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Dan Shocker DAS GRAUEN (Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus)
Der vorliegende Roman ist nicht »irgendein« ...
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Dan Shocker DAS GRAUEN (Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus)
Der vorliegende Roman ist nicht »irgendein« Klassiker. Es ist der Klassiker - der erste in Deutschland erschienene Horror-Heftroman! Dan Shocker schrieb ihn 1968 und gab damit den Startschuß für Tausende von Gruselromanen, die ihm folgten. Die DÄMONEN-LAND-Redaktion ist glücklich und stolz, Ihnen »Das Grauen« noch einmal präsentieren zu können - zumal Shockers Roman ganz und gar nicht »in den Kinderschuhen« steckt, wie viele vermuten mögen. Im Gegenteil - ein außergewöhnlich spannender, vielschichtiger und unheimlicher Horror-Thriller erwartet Sie. Viel Freude und einen Hauch Nostalgie wünscht Ihnen beim Lesen
Dieser Roman erschien erstmals als 4 Silber-Grusel-Krimi Band 747
Er verharrte in der Bewegung. Lauschend hielt er den Atem an, und dann drehte er langsam den Kopf. Marc schluckte. Er war kein furchtsamer Mensch, doch jetzt hatte er Angst. Zehn Kilometer vor Maurs hatte sein Wagen ausgesetzt. Es war Mitternacht, und er konnte nicht damit rechnen, noch Hilfe durch einen anderen Autofahrer zu erhalten. Um diese Zeit war die abgelegene Straße nicht mehr befahren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg nach Maurs zu Fuß fortzusetzen. Langsam ging er weiter, und plötzlich stieg wieder dieses unerklärliche Gefühl der Angst in ihm auf. Etwas beobachtete ihn, näherte sich ihm. Mit fiebrig glänzenden Augen starrte er in den Wald und schien mit seinen Blicken die dunklen Stämme durchbohren zu wollen. Rundum war alles totenstill. In der lauen Sommernacht bewegte kein Lufthauch die Blätter an den Bäumen. Und doch glaubte Marc, Schritte zu hören. Dumpfe, gleichmäßige Schritte. Schweiß trat ihm auf seine Stirn. Seine Nerven spielten ihm schon einen Streich! Er hatte sich vom Gerede der Leute durcheinanderbringen lassen. In der Umgebung von Maurs war seit einiger Zeit ein Gerücht im Umlauf, das nur flüsternd von Mund zu Mund weitergegeben wurde. Diese einfachen Menschen auf dem Lande lebten noch mit ihrem Aberglauben, und sie glaubten noch an Dinge, über die man in den Städten nur lachte … Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß die Schritte, die er gehört hatte, seine eigenen waren. Marc rannte. Sein Blick war wie in Hypnose auf das dunkle, gewundene Band der schmalen Straße gerichtet, die in der Ferne von den dichtstehenden Baumreihen verschluckt zu werden schien. Für einen Augenblick fühlte er sich erleichtert, befreit, die Furcht wich. Aber sie kam sofort wieder, als der Schatten ihn wie in einem Mantel einhüllte. Marc hörte das mächtige Flügelschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einen furchtbaren Alptraum durchzumachen. Aber es war kein Alptraum – es war Wirklichkeit, und es war eine grausige, erschreckende Wirklichkeit! Der riesige Flügel streifte sein Gesicht. Seine Haut riß auf, als ob eine rasiermesserscharfe Sense sie ritzen würde. Marc schrie. Sein Aufschrei verhallte ungehört in den Tiefen der Wälder. Seine Abwehrbewegung blieb im Ansatz stecken. Er sah die dunkle, schemenhafte Gestalt wie durch einen Blutnebel. Sie war mannsgroß, die mächtigen Flügel spannten sich wie ein Zeltdach über ihm. Und dann bohrten sich zwei spitze Zähne in seine Halsschlagader. Ein letzter Gedanke erfüllte sein Bewußtsein. Das Gerede der Leute – die Vampire, die es geben sollte, und an die er nicht glaubte, nicht glauben konnte. Er war ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, er lebte in einem modernen, fortschrittlichen Land … Ein tiefer, schwarzer Abgrund tat sich vor ihm auf. Krampfartige Schmerzen peitschten seinen Körper, Marc stürzte zu Boden, seine Arme zuckten, dann lag er still. Er merkte nicht mehr, wie der riesige Schatten von ihm zurückwich, und spürte nicht mehr das Blut, das aus der Bißwunde an seinem Hals herablief. Er war tot.
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Gegen vier Uhr morgens kehrte ein Arzt aus einer kleinen Ortschaft an dem Gele-Fluß nach Hause zurück. Er war noch vor Mitternacht zu einem Schwerkranken gerufen worden und hatte dort fast vier Stunden bleiben müssen. Auf der Rückfahrt nach Maurs wurde Dr. Faneel zunächst auf den verlassenen Wagen am Straßenrand aufmerksam und wenig später auch auf den reglosen Körper, der etwa drei Kilometer von dem Auto entfernt lag. Dr. Faneel hielt sofort an. Er näherte sich dem reglosen Fremden und erkannte auf den ersten Blick, daß er hier nichts mehr tun konnte. Sein glattes, ein wenig fahles Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, als er zu seinem Wagen zurückkehrte und wenig später in raschem Tempo nach Maurs fuhr. Er benachrichtigte die Polizei, gab seine Wahrnehmungen zu Protokoll. Er hatte eine äußere Verletzung festgestellt. Die Bißwunde am Hals, aber er fand keine Erklärung dafür… Die Polizei war eine Viertelstunde später am Tatort. Spuren wurden gesichert, der Fotograf blitzte zahlreiche Aufnahmen. Der Polizeiarzt machte eine erste Untersuchung, während etwa zehn Polizeibeamte den nahen Wald absuchten, in der Hoffnung, noch andere Spuren zu finden, die die Aufklärung des rätselhaften Verbrechens eventuell erleichterten. Doch es gab keine solchen Spuren. Kommissar Sarget, der unmittelbar nach der Aussage von Dr. Faneel aus dem Bett geholt worden war, hielt sich in diesen Minuten überall auf. Er gab mit ruhiger Stimme seine Anweisungen, nahm Berichte und Ermittlungsergebnisse entgegen, telefonierte von seinem perlgrauen Peugeot aus mit seiner Dienststelle in Maurs und sorgte dafür, daß die Ermittlungsarbeit rasch vonstatten ging, ohne oberflächlich zu sein. Sarget war ein ruhiger besonnener Mann, etwas untersetzt, mit schwarzem, schütterem Haar. Unter dem Jackett trug er noch seinen rot-blau gestreiften Pyjama. Er hatte sich nicht einmal mehr die Zeit genommen, ihn auszuziehen. Wichtig allein war die Aufklärung des Verbrechens. Je früher die Spuren gesichert wurden, desto größer waren die Chancen, es aufzuklären. Mit jeder Minute, die verstrich, wurden die Chancen für die Aufklärung geringer. Sarget verlangte sich stets das Äußerste ab, und auch seine Männer gaben ihr Bestes. Der Polizeiarzt hatte die Untersuchung beendet. Sarget wechselte ein paar Worte mit ihm. »Wie sieht es aus?« Der Arzt zuckte die Achseln. »Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen. In spätestens drei Stunden weiß ich mehr. Ich muß die Laboruntersuchung abwarten.« Dr. Pascal preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, und seine nachfolgenden Worte waren kaum zu hören, als er jetzt sagte: »Ein Raubüberfall ist ausgeschlossen, er trägt noch alles bei sich. Wir wissen, wer er ist, seine Personalien weisen ihn aus. Wir wissen auch, daß er nicht erschossen und nicht erstochen wurde. Er wurde auch nicht angefahren. Die Symptome weisen vielmehr in eine ganz andere Richtung: der Biß am Hals! Es scheint, als ob man ihm Blut abgezapft hätte. Er hat auch etwas Blut verloren, aber daran kann er unmöglich gestorben sein. Die verkrampfte Haltung des Toten, sein verzerrtes Gesicht — er muß unter großen Schmerzen umgekommen sein.« »Gift?« Dr. Pascal zuckte abermals die Achseln. »Das glaube ich nicht. Ich habe eine ganz andere Vermutung. Das Bild deckt sich nicht mit dem, was wir die ganze Zeit über von 6
den rätselhaften Bißwunden zu hören kriegten. Die Personen, die zu uns kamen, und behaupteten, Opfer von Vampiren zu sein, klagten über große Mattigkeit morgens nach dem Erwachen. In den umliegenden Ortschaften ist es während der vergangenen sechs Monate angeblich zu zahlreichen rätselhaften Vorfällen gekommen. Vampire!« Der Arzt faßte sich an die Stirn. Er sagte das Wort >Vampire< so leise, daß es wie ein Hauch über seine Lippen kam. »Man sollte es nicht für möglich halten! Ich habe Bilder von den angeblichen Opfern in Zeitschriften gesehen. Ich hielt sie für Montagen, für Fälschungen. Aber jetzt dieser Tote, der Biß an seinem Hals, die ganzen Umstände …« Sarget fühlte, wie es ihm heiß wurde. Er bemühte sich, seine sprichwörtliche Ruhe zu behalten. Er erörterte mit Dr. Pascal einige Details, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen. Die Gerüchte, die im Umlauf waren, gaben ihm zu denken. Jetzt wurde er zum erstenmal mit einem Fall konfrontiert, der deutlich jene Zeichen trug, die er niemals wahrhaben wollte. Kommissar Sarget war noch immer in Gedanken versunken, als er längst in seinem Büro saß, und darauf wartete, daß der Ermittlungsbericht des Labors vorgelegt wurde. Die Arbeit am Tatort war abgeschlossen. Der Tote lag im Leichenschauhaus in Maurs, sein Wagen stand in einem dunklen Hinterhof des Polizeigebäudes. Sarget zündete sich eine Zigarre an und sah flüchtig die Post durch. Doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er sah ständig die Wunde am Hals des Toten vor sich, und er konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. Die Wunde stammte nicht von einem Einschuß und nicht von einem Stich. Das stand fest. Sie sah wirklich so aus, als ob sich zwei dolchartige Zähne in die Halsschlagader des unglücklichen Opfers gebohrt hätten … Sarget zuckte zusammen, als die Sprechanlage summte. Das Labor meldete sich. »Ich erwarte den Bericht«, sagte Sarget nur. Er legte seine Zigarre in den Ascher zurück und konnte es kaum erwarten, daß an die Tür geklopft wurde. »Herein.« Dr. Pascals Assistentin, eine hübsche zwanzigjährige Blondine, legte den Laborbericht auf Sargets Schreibtisch. Sarget nickte nur stumm, während er den Umschlag aufriß, und hastig die Zeilen überflog. Der Bericht Dr. Pascals war kurz aber eindeutig. >Die chemischen und serologischen Untersuchungen haben ergeben, daß der Tod bei Monsieur Lepoir durch eine Verklumpung der roten Blutkörperchen eingetreten ist. Monsieur Lepoir war Träger der Blutgruppe A, durch die Bißwunde wurde Blut der Gruppe B in seine Venen übertragen. Weiterhin steht fest, daß ein teilweiser Blutaustausch erfolgte. Etwa fünfhundert Kubikzentimeter Blut der Gruppe A wurden durch fünfhundert Kubikzentimeter der Gruppe B ausgetauscht. Der Austausch ist durch die Bißwunde erfolgt. Der Körper Lepoirs weist keine weiteren Wunden oder Injektionsstiche auf.<
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Sarget las sich diesen Text mehrmals durch. Er hatte wenig später noch ein persönliches Gespräch unter vier Augen mit Dr. Pascal. Pascals Laborbericht und seine persönliche Ansicht veranlaßte Kommissar Sarget dazu, einen Schritt zu tun, von dem er geglaubt hatte, ihn niemals tun zu müssen. Es gab ein persönliches Handschreiben des Innenministers an ihn. Niemand außer Sarget wußte von diesem Schreiben. Der Brief war ihm vor sieben Monaten überbracht worden, zu einem Zeitpunkt, als die ersten Berichte über angebliche Vampiropfer bekannt wurden. In den umliegenden Ortschaften, die teilweise bis zu fünfzig Kilometer von Maurs entfernt lagen, war es während der zurückliegenden sieben Monate zu einigen rätselhaften Überfällen gekommen. Personen entdeckten die geheimnisvollen Bißwunden, und sie klagten des morgens über Mattigkeit und Müdigkeit. Das Gerücht von den Vampiren kam auf, die seit geraumer Zeit in dieser Gegend ihr Unwesen trieben, und die doch noch kein Mensch gesehen hatte. Die normalen Routineuntersuchungen verliefen im Sande. – Da schalteten sich unerwartet der Innenminister und der Geheimdienst in Paris ein. Alle Kriminalkommissariate wurden aufgefordert, diese Sonderfälle sofort weiterzuleiten und die Bearbeitung einzustellen. Der Geheimdienst interessierte sich dafür. Sarget schüttelte unwillkürlich den Kopf, während ihn diese Gedanken beschäftigten. Er hatte nicht damit gerechnet, daß auch er jemals einen derart merkwürdigen Fall weiterzuleiten hätte. Still verpackte er die Unterlagen und die Fotografien des Toten, legte einen handgeschriebenen Vermerk bei und versiegelte das Couvert. Die Sendung verließ noch am selben Vormittag sein Büro. Sarget wußte, daß mit dem heutigen Tag eine entscheidende Wende in seinem Leben begonnen hatte. Er erkannte, daß er mit Vernunft und Logik nicht mehr weiterkam. Je mehr Gedanken Sarget an den merkwürdigen Vorfall verwendete, desto mehr Fragen stellten sich ihm. Warum interessierte man sich in Paris für diese Dinge? Was hatte der Geheimdienst damit zu tun? Es ging etwas vor, was über sein Begriffsvermögen ging. In Paris schien man aber etwas mehr zu wissen. Er ahnte in diesen Sekunden nicht, daß man auch in der Stadt, in der er lebte und arbeitete, bereits etwas mehr wußte. Es gab einen Mann in Maurs, einen Amerikaner, der keine achthundert Meter vom Polizeigebäude entfernt in einer kleinen Pension wohnte, die sich >Le Petit Jardin< nannte. Dieser Amerikaner wußte bereits mehr als Sarget, als der französische Geheimdienst und als die französische Regierung zusammengenommen. Er hieß Henry Parker. Seine Deckbezeichnung lautete X-RAY-18. Diese Deckbezeichnung war nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten in den Vereinigten Staaten bekannt. Parker war einer der wenigen PSA-Agenten, die es bisher gab. Die Abteilung, in der Henry Parker tätig war, hatte sich auf psychologische Mordfälle spezialisiert. In der psycho-analytischen Spezialabteilung wurden Fälle abgehandelt, die mit den herkömmlichen Methoden nicht zu klären waren. Männer, die in der PSA dienten, sahen die Dinge in einem größeren Zusammenhang, und sie hatten die Erlaubnis, völlig 8
