihrer Abwesenheit gewendet hatte. Fauchend kam sie näher. Radek sah seinen abtrünnigen Ordensbruder schicksalsergeben an. Er hatte ohnehin nicht damit gerechnet, lebend nach Ruland zurückzukehren. Mit Kraft wollte er den Stahl in die Verräterbrust stoßen, als ein scharfer Ruf erschallte. "Halt ein, in Murrnaus Namen!", verlangte der Sohn der Finsternis von ihm. "Oder du lädst große Schuld auf dich!" Solche Worte aus so hohem Munde durfte er nicht ignorieren. Und eigentlich war Radek sogar froh darum. "Erzvaters Befehl spricht mich von aller Schuld frei", beharrte er trotzdem, um sein Gesicht zu wahren. "Seine Heiligkeit weiß noch nicht, was ich herausgefunden habe", wischte Maddrax den Einwand beiseite. "Ohne Navoks Hilfe ist es mir unmöglich, das weitere Anwachsen der Sonne zu verhindern. Nur er kann mich warnen, wenn sich in Plymeth die ersten Anzeichen der Katastrophe zeigen. Sieh her, zu diesem Zweck habe ich ihm einen Zauberkasten mitgebracht, der es erlaubt, über große Entfernungen mit mir in Verbindung zu treten. Einen weiteren Kasten werde ich dir für Erzvater mitgeben, damit ich ihm persönlich von dieser Erkenntnis berichten kann." Nachdenklich sah Radek erst auf das ISS-Funkgerät und dann zu Navok, der mit keinem Zucken seiner Miene verriet, ob er wirklich etwas über die Weissagung der Propheten wusste. "Willst du ernsthaft riskieren, dass die Sonne anwächst und uns alle zu Asche verbrennt?", redete ihm Maddrax ins
Gewissen. "Egal, was einst geschehen ist. Ihr müsst euren Zwist begraben und beide leben. Denn nur gemeinsam können wir gegen die Gefahren dieser Welt angehen, die uns wirklich bedrohen." Während er sprach, kam der Sohn der Finsternis mit ausgestreckter Hand näher. Radek war es verboten, die Gedanken des Prophezeiten zu lesen, doch obwohl er seinen Lauschsinn im Zaum hielt, spürte er deutlich, wie ehrlich die letzten Worte gemeint waren. Seine Degenhand begann zu zittern, denn er wusste nicht mehr, an welche der beiden Ansichten, die in ihm um die Vorherrschaft rangen, er glauben sollte. Und da er zu keiner Entscheidung kam, gehorchte er einfach seinem Gefühl - und ließ die Klinge sinken.
Epilog Radek, Vukov und Rraal waren schon längst abgereist, als Matt einen abendlichen Spaziergang entlang der Küste machte und dabei überraschend auf Navok stieß. Nachdenklich, aber auch ein wenig schwermütig saß der Nosfera auf der Haube eines rostigen New Beetle, die aus dem feuchten Sand ragte, hielt das ISS-Funkgerät in der Hand und sah aufs Meer hinaus. Der Mond spiegelte sich auf seinem kahlen Haupt, das seltsam kalt und leblos wirkte. "Man könnte fast meinen, du bereust es, noch am Leben zu sein", sprach ihn Matthew an. "Nein, natürlich nicht", antwortete Navok, ohne ihn dabei anzusehen. "Ich lebe gerne, wie jeder andere auch. Aber ich fürchte um dein Seelenheil, Maddrax." "Wegen dieser kleinen Notlüge?" Der Mann aus der Vergangenheit lachte. "Sieh es doch mal so: Solange die Sonne nicht anwächst, und das steht erst in ein paar Milliarden Jahren
an, wenn sie zum Roten Riesen wird, bestätigt das doch meine Behauptungen. Glaub mir, wenn sich Erzvater nicht unglaubwürdig machen will, muss er dich in Zukunft in Ruhe lassen. Wir müssen wirklich alle zusammenarbeiten, um den Daa'muren zu trotzen. Dazu brauchen wir jeden zuverlässigen Mann. Deshalb ist das Funkgerät für dich." Navok warf einen letzten Blick darauf, bevor er es in einer Innentasche seines Umhangs verschwinden ließ. "Ich schulde dir mein Leben, Maddrax", sagte er dann. "Du kannst jederzeit auf mich zählen. Doch du musst wissen, dass du ein gefährliches Spiel treibst, wenn du glaubst, Erzvater mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können. Ich kann dir nur raten, dich in Zukunft von den Bluttemplern fernzuhalten. Gebrauche nie wieder die Macht, die sie in deine Hände legen. Oder am Ende werden sie es sein, die dich gebrauchen." ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Wulfsblut von Ronald M. Hahn Während die Sklaverei in Britana auf dem Rückzug ist, gedeiht der Menschenhandel anderswo prächtig. Rulfan und Dave McKenzie können ein Lied davon singen - sie sitzen auf den Meera-Inseln fest. Als sich eine Chance ergibt, den Freunden in London einen Hilferuf zu senden, zögert Rulfan nicht. Auch wenn das bedeutet, einen treuen Freund auf eine schier mörderische Reise zu schicken...
Ronald Hahn auf Jack Londons Spuren - diesen Roman sollte man gelesen haben!