1.
Halb im hohen Schnee vergraben und von Büschen geschützt, lauerten die Bestien auf ihre Beute. Zwei von ihnen ware...
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1.
Halb im hohen Schnee vergraben und von Büschen geschützt, lauerten die Bestien auf ihre Beute. Zwei von ihnen waren wolfsgroße Ratten, deren kahle Schwänze vor Kälte und Nervosität zitterten. Die mörderischen Schneidezähne blitzten im Schein der tiefstehenden Sonne. Hinter ihnen, mit einem dichten und wärmenden Fell ausgestattet, duckte sich ein menschenähnliches Wesen, in der Hand eine primitive Holzkeule. Die spitzen Ohren waren lauschend aufgestellt. Sie alle drei gehörten zu jenen Ungeheuern, die zu Zehntausenden durch ein Weltentor gekommen waren und das Land nördlich des Eisflusses nahezu entvölkert hatten. Die Menschen waren nach Süden geflohen, wo einige Fürsten mit ihren verbliebenen Kriegern am Südufer des Flusses eine Verteidigungslinie aufbauten. Ein Mann von jenseits der Großen Eiswand im Süden hatte ihnen dabei geholfen, ehe er mit seinem fliegenden Götterwagen und seinem schwarzen Diener aufgebrochen war, um die sagenumwobene Eiskönigin zu finden. Der Mann aus den südlichen Ländern jenseits der Eiswand hieß Dragon, und sein schwarzer Diener war
Ubali. Fürst Hadrek und seine Krieger hatten dem Götterwagen nachgesehen, bis der Himmel ihn endgültig verschluckte. Für sie war Dragon schon jetzt ein toter Mann, und sie alle waren sicher, ihn nie mehr wiederzusehen. Winter herrschte im Eisland, der Mond des Wolfes hatte begonnen. An manchen Stellen lag der Schnee meterhoch, in den Wäldern war es ein wenig besser. Die kleineren Bäche waren zu Eis erstarrt, und die größeren führten weiße Schollen mit sich. Es war die Zeit des Hungers, und auch die Ungeheuer wurden magerer. Viele von ihnen hatten sich entschlossen, den geflohenen Menschen nach Süden zu folgen, aber noch immer gab es Einzelgänger, die alles rissen und töteten, was ihnen über den Weg lief. Sie brachten sich manchmal sogar gegenseitig um. Den Berg herauf kamen zwei Männer. Noch tiefer duckten sich die beiden Ratten und der Fellmensch. Bald würden sie ihren Hunger stillen können ... Dragon blieb stehen, auch Ubali hielt an. Vor ihnen lag die letzte Steigung, dann hatten sie die Wasserscheide erreicht. Der Rücken des Hügels war mit Wald bedeckt, der sich von Norden nach Süden erstreckte. Dahinter, so hatte der Einsiedler Leif ihnen erklärt, würden die Flüsse ihnen den Weg zum Heiligen Berg zeigen, in dem die Eiskönigin wohnte.
»Wir haben es bald geschafft«, sagte Dragon und schüttelte den Schnee aus seinem Pelzmantel. Das Schwert hing griffbereit an seiner Seite. »Wenn wir oben sind, machen wir eine Ruhepause.« Ubali knurrte: »Wenn der Götterwagen nicht zertrümmert worden wäre, könnten wir schon am Ziel sein. Gäbe es wenigstens Pferde!« »Es gibt hier kaum Menschen«, erinnerte ihn Dragon. »Und wenn es noch Pferde gäbe, würden sie längst von den Ungeheuern zerrissen worden sein. Übrigens haben wir nun schon zwei Tage keine mehr gesehen.« Er ging weiter. Der tiefe Schnee forderte die letzten Kraftreserven der beiden Männer. Nur die Aussicht auf einen trockenen Lagerplatz und ein wärmendes Feuer trieb sie voran. Ihr Ziel, der Heilige Berg, lag noch einige Tagesmärsche vor ihnen. Ubali sah nach vorn und glaubte, zwischen den Büschen eine Bewegung gesehen zu haben. Er warf das Bündel mit den Vorräten auf die linke Schulter und legte die rechte auf den Griff seines Schwertes. »Da vorn ist etwas«, flüsterte er Dragon zu. »Ich habe es nicht genau sehen können, aber mir war, als habe sich etwas im Schnee bewegt. Dort, bei den Büschen, genau vor uns. Vielleicht sollten wir einen Bogen machen.«
Es würde nicht das erstemal sein, daß sie von Ungeheuern angefallen wurden. Zum Glück kam es hier oben im Norden immer seltener vor, daß sie sich zu größeren Rudeln zusammenrotteten. »Du hast recht, sie kauern im Schnee und erwarten uns«, sagte Dragon und ging ruhig weiter. »Mehr als zwei oder drei können es nicht sein. Sobald sie angreifen, alle Lasten abwerfen, damit wir die Hände frei haben! Alles klar, Ubali?« »Sie können kommen!« gab der Schwarze kaltblütig zurück. Immerhin war Dragon vorsichtig genug gewesen, die Richtung ein wenig zu ändern. Sie würden das Gebüsch in einem Abstand von zehn Mannslängen passieren. Die Ungeheuer mußten also erst aus ihrem Versteck herauskommen, um wirksam angreifen zu können. Da der Schnee auch sie behinderte, blieb vielleicht sogar noch Zeit, ein oder zwei der Bestien mit dem Pfeil zu erledigen. Ubali tastete jedenfalls nach seinem Bogen und ließ das Schwert los. Beim ersten Zeichen des bevorstehenden Angriff lag der Pfeil bereits auf der Sehne. Zwei Ratten und ein Spitzohr sprangen wie auf Kommando aus ihrem Loch und stürmten durch aufstiebenden Schnee auf die beiden Männer los. Ubali zielte ruhig und schoß. Der Pfeil drang in die Kehle einer Ratte und schleuderte sie in eine
Schneewehe, wo sie zuckend verendete. Aber der Schwarze hatte keine Zeit mehr, einen zweiten Pfeil aus dem Köcher zu ziehen. Die Angreifer waren heran. Dragon wich der herabsausenden Keule des Spitzohrs aus und wäre fast gestolpert. Mit einem kräftigen Schwertstreich schlug er auf den Griff der Keule, die in zwei Teile zersplitterte. Das Spitzohr hielt nur noch den Griff in der Hand. Mit einem unmenschlichen Wutgeheul sprang er Dragon an. Er sprang genau in das vorgestreckte Schwert, das ihn durchbohrte. Aber die Wucht des Aufpralls nahm auch Dragon den letzten Halt. Zusammen mit seinem blutüberströmten Gegner stürzte er in den Schnee und glaubte sich im ersten Augenblick von ihm begraben. Mühsam nur befreite er sich von der Last und kam auf die Beine. Hastig zog er das Schwert aus dem Leichnam und sah sich nach Ubali um. Seine Sorge war unbegründet. Aus einer tiefen Wunde blutend, versuchte die Ratte zu entkommen. Ubali wischte das Schwert ab und schob es zurück in die Scheide. Dann erst nahm er einen Pfeil, legte ihn in aller Seelenruhe auf die Sehne und schoß. Dann ging er, um seine beiden Pfeile zurückzuholen. »Ich fange an, sie immer weniger zu fürchten«, sagte er, als er wieder bei Dragon war und die Leiche des Spitzohrs betrachtete. »Sie sind fast noch scheußlicher
als die Ratten und Spinnen.« Dragon nickte. »Weil sie menschenähnlich sind, glaube ich. Und sie sind auch gefährlicher, weil sie ein wenig denken. Komm, gehen wir weiter. Ich fühle mich erst im Wald wieder sicher.« Sie nahmen die Vorratsbeutel auf, schulterten sie und setzten ihren Marsch fort. Sie gingen noch eine Stunde, dann erreichten sie ausgepumpt und erschöpft den Waldrand auf der Wasserscheide. Sie wußten nicht, wie lang oder breit der Höhenrücken war, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß er diesen Teil des Eislandes in zwei Hälften schnitt. Bis zu diesem Punkt hatte Leif eine ziemlich genaue Beschreibung liefern können, weil sein Vater einst bis zum Heiligen Berg vorgedrungen war. Unter einem mächtigen Nadelbaum mit ausladendem Gipfel fanden sie sogar eine schneefreie Stelle. Sie legten das Gepäck ab, und Ubali machte sich gleich daran, Holz zu sammeln. Dragon ließ ihn gewähren. Ein Blick zur Sonne verriet ihm, daß sie heute nicht mehr viel weiterkommen würden. Es hatte wenig Sinn, in der Nacht zu wandern. Da konnten sie auch gleich hier ihr Lager aufschlagen. Er studierte den Stamm des Baumes und nickte
befriedigt vor sich hin. Als Ubali zurückkehrte und das Holzbündel auf den Boden warf, sagte er zu ihm: »Wir können wieder auf dem Baum schlafen, da sind wir sicherer. Aber vorerst bleiben wir noch unten und essen am warmen Feuer. Solange wir nicht schlafen, sind wir kaum in Gefahr.« Bald brannte das Feuer. Die Äste waren trocken, wenn auch erst Schnee und Eis abschmelzen mußten, ehe sie Feuer fingen. Ubali ging noch mehrmals, um Holz zu holen, denn die lodernden Flammen waren der beste Schutz gegen die Ungeheuer. Die Bestien aus dem Weltentor fürchteten das Feuer. »Was mag Fürst Genol jetzt machen?« fragte Ubali und warf Dragon einen Blick zu. »Und seine Tochter Melina ...« »Hieß sie Melina?« stellte Dragon die Gegenfrage und bekundete damit zugleich, daß er das Mädchen vergessen hatte. »Nun, die Verteidigungslinie wird halten, davon bin ich überzeugt. Wenn nun Fürst Hadrek sich entschließt, weiter nördlich ebenfalls eine solche Linie bei seinem Fort zu errichten, geraten die Ungeheuer zwischen zwei Zangen. Das hätte ich ihm vielleicht noch sagen sollen.« »Der kommt vielleicht von selbst auf den Gedanken«, tröstete ihn Ubali. »Wie lange noch bis Sonnenuntergang?« »Zwei Stunden, mehr nicht. Ich sehe mir gleich den
Baum an und suche eine günstige Stelle, an der wir die Nacht verbringen können.« Ubali hütete inzwischen das Feuer. Dragon kletterte auf den Baum, bis er den Gipfel erreichte. Er hatte die breite Astgabelung, die er suchte, längst entdeckt, aber er wollte versuchen, aus der Höhe einen Überblick zu gewinnen. Es war gut, am anderen Tag die Marschroute zu kennen. Da die meisten anderen Bäume kahl waren, konnte er weit sehen. Nach Norden zu blieb das Gelände auf gleicher Höhe, wenigstens einen halben Tagesmarsch weit, dann senkte es sich zur Ebene hinab. Im Osten war das anders. Der Höhenrücken war höchstens fünftausend Mannslängen breit, dann fiel er steil ab. Dragon konnte weit dahinter eine Ebene mit einem Fluß erkennen. Am fernen Horizont schimmerte es weiß, als läge eine Wolkenbank auf der Erde. Der Anblick erinnerte ihn an die Große Eiswand im Süden, die noch nie ein Mensch zu Fuß überquert hatte. War das eine andere Eiswand, ein Gebirge aus Fels, Eis und Schnee und Gletschern? War dort schon der Heilige Berg zu suchen? Nein, er mußte mehr im Norden liegen, jenseits der Ebene – wenn Leif sich nicht geirrt hatte. Von den Ungeheuern entdeckte er nicht die geringste Spur. Es schienen auch keine Menschen im Wald zu wohnen, aber auch in der Ebene war nichts
von einer Ansiedlung zu bemerken. Das Eisland war leer, kalt und trostlos, vielleicht sah es im Sommer freundlicher aus. Dragon wußte es nicht. Er mußte an Myra denken, an seine Gattin Amee und seinen wiedergefundenen Sohn Atlantor. Ob die Seherin Maratha seine Gedankenbotschaften empfing und durch seine Augen sah, wo er sich befand und wie es ihm erging? Wenn ja, dann würde sie Hotch, den großen Drachen, schon zu seiner Hilfe geschickt haben. Unwillkürlich sah er empor zum Himmel, aber kein dunkler Punkt erschien dort, um schnell auf ihn herabzustoßen. Er war und blieb mit Ubali allein im Eisland, der unbekannten Schneewüste des kalten Nordens. Um ihn herum war nichts als Wald, in dem die Ungeheuer auf ihre Beute lauerten. Langsam kletterte er wieder zu Ubali hinab. Das Feuer strahlte wohltuende Hitze aus. Der Schwarze hatte seinen Pelzmantel geöffnet und genoß die Wärme wie ein Geschenk. »Hast du etwas gefunden?« »Ja, eine Gabelung, die für uns beide reicht. Wir können sogar die Vorräte noch unterbringen. Du brauchst dich nicht einmal festzubinden.« »Ich bin gespannt, ob uns die Spinnen wieder besuchen.« »Na, und wenn schon? Einer allein kann sie abwehren, auch ohne Feuer.«
»Ich habe genug Holz gesammelt. Das Feuer wird die ganze Nacht brennen und die Ungeheuer verscheuchen. Vielleicht muß einer von uns nach Mitternacht Holz nachlegen, das ist alles.« Dragon unternahm später noch einen Rundgang, während Ubali das Gepäck in das Baumversteck beförderte. Der Wald war licht und hatte wenig Unterholz. Etwa tausend Mannslängen von ihrem Baum entfernt war die Wasserscheide, deutlich erkennbar an dem felsigen Rücken, der sich auf der Mitte des Hügels dahinzog. Von hier aus flossen alle Flüsse nach Norden und Osten. Sie wiesen den Weg zum Heiligen Berg. Nur eine Spinne begegnete Dragon. Sie griff sofort mit bösartigem Zischen an, breitete die Greifzangen auseinander und wollte sich auf ihr Opfer stürzen. Ein Schwerthieb teilte ihren Körper in zwei Hälften. Die Beine zuckten noch eine Weile, dann war sie tot. Die Nacht verlief ohne jeden Zwischenfall. Kein Angriff erfolgte, alles blieb ruhig und still. Einmal kletterte Ubali in die Tiefe, um Holz nachzulegen. Der Marsch durch den Wald war einfacher als jener durch den hohen Schnee der baumfreien Ebene. Es gab kaum Unterholz, und die Bäume standen weit auseinander. Ihre Kronen allerdings, wenn auch meist ohne Blätter, waren mit Schnee bedeckt und wirkten
wie ein Dach, das kaum die Sonnenstrahlen durchließ. Sie gingen nach Norden. Im Osten lag die Ebene mit dem einzigen Fluß, dessen Lauf nicht nach Norden oder Osten verlief, sondern angeblich nach Süden. Leif hatte behauptet, es sei ein großer Nebenstrom des Eisflusses, der irgendwo zwischen der Wasserscheide und dem Heiligen Berg in einem See entspringe. Am See, hatte Leif weiter behauptet, liege eine stark befestigte Ansiedlung, deren Bewohner mit ziemlicher Sicherheit das Feld vor den Ungeheuern nicht geräumt hätten. Trotz der Gefahren gab es noch immer vereinzelte Boten und damit Nachrichten zwischen den wenigen Menschen, die ihre Heimat nicht verließen. Dragon hoffte, den See zu finden, um Proviant zu erhalten und vielleicht auch Tragtiere. Sein Ruf als »Retter des Eisflusses« war sicherlich auch bis hierher gedrungen und würde ihm seine Aufgabe erleichtern. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte, hatte Ubali Glück. Mit dem Pfeil erlegte er ein kleines Waldtier, das er sofort ausnahm, ehe das Fleisch gefror. Am Abend wollten sie es braten. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie das nördliche Ende des Höhenrückens. Der Hang in der Ebene breitete sich fächerartig aus und war nicht besonders steil. Mehrere Schluchten waren durch die Bäche entstanden, von denen jetzt allerdings fast alle Eis führten. An den Fällen hatten sich riesige Zapfen
gebildet. »Wir werden versuchen, zwischen zwei Schluchten einen Weg zu finden«, schlug Dragon vor. »Bis zum Einbruch der Dämmerung sollten wir die Ebene erreichen.« Er beschattete die Augen und sah nach Nordosten. »Dort müßte der See liegen. Kannst du etwas sehen?« Ubali sah in die angegebene Richtung und runzelte die Stirn. »Ich kann keinen See erkennen, Dragon, wohl aber ein kleines Gebirge, das wie ein Krater aussieht. Der Wall ist stark bewaldet, was wiederum auf Wasser schließen läßt. Vielleicht entspringt dort der Fluß und bildet den See. Hat Leif sich nicht deutlicher ausgedrückt?« »Nein,« das hat er nicht. Aber du hast recht: wenn es dort in der Ebene überhaupt einen See und eine Siedlung gibt, dann beim Gebirge – oder besser: im Gebirge!« Sie kamen an einer verlassenen Hütte vorbei, die dicht am Rand der rechten Schlucht stand. Türen und Fensterbalken waren herausgerissen und verstreut worden. Das Innere wirkte wie nach einem Sturm. Kein Stück der Einrichtung war heil geblieben. Neben der Feuerstelle fand Ubali die abgenagten Knochen eines Menschen. Damit wurde den beiden Männern klar, was geschehen war: Die Ungeheuer hatten die Hütte
erobert und die Bewohner aufgefressen. »Ich töte sie, wo immer ich sie finde!« schwor Ubali erneut. »Und wenn ich nichts anderes mehr in meinem Leben tun sollte, aber ich werde sie alle töten!« »Wir müssen nicht nur die Eiskönigin, sondern auch das Weltentor finden. Vielleicht hat es sich noch nicht geschlossen, und immer wieder dringen neue Ungeheuer aus ihm hervor. Ich bin überzeugt, daß es so ist, denn sonst dürfte es hier, so weit im Norden, keine Ungeheuer mehr geben. Sie sind alle südwärts gezogen.« Sie gingen weiter, obwohl die Hütte zu einer Rast einlud. Aber in zwei Stunden wurde es dunkel, und bis dahin wollten sie die Ebene erreicht haben. War das geschehen, mußten sie ein Stück nach Osten abbiegen, um den See zu finden. Wenn es den See gab. Es sollten Leute von Fürst Edil sein, hatte Leif behauptet, dem Ältesten aller zehn Stammesfürsten des Eisvolkes, der allerdings im Kampf gegen die Ungeheuer gefallen war. Er war es auch gewesen, der die Stämme geeint und zu einer großen Schlacht in der Nähe des Heiligen Berges geführt hatte, die dann der erdrückenden Übermacht des Feindes wegen verlorenging. Die Flucht nach Süden setzte ein, nur wenige blieben im Eisland zurück.
Sie näherten sich dem Fuß des Höhenrückens, und es wuchsen kaum noch Bäume. An den Rändern der Bäche standen lange Buschreihen und machten das Gelände unübersichtlich. Die beiden Männer änderten die Marschrichtung, bis das kleine Ringgebirge genau vor ihnen lag. »Morgen sind wir dort«, hoffte Dragon. »Es wird Zeit, daß wir einen geschützten Lagerplatz finden.« Ubali klopfte gegen den Vorratsbeutel. »Das wird ein Festbraten, glaube ich. Hoffentlich gibt es genug Holz bei den Büschen.« Sie überquerten einen zugefrorenen Bach, der an dieser Stelle besonders breit war und sich in mehrere Arme teilte. So entstanden kleine Inseln mit kiesigem Untergrund. Dragon hielt an. »Ich glaube, wir bleiben hier. Die Büsche bieten Schutz nach allen Seiten, und wenn das Holz trocken ist, sieht man nicht einmal das Feuer.« Es wurde schnell dunkel, nachdem die Sonne untergegangen war. Ubali schleppte dürre Äste herbei und kümmerte sich um den Braten. Mit einigen Steinen baute er einen Herd, bastelte aus zwei Astgabeln und einem feuchten Stock einen drehbaren Spieß und befestigte das Kaninchen daran. Wenig später drang der Duft gebratenen Fleisches in die Nasen der Männer.
Ubali wartete, bis Dragon von seinem Rundgang zurückkehrte, dann ging er noch einmal Holz holen. Für die Nacht würde es jetzt reichen. Es hatte ihnen lange nicht mehr so gut geschmeckt wie heute. Sie tranken Wein und füllten dann den Krug aus dem Bach wieder an. »Das war köstlich«, meinte Dragon und streckte sich auf seinem Pelzmantel aus. »Außerdem sparen wir unsere Vorräte für den Notfall auf.« »Hast du auf deinem Rundgang etwas entdeckt?« »Nichts, auch keine Spuren, obwohl es hier mehrere Tage nicht mehr geschneit hat. Im Sommer ist die Ebene sumpfig und wir können von Glück reden, daß der Boden jetzt gefroren ist. Natürlich trägt das Eis der Bäche die Ungeheuer, sie könnten uns also angreifen.« »Soll ich die erste Wache übernehmen?« »Gern, denn ich bin müde. Sorge dafür, daß du immer ein paar besonders trockene Äste im Feuer liegen hast, als Wurfgeschosse gegen eventuelle Angreifer.« Er wickelte sich in seinen Mantel und streckte die Füße der Glut entgegen. »Wecke mich, sobald du die Müdigkeit spürst und dich nicht mehr wachhalten kannst.« »In unser beider Interesse werde ich das tun, Dragon.« Nach Mitternacht weckte er Dragon, um sich dann selbst zum Schlaf niederzulegen.
Noch bevor es richtig hell wurde, brachen sie auf. Sie fühlten sich frisch und neu gekräftigt. Das Gelände wurde immer unübersichtlicher, und es war ein Glück, daß die vielen Bachläufe und Sumpfseen zugefroren waren. Das Eisland trug seinen Namen zu Recht, wenigstens in dieser Jahreszeit. Einmal bemerkten sie einen größeren Trupp Spinnen, der in einiger Entfernung nach Süden zog. »Bei ungünstigem Wind hätten sie uns gewittert«, meinte Dragon, als sie weitermarschierten und dafür sorgten, daß sie stets von Büschen gegen Sicht geschützt wurden. »Sie haben empfindliche Nasen.« »Dafür sehen sie nicht so gut. Es wäre ja auch schlimm, wenn alles an ihnen perfekt wäre.« Das vor ihnen liegende Gebirge bildete keinen geschlossenen Ring, wie sie gegen Mittag erkannten, nachdem sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. Es wirkte vielmehr wie ein Halbkreis, der nach Südosten zu geöffnet war. Es war wohl diese Form und auch die benachbarten Hügel, die dafür sorgte, daß der dort entspringende Fluß eine andere Richtung genommen hatte als jene der Wasserscheide. Ganz allmählich stieg das Gelände wieder an. Sie näherten sich dem Gebirge und dem Fluß von der Südseite her. Der Gedanke, daß es nicht mehr weit bis zum Ziel sein konnte, gab ihnen neue Kräfte. Sie
schritten zügiger aus und kamen schneller voran. Die Ansiedlung, die plötzlich vor ihnen auftauchte, als sie einen Wald durchwandert hatten, war verlassen. Zwar hatten auch hier die Ungeheuer gewütet und alles zerstört, aber die beiden Männer fanden wenigstens keine menschlichen Überreste. Wahrscheinlich war es den Bewohnern noch rechtzeitig gelungen, sich in Sicherheit zu bringen. Sie hielten sich nicht lange auf und gingen weiter. Sie wollten den See und die Leute von Edils Stamm noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Es war gefährlich geworden, in der Nacht an fremde Türen zu klopfen. Der Waldbestand nahm wieder zu. Die Bäume nahmen den Wanderern oft die Sicht, so daß sie den Ringberg mehrmals aus den Augen verloren, aber die generelle Richtung wurde beibehalten. Die untergehende Sonne wies sie ihnen. Der Berg war nicht höher als zweihundert Mannslängen. Sie umgingen ihn und erreichten das Ufer des Flusses, von dem sie schon soviel gehört hatten. Zu ihrem Erstaunen war er trotz der nahen Quelle, die sich angeblich im See befand, ungewöhnlich breit und tief, und es gab keine Stromschnellen. Ruhig und behäbig floß das dunkle Wasser nach Süden, dem fernen Eisfluß entgegen. Sie folgten dem deutlich sichtbaren Pfad, der am
Fluß entlang stromaufwärts führte, genau auf den geöffneten Ring zu. Hinter den flachen Hügeln mußte der See liegen. Bevor sie jedoch den Waldgürtel erreichen konnten, der eine natürliche Grenze zu dem darunterliegenden Tal bildete, wurden sie von einer dröhnenden Stimme aufgefordert, anzuhalten und einige Fragen zu beantworten. Die Stimme kam aus den Bäumen. Dragon blieb sofort stehen und hielt Ubali fest, der nicht so schnell reagierte. Der Pfeil, der heranzischte und dicht vor seinen Füßen in den Boden drang, war eine eindringliche Warnung. In den vergangenen Wochen hatten die beiden Männer genügend Gelegenheit gehabt, sich mit der Sprache des Eisvolkes vertraut zu machen. Notfalls konnten sie sich damit verständigen, wenn es Dragon auch lieber war, jemanden zu finden, der die alte Sprache kannte. »Wir kommen von Fürst Genol und Fürst Hadrek!« rief er, so laut er konnte. »Wir sollen euch Grüße übermitteln und euch bitten, uns weiterzuhelfen. Gewährt uns Unterkunft und Gastfreundschaft.« Eine Weile erfolgte keine Antwort, dann erschien am nahen Waldrand ein in Tierfelle gekleideter Mann, den Bogen in der Hand. Ein rotblonder Vollbart gab ihm ein verwegenes Aussehen. »Ein Bote überbrachte vor einigen Tagen
erstaunliche Nachrichten vom Eisfluß. Könnt ihr uns mehr darüber berichten?« »Sobald wir eure Gastfreundschaft genießen dürfen«, versprach Dragon diplomatisch. »Seid ihr Männer von Edils Stamm?« »Die sind wir«, kam es stolz und selbstbewußt zurück. »Geht weiter und folgt dem Pfad, ihr werdet dann unsere Hütten am See finden. Man erwartet euch bereits.« Dragon fragte nicht, wieso man sie bereits erwarten konnte, sondern nickte dem Rotbart freundlich zu und gab Ubali einen sanften Stoß. Der Wald nahm sie auf, und als sie ihn durchschritten hatten, öffnete sich vor ihnen das Tal. In seiner Mitte lag der fast runde See, wohl an die zweitausend Mannslängen groß und von Felsen und Wald eingerahmt. Dahinter war der Ringberg, nur mit wenig Schnee bedeckt und fast kahl. Im Süden verließ der Fluß den See, breit, tief und schiffbar. An seinem Ufer drängten sich die Hütten der Siedler, von eingezäunten Feldern umgeben, die wiederum von Baumreihen begrenzt wurden. Aus den Kaminen der Hütten kräuselte Rauch fast senkrecht nach oben. Ein Bild des Friedens in einem vor Schreck und Ohnmacht erstarrten Land. Dragon nahm es bewußt in sich auf, denn es war schon lange her, daß er ein solches Bild gesehen hatte.