frei zu handeln. Sie waren nur sich und ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich. Sie standen mit den höchsten Regierungsstellen in Verbindung, alle Türen standen ihnen offen. Und dies in der ganzen Welt. Zwischen den Regierungen der Erde gab es Geheimverträge, die den Einsatz von PSA-Agenten in allen Staaten erlaubten. Diese Agenten kannten nicht mehr die Grenzen, die Völker voneinander trennten. Jede Regierung konnte einen PSA-Mann anfordern, wenn es um einen Fall ging, der nicht in die herkömmliche Sparte fiel, und dessen Aufklärung besondere Schwierigkeiten bereitete. Parker hielt sich auf Anforderung der französischen Regierung in Maurs auf. Als Tourist war der Agent ins Land gekommen, um den Gerüchten über die Vampire nachzugehen. Nicht einmal der Geheimdienst, der die bisherigen Unterlagen bearbeitet hatte, wußte von der Anwesenheit Henry Parkers. Parker hatte alle Fälle gründlich studiert, bei denen es angeblich zu Begegnungen mit Vampiren gekommen sein sollte. Er hatte sich die Opfer genau angesehen und lange Zeit beobachtet. Schritt für Schritt war er vorangekommen. Ein Fall weckte sein besonderes Interesse. Er stellte fest, daß in der Ortschaft Maurs ein Mann namens Simon Canol lebte, der offensichtlich das Opfer eines Vampirs war. Es gab einige Punkte, die X-RAY-18 aufmerksam gemacht hatten und sein Mißtrauen weckten. Monsieur Canol schien ein besonderes Verhältnis zu den rätselhaften Vampiren zu haben, von denen soviel gesprochen wurde, die aber bis zur Stunde noch kein Mensch gesehen hatte … Parker hatte Canol beschattet, hatte sein Leben und seine Angewohnheiten unter die Lupe genommen und einige erstaunliche Fakten zu Tage befördert. Canol war Biologe. Er bezeichnete sich selbst als Privatgelehrten, und er schien zu dem bekannten Professor Bonnard, einem erfolgreichen Archäologen und Historiker, der die Geschichte Ägyptens wie kein Zweiter kannte, in einem guten, freundschaftlichen Verhältnis zu stehen. Canol lebte und arbeitete in Maurs. Doch woran er eigentlich arbeitete, das vermochte niemand zu sagen. Er lebte sehr zurückgezogen in seinem kleinen Haus, das auf einer Anhöhe am Rande von Maurs lag. Regelmäßig verließ Canol seine Wohnung spät abends, wenn die Stadt in tiefer Dunkelheit lag. Parker hatte herausgefunden, daß Canols Ziel stets das gleiche war, und der Agent hatte sich vorgenommen, Canol an diesem Abend heimlich bis zu seinem Ziel zu begleiten. Er hatte einen bestimmten Verdacht. Jetzt war es an der Zeit, sich Gewißheit zu holen. Er hatte alles bis ins Detail durchdacht und geplant. Es konnte nichts schiefgehen. X-RAY-18 wandte sich vom Fenster ab, an dem er die ganze Zeit über gestanden hatte. Sein schlanker, sehniger Körper streckte sich unter einem tiefen Atemzug. Das Zimmer Parkers lag im Halbdunkel. Er hatte die Vorhänge vorgezogen, und es war angenehm kühl im Raum. Draußen lastete die Hitze eines staubigen, trockenen Sommertages. X-RAY-18 betrachtete eingehend die Skizze, die er sich angefertigt hatte. Schließlich faltete er die schimmernde Folie zusammen und verstaute sie in einem versteckten Fach seines Koffers. Parker trat wieder ans Fenster, blickte durch einen schmalen Spalt des Vorhanges, durch den ein paar Sonnenstrahlen fielen. Das Licht reflektierte auf dem massiven Goldring, der 9
den Ringfinger seiner linken Hand zierte. Der Ring war ungewöhnlich gearbeitet. Er trug eine erhabene Weltkugel in seiner Fassung. Unter den goldfarbenen Kontinenten der Erde schimmerte das stilisierte Gesicht eines Menschen. In der schmalen Fassung waren die Worte Im Dienste der Menschheit eingraviert. Daneben stand die Bezeichnung X-RAY-18. Dieser Ring wies Parker nicht nur als Spezialagent aus, mit ihm hatte es auch eine besondere Bewandtnis … Henry Parker dachte an die Depesche, die er im Lauf der frühen Nachmittagsstunden erhalten hatte. Vom Nachrichtendienst der französischen Regierung war er vom Ableben Marc Lepoirs unterrichtet worden. Ganz in der Nähe von Maurs war es zu dem rätselhaften Tod des jungen Franzosen gekommen. Gewisse Einzelheiten paßten gut in das Bild, das Parker inzwischen gewonnen hatte, und doch war der Tod Lepoirs alles andere als eine Parallele zu den Fällen, die er bisher studiert hatte. Der geheimnisvolle Gegner begnügte sich nicht mehr damit, seine Opfer auszunutzen, er tötete sie … Zufall oder Absicht? Er würde bald mehr wissen; heute nacht schon hoffte er, den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Der PSA-Agent verließ gegen 16 Uhr die kleine Pension. Er trug eine hellgraue Sommerhose und ein zitronengelbes Sporthemd. Auf der bloßen Haut lag die Schulterhalfter, in der eine moderne Smith and Wesson Laser steckte. Waffen dieser Art wurden nur von den Agenten der PSA benutzt. Parkers Gesicht war ernst und verschlossen, während er an den Cafés und Geschäften vorbeischlenderte, hier und da stehenblieb und sich eine Auslage betrachtete. Auf diese Weise erreichte er den Randbezirk der kleinen Stadt. Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos. Die Luft war trocken und staubig, kein Lüftchen regte sich. Der einsame Spaziergänger bewegte sich schon wenig später auf der nach Süden führenden Landstraße. Sanft stiegen die Berge hinter den Feldern in die Höhe, die Pappeln am Straßenrand ragten wie dunkle Fackeln in den Himmel. In der Ferne, hinter drei mächtigen Buchen, erkannte X-RAY-18 das Haus Canols. Es lag inmitten eines parkähnlichen Gartens, der von einem schmiedeeisernen Gitter umzäunt war. Ein reicher Franzose hatte sich dieses villenähnliche Gebäude um die Jahrhundertwende bauen lassen. Canol erwarb es vor einigen Jahren und lebte in dem großen Haus ganz allein. Parker hätte seinen Wagen nehmen können, der in der Garage des >Petit Jardin< stand. Doch mit vollem Bewußtsein ging er zu Fuß. Sein Plan war so aufgebaut, daß er nur gelingen konnte, wenn er seinen Wagen in der Garage ließ. Er hatte sich alles genau überlegt. Canols Angewohnheit gab ihm die Möglichkeit, gemeinsam mit ihm zur gleichen Zeit das Ziel zu erreichen, ohne daß Canol Verdacht schöpfte, weil ein fremder Wagen ihm folgte. Parker lief auf der linken Straßenseite. Ein einziges Mal nur begegneten ihm zwei Radfahrer und ein Sportwagen. Die Straße lag wie eine graue, vor Hitze flirrende Schlange vor ihm. Und dann hörte er das Motorengeräusch hinter sich. Ein Wagen näherte sich. Unwillkürlich warf Parker einen Blick zurück. Im gleichen Augenblick schien sein Herz stehenzubleiben. 10
Ein dunkelblauer Citroën fuhr mit rasender Geschwindigkeit auf der linken Straßenseite. Der Wagen näherte sich ihm blitzschnell. Parker sah das fahle, ovale Gesicht und die dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Er sah das helle Pflaster, das einen Teil des Halses des Fahrers bedeckte. Er erkannte den Mann hinter dem Steuer. Es war Monsieur Canol. Und er erkannte im gleichen Augenblick die tödliche Gefahr, in der er nun schwebte. Canol wollte ihn umbringen! Wie ein Geschoß flog der Citroën auf ihn zu.
Die vierstrahlige TWA-Maschine rollte langsam aus. Sie kam im Nonstopflug aus New York. An Bord befanden sich einhundertzwanzig Passagiere. Unter den zahlreichen Geschäftsreisenden, zurückkehrenden französischen Touristen und neu eintreffenden amerikanischen Touristen befand sich ein Mann namens Larry Brent. Auch er war Tourist. Im Gegensatz zu den meisten Amerikanern, die nach Frankreich kamen, um Paris kennenzulernen, hatte Brent den Wunsch, die kleinen Städte und die Provinz zu sehen. Von Frankreich aus sollte sein Europatrip nach England, Deutschland und in die Schweiz führen. Brent hatte die Absicht, insgesamt acht Wochen ausgiebig Urlaub zu machen. Er war Agent des FBI. Larry mußte lächeln, wenn er daran dachte, daß die meisten glaubten, FBI-Agenten würden während ihrer Dienstausübung ständig auf Weltreise sein. Seine Arbeit spielte sich hauptsächlich in den Staaten ab. Dienstlich hatte er in Europa überhaupt noch nicht zu tun gehabt. Als Soldat hatte er sich zwei Jahre in Deutschland und während eines NATO-Truppenmanövers drei Wochen in England aufgehalten. Doch nun lernte er die Alte Welt endlich einmal als Tourist kennen. Er hatte diesen Urlaub seit langer Zeit vorbereitet, und er hoffte, daß kein unerwarteter Fall ihn in die Staaten zurückrief. Der Chef des FBI war jedenfalls ständig darüber unterrichtet, wo sich Brent an diesem oder jenem Tag aufhielt. Larry Brent war verpflichtet, jede Ortsveränderung telegrafisch mitzuteilen. Mit federnden Schritten näherte Larry Brent sich der großen Abfertigungshalle. Die Luft war erfüllt vom Dröhnen der auslaufenden Strahltriebwerke. Maschinen starteten, neue kamen an. Die blitzenden Vögel zogen wie Pfeile durch die Luft, stiegen rasch aufwärts und verloren sich in der Ferne des endlos blauen Himmels. Lautsprecherdurchsagen drangen an sein Gehör, ein Durcheinander von Stimmen erfüllte die Luft rundum. Viele Fluggäste besuchten unmittelbar nach der Ankuft das Flughafenrestaurant. Larry aber wollte keine weitere Zeit verlieren. Er wohnte der Zollkontrolle seines Gepäcks bei und verließ dann sofort das Flughafengelände. Die beiden schweren Koffer in der Hand, blickte er sich aufmerksam um. Er sah hinüber zu dem großen Parkplatz. Unmittelbar neben der Südeinfahrt stand ein silbergrau gestrichener Zeitungskiosk. Und neben dem Kiosk parkte ein rotes Cabriolet. 11
Ein kaum merkliches Aufatmen kam über Larrys Lippen. Es hatte alles planmäßig geklappt. Der Wagen, den er telefonisch bei einer großen Pariser Autoverleihfirma bestellt hatte, stand ihm zur Verfügung. Ein junger Bursche, noch keine zwanzig Jahre alt, stand lässig neben dem Cabriolet und rauchte eine Zigarette. Larry überquerte die Straße und ging auf ihn zu. Der Fremde trug einen hellen Arbeitsanzug, auf dessen linker Brusttasche ein rotes, ovales Schild aufgenäht war, das in dunkelblauen Buchstaben den Namen >Dumont< trug. Larry grinste. Sein sympathisches, sonnengebräuntes Gesicht wirkte in diesem Moment noch jugendlicher, als dies an sich schon der Fall war. Mit einer unbewußten Bewegung strich er sich die blonden, ständig in die Stirn fallenden Haare zurück. »Der Kundendienst klappt ja ausgezeichnet«, meinte er. Er stellte die Koffer ab. »Zum festgelegten Zeitpunkt am verabredeten Ort. Was will man mehr?« Der Beauftragte der Firma warf seine Kippe zu Boden und trat mechanisch die Glut aus. »Dumonts Service ist der beste, Monsieur. Wir haben schon mehr als einem amerikanischen Touristen einen Wagen vermietet. Wir haben Erfahrung.« Larry wies sich aus und überreichte dem Bringer des Cabriolets einen ausgefüllten Scheck und ein angemessenes Trinkgeld. Larry wechselte noch ein paar Worte mit dem Burschen und nutzte die Gelegenheit gleich, sein Französisch aufzupolieren. Dann setzte er sich hinter das Steuer des Cabriolets, ließ den Motor an und winkte dem jungen Franzosen lässig zu. »So, die Leihgebühr für vierzehn Tage wäre damit im voraus bezahlt«, sagte Larry, während er den roten Wagen langsam neben dem Franzosen hersteuerte. »In vierzehn Tagen bin ich wieder in Paris. Vielleicht verlängere ich auch meinen Aufenthalt in diesem Land. Es kommt ganz darauf an, wie es mir in der Provinz gefällt.« Der Angesprochene grinste. »Amerikaner haben eine Schwäche für das alte Europa. Sie finden hier all das, was sie in den Staaten vermissen. Es gibt hier Schlösser und Burgen…« Larry lachte und gab etwas mehr Gas. Er wollte seine Zeit nicht mit Geplänkel verbringen. Er hatte die Absicht, noch in dieser Nacht sein Standquartier in Maurs zu beziehen. In einer kleinen Pension, im >Petit Jardin<, hatte er ein Zimmer gemietet. Von dort aus wollte er regelmäßige Streifzüge in die umliegende Provinz unternehmen. Larry warf einen Blick in den Rückspiegel. Der junge Franzose winkte ihm ein letztes Mal, dann schrumpfte seine Gestalt in der Ferne zusammen. Larry Brent fuhr sicher und schnell. Er erreichte bereits nach zehn Minuten die Ausfallstraße und benutzte dann die Autobahn. Der FBI-Agent schaltete das Radiogerät an. Er fand einen französischen Sender, der einige sehr hübsche Chansons ausstrahlte. Die eine oder andere Melodie, die Larry vertraut war, pfiff er mit. Er lehnte sich zurück und ließ sich den Fahrtwind in das Gesicht blasen. Das dunkle Verdeck des Cabriolets war ganz zurückgeklappt, und Larry hatte auch kein Interesse daran, es nach vorn zu ziehen. 12
Es war drückend heiß, selbst der Fahrtwind verschaffte ihm kaum Abkühlung. Ein tiefer Atemzug hob und senkte die breite, muskulöse Brust Larry Brents. Endlich Urlaub! Er begann bereits die erste Stunde, die er sich auf französischem Boden befand, zu genießen. Abseits vom Getriebe der Großstadt, abseits vom hektischen Leben, vom Lärm, weit weg von Amerika. Diesen Tag hatte er lange herbeigesehnt, und er hoffte, daß sein geplanter Urlaub genauso verlief, wie er ihn sich vorstellte. Entspannung – und doch neue Eindrücke in einem fremden Land zu sammeln, dies alles sollte seinen Urlaub vom ersten bis zum letzten Tag bestimmen. Larry befand sich fast ständig auf der Überholbahn. Der rote Wagen raste wie ein Blitz über die graue Asphaltstraße. Brent wollte Maurs so früh wie möglich erreichen. Er hätte es weniger eilig gehabt, hätte er in diesen Sekunden geahnt, in welchen Hexenkessel er da hineinfuhr. Er hoffte auf Ruhe und auf Entspannung. Doch genau das Gegenteil erwartete ihn. Larry Brent sollte in einen Wirbel von Ereignissen geraten, die er nie in seinem Leben wieder vergessen würde, und die seine Zukunft schicksalhaft bestimmten …
Henry Parker stand wie zur Salzsäule erstarrt. Alles Leben schien aus seinem Körper zu weichen. Doch dann hatte sein Instinkt von ihm Besitz ergriffen. Wie von unsichtbarer Hand wurde X-RAY-18 zur Seite gerissen. Er ließ sich einfach fallen. Im gleichen Augenblick wurde er auch schon vom linken Kotflügel des dunkelblauen Citroën erfaßt. Er fühlte den Schlag gegen sein Bein. Im hohen Bogen flog der PSA-Agent in den Straßengraben. Den Citroën raste weiter und verlor sich in der Ferne. Parker überschlug sich mehrmals. Schmerzen durchfuhren sein Bein, sein Herz pochte wie rasend, und der Schweiß perlte von seiner Stirn. Er verlor zeitweise das Bewußtsein. Der Himmel über ihm nahm eine drohende, dunkle Farbe an und schien auf ihn abstürzen zu wollen. Parker atmete heftig. Die Bräune seines Gesichtes war einem stumpfen Grau gewichen. Er versuchte sich zu bewegen, doch all seine Glieder schmerzten. Minutenlang lag er da wie ein Toter. Zitternd schlossen sich seine Augenlider. Er versuchte, innerlich zur Ruhe zu kommen, eine Erklärung für den Vorfall zu finden. Doch beides war sehr schwer. Canol hatte ihn töten wollen. Canol hatte Verdacht geschöpft. Es mußte ihm aufgefallen sein, daß ein geheimnisvoller Amerikaner sich sehr intensiv mit seinem Leben und Treiben beschäftigte. Parker biß die Zähne zusammen. So dicht vor dem Ziel mußte ihm das passieren! Er mußte irgendwann einen entscheidenden Fehler begangen haben. Er hätte noch vorsichtiger zu Werke gehen müssen. Doch für Vorwürfe war es jetzt zu spät. Parker versuchte abermals, sich zu bewegen. Sein ganzer Körper schien von glühenden Nadeln durchbohrt zu werden. Es gelang ihm unter unsäglichen Mühen, sich auf die Seite 13
zu rollen. Ein ausgetrockneter Ast streifte seine Wange und ritzte seine Haut. Doch er spürte den Schmerz kaum, da die Qualen, unter denen er zu leiden hatte, weitaus größer waren als dieser kurze, brennende Schmerz. Parker zuckte zusammen, als er das näherkommende Motorengeräusch vernahm. Kam Canol zurück? Hatte der Biologe bemerkt, daß er sein Werk nicht vollendet hatte? Kam er — um endgültig mit Parker Schluß zu machen? Der PSA-Agent hielt den Atem an. Das Motorengeräusch näherte sich, schwoll an — und verebbte dann langsam in entgegengesetzter Richtung. Parker sah nur flüchtig den Schatten des Autos. Der Fahrer des Wagens konnte ihn, den Verletzten, nicht entdecken. Parker lag im Graben, halb verborgen von Blattwerk und niedrig stehenden Sträuchern. Keine Handbreit hinter ihm breitete sich ein ausgedehntes Brennesselfeld aus. Parker versuchte sich aufzurichten. Er hatte das Gefühl, daß sein Körper mit zahllosen blauen Flecken übersät war. Sein linkes Bein schmerzte teuflisch. Das Hosenbein war aufgerissen, und ein breiter Blutfleck tränkte den Stoff. Parker wollte sich aufrichten, doch er knickte jedesmal wieder ein; seine Beine fanden keinen Halt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis er langsam wieder zu Kräften kam. Canol war nicht zurückgekommen, das beruhigte ihn. War der Franzose überzeugt davon, sein Werk vollendet zu haben? Die Situation war so gewesen, daß Parker praktisch eine Zehntelsekunde vor dem Zusammenstoß sich aus eigener Kraft zur Seite geworfen hatte. Der Schlag gegen den Kotflügel des Citroën war unmittelbar darauf erfolgt. Die beiden Ereignisse waren so dicht aufeinandergefolgt, daß Canol den Eindruck gewonnen haben mußte, sein Opfer in voller Breite erwischt zu haben. Parker biß sich auf die Lippen. Die Sonnenbräune kehrte wieder in seine Gesichtszüge zurück. Mühsam richtete er sich zu halber Höhe auf. Er wußte, daß er wieder in der Lage war, auf den Beinen zu stehen, doch jetzt tat er es nicht. Er duckte sich sogar, als sich ein Auto näherte, um nicht gesehen zu werden. Trotz allem wollte er seine Mission zu Ende führen. Canol hielt ihn für tot. Vielleicht war das gut so. Er spähte aufmerksam zwischen den Blättern und Ästen über das vor ihm liegende Feld, hinüber zu dem dunklen, villenähnlichen Gebäude hinter den drei Buchen. Das Anwesen Canols lag wie immer ruhig und verlassen, doch der Eindruck konnte täuschen. Vielleicht stand Canol jetzt hinter einem der zahllosen Fenster seines Hauses und blickte durch ein Fernglas zu ihm herüber. Unwillkürlich duckte Parker sich dichter hinter den Busch. Er mußte den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Als die Dämmerung sich auf die Wiesen und Felder herabsenkte, richtete der Agent sich langsam auf. Sein linkes Bein schmerzte noch immer. Es war geschwollen, und er glaubte, ein Zentnergewicht hinter sich herzuziehen. Er nutzte aufmerksam jede natürliche Deckung aus. Jetzt, wo er wußte, daß Canol gewarnt war, verhielt er sich doppelt vorsichtig. Er erreichte einen alten Schuppen unterhalb des Abhangs, in dem die Bauern Holz und Geräte aufbewahrten. Hinter einem 14
verrosteten Karren machte er die erste Verschnaufpause. Sein Bein hatte wieder zu bluten angefangen. Er riß die untere Hälfte des Hosenbeins in schmale Streifen und verband die Wunde notdürftig. Es wäre ihm mehr als einmal möglich gewesen, einen Autofahrer oder einen Passanten anzuhalten. Doch er hielt sich versteckt. Er wußte, daß es jetzt nicht gut war, die Polizei zu benachrichtigen. Er mußte es allein durchstehen. Er war an einem Wendepunkt angelangt. Nur auf sich allein gestellt konnte er sein Ziel erreichen. Wolken kamen auf, sie näherten sich schnell vom Westen her, und es wurde dadurch rascher dunkel, als dies normalerweise um diese Zeit der Fall gewesen wäre. Mit den Wolken kam der Wind. Eine kühle Brise strich über Parkers verdrecktes, verschwitztes Gesicht. Irgendwo hatte sich ein Gewitter entladen und dieser Landstrich bekam wenigstens jetzt noch die Abkühlung mit … Die Wipfel in den Bäumen regten sich, die Blätter rauschten. Harry Parker, alias XRAY-18 warf öfter einen Blick hinüber zu dem nun schon nahen Anwesen Canols. Das Haus lag in tiefer Dunkelheit. Nein, doch nicht. Als er genauer hinsah, erkannte er, daß hinter einem der dichtgewebten, vorgezogenen Vorhänge schwacher, rötlicher Lichtschein zu erkennen war. Das Fenster hatte die Farbe des Blutes. Parker fühlte sich schwach und ausgepumpt. Er hatte sich von dem Unfall nicht ganz erholt, und er hatte offensichtlich doch mehr Blut verloren, als er zunächst geglaubt hatte. Manchmal mußte er stehenbleiben, um tief Luft zu holen. Alles vor seinen Augen drehte sich, und immer wieder, mit jedem Schritt, den er ging, machten sich die ungeheuren Schmerzen in seinem verletzten Bein bemerkbar. Er erreichte eine knorrige Eiche und lehnte sich aufatmend gegen den harten Stamm. Jetzt begann der Aufstieg. Er hatte in vielen Härtetrainings seine Kondition und sein Können bewiesen. PSA-Agenten wurden unter schärfsten Bedingungen ausgewählt. Um überhaupt PSA-Agent zu werden, mußte man zahlreiche Sondertests bestehen. Und nicht nur die körperliche Kraft war maßgebend, auch der Geist wurde trainiert und getestet. In den Reihen der PSA wurde ein völlig neuer Typ des Kriminalbeamten entwickelt. Es konnten nur Männer aufgenommen werden, die zumindest einige Semester Medizin und Psychologie studiert hatten. Die Fälle, mit denen die PSA-Agenten konfrontiert wurden, waren nicht herkömmlicher Art. Sie mußten mit besonderen Mitteln durch besonders vorund ausgebildete Agenten bekämpft werden. Das System, wonach die PSA im Prinzip arbeitete, war selbst Henry Parker ein Rätsel. Die PSA war noch in der Entwicklung, eine Abteilung, die jedoch für die Zukunft richtungsweisend sein konnte. Parker gehörte dieser Abteilung seit sechsundzwanzig Monaten an. Er hatte in dieser Zeit einige andere X-RAY-Agenten kennengelernt, doch bis zur Stunde war ihm nicht bekannt, wer der Kopf der X-RAY-Agenten war. Der geheimnisvolle Chef hielt sich im Hintergrund. Die Agenten erhielten ihre Aufträge fix und fertig auf den Schreibtisch, ohne daß der führende Kopf — wie dies beim FBI und auch bei der CIA zum Beispiel der Fall war - selbst in Erscheinung trat. Parker wußte, daß es einen Mann mit der Bezeichnung X-RAY-1 gab, doch er hatte diesen Mann niemals gesehen. Er löste sich von der Eiche. Es war jetzt sehr dunkel, und er konnte es wagen, den schmalen Pfad zu benutzen, der zum Anwesen Canols hinaufführte. 15
Dennoch ließ er auch jetzt nicht in seiner Aufmerksamkeit nach. Er hielt sich immer in der Nähe der dunklen Bäume und kam auf diese Weise ungesehen an das schmiedeeiserne Gitter, das Canols Grundstück umgab. In einer niedrigen Sandsteinmauer steckten etwa drei Zentimeter durchmessende, kantige Eisenpfeiler, die sich nach oben hin verjüngten und in einer speerähnlichen Spitze ausliefen. Viele Pfeiler waren bereits vom Rost angenagt. Das Gitter war fast drei Meter hoch. Moos wuchs auf dem Sandsteinwall, und wilde Weinreben umrankten das Gitter und das große Tor, das verschlossen war. Der PSA-Agent bahnte sich einen Weg unter den dichtstehenden, mannshohen Büschen hindurch. Er kannte hier jeden Fußbreit Boden. Auf der anderen Seite des Hauses gab es eine Stelle im Gitter, die ein Einsteigen ermöglichte. Parker erreichte diese Stelle. Ein Eisenpfeiler war am unteren Ende fast völlig durchgerostet. Wie ein Pendel ließ der Pfeiler sich hin und her bewegen, und Parker konnte ihn so weit zur Seite drücken, daß der Raum zwischen den beiden Pfeilern genügend breit war, um hindurchzukommen. Für eine Minute verhielt der Agent in der Bewegung, er lauschte, spähte zum Haus hinüber. Doch alles war ruhig. Parker zog den Eisenpfeiler wieder in die ursprüngliche Stellung zurück. Er befand sich auf dem Grundstück. Der Park, durch den er sich jetzt schlich, war nicht gepflegt. Canol war überhaupt nicht in der Lage, dieses Anwesen als einziger Bewohner in Ordnung zu halten. Auch das Haus selbst hätte dringend restauriert werden müssen. In der ersten Etage des rotbraunen Gebäudes hingen zwei Fensterläden nur noch an einer einzigen Schraube eines Scharnieres. Der Verputz war fleckig, und an den großzügigen Balkonen waren viele Verzierungen abgebrochen. Totenstille umgab Parker. Er näherte sich hinkend dem etwa dreihundert Meter entfernten Haus, zog dabei sein linkes Bein wie einen Fremdkörper nach. Einmal mußte er nach einer der Sandsteinsäulen greifen, die einen breiten Balkon stützten. Blitzartig überfiel ihn ein Schwindelanfall. Der Balkon verzog sich wie eine Gummihaut vor seinen Augen, und Parker mußte seinen ganzen Willen aufbieten, um die Schwäche zu besiegen. Er ärgerte sich, daß er praktisch hilflos wie ein kleines Kind war. Der starke Blutverlust konnte seine Mission in der entscheidenden Minute gefährden. Er wartete einen Augenblick ab, ehe er unter dem Schatten der Fensterreihen auf die vordere Ecke des stillen, dunklen Hauses zuwankte. Er spähte um die Ecke und sah die vorspringende Wand einer angebauten Garage. Sie war offen, und der dunkelblaue Citroën stand davor. Es war das gleiche Bild, wie er es während der vergangenen Tage immer angetroffen hatte. Der Citroën stand startbereit. Punkt neun Uhr würde Monsieur Canol sein Haus verlassen, um mit seinem Wagen wegzufahren. Parker warf einen raschen Blick auf seine Uhr. Es war halb neun — und dunkler als sonst. Die dichten Wolkenmassen, die rasch über ihn hinwegzogen, schluckten das Mond- und Sternenlicht. Parker war über diesen plötzlichen Wetterunischwung recht froh. Er erleichterte in der augenblicklichen 16
körperlichen Verfassung, in der er sich befand, sein Vorgehen. Parker bückte sich, um unter den niedrigen Fensterbänken vorbeizuschleichen. Im gleichen Augenblick fiel ein breiter Lichtstreifen vor seine Füße. Canol zog den schweren Vorhang am Fenster zurück! Parker sah den Schatten schräg vor sich auftauchen, und er wich wie unter dem Schlag einer Faust zurück. Canol öffnete das Fenster. Das Licht aus dem Raum hinter ihm überstrahlte seine schlanke Gestalt. Parker drückte sich eng an die warme Steinwand. Er nutzte den Kernschatten des hinter ihm liegenden Balkons aus, um sich den Blicken Canols zu entziehen. Henry Parker hielt den Atem an. Seine Blicke musterten die wie aus Stein gemeißelte Gestalt Canols. Kein Muskel bewegte das ovale, schmale Antlitz, das von einer beinahe totenähnlichen Blässe war. Das weiße Gesicht hob sich merklich von der dunklen Kleidung ab, die Canol trug. Er schien überhaupt nicht zu atmen, so ruhig stand er am Fenster. Minuten verstrichen. Dann hob Canol langsam den Kopf und blickte zum dunklen Himmel hinauf. Er streckte die Hand aus, um zu erkennen, ob es regnete. Doch kein Tropfen fiel vom Himmel. Da erscholl aus dem Zimmer hinter Canol ein helles, gepeinigtes Quieken. Canol wandte sich sofort um. Die Fenster wurden geschlossen, die Vorhänge vorgezogen, der breite Lichtschein auf dem Weg vor Parker verschwand. Parker schluckte. Canol - nicht allein im Haus? Das war ihm neu. Er erkannte, daß das Rätsel um diesen geheimnisvollen Mann immer größer wurde. Fest die Zähne aufeinanderpressend schlich der Agent jetzt um den vor ihm liegenden Balkon herum und hinkte dann auf den dunkelblauen Citroën zu. Er probierte aus, ob die Türen des Wagens verschlossen waren. Sie ließen sich öffnen. Er hatte es nicht anders erwartet. Es war Canols Angewohnheit, den Citroën auf seinem Grundstück niemals abzuschließen. Es gab keinen Grund dazu. Parker öffnete die hintere Tür. All dies gehörte mit zu seinem Plan. Hoffentlich verließen ihn seine Kräfte nicht. Er wußte nicht, was ihn in der nächsten Stunde erwartete. Gerade in dem Moment, als er vorsichtig in den Citroën stieg, um die Tür hinter sich zuzuziehen, hörte er das ferne Klingeln. Ein Telefon. Das Geräusch kam von den zugezogenen Vorhängen her, hinter denen Canol sich aufhielt…
Canol meldete sich mit einem leisen »Oui?« Dann lauschte er der harten, unpersönlichen Stimme am anderen Ende der Leitung. Schon nach den ersten Worten zuckte er zusammen. Sein bleiches Gesicht wurde hart, die dunklen Augen schienen noch tiefer in die Höhlen zurückzuweichen. »… du hast deinen Auftrag nicht erfüllt, Canol. Er lebt noch. Er hält sich auf deinem 17
Grundstück auf. Das beweist um so mehr unseren Verdacht, daß er ziemlich genau weiß, worum es geht. Er muß verschwinden, Canol! Er befindet sich jetzt in deinem Wagen.« »Ich werde ihn umbringen«, stieß Canol heiser hervor. »Ich werde …« Die Stimme am anderen Ende unterbrach ihn. »Nein! Keinen zweiten Fehler! Laß dir nichts anmerken, unternimm die Fahrt wie immer! Laß ihn in dem Glauben, daß er dir auf den Fersen ist. Er wird dir nachfolgen. Und aus meinem Haus wird er nicht lebend herauskommen!« Die Stimme am anderen Ende schien plötzlich etwas heiterer zu werden. »Die Vorfälle sind ärgerlich, Canol. Gerade jetzt, wo auch sie am Leben ist …« Canol fuhr wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Seine Backenmuskeln zuckten, und seine langen, schmalen Finger umschlossen unwillkürlich fester die Sprechmuschel des Telefons. »Du hast es wirklich geschafft — Bonnard?« stammelte er. »Unsere Hoffnungen — haben sich erfüllt?« Der mit Bonnard Angesprochene lachte leise. »Wir sind erst am Anfang, Canol. Die Schwierigkeiten beginnen jetzt. Die Blutmengen reichen nicht mehr. Ich brauche mehr Blut, viel mehr.« »Ich komme«, sagte Canol leise. Seine Stimme zitterte vor Erregung. Unwillkürlich tastete seine linke Hand nach dem Pflaster an seinem Hals. »Ich stelle mich zur Verfügung, ich …« Er wurde abermals von Bonnard unterbrochen. »Es ist zu wenig. Wir müssen sie jetzt noch öfter losschicken. Wir brauchen mehr Opfer, Canol. Ich kann sie sonst nicht mehr am Leben halten, und wir werden niemals erfahren, was vor viertausend Jahren wirklich geschah.« Ein uneingeweihter Beobachter des Gespräches mußte den Eindruck gewinnen, daß zwei Wahnsinnige sich unterhielten. Bonnard unterbrach schließlich das Gespräch mit dem Hinweis, den Mann, der sich in den Citroën geschlichen hatte, nicht merken zu lassen, daß man von seiner Anwesenheit wußte. Canol legte beinahe bedächtig den Hörer auf die Gabel zurück. Seine Hände zitterten, als er nach dem gefüllten Schnapsglas griff und den Inhalt mit einem Ruck in seine Kehle schüttete. Dann griff er nach dem dunklen Umhang, ein capeähnliches Kleidungsstück, das am Garderobenhaken hing, und warf es sich über die Schultern. Er löschte das Licht, und die Dunkelheit senkte sich wie ein Mantel über den wuchtigen Eichenschreibtisch, der von zahlreichen Blättern bedeckt war, die merkwürdige Zeichnungen, Zahlenkolonnen und Skizzen enthielten. Die Dunkelheit verhinderte auch, daß die großen Bilder an der Wand zu erkennen waren, die erschreckende Szenen zeigten. Auf dem größten Gemälde, das direkt über dem Schreibtisch hing, war in der Dunkelheit nur noch die riesige Gestalt eines fledermausähnlichen Körpers zu erkennen, ein dunkler Schemen mit weitgespreizten Flügeln. Als Canol durch den nachfolgenden Flur ging und den rechten Arm hob, um nach dem Lichtschalter zu greifen, schien es für zwei Sekunden, als ob auch er unter dem dunklen Cape die Flügel spreize … Er ging durch den langen Korridor. Unter zwei dicht nebeneinanderliegenden Türen zeigte sich ein schwacher, gelblicher Lichtschein. Es war nicht ganz still hinter den Türen. 18
Und aus einem Raum erklang ein heller Piepton, ein schrilles Quieken, wie es aus dem Maul eines tödlich verletzten Tieres kam. Heftiges Flügelschlagen – dann Stille … Canol warf keinen Blick zur Seite. Er verließ das Haus durch einen schmalen Seitenausgang. Stumm nahm er gleich darauf den Platz hinter dem Steuer des Citroën ein. Er startete den Wagen und löste den Schallimpuls aus, der das wuchtige Eisentor auf gleiten ließ. Dies alles waren rein mechanische Bewegungen. Canol war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er konnte es kaum erwarten, bis das Tor offen war und er den Citroën hinausfahren konnte. Er achtete nicht einmal darauf, bis das Tor sich ganz geschlossen hatte, und so entging ihm, daß die eine Torhälfte einen Zweig mitschleppte, der sich in dem Gitter verfangen hatte. Er verklemmte sich, und die beiden Torhälften konnten nicht einklinken. Die massiven Eisengitter waren handbreit voneinander entfernt. Canol warf keinen Blick zurück. Er fuhr den breiten Weg hinunter und befand sich drei Minuten später schon auf der asphaltierten Straße, die steil den Berg hinaufführte. Canols Lippen waren zu einem schmalen, dunklen Strich in dem bleichen Gesicht zusammengepreßt. Er wußte, daß er zum erstenmal in seinem Leben die Fahrt zu Bonnard nicht allein machte. Er hatte einen ungebetenen Mitfahrer. Doch dieser Mitfahrer ahnte nicht, daß Canol etwas von seiner Anwesenheit wußte … Zunächst schien es so, als ob er eine seitlich abzweigende Straße zum Nachbarort einschlagen wollte, doch dann steuerte Canol die Straße an, die abermals den Berg hinaufführte. Er fuhr praktisch um den Berg herum. Henry Parker lag im hinteren Fußraum. Der dunkle Schatten hüllte ihn fast vollkommen ein. Parker verhielt sich still. Man merkte kaum, daß er atmete. Canol erreichte die andere Seite des Berges. Er verließ die asphaltierte Straße und bog auf einen breiten, feldwegähnlichen Pfad ein. Links führte ein steiler Abhang in die Tiefe. Hinter einer dünnen Baumzone breiteten sich ausgedehnte Felder aus. Einsam und verloren — wie eine Burg — stieg vor Canol das dunkle, zerfallene Gehöft auf. Noch jetzt zeugten die massiven Mauern, die die einzelnen flachen Gebäude miteinander verbanden, davon, daß dieses Gehöft einmal ein gewaltiges, imponierendes Bauwerk gewesen war. In der Dunkelheit waren die windschiefen Erker, die schrägen Fensterläden und die halbabgedeckten Dächer mehr zu ahnen als zu sehen. Tief schwarz waren die mächtigen Tore, die die massive Steinmauer in regelmäßigen Abständen unterbrachen. Parker sah aus seiner Sicht nur das obere Drittel des dunklen Gebäudes, das wie ein Schemen vor dem Citroën aufwuchs. Er war schon mehr als einmal in der Nähe dieses verlassenen und zerfallenen Gehöftes gewesen. Es gehörte dem bekannten französischen Archäologen und Ägyptenforscher Professor Bonnard. Bonnard hatte dieses Anwesen vor Jahren erstanden, um seine privaten Forschungen an einem abgelegenen Ort weiterführen zu können. Bonnard war menschenscheu. Allgemein hieß es, daß er bis zur Stunde dieses Anwesen noch nicht betreten hatte. Es war unbewohnt, schon der äußere Eindruck machte dies klar. Was wollte Canol hier? Parker hatte mehrmals die Gelegenheit gehabt, Canol zu beobachten, wie er dieses alte, 19
abgelegene Gehöft, das wie ein Würfel auf einem moos- und grasbewachsenen Plateau stand, aufsuchte. Er duckte sich unwillkürlich tiefer, als der Citroën jetzt über den mit Schlaglöchern übersäten Weg schaukelte und sich einem der schwarzen Tore näherte. Der dunkelblaue Wagen war keine zehn Meter mehr von dem Tor entfernt, als die beiden Torhälften, wie von Geisterhand bewegt, auseinanderglitten. Lautlos bewegte sich das massive Holztor, das mit Eisenblechen beschlagen war, in seinen Scharnieren. Canol, der die Scheinwerfer des Citroën schon eine ganze Zeitlang ausgeschaltet hatte, fuhr rasch in den dunklen Innenhof. Das Tor schloß sich wieder. Stumm ragten die steinernen Wände auf, dunkel und geheimnisvoll gähnten die schwarzen Fensterlöcher in den Gebäudeteilen herüber. In der Mitte des fast quadratischen Hofes stand ein alter Brunnen. Canol fuhr den Citroën unter das vorragende Dach eines alten Holzschuppens und stellte dann den Motor ab. Er verließ den Wagen und drückte die Tür leise ins Schloß. Vorsichtig hob Parker den Kopf. Er wischte sich über sein schweißnasses Gesicht. Er spähte aus dem Seitenfenster und sah, wie die Gestalt in dem dunklen Umhang auf eine Tür in dem vorderen Gebäude zuging. Canol drückte die klapprige Tür einfach nach innen. Die rostigen Scharniere quietschten. Für einen Augenblick sah Parker noch die hochaufgerichtete Gestalt des geheimnisvollen Franzosen in der Türöffnung, dann verschwand Canol in dem dunklen Gang. Parker wartete noch drei Sekunden ab. Dann verließ er sein Versteck. Er rutschte auf dem Boden entlang, das verletzte, stark geschwollene Bein nachschleifend. Er erreichte die andere Seite des Gebäudes, ohne daß es zu einem Zwischenfall kam. Der Agent schob sich langsam an die halb offenstehende Tür heran, hinter der Canol verschwunden war. Weit und breit kein Lichtschein. Die Atmosphäre in dieser Umgebung war gespenstisch. Parker konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. Er fühlte, daß er einem großen Geheimnis auf der Spur war. Dies war der größte Fall in seinem Leben, seit man ihn zum PSA-Agenten berufen hatte. Mit den Fingerspitzen drückte er die Holztür nach innen. Sand rieselte auf seinen Kopf, ein Quietschen der ungeölten Scharniere ließ ihn zusammenfahren. Wieder wartete er ab. Er lauschte, spähte um die Ecke, und er sah die schemenhaften Umrisse eines morschen Geländers, das in die oberen Stockwerke führte. Parker nestelte an seinem Hemd herum und nahm die Smith and Wesson Laser in die Rechte. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er die Waffe jeden Augenblick brauchte … Langsam bewegte er sich in den dunklen Gang hinein, sich dicht an die Wand drückend. Der Kalk rieselte von den Wänden, und unter seinen Füßen knirschte der Staub und der Sand. Seit Jahrzehnten mußte dieses Gehöft unbewohnt sein. Plötzlich sah er die Fußabdrücke auf dem dunkelgrauen, staubigen Boden. Sie zeichneten sich als schwarze Abdrücke ab. Canols Spuren! Parker hätte jetzt die kleine Taschenlampe aus seiner Hosentasche nehmen können, doch er unterließ es. Er versuchte, die Abdrücke auch so zu erkennen. Er ging langsam den 20