Niemand hinderte sie daran, dem Pfad weiter zu folgen und sich dem Dorf zu nähern. In dem kleinen Hafenbecken, dessen Ränder durch Holzstämme verstärkt worden war, schaukelten sanft ein paar Boote, die wahrscheinlich dem Fischfang dienten. Als die erste Hütte noch hundert Mannslängen entfernt war, traten aus ihrem Schatten drei Männer, die ihnen langsam entgegenschritten. Sie trugen nur ihre Schwerter, sonst keine Waffen. Ihr Anführer war der Mann in der Mitte, daran konnte kein Zweifel bestehen. Dragon erkannte es mit dem sicheren Instinkt eines Mannes, der selbst das Herrschen gewohnt war. Er hob den rechten Arm und blieb stehen. »Wir hoffen, willkommen zu sein, denn wir bringen die Grüße von Genol und Hadrek und ihren Kriegern. Gewährt uns Gastfreundschaft.« »Ich bin Hanrod«, sagte der Anführer, ein kräftig gebauter Mann mit dunkelblonden Haaren und einem ebensolchen Bart. Er trug kostbare Pelzgewänder und Fellstiefel. Seine Begleiter waren ähnlich bekleidet. »Seid willkommen, wir haben euch bereits erwartet. Genols Boten waren schneller als ihr. Eigentlich hielten wir nach einem Götterwagen Ausschau, aber die Boten haben wohl übertrieben ...« »Der Götterwagen wurde durch einen Angriff der Ungeheuer zerstört. Es geschah im Lager von Leif, einige Tagesmärsche südlich von hier. Er war es, der
mich zu dir schickte. Er meint, wir könnten bei euch Hilfe erhalten.« Hanrod breitete die Arme aus und kam auf Dragon zu, er legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte: »Ihr bekommt alles, was ihr haben wollt, mein Dorf ist auch das eure. Ihr seid der König aus den südlichen Ländern, der das Eisvolk gerettet hat. Wir Eisländer vergessen niemals eine Freundschaftstat, ebensowenig wie wir die Bestrafung eines Frevels vergessen. Doch heute abend wollen wir feiern, die Frauen bereiten schon alles vor. Es ist zu selten geworden, daß man wirkliche Freunde trifft.« Aber Dragon brannte noch eine wichtige Frage auf der Seele. Von ihrer Beantwortung hingen alle weiteren Pläne ab. »Boten ...?« fragte er, denn er wollte die Antwort auf Umwegen erhalten. »Wie können sie so schnell sein? Wir waren viele Tage und Nächte unterwegs.« »Sie haben Pferde, und der Eisfluß ist nur drei Tagesritte von hier entfernt. Sie kennen die besten und kürzesten Wege, unsere Boten, und sie mieden jede Begegnung mit den Ungeheuern, die weiter nach Süden ziehen, dem Eisfluß entgegen. Bald wird es dort zu einer weiteren Entscheidungsschlacht kommen.« »Die Verteidigungslinie wird halten, Hanrod.« »Wir alle hoffen es, obwohl es auf unser Leben hier keinen Einfluß haben wird. Hier im Tal sind wir sicher,
denn die Ungeheuer scheuen den Fels, auch wenn er nicht hoch ist. Über das Wasser können sie nicht kommen, so daß wir nur den schmalen Waldgürtel zu verteidigen haben.« Er nahm Dragons Arm. »Aber nun kommt, ich zeige euch euer Lager, das ihr, solange ihr wollt, als das eure betrachten könnt. Bald ist es dunkel, und dann beginnt das Fest.« »Wir sind müde, Hanrod, und ...« »Wetten, daß ihr schnell wieder munter werdet«, meinte der Anführer der Siedler mit dröhnendem Lachen. »Wir haben uns alle auf eure Ankunft gefreut und vorbereitet. Wer weiß, was morgen ist.« Sie erhielten einen Raum für sich ganz allein. Im Herd brannte ein wärmendes Feuer, über das in erster Linie Ubali erfreut war. Eine ältere Frau brachte warmes Wasser und Tücher. Sie ordnete schweigend die Felle und Pelze auf den beiden Lagern, die neben dem Herd vorbereitet waren. Dragon und Ubali wuschen sich, nachdem die Alte gegangen war. Sie seiften sich mit dem wohlriechenden Fett ein, das allen Schmutz entfernte und sich mit heißem Wasser leicht wieder abspülen ließ. Später, als sie sich wieder anzogen, fühlten sie sich wie neugeboren. »Hier könnte ich es ein paar Tage aushalten«, verkündete Ubali und warf sich auf sein Lager neben dem Herd. »Haben wir es wirklich so eilig, zur
Eiskönigin zu gelangen?« »Wir haben es sogar sehr eilig«, behauptete Dragon. »Aber ich denke auch, daß es auf ein oder zwei Tage nicht ankommt, wenn wir Pferde erhalten. Unser Ruf, der uns vorangeeilt ist, wird uns dabei helfen.« Hanrod stieß die Tür auf und stellte sich breitbeinig in den Rahmen. Mit brüllender Stimme forderte er Ruhe, die auch sofort eintrat. Dann verkündete er: »Ich bringe euch Dragon, den König der Südländer und den Retter des Eisflusses, den Sohn der Eiskönigin ... oder zumindest ihren Vertrauten und Botschafter. Sein Götterwagen wurde von den Ungeheuern vernichtet, aber er kam trotzdem zu uns, um mit uns zu feiern. Wir werden ihm beweisen, daß es im Nordland noch Menschen gibt!« Dragon sah etwa dreißig Männer um das große Feuer sitzen und stehen, das mitten in der Halle brannte. Riesige Steinplatten verhinderten ein Übergreifen der Flammen auf die hölzerne Umgebung. An einem Spieß, der von Frauen gedreht wurde, bräunte ein Ochse. Das Fett tropfte in die Flammen und verzischte. Ein verführerischer Bratenduft drang in Ubalis Nase, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Aber Dragon hielt ihn unmerklich zurück. Laut und feierlich rief er: »Ich, Dragon, König von Myra, begrüße euch im Namen meines Volkes, das südlich der Großen Eiswand lebt und von euren Taten hörte. Ihr trotzt den Ungeheuern,
die aus dem Weltentor kamen, und ich weiß, daß euer Mut keine Grenzen kennt. Ich bin stolz, euer Gast zu sein.« Begeistertes Grölen dankte Dragon für seine Begrüßung. Einige schwankende Gestalten kamen herbei und klopften ihm auf die Schultern, daß er fast in die Knie gesunken wäre. Hanrod jagte sie davon, zurück ans Feuer. Er geleitete seine beiden Gäste zu einem vorbereiteten Platz, etwas erhöht und mit Fellen verhängt. Hier duftete es noch mehr nach dem Ochsenbraten, und Ubali hielt sich verzweifelt die Nase zu, um jeder Versuchung zu widerstehen. Hanrod bemerkte es und grinste. Er nickte den Frauen zu, die mit Krügen und Holzbrettern herbeieilten. In den Krügen war ein schäumendes Getränk, das ein wenig herb und fremdartig roch. »Trinken wir auf das Wohl unserer Gäste!« brüllte Hanrod und hob den Krug seinen Kriegern und dann den beiden Männern entgegen. »Sie sind uns willkommen!
Und trinken wir auf den Sieg gegen die Bestien!« Dragon hatte Durst, und so schmeckte ihm das Gebräu doppelt gut. Auch Ubali leerte seinen Krug, den die Frauen sofort wieder nachfüllten. Dann warf er einen anzüglichen Blick auf sein noch leeres Holzbrett, auf das man ein kurzes Messer gelegt hatte. Hanrod rief einen Befehl. Die Männer, die den Spieß drehten, prüften das Fleisch mit Messern. Sie brüllten vor Begeisterung, als der braune Saft hervordrang und von den Frauen in Schüsseln aufgefangen wurde. Die ersten Stücke wurden herausgelöst und Hanrod gebracht, der kostete und dann zufrieden nickte. »Es ist sehr gut! Das Fest kann beginnen ...« So etwas hatten Dragon und Ubali noch nicht erlebt. Ihnen wurde klar, daß die Menschen des Eislands, die ein gefährliches und einsames Leben lebten, mehr Grund zu einer solchen ausgelassenen Feier hatten als andere Völker, denen die Natur nicht so feindlich
gesinnt war. Außerdem sorgte schon die Kälte dafür, daß mehr Nahrung benötigt wurde. Sie hatten es am eigenen Leib erfahren müssen. Ubali war der lebende Beweis dafür, daß auch die Menschen der Südländer ungeahnte Mengen in sich hineinschlingen konnten. Die Krieger Hanrods erstarrten fast vor Ehrfurcht, als sie den schwarzen Begleiter Dragons essen und trinken sahen. Immer wieder brachten ihm die Frauen ein neues Stück Fleisch und einen neugefüllten Krug mit dem schäumenden Getränk. »Sehr tüchtig!« lobte Hanrod, dem die Völlerei Spaß bereitete. »Sicher hat er lange genug Hunger gelitten. Was ist mit dir? Schmeckt es dir nicht, mein Freund?« »Doch, Hanrod, aber mich bedrücken die Sorgen um unsere Zukunft. Du weißt, daß ich zur Eiskönigin muß, den Weg aber nicht kenne. Wir haben euch hier gefunden, aber nun brauchen wir Pferde, um weiterreiten zu können. Wir oder Boten werden euch die Tiere zurückbringen. Glaubst du, daß ihr uns helfen könnt?« Hanrod nickte, während ihm der Bratensaft von den Lippen tropfte. »Natürlich helfen wir euch, aber nicht schon morgen. Ihr müßt für ein paar Tage unser Gast sein. In der Zwischenzeit bereiten wir alles vor. Den Heiligen Berg könnt ihr in zwei oder drei Tagen erreichen, wenn
ihr den kürzesten Weg nehmt.« »Ich dachte, es wäre nicht mehr so weit.« »Das Gelände ist unwegsam, und es wimmelt von Ungeheuern, die sich noch immer an den Leichen der großen Schlacht laben. Der Schnee und die Kälte haben dafür gesorgt, daß keine Verwesung eingetreten ist. Es muß ein schrecklicher Anblick sein.« Das allerdings konnte Dragon sich vorstellen. Trotzdem fragte er: »Wo liegt dieses Schlachtfeld, auf dem Fürst Edil fiel?« »In der Nähe des Spalts, durch den die Ungeheuer auf unsere Welt gelangten. Es liegt auf dem Weg zur Eiskönigin, und ein Umweg würde viele Tage kosten. Schließt die Augen, wenn ihr über es hinwegreitet – es sei denn, die Ungeheuer greifen euch an. Dann ist es wohl besser, die Augen wieder zu öffnen.« Er lachte dröhnend und ließ sich ein neues Stück Fleisch bringen, was Ubali dazu veranlaßte, der nächsten Frau ebenfalls sein triefendes Holzbrett zu reichen. Dragon hielt sich zurück. Er würde Pferde erhalten, das war vorerst einmal die Hauptsache. Sie würden Zeit gewinnen, auch wenn sie noch einige Tage hier im Dorf blieben. Er spürte, daß er nicht mehr so viel von dem schäumenden Zeug trinken durfte. Es berauschte. Ubali war außer den wackeren Kriegern das beste
Beispiel dafür. Schließlich wurden die letzten Fleischstücke vom Spieß gelöst. Die Frauen brachten die Knochen ins Freie, wo die Hunde bereits warteten. Eine gute Portion des restlichen Bratens wurde für die Wachtposten aufgehoben, die nicht an dem Fest teilnehmen konnten. Schon wollte Dragon Hanrod bitten, ihm und Ubali Urlaub zu gewähren, damit sie sich zurückziehen konnten, als sich die Tür zum Ratsraum öffnete und einer der bärtigen Krieger erschien. Er schien in Eile zu sein. Ohne weitere Worte zu verlieren, eilte er zu Hanrod und sagte ohne jede Einleitung: »Ein Bote ist eingetroffen, er kam zu Pferde und vom Eisfluß. Arric der Rote ist unterwegs, er wird bald bei uns sein. Er hat nicht den üblichen Weg über den Eisfluß genommen, sondern den über unseren Strom. Er kommt von jenseits der Großen Eiswand.« Arric der Rote! Dragon ließ sich nichts anmerken und war froh, daß Ubali nicht mehr viel von dem wahrnahm, was um ihn herum geschah. Sie kannten beide den ungebärdig und nicht besonders klug wirkenden Prinzen aus dem Eisland, der sich ebenfalls um die Gunst der Kyrace beworben und gegen Dragon eine Niederlage erlitten hatte. Mit dem fürchterlichen Schwur, sich eines Tages zu rächen, war er in sein Langboot gestiegen und
wieder nach Norden gesegelt. Und nun näherte er sich diesem friedlichen Tal. Dragon überlegte, wie er die weite Strecke so schnell hinter sich gebracht haben mochte und welchen Weg er genommen hatte. Es gab also eine Wasserverbindung vom großen Meer des Südens zum Eisfluß. »Wann trifft er ein?« fragte Hanrod seinen Krieger. »In drei oder vier Tagen, meint der Bote. Er bringt Neuigkeiten vom Eisfluß. Es müssen erbitterte Kämpfe stattgefunden haben, aber die Ungeheuer wurden immer wieder zurückgeschlagen. Die Front hält.« »Laß dir ein Stück Fleisch geben, Kilrok, und dann kehr auf deinen Posten zurück.« Er wandte sich an Dragon. »Arric der Rote ist ein Fürstensohn und kennt die Welt. Er behauptete immer schon, es gäbe einen Weg in die Südländer, und er wollte ihn mit seinem Boot finden. Es scheint ihm gelungen zu sein.« »Ich freue mich, ihm zu begegnen«, wich Dragon dem Bekenntnis aus, Arric bereits zu kennen. »Aber ich habe zu wenig Zeit. Morgen oder übermorgen müssen Ubali und ich aufbrechen ...« »Aber ihr könnt doch nicht meine Gastfreundschaft verschmähen!« polterte Hanrod. »Ihr bleibt natürlich, bis Arric eintrifft! Dann bekommt ihr die Pferde und die Wegbeschreibung. Ich kann euch auch einen meiner Krieger mitgeben, der euch führt.« Dragon wußte, daß er Hanrod nicht beleidigen
durfte. Zögernd also erklärte er sich mit dem Angebot einverstanden, und es war vielleicht ganz gut, mehr über Arric in Erfahrung zu bringen. Der Prinz war unberechenbar. Sein Verlangen nach Rache mußte unstillbar sein, und vielleicht war es gut so, wenn die Angelegenheit hier im Tal unter Zeugen erledigt wurde. Hanrod schien nicht besonders viel von Arric zu halten. Immerhin sprach er mit zurückhaltender Achtung von ihm. Arric galt als Abenteurer und unsteter Bursche, der weder Tod noch böse Geister fürchtete. Mit seinem Boot und seinen mutigen Männern war er schon viel in der bekannten Welt herumgekommen, und eines Tages, so hatte er verkündet, würde er auch das Ende der Welt aufsuchen. Er war im hohen Nordland gewesen, von dem er wahre Wunderdinge berichtete, und nun auch im Land des warmen Südens. Man war auf seinen Bericht gespannt. Bald durften Dragon und Ubali sich zurückziehen, ohne das Wohlwollen ihrer Gastgeber zu verlieren, die meist schon schlafend unter den Tischen herumlagen. Auch Ubali schwankte verdächtig, als sie ins Freie kamen und ihrer Hütte zusteuerten. »War das eine Feier!« grölte er. »Diese Nordländer verstehen es wirklich, ihr hartes Leben zu versüßen. Es hat mir wirklich sehr gefallen ...«
Dragon hielt ihn fest, bevor er über einen Stein stolpern konnte, und brachte ihn zu seinem Lager. Er nahm ihm den Pelz ab und deckte ihn damit zu. Noch während er sich aufrichtete, schnarchte Ubali bereits. Dragon legte Holz nach und streckte sich dann ebenfalls aus. Sein letzter Gedanke galt Arric dem Roten – und damit auch dem neuen Problem, das aufgetaucht war. Arric war hier im Eisland zu Hause. Er besaß Freunde und Einfluß. Er aber, Dragon, war ein Fremder. Ob sein Ruf als Held des Eisflusses genügen würde, ihn vor der Rache Arrics zu schützen ...?
2.
Der günstige Wind hatte Arric dem Roten beigestanden und sein Langschiff mit den Kriegern nach Norden getrieben, wo die Flache See wieder in das Große Meer überging und die Inseln häufiger wurden. Er bog ab nach Osten, um an der Westspitze der Schlangeninsel vorbei in Richtung Myra zu segeln.
So schnell würde er seine Niederlage gegen AgonDra auf der Insel der Kyrace nicht vergessen. Er wußte nicht, wer der geheimnisvolle Fremde war, der ihm die Zauberin mit Erfolg streitig gemacht hatte, aber eines wußte er gewiß: den gebrochenen Arm würde er noch lange spüren, und wenn ihm Agon-Dra jemals wieder in seinem Leben begegnen sollte, dann würde er sich für die erlittene Schmach blutig rächen. Der Wind hatte nachgelassen. Schlaff hingen die Segel an dem Mast. Arric rief seinen Männern zu: »Rudert, sonst verdursten wir mitten im Salzwasser! Die verdammte Schlangeninsel mit ihren Piraten ist nicht fern, und wenn sie uns entdecken, geht es uns an den Kragen. Wir haben Dutzende von Tagesmärschen mit unserem Schiff zurückgelegt, wir haben die Große Eiswand umfahren und den Weg in die südlichen Länder gefunden, aber wir taten es nicht, um abgeschlachtet zu werden. Das Große Meer soll nicht unser Grab werden! Rudert, Männer, rudert! Ich würde euch helfen, aber mein Arm ist gebrochen. In einem Mond ist er wieder heil, und bis dahin sind wir längst auf dem Eisfluß.« Die Dünung machte sie alle müde. Im Westen ging die Sonne bald unter, aber kein Land war in Sicht. Das Langschiff, kaum sechs Mannslängen groß, bot wenig Komfort. Heck und Bug waren steil nach oben gezogen und wehrten die Brecher ab, wenn es welche gab.
Heute bestand diese Gefahr nicht. Die Nacht schien ruhig zu werden. Der Wind schlief endgültig ein. Arrics Männer legten sich in die Riemen. Sie hatten eine sinnvolle Methode gefunden, sich gegenseitig abzuwechseln, so daß immer die Hälfte der Ruderer sich ausruhte, während die andere Hälfte dafür sorgte, daß kein Stillstand eintrat. Auch wenn kein Wind vorhanden war, kam das Schiff voran. Arric saß ein wenig erhöht im Heckteil des Langschiffs. Mit Fellen hatte er sich ein Dach errichten lassen, um gegen Wind und Kälte geschützt zu sein. Immerhin hatte er jetzt mit dem geschienten Arm eine triftige Ausrede, sich von der Arbeit zu drücken. Er legte die Pelzmäntel zurecht, damit er weich schlafen konnte. Solange es keinen Sturm gab, war alles in Ordnung. Aber vor allen Dingen war wichtig, daß sie nicht von Piraten aufgebracht wurden, von denen es in diesem Teil des großen Südmeeres eine ganze Menge geben sollte. Endlich schlief er doch ein. Am anderen Morgen wurde er von einem seiner Männer geweckt. »Die Schlangeninsel liegt weit hinter uns, Arric, die Piraten haben uns verschont. Nun fahren wir an der Küste eines Landes vorbei, das sich Myra nennt. In wenigen Tagen erreichen wir die Durchfahrt zur Blauen See zwischen dem Land des Wolfsmenschen und dem Land der Amazonen. Wir werden unsere
Waffen bereithalten müssen.« »Keine Sorge, Wolden, wir haben Pfeile genug, einer ganzen Armee zu trotzen. Aber die Wasservorräte bereiten mir Sorge. Irgendwo müssen wir an Land gehen, um sie zu erneuern. Wenn wir den Eisfluß erreicht haben, ist es gut. Sein Wasser ist süß und klar.« Wolden, der Starke, ein grobschlächtiger Kerl mit einigen Narben im Gesicht, grinste breit. »Es gibt genug Flüsse und einsame Landstriche, mach dir also keine Sorgen des Wassers wegen. Aber wir benötigen Fleisch und Fische. Ich werde mit deiner Erlaubnis heute einige Männer zum Fischfang einteilen. Wir können die Beute in der Sonne trocknen, damit sie nicht verdirbt.« »Inzwischen soll Hingurt das Kommando über die Ruderer übernehmen. Wir müssen noch heute die Küste von Myra erreichen und morgen die Meerenge vor uns sehen. Mein Arm schmerzt mich, Wolden ...« »Ich werde ihn neu verbinden und Kräuter auflegen. Das wird helfen.« Über der fernen Küste ging die Sonne auf und färbte den Himmel rot. Es war kein anderes Schiff zu sehen, nur manchmal die spitzen Rückenflossen der Delphine, die das Boot ständig begleiteten. Einen Delphin zu fangen, hätte Unglück bedeutet, aber es gab noch andere Fische in diesen Gewässern, besonders in der Nähe der Küste, wo die Felsen steil in
die klare Flut hinabfielen. Versteckte Buchten boten Schutz und versprachen Sicherheit. Und Wasser würde es dort vielleicht auch geben. Abends näherten sie sich noch mehr der Küste, die unbewohnt zu sein schien. Zwischen kleineren Felseninseln hindurch ruderten sie, bis sie eine geschützte Bucht entdeckten, in die ein klarer Bach mündete. Sie zogen ihr Boot ans Land und durchsuchten die Umgebung. Hier war seit vielen Monaten kein Mensch mehr gewesen, und das Landesinnere wies keinerlei Spuren einer Besiedlung auf. Treibholz wurde eingesammelt und ein Feuer entfacht. Jemand erlegte eine wilde Ziege, die sich neugierig in die Nähe der Nordmänner gewagt hatte. Es gab reichlich zu essen an diesem Abend, und die gefüllten Steinkrüge wurden unter den Ruderbänken festgebunden, damit sie ihren kostbaren Inhalt nicht verloren. Hingurt, der Einäugige, teilte die Wachen ein und half Wolden, dem Prinzen das Lager zu bereiten. Es waren wohl weniger die Schmerzen, die Arric so wehleidig machten, als der Verzicht auf die sofortige Rache für die erlittene Schmach. Aber erst mußte der gebrochene Arm ausgeheilt sein, ehe er an Rache dachte. Das Eisland würde ihn wieder gesund machen. Die warmen Südländer waren nichts für Männer seines
Schlages. Sie verweichlichten und machten Helden zu Feiglingen. Am anderen Morgen brachen sie schon lange vor Sonnenaufgang auf. Die See war ruhig, aber es ging ein leichter Wind, der das Segel blähte und den rudernden Männern ein Stück Arbeit abnahm. Er kam von Süden und brachte heiße Luft aus dem Land der Schwarzen. Sie schwitzten und tranken viel von dem warmen Wasser, das kaum ihren Durst löschte. Im Osten blieb das Land Myra immer in Sichtweite. Die Küste zeigte ihnen den Weg zur Blauen See. Kritisch wurde es erst, als auch im Nordwesten Land in Sicht kam. Sie näherten sich der Meerenge und damit der schmalen Durchfahrt zur Blauen See. Gefahr drohte nun von beiden Seiten, und es würde gut sein, die Tage in einer verborgenen Bucht zu verbringen und nachts zu rudern oder zu segeln, wenn der Wind günstig stand. Letzteres war im Augenblick der Fall. Der hochgezogene Bug mit dem Dämonenkopf zerteilte schäumend das Wasser, und die Gischt sprühte über die Männer hinweg, die nicht mehr zu rudern brauchten. Wolden, der Starke, hielt das Ruder und sorgte dafür, daß das Langboot in der Mitte der Meerenge blieb. Er hielt bereits Ausschau nach einer geeigneten Bucht. Sie waren nun schon seit vielen Tagen unterwegs
und hatten die weite Strecke in erstaunlich kurzer Zeit zurückgelegt. Es wurde Zeit, wieder einen Rasttag einzulegen. Sobald es dunkel geworden war, sollte weitergefahren werden. Sie fanden eine hinter Felsen versteckte Bucht und Trinkwasser, aber im Land der Amazonen schien es ratsam, kein Feuer zu entzünden. Sie aßen von den kalten Vorräten und zogen sich dann in den Schatten der Felsen zurück, um zu schlafen. Nur einige Männer blieben wach, um die Annäherung eines Feindes rechtzeitig bemerken und melden zu können. Um sich frisch und munter zu halten, badeten sie abwechselnd in dem kristallklaren Wasser der Meerenge. Arric ließ sich wieder von Wolden verbinden. Prüfend bewegte er den Arm. »Es ist schon besser geworden, Wolden. Ich werde ihn bald wieder gebrauchen können, und dann wehe diesem Agon-Dra, wenn er mir begegnen sollte.« Wolden sagte mit unterdrücktem Spott: »Das wird im Eisland kaum möglich sein, denn wie sollte er die Eiswand überwinden? Da müßte er schon fliegen können, wenn er kein Boot hat wie wir und den Weg nicht kennt.« »Wir sehen ihn wieder«, fauchte Arric ihn wütend an. »Egal wo, aber wir werden ihm wieder begegnen. Ich ahne es! Los, verbinde den Arm endlich ...« Mit sich und der Welt unzufrieden verkroch er sich
dann in den Schatten eines überhängenden Felsens und versuchte zu schlafen. Er sehnte den kühlen Abend herbei. Und den Schnee der eisigen Nordländer. Ein erster Angriff vom Land her erfolgte kurz nach Anbruch der Dämmerung. Sie hatten gerade das Boot ins Wasser zurückgeschoben und das Segel in den Wind gedreht, als Hingurt, dessen verbliebenes Auge ungewöhnlich scharf war, einen Schrei ausstieß und rief: »Sieben Reiter! Sie kommen zum Ufer herab und sehen nicht so aus, als wollten sie uns ein freundliches Lebewohl zuwinken. Da, sie spannen schon ihre Bögen ...« »In Deckung!« befahl Arric, im Kampf erfahren und selbst in gefährlichen Situationen ein stets überlegener Anführer seiner Männer. »Hinter die Schilde! Waffen bereitmachen!« Die sieben Reiter hatten das Ufer erreicht und hielten an. Sie sprangen von ihren Pferden und verteilten sich zwischen den Felsen. Dann kamen die ersten Pfeile geflogen, aber nur wenige erreichten das Boot, wo sie gegen die Seitenschilde prallten und ins Wasser fielen. »Gebt ihnen die richtige Antwort!« ordnete Arric an. Seine Männer waren nicht nur gute Seeleute,
sondern auch unerschrockene Kämpfer und ausgezeichnete Schützen. Ruhig und mit kaltem Blut suchten sie sich ihr Ziel und ließen den Pfeil erst dann von der Sehne schnellen, wenn sie sich ihres Schusses sicher waren. Einer von ihnen rief: »Es sind Weiber! Es sind wahrhaftig Weiber! Und ich hatte das immer für ein Märchen gehalten!« »Es sind die Amazonen, und sie sind grausamer als Männer. Wenn wir in ihre Hände fallen, können wir uns gratulieren.« »Aber vielleicht wäre es ganz hübsch, wenn wir eine von ihnen fangen könnten. Sie würde uns die Zeit vertreiben ...« »... und dir dabei die Augen auskratzen, Sigurt.« Die Pfeile schwirrten über die gekräuselte Wasserfläche, und zwei von ihnen fanden auch ihr Ziel. Die beiden Amazonen sprangen auf, brachen aber schon nach wenigen Schritten zusammen und blieben reglos liegen. Ein schriller Wutschrei wehte zu den Nordmännern herüber, dann folgten zwei oder drei Salven Pfeile, aber die Entfernung war schon zu groß geworden. Der Wind blähte das Segel und trieb das Boot in die Meerenge hinaus. Das andere Ufer war noch weit entfernt. »Ich glaube, wir können den Wind unterstützen«, sagte Arric. »Die Amazonen können uns nichts mehr
anhaben, wenn sie uns nicht in einem Boot folgen. Außerdem wird es gleich dunkel. Sie werden uns verlieren.« Der Himmel war sternenklar und die dunklen Schatten der beiden Ufer gut zu erkennen. Das Boot zog einen flimmernden Leuchtstreifen hinter sich her, der sich mit den Wellen seitwärts verteilte. Der Wind hatte nachgelassen, aber die Rudermannschaft legte sich kräftig in die Riemen, damit man bis zum Morgengrauen die engste Stelle der Durchfahrt erreichte. In der folgenden Nacht sollte sie dann passiert werden. Einmal in der Blauen See, war man in Sicherheit. Rechts sahen die Männer weit im Hinterland die Feuer brennen. Vielleicht waren sie Signale, die eine Nachricht weitertrugen, oder sie waren nichts als Zufall. Es hatte wenig Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, wichtig war nur, man fand ein geeignetes Versteck für den morgigen Tag. Die beiden Küsten rückten näher, als sich der Himmel im Osten rot zu färben begann. Arric saß auf seinem erhöhten Platz im Heck und hielt Ausschau. Am rechten Ufer fiel ihm nichts auf. Das linke war felsig, steil und leer. Buchten schien es weder hier noch dort zu geben. »Wir müssen noch ein Stück weiter. Erinnert ihr euch an die Herfahrt? Gleich nach der Enge fanden wir
eine bewaldete Bucht mit flachem Kiesstrand. Sie läßt sich gut verteidigen und ist vom Wasser her kaum auszumachen. Noch zweitausend Mannslängen müssen wir rudern, dann erreichen wir sie. Haltet auf das Ufer zu!« Es wurde dämmrig, als sie die schmale Einfahrt an den Felsen vorbei fanden. Das Wasser wurde schnell seicht. Ohne zu reden, zogen sie das Boot auf Land, während zwei Männer sofort auf Erkundung gingen und dann auf dem Uferfelsen Posten bezogen. Arric selbst kletterte mit Hingurt das Steilufer hinter der Bucht empor, bis sie den Rand der Hochebene erreichten. Dort warfen sie sich in eine Mulde und spähten nach Osten. Hier oben gab es keine Bäume, nur kahlen Fels und Wüste. Erst landeinwärts wuchsen Sträucher und Krüppelbäume. Von einer Hütte oder gar einer Ansiedlung war nichts zu bemerken. Im Osten war die engste Stelle der Durchfahrt, ebenfalls ein felsiges Steilufer zu beiden Seiten der Meerenge, die wie ein Strom wirkte. Sie war nicht breiter als zweihundert Mannslängen. Dahinter lag die Blaue See. Hingurt, der Einäugige, flüsterte Arric zu: »Ich habe etwas aufblitzen sehen, bei der Enge. Sie warten also auf uns. Sie haben sich am ganzen Ufer verteilt und werden uns mit einem Pfeilregen
empfangen. Unsere Deckung ist nur nach der Seite gut, aber nach oben ist sie nicht wirksam. Jeder Pfeil von oben kann sein Ziel finden.« »Nicht dann, wenn wir das andere Ufer wählen und dicht an ihm bleiben. So weit können auch die Amazonen nicht schießen. Sie halten nur die Südseite besetzt.« »Ob sie uns jetzt angreifen?« »Das wäre zu riskant für sie. Ich glaube, sie suchen sich die Nacht aus. Außerdem halten sie uns im Schiff für wehrloser. Nein, ich bin sicher, wir haben Ruhe – bis zum Abend.« Sie lagen noch eine Weile in der Mulde, entdeckten im Schein der aufgehenden Sonne die Stellungen der Amazonen hoch über der Meerenge und zogen sich dann wieder in die Bucht zurück. Die Wachtposten blieben, falls es doch zu einem Überraschungsangriff kommen würde. Aber nichts geschah. Langsam verging der Tag. Wolden und einer der Ruderer brachten die im Boot liegenden Kampfschilde so am Bordrand an, daß sie schräggestellt ein wenig Schutz gegen Pfeile von oben boten. Sie warteten, bis es völlig dunkel geworden war, dann zogen sie das Boot ins Wasser, stiegen ein und ruderten geräuschlos vom Ufer weg. Eine leichte Brise kam ihnen zu Hilfe, so daß sie die Ruder bald einziehen konnten. Wie ein
Geisterschiff glitten sie dahin, über sich die Sterne und an beiden Seiten die schwarzen Felsen. Links waren sie näher als rechts, wo die Gefahr auf sie lauerte. Niemand sprach, denn sie alle wußten, wie weit das Wasser ihre Worte tragen konnte. Sie hockten hinter ihren Schilden, Pfeil und Bogen griffbereit, und warteten. Arric selbst hatte das Steuerruder übernommen und hielt sich dicht am linken Ufer. Seine Augen suchten die Linie zwischen Himmel und Land nach einer verdächtigen Bewegung ab, aber er sah nichts. Jetzt lag die engste Stelle unmittelbar vor ihnen. Wenn überhaupt, dann würde der Angriff hier erfolgen. Arric fiel ein winziger Lichtschein auf, der rechts aus den Uferfelsen kam, die hier bis zu fünfzig Mannslängen hoch wurden und sich wie eine Wand auftürmten. Das Licht flackerte erneut, um dann plötzlich zu einer riesigen, lodernden Fackel zu werden, deren Lichtschein bis hinab zum dunklen Wasser der Meeresenge drang. Die Männer duckten sich erschrocken hinter ihre Schilde, als der Schutz der Nacht von ihnen wich. Sie duckten sich keine Sekunde zu früh, denn ein Hagel von Pfeilen regnete auf sie herab. Aber die Pfeile hatten keine Kraft mehr und durchschlugen nicht einmal mehr die Bordwand, geschweige denn die Schilde aus schimmerndem Metall.
Arrics List, sich am linken Ufer zu halten, machte sich bezahlt. Sie machte sich sogar in doppelter Hinsicht bezahlt, denn die Amazonen hatten sich noch eine besondere Überraschung ausgedacht. Die erste war das Feuer gewesen, mit der sie die Nacht so erhellten, daß ihre Pfeile ein Ziel fanden. Die Entfernung spielte ihnen jedoch einen Streich, allerdings auch beim nächsten Manöver. Im schwachen Wind trieben vom Südufer her unvermittelt vier brennende Schiffe auf das Langboot zu, gefolgt von einigen dunklen Schatten, in denen Rüstungen und Waffen blitzten. Die seltsame Flotte versuchte, den Nordmännern den Weg abzuschneiden. Wieder reagierte Arric schnell und entschlossen. »An die Ruder, Männer! Wir müssen rechtzeitig an ihnen vorbei, und verfolgen können sie uns nicht, weil wir zu schnell für sie sind. Die anderen hinter die Schilde! Die Bögen bereithalten! Wir können das Ziel gut erkennen und werden es nicht verfehlen.« Die brennenden Schiffe kamen nur langsam näher und blieben seitwärts zurück, als das Langboot mit großer Geschwindigkeit der Enge entgegenschoß. Hingurt kommandierte die Ruderer und hielt nun das Steuer, damit Arric den Bogenschützen die Pfeile zureichen konnte. Als die Amazonen feststellen mußten, daß die Beute zu entkommen drohte, griffen sie entschlossen an. Ihre
Ruderer verdoppelten ihre Anstrengung, und tatsächlich begannen die Kampfboote aufzuholen. Lediglich die brennenden Schiffe blieben zurück. »Los!« befahl Arric und meinte seine Bogenschützen. Da sich nun die Amazonen zwischen den Nordmännern und ihrem eigenen Feuerschein befanden, boten sie ein ausgezeichnetes Ziel. Schon die erste Salve von Arrics Männern lichtete die Reihen der Verfolger in so einem erheblichen Ausmaß, daß die Ruderer zu ihren Waffen greifen mußten, um die gefallenen Schützen zu ersetzen. Der Abstand wurde wieder größer. »Gebt es ihnen, bevor sie zu weit sind!« rief Arric und richtete sich auf. Ein Pfeil schwirrte dicht an seinem Kopf vorbei und er duckte sich schnell wieder. Der Gedanke, vom Pfeil einer Frau getroffen zu werden, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Aber noch während er sich duckte, sah er vor sich die beiden dunklen Schatten. »Achtung, sie wollen uns den Weg abschneiden! Weiter rudern! Sie kommen jetzt von vorn!« Hingurt hatte die beiden Boote ebenfalls entdeckt. Er hielt genau auf sie zu, um die Amazonen zu täuschen. Erst im letzten Augenblick würde er das Ruder herumreißen und dicht an ihnen vorbeischießen. Das war dann die günstige Gelegenheit, eine Salve
gegen sie loszuwerden. Vielleicht ergab sich aber auch die Möglichkeit, einen der Angreifer seitlich zu rammen. Die Boote kamen näher. Arric, der über den Bordrand blinzelte, stellte fest, daß die Amazonen nicht mehr ruderten, sondern zu ihren Waffen griffen. Vielleicht nahmen sie an, daß man sie noch nicht entdeckt hatte. Das Langboot änderte plötzlich seine Richtung, während die Bogenschützen sich ihr Ziel suchten. Die Pfeile von beiden Seiten trafen sich fast auf halbem Wege, aber nur die wenigsten fielen ins Wasser. Die meisten blieben zitternd im hölzernen Rumpf des Gegners stecken oder prallten von den Schilden ab. Nur wenige töteten den Feind. Arrics Männer ruderten aus Leibeskräften, wenn auch einer von ihnen einen Pfeil in der Schulter stecken hatte. Die Verluste der Amazonen waren größer gewesen. Allein vier von ihnen waren mit einem Aufschrei über Bord gestürzt und im dunklen Wasser versunken. Abermals riß Hingurt das Ruder herum, und das Langboot rammte das eine Fahrzeug der Amazonen. Der Bug mit dem Dämonenkopf bohrte sich knirschend in die Bordwand und verursachte ein riesiges Leck, durch das sofort das Wasser eindrang und das Boot zum Sinken brachte. Mit schrillen Wutschreien
versuchten einige der Kriegerinnen, Arrics Langboot zu entern, aber sie wurden mit Schwerthieben empfangen oder gleich ins Wasser geworfen. Da sie metallene Rüstungen trugen, versanken sie schnell. Einigen gelang es aber, sich auf das andere Boot zu retten. Hingurt löste den Bug durch schnelles Gegenrudern aus dem sinkenden Wrack. Arric verzichtete darauf, den Gegner zu verfolgen und befahl die Flucht. Außerdem näherten sich nun auch die anderen Boote der Unglücksstelle. »Schade«, knurrte Wolden. »Ich hätte mir eine von ihnen schnappen sollen. Müssen ja wilde Weiber sein!« »Für eine Liebesstunde jedenfalls zu wild«, entgegnete Arric. Er verstand den Wunsch seiner Männer, denn zu lange waren sie alle schon von zu Hause weg. »Sehen wir lieber zu, daß wir die Blaue See erreichen. Es ist Mitternacht, wir schaffen es leicht. Die Amazonen haben vorerst genug.« Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Die Ruderer bekamen eine wohlverdiente Pause. Der Verwundete wurde verbunden, nachdem man ihm den Pfeil aus der Schulter gezogen hatte. Sonst waren keine Verluste zu beklagen, wenn man von dem etwas lädierten Bug absah. Sie hielten sich nun dicht an der linken Felsenküste, während das rechte Ufer immer weiter zurücktrat, bis
es sich in der Dunkelheit verlor. Sie waren in der Blauen See und nahmen Kurs nach Norden. Wenn der Wind günstig blieb, konnten sie bereits morgen abend die weitverzweigte Mündung des Eisflusses erreichen. Schon die Farbe des Wassers würde ihn verraten. Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Die Männer schliefen abwechselnd, denn Arric würde tagsüber keine Ruhepause anordnen, um Zeit zu gewinnen. Als die Sonne aufging, färbte sich das tiefblaue Wasser im Osten blutigrot. Wie ein goldenes Ei stieg der Feuerball hinter dem Horizont hervor, zog sich erstaunlich in die Länge, um dann mit einem plötzlichen Ruck zu einer vollkommenen Kugel zu werden. Sie stieg schnell höher, und das Wasser wurde fast silbern. Nur links war Land zu sehen, eine flache Küste mit Gebirgen im Hinterland. Eine Landschaft, die Arrics Männern bereits vertraut war. Es gab einige Flüsse, und bei einer der zahlreichen Mündungen ließ Arric landen, um Frischwasser aufzunehmen. Nach einer kurzen Pause ging es weiter. Arric wußte eigentlich selbst nicht, warum er es so eilig hatte. Er verfügte jedoch über einen untrüglichen Instinkt, der ihm schon aus mancher Notlage herausgeholfen hatte. Er konnte eine Gefahr förmlich riechen, tief in seinem Innern spüren. Und diesmal war das Gefühl einer drohenden Gefahr besonders stark.
Allerdings hätte er nicht zu sagen vermocht, aus welcher Richtung er bedroht wurde. Der Gedanke, daß die Gefahr im Norden auf ihn wartete und dort bereits gegen die Stämme des Eisvolkes zugeschlagen hatte, kam ihm nicht. Er bezog einfach alles nur auf sich, und das war, wie sich später herausstellte, ein gewaltiger Fehler. Statt der Drohung auszuweichen, näherte er sich ihr. Bevor die Sonne hinter dem gebirgigen Westufer unterging, erblickten sie das erste Schiff auf der Blauen See. Es stand weit im Osten dicht unter dem Horizont und schien sehr groß zu sein. Drei Masten mit geblähten Segeln waren zu erkennen, und es fuhr hart am Wind gegen Südwest. Ein solches Schiff hatten die Männer aus dem Norden noch nicht gesehen, was wohl daran liegen mochte, daß sie in erster Linie meist auf Flüssen und Strömen fuhren. Wenn die Völker des Ostens so große Schiffe bauen konnten, dann war es ihnen auch möglich, weite und unbekannte Meere zu durchqueren. Vielleicht würde eines von ihnen einmal im Nordmeer auftauchen, von dem Arric nur einen kleinen Küstenteil kannte. Das Langboot war zu klein, um gegen die Küste entdeckt zu werden. Ohne den Kurs zu ändern, flog es weiter über die sanfte Dünung dahin, seinem Ziel entgegen.
Als die Sonne sank, hatte es die Mündung des Eisflusses noch nicht erreicht, aber das Wasser war schon nicht mehr ganz so klar wie vorher. Arric befahl, näher ans Ufer heranzufahren, aber die beginnende Dämmerung verhinderte, daß er den richtigen Mündungsarm fand. Er befahl, an der flachen Küste zu landen und ein Lager einzurichten. Holz gab es genügend, und die Gefahr eines Überfalls bestand hier nicht. Am nächsten Tag kreuzten sie durch das Gewirr der Inseln und Mündungsarme, bis sie auf eine starke Strömung trafen. Arric ließ das Segel einziehen und nickte den Ruderern aufmunternd zu. Von nun an würden sie schwer arbeiten müssen, denn der Eisfluß war lang und voller Gefahren. Der Wind reichte nicht aus, die Strömung zu überwinden. Sie wurde noch stärker, als sie das Gebirge erreichten, das als Ausläufer der Großen Eiswand galt und durch das sich der Eisfluß einen schmalen Weg gebahnt hatte. Aber Arric kannte die Stromschnellen nur zu gut von seinen ersten Vorstößen nach Südosten her und umfuhr sie geschickt. Endlich erreichten sie ruhigeres Wasser und begegneten auch den ersten Eisschollen, die den Winter in den Eisländern ankündigten. Sie trafen die ersten Menschen am Südufer des Eisflusses und verbrachten die Nacht bei ihnen. Arric
kannte den Stamm und erfuhr nun zum erstenmal von der großen Flucht aus dem Norden, den Ungeheuern aus dem Weltentor, der gewaltigen Schlacht südlich des Heiligen Berges und der neuen Verteidigungsfront am Eisfluß. Während seine Männer sich dem wohlverdienten Schlaf hingaben, um neue Kräfte zu sammeln, blieb Arric in der Hütte des Anführers der kleinen Gemeinschaft, die sich auf das Südufer gerettet hatte. Nach allen Regeln der Kunst fragte er ihn aus. »Wir sind alle geflohen, nur wenige blieben zurück. Fürst Edil ist gefallen, und zusammen mit ihm starben fast alle anderen Stammesfürsten. Ich bin sicher, nicht alle Männer und Frauen des Eisvolkes flohen nach Süden. Einige haben die Heimat nicht verlassen und wollen sie gegen die Ungeheuer verteidigen.« Arric erkundigte sich nach der Verteidigungslinie, und was er da erfuhr, gab ihm zu denken. »Ein Fürst aus den südlichen Ländern kam mit einem Götterwagen. Es heißt, er sei der Sohn der Eiskönigin. Aber wie ist das möglich, wenn er aus dem Süden kommt ...? Nun, wie dem auch sei, zusammen mit den Fürsten Genol und Hadrek baute er die Verteidigungslinie auf. Seitdem konnte keines der Ungeheuer mehr den Eisfluß überqueren. Der Fremde ist ein Held, und sein Name ist Dragon.« Dragon ...?
Arric sann nach, aber er konnte sich nicht erinnern, den Namen schon gehört zu haben. Und doch war er sicher, daß er ihm nicht völlig unbekannt war. Aber woher? Noch lange saß er mit dem Anführer zusammen, dann begab auch er sich zur Ruhe. Er hatte einen Entschluß gefaßt, der seine ganzen Pläne änderte. Welchen Sinn sollte es noch haben, weiter den Eisfluß hinaufzufahren? Wenn schon, darin würde er dem neuen Feind, den Bestien aus dem Weltentor, in den Rücken fallen. Wenn schon dieser Dragon ein Held sein sollte, dann würde er, Arric, beweisen, daß er ein noch größerer Held war. Beim Seefluß würden sie den Eisfluß verlassen, um direkt nach Norden vorzudringen. Doch bis zur Mündung des Seeflusses war es noch eine Tagesreise, wenn man Aufenthalte einkalkulierte. Arric versuchte zu schlafen, aber der Name »Dragon« ging ihm nicht aus dem Sinn. Ein Fürst oder König aus den Südländern? Ein Sohn der Eiskönigin? Was war die Wahrheit, was stimmte? Die Begeisterung, mit der man von diesem geheimnisvollen Mann sprach, weckte in ihm eine Art von Eifersucht. Arric war davon überzeugt, daß auch er in der Lage gewesen wäre, die Verteidigungslinie aufzubauen, hätte er sich nicht gerade woanders aufgehalten. So betrachtet, schloß er, hatte ihm der
Fremde den Ruhm gestohlen. Das mußte auf jeden Fall bereinigt werden. Arric war nicht besonders intelligent, vielleicht war er eben deshalb bis zur Dummheit tapfer und darauf versessen, ein Held zu sein. Endlich schlief er ein, und am anderen Morgen wurde er früh von Hingurt geweckt, da ein günstiger Wind von Osten wehte. Sie setzten das Segel, stießen vom Ufer ab und stellten fest, daß sie auch ohne rudern langsam vorankamen. Aber Arric ließ trotzdem rudern und gab Anweisung, dicht am Ufer zu bleiben. Mehrmals erblickten sie die Wachtposten am Südufer, während das Nordufer des Eisflusses wie ausgestorben wirkte. Man rief sich Grüße und Informationen zu. Die Verteidigungslinie hielt, und noch immer war Dragon der neue Held des Eisvolkes. Jeder Krieger der Nordländer würde sein Leben für ihn hingeben, wenn es notwendig sein sollte, denn er galt als ihr Retter. Am frühen Nachmittag erreichte das Langboot die Mündung des Seeflusses, der im Norden entsprang. Nun kam der Wind von der rechten Seite, aber die Ruderer halfen mit, die gleichmäßig vorhandene Strömung zu überwinden. Gegen Abend landeten sie in einer stillen Bucht, und zu ihrem Erstaunen sahen sie ein Lagerfeuer durch das Gebüsch schimmern. Arric, Hingurt und Wolden schlichen sich an, bis sie
die Boten erkannten. Sie waren in Felle gekleidet und benahmen sich so, als könne ihnen hier keine Gefahr drohen, um so mehr erschraken sie, als Arric sich aufrichtete und an ihr Feuer geschritten kam. »Bleibt sitzen, Freunde, ich bin es, Arric der Rote. Ich komme aus den Ländern des Südens, um euch im Kampf gegen die Ungeheuer zu unterstützen. Wo sind sie, eure Ungeheuer? Sie können nicht gefährlich sein, sonst würdet ihr nicht so arglos am Lagerfeuer sitzen.« »Arric der Rote!« Der eine der beiden Boten starrte den drei Männern verblüfft entgegen, während der andere aus reiner Verlegenheit Holz auf das Feuer legte und sich jeder Äußerung enthielt. »Das ist aber eine Überraschung ! Sicher habt ihr schon von Dragon gehört, dem Helden aus den südlichen Ländern, der mit dem Götterwagen kam und ...« »Immer langsam, und immer der Reihe nach. Das müßt ihr uns berichten, Bote. Wer schickt dich?« »Die Fürsten am Eisfluß, mit Botschaften für die zurückgebliebenen Völker im Eisland. Mein Weg führt mich zum See, dann weiter zum Heiligen Berg, wo es auch noch Überlebende geben soll.« »Gut.« Arric setzte sich ans Feuer. Auch Hingurt und Wolden machten es sich bequem, nachdem sie den Männern im Boot Bescheid gesagt hatten, daß sie hier übernachten würden. »Die Siedlung am See besteht also noch? Sie ist mein Ziel. Von dort aus werde ich zur
Eiskönigin gehen und sie um Hilfe für uns bitten. Es muß schon neun oder zehn Sommer her sein, daß sie das letztemal erschien.« »Nur sieben Sommer«, widersprach der Bote. »Aber in Zeiten der Not sollte sie eine Ausnahme machen. Du willst zu ihr, Arric?« »Sicher will ich das, und sie wird auf mich hören.« »Ich werde die Botschaft gen Norden bringen«, versprach der Bote erfreut. »Die Pferde sind schneller als dein Boot. Am See wird man dich freudig empfangen – wenn dort noch jemand lebt.« In dieser Nacht sah Arric zum erstenmal die Ungeheuer. Er hatte Wachen aufstellen lassen, die zum Glück ihre Aufmerksamkeit nur dem Wald zuwenden mußten, denn noch selten hatten die Ungeheuer vom Wasser her angegriffen, es sei denn am Eisfluß, wo ihnen keine andere Wahl blieb. Zwei Feuer wurden von den Posten genährt, denn die Bestien scheuten die offene Flamme – auch das war eine Weisheit, die von Dragon stammte. Arric erwachte, als das Geschrei der beiden Männer die Stille der Einsamkeit unterbrach. Er griff nach seinem Schwert und sah um sich. Einer der Wachtposten kam herbeigelaufen. »Sie sehen aus wie Wölfe und sind gleich hier. Ein
Mann ist bei ihnen, ganz mit Haaren bedeckt. Und ein paar riesige Spinnen, die ihnen folgen. Sie sehen alle schrecklich aus ...« »Bogenschützen, fertig! Die anderen nehmen brennende Äste und die Schwerter. Wir werden sie gebührend empfangen, diese sogenannten Ungeheuer. Wollt ihr nicht lieber fortreiten, Boten? Bringt euch in Sicherheit, wir werden schon allein mit ihnen fertig.« »Wenn ihr meint ...« »Ab mit euch! Ihr wäret im Schlaf aufgefressen worden, wenn wir nicht zufällig euer Feuer entdeckt hätten.« Die Boten ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie warfen sich auf ihre Pferde und verschwanden im Dunkel des Waldes, um in nördlicher Richtung davonzureiten. Sie kannten den Weg, denn sie waren ihn schon oft geritten. Lange vor Arric würden sie den See erreichen. Nun griffen die Ungeheuer endgültig an. Überall kamen sie aus dem Dickicht und stürzten sich auf Arrics Männer, die sie mit einem Hagel von Pfeilen empfingen und dann mit Schwertern auf sie einschlugen. Einige ergriffen die aufflammenden Äste und schleuderten sie den Bestien entgegen. Die Spinnen verbrannten sofort, während die Rattenwölfe scheu zurückwichen. Der Mann mit den Haaren und den spitzen Ohren
brüllte heiser auf, als ihn ein brennender Ast gegen die Brust traf. Aber er schien das Feuer nicht so sehr zu fürchten wie seine Kreaturen. Er schwang seine Keule und kam näher. Arric riß sein Schwert empor und erwartete den unheimlichen Gegner. Geschickt parierte er den Keulenschlag und hieb dem Unhold das rechte Bein ab. Dann stieß er nach und tötete ihn ohne viel Federlesens. Sein Beispiel stärkte den Mut der Männer. Die Angreifer hatten ihren Anführer verloren und schienen verwirrt. Sie fielen dem Feuer, den gut gezielten Pfeilen und den Schwerthieben von Arrics Männern zum Opfer, ehe sie sich neu organisieren konnten. Der Rest konnte im Dunkel der Nacht entkommen. Arric stützte sich auf sein Schwert. »Pah!« stieß er verächtlich hervor. »Und da nennen sie jemand einen Helden, nur weil er mit diesen schwächlichen Kreaturen fertig wurde! Ich verstehe nicht, warum unsere Völker flohen. Wir haben schon stärkere und furchtbarere Gegner gehabt. Und dafür mußte Fürst Edil sterben ...!« Gegen Mittag des folgenden Tages sahen sie am Westufer auf einer gerodeten Lichtung eine verlassene Siedlung. Arric, der nun selbst das Ruder hielt, steuerte in die kleine Bucht und landete.
»Sie scheinen einfach davongelaufen zu sein, aber vielleicht haben sie ihre Vorräte zurückgelassen. Wir haben kaum noch etwas zu essen. Drei Mann bleiben beim Boot zurück, die anderen kommen mit mir. Waffen bereithalten.« Das Dorf war in der Tat verlassen. Aber es zeigte keine Beschädigungen oder Spuren eines Angriffs. Die Ungeheuer hatten es nicht gefunden. Aber die Menschen waren weg. Sie hatten fast alles mitgenommen, was sie transportieren konnten, aber in einigen Kellern fanden Arric und seine Männer noch eingewinterte Feldfrüchte und getrocknetes Fleisch. Sie brachten alles zum Boot und verstauten es in den Proviantkisten. Für die kommenden Tage waren sie die Nahrungssorgen los, aber sie würden ja schon morgen oder übermorgen den Quellsee erreichen. An diesem Tag legten sie einen Großteil der restlichen Strecke zurück, weil der Wind besonders günstig stand und ununterbrochen wehte. Als es dunkelte, legten sie an einer kleinen Insel an, die ihnen Sicherheit gegen unerwünschte Besucher bot. Sie waren schneller vorangekommen, als Arric es erhofft hatte. Morgen mittag waren sie am Ziel. Sie machten ein Lagerfeuer und aßen von den Vorräten, die sie in dem verlassenen Dorf gefunden hatten. Ein Krug mit Met kreiste, und bald hatten alle
nur noch den einen Wunsch, möglichst bald in die Felle kriechen und schlafen zu können. In dieser Nacht war es Arric selbst, der Wache hielt. Er war gerecht genug, seinen überstrapazierten Männern die Ruhe zu gönnen. Die Hoffnung, bald ein Held zu sein, gab ihm die moralische Kraft dazu.
3.
Dragon hatte mit Hanrods Hilfe drei Pferde ausgesucht. Es waren zwei kräftige Reittiere und ein Packtier, das die Vorräte tragen sollte. Obwohl Hanrod protestierte, wollte Dragon bereits am nächsten Tag aufbrechen. Er kannte natürlich den wahren Grund nicht, denn wie hätte er ahnen können, daß der König aus dem Süden den Fürstensohn aus dem Norden im Zweikampf besiegt hatte? Dragon wollte Arric nicht begegnen, nicht etwa aus Furcht vor dessen Rache, sondern einfach deshalb, weil er keinen Unfrieden stiften wollte. Trotzdem ging seine Rechnung nicht auf, denn am anderen Morgen verzögerte sich sein Aufbruch um
einige Stunden, weil auf der anderen Seite des Flusses eine gewaltige Horde der Ratten gesichtet wurde. Sie zogen nach Süden, kamen aber nur langsam voran. Die Spinnen folgten ihnen. Kein Spitzohr war zu sehen. Hanrod hätte Dragon am liebsten angebunden. »Es hat keinen Sinn jetzt, denn du mußt den Fluß überqueren, wenn du zum Heiligen Berg willst. Du würdest den Ungeheuern genau in den Rachen laufen, und dein Diener mit dir. Natürlich wäre es auch um die wertvollen Pferde schade ...« Dragon gab nach. Die Wachtposten im Wald ließen den Zug der Ungeheuer nicht aus den Augen, der erst gegen Mittag in den südlichen Wäldern untertauchte. Aber gleichzeitig machten sie eine andere Beobachtung, die jedoch Freude bei ihnen auslöste. Sie entdeckten Arrics Langboot, das sich dem Sperrgürtel näherte. Ein Bote überbrachte Hanrod die freudige Nachricht. Der wiederum konnte Dragon noch gerade rechtzeitig vom Pferd holen. »Arric trifft ein!« Er zwang auch Ubali zum Absteigen. »Ihr müßt Arric kennenlernen! Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich euch jetzt ziehen lassen würde.« »Vielleicht wäre er euch dankbar«, meinte Dragon und versuchte, wieder in den Sattel zu gelangen. Aber Hanrod blieb störrisch.
»O nein, das wäre er nicht. Außerdem kennt er den Weg zum Heiligen Berg. Er kann euch behilflich sein.« Dragon sah Hanrod verblüfft an. »Er kennt den Weg dorthin? Woher kennt er ihn?« »Niemand weiß, was ihn mit der Eiskönigin verbindet, aber es heißt, daß er gut mit ihr befreundet ist. Du kannst ihn ja selbst fragen, in einer Stunde ist er hier. Ich lasse die Pferde in den Stall zurückbringen. Du wirst sicher nicht vor morgen früh aufbrechen. Arric kommt aus den südlichen Ländern und hat viel zu berichten.« »Davon bin ich überzeugt«, gab Dragon zu und beschloß, den Dingen ihren Lauf zu lassen. »Wir warten in unserer Hütte, bis du uns einen Boten schickst ...« Das Feuer brannte und es war warm. Aber Dragon wäre auch ohne das Feuer nicht erfroren. Ubali setzte sich auf sein Lager. »Das hat uns noch gefehlt! Ich verstehe nur nicht, wie er so schnell den Weg hierher fand. Wenn es wirklich einen Wasserweg gibt, vielleicht über die Blaue See, dann hätte er doch Wochen benötigen müssen! Er kann doch nicht fliegen, wie wir es konnten.« Dragon legte nachdenklich ein Stück Holz in die Flammen. »Wie auch immer, er wird es uns sicherlich verraten.
Aber ich möchte keinen Ärger, Ubali. Halte dich zurück, wenn er angriffslustig werden sollte. Die Geschichte mit Kyrace können wir aufklären, er sieht ja, daß ich auf ihren Besitz verzichtet habe. Und was den Arm angeht, den ich ihm gebrochen habe, so sollte er bereits verheilt sein. Er könnte mir also verzeihen.« »Jedenfalls werde ich bereit sein«, versprach Ubali grimmig, Hanrod erschien noch einmal kurz vor Mittag. »Man hat Arrics Boot gesichtet. In einer Stunde trifft er ein. Wir werden alles zu seinem Empfang vorbereiten.« Damit verschwand er wieder. Dragon sagte: »Es ist nicht seine Beliebtheit allein, die uns vorsichtig machen sollte. Er kennt angeblich den Weg zum Heiligen Berg und sogar die Eiskönigin selbst. Wenn wir ihn dazu überreden könnten, uns zu führen, ergäbe sich eine gute Gelegenheit zur Versöhnung. Ich jedenfalls wäre dazu bereit.« »Mit diesem Barbaren?« Ubali schüttelte den Kopf. »Er wird niemals auf seine Rache verzichten. So ein Kerl vergißt keine Niederlage. Er ist dumm, aber er ist auch mutig.« »Trotzdem ist er auch klug«, gab Dragon zu bedenken. »Warten wir ab, wie er uns begrüßt. Er wird mich wiedererkennen. Lasse ihn nicht aus den Augen, Ubali!«
Hanrod selbst holte sie etwas später ab. »Ihr könnt, mich begleiten. Arrics Boot wird in wenigen Minuten den See erreichen und im Hafen anlegen. Alle aus dem Dorf haben sich zu seinem Empfang eingefunden.« Dragon und Ubali zogen den Pelzmantel nicht an, denn die Sonne schien warm vom Himmel herab, aber sie verzichteten nicht auf das Umgürten der Schwerter. Sie nahmen Hanrod in ihre Mitte und gingen hinab zum Hafen. Draußen auf dem Wasser erblickten sie das Segel des Langboots, das nun Kurs auf die enge Hafeneinfahrt nahm. Im Heck stand Arric, unverkennbar und den rechten Arm noch in der Schlinge. Das Schwert hing an seiner linken Seite. Hanrod eilte voraus, um den willkommenen Gast zu begrüßen. Dragon hielt es für besser, nicht zu lange zu zögern. »Gehen wir, Ubali, wir können es nicht länger aufschieben. Arric wird nicht verrückt genug sein, jetzt an seine Racheschwüre zu denken.« »Hm«, knurrte Ubali voller Skepsis und folgte ihm, die linke Hand vorsichtshalber in der Nähe des Schwertes. Arric ließ sich von Hanrod aus dem Boot helfen und umarmte den Anführer der Siedler wie einen alten Freund. Er winkte seinen Männern zu, an Land zu gehen. Hingurt kümmerte sich um das Festmachen des
Bootes und knüpfte die Knoten. Dann kam auch er an Land. Arric blieb wie angewurzelt stehen, als Hanrod den Helden des Eisflusses vorstellte. Dragon! Natürlich, warum war er nur nicht früher darauf gekommen? Der Mann hatte die Silben seines Namens einfach umgedreht und ein A davorgesetzt: Agon-Dra! Das also war sein Rivale gewesen, als er Kyrace erobern wollte! Unwillkürlich zuckte seine linke Hand zum Schwert, aber gleichzeitig kamen ihm zwei Gedanken: Erstens fühlte er sich nicht stark genug, gegen diesen Dragon zu kämpfen. Mit Sicherheit würde er eine zweite Niederlage erleiden, und das wäre nicht gut. Und zweitens galt dieser Dragon als Held. Er wurde vom Eisvolk als Retter verehrt, und wer ihn tötete, würde ein Feind des ganzen Eisvolkes sein. Er reichte Dragon ohne Umschweife die linke Hand. »Ich grüße dich, Agon-Dra. Es ist besser, wir vergessen unseren alten Streit. Bist du einverstanden?« Ehe Dragon antworten konnte, rief Hanrod verblüfft: »Ihr kennt euch?« Dragon nahm Arrics Hand und gab den Druck
zurück. »Von den Südländern her, Hanrod. Es ist eine lange Geschichte. »Es ist ja auch eine lange Reise«, polterte Arric, der wieder Oberwasser bekam. »Wir hätten uns bald um ein Weib gestritten. Wie ich höre, Dragon – der Name stimmt ja wohl – hast du hier einige Heldentaten vollbracht, zu denen ich meiner Abwesenheit wegen leider nicht mehr kam. Die Ungeheuer sind in unser Land eingefallen und haben die Menschen vertrieben. Mein Stamm existiert nur noch zur Hälfte und im Nordland verstreut. Fürst Edil ist tot.« »Es sind viele gestorben während deiner Reise, Arric«, erklärte Hanrod düster. »Aber Dragon rettete auch vielen das Leben. Er wird zur Eiskönigin gehen und ihre Hilfe erbitten. Dann werden wir die restlichen Ungeheuer besiegen.« »Zur Eiskönigin?« Arric sah Dragon forschend an. »Kennst du die Eiskönigin?« »Nein, ich kenne sie nicht, und ich kenne auch nicht den Weg zu ihr. Aber ich werde ihn finden.« »Dragon, ich kenne den Weg! Ich bin ihn oft gegangen. Meinst du nicht auch, daß ich dir einen Vorschlag machen könnte?« Dragon blieb ruhig und verbarg seinen Argwohn. »Einen Vorschlag, Arric? Was könnte das für ein Vorschlag sein? Doch höchstens der, mich zur
Eiskönigin zu führen. Richtig?« Arric grinste von einem Ohr zum anderen. »Richtig, Dragon! Ich bekräftige mit Handschlag und Schwur, daß ich meine Rache vergessen will, um der gemeinsamen Sache willen. Ich bin bereit, dein Waffengefährte zu werden und dich zum Heiligen Berg zu führen. Leider muß ich mein Boot und die meisten meiner Männer zurücklassen, da es nicht genug Pferde gibt. Hanrod wird uns die notwendigen Reittiere besorgen und meinen zurückbleibenden Kriegern Gastfreundschaft gewähren. Nicht wahr, Hanrod?« Er schlug dem alten Krieger so fest auf die Schultern, daß dieser fast zusammenbrach. »Natürlich, Arric, es wird alles so geschehen, wie du es wünschst. Wann wollt ihr aufbrechen?« »Schon morgen«, befahl Arric. Dragon sah sich um einen weiteren Tag betrogen, aber wenn Arric wirklich den Weg zum Heiligen Berg wußte, war sogar noch Zeit gewonnen. Der Prinz aus dem Eisland konnte sich als wertvoller Verbündeter erweisen, wenn er es ehrlich meinte. Sie kehrten zum Dorf zurück, wo sie sich für eine Weile trennten. Abermals sollte am Abend ein Fest im Ratsraum stattfinden. Die Frauen waren bereits losgezogen, um den obligaten Ochsen einzufangen. Ubali legte das Holz im Kamin zurecht.
»Ich traue Arric keinen Schritt weit«, sagte er. »Er denkt noch immer an Rache, und in seiner Nähe könnte ich keine Sekunde ruhig schlafen. Warum nehmen wir seine Hilfe an?« »Weil wir es müssen, Ubali. Ich traue ihm auch nicht so recht, aber er kennt das Land und die Leute. Wir dürfen sein Angebot nicht zurückweisen, ohne ihn vor allen Menschen zu beleidigen. Einer von uns beiden, Ubali, wird ständig wach sein. Niemals dürfen wir zugleich die Augen schließen. Morgen brechen wir auf.« Es wurde abermals ein großes Fest, und zum Schluß lag die Hälfte der Teilnehmer betrunken unter den Holztischen. Arric hatte von seinen Abenteuern in den südlichen Ländern berichtet und manchmal deftig übertrieben. Wenn er das tat, blinzelte er Dragon vertraulich zu, als wolle er ihm so bekunden, daß er schließlich nur Spaß mache. Später verriegelte Ubali die Tür von innen, damit es während der Nacht keine unliebsame Überraschung geben konnte, aber niemand störte sie bis zum frühen Morgen. Arric selbst weckte sie mit seiner dröhnenden Stimme: »He, aufwachen! Wir brechen in einer Stunde auf! Die Pferde werden schon gesattelt ...« Hanrod hatte insgesamt sieben Tiere bereitgestellt,
zwei sollten zum Tragen der Lasten verwendet werden. Der Proviant und Wasserkrüge wurden aufgeladen. Arric kam Dragon und Ubali mit zwei verwegen aussehenden Gestalten entgegen. »Sie werden mit uns reiten. Das hier ist Hingurt, genannt das Einauge. Ein prächtiger Bursche mit einem sonnigen Gemüt, wenn man ihn nicht reizt. Der andere ist Wolden der Starke. Er zerbricht ein Schwert über dem Knie, wenn man eine Wette mit ihm abschließt. Aber er ist auch sonst gut zu gebrauchen, besonders dann, wenn diese Ungeheuer es wagen sollten, uns zu überfallen.« Dragon blickte in die grinsenden Visagen der beiden Kerle und bemühte sich, Vertrauen zu fassen, was ihm jedoch nicht so recht gelingen wollte. Aber die Männer des Nordens waren anders als jene des Südens, und vielleicht täuschte er sich. Vielleicht steckte doch ein guter Kern in dieser rauhen Schale. Die Zukunft würde es zeigen. Dragon trug seinen leichten Zaubermantel, den er von dem »Namenlosen« aus dem Weltentor erhalten hatte, unter dem Pelzmantel. Bis jetzt hatte er ihn noch nicht gebraucht, und seine unsichtbar machende Wirkung kam auch erst dann zur Geltung, wenn er den Pelzmantel auszog. Vielleicht war es gut, wenn Arric nichts von dem Umhang wußte. Hanrod wünschte ihnen Glück und Erfolg, als sie
auf die Pferde kletterten und davonritten. Die Männer johlten ihnen einen letzten Gruß nach, dann blieb die Siedlung zurück. Sie passierten den bewaldeten Sperrgürtel und bogen dann nach Westen ab, um den Berg zu umgehen. Dann erst ritten sie nach Norden, wo irgendwo im Dunst des Horizonts ihr Ziel verborgen lag. Arric und Dragon hielten sich an der Spitze, während Ubali stets dafür sorgte, daß er den Abschluß bildete. So konnte er alle im Auge behalten. Wolden und Hingurt blieben in der Mitte. Es wurde nicht viel gesprochen. Lediglich Arric stellte immer wieder Fragen, die Dragon beantworten mußte. Er wollte alles über die Kämpfe am Eisfluß wissen und über den Bau der Verteidigungslinie. Dragon glaubte, seine Neugier zu verstehen und versuchte, sie zu befriedigen. Er berichtete von seinem ersten Zusammentreffen mit Fürst Genol, der zur Großen Eiswand fliehen wollte und zur Umkehr bewegt werden konnte. Das Gelände wurde hügeliger, aber Arric schien sich wirklich hier auszukennen. Er war also nicht immer nur mit seinem Boot unterwegs gewesen. Dragon stellte eine entsprechende Frage. »Das Boot kam erst später, als es mir auf dem Land zu langweilig wurde«, erzählte Arric bereitwillig. »Lange Jahre stellte ich als Bote meines Stammes die
einzige Verbindung zu den anderen Stämmen her. Oft war ich viele Monde unterwegs, um auch die abgelegensten Siedlungen zu erreichen. Bis weit nach Norden drang ich vor, wo die Küste des Nordmeeres das Eisland begrenzt. Es hat keinen Horizont, und sein Wasser ist schwer und grau wie Blei. Im Winter friert es meist zu und man kann zu den Felseninseln wandern. Ein rauhes und feindliches Land, der Norden des Eislandes. Willst du es sehen?« »Später vielleicht, doch jetzt liegt eine andere Aufgabe vor uns«, erinnerte ihn Dragon. »Wir müssen die Eiskönigin bitten, ihrem Volk zu helfen. Vielleicht weiß sie noch nichts von den Ungeheuern.« »Das ist möglich, denn sie wohnt tief in ihrem Berg und schläft.« Arric hatte die Binde von seinem Arm entfernt, der nun lose an seiner Seite herabhing. Er konnte ihn bereits wieder ganz gut bewegen, aber noch kein Schwert damit führen. Zum Bogenschießen jedoch reichte es. Sie hatten es ausprobiert und gute Ergebnisse erzielt. Gegen Mittag erreichten sie eine verlassene Siedlung, die von den Ungeheuern geplündert worden war. Arric hatte die Menschen gekannt, die einst hier lebten, und sein Zorn war echt, als er den Bestien blutige Rache schwor. Ohne sich lange aufzuhalten, ritten sie weiter.
»Wir können ein zweites Dorf noch vor Anbruch der Dunkelheit als Nachtquartier einrichten, wenn wir dort eine heile Hütte finden. Die Bewohner gehören zu Edils Stamm – oder sie gehörten dazu.« Das von Arric angekündigte Dorf lag mitten auf einer Waldlichtung an einem zugefrorenen See. Einige der Hütten waren abgebrannt. Wahrscheinlich hatten die Bewohner sie vor ihrer Flucht angezündet, aber das Feuer hatte sich nicht weiter ausbreiten können. Arric wählte mit besonderer Sorgfalt eine Hütte am Rand des Eises aus, befahl seinen beiden Männern Holz zu holen und kümmerte sich um die Pferde, die in der halb abgebrannten Nachbarhütte Platz fanden. Ubali räumte den offenen Kamin aus und schichtete Holz auf. Dragon entzündete das Feuer. »Wir werden abwechselnd wach bleiben«, flüsterte Ubali, »ganz gleich, wie wir eingeteilt werden.« »Immer noch mißtrauisch?« hauchte Dragon zurück. »Ich werde nie aufhören damit ...« Arric kam in den Raum und warf den Pelzmantel auf den Holzboden. »Es wird schon warm hier. Eine gute Sache, eine Hütte. Die Nacht wird kalt. Wolden und Hingurt müssen noch mehr Holz herbeischaffen, damit wir nicht frieren. Ein Glück, daß Hanrod uns noch ein Stück vom gestrigen Braten mitgegeben hat. Den legen wir neben das Feuer, damit er auftaut. Ich werde noch
versuchen, Wasser aus dem See zu holen, das in unseren Krügen ist gefroren.« Er verschwand wieder, dafür erschienen Wolden und Hingurt mit Brennholz, das sie in einer der verlassenen Hütten gefunden haben mochten. Inzwischen wurde der Braten heiß und verbreitete einen appetitanregenden Geruch. Arric war noch immer nicht zurückgekehrt. Wolden und Hingurt warteten nicht auf ihn, sondern zerteilten das Fleisch. Auch Dragon und Ubali aßen. Im Augenblick fühlten sich alle sicher und geborgen. Endlich erschien auch Arric. Er brachte einen großen Krug voll Wasser mit und stellte ihn auf den Boden. Dann machte er sich über seine Portion Braten her. »Es ist bereits dunkel draußen«, sagte er kauend. »Man kann nicht viel erkennen. Die richtige Nacht für einen Angriff der Bestien, wenn es welche in dieser Gegend gibt. Ich fürchte, wir werden Wachen aufstellen müssen.« »Das wäre auch mein Vorschlag gewesen«, stimmte Dragon zu. »Jeder von uns zwei Stunden, das sollte genügen.« »Darf ich die erste Wache übernehmen?« erbot sich Arric mit einem Eifer, der Ubali verdächtig erschien. Er fing einen Blick Dragons auf und wußte, daß ihre Abmachung schon bei Arrics Wache in Kraft trat, Dragon würde also nur so tun, als schliefe er. »Ich bin
noch nicht müde so früh am Abend.« »Einverstanden, Arric. Du kannst mich dann ja wecken«, sagte Dragon. »Und wer kommt nach mir dran?« »Zuerst Hingurt, dann Ubali und zum Schluß Wolden. Er liebt den Sonnenaufgang und kann uns dann wecken.« Sie hockten noch ein oder zwei Stunden vor dem Feuer und genossen dessen Wärme. Dann wickelten sie sich in ihre Pelze und versuchten zu schlafen, während Arric den seinen anzog und die Hütte verließ, um seine Wachrunde zu absolvieren. Dragon schloß ebenfalls die Augen, beobachtete die anderen Männer jedoch durch die Lider. Ubali wußte, daß er jetzt schlafen konnte, bis Arrics und Dragons Wache beendet war. Aber auch Wolden und Hingurt schienen nichts anderes im Sinn zu haben. Sie schnarchten bald derart im Duett, daß Dragon sich keine besondere Mühe geben mußte, um wach zu bleiben. Er war davon überzeugt, daß das Mißtrauen seines Leibwächters unbegründet war. In ihrer augenblicklichen Situation war einer auf den anderen angewiesen, und wenn Arric wirklich noch Rachegelüste verspürte, so würde er sie auf einen besseren Zeitpunkt verschieben. Einmal kam er in die Hütte und legte Holz nach.
Sein Blick streifte die Schlafenden, dann ging er wieder. Nach zwei Stunden etwa vernahm Dragon draußen vor der Hütte ein Geräusch, dazwischen die knirschenden Fußschritte Arrics. Sie entfernten sich in Richtung See. Dann glaubte Dragon, seinen Namen rufen zu hören. Atemlos blieb er liegen und lauschte. Jetzt hörte er es ganz deutlich: »Dragon, zu Hilfe! Ein Ungeheuer ... mein Arm ...!« Hingurt fuhr in die Höhe. Er mußte einen erstaunlich leichten Schlaf haben. Oder hatte er etwa ebenfalls wachgelegen? Jedenfalls tat Dragon so, als erwache er erst jetzt, als Arrics Rufen lauter und eindringlicher wurde. Auf keinen Fall wollte er das Mißtrauen von Hingurt wecken, der nun aufsprang und nach seinem Schwert griff. Wolden schlief weiter, wurde aber mit einem Fußtritt aus seinem Schlummer gerissen. »Dragon! Beeil dich ...!« Hingurt riß die Tür der Hütte auf und rannte ins Freie. Dragon zögerte nun nicht länger und eilte hinter ihm her, nachdem er auch Ubali geweckt hatte. In der Hütte war es hell gewesen, Dragon konnte im ersten Augenblick nichts sehen. Die Rufe Arrics kamen vom See her. Allmählich konnte er auf der Eisfläche, fünfzig Mannslängen entfernt, den Schatten eines Mannes erkennen, der mit dem Schwert auf einen
schemenhaften Gegner einschlug – etwas Rundes mit zahlreichen dünnen Beinen. »Es ist eine Spinne!« rief Dragon und rannte hinter Hingurt her. Der Einäugige brüllte Arric zu: »Warte, ich komme!« Auf dem glatten Eis rutschte er beinahe aus, aber er behielt das Gleichgewicht und lief weiter, genau auf Arric zu, der plötzlich nicht mehr mit dem Schwert auf seinen Angreifer einschlug. Dragons Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Deutlich konnte er Arric und die Spinne erkennen, die nun regungslos auf dem Eis lag. Aber dann sah er noch etwas anderes: Hingurt rannte auf eine Stelle des Eises zu, die dunkler als ihre Umgebung war. Sie lag genau zwischen der Hütte und Arric, war eine Mannslänge breit und mehrere lang. »Stehenbleiben, Hingurt!« rief Dragon und hielt an. Wolden stand noch immer oben bei der Hütte und rührte sich nicht. »Stehenbleiben, Hingurt!« dröhnte nun auch Arrics Stimme durch die Nacht, aber seine Warnung kam zu spät. Das Einauge versuchte zwar zu bremsen, rutschte aber unaufhaltsam weiter, genau auf die dunkle Stelle im Eis zu. Dragon wollte hinterherlaufen, aber Ubali hielt ihn fest. »Bleib, Dragon! Die Falle war für dich
bestimmt ...« Hingurt durchbrach die dünne Eisschicht. Mit einem Aufschrei verschwand er in der schwarzen Flut und tauchte nicht wieder auf. Der Schwung hatte ihn wohl unter die feste Eisdecke treiben lassen, und er fand das Loch nicht mehr. Arric kam herbei und starrte auf die Bruchstelle. Dann blickte er in Richtung Dragons und der anderen. »Er ist ertrunken! Verdammt, er ist ertrunken ...« Dragon umging vorsichtig die Eisfalle und blieb vor Arric stehen. »Wo ist das Ungeheuer?« »Ich habe es getötet, aber es fiel mir des Armes wegen schwer.« »Und warum hast du mich gerufen, nicht einen deiner Männer?« Arric zögerte keine Sekunde. »Weil du die größte Erfahrung mit den Ungeheuern hast, deshalb.« Dragon ging hin bis zu der Spinne. Mit einem Blick sah er, daß sie schon länger tot sein mußte, denn sie war hartgefroren. Arric hatte sie wahrscheinlich im Dorf gefunden und auf das Eis geschleppt, nachdem er das Loch geschlagen hatte. Dann hatte er um Hilfe gerufen und die tote Spinne mit dem Schwert so bewegt, daß sie den Eindruck eines lebendigen Angreifers erweckte. Wortlos kehrte Dragon zu Arric zurück. »Es tut mir leid um deinen Mann, Arric. Komm, gehen wir zurück zur Hütte. Ich habe die nächste Wache.«
Sie machten nicht viel Aufhebens um Hingurts Tod. Lediglich Arric wirkte verstört. Aber das konnte andere Gründe haben. Dragon legte seinen Pelz um und ging nach draußen. Er begegnete Ubali, der ihn beiseite nahm. »Warum erschlägst du ihn nicht? Es ist doch offensichtlich, daß er dich umbringen wollte, und dazu noch auf so gemeine Weise.« »Sei still, Ubali, und leg dich schlafen. Ich passe schon auf dich auf – und auf Arric auch. Jetzt wissen wir, mit wem wir es zu tun haben, und eine Gefahr, die man erkannt hat, ist nur noch eine halbe Gefahr, darum töte ich ihn nicht. Außerdem brauchen wir ihn noch. Er muß uns zur Eiskönigin bringen.« Ubali nickte und ging in die Hütte. Dragon aber wanderte durch das verlassene Dorf und kehrte immer wieder in regelmäßigen Abständen zur Hütte zurück, um dort nach dem Rechten zu sehen. Alle drei Männer schliefen fest. Vielleicht, dachte Dragon, war doch alles nur ein Zufall gewesen. Arric hatte vorher Wasser geholt und dabei das Loch ins Eis geschlagen. Und vielleicht hatte er die tote Spinne wirklich für eine lebendige gehalten und sich so erschrocken, daß er um Hilfe rief. Vielleicht ... vielleicht ... Einen eindeutigen Beweis für seine feige
Mordabsicht gab es nicht.
4.
Am anderen Morgen war das Loch dick zugefroren, und der frisch gefallene Schnee hatte ein Leichentuch über das Grab Hingurts gedeckt. Keine Spur war von dem nächtlichen Drama geblieben. Arric war nicht mehr so laut wie am Vortag. Nun hatte er nur noch einen Verbündeten bei sich: Wolden, den Starken. Sie brachen rechtzeitig auf und ließen See und Dorf bald hinter sich. Der Wald war licht und gestattete ein schnelles Vorankommen. Dragon und Arric ritten wieder nebeneinander. Lange sprachen sie nichts. »Werden wir noch heute unser Ziel erreichen?« fragte Dragon endlich. »Den Heiligen Berg? Nein, das schaffen wir nicht. Aber noch vor Einbruch der Nacht überqueren wir das Schlachtfeld, das Hanrod erwähnte. Wir würden einen vollen Tag verlieren, machten wir einen Umweg.« »Warum sollten wir die Toten fürchten?«
»Nicht die Toten, aber die Ungeheuer, die sich dort herumtreiben sollen. Jedenfalls wäre es mir lieb, wir schafften es noch vor dem Dunkelwerden.« »An mir soll es nicht liegen. Die Pferde sind ausgeruht, und du kennst den Weg. Wir können ein wenig schneller reiten, wenn du es für richtig hältst.« Sobald das Gelände es erlaubte, kamen sie doppelt so schnell voran als bisher. Nun besaßen sie drei Packtiere und damit notfalls ein Pferd zum Wechseln. Nach Osten zu waren die bewaldeten Hügel höher geworden. Dragon entdeckte an manchen Stellen sogar kahle Felsen und Eishänge, die an die Gletscher der Großen Eiswand erinnerten. »Irgendwo dort muß der Spalt in der Erde sein, durch das die Ungeheuer kamen«, meinte Arric, als er Dragons suchenden Blick bemerkte. »Später werden wir vielleicht Zeit haben, ihn zu suchen.« Es ging wieder ein wenig bergab, und dann ritten sie durch eine weite Ebene. Der Schnee war hartgefroren und die Hufe der Pferde sanken kaum ein. Arric hielt weiter die Spitze, Dragon blieb dicht hinter ihm. Als sie an einer halbzerfallenen Hütte vorbeikamen, rief Ubali vom Ende des Trupps her: »Spinnen, Dragon! Sieh doch nur! Sie müssen erfroren sein!« Arric änderte die Richtung. Bei der Hütte hielt er an und sprang aus dem Sattel. Mit undefinierbarer Miene
betrachtete er die mehr als zwei Dutzend Spinnen, die in verkrampften Stellungen herumlagen und sich nicht mehr rührten. Wortlos schwang sich Arric wieder in den Sattel und ritt weiter. Ebenso wortlos folgten ihm die anderen. Das erste Zeichen, das auf die Nähe des Schlachtfeldes hindeutete, waren die abgenagten Knochen von Menschen, Kleiderfetzen, einige Pelze und Waffen, die halb vom Schnee begraben worden waren. Die Spuren zu lesen und deuten war einigermaßen schwierig, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sich hier eine Tragödie abgespielt hatte. Vielleicht handelte es sich um Verwundete, die geglaubt hatten, hier in Sicherheit zu sein. Dann waren ihnen die Ungeheuer gefolgt und hatten sie überfallen. Nicht ein einziger war entkommen. »Wir werden noch mehr zu sehen bekommen«, befürchtete Dragon und suchte am wolkigen Himmel die Sonne. »Es wird schnell dunkel heute, Arric. Wir dürfen uns nicht zu lange aufhalten.« Immer häufiger fanden sie nun die Skelette von Menschen, aber auch solche von den Ratten. Halb vom Schnee bedeckt, entdeckten sie die gut erhaltenen Körper gefallener Krieger, die bisher von den Bestien noch nicht gefunden worden waren. Es fiel Dragon auf, daß Arric jede Leiche
aufmerksam betrachtete und sogar auf den Rücken wälzte, um sich das Gesicht anzusehen. Er schien etwas ganz Bestimmtes zu suchen. Dragon stellte keine Fragen, um Arric nicht unnötig zu reizen. Es war in erster Linie sein Stamm gewesen, der hier gekämpft und versucht hatte, die Invasoren zurückzuschlagen. Er mußte viele der Toten kennen. Vielleicht suchte er Freunde und Verwandte. Schließlich hielt er an und band sein Pferd an einem Baumstumpf fest. In einiger Entfernung wurde der Wald wieder dichter. »Ich schlage vor, wir verbringen hier die Nacht. Das gibt mir zugleich die Möglichkeit, das Schlachtfeld zu besichtigen. Wolden, geh Holz sammeln, wir brauchen viel, denn es wird kalt. Ubali, du kannst die Pferde versorgen. Gib ihnen genügend zu fressen und saufen, denn morgen erreichen wir den Heiligen Berg. Wolden soll noch einige umgestürzte Baumstämme herbeischleppen und als Schutz um unser Lager legen.« »Warum reiten wir nicht weiter, bis es dunkel geworden ist?« fragte Dragon, der sich zwischen Leichen und Skeletten nicht gerade besonders wohl fühlte. »Wen suchst du hier?« Arric sah an ihm vorbei. »Meinen Vater«, sagte er einfach. Dragon stieg vom Pferd und stellte keine weiteren
Fragen mehr. Wolden ging, seinen Auftrag auszuführen, und Ubali kümmerte sich um die Pferde. In etwa zwei Stunden erst würde es dunkel werden. Dragon folgte Arric, der jede Leiche untersuchte, soweit sie einigermaßen erhalten geblieben war. Manchmal fanden sie nur einzelne Körperteile, die bis auf die Knochen abgenagt worden waren. Dann wühlte Arric in den verbliebenen Kleidungsstücken und Waffen herum, und wenn er nicht fand, was er offensichtlich suchte, war er gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. »Wenn du mir sagen würdest, wonach du suchst, Arric, könnte ich dir helfen.« Sie standen vor einem großen Haufen von Knochen und einigen vom Schnee halbbedeckten Leichen. »Kannst du es mir verraten? Wie sah dein Vater aus?« »Das würde dir wenig nützen, Dragon. Aber wenn du ein Schwert mit einem goldenen Schlangenkopf als Griff siehst, dann sage es mir.« »Gut.« Dragon stellte keine weiteren Fragen mehr. Arric suchte also ein Schwert, oder vielleicht auch einen Mann, dem es gehörte. Einen ganz bestimmten Mann wahrscheinlich. Wirklich seinen Vater? Die Schlacht mußte grauenhaft gewesen sein. Fürst Genol hatte behauptet, es wären viele tausend Männer des Eisvolkes hier gefallen. Soweit Dragon das bis jetzt
beurteilen konnte, war das nicht übertrieben. Immer wieder stolperte er über Leichen und Knochenreste. Er hob jedes Schwert auf, das er fand, aber es war keines mit einem goldenen Schlangengriff dabei. Fast fünfhundert Meter entfernt loderte bereits das Lagerfeuer. Die sieben Pferde standen angebunden bei der Baumgruppe dicht daneben. Ubali taute einen Wasserkrug auf und legte Trockenfleisch neben das Feuer, um es zu erwärmen. Dragon schrak zusammen, als er Arrics Ruf vernahm. Der Nordmann winkte ihm zu und schwenkte ein Schwert. Hatte er gefunden, was er so intensiv suchte? Dragon ging zu ihm, machte einen großen Bogen um einen Haufen Knochen und sah, daß Arric bei einer gut erhaltenen und noch bekleideten Leiche stand, die auf dem Rücken lag. Die starren Augen blickten in den dämmerigen Himmel. Das Gesicht, wenn auch jetzt weiß und eingefallen, machte einen edlen und vornehmen Eindruck. Das konnte kein gewöhnlicher Krieger gewesen sein ... »Es ist Fürst Edil, mein Vater«, sagte Arric, der Dragons forschenden Blick bemerkte. »Dies ist sein Schwert, und von nun an gehört es mir – und die Macht meines Vaters. Ich werde sein Werk fortsetzen und die Ungeheuer vertreiben. Wenn du willst, kannst du mir dabei helfen.«
»Fürst Edil war dein Vater?« vergewisserte sich Dragon ungläubig. »Warum hast du das früher nie erwähnt?« »Erst wollte ich ihn finden, denn ich konnte nicht glauben, daß er tot sei. Aber nun weiß ich es, denn ich halte sein Schwert in meinen Händen. Es ist das äußere Zeichen seines Erbes. Nun muß ich dir noch etwas mitteilen, das ich ebenfalls bisher verschwiegen habe: Edil war nicht nur mein Vater, er war auch der Sohn der Eiskönigin. Sie ist meine Großmutter, Dragon.« Dragon war so überrascht von dieser Eröffnung, daß er stumm blieb. Er versuchte den Worten Arrics Glauben zu schenken, aber es gelang ihm nicht. Eines Tages – vielleicht – würde er die Wahrheit erfahren, dann nämlich, wenn er die Eiskönigin selbst fragen konnte. »Wir müssen meinen Vater begraben, ehe ihn die Ungeheuer finden«, sagte Arric. »Wolden und Ubali können das tun. Komm, gehen wir zurück zum Lager. Es wird dunkel.« Sein eigenes Schwert ließ er bei dem Toten zurück, dafür gürtete er sich das mit dem goldenen Schlangengriff um. Dragon sah, daß es ein gutes Schwert war. Rostflecken zeugten vom Blut der erschlagenen Ungeheuer, die am Ende doch gesiegt hatten. »Das Feuer wird die ganze Nacht brennen«, empfing
sie Wolden, dann erblickte er Arrics neues Schwert und verstummte. »Ich habe Fürst Edil gefunden«, erklärte Arric und beschrieb die Stelle. »Geh und nimm Ubali mit, um ihn würdig zu bestatten. Legt ihn in die Erde, die er zu verteidigen suchte. Er soll in Frieden ruhen.« Wortlos ging Wolden, und Ubali folgte ihm, als Dragon ihm zunickte. Die beiden Männer blieben am Feuer zurück. »Du bist also der Enkel der Eiskönigin«, sagte Dragon. »Dann sollte sie auf dich hören und dem Eisvolk helfen. Doch zuvor müssen wir sie finden, und der Weg ist noch weit. Das Schlachtfeld bietet den Ungeheuern noch lange Nahrung. Ich bin sicher, sie werden auch in dieser Nacht kommen. Wir müssen bereit sein.« »Das werden wir, Dragon. Sollen sie nur kommen, Edils Schwert wird unter ihnen wüten, bis sie die Flucht ergreifen oder alle tot sind. Nun bin ich der oberste Fürst des Eisvolkes, und wehe dem, der mir diesen Titel streitig zu machen versucht!« »Ich werde es sicherlich nicht tun«, versicherte Dragon. »Bereiten wir uns jetzt lieber auf die Nacht vor. Ubali und Wolden werden auch bald zurückkehren.« Sie kratzten den Schnee beiseite und legten die Pelzmäntel und Decken auf den harten Boden. Wenn
Arric die Wahrheit sprach, überlegte sich Dragon, war er ein entfernter atlantischer Verwandter von ihm, das aber wiederum konnte Arric nicht wissen. Denn die Eiskönigin, davon war Dragon nun endgültig überzeugt, konnte nur eine Atlanterin sein, die in eine der Überlebensstationen geflüchtet war, bevor die Insel im Meer versank. Ubali und Wolden brachten abermals Holz mit und warfen es neben das Feuer. Heute übernahm Ubali die erste Wache. Dragon konnte also mit ruhigem Gewissen unter die Pelze und Decken kriechen, um zu schlafen. Seine Wache begann nach Mitternacht. Der Himmel war noch immer verhangen. Es konnte jeden Augenblick anfangen zu schneien, denn es war nicht mehr sehr kalt. Kein Mond und keine Sterne waren zu sehen. Das Feuer warf gespenstische Schatten gegen den Waldrand und auf die schneebedeckte Fläche des Schlachtfelds. Dragon saß dicht beim Feuer und legte nach. Um ihn herum war alles unheimlich still. Das Knacken der brennenden Äste war das einzige Geräusch, das die Stille der Nacht unterbrach. Doch dann war da noch ein anderes Geräusch. Es hatte wie ein ferner Schrei geklungen, hell und kindlich. Aber auch verzweifelt und voller Todesangst. Dazwischen mischte sich ein tierisches Knurren und
Fauchen, Äste knackten – und dann – diesmal unmißverständlich – wieder der Ruf nach Hilfe. Dragon weckte Ubali. »Bleib hier beim Feuer und komm mir nur dann nach, wenn ich dich rufe. Dann wecke auch die anderen. Im Wald ist etwas, aber ich weiß nicht, was. Es hörte sich an, als habe eine Frau oder ein Kind gerufen. Ich werde nachsehen.« Er nahm sein Schwert und ließ Pfeil und Bogen zurück. Nur noch das Messer steckte griffbereit im Gürtel. Mit einigen Sätzen überquerte er die Lichtung und erreichte den Waldrand. Er blieb stehen, um die Richtung festzustellen, aber schon sah er nicht weit von sich entfernt einige schattenhafte Gestalten. Der abnehmende Mond schimmerte durch eine Wolkenlücke und enthüllte Dragon ein Bild des Grauens, als er sich näherschlich. Vor unbestimmter Zeit mochte ein Blitz den Baum getroffen und die Krone abgespalten haben. Ein Pfahl war geblieben, und an diesem Pfahl, die Arme über den Kopf gebunden, stand ein schwarzhaariges, schönes Mädchen. Trotz der Kälte war sie kaum bekleidet, sie mußte schrecklich frieren. Davor aber hockte ein Spitzohr vor einem Haufen Knochen und einigen Leichenteilen und tat sich daran gütlich, wohl um das gefangene Mädchen zu entsetzen und sich an ihrer Angst zu ergötzen.
Im Hintergrund standen ein paar häßliche Frauengestalten, in Lumpen gekleidet und mit widerlichen Fratzen. Sie sahen aus wie Hexen, und die Blicke, die sie dem Mädchen zuwarfen, sprachen von Haß und Eifersucht. Dragon beherrschte sich noch, obwohl er das unschuldige Opfer der kannibalischen Perversität am liebsten sofort befreit hätte. Aber zuerst mußte er sicher sein, daß die Bestie in Menschengestalt bis auf die Weiber allein war. Das gefangene Mädchen sah nicht aus wie eine Angehörige des Eisvolks. Trotz ihrer relativen Nacktheit wirkte sie stolz und vornehm, wenn auch die Todesangst ihre Züge verzerrte. Schließlich demonstrierte der Unhold ihr auch nur zu deutlich, welches ihr Schicksal sein würde, sobald er sich mit ihr vergnügt hatte. Und das war mit Sicherheit seine Absicht, seine Blicke verrieten es nur zu deutlich. Soweit aber sollte es nicht mehr kommen, denn Dragon, immer noch versteckt im Gebüsch, zog lautlos sein Schwert und schlich sich näher an die Menschenbestie heran. Er war fest entschlossen, sie zu töten, und wenn es sein mußte, auch seine zerlumpten Weiber. Er mußte das Mädchen befreien, das eine seltsame Faszination auf ihn ausübte. Das Schwert in der Hand, wartete Dragon noch,
denn die Bestie mit dem Haarfell hatte sich erhoben. Sie warf einen abgenagten Knochen in weitem Bogen fort, und die Hexenweiber stürzten sich lautlos darauf. Das Spitzohr blieb vor seiner schönen und jungen Gefangenen stehen. Gierig glitten seine Blicke über ihren Körper. Dragon bemerkte, daß die Gefangene die Augen schloß, um das Scheusal nicht länger sehen zu müssen. Er konnte sie nicht mehr länger ihrer Qual überlassen. Wenn die Zeit zum Eingreifen gekommen war, dann jetzt. Er hob das Schwert und kam aus seinem Versteck. »Kämpfe!« rief er und wußte nicht, ob die Bestie ihn verstehen konnte. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Seine Erscheinung allein würde genügen, seine Absichten klarzumachen. Er trug keinen Pelz, denn sein Zauberumhang wärmte ihn. Er hatte es ihm auch ermöglich, bis jetzt unsichtbar zu bleiben. Doch nun verzichtete er auf die wunderbare Wirkung des Kleidungsstücks. Sein Gegner sollte ihn sehen »Kämpfe, du Bestie! Nimm deine Waffen und kämpfe!« Das Mädchen öffnete die Augen, aber ihr Blick war verschleiert. Durch ihre Tränen hindurch sah sie alles nur verschwommen und undeutlich. Der Schock war zu groß für sie. Hinzu kam die Kälte, die ihren ungeschützten Körper beinahe erstarren ließ. Dragon hatte keine Zeit, sich jetzt um sie zu
kümmern. Die spitzohrige Bestie bückte sich blitzschnell und ergriff ein Messer, das im Boden steckte. Mit einem heiseren Brüllen warf sie sich dem so unerwartet aufgetauchten Gegner entgegen. Dragon ließ den Unhold in sein Schwert hineinlaufen und tötete ihn mit einem zweiten Schlag. Im Hintergrund kreischten die Weiber entsetzt auf, als sie ihren Herrn und Gebieter fallen sahen, und wandten sich zur Flucht. Obwohl Dragon davon überzeugt war, das sie Verstärkung holen wollten, setzte er ihnen nicht nach. Er warf noch einen Blick auf den sterbenden Unmenschen, dann ging er zu der Gefangenen, die aus ihrer Lethargie zu erwachen begann. Aber dann erlebte er eine unbegreifliche Überraschung. Sie sah ihn, ihre Augen weiteten sich voller Entsetzen – und dann begann sie zu schreien, voller Angst und Schrecken. Und voller Abscheu. Dragon glaubte im ersten Augenblick, sie verstehe seine Absichten falsch, denn er hatte noch immer das blutige Schwert in der Hand. Er schob es in die Scheide zurück und schüttelte den Kopf. »Keine Angst, ich will dich befreien!« sagte er mühsam in der Sprache des Eisvolkes. »Warum fürchtest du dich?«
Sie starrte ihn noch immer an, aber ihr Blick galt in erster Linie dem Zaubermantel, nicht ihm selbst. Noch ehe er das begriff, sagte sie in einem fast akzentfreien Atlantisch, der Sprache der untergegangenen Insel: »Verflucht seist du, Namenloser! Lieber will ich hier sterben, als von dir befreit zu werden! Hast du denn noch nicht genug Unheil angerichtet?« Die Erkenntnis traf Dragon wie ein Blitzschlag. Sie verwechselte ihn mit jenem Namenlosen, der ihm bei Alesch den Zaubermantel übergeben hatte. Sie kannte ihn also, und wenn das der Fall war, mußten sie sich jenseits eines Weltentors begegnet sein. Die Konsequenz dieser Erkenntnis war erschreckend – und voller Hoffnungen und Spekulationen. War er dem Geheimnis der Weltentore ein Stuck nähergekommen ...? »Ich bin nicht der, für den du mich hältst«, sagte er und trat einen Schritt zurück, damit sie ihn besser sehen konnte. Das Mondlicht war nur schwach. Es gab kaum Sterne am Himmel. »Ich bin Dragon, König von Myra. Ich komme von jenseits der Großen Eiswand. Diesen Umhang schenkte mir jemand, der ohne Namen war. Du kennst ihn?« Sie versuchte sich zu beruhigen, aber die Zweifel blieben. »Ich glaube dir nicht, denn du sprichst unsere Sprache. Wer könnte das in dieser fremden Welt? Was willst du?«
Dragon hörte Schritte hinter sich. Äste knackten, und ein Feuerschein leuchtete auf. Ubali kam, begleitet von Arric dem Roten. Fassungslos blieben sie stehen, als sie das Mädchen erblickten. Die wiederum erkannte nun ihren Irrtum. Sie flehte Dragon an: »Befreie mich von den Fesseln, du bist nicht jener, für den ich dich zuerst hielt. Vielleicht hast du die Wahrheit gesprochen, dann will ich dir vertrauen. Wer sind die beiden Männer?« »Freunde«, beruhigte sie Dragon. Er zog das Messer aus dem Gürtel und schnitt die Fesseln durch. Mit beiden Armen fing er das Mädchen auf, das erschöpft in sich zusammensank. »Du wirst erst einmal schlafen, dann reden wir weiter. Jedenfalls bist du in Sicherheit.« »Was ist das für eine Sprache?« fragte Arric neugierig. »Kennst du sie?« »Es ist die alte und heilige Sprache, die nur wenige kennen. Ja, ich kenne sie. Und dieses Mädchen kennt sie auch.« Er hob sie auf und trug sie zum Lager, um sie neben dem Feuer auf seinen Pelz zu legen. »Sie ist erschöpft, und wir wollen ihr den Schlaf gönnen, ehe wir Fragen stellen. Wir müssen vorsichtig sein, denn bald werden wir von den Ungeheuern überfallen werden. Sie sind gewarnt worden.« Arric starrte noch immer auf das feine Gesicht des Mädchens.
»Sie ist sehr schön! Wer ist sie, Dragon? Was tun wir mit ihr?« Dragon setzte sich neben das Feuer. »Wir bringen sie zur Eiskönigin. Dort leben noch Leute vom Stamm ... vom Stamm deines Vaters. Ihnen werden wir sie übergeben.« Arric schritt unruhig auf und ab. Schließlich blieb er stehen und sah in die lodernden Flammen des Feuers. »Sie ist zu schön, um sie einfach zu verschenken«, sagte er. Dragon wollte heftig reagieren, aber dann bemerkte er den gierigen Blick Woldens, der abseits im Schatten stand und die Formen des Mädchens unter den Pelzen mit den Augen abtastete. Nicht Arric, sondern Wolden war nun der Hauptgegner, wenn er das Mädchen beschützen wollte. »Ich heiße Danila«, sagte das Mädchen und schloß wieder die Augen. »Ich möchte schlafen. Morgen werde ich berichten ...« »Wer übernimmt jetzt die Wache?« fragte Arric und fügte sofort hinzu: »Wolden, du gehst Holz holen. Wir werden in dieser Nacht mehr brauchen als sonst.« »Dann kann ich ja auch gleich die Wache übernehmen«, erbot sich der Starke eifrig. Ehe Arric antworten konnte, wies Dragon ihn ab: »Du wirst in dieser Nacht überhaupt nicht wachen, Wolden. Ich übernehme auch die nächste Wache und
werde dann von Arric abgelöst, der Ubali wecken wird. Geh nun Holz holen.« Der Blick, den Dragon von dem Hünen auffing, war alles andere als freundlich.
5.
Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Wahrscheinlich war es für die entflohenen Weiber des Spitzohrs nicht so einfach, Verbündete aufzutreiben, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie es früher oder später schaffen würden. Ubali weckte die Männer und mahnte zum Aufbruch. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Das Feuer war niedergebrannt und kein Holz mehr vorhanden. Nach einem frugalen Mahl half Dragon dem Mädchen Danila auf ihr Pferd, dann ritten sie los. Arric übernahm nun die Spitze, hinter ihm hielten sich Danila und Dragon. Ubali ritt neben oder manchmal hinter Wolden, dem Starken, der eine finstere Miene aufgesetzt hatte und ebenso finstere Pläne zu schmieden schien.
Er wollte das Mädchen, das war sicher. Er hatte schon lange keine Frau mehr gehabt und sich beherrschen können, solange er keine sah. Aber nun war da ein junges Mädchen, schön und wohlgebaut, und den Männern zu Dank verpflichtet. Warum nicht auch ihm, Wolden, den man den Starken nannte? »Erzähle mir deine Geschichte, Danila«, bat Dragon, als sie das freie Feld erreichten und im Augenblick vor Verfolgern sicher zu sein schienen. »In der Heiligen Sprache, die nur wir beide verstehen.« Sie hatte sich von ihrem Schrecken erholt und wußte, daß man ihr nichts tun würde. Zwar bemerkte sie die Blicke Woldens, aber instinktiv begriff sie, daß die anderen Männer auf ihn aufpassen würden. Zu Dragon hatte sie Vertrauen gefaßt. »Da gibt es nicht viel zu erzählen, aber ich will es versuchen.« Und sie begann ... »Ich komme aus einer phantastischen Welt, die du niemals verstehen könntest, wenn du sie nicht selbst erlebt hättest. Sie liegt jenseits des Weltentors, das sich aufgetan hat und unsere Ungeheuer auf deine Welt spie. Jener, der dir den Umhang schenkte, ist der Schuldige. Nein, stell jetzt keine Fragen, du wirst alles verstehen, wenn du mir zuhörst.
Vielleicht ist aber alles so, daß meine Welt völlig normal und natürlich ist, während mir nur die deine phantastisch und unglaublich erscheint. Dagegen spricht allerdings das Wirken des Namenlosen, der unser Herrscher war und seinen Namen verlor, bevor er durch das Weltentor ging und zu euch gelangte. Ich lebte in der Stillen Zone, mit den Überlebenden meines Volkes versteckt und verborgen. Unsere Geschichte wurde von Generation zu Generation überliefert, und sie begann vor etwa zweitausend Sommern. Damals schon experimentierte unser Herrscher, der sich für einen hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen hielt, mit den Kräften der Natur. Er wollte das Geheimnis des Seins ergründen, die Frage nach der Unsterblichkeit beantwortet wissen. Er wollte die Essenz der Schöpfung beherrschen und damit ›zum Herrn des Universums‹ werden. Er ging immer weiter in seinem Drang, unbesiegbar und unsterblich zu werden, bis er die Katastrophe heraufbeschwor. Vor zweitausend Sommern, so wird berichtet, war es dann soweit. Die Natur empörte sich gegen ihn und riß unsere Welt aus den Fugen. Alle Gesetze galten nicht mehr, bis auf ein kleines Gebiet, in das sich die Überlebenden zurückzogen. Sie nannten sie die Stillen Zonen. Hier waren wir sicher vor den ständigen
Verwandlungen, denen unsere Welt unterworfen wurde. Wasser blieb Wasser, Bäume blieben Bäume, Land blieb Land. Und dann, eines Tages, fanden auch die Ungeheuer den Weg zu uns. Die Zuug waren es, die sie anführten, und niemand wußte, woher sie kamen. Sie sahen aus wie Menschen, aber sie waren keine. Haar bedeckte ihren ganzen Körper, und ihre Ohren waren spitz. Sie waren intelligent und machten sich die Ratten und Spinnen Untertan, deren Ursprung niemand kennt. Es heißt, sie seien aus Energie und Strahlung entstanden, aber wer kann so etwas schon glauben? Wir versuchten, uns gegen den Überfall zu wehren, aber wir hatten nicht viele Waffen. Trotzdem gelang es uns, die Stillen Zonen zu bewahren und in Frieden zu leben. Der Herrscher wurde davongejagt, und er schwor uns Rache. Aber er ging durch das Weltentor und kehrte nie mehr zurück. Du trägst seinen Umhang. Verstehst du, warum ich so erschrak, als du mich befreitest? Doch höre weiter, damit du alles weißt: Ich sammelte eines Tages Beeren am Rande der Stillen Zone, denn meine Eltern und Geschwister hatten Hunger. Es war gefährlich, die Randzonen zu betreten, aber schlimmer war es noch, zu verhungern. Also ging ich. Niemand störte mich und niemand überfiel mich.
Aber eine Wanderwolke kam und senkte sich auf mich herab. Frage mich nicht, was eine Wanderwolke ist, ich könnte dir keine Antwort darauf geben. Sie ergriff mich und nahm mich mit sich. Als ich wieder sehen konnte, war ich in der Wilden Zone, die nicht uns gehörte. Hier hatten die Naturgesetze keine Gültigkeit mehr, und alles verlor seinen Wert. Hier herrschten die Ungeheuer, die Ratten, die Spinnen und die Zuugs. Es gelang mir, mich zu verbergen und von den Früchten des Waldes zu leben, aber ich wußte, daß ich allein den Weg zurück in die Stille Zone nie mehr finden würde. Ich sah das Weltentor, durch das die Ungeheuer in deine Welt kamen. Und wenn es nicht geschlossen wird, ist deine Welt verloren. Dann, zwei Tage später, fand mich der Zuug. Mit seiner Weiberhorde näherte er sich dem Weltentor, wie von einem unsichtbaren Zwang getrieben. In seiner Begleitung waren Ratten und Spinnen, die er vorschickte. Während er wartete, entdeckte er mich. Er fesselte mich, und seine Blicke verrieten mir nur allzu deutlich, was er von mir wollte. Wahrscheinlich fiel ihm nur die Wahl schwer. Sollte er mich zuerst zu seiner Frau machen und erst dann fressen, oder sollte er mich gleich umbringen und verzehren, ehe seine eifersüchtigen Weiber über ihn herfielen? Er entschloß sich für einen Kompromiß und nahm
mich mit durch das Weltentor, sorgfältig gefesselt und hilflos. Als er dann endlich einen Entschluß faßte und sich darauf vorbereitete, mich gegen den Willen seiner weiblichen Begleiter zur Frau zu nehmen – da kamst du und hast mich gerettet. Aber sei gewarnt, Dragon! Wenn das Weltentor nicht geschlossen werden kann, werden immer mehr Ungeheuer auf deine Welt gelangen, bis sie alles Leben ausgerottet haben. Ihr werdet viele von ihnen töten, aber die Übermacht ist zu gewaltig. Sie sind zahllos und unersättlich, besonders die Zuugs. Nimm dich vor ihnen in acht, und töte sie, wo immer du sie triffst. Nun habe ich dir von mir berichtet, Dragon, und ich hoffe, du wirst mir auch deine Geschichte erzählen. Ich will wissen, warum dir der Namenlose den Zaubermantel schenkte. Ich muß erfahren, wer die Männer sind, die uns begleiten. Zwei von ihnen gefallen mir nicht. Wer sind sie, was wollen sie? Dir vertraue ich, Dragon. Du hast mich gerettet, mein Leben gehört dir. Nichts kann schlimmer sein, als in die Hände eines Zuug zu fallen.« Lange ritt Dragon schweigend neben ihr her. Arric hatte sich mehrmals während Danilas Bericht umgedreht, aber da er kein Wort verstand, bedeutete sein Zuhören keine Gefahr. Er stellte auch keine Fragen, was einigermaßen verwunderlich war.
Ubali, der wieder den Abschluß bildete und die beiden Packtiere am Zügel führte, rief plötzlich: »Sie verfolgen uns, ein ganzes Rudel! Können wir schneller reiten?« Dragon wich seitwärts aus und blickte zurück. Es waren mindestens fünfzig Ratten, die ihrer Spur folgten. Ohne Zweifel hatten die Frauen des Zuug sie alarmiert. Sie kamen unaufhaltsam näher. »Bogen und Pfeile!« ordnete Dragon an, ohne das Tempo zu vermindern. »Wir müssen sie uns vom Leibe halten. Zielt genau und verschwendet keinen einzigen Schuß.« Er ritt wieder neben Arric. »Wann sehen wir den Heiligen Berg?« »Heute nicht mehr. Mit den Verfolgern auf den Fersen können wir den letzten Wald nicht durchqueren, ohne eingeholt zu werden. Wir machen einen Umweg und werden morgen unser Ziel erreichen.« Ubali und Wolden gingen sparsam mit den Pfeilen um. Sie ließen die vordersten Verfolger stets nahe genug herankommen, um sie nicht zu verfehlen. Zum Glück fielen die Ratten über einen getöteten Artgenossen sofort her, um ihn zu zerreißen. Das hielt sie auf und gab den Verfolgten immer wieder einen neuen Vorsprung. Als die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn
erreichte, deutete Arric nach vorn. »Siehst du die Baumgruppe dort, Dragon? Darunter ist ein Fluß, dessen Bett tief in den Fels gegraben wurde. Es gibt Höhlen im Uferhang. Wenn wir sie erreichen, sind wir in Sicherheit.« Sie verdoppelten ihre Anstrengungen, die Pferde zu mehr Eile anzutreiben, aber die Tiere waren erschöpft und konnten kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. In erster Linie war es die Angst, die sie noch auf den Beinen hielt. Die Ratten kamen wieder näher und holten auf. Erst als Ubali eine von ihnen erlegte, blieben etwa zwei Dutzend der Bestien zurück, während die restlichen ihre Verfolgungsjagd nicht aufgaben. Hinter der Baumgruppe fiel das Gelände steil ab. Arric ritt weiter, ohne das Tempo zu verringern. Der Pfad war nur schmal, aber er führte hinab zum Fluß, wo Dragon am jenseitigen Ufer die dunklen Höhleneingänge erkannte. Sie lagen dicht über der Wasseroberfläche und würden sich gut verteidigen lassen. Den Rest der Strecke mußten sie absteigen, dann führten sie ihre Pferde am Zügel durch das niedrige und schnell fließende Wasser zum anderen Ufer. Oben bei der Baumgruppe tauchten die ersten Ratten auf und zögerten. »Es ist gleich, welche Höhle wir nehmen«, rief Arric
und versuchte, sein Pferd zum Weitergehen zu bewegen. »Wir müssen zuerst die Tiere in Sicherheit bringen, denn ohne sie sind wir verloren. Wolden, komm und hilf mir. Dann die Packtiere in die Höhle ...!« Ubali überließ Dragon sein Pferd und kniete sich am Flußufer hinter einen Stein. Sorgfältig nahm er Ziel, dann schnellte der Pfeil von der Sehne und traf die vorderste der Ratten, die sich gerade anschickte, zum Wasser heranzukommen. Sie überschlug sich und rollte die Uferböschung herab. In einem Gebüsch blieb sie reglos hängen. Dragon führte Danila in die Höhle und gab ihr seinen Pelz. »Dort in der Ecke bereite dein Lager, Danila. Wir werden versuchen, genügend Holz für ein Feuer zu finden. Aber zuerst müssen die Ungeheuer vertrieben werden.« »Wenn wir ein Feuer haben, wird sich keines in die Höhle wagen«, meinte Ubali, der ihnen gefolgt war. »Die Pferde müssen noch weiter nach hinten, damit sie nicht scheuen. Ich kümmere mich um Holz.« Von oben her konnten sie nicht angegriffen werden, und vor ihnen lag das freie Schußfeld. Es gab keine Deckung für die Ratten, wenn sie zum Fluß herabwollten. Das schienen sie nun auch begriffen zu haben, denn sie blieben bei der Baumgruppe am
anderen Ufer, legten sich ins Gras – und warteten. Ubali kehrte mit Holz zurück. Er warf es auf den Boden, direkt beim Höhleneingang. »Es ist genug davon vorhanden. Ich hole noch mehr.« Dragon half dem Mädchen, das Lager herzurichten, dann entzündete er das Feuer, während sich Arric um das Essen kümmerte. Wolden ging ebenfalls Holz holen, bevor es dunkel wurde. Die Flammen drangen weit in die Höhle ein, in deren Hintergrund die Pferde standen. Sie waren gefüttert und getränkt worden. Die Wasservorräte konnten am Fluß erneuert werden, der keine Spuren von Eis zeigte. »Am Feuer kommt keine der Bestien vorbei«, stellte Dragon fest. »In dieser Nacht werden wir auch nicht frieren, die ganze Höhle ist warm.« Woldens Blicke gefielen ihm nicht und mahnten zur Vorsicht. Der Hüne ließ Danila nicht aus den Augen und fraß sie fast mit seinen gierigen Blicken auf. »Wie lange werden wir morgen noch reiten müssen, Arric?« »Bis zum Mittag, Dragon. Wir sehen den Heiligen Berg, wenn wir den Wald hinter uns haben. Wir bleiben auf dieser Seite des Flusses.« »Dann wird es gut sein, wenn wir bald schlafen und morgen sehr früh aufbrechen. Einer wird Wache halten
und das Feuer in Gang halten. Ich glaube nicht, daß uns die Bestien belästigen werden.« Ubali fing einen Blick von Dragon auf und verstand. Er nahm seinen Pelzmantel und rollte sich am Kopfende Danilas darin ein. Dragon legte sich weiter im Hintergrund der Höhle nieder, wo er gegen den Feuerschein jeden Schatten deutlich sehen konnte. Wolden blieb am Höhleneingang sitzen. Er hatte die erste Wache. Arric lag auf der anderen Seite auf seinem Mantel. Er deckte sich nicht zu. Griffbereit stand der Bogen an der Felswand, daneben war sein Schwert. Dragon wußte, daß jetzt noch keine Gefahr drohte, also schloß er die Augen und versuchte zu schlafen. Ubali würde heimlich wach bleiben, bis er von ihm abgelöst wurde. Außer dem Prasseln des Feuers und dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers gab es keine Geräusche, wenn man von Arrics Schnarchen absah. Ab und zu bewegte sich Danila unter ihrem Pelz. Manchmal stöhnte sie leise – vielleicht träumte sie von ihren schrecklichen Erlebnissen. Nur Ubali lag reglos und mit flachem Atem da, hielt die Augen geschlossen und verließ sich auf sein Gehör. Wenn er die Lider einen Spalt weit öffnete, sah er Woldens hünenhaften Schatten neben dem Feuer sitzen. An der Stellung des Kopfes war zu erkennen,
daß er unablässig in Danilas Ecke starrte. Das ständige Denken an sie, an ihren Körper und an seinen Plan, sie für sich haben zu wollen, mußte ihn bald verrückt machen. Ubalis Füße berührten fast Danilas Kopf. Er spürte jede ihrer Bewegungen, und selbst dann, wenn er eingeschlafen wäre, hätte ihn ihre zu erwartende Reaktion bei einem Überfall sofort geweckt. Wieder einmal öffnete er vorsichtig die Lider, um nach Wolden zu sehen, aber dessen Schatten am Feuer war verschwunden. Ubali blieb ganz ruhig liegen und versuchte, ein ungewohntes Geräusch zu hören. Aber da war nur das Feuer und draußen der Fluß. Arric schnarchte nicht mehr, aber sein gleichmäßiges Atmen verriet nur zu deutlich, daß er fest schlief. Da – ein Knacken, dicht bei Danilas Lager. Jetzt erst sah Ubali den kriechenden Schatten Woldens, der sich Danila näherte. Wolden hielt an, als er Danilas Lager erreichte. Nur noch mit Mühe beherrschte er sich. Sie durfte keinen Laut von sich geben, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Er mußte ihr den Mund zuhalten, damit sie nicht schreien konnte. Unendlich langsam und vorsichtig kroch er weiter, hob ihren Mantel ein wenig an und glitt seitlich darunter, bis er neben ihr lag.
Jetzt konnte er ihren Körper unmittelbar neben dem seinen spüren. Sie schlief, daran konnte kein Zweifel bestehen. Wolden schob beide Hände vor. Mit der einen hielt er ihren Kopf fest, während er mit der anderen ihren Mund fest verschloß. Dann warf er sich auf sie. Ehe Danila richtig erwachen konnte, sagte Ubali ruhig: »Laß sie los, aber sofort!« Wolden blieb liegen. Unter ihm wand sich Danila und versuchte, den schweren Körper loszuwerden, der halb auf ihr lag. Sie bekam fast keine Luft mehr, aber sie hatte gute Zähne. Wolden schrie plötzlich auf und rollte vom Lager. Ubali war bereits auf den Beinen. Er rief Arric zu, der sich aufrichtete: »Bleib liegen, Arric! Das erledige ich selbst. Du auch, Dragon!« Wolden kam auf die Beine. Er schlenkerte seine blutende Hand und stieß Verwünschungen aus. Dann griff er mit der Rechten nach seinem Messer. Darauf hatte Ubali nur gewartet. Mit einem kräftigen Faustschlag warf er Wolden quer durch das Feuer zum Ausgang der Höhle, wo der Hüne gegen den Felsen krachte und in sich zusammensackte. Wolden kam wieder auf die Beine, aber er hatte sein
Messer verloren. Mit den bloßen Fäusten schwankte er auf Ubali zu und schlug ziellos auf diesen ein. Aber der Schwarze beherrschte den Faustkampf. Geschickt deckte er sich und wartete auf den rechten Augenblick. Dragon und Arric standen neben dem Feuer und sahen tatenlos zu. Danila hockte auf ihrem Lager und schluchzte. Die Gefahr für sie war vorüber, aber der Schreck saß ihr noch in den Knochen. Als Wolden eine Sekunde nicht aufpaßte und über ein Stein stolperte, schlug Ubali zu. Seine rechte Faust hatte die Kraft eines Hammers und traf Woldens Kinn genau an der Spitze. Der Hüne überschlug sich und prallte mit der Brust gegen einen Felsen. Knirschend zerbrachen einige seiner Rippen. Mit einem letzten Aufstöhnen sackte er zusammen und rollte noch einige Meter, bis er dicht neben dem Flußufer liegenblieb. Ubali kehrte zur Höhle zurück, ohne sich um ihn zu kümmern. Arric sah ihm entgegen. »Was ist geschehen?« Dragon antwortete für Ubali: »Wolden wollte Danila vergewaltigen. Du mußt zugeben, daß er die richtige Strafe dafür bekam. Wir haben das Mädchen nicht aus den Klauen eines Ungeheuers befreit, damit es in die Hände eines zweiten fiel.« »Wolden ist ein Mann, verstehst du das nicht? Und
gehört das Mädchen nicht uns allen? Wir haben sie gemeinsam befreit ...« »Sie wird keinem von uns gehören, Arric, wenn du das meinst! Sie ist frei und kann eines Tages selbst wählen. Wolden jedenfalls hat seine Chance soeben vertan. Danila wird ihn bestimmt nicht mehr haben wollen, und wäre er der letzte Mann auf Erden. Du kannst dich jetzt um ihn kümmern, Arric.« Der Rote ging, ohne ein Wort zu sagen, um nach seinem letzten Gefolgsmann zu sehen. Dragon legte Ubali die Hand auf die Schultern. »Gut gemacht, mein Freund. Wir haben es geahnt, aber ich dachte nicht, daß er es so schnell versuchen würde.« Er ging zu Danila und setzte sich zu ihr. »Ist dir etwas geschehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nur der Schreck ...! Aber es war furchtbar, Dragon! Wird es immer wieder geschehen? Warum können manche Männer nicht zwischen der Befriedigung ihrer Gelüste und wahrer Liebe unterscheiden? Ich will nur einen Mann, den ich wahrhaftig liebe.« Sie sah Dragon an. »Du hast ein Weib, das auf dich wartet?« Er lächelte und nickte. »Ja, das habe ich. Und einen Sohn. Aber du bist noch sehr jung, Danila, und du sollst wissen, daß wir dich beschützen werden, bis du in Sicherheit bist. Und nun lege dich wieder hin und versuche zu schlafen. Wir
werden wachen. Außerdem dürfte Wolden heute nicht mehr in der Lage sein, seinen Versuch zu wiederholen.« Gehorsam kroch sie zurück unter den Pelz und schloß die Augen. Dragon stand wieder auf und kehrte zu Ubali zurück, der neben dem Feuer saß. Er hatte Holz nachgelegt. Der Feuerschein reichte bis hinab zum Flußufer, wo Arric und Wolden nur undeutlich zu erkennen waren. »Du wirst auf Wolden achten müssen«, sagte Dragon leise. »Das habe ich schon immer. Aber ich glaube, in den nächsten Wochen bedeutet er keine Gefahr mehr für uns, vielleicht Arric um so mehr.« »Pst, er kommt. Bin gespannt, warum er Wolden liegen läßt ...« Arric trat in den Schein des Feuers. Sein Gesicht war finster. »Du hast ihm fast sämtliche Rippen zerbrochen, Ubali!« »Nein, er hat sie sich selbst gebrochen«, korrigierte der Schwarze. »Du hast gesehen, wie er auf den Felsen stürzte. Außerdem hat er die Strafe verdient. Kann er morgen mit uns reiten?« »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich ihn zurücklasse?« Arric setzte sich zu ihnen. »Seit vielen
Jahren hat er mich begleitet, und wir haben manchen Kampf gemeinsam und siegreich bestanden. Daß er in dir einen ebenbürtigen Gegner fand, mag an den Umständen liegen. Er wird morgen mit uns kommen, und eines Tages wird er sich dir erneut zum Kampf stellen. Dann, Ubali, nimm dich in acht!« »Ich fürchte mich nicht vor ihm, Arric, aber ich pflichte dir natürlich bei: Wir lassen ihn nicht zurück. Aber Danila darf er nicht mehr ansehen ...« »Im Augenblick kann er auch nicht, denn er ist noch immer bewußtlos. Wir müssen ihn in die Höhle bringen.« Ubali stand wortlos auf und half ihm. Dann übernahm Dragon die nächste Wache. Lange bevor die Sonne aufging, brachen sie auf. Wolden war wieder bei Bewußtsein, aber er mußte fast unerträgliche Schmerzen haben. Er lag mehr als er saß auf dem Rücken seines Pferdes und klammerte sich an den Zügeln fest. Arric hatte seine Füße unter dem Leib des Tieres zusammengebunden, damit er nicht herunterfallen konnte. Die Karawane setzte sich endlich in Bewegung. Ein schmaler Pfad führte am Flußufer entlang weiter nach Norden. Die Felsen traten auseinander, das Tal wurde breiter. Von den Ratten war nichts zu bemerken. Wahrscheinlich hatten sie die Jagd aufgegeben und
waren zum Schlachtfeld zurückgekehrt, wo es leichtere Beute für sie gab. Arric ritt mit Dragon an der Spitze. »Das Tal macht eine Biegung nach Westen, dann kommt der Wald. Sobald wir die Höhle erreicht haben, kannst du den Heiligen Berg sehen. Wie ein drohender Finger ragt er aus der Landschaft und mahnt jeden, daß dort die Eiskönigin wohnt.« »Wie weit?« »Wir werden die Höhe noch vor Mittag erreichen.« Ubali kümmerte sich um Danila. »Du brauchst nie mehr Angst vor ihm zu haben«, versprach er ihr und deutete auf die jämmerliche Figur, die vor ihnen ritt. »Und solange es mir möglich ist, werde ich dich beschützen, Danila.« »Du bist sehr gut zu mir, Ubali, und dein Herr auch. Laßt mich nicht allein in dieser fremden Welt, vor der ich mich fürchte.« »Die Zukunft wird zeigen, welches unsere Beschlüsse sind. Wir haben keine Macht über sie.« »Ihr werdet in die Länder des Südens zurückkehren?« »Sobald unser Auftrag erledigt ist, ja.« »Ihr habt einen Auftrag?« »Jeder Mann hat einen Auftrag, er muß ihn nur erkennen.« Sie sah ihn scheu von der Seite her an.
»Ihr Männer seid anders als wir Frauen. Wir sind doch alle Menschen, warum seid ihr so verschieden von uns?« Ubali lächelte. »Gäbe es sonst Männer und Frauen?« fragte er. Der Pfad wurde breiter, und die Ufer traten noch weiter zurück. Damit wurde aber auch die Gefahr eines Überfalls größer. Es gab kaum noch Deckung, und im Falle einer Flucht war der Rückzug abgeschnitten, wenn die Gegner klug genug waren, eine Falle vorzubereiten. Und die Zuugs waren einigermaßen intelligent ... Rechts stieg das Gelände sanft an und wurde bewaldeter. Links lag eine baumlose Ebene. Arric lenkte sein Pferd nach rechts und verließ den Pfad, der weiter am Flußufer entlangführte. So ritten sie zwei Stunden. Die Sonne war längst aufgegangen, und da der Wind die Wolken vertrieben hatte, wurde es warm. Es gab kaum noch Schnee, denn wenn mittags die Sonne am höchsten stand, schien sie genau auf den Hang. Auf der anderen Seite würde sich das ändern. Sie erreichten den Waldrand. Arric hielt an. »Es hat sich viel verändert, seit ich das letztemal hier war. Die Bäume sind höher geworden, und mehr. Aber wir haben keine andere Wahl, wenn wir nicht abermals
einen Umweg machen wollen. In zwei Stunden haben wir den Wald durchquert und erreichen den höchsten Punkt der Hügel. Dann liegt vor uns nur noch das Tal und jenseits des Flusses der Heilige Berg.« »Wie geht es Wolden?« »Nicht gut. Aber noch lebt er, um sich eines Tages für die Schmach zu rächen. Aber wenn wir von den Ungeheuern überfallen werden, müssen wir für ihn mitkämpfen.« »Wir haben lange keine gesehen. Vielleicht sind sie alle beim Schlachtfeld geblieben. Hier finden sie auch nur wenig Beute.« Dragon mußte an die verwilderten Weiber des Zuug denken, den er getötet hatte. Sie würden nicht so schnell aufgeben. Und aus welchen Gründen auch immer: die Ratten und Spinnen gehorchten ihnen. »Reiten wir weiter«, sagte Dragon und setzte sein Pferd in Bewegung. »Wir können Rast machen, wenn wir die Höhe erreichen. Ich will den Heiligen Berg vor mir sehen, ehe ich mich ausruhe.« »Du wirst ihn sehen«, versprach Arric. Der Wald war nicht sehr dicht, und es gab kaum Unterholz, wenn auch der Schnee wieder höher lag. Es ging ständig bergan, wenn auch nicht zu steil. Immer wieder zwangen kleinere Schluchten sie zu Umwegen. Einmal entdeckte Ubali eine Ratte und zwei Spinnen, die sich aber sofort wieder zurückzogen und
im Gebüsch verschwanden. Ihr Verhalten kam Dragon verdächtig vor. Er sagte zu Arric: »Sie greifen an, weil sie ständig hungrig sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihr Gegner in der Überzahl ist oder nicht. Warum haben sich diese drei Ungeheuer zurückgezogen?« Arric zuckte die Schultern. »Wie soll ich das wissen? Vielleicht hatten sie Angst vor uns?« »Sie kennen keine Angst, höchstens Vorsicht. Und das nur in Ausnahmefällen. Und mit einem solchen haben wir es zu tun. Sie waren Späher, Arric. Es wäre besser, wir rechnen mit einem Überfall.« »Sind wir nicht bereit?« »Und Wolden?« »Es ist nicht meine Schuld, wenn er ausfällt. Ubali soll sich um ihn kümmern.« Dragon gab keine Antwort. Schweigend ritten sie weiter. Als sie die Höhe und das Ende des Waldes erreichten, erfolgte der Überfall.
6.
Sie kamen von allen Seiten und schienen die Falle perfekt vorbereitet zu haben, was wiederum auf Mitarbeit der Zuugs schließen ließ. Eins der Packpferde ging sofort verloren, weil es vor lauter Panik einfach in den Wald zurücklief und von den Ratten gerissen wurde, ehe jemand etwas dagegen tun konnte. Dragon sorgte dafür, daß Danila sich zwischen ihm und Ubali und damit in einer gewissen Deckung befand. Dann nahm er den Bogen, legte einen Pfeil auf die Sehne und suchte sich sein erstes Ziel. Das alles geschah mit einer Ruhe und Sorgfalt, die einen Unerfahrenen verblüfft hätte. Aber sowohl Dragon wie Ubali wußten, daß nur ruhige Überlegenheit den Sieg sicherten, keinesfalls eine kopflose Panik. Auch Arric verhielt sich ähnlich. Jeder seiner abgeschossenen Pfeile fand sein Opfer, ob es eine Ratte oder eine Spinne war. Und schließlich tauchten auch die ersten Zuugs auf. Sie hielten sich vorsichtig im Hintergrund und stachelten ihre Bundesgenossen zu selbstmörderischem Einsatz auf. Dragon war klug genug, sich mit seinen Pfeilen nur noch auf die Spitzohren zu konzentrieren, die lediglich mit Keulen bewaffnet waren und nicht zu sehr auf Deckung achteten. So gelang es ihm, einige von ihnen auszuschalten. Niemand konnte verhindern, daß sich die Ratten sofort auf die Getöteten stürzten,
nicht einmal die überlebenden Zuugs selbst. Die Ratten waren in der Überzahl, und sie fielen die Pferde an. Das zweite Packtier ging verloren und wurde von den Bestien zerrissen. Das dritte Opfer war Wolden, der Starke. Eine Meute von einem guten Dutzend Ratten trennte ihn und sein Pferd von den übrigen und umstellte ihn. Der kampferprobte Nordmann, von seiner Verletzung geschwächt und apathisch, konnte sich nicht wehren. Ehe ihm jemand zu Hilfe eilen konnte, wurde er von seinem Tier gezerrt und getötet. Dragon, Arric und Ubali kämpften den verzweifeltsten Kampf ihres Lebens, wobei alle drei stets darauf achteten, daß Danila nicht in Gefahr geriet. Dragon stürzte vom Pferd, als es von vier Ratten zugleich angegriffen und zerrissen wurde. Nur mit Mühe rettete er sein Schwert, mit dem er wie ein Wilder auf die Angreifer einhieb und einen nach dem anderen tötete. Die Ratten wichen zurück und machten den nachfolgenden Spinnen Platz, die langsam und fast behutsam vorrückten, um die Beute zu sichern. Dragon hackte ihnen die Beine ab und tötete sie dann, wenn sie hilflos waren. Dabei sorgte er dafür, daß er Danila wieder näher kam, um sie nicht schutzlos ihrem Schicksal zu überlassen. Aber dann geriet ihr Pferd in Panik, preschte los und gehorchte den Zügeln
nicht mehr. Das Mädchen verlor den Halt und stürzte aus dem Sattel. Dragon kam noch gerade zurecht, um die herbeieilenden Ratten zu vertreiben und Danila auf die Beine zu helfen. »Hier, nimm mein Messer, Danila! Kämpfe, oder du bist verloren! Bleib an meiner Seite!« Sie kehrten zu den anderen zurück, aber nur noch Ubali saß im Sattel. Arric stand wie ein Baum da und drehte sich im Kreis, sein Schwert mähte die Angreifer nieder und trieb die Überlebenden zurück. »Verfluchte Ungeheuer!« rief er mit lauter Stimme. »Wie können wir sie jemals besiegen, wenn sie sich schneller vermehren, als wir sie töten können? Sie müssen die Strafe der Götter sein ...!« »Eine Strafe ist meistens verdient, Arric!« »Wolden ist tot!« brüllte Arric zurück. Dragon hatte andere Sorgen. »Wir müssen versuchen, das Tal zu erreichen«, rief er Arric und Ubali zu. »Zusammenbleiben, sonst sind wir verloren! Eine wandernde Festung! Ich gehe voran, folgt mir – und Ubali, vergiß Danila nicht!« Das Mädchen saß noch immer fest im Sattel des Pferdes, das Ubali ihr überlassen hatte. Er führte es am Zügel, damit es nicht ausbrechen konnte. Es war ihr letztes Pferd, und der Heilige Berg war noch weit. »Wie sollte ich sie vergessen?« fragte Ubali trocken und erschlug im gleichen Atemzug eine Spinne, die
sich zu nahe herangewagt hatte. Der Waldrand blieb zurück. Das abfallende Gelände erleichterte den Rückzug, der nichts anderes als eine Flucht geworden war. Die nachfolgenden Bestien verhielten sich mehr abwartend als aggressiv. Der größte Teil von ihnen blieb zurück, weil sie damit beschäftigt waren, die Pferde und den toten Wolden aufzufressen. Als Dragon, Ubali, Arric und Danila den Fluß überquerten, der zum Glück gefroren war und dessen Eisdecke sie trug, blieben die Verfolger zurück. Sie zögerten, das Eis zu betreten. Vor Dragon aber ragte der Heilige Berg auf, immer noch einige tausend Mannslängen entfernt und durch eine buschreiche Ebene von ihm getrennt. Auf dem Gipfel lag Schnee, und er sah wirklich so aus wie ein drohend erhobener Finger, der in den Himmel wies. »Vielleicht schaffen wir es, bevor es dunkel wird«, sagte Arric und deutete hinauf zur Sonne, die ihren höchsten Punkt längst überschritten hatte und weiter nach Westen wanderte. »Ich weiß nicht, wer von unserem Stamm noch lebt, aber wenn, dann haben sie sich zum Heiligen Berg zurückgezogen. Wir werden sie finden.« Ubali verschoß noch einige Pfeile, von denen die meisten ihr Ziel trafen. Dann erreichten sie das Flachland hinter der Uferböschung und stellten fest,
daß ihnen keins der Ungeheuer gefolgt war. Sie hatten Wolden und ihre Pferde verloren, bis auf eines. Sie besaßen auch keinen Proviant mehr, und kein Wasser. Bis zum Abend konnten sie den Heiligen Berg erreichen, aber wenn sie dort keine Hilfe fanden, mußten sie sich neue Vorräte beschaffen. Danila ließ sich von Dragon aus dem Sattel helfen. »Ich bin nur eine Last für euch«, stellte sie erschöpft fest. »Warum jagt ihr mich nicht davon? Was soll ich euch nützen?« Dragon nahm ihre Hand, nachdem er seinen Pelz auf der Erde ausgebreitet hatte. »Man soll nicht immer alles danach beurteilen, ob es einen sichtbaren Wert hat oder nicht. Vielleicht ist gerade das der Fehler der Menschen, denen die Götter die Plage der Ungeheuer schickten. Jede Plage ist eine Prüfung, und Wolden zum Beispiel hat sie nicht bestanden. Wir machen jetzt eine kurze Pause. Nutze sie, so gut du kannst.« »Ich will euch nicht aufhalten und fühle mich noch frisch genug. Ich brauche kein Pferd, einer von euch sollte reiten.« »Paqse!« sagte Dragon energisch und zwang sie, sich hinzulegen. Arric war schweigsam geworden. Der Verlust seines letzten Gefährten mußte ihn schwer getroffen haben, obwohl er Ubali gegenüber keine Vorwürfe mehr
erhob. Immer wieder betrachtete er den Griff seines Schwertes, das er Fürst Edil abgenommen hatte. Sie ruhten sich eine Stunde aus, dann brachen sie erneut auf. Nun hatten sie ihr Ziel dicht vor den Augen, aber erreicht hatten sie es noch lange nicht. Danila saß im Sattel des Pferdes, das Ubali am Zügel führte. Arric und Dragon gingen voran, und sie kamen nicht sehr schnell weiter. Das Gelände stieg nur unmerklich an und bereitete keine Schwierigkeiten. Einzelne Baumgruppen und Buschinseln boten Deckung, allerdings auch für eventuell darin lauernde Ungeheuer. Am Nachmittag erreichten sie den Fuß des Heiligen Berges. Vor ihnen lag der Aufstieg, und soweit Dragon das beurteilen konnte, gab es nur einen schmalen Pfad, der in die schwindelnde Höhe führte. Und davor standen plötzlich, wie aus dem Boden gezaubert, zwei Dutzend Zuugs, alle mit Keulen und Lanzen bewaffnet.
7.
Fürst Hingis, genannt »der Kluge«, saß vor seinem mit Holzstämmen verstärkten Zelt am Lagerfeuer und starrte geistesabwesend in die lodernden Flammen. Er ahnte, daß in dieser Nacht ein neuer Angriff der Ungeheuer bevorstand, aber man würde ihn genauso abschlagen wie die anderen Angriffe zuvor. Die Jäger hatten genügend Beute herbeigeschafft, um auch einer wochenlangen Belagerung standzuhalten. Wasser gab es mehr als genug in dem kleinen See am Rande des Plateaus, das etwa in der Mitte zwischen Fuß und Gipfel des Heiligen Berges lag, eine von der Natur geschaffene Bastion, die kaum von einem Gegner eingenommen werden konnte. Nur ein einziger schmaler Pfad führte von der Ebene hier herauf. Hingis war ein Stammesfürst unter Fürst Edil gewesen. Mit Vierzig war er verhältnismäßig jung, aber das war nicht der Grund für die merkwürdige Tatsache, daß er keinen Bart wie fast alle anderen Männer trug. Mit seinem scharfen Messer rasierte er sich täglich, eine Tatsache, die ihm früher den Spott der Krieger eingebracht hatte – bis sie ihn kämpfen sahen. Wenn Hingis kämpfte, so tat er es in erster Linie mit dem Kopf, nicht mit dem Schwert. Bis heute hatte er jeden Gegner besiegen können. Als die große Entscheidungsschlacht geschlagen wurde, fiel Fürst Edil, der alle Stämme des Eisvolkes
vereinigt hatte. Es war Hingis gelungen, an die tausend Männer und doppelt soviel Frauen und Kinder zum Heiligen Berg zu führen und das Plateau zu besetzen. In mühevoller Arbeit waren Holz und anderes Baumaterial herbeigeschafft worden. Es gab nun kleine Hütten und befestigte Zelte auf dem Plateau, und ständig umwanderten Wachen die neue Heimat von Edils Stamm, der arg zusammengeschmolzen war und dennoch kämpfte. Unter ihnen lag die weite Ebene bis zum Fluß, und über ihnen stand der mahnende Finger des Heiligen Berges, der sie beschützte. An der Felswand aber, unheimlich und wie ein Ding aus einer anderen Welt, war die Wand aus Metall, fast quadratisch und ungemein groß. Sie war fugenlos in den Fels eingelassen und widerstand allen Versuchen, sie zu öffnen. Zwei Krieger bewachten dieses Tor zum Heim der Eisgöttin, und täglich einmal fand eine Bittstunde statt, an der auch Fürst Hingis teilnahm. Man beschwor die Eiskönigin, endlich aus ihrem Schlaf zu erwachen und zu erscheinen, damit sie den Überlebenden des Eisvolks den Weg zur Rettung zeigte. Aber das eiserne Tor öffnete sich nicht. Die Eiskönigin erschien nicht. Doch Hingis und sein Volk gaben die Hoffnung nicht auf.
Ein Mann näherte sich dem Feuer. »Fürst Hingis, sie werden heute nacht wieder angreifen.« Er nickte dem Krieger freundlich zu. »Ich weiß, mein Freund, aber wir sind vorbereitet. Sage den Wachen, sie sollen doppelt aufmerksam sein und die Feuer vorbereiten, wie es uns die Boten vom Eisfluß gelehrt haben. Bald ist es dunkel, dann wird die Gefahr besonders groß.« »Noch etwas, mein Fürst ...« »Ja, was ist?« »Unsere Späher haben vier Menschen gesehen, unten in der Ebene. Sie haben nur ein einziges Pferd und scheinen in unsere Richtung zu kommen. Eine Frau ist dabei.« Hingis schwieg eine Weile, als müsse die Neuigkeit erst verdauen. »Drei Männer, eine Frau und ein Pferd ...? Merkwürdig! Vielleicht brauchen sie unsere Hilfe. Unsere Krieger längs des Pfades sollen sich darum kümmern.« »Sie tun es bereits, aber es sieht so aus, als würden die Ungeheuer ihnen vorzeitig den Weg abschneiden.« Der Fürst blickte nach oben in den dämmerigen Himmel. »Die Sonne geht bald unter, dann wird es dunkel. Schicke den drei Männern und der Frau einige unserer
Krieger zum Fuß des Heiligen Berges entgegen, damit sie sicher zu uns gebracht werden können.« »Wie du wünschst, Fürst Hingis«, erwiderte der Mann und ging. Hingis blieb allein zurück und legte einen Ast aufs Feuer. Er hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, wer ihn und sein Volk in dieser Einsamkeit besuchen wollte. Boten konnten es nicht sein, das stand fest. Niemals war eine Frau unter den Boten gewesen, die sein Lager fanden. Flüchtlinge vielleicht, Überlebende einer einsamen Siedlung etwa? Wenn ja, dann würden sie Schutz im Lager finden. Als Nachfolger Edils war Hingis bei seinen Männern äußerst beliebt. Seine freundliche und zuvorkommende Art hatte ihm viele Freunde geschaffen, auch unter jenen, die gern an seiner Stelle gewesen wären. Aber er war der Rangälteste gewesen und hatte das ihm zustehende Erbe ohne große Umstände angetreten. Es war ein schweres Erbe gewesen. Aber nun lag das Schlimmste hinter dem Rest des ehemals so stolzen und großen Stammes. Zwar war man auf das einsame Plateau verbannt, aber doch einigermaßen in Sicherheit. Eine Frau näherte sich dem Feuer. Sie war noch jung und in Pelze gekleidet. Bescheiden setzte sie sich. Hingis streifte sie mit einem wohlwollenden Blick,
ehe er fragte: »Was willst du? Hast du mir eine Botschaft zu überbringen?« Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, mein Fürst, aber vielleicht möchtest du wissen, daß dein Lager bereitet ist. Die Nacht ist lang, aber ich werde dafür sorgen, daß sie kurz wird ...« »Heute nicht, Parsala. Diese Nacht wird auch ohne deine Dienste kurz werden. Es sind Fremde gesichtet worden, um die wir uns kümmern müssen. Außerdem steht ein neuer Angriff der Ungeheuer bevor, den wir abwehren müssen. Du siehst, ich habe genug zu tun, aber ich danke dir trotzdem. Geh jetzt schlafen, wenn du müde bist.« »Es ist noch früh.« »Es ist besser, wenn die Frauen in den Zelten und Hütten sind, wenn der Feind kommt.« Er blieb noch eine Weile sitzen, dann stand er auf und ging die Posten ab, die untereinander in Sichtverbindung standen. Dort, wo der Pfad in die Ebene hinab begann, standen mehr Wachen als an jenen Stellen, die von der senkrecht abfallenden Felswand geschützt wurden. »Bald wird es dunkel«, berichtete einer der ständig pendelnden Späher. »Die vier Fremden haben den Fuß des Berges erreicht und werden von den spitzohrigen Ungeheuern aufgehalten. Man hat ihnen eine Falle gestellt.«
»Und wo sind unsere Krieger?« »Zwei Dutzend von ihnen eilen ihnen zu Hilfe.« »Gut. Das ist sehr gut. Später möchte ich, daß die Fremden zu mir geführt werden. Ich warte an meinem Feuer auf sie.« »Wer immer sie auch sind?« »Ja, wer immer sie auch sind!« Fürst Hingis sprach noch mit einigen seiner Unterführer und kehrte zu seinem Zelt zurück. Er legte den Bogen und sein Schwert zurecht, um sofort kämpfen zu können, falls es einem der Ungeheuer gelang, das Plateau zu erreichen, was schon mehrmals geschehen war. Es hatte niemals lange überlebt. Sein Blick wanderte zu der Eisenwand im Fels. Er seufzte. Warum zeigte sich die Eiskönigin nicht? Sicher, ihre Zeit war noch nicht gekommen, und sie wurde eigentlich noch drei Sommer schlafen müssen, ehe sie erwachte. Aber in Zeiten der Not sollte sie ihre Regel unterbrechen. Oder konnte sie das vielleicht nicht ...? Er legte abermals Holz nach. Na schön, wenn sie erst in drei Sommern kam, würde er eben drei Sommer auf dem Plateau warten. Und dann würde er sie fragen, warum sie ihrem Volk nicht geholfen hatte, als die Ungeheuer kamen.
»Sie sind in der Übermacht«, flüsterte Ubali, der Danilas Pferd festhielt, damit es nicht scheute. »Wie sollen wir uns ihrer erwehren, wenn sie Lanzen haben und mit ihnen umgehen können?« Dragon deutete auf eine flache Mulde. »Dort hinein in Deckung. Sie bietet nur wenig Schutz, aber vielleicht genügt es. Wir nehmen die Pfeile und halten sie uns vom Leib, solange es geht. Los, Danila, runter vom Pferd ...!« Die Zuugs stießen ein heiseres Gebrüll aus, als sie angriffen. Die Keulen behinderten sie, aber sie warfen ihre Lanzen. Zum Glück zielten sie nicht genau. Die primitiven Speere erreichten nicht einmal die Mulde, nur ein einziger war so weit geworfen worden, daß er fast senkrecht herabkam und das Pferd traf. Es riß sich los und rannte davon. Dragon, Arric und Ubali gingen sparsam mit den letzten Pfeilen um, die sie noch besaßen. Keiner ihrer Schüsse verfehlte sein Ziel, aber als die Hälfte der Zuugs getötet worden war, tauchten die Ratten auf. Es waren sicher an die hundert von ihnen, und sie kamen von allen Seiten. Die Zuugs hatten ihre Taktik geändert, auch wenn sie dabei die Hälfte von ihnen opferte. Doch der Erfolg zeichnete sich jetzt ab. Fast alle Pfeile waren verschossen. Dragon, Arric und Ubali griffen zum Schwert. Nur Danila lag in der
Mulde, die Augen geschlossen und den Kopf in den Armen. Sie erwartete ihren Tod. Die drei Männer standen fast Rücken an Rücken und schwangen ihre Schwerter. Arric war ein guter Kämpfer, der eine Bestie nach der anderen niederstreckte, ehe sie zum entscheidenden Sprung ansetzen konnte. Auch Ubali hieb wie ein Wilder um sich und stand bald in einem Wall von zerfetzten Kadavern, der immer höher wurde. Dragon sorgte dafür, daß keine der Ratten Danila zu nahe kam, aber er spürte bereits die Müdigkeit in seinem rechten Arm. Nicht mehr lange, dann war er so erschöpft, daß er aufgeben mußte. Die überlebenden Zuugs hatten sich im Hintergrund gehalten, um den Ratten und später auch den herbeikriechenden Spinnen ihre Befehle zu erteilen. Ihr heiseres Krächzen wurde von den Bestien verstanden, die taktisch klüger als bisher vorgingen. Selbst die Spinnen waren nicht mehr so unvorsichtig, in die blanken Schwerter hineinzurennen. Sie griffen stets nur dann an, wenn einer der Männer mit einem oder mehreren Gegnern beschäftigt war. Danila hielt die Ungewißheit nicht mehr länger aus. Ehe jemand sie daran hindern konnte, sprang sie auf, ergriff die hölzerne Lanze, die in die Mulde gefallen war, und stach blindlings auf die nächste Spinne ein – und tötete sie.
Dragon, der sie zurückreißen wollte, änderte seine Meinung. Warum sollte sie nicht kämpfen, wenn sie alle ohnehin verloren waren? Er gab ihr Deckung und stärkte so ihren Mut und ihr Selbstvertrauen. Nun sind wir vier, dachte Dragon und schlug einer Ratte den Kopf ab. Trotzdem konnten sie der erdrückenden Übermacht nicht mehr lange standhalten. Ubali, der sich Luft verschafft hatte, griff wieder zum Bogen und tötete vier der Zuugs, die nicht mehr mit dem Einsatz der Fernwaffe gerechnet hatten. Und dann fiel ein fünfter und sechster, ohne daß Ubali einen Pfeil abgeschossen hatte. Die Zuugs wandten sich zur Flucht und verschwanden seitwärts in den schützenden Büschen. Dort aber, wo der Pfad zum Heiligen Berg begann, erschienen in Felle gekleidete Männer, hingen sich die Bogen um und griffen zu den Schwertern. Mitleidlos hieben sie auf die überraschten Ratten und Spinnen und töteten sie. Der Rest der Ungeheuer suchte sein Heil in der Flucht, die aber nur wenigen von ihnen gelang. Dragon nahm Danila das Schwert ab, das Ubali ihr gegeben hatte. »Du brauchst es nicht mehr, wir sind gerettet.« Dann erst wandte er sich den unerwarteten Rettern zu und fragte in der Sprache des Eisvolkes: »Wer seid ihr? Wir
haben euch unser Leben zu verdanken.« Inzwischen hatte sich auch Arric von seiner ersten Überraschung erholt. Er schob sein Schwert zurück in die Scheide, nachdem er es hastig gesäubert hatte. »Zu welchem Stamm gehört ihr?« fragte er, ehe die Krieger Dragons Frage beantworten konnten. Der Älteste der Männer war plötzlich unentschlossen. Er sah von einem zum anderen, dann meinte er zögernd: »Eure Fragen werden von Fürst Hingis beantwortet werden. Folgt mir. Meine Krieger werden euch vor neuen Angriffen der Bestien zu schützen wissen.« Arric sagte: »Fürst Hingis, der Stammesälteste? So hat er die Schlacht überlebt.« »Und er hat uns in ein sicheres Versteck geführt. Ihr kennt ihn?« »Wir sind uns begegnet«, erwiderte Arric, ohne weiter darauf einzugehen. »Dann kommt!« Der Pfad führte steil bergan, und die Anstrengung der vergangenen Tage machte sich bemerkbar. Ubali stützte Danila, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die meisten der Retter kamen nicht mit. Sie bezogen vorbereitete Stellungen am Beginn des Pfades, als erwarteten sie einen neuen Angriff. Dragon stellte keine Fragen mehr. Er begann zu
ahnen, daß ihm neue Schwierigkeiten bevorstanden, und abermals bereute er es, Arric mitgenommen zu haben. Den Weg zum Heiligen Berg hätte er auch ohne ihn gefunden. Sie gingen fast eine Stunde, ehe sie das Plateau erreichten. Völlig erschöpft brach Danila zusammen. Ubali nahm sie auf die Arme, um sie den Rest des Weges zu tragen. Arric drängte sich an Dragon vorbei, die Rechte auf dem Griff seines Schwertes gestützt. Damit übernahm er automatisch die Führung der Gruppe. Der alte Krieger ließ seine Leute am Ende des Pfades zurück und winkte Arric zu. »Kommt weiter, Fürst Hingis will mit euch sprechen.« »Und ich will mit ihm reden«, erklärte Arric arrogant. Er schien eine ganz bestimmte Absicht zu haben, und Dragon beschloß, weiterhin auf der Hut zu sein. Hingis blieb am Feuer sitzen, als ihm der alte Krieger vom Ausgang des kurzen Kampfes berichtete und der Hoffnung Ausdruck gab, daß es in dieser Nacht keinen Angriff mehr geben würde. Dann erst wandte er seine Aufmerksamkeit den Geretteten zu. Er deutete auf die herumliegenden Holzstämme. »Nehmt Platz, ihr seid in Sicherheit. Wer seid ihr?«
Diesmal war Dragon schneller als Arric. Er sagte: »Ich weiß nicht, ob euch die Boten vom Eisfluß erreichten und ob du Kenntnis davon erhalten hast, daß die Fürsten Genol und Hadrek dort eine Abwehrfront aufbauten. Ein Fremder aus den Ländern des Südens half ihnen dabei.« Hingis wartete, bis sie sich gesetzt hatten. Nur Arric blieb noch stehen, auf sein Schwert gestützt. Auch der alte Krieger stand beim Feuer, aufmerksam und mißtrauisch. »Ich habe von der Verteidigungslinie gehört, denn unsere Boten sind schnell und kennen die Gefahren, die ihnen durch die Ungeheuer drohen, die in unser Land eingefallen sind und fast die Hälfte unseres Volkes töteten. Wir haben auch von dem Fremden aus den südlichen Ländern erfahren, der in einem Götterwagen die Große Eiswand überquerte und dann aufbrach, um die Eiskönigin um Hilfe anzurufen. Er ist bisher nicht bei uns eingetroffen, denn wir bewachen das Tor zu ihrem Reich.« »Das Tor zu ihrem Reich? Ihr kennt es also?« Hingis deutete zur Felswand hinüber. »Wir kennen es, aber wir vermochten bisher nicht, es zu öffnen. Es führt direkt in den Berg hinein. Der Schein des Feuers reicht nicht aus, es jetzt sichtbar werden zu lassen, aber morgen werde ich es euch zeigen. Doch du hast meine Frage noch nicht
beantwortet, Fremder: Wer seid ihr und was sucht ihr unter den Ungeheuern?« »Ich bin jener Fremde aus dem Land des Südens, und mein Götterwagen ging verloren. Dieses Mädchen kam mit den Ungeheuern durch den Spalt in der Erde, aber sie wurde von ihnen verschleppt und hat nichts mit ihnen gemeinsam. Wir konnten sie retten, bevor sie von ihnen getötet wurde. Und dies ist Ubali, mein Gefährte auf der langen Wanderung.« Arric wartete nicht erst ab, bis auch er von Dragon vorgestellt wurde. Er trat vor und streckte Fürst Hingis den goldenen Griff seines Schwertes entgegen, ohne es aus der Scheide zu ziehen. »Kennst du dieses Schwert, Hingis?« Hingis betrachtete den Schlangengriff und nickte langsam. »Es ist Fürst Edils Schwert, der im Kampf gegen die Ungeheuer den Tod fand. Wo hast du es her?« »Ja, es ist Edils Schwert, und nun ist es das meine, denn ich bin sein Sohn und damit sein rechtmäßiger Erbe. Die Weise Frau und Eiskönigin ist meine Großmutter, denn Edil war ihr Sohn. Ich verzeihe dir, wenn du in Unwissenheit die Führerschaft über mein Volk übernommen hast, aber du wirst einsehen, daß ich meine Aufgabe als Retter zu erfüllen habe. Dieses Schwert berechtigt und verpflichtet mich dazu.« Fürst Hingis blieb ruhig sitzen. Er warf Dragon
einen forschenden Blick zu, stellte aber keine Fragen. Der alte Krieger stand wachsam neben dem Feuer, die Hand am Griff seines Schwertes. Dragon sagte schnell: »Ich habe damit nichts zu tun, Fürst Hingis. Ich bin Dragon, der König von Myra, einem Land jenseits der Großen Eiswand. Arric stieß zu mir, als ich den Götterwagen verloren hatte. Er führte mich hierher. Das ist alles, was ich weiß.« Hingis nickte langsam. »Ich glaube dir, Dragon, den man auch den Retter vom Eisfluß nennt. Und jener also ist Arric? Er kam mir gleich bekannt vor. Sicher sind wir uns früher begegnet. Man sagt von Arric, dem Roten, daß er früh sein Volk verließ, um die Welt zu erobern. Er wollte in die Länder des Südens und auch in jene des Nordens. Als die Ungeheuer uns überfielen, war sein starker Arm nicht hier, um uns zu helfen. Er kämpfte in fremden Ländern. Ich glaube, er hat sein Volk im Stich gelassen.« Er sagte es ganz ruhig. Er sagte es sogar mit ein wenig Nachsicht und voller Mitgefühl. Vielleicht war es das, was Arric zur Vorsicht mahnte. »Man kann auch in fremden Ländern für sein Volk kämpfen, Hingis. Ich tat es. Und als ich von der Gefahr hörte, die den Nordländern drohte, kehrte ich um. Jetzt
bin ich hier, um mein Volk zu erretten.« Er verschwieg wohlweislich, daß es nur die Niederlage gegen Dragon im Kampf um Kyrace war, die ihn zur Umkehr gezwungen hatte. Und vor allen Dingen verschwieg er, daß er nur den Gedanken an Rache kannte und auf seine Gelegenheit wartete. Wenn er erst einmal der rechtmäßige Nachfolger Fürst Edils geworden war, stand dieser Rache nichts mehr im Wege. »Er lügt!« rief Danila, die sich von der Erschöpfung zu erholen begann. »Dragon hat mir alles berichtet, was jenseits der Eiswand geschehen ist. Und Ubali hat es mir bestätigt. Arric ist ein Betrüger, ein Abenteurer, ein Nichts! Er kann nicht Edils Sohn sein, und schon gar nicht der Enkel der Eiskönigin!« Dragon bedeutete ihr mit einem Wink zu schweigen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt zur Abrechnung. Es gab wichtigere Dinge zu tun. »Ich muß dich bitten, Fürst Hingis, deine Entscheidung zu verschieben. Mich geht der Streit zwischen dir und Arric nichts an, und ich weiß ebenfalls nicht, ob er wirklich der Sohn des Fürsten Edil ist. Er fand dessen Schwert auf dem Schlachtfeld und nahm es an sich. Wenn ein gerechter Anspruch besteht, wirst du mit dem Rat deiner Krieger darüber entscheiden. Arric ist ein tapferer Mann, aber das allein ist nicht ausschlaggebend. Er muß auch Edils Sohn sein
– und der Enkel der Eiskönigin.« »Wir werden morgen in aller Ruhe darüber sprechen«, sagte Hingis und nickte. »Heute kein Wort mehr darüber, Arric! Ich wünsche es so!« »Du wirst nicht mehr lange befehlen, Hingis! Aber warten wir bis morgen. Hast du ein Zelt für mich?« »Leider nicht, du wirst mit Dragon und Ubali schlafen müssen. Das Mädchen ist bei meinen Frauen und Töchtern sicher aufgehoben.« Dragon fragte: »Was ist mit diesem Tor, das in den Berg führt? Hast du schon versucht, es zu öffnen, um die Weise Frau zu wecken?« »Ja, das haben wir alle, aber es gelang uns nicht. Das Tor besteht aus einem wunderbaren Metall, das nicht rostet. Es widersteht dem Wind, dem Regen, der Hitze und der Kälte, ohne Spuren zu zeigen. Wir können es nicht öffnen.« Stahl, dachte Dragon und erinnerte sich an die Technologie von Atlantis. Guter und reiner Stahl! In der Zeit, in der er jetzt lebte, unbekannt. »Wir werden es morgen erneut versuchen.« »Die Boten berichteten mir, du seist mit einem fliegenden Götterwagen aus den Ländern des Südens zu uns gekommen und ein Sohn der Eiskönigin. Stimmt das? Wenn es richtig ist, ist dein Rang höher als jener Arrics zu bewerten.«
Dragon wußte, daß er vorsichtige Zurückhaltung üben mußte, wollte er nicht Gefahr laufen, die Dinge auf die Spitze zu treiben. Die Zeit zur Auseinandersetzung war noch nicht gekommen. »Man sagt, ich sei ihr Sohn, aber ich selbst habe es nie behauptet. Es gibt Dinge, über die man besser nicht spricht. Jedenfalls werden wir morgen gemeinsam versuchen, das eiserne Tor zu öffnen.« »So soll es sein!« stimmte Fürst Hingis zu. »Und nun werden wir essen. Ihr werdet hungrig sein.« »Wir haben seit gestern nichts mehr in den Magen bekommen«, gab auch Arric seine Einwilligung und setzte sich endlich auf einen der Holzstämme. »Morgen wird sich alles entscheiden. Diese Nacht soll dem Frieden gewidmet sein.« »Ja, und der Erwartung«, stimmte Fürst Hingis zu. In dieser Nacht geschah etwas Seltsames. Zum erstenmal seit ihrer gemeinsamen Wanderschaft war es unnötig geworden, eine Wache aufzustellen. Der alte Krieger hatte sie zu einem schnell errichteten Zelt gebracht, in dem einige Frauen drei warme Lager bereiteten. Mit ihren eigenen Pelzmänteln zugedeckt bestand keine Gefahr, daß es in der Nacht kalt werden könnte. Dragon lag am Außenrand des Zeltes, durch Felle vor der nächtlichen Kühle geschützt. Ubali wählte das Lager neben dem Eingang. Arric begnügte sich wortlos
mit dem verbleibenden Lager, verschwand aber noch einmal, bevor sie sich zur Ruhe niederlegten. »Wo geht er hin?« flüsterte Ubali. »Ob ich nicht besser wach bleibe?« »Du bist erschöpft, genauso wie ich erschöpft bin. Wir werden schlafen. Ich glaube nicht, daß uns eine Gefahr droht. Arric käme nicht weit, wenn er es wagen würde, uns im Schlaf zu ermorden. Manchmal glaube ich sogar, dein Mißtrauen geht zu weit, Ubali.« »Da bin ich nicht so sicher, Dragon. Mein Gefühl hat mich nur selten betrogen, und diesmal tut es das ganz bestimmt nicht. Arric ist ein falscher Freund, glaube mir. Vielleicht zwingt ihn die Vernunft dazu, den Schein zu wahren, aber wenn er erst einmal Fürst Hingis entthront hat, wird er den Befehl geben, uns umzubringen. Er kann keinen Nebenbuhler gebrauchen.« »Soweit ist es noch nicht! Noch ist Hingis der Fürst des verbliebenen Stammes, und der Besitz eines Schwertes allein, das einem Toten abgenommen wurde, ist kein Beweis. Warten wir ab.« »Ruhig, er kommt zurück ...« Arric kam ins Zelt, machte sich sein Lager zurecht und legte sich hin. Er verkroch sich unter seine Felle, und bald verrieten seine Atemzüge, daß er eingeschlafen war. Ubali zog sich ebenfalls zurück.
Dragon aber konnte trotz seiner Müdigkeit noch nicht einschlafen. Danila wußte er in Sicherheit. Er hatte sich selbst davon überzeugt, daß sie gut untergekommen war. Was immer auch geschehen würde, sie würde bei Hingis Stamm in Frieden weiterleben können, vorausgesetzt, es fiel Arric keine neue Gemeinheit ein. Aber der hatte sicherlich andere Sorgen. Dragon schlief angezogen, sein Messer griffbereit im Gürtel. Er verließ sich auf sein gutes Gehör und seinen sechsten Sinn, der ihn schon oft vor einer drohenden Gefahr gewarnt hatte. Das Schwert hing an einem Pfosten, zwei Mannslängen entfernt. Endlich kam der Schlaf auch zu ihm. Unruhige Träume plagten ihn, und er mußte ganze Rudel von Ungeheuern töten, ehe er sich in Sicherheit wähnte. Aber das seltsame Geräusch an seiner Seite blieb. Er erwachte und blieb ganz ruhig liegen. Das Geräusch war noch immer da. Es war so, als schabe jemand an der Zeltwand, dicht neben ihm. Behutsam wälzte er sich zur Seite, dem Innern des Zeltes zu. Damit geriet er automatisch in die Nähe seines Schwertes, aber er ignorierte es. Dafür zog er sein Messer und hielt es griffbereit, während er noch immer so tat, als schliefe er. Er konnte nichts sehen, denn es war stockfinster, aber das Reißen des Zeltstoffes war unverkennbar.
Jemand hatte mit einem Messer die Zeltwand aufgeschnitten und half mit der Hand nach. Nun zögerte Dragon nicht länger. Er richtete sich ganz nach dem Geräusch, hob den Arm und stach mit dem Messer zu. Er spürte das weiche Fleisch, das er traf, holte abermals aus und stach ein zweites Mal zu, ohne die Absicht zu haben, den hinterhältigen Angreifer zu töten. Aber der Schrei, den er hörte, war zweifellos der Todesschrei eines Menschen. Ubali und Arric erwachten. Der Schwarze rannte aus dem Zelt und kehrte mit einem brennenden Ast zurück, den er von Hingis Lagerfeuer geholt hatte. Arric blieb auf seinem Lager sitzen und starrte Dragon ungläubig an. »Was ist geschehen?« stammelte er, scheinbar verblüfft. Dragon zog den Spalt auseinander. Ein Mann, fast nackt, fiel ins Zelt hinein. Er war blutüberströmt und zweifellos tot. Dragon rollte ihn zur Seite. Aus der erstarrten Hand des Fremden glitt ein Messer. »Hole Fürst Hingis!« forderte Dragon Ubali auf. »Er sollte den Mann kennen.« »Er wollte dich ermorden?« fragte Arric, als Ubali gegangen war. Der brennende Ast steckte in der Erde und verbreitete ein flackerndes Licht. »Woher kennt er dich?« Dragon betrachtete ihn forschend. »Wäre das
ein Grund, mich zu töten?« fragte er. Arric wirkte verstört und verbarg es auch nicht. »Vielleicht, was wissen wir? Jedenfalls kam er nicht in friedlicher Absicht.« Fürst Hingis stürmte ins Zelt und starrte in das Gesicht des Toten. Ubali hatte ihn bereits informiert. »Gordell! Er wollte dich ermorden, Dragon?« »Er hatte sicherlich nicht die Absicht, mir einen freundschaftlichen Besuch abzustatten, davon zeugen das Messer und der Riß in der Wand des Zeltes. Vielleicht finden wir etwas, wenn wir seine Taschen durchsuchen. Er hat zwar nur einen Lendenschurz an ...« In der einzigen Tasche fanden sie fünf Goldstücke. Dragon hielt sie in der flachen Hand und zeigte sie den anderen. Ubali sagte: »Merkwürdig, es sind Goldmünzen, wie sie in den südlichen Ländern üblich sind. Wie mögen sie nur hierher gelangt sein?« Sein Blick streifte Arric. »Über die Große Eiswand hinweg. Wirklich sehr seltsam ...« »Ich werde Wachen aufstellen lassen«, unterbrach ihn Fürst Hingis, der den Blick bemerkt hatte. »Den Rest der Nacht könnt ihr sicher und ruhig schlafen. Morgen sprechen wir weiter über den Zwischenfall. Ich will wissen, warum Gordell das tat.« Er ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Am anderen Vormittag rief Fürst Hingis die
Ältesten des Stammes zusammen. In seiner offenen und freundlichen Art berichtete er, wie Arric, der Rote, zu Fürst Edils Schwert gekommen war und daß er behaupte, sein Sohn zu sein. Die Krieger selbst sollten entscheiden, ob er von nun an der Führer des Stammes werden solle. Sehr geschickt und fast unauffällig bat er Dragon dann, noch bevor eine Entscheidung gefällt werden konnte, den Hergang des nächtlichen Zwischenfalls zu schildern. Beide Geschehnisse, unmittelbar hintereinander gesehen, ergaben einen gewissen Zusammenhang, der jedoch nicht bewiesen werden konnte. Die Ältesten lehnten Arric als neuen Fürsten ab. Dragon schaltete sich erst in die Debatte ein, als er darum gebeten wurde: »Nicht wir sollten die wichtige Entscheidung treffen, sondern die Eiskönigin, die Weise Frau. Wenn Arric wirklich ihr Enkel ist, weiß sie das, und sie weiß es besser als wir. Also sollten wir warten, bis wir sie geweckt und zum Erscheinen bewegt haben. Wir müssen versuchen, das Tor zu öffnen.« Arric war mit diesem Entscheid offensichtlich nicht zufrieden. Er hätte am liebsten gleich die Macht übernommen, aber er wurde von den Ältesten überstimmt. Niemand vermochte jedoch zu sagen, warum
Gordell den fremden Gast in der vergangenen Nacht ermorden wollte. Sowohl Dragon, wie auch Ubali and Arric besaßen die Goldmünzen der südlichen Länder. Jeder von ihnen konnte einige davon zu einem Bestechungsversuch benutzt haben, wobei Dragon mit Sicherheit ausfiel. Und Dragon wiederum wußte, daß Ubali keinen Grund hatte, ihn umbringen zu lassen. Blieb also nur Arric, der Rote. Aber der endgültige Beweis fehlte abermals. Fürst Hingis verkündete den Spruch des Rates: »Beide Entscheidungen sollen erst morgen gefällt werden, wenn wir die Eiskönigin um Rat fragen können. Bis dahin herrscht Friede. Arric sei unser Gast, und er hat sich unseren Gesetzen zu fügen. Sollte die Eiskönigin ihm als neuen Fürsten unseres Stammes zustimmen, werde auch ich mich seinen Anordnungen fügen müssen. Und was Gordell angeht, so können wir ihn nicht mehr fragen, denn er ist tot. Doch vielleicht kennt auch hier die Eiskönigin den Ausweg und nennt uns den Namen jenes Mannes, der Gordell zum Mord an einem unserer Gäste anstiftete.« Am Nachmittag gingen Dragon, Ubali und Danila zum Stahlschott der atlantischen Überlebensstation. In aller Ruhe betrachtete Dragon die blauschimmernde Wand, die in den Fels eingelassen worden war und wie ein gewaltiges Tor wirkte. Es war groß genug, einen Götterwagen durchzulassen. Aber
nicht das geringste Anzeichen eines Öffnungsmechanismus war vorhanden, so sehr er auch danach suchte. Der Felsen war ebenso nackt und kahl wie die Stahlwand. »Und doch muß es etwas geben, das sie öffnet«, sann Dragon vor sich hin. »Irgend etwas, das wir noch entdecken müssen ...« »Du mußt die Eiskönigin rufen«, schlug Danila vor. Er sah sie an. »Vielleicht hast du recht, Danila, aber ich habe Fürst Hingis versprechen müssen, nichts zu unternehmen, ehe die Dämmerung anbricht. Solange müssen wir warten.« Das war eine Entscheidung, die keine Widerrede duldete. Immerhin nutzte Dragon die verbleibende Zeit, das Tor und seine Umgebung sorgsam zu studieren. Mit seinem technischen Verstand entdeckte er einige Dinge, die einem unbefangenen Beobachter niemals aufgefallen wären. Ganz allmählich formte sich eine Theorie, die eine absolut logische Grundlage besaß. Der Schlüssel zur Überlebensstation mußte optischer oder akustischer Natur sein. »Nun?« Danila war zu Dragon zurückgekehrt. »Weißt du es nun?« Er schüttelte den Kopf.
»Wir müssen abwarten, Danila. Aber ich bin sicher, die Eiskönigin wird unsere Bitte um Hilfe erhören. Es muß uns nur gelingen, das Tor zu öffnen oder ihre Diener zu wecken.« »Wie?« Er lächelte ihr zu. »Du bist ungeduldiger als ich, Danila. Vergiß nicht, daß alle unsere Erinnerungen Lücken haben, die man nur durch intensives Nachdenken wieder füllen kann. Es gibt Dinge, die man glaubt greifen zu können, und wenn man dann entschlossen zupackt, weichen sie zurück in das Meer des Vergessens. Verstehst du, was ich meine?« Sie nickte. »Ich versuche es, Dragon. Du willst sagen, früher einmal wußtest du, wie man ein Tor wie dieses öffnet, aber du hast es vergessen.« »So ähnlich, Danila. Doch komm jetzt, Fürst Hingis erwartet uns. Bald wird es dämmern.« Sie kehrten zu den Zelten und Hütten zurück. Arric saß am Feuer und brütete vor sich hin. Er erwiderte kaum Dragons Gruß, als dieser sich einen Holzstamm herbeirollte. Ubali blieb ein wenig abseits stehen. Fürst Hingis erschien mit einigen älteren Kriegern, die auch an der Sitzung teilgenommen hatten. »Bald werden wir wissen, ob die Eiskönigin unseren Ruf erhört«, sagte er. »Du hast das Tor gesehen,
Dragon?« »Ich habe es gesehen, und ich glaube zu wissen, wie man die Eiskönigin ruft. Ihr dürft hinter mir stehen, aber niemand soll sprechen. Es muß ruhig sein, und kein Laut darf die Stille des Abends stören. Nur dann – so hoffe ich – wird sich das Tor öffnen.« »Wir haben die Eiskönigin mit Lärm zu wecken versucht. Wir haben unsere Waffen gegen die Schilde geschlagen und sie gerufen. Das Tor hat sich nicht geöffnet.« »Heute wird es sich öffnen«, wiederholte Dragon noch einmal. Langsam wurde es dunkel. Arric verhielt sich ruhig und abwartend. Er saß da, auf den Griff seines Schwertes gestützt und die Augen halb geschlossen. Als es endlich völlig dunkel geworden war, erhob sich Dragon. Langsam ging er auf das Stahlschott zu, gefolgt von zwei Fackelträgern, Fürst Hingis, Arric, Ubali und Danila. Die anderen Stammesältesten folgten erst in großem Abstand. Als sie vor dem Tor standen, das im Schein der Fackeln blauschwarz schimmerte, versuchte Dragon an jene Dinge zu erinnern, die ihm am Nachmittag bei den Felsen aufgefallen waren. Er berechnete ihre Lage und seine eigene Stellung. Vorsichtig trat er einen weiteren Schritt vor und blieb abermals stehen.
Und dann sagte er einige Worte in der unbekannten und vergessenen Sprache der verschollenen Atlanter. Selbst Danila, die das Atlantische völlig beherrschte, verstand kein einziges Wort von dem, was Dragon sagte. Es waren Worte, die sich ständig wiederholten und die fast mechanisch klangen. Arrics Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen, als nichts geschah, aber in der Dunkelheit konnte das niemand sehen. Danila und Ubali wagten kaum zu atmen. Dragon wartete, dann sprach er abermals die geheimen Kodeworte, diesmal etwas lauter und schneller, nur von rhythmischen Pausen unterbrochen. Noch während er seine Worte wiederholte, gab die eiserne Wand Antwort. Eine unwirklich klingende Stimme, heiser und krächzend, ertönte durch die Nacht. Sie kam aus den Felsen seitlich des Tores, und gleichzeitig war ein unheimliches Schleifen und Kratzen zu hören, als das gewaltige Stahlschott zur Seite wich. Lichter flammten im Innern des Berges auf und blendete die Menschen, die Einlaß begehrt hatten. Dragon versuchte etwas zu erkennen, doch das Licht blendete ihn, aber er wußte, daß er es geschafft hatte. Seine Stimme und seine Worte hatten den so lange schlummernden Mechanismus in Bewegung gesetzt.
Das Tor zum Reich der sagenhaften Eiskönigin hatte sich geöffnet. Bald würde er wissen, ob sich seine Vermutungen bewahrheiteten. Ohne sich davon zu überzeugen, ob ihm jemand folgte, schritt er langsam und voller Erwartung auf die Lichter zu. Er wollte sehen, was hinter diesen Lichtern war ... ENDE Nach ihrer Wanderung durch die Zone des Schreckens haben Dragon, Ubali und auch Dragons Gegenspieler Arric unbeschadet den Heiligen Berg erreicht. Hier soll für den Atlanter die Vergangenheit zu neuem Leben erwachen – denn ihn erwartet DIE EISKÖNIGIN ... DIE EISKÖNIGIN unter diesem Titel erscheint auch der nächste Band der Dragon-Serie. Als Autor des Romans zeichnet Hans Kneifel.