Weg, den auch Canol gegangen sein mußte. Jede Faser seines Körpers war gespannt. Hinter dem Treppenaufgang gab es neben einer weit offenstehenden Tür einige ausgetretene Steintreppen in die Tiefe. Parker glaubte zu erkennen, daß Canols Spuren zur Tür führten. Der Amerikaner passierte die staubige Schwelle zu dem nachfolgenden Raum und gelangte in eine Art Abstellraum. Von dort aus gab es erstaunlicherweise eine neue Treppe, eine Wendeltreppe, die steil in die Höhe führte. Aufmerksam auf seine Umgebung achtend, folgte Parker den Spuren. Er stieg die steilen Stufen hoch. Es bereitete ihm Schmerzen und Schwierigkeiten. Einmal verharrte er in der Bewegung. Er hörte deutlich ein Geräusch im Raum über sich. Es hörte sich an wie ein Rascheln, als ob der Wind in den Wipfeln einer Krone fährt. Es konnte aber auch ebensogut von einem Kleidungsstück herrühren, das jemand ablegte. Der Umhang Canols? Parker hielt den Atem an. Er stieg bis unter das Dach. Er hörte den Wind, der sich im Gebälk verfing. Und dann mündete die Wendeltreppe auf den Dachbodenraum. Parker sah die breiten Ritzen und Löcher im Dach, er sah das morsche Gebälk. Spinnengewebe wehten ihm ins Gesicht. Er drehte sich langsam um. Da überstürzten sich die Ereignisse. Er kam nicht mehr dazu, zu begreifen, was Canol eigentlich im Dachgeschoß wollte. Er erkannte plötzlich nur noch eines: Canol hatte ihn in eine Falle geführt! Parker sah die dunkle Gestalt auf dem Treppenabsatz auftauchen. Auf der Treppe, die er eben gegangen war. Ein eiskalter Hauch schien sein Gesicht zu streifen. Ein riesiger Schatten tauchte plötzlich neben ihm auf, ein zweiter von rechts und dann einer von oben. Parker wich zurück, und seine Hand zuckte automatisch in die Höhe. Schrilles Zwitschern erfüllte die Luft, ein Flügel streifte Parkers Gesicht. Er fühlte, wie scharfe Krallen seine Kopfhaut aufrissen. Dann bohrten sich auch schon zwei dolchartige Zähne in seinen Hals. Parker fiel zu Boden. Durch den Unfall, durch den starken Blutverlust und die nachfolgenden Strapazen war er schon so geschwächt, daß er ein leichtes Opfer war. Seine Hand mit der Laserwaffe zitterte, er fand nicht mehr die Kraft, den Abzugshahn durchzuziehen. Eine ungeheure Schwäche ergriff von seinem Körper Besitz. Sie saugten ihm das Blut ab. Aber es waren keine Vampire. Er hatte vom ersten Augenblick nicht an dieses Märchen geglaubt. Doch das, was er sah, war zumindest ebenso erschreckend, vielleicht noch erschreckender als die Berichte von den rätselhaften Vampiren, bei denen jeder an die Menschen dachte, die sich in Fledermäuse verwandeln konnten und zu nachtschlafender Zeit ihr Unwesen trieben. Es waren Fledermäuse, aber von einer Größe und einer Kraft, die ihn erschreckten. Die Fledermäuse, die er kannte, hatten eine Kopfrumpflänge von vielleicht zehn Zentimetern. Und diese Fledermäuse vertilgten Nachtfalter und Insekten, Maikäfer und Mücken. Aber Fledermäuse, die eine Kopfrumpflänge von über einem Meter hatten, die 21
Menschen anfielen und ihren Opfern das Blut absaugten? Ein Alptraum schien ihn gefangenzunehmen. Ein Ozean von Gedanken und Empfindungen überschwemmten ihn. Wieso gab es solch riesige Fledermäuse? Was hatten sie hier zu suchen? Welchem geheimen Befehl gehorchten sie? Fragen — und keine Antwort … Seine Finger verkrampften sich. Die Laserwaffe entfiel seinem Griff, und sie rutschte durch einen handbreiten Spalt im Dielenboden. Parker fühlte einen letzten, stechenden Schmerz durch seinen Körper rasen, dann streckten sich seine Glieder. Er bemerkte nicht mehr, wie die beiden Riesenfledermäuse sich mit schrillen Schreien erhoben und mit mächtigen Flügelschlägen im Dunkel des weiten Dachbodenraumes verschwanden. Sein blutleerer Körper regte sich nicht mehr. Die Hand mit dem schweren goldenen PSA-Ring lag unter einer zentimeterdicken, aufgewühlten Staubschicht verborgen. Parkers blutleerer Körper kühlte langsam ab und aktivierte damit einen geheimnisvollen Mechanismus, der sich im Innern der erhabenen Weltkugel befand. Das Material war so geschaffen, daß es ein Absinken der Körpertemperatur registrierte. Sobald die Körpertemperatur nur noch zwanzig Grad betrug, würde der Funkimpuls abgestrahlt werden, der die PSA-Zentrale in New York vom Tod des X-RAY-18 benachrichtigte.
Canol wandte sich um. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck stieg er die Wendeltreppe hinab. Er hatte es jetzt sehr eilig, zu Bonnard zu kommen. Er erreichte den Kellerraum, öffnete eine Schachtklappe und stieg über eine Leiter in den untenliegenden Raum. Durch einen schmalen Gang gehend, erreichte er eine Nische. Von dort aus waren es nur noch wenige Schritte zu einer modernen, glatten und weißen Tür. Ohne anzuklopfen öffnete Canol die Tür. Gedämpftes Licht umfing ihn. Er trat in den Raum, der wie ein Labor eingerichtet war. Hinter einem breiten Schalttisch saß ein Mann, der Canol den Rücken zuwandte: Professor Bonnard. Er trug einen weißen Kittel. Bonnard saß im Schatten der Ecke, Lichtreflexe spiegelten sich auf seinem Gesicht. Bonnard beobachtete aufmerksam die Szenen, die sich auf den drei vor ihm befindlichen Bildschirmen abspielten. Zwei Fernsehbilder wurden durch normale Kameras übertragen, das andere entstand durch eine infrarotempfindliche Linse, die das Gewölbe kontrollierte, in der sich die neue Zucht befand. Zahlreiche riesige Fledermäuse hingen in dem künstlichen Schlupfwinkel, der mit Balken und Sprossen versehen war. In dem Gewölbe herrschte durch künstliche Heizquellen eine fast tropische Wärme. Canol warf einen Blick durch die zahlreichen Gestänge, in denen Reagenzgläser mit farbigen Flüssigkeiten hingen. Auf einem Tablett lagen große Ampullen, Spritzen und Injektionsnadeln. Canol wollte näher heran, um die beiden anderen Fernsehbilder besser überblicken zu 22
können. Er erkannte auf dem Schirm ganz links eine mit alten ägyptischen Symbolen übermalte Wand und davor eine reichverzierte Bettstatt, die sich diesem Stil anpaßte. Wie im Traum kam Canol näher. Doch da hob Bonnard, ohne sich umzuwenden, die rechte Hand. »Noch nicht, Canol. Es bleibt noch etwas zu tun.« Bonnards Stimme war kalt und unpersönlich. Canol konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so gehört zu haben. »Ich will sie sehen, Bonnard, ich …« begann Canol, doch er wagte nicht, einen Schritt weiter vorzugehen. Flache Tische, Regale und ein hohes Gestell trennten ihn von Bonnard. Der Profesor war gut zehn Meter von ihm entfernt. Bonnard schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Sie schläft. Später!« Canol schluckte. Seine dunklen Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. »Es ist unser gemeinsames Werk, Bonnard«, stieß er hervor. »Die Grundlagenforschungen, die ich betrieben habe, machten es überhaupt erst möglich, die Fledermäuse einzusetzen. Ich ließ die ersten Tiere hierher nach Europa bringen. Bis zur Stunde ist es keinem Biologen gelungen, Fledermäuse aus der Familie der Blutsauger, Desmoditae, so abzurichten, daß sie ihre ursprüngliche Nahrung, nämlich Blut von Säugetieren und Vögeln, verweigern und statt dessen Menschenblut begehren. Und die Entwicklung des Präparates Makropherim ist ebenfalls meine Erfindung, Bonnard!« Canol redete sich in Rage. Sein bleiches Gesicht gewann an Farbe. »Das Präparat ist für den Riesenwuchs der Tiere verantwortlich. Ich habe aus Fledermäusen, die eine Kopfrumpflänge von etwa siebzehn Zentimetern hatten, Tiere gezüchtet, die gut einen Meter groß sind! Die Flügelspannweite beträgt allein zwei Meter! Auch dies ist ein Faktor, der mit dazu beitrug, daß die Fledermäuse einsatzfähig wurden. Sie fürchteten sich nicht mehr vor der Größe des Menschen, sie waren fast gleich groß. Und ich war es, Bonnard, ich war es …« Canol schrie diese Worte fast heraus, griff an seinen Hals und riß mit einem Ruck das Pflaster ab, das die Bißwunde bedeckte. »… ich habe mich für den ersten Versuch zur Verfügung gestellt. Du brauchtest Blut der Gruppe A, ich habe diese Blutgruppe, ich setzte die erste Fledermaus auf mich an. Unsere gemeinsame Arbeit führte dahin, daß es gelang, die Fledermäuse so zu beeinflussen, daß sie genau eine bestimmte Menge Blut entnahmen, und ihr Opfer dann in Ruhe ließen. Das, was jetzt geschieht, ist fast nur noch ein routinemäßiger Ablauf, die Tiere sind eingestimmt, man erkennt nicht mehr die Arbeit, die dahintersteckt. Warum diese Undankbarkeit, Bonnard? Warum kann ich sie nicht sehen? Ich will wissen, ob der ganze Einsatz sich gelohnt hat, ob …« Wieder einmal unterbrach Bonnard Canol mit einem scharfen Zuruf. »Die Entwicklungsarbeit war gut, aber sie war nicht gut genug. Erst jetzt zeigt sich, daß es nicht richtig war, die Tiere auf eine bestimmte Menge abgezapften Blutes einzurichten. Der Verbrauch wird erst jetzt größer. Alle zwei Stunden muß ein Austausch erfolgen. Die Fledermäuse werden noch heute alle ausschwärmen, und sie werden sich vollsaugen. Wir werden und wir können keine Rücksicht mehr nehmen! Die Opfer müssen sterben. Das, was vorhin mit dem Fremden geschah, war praktisch ein gelungener Versuch. Die Fledermäuse sprechen sehr gut auf die neuen Frequenzen im Ultraschall-Bereich an. Und sie sind nun nicht mehr allein auf die Blutgruppe A eingerichtet, sie fallen jeden an, egal, welcher Blutgruppe er angehört.« Canols Lippen zitterten. »Aber das ist Unsinn, Bonnard! Was sollen wir mit dem anderen Blut? A ist die maßgebende Gruppe.« 23
»Narr!« stieß Bonnard hervor. Er hielt es noch immer nicht für notwendig, sich umzuwenden. Canol starrte auf den breiten Rücken des Professors. Bonnard war intensiv mit der Beobachtung der Schirme und einiger Skalenblätter beschäftigt. »Das Auftauchen des Fremden, sagt es dir gar nichts, Canol? Woher kam er, was wollte er hier? Er wußte etwas, daran gibt es keinen Zweifel. Ich vermute, daß Sarget dahintersteckt. Bisher sah es so aus, als ob der Kommissar den rätselhaften Vorfällen in seinem Bereich keinerlei Bedeutung zumesse. Doch jetzt habe ich das Gefühl, daß er seine Nachforschungen recht intensiv betreibt. Er hat eine Spur gefunden. Wir müssen ihn daran hindern, diese Spur weiterzuverfolgen. Wir müssen ihn und allen, die nach ihm kommen werden, rechtzeitig entgegentreten. Wir haben die Macht dazu, Canol. Unsere Fledermäuse werden ihnen den Tod bringen, wir brauchen uns die Finger nicht schmutzig zu machen. Es muß sein, Canol. Wir müssen unsere Arbeit ungestört fortführen können. Sarget muß noch in dieser Nacht verschwinden. Er schläft bei offenem Balkonfenster. Unser Todesbote wird es nicht schwer haben …« Canol schluckte. Bonnard benahm sich merkwürdig. Seit einigen Tagen fiel ihm, Canol, diese Veränderung schon auf. Etwas stimmte mit dem Professor nicht. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die weißgekleidete Gestalt hinten in der Dämmerung deutlicher zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Es gelang ihm auch nicht, Bonnards rätselhaften Plan zu durchschauen. Es ging hier etwas vor, was über sein Begriffsvermögen hinausging. Eiskalt und mit der Präzision einer Maschine verfolgte Bonnard seinen undurchsichtigen Plan. Die Veränderung war offensichtlich. Canol zuckte unwillkürlich zusammen, als Bonnards Stimme abermals aufklang. »Du wirst mir doch deine Mitarbeit nicht versagen, Canol, nicht wahr? Du bist doch sehr daran interessiert, zu sehen, wie sie lebt, wie sie spricht, was sie uns zu sagen hat? Du wirst den Toten aus dem Haus schaffen. Lade ihn irgendwo am Straßenrand ab. Es muß so aussehen, als sei er während eines Spazierganges von Vampiren angefallen worden.« »Und die Beinwunde, Bonnard, wie wird man sich die erklären?« Bonnard lachte rauh. »Dafür mag die Polizei eine Erklärung finden, Canol.« Die unpersönliche Stimme ließ Canol erschauern. Auch die Stimme war anders. Es schien, als würde Bonnard den Befehl eines geheimnisvollen Hintermannes befolgen.
Kommissar Sarget stand auf dem Balkon seines Hauses und blickte in die Nacht hinaus. Die Wolken verzogen sich. Klar erschien die Mondscheibe über den Wipfeln des fernen Waldes, die Sterne blinkten. Der kühle Wind hatte sich gelegt. Es war fast wieder so schwül wie am frühen Abend. Sarget war nur mit seinem Pyjama bekleidet. Aus dem halbdunklen Raum hinter sich hörte er die Stimme seiner Frau. »Geh zu Bett, Pierre! Wie schnell ist die Nacht wieder um.« »Ja, ja, ich komme«, murmelte Sarget, und er wandte sich langsam um. Er war müde, und doch konnte er nicht schlafen. Die Ereignisse des Tages beschäftigten ihn noch 24
immer. Trotzdem legte er sich jetzt hin. Er lag noch lange wach, ehe er in einen leichten Schlaf fiel. Die Balkontür stand weit offen … Canol saß verkrampft hinter dem Steuer. Der dunkle Umhang war etwas von seiner Schulter gerutscht. Während der bleiche Biologe die menschenleere Straße entlangraste, ahnte er nicht, daß sich im Kofferraum seines Citroën ein lautloser Vorgang abspielte. Der Körper des toten Agenten hatte die kritische Temperatur erreicht. Der Funkimpuls wurde abgestrahlt. Die unsichtbaren Wellen stiegen in den nächtlichen Himmel über Frankreich. Unter den zahlreichen russischen, amerikanischen und dem einen europäischen Nachrichtensatelliten, die zu dieser Zeit durch das All um die Erde kreisten, befand sich ein PSA-eigener Satellit, dessen geheime Frequenz nur von einem speziell entwickelten Empfänger in den Vereinigten Staaten zu entschlüsseln war. Der Funkimpuls wurde aufgenommen, die Daten gespeichert und später bei der Überquerung des amerikanischen Kontinents von der Automatik zur Erde zurückgestrahlt. Die verschlüsselte Nachricht lief durch eine der zahlreichen Empfangsstationen, wurde dort registriert und als Sonderfall erkannt. Ohne die Dechiffrierungsgeräte zu durchlaufen wurde der Spruch direkt an das Hauptquartier der PSA weitergeleitet. Ein Nachrichtencomputer nahm die Meldung entgegen. Niemand von den wenigen Angestellten und von den vier PSA-Agenten, die sich zu diesem Zeitpunkt getrennt in ihren Büros aufhielten und arbeiteten, ahnte in diesen Sekunden etwas von der geheimen Todesnachricht, die der Ring von X-RAY-18 abstrahlte. Die Funkbotschaft war ganz allein für X-RAY-1 bestimmt. Der führende Kopf der neuen Abteilung hielt sich in seinem Büro auf. X-RAY-1 hörte sich gerade eine Tonbandaufnahme an. Vor ihm auf dem flachen, nierenförmigen Tisch lagen einige hauchdünne Folien, nur fingerbreit, auf denen in Blindenschrift Nachrichten und Berichte von den zur Zeit im Einsatz befindlichen Agenten vermerkt waren. Die PSA arbeitete mit völlig neuen Methoden, und sie arbeitete als einziger Geheimdienst der Welt mit zahlreichen Computern, die zum Teil speziell für diese Abteilung entwickelt worden waren. Die einlaufenden Nachrichten wurden von Klartextcomputern bearbeitet, automatisch auf Mikrofilm und Mikrotonband gespeichert und gleichzeitig in Blindenschrift umgesetzt, um dem führenden Kopf der PSA die Möglichkeit zu geben, sich unmittelbar und schnellstens zu informieren. Ein Außenstehender hätte nicht verstehen können, daß man einem Blinden die Leitung einer so schlagkräftigen Organisation übertragen hatte, doch die Regierung in Washington hatte ihre eigene Ansicht über die Angelegenheit. X-RAY-1 war nicht zu ersetzen. Er war der richtige Mann am richtigen Ort. Er war der Initiator und Entwickler der PSA, der große Unbekannte im Hintergrund, den nicht einmal seine eigenen Mitarbeiter kannten. In den Händen von X-RAY-1 liefen alle Fäden zusammen, er traf alle Entscheidungen, er wußte, wo sich seine Agenten aufhielten, wie weit der Stand der Dinge in diesem oder in jenem Fall gediehen war. In seinem ruhigen, entspannten Gesicht regte sich nichts, als das leise, akustische Warnsignal auftönte. 25
Der Funkimpuls hatte das Ende seiner Reise erreicht. Er war entschlüsselt, auf Band gespeichert und auf seine Echtheit überprüft worden. In dem kleinen, schalldichten Raum empfing X-RAY-1 die Nachricht vom Tode seines Agenten X-RAY-18. Für eine Minute saß X-RAY-1 wie erstarrt. Sein frisches Gesicht wurde wächsern. Er hatte von Anfang an geahnt, daß der Fall in Frankreich den ganzen Einsatz eines Mannes erfordern würde. X-RAY-18 hatte diesen Einsatz mit seinem Leben bezahlt. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz bei der PSA, ein Gesetz, das X-RAY-1 sich selbst entwickelt hatte, und nach dem er sich richtete: wo ein Agent seiner Abteilung nicht weiterkam, wo ein Agent ums Leben kam, da forschte er selbst nach dem Rechten. X-RAY-1 führte während der nachfolgenden Minuten zahlreiche Telefongespräche. Von seinem Büro aus führten mehrere direkte Leitungen zu entscheidenden Führungskräften, selbst zum Präsidenten. X-RAY-1 bereitete in diesen Minuten alles für sein Vorhaben vor. Dann führte er ein Gespräch mit seiner Privatwohnung in der Lexington Avenue, wo sein Diener sich aufhielt. »Ich erwarte dich umgehend am üblichen Ort, Bony«, sagte er mit fester, ruhiger Stimme. »Fahre sofort los!« X-RAY-1 hinterließ im großen Hauptcomputer in seinem Büro die notwendigen Instruktionen und erhob sich dann. Seine schlanke Gestalt straffte sich. Mit sicheren Schritten, etwas gebückt gehend, näherte er sich einer getarnten Seitentür. In seinem väterlichen, ruhigen Gesicht war ein nachdenklicher Ausdruck zu lesen. X-RAY-1 schloß die Tür hinter sich und ging langsam durch den schmalen, etwas aufwärts führenden Gang. Man sah ihm nicht an, daß ihm sein Augenlicht fehlte, so sicher war er in seinen Bewegungen. Und man sah ihm auch nicht an, daß er schon einmal tot gewesen war …
Larry Brent nahm scharf die Kurve. Seine beiden Autoscheinwerfer stachen wie lange, zuckende Geisterfinger in das Dunkel vor ihm, rissen Wegmarkierungen, Tafeln mit Aufschriften und die dichtstehenden Baumreihen aus der Finsternis. Die nächste Kurve führte scharf nach rechts. Larry fuhr fast in der Mitte der Straße. Er sah schräg vor sich ein dunkles, einsam stehendes Gebäude, vor dem drei riesige Buchen in die Höhe ragten. Doch seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als seine Scheinwerfer die Szene vor ihm aus dem Dunkel rissen. Er sah den Wagen am Straßenrand, und er bemerkte die Person, die damit beschäftigt war, einen langen, schweren Gegenstand aus dem Kofferraum des Wagens zu zerren. Larry brauchte nur zwei Sekunden, um die Szene, die sich da vor ihm abspielte, zu begreifen. Das war kein Gegenstand, das war ein Mensch! Der Fremde ließ sein Opfer sofort los, als die Scheinwerfer des Cabriolets ihn erfaßten. Mit zwei, drei raschen Sätzen war er an der offenstehenden Tür seines Autos. Der Motor 26
lief. Mit einem Ruck schoß der dunkle Citroën davon. Der unbeleuchtete Wagen gewann rasch an Geschwindigkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte Larry mit dem Gedanken, die Verfolgung aufzunehmen. Doch dann sah er die dunkle, reglose Gestalt am Straßenrand liegen. Da war ein Mensch, der vielleicht seine Hilfe brauchte. Larry nahm das Gas weg. Er bremste auf kurzem Weg, und die Reifen quietschten auf dem Asphalt. Larry riß die Tür auf. Er sprang auf die reglose Gestalt zu, die im Licht seiner Scheinwerfer lag. Larry sah die bleiche, welke Haut des Fremden, und er erblickte auch die merkwürdige Bißwunde. Hier konnte er nicht mehr helfen. Der Mann war einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Er mußte auf dem schnellsten Weg die nächste Polizeidienststelle benachrichtigen. Er sah aus der Gesäßtasche die Brieftasche des Toten herausragen und ertappte sich dabei, daß er sich für die Ausweispapiere des Fremden interessierte. Da er noch Autohandschuhe trug, war es für ihn kein Risiko, die Brieftasche anzufassen. Geld und Ausweispapiere waren noch in der Brieftasche. Ein Raubmord lag nicht vor. Ein seltsamer Fall. Und dann diese Bißverletzungen … Der Tote war Amerikaner. Er hieß Henry Parker und stammte aus Dayton in Ohio. Zwischen den Papieren lag eine Rechnung des >Le Petit Jardin<. Das >Le Petit Jardin Das war die Pension, in der auch er absteigen wollte. Larry steckte die Brieftasche wieder zurück. Er wollte sich erheben, um zu dem villenähnlichen Haus zurückzufahren, das ganz in der Nähe stand. Vielleicht konnte er von dort aus telefonisch die Polizei benachrichtigen. Da fiel sein Blick auf den massiven Goldring. Die Scheinwerfer brachten den Glanz des merkwürdigen Schmuckstückes voll zur Geltung. Larry sah deutlich die Weltkugel, die erhabenen Kontinente und das durch die Kontinente durchscheinende, stilisierte Gesicht eines Menschen. Larry Brent hatte nie zuvor einen ähnlichen Ring gesehen. Auch dieses ganz offensichtlich kostbare Stück hatte der Mörder zurückgelassen. Larrys Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er berührte die Hand des Toten, um den Ring näher zu besehen. Er sah die eingravierten Buchstaben in der schmalen Fassung. Im Dienste der Menschheit, X-RAY-18. Im gleichen Augenblick berührte er mit seiner Hand den Ring. Larry Brent glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Der Ring wurde unter seiner Berührung zu Staub, mehlfeines Pulver rieselte zu Boden. Der Ring war verschwunden! Larry Brent hielt unwillkürlich den Atem an, seine Augen weiteten sich. Er wußte, daß es Metalle gab, die auf den Körpermagnetismus einer bestimmten Person eingestellt werden konnten, und daß diese Metalle zu Staub zerfielen, sobald der Körpermagnetismus des Trägers zusammengebrochen war und das Metall durch die Ausstrahlungen eines fremden Körpermagnetismus beeinträchtigt wurde. Er hatte jedoch bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, daß es bereits Schmuckgegenstände aus diesem Material gab. Er fühlte, wie der Wunsch in ihm aufstieg, das Geheimnis, das diesen Mann offensichtlich umgab, zu lüften. Der rätselhafte Tod interessierte ihn. Und er war Amerikaner wie er, vielleicht ein Tourist, der in dieses Land 27
gekommen war. Larry erhob sich. Er mußte sich beeilen, hatte sich schon zu lange aufgehalten. Die Polizei mußte von dem Geschehen benachrichtigt werden. Stille und Dunkelheit rundum. In der Ferne, hinter dunklen Baumstämmen, erkannte er die verschwommenen Umrisse der abgelegenen Villa, die ihm bereits bei seiner Herfahrt aufgefallen war. Es war die einzige Ansiedlung in der Nähe. Dort konnte er vielleicht telefonieren. Er wandte sich um, wollte seinen Wagen besteigen. Das Verdeck war nach vorn geklappt. Bei Einbruch des Abends war ihm der Fahrtwind doch zu kühl geworden. Er zog die Tür auf, als er das heftige Flattern vernahm. Sein Kopf ruckte herum, und er zweifelte an seinem Verstand. Der Schatten einer riesigen Fledermaus stürzte auf ihn zu. In einer ersten, instinktiven Abwehrbewegung warf Larry sich herum. Das riesige Tier schoß – nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt – an ihm vorbei. Larry drückte sich an das Cabriolet und sah, wie die Fledermaus, die einem Alptraum entflogen zu sein schien, blitzschnell wendete und abermals auf ihr Opfer ansetzte. Schrilles Zwitschern erfüllte die Luft, die heftigen Bewegungen der flatternden Flügel, die eine Spannweite von über zwei Metern hatten, streiften Larry Brents Gesicht. Larry war drei Sekunden wie gelähmt. Alles Leben schien aus seinem Körper zu weichen. Eine solche Fledermaus durfte es nicht geben! Dieser Umfang, diese Größe! Das war ein Ungeheuer. Die größten Fledermäuse, die er kannte, existierten im tropischen Amerika, riesige Tiere mit einer Kopfrumpflänge von sechsundzwanzig Zentimetern und einer Flügelspannung von siebzig Zentimetern. Diese Tiere dort waren schon Ungeheuer, sie ernährten sich nicht von Mücken und Nachtfaltern, sondern vom Blut der Vögel und Säugetiere. Sie waren Vampire. Die Fledermaus, die sich hier ihr Opfer suchte – war ebenfalls ein Vampir, ein Vampir auf der Jagd nach Menschenblut! Wie konnte es ein Tier solcher Größe geben? Das gemäßigte Klima in diesen Breiten hätte niemals den Riesenwuchs dieser Tiere zugelassen. Hier war künstlich nachgeholfen worden! Die Bestie vor ihm war die Ausgeburt einer kranken Phantasie. Und dann lief es Larry eiskalt über den Rücken. Der Tote am Straßenrand! Die Bißwunde an seinem Hals, sein blutleerer Körper — er war ein Opfer eines solchen Ungeheuers geworden. Es gab für Larry keinen Zweifel mehr. Im Bruchteil einer Sekunde waren ihm diese Gedanken durch den Kopf gegangen. Er sah das weitaufgerissene Maul der Bestie vor seinem Gesicht auftauchen, sah die spitzen, blitzenden Schneidezähne, die dolchartigen Eckzähne. Die Augen der riesigen Fledermaus glühten, als würde ein geheimnisvolles Feuer darin brennen. Plötzlich löste sich Larry aus seiner Erstarrung. Er warf sich zu Boden. Die Bestie, im Anflug, knallte mit dem großen pulsierenden Körper gegen das dunkle Verdeck des Cabriolets. Heftig flatternd bäumte die Fledermaus sich auf. 28
Larry drückte den großen, weichen Körper zurück, der schrill zwitschernd auf ihn zustob. Die spitzen Schneidezähne hackten auf seine Hand, er spüre den brennenden Schmerz, das warme Blut, das in feinen Bächen über seinen Handrücken lief. Larrys Muskeln spannten sich. Die Kraft dieser überdimensionalen Fledermaus war ungeheuerlich. Die schlagenden Flügel warfen Larry zu Boden, als er versuchte, sich zu erheben. Er hätte zahlreiche Hände gleichzeitig haben müssen, um gegen diesen wendigen, kraftvollen Gegner anzukommen. Larry rollte sich herum. Da war die Fledermaus schon wieder über ihm. Ihre dolchartigen Eckzähne blitzten auf, die Bestie stieß zu. Die Zähne gruben sich in Larry Brents Hals. Ein gurgelnder Laut kam über seine Lippen. Verzweifelt schlug er um sich. Es gelang ihm, die rechte Hand unter dem ihn niederdrückenden Flügel hervorzuziehen. Er wandte alle Kraft seines sportlich durchtrainierten Körpers auf, um seinen unheimlichen Gegner wegzudrücken. Das große Tier schrie schrill durch die dunkle, stille Nacht, daß das Echo sich schaurig in den nahen Wäldern und Bergen brach und wie ein helles, spöttisches Gelächter zurückzukehren schien. Larry riß seinen Kopf herum. Er fühlte, wie die dolchartigen Zähne sich lösten, wie die Haut an seinem Hals aufgerissen wurde. Mit letzter Kraftanstrengung drückte er den pulsierenden, schweren Körper zur Seite. Es gelang ihm, den linken Arm anzuwinkeln, die Hand zur Faust zu ballen. Wie durch einen wehenden Nebelschleier, der sich vor seinen Augen herabsenkte, erkannte er die glühenden Augen. Das blitzende Gebiß stieß abermals auf ihn zu. Diesmal gezielter, stärker. Doch die beiden Angriffsphasen erfolgten zu gleicher Zeit. Der Kopf der Fledermaus stieß in dem Augenblick vor, als Larry Brent seine trainierte Linke abschoß. Larrys Faust knallte genau zwischen die Augen der Bestie. Der Kopf der Fledermaus wurde förmlich nach hinten gerissen. Das Tier zwitscherte schrill, sein Maul schloß sich, und der Geifer lief in langen Fäden an dem schimmernden Fell herab. Larry schüttelte den zuckenden warmen Körper von sich. Die Flügel zitterten. Das Tier war sekundenlang wie benommen, und der Mensch nutzte die Chance, um sich zu befreien. Da schlug der Vampir mit dem Flügel nach ihm, neue Spannkraft schien in den großen, schweren Körper zurückzukehren. Doch Larry handelte jetzt kurz und entschlossen. Seine Rechte riß die Waffe aus der Halfter. Ein trockener Schuß bellte auf und zerriß die Stille der Nacht. Die Kugel drang dem Vampir in den Schädel. Der riesige Körper versuchte noch einmal, sich mit mächtigen Flügelschlägen zu erheben. Vergebens! Wie ein mit Steinen gefüllter Sack fiel die Fledermaus zur Seite. Noch einmal zuckten die Flügel, noch einmal hob sich die Brust unter einem letzten Atemzug. Dann war es zu Ende. Benommen taumelte Larry auf seinen Wagen zu. Er strich seine Kleidung zurecht, tupfte mit einem Taschentuch die blutende Halswunde ab. Die dolchartigen Vampirzähne hatten ihn nicht an der richtigen Stelle erwischt. Um Haaresbreite waren sie an der Halsschlagader vorbeigegangen. Larry schloß sekundenlang die Augen und lehnte sich schwer atmend gegen sein rotes Cabriolet. Seine Backenmuskeln zuckten, und eine blonde Haarsträhne hing in seine verschwitzte Stirn, doch er machte sich nicht die Mühe, sie nach hinten zu streichen. 29
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Zuviel war während der letzten Minuten auf ihn eingestürmt, als daß er es auf einmal begreifen konnte. Erst der Tote, dann der sich auflösende Ring, jetzt die Begegnung mit dieser überdimensionalen Vampir-Fledermaus. Er setzte sich hinter das Steuer. Wie im Traum ließ er den Motor an. Die Hinterrader überrollten das tote Tier. Larry wendete auf offener Straße. Er fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Dann bog er den breiten Pfad nach links ein. Vor ihm in der Dunkelheit stiegen die Umrisse der einsamen Villa auf, die auf einer Anhohe lag, verborgen hinter Büschen und drei mächtigen Buchen deren Wipfel weit über das Dach des Gebäudes hinausragten. Larry sah kein Licht dort, hoffte aber, daß das Haus bewohnt war. Während er mit einer Hand den breiten Bergpfad hinaufsteuerte, richtete er sich mit einem Erfrischungstuch, das er in der anderen Hand hielt, einigermaßen her. Er wischte die Blutspuren von Gesicht und Händen, rückte sein Hemd zurecht und strich seinen etwas mitgenommenen Sommeranzug glatt. Mit abgeblendetem Licht näherte er sich dem schmiedeeisernen Tor. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß das Tor nicht ganz geschlossen war. Ein dicker, krummer Zweig lag zwischen den beiden Torhälften. Larry hielt an und ging auf das Tor zu. Er konnte es leicht aufdrücken. Lautlos bewegte sich die schwere, schmiedeeiserne Konstruktion in ihren Angeln. Larry fuhr sich mit der Zunge über die trockenen, spröden Lippen. War das Haus etwa doch nicht bewohnt? Er sah die dunklen Erker vor sich, die breiten Sandsteinbalkone, die zum Teil mit wildem Wein überwachsen waren. Und dann bemerkte Larry den dunklen Garageneingang. Das Tor stand offen. Und die Garage sah ziemlich neu aus, sie war aus Plastikfertigteilen zusammengebaut worden. Es lebte jemand hier in dieser einsamen, etwas zerfallen wirkenden Villa. War nur vergessen worden, das Tor abzuschließen? Larry näherte sich der Haustür. Er sah das Namensschild neben dem Klingelknopf. Dr. Simon Canol stand darauf. Larry drückte auf den Klingelknopf. Irgendwo im Haus schlug die Glocke an Larry lauschte und wartete. Nichts rührte sich im Haus. Er klingelte ein zweites und drittes Mal. Nichts. Er drückte mechanisch die Klinke hinunter, um zu sehen, ob die Tür abgeschlossen war Er zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen, als die Tür unter seinem Druck nachgab und quietschend zurückwich. Für zwei Sekunden stand Larry wie gelähmt auf der Schwelle. Er wartete darauf, daß sich irgend jemand meldete, daß jemand auf seine Ankunft aufmerksam geworden war. Doch nichts geschah. Er klopfte an die Tür und rief leise in den halbdunklen Korridor hinein, in dem er die Umrisse von alten Möbeln, Bildern und Vasen erkannte. »Hallo? Ist da jemand?« Er hielt den Atem an. Es sah ganz so aus, als ob jemand in überhasteter Eile das Haus verlassen hatte. Und derjenige hatte vergessen, die Haustür abzuschließen und draußen die 30
Toreinfahrt zu sichern. Eine andere Erklärung fand Larry Brent im Moment nicht. Oder – und bei diesem Gedanken fühlte Larry, wie es siedendheiß in ihm aufstieg – die Bewohner dieses Hauses waren Opfer der Fledermaus-Vampire geworden. Unwillkürlich wandte er den Blick und suchte mit seinen Augen die nahe Umgebung ab. Plötzlich wirbelte er herum. Ein Geräusch im Haus! Es war also jemand da! »Hallo? Ist dort jemand?« Larry trat zwei Schritte in den dunklen Korridor. Er sah verschwommen die Umrisse von mehreren Türen, und unter zweien glaubte er deutlich einen schwachen Lichtschimmer wahrzunehmen. Seine Stimme verhallte in dem großzügig angelegten Flur. Niemand antwortete auf sein Rufen. Und doch hatte Larry plötzlich das Gefühl, daß irgend etwas Lebendiges in seiner Nahe war. Langsam ging er weiter wie unter einem inneren Zwang, die Pistole in der Hand Vielleicht war auch in dieses Haus das Grauen eingezogen, vielleicht brauchte jemand seine Hilfe. Es war nicht ausgeschlossen, daß in dieser Gegend noch mehr von den riesigen Fledermäusen auf Jagd waren, daß sie vielleicht in dieses Haus eingedrungen waren und … Er dachte seine Gedanken nicht zu Ende. Er war plötzlich nicht mehr bereit, einfach von hier wegzugehen, ohne herausgefunden zu haben, ob dieses Haus bewohnt war oder nicht. Einiges kam ihm merkwürdig vor. Er verhielt im Schritt, stand jetzt vor einer der Türen, unter denen schwacher Lichtschein zu erkennen war. Er hörte hinter diesen Türen ein Rascheln. »Hallo?« rief Larry noch einmal, und dann legte er die Hand auf die eiserne Klinke, nachdem er angeklopft hatte. Er versuchte, ob er die Tür öffnen könne. Und sie ließ sich öffnen.
Er hörte das Klingeln aus weiter Ferne, bis er begriff, daß es das Telefon war. Es schlug in sein Unterbewußtsein wie ein Alarmsignal. Sarget hob ruckartig den Kopf. Im ersten Augenblick blickte er noch verschlafen, doch dann war er hellwach. Er griff nach dem Hörer. »Sarget«, murmelte er. Er strich mit der linken Hand die Haare nach hinten und setzte sich aufrecht ins Bett. Am anderen Ende der Strippe war der Bauer Jaques Taillant. Seine Stimme klang aufgeregt. »Sie sind wieder da, Kommissar. Ich sehe sie draußen auf dem Hof herumfliegen. Es ist das erstemal, daß ich sie zu Gesicht bekomme. Ich belüge Sie nicht, Kommissar! All das, was ich in der letzten Zeit erzählt habe, ist wahr. Sie haben mich ausgenutzt, und jetzt kommen sie, um mich zu töten. Ich fühle es.« Ein tiefer Seufzer kam über Sargets Lippen. Er verzog das Gesicht. »Müssen Sie mich deshalb mitten in der Nacht wecken, Taillant?« fragte er mühsam beherrscht. »Sie wissen doch selbst, was ich Ihnen noch vor einigen Tagen gesagt habe. Verschonen Sie mich mit Ihren Geschichten! Die Polizei hat andere Sachen zu tun, als Ihren Hirngespinsten nachzugehen, Taillant.« 31
»Es sind keine Hirngespinste, Kommissar! « rief die Stimme an Sargets Ohr verzweifelt, und es war etwas in dieser Stimme, was Sarget aufhorchen ließ. »Bisher habe ich nur immer die Wirkung gespürt, die Wunde gesehen, morgens nach dem Erwachen. Aber jetzt habe ich auch meine Peiniger erblickt, Kommissar! Es ist schrecklich!« Taillant stöhnte. Taillant war derjenige, der das Gerücht von den Vampiren in Umlauf gesetzt hatte. Bei ihm waren sie zuerst aufgetaucht, er hatte zuerst die typischen Bißwunden davongetragen, die später auch bei anderen Personen auftraten. Kriminalisten und Psychologen untersuchten das Problem, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die Psychologen waren der Ansicht, daß es sich zumindest in einigen Fällen um Psychopathen handelte, die sich interessant machen wollten, die meist auch Anhänger von mystischen und okkulten Zirkeln waren und denen man keinen Glauben schenken durfte. Andererseits trugen sie jedoch die Halswunden, die eindeutig von einem Biß herzurühren schienen. Doch es gab heutzutage genügend Mittel, derartige Bißwunden künstlich herbeizuführen und dann zu behaupten, von einem Vampir angefallen worden zu sein. Solche Geschichten hatten ihren eigenen Reiz, und die Zeitungen und Illustrierten schickten Reporter, um die unglücklichen Opfer zu fotografieren. Die Sensationslust der Leser war groß, und auf derartige Stories waren sie besonders erpicht. Trotz kritischer Kommentare der zuständigen Stellen gab es doch einige zweifelhafte Fälle, bei denen man keine rechte Erklärung fand. Und das war der Grund, weshalb sich schließlich auch der Geheimdienst in Paris einschaltete und verlangte, daß die neuesten Entwicklungen in dieser Richtung ständig durch Sarget bekanntgegeben wurden. »Ihre Vampire sind also aufgetaucht, sie kreisen draußen auf Ihrem Hof herum, Taillant«, fuhr Sarget mit ernster Stimme fort. »Schön, das habe ich begriffen. Diesesmal genügt es ihnen offenbar nicht, Sie anzufallen, jetzt müssen Sie sich auch noch zeigen.« »Aber nein, Kommissar«, Taillant schien ernsthaft verzweifelt. »Es ist ein Zufall, daß ich ihnen entwischt bin. Das Fernsehprogramm ging heute so lange, ich wollte die letzten Sportergebnisse noch mitbekommen und dann zu Bett gehen. Und gerade als ich das Fenster öffnen wollte — da sehe ich die Schatten. Ich habe schnell die Fensterläden vorgeklappt und das Fenster geschlossen. Aber ich kann sie sehen, Kommissar, durch die Ritzen.« »Wie sehen sie denn aus, Ihre Vampire, Taillant?« wollte Sarget wissen. Er rieb sich die Augen. Er saß so im Bett, daß er der offenen Balkontür halb den Rücken zuwandte. Er bemerkte nicht, wie der riesige Schatten durch die Luft glitt und direkt auf den Balkon zustrebte. Sarget hörte das heftige Atmen seines Gesprächspartners. »Wie sie aussehen, Kommissar?« fragte Taillant leise. »Wie Fledermäuse, wie riesige Fledermäuse. Sie haben keine Vorstellung von der Größe, Kommissar. Sie sind mannsgroß, es sind Vampire, Kommissar, und ...« Im gleichen Augenblick überstürzten sich die Dinge. Sarget vernahm die Bewegung neben sich. Seine Frau war wach geworden. Sie öffnete schon den Mund, um ihm Vorwürfe wegen des langen Telefongesprächs mitten in der Nacht zu machen, als ein gellender Aufschrei über ihre Lippen kam. Der Vorhang vor der Balkontür zerriß, das riesige Tier wurde wie von einem heftigen Windstoß in das Zimmer gewirbelt. Wie Fledermäuse, hallte es in Sargets Bewußtsein wie ein Echo nach … 32
Er ließ den Hörer fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, daß das unheimliche Tier sich auf seine Frau stürzen wollte, doch dann erkannte er, daß das Ungeheuer es auf ihn abgesehen hatte. Die Deutlichkeit, mit der das Tier sein Opfer heraussuchte, trat voll in Erscheinung. Sarget versäumte keine Sekunde. Er warf sich auf die Seite, riß die Schublade von seinem Nachttisch auf, in der sein Dienstrevolver lag. Sarget legte auf das Tier an — und drückte ab. Zwei, drei trockene Schüsse hallten durch das Schlafzimmer. Die riesige Fledermaus wurde wie von der Faust eines Titanen zurückgeworfen. Zwei Einschußlöcher klafften in der Brust des Tieres, eines im Kopf. Das Blut spritzte über die Bettdecke. Der Vampir flatterte noch einmal heftig, ein wimmerndes Zwitschern kam aus dem weitgeöffneten Maul, in dem sich die spitzen Schneidezähne und dolchartigen Eckzähne scharf abzeichneten. Madame Sarget schluchzte leise vor sich hin. Sie hatte die Decke vor die Augen gezogen. Sarget beruhigte seine Frau. Dann betrachtete er den Vampir, der auf der blutverschmierten Bettvorlage lag. Sarget schluckte, und seine Rechte zitterte, als er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er konnte nicht glauben, was er vermutete, und doch konnte es nicht anders sein. Er war in diesen Sekunden bereit, zu glauben, daß alles wahr war, was er in den letzten Wochen über die mysteriösen Vampire gehört und gelesen hatte. Es gab sie wirklich! Und wenn er den Berichten Glauben schenken konnte, dann hatten diese Vampire immer nur Menschen angefallen, die der Blutgruppe A angehörten. Eine einzige Ausnahme hatte es demnach bisher gegeben: der Mord an Marc Lepoir. Und jetzt gab es plötzlich eine zweite Ausnahme: ihn, Sarget! Er hatte Blutgruppe B. Das Tier war auf ihn angesetzt worden, das Tier hatte einen Auftrag gehabt … Aber gab es denn so etwas überhaupt? Sargets Mund wurde hart. Er untersuchte die tote Riesenfledermaus. Er hatte einmal gehört, daß Fledermäuse sich nach einer Art Radar richteten, nach Ultraschall-Impulsen. Mit Vernunft und Überlegung ging Sarget an die Sache heran, jede emotionale Regung zur Seite schiebend. Er wollte Gewißheit haben. Und er fand sie. In Form einer münzgroßen Kapsel, die auf dem Hinterkopf der toten Fledermaus angebracht war. Er löste diese schillernde Kapsel ab, betrachtete sie sich eingehend und kam zu dem Schluß, sie so schnell wie möglich untersuchen zu lassen. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu! Von einer Minute zur anderen hatte sich sein Denken, seine Einstellung grundlegend gewandelt. Sarget sah die Dinge in einem anderen Licht, aber er begriff nicht das >Warum?<. Er wußte nur eines: er würde sich nicht mehr damit begnügen, einen Bericht nach Paris zu schicken. Er würde sich jetzt selbst um einige Dinge kümmern. Es ging um sein eigenes Leben! Er verschloß sämtliche Türen und Fenster im Haus, nachdem er die tote Fledermaus auf den Balkon geschleift hatte. Da fiel sein Blick auf den Hörer, der noch immer neben der Gabel lag. Er griff danach. »Hallo, Taillant? Sind Sie noch da?« Die Aufregung des Bauern am anderen Ende der Strippe schien noch zugenommen zu 33
haben. »Monsieur Sarget?« murmelte er erregt. »Was war denn los? Die Geräusche in Ihrem Haus, die Schüsse, ich …« Sarget unterbrach den Redeschwall. »Ich weiß jetzt, wie Ihre Fledermäuse aussehen, Taillant.« »Sie - wissen, Kommissar?« stammelte der Bauer. Sarget nickte. »Ja, ich hatte eben noch eine auf meinem Bettvorleger.« »Kommissar, Sie scherzen!« Taillant schien empört. Doch Sarget blieb ernst. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Taillant, unbedingt. Halten Sie Türen und Fenster verschlossen! Ich komme, öffnen Sie nur, wenn Sie mich rufen hören!« Sarget legte den Hörer auf die Gabel zurück. Er mußte daran denken, daß der Bauer Taillant ihm das Leben gerettet hatte! Wenn Taillant nur fünf Minuten später angerufen hätte, dann wäre er, Sarget, nicht mehr am Leben.
Larry Brent trat in den schwach erleuchteten Raum, in dem es manchmal hell aufblinkte, als ob jemand eine zusätzliche Lichtquelle aktivierte und dann wieder löschte. Larry hatte das Gefühl, in einen Stall einzutreten. Zu beiden Seiten an den Wänden standen große, engmaschige Käfige, in denen Fledermäuse hingen, große Fledermäuse, Desmotidae, wie sie im tropischen Amerika vorkamen. Am Boden der Käfige schnüffelten Ferkel herum. In einem anderen Käfig waren kleine Hunde mit den Fledermäusen eingeschlossen, in einem dritten waren es Vögel, die aufgeregt von einem Ende zum anderen Ende ihres Gefängnisses flatterten. In den Käfigen hingen künstliche Raumhöhlen, breite Dächer, unter denen sich die Fledermäuse teilweise verbargen. Alles lag in einem leichten Dämmerlicht, doch es war hell genug, daß Larry Details erkennen konnte. Und dann grellte für mehrere Minuten wieder eine verborgene Lampe auf. Alles wurde in helles Licht getaucht. Aufgeregt lösten sich die Fledermäuse aus ihrem Versteck. Zwei, drei der Blutsauger stürzten sich auf ein Ferkel, auf einen Hund, die aufgeregt das Weite suchen wollten, doch nirgends ein Versteck fanden. Plötzlich erlosch die unsichtbare Lichtquelle wieder. Im gleichen Augenblick ließen die Fledermäuse von ihren Opfern ab und suchten wieder ihre Höhlen und ihr Versteck unter den kleinen eingebauten Dächern auf. Das war ungewöhnlich! Eine Fledermaus, die bei hellem Tageslicht ausflog und auf Jagd ging? Mit einem einzigen Blick erkannte Larry, was hier vorging. In diesem Versuchsraum wurden die Blutsauger darauf abgerichtet, sich der Dunkelheit zu entwöhnen! Die Dämmerungs- und Nachttiere sollten zu Tageskreaturen erzogen werden. Es waren die gleichen Fledermäuse, die der Gattung angehörten, von denen Larry eine angefallen hatte. Aber sie hatten normale Größe, sie verfügten nicht über den Riesenwuchs. War er durch Zufall einem Geheimnis auf die Spur gekommen? Er hatte hier nur telefonieren, die Polizei von seinem Fund benachrichtigen wollen — und er fand einen 34
Hinweis auf das Rätsel, das ihn die ganze Zeit über schon beschäftigte. Jemand betrieb eine verbotene Forschung, die zum Schaden der Allgemeinheit wurde. Instinktiv ahnte Larry, daß diese Fledermäuse, die jetzt nur eine Kopfrumpflänge von etwa siebzehn Zentimetern hatten, bald solche Ungeheuer von einem Meter werden würden wie das Tier, das ihn anfiel. Es mußte jemand gelungen sein, das Wachstumsvermögen der Tiere zu steigern. Und dieser Jemand war nicht damit zufrieden, daß die Tiere auf die Nacht angewiesen waren. Er wollte sie auch am Tag einsetzen. Warum aber wurde dieser Aufwand betrieben? Welchen Zweck erfüllte er? Larry kam nicht mehr dazu, seine Gedanken zu Ende zu führen. Er hörte die Schritte auf dem Korridor. Larry wirbelte herum. Er hielt die Waffe in der Hand. Sein Gegenüber war in einen dunklen Umhang gekleidet. »Monsieur Canol?« fragte Larry leise. Er erinnerte sich des Namens, den er auf dem Schild draußen gelesen hatte. »Doktor Canol«, erwiderte Canol hart. Seine dunklen Augen glühten. Die Arme unter dem dunklen Cape bewegten sich. »Was machen Sie hier in meinem Haus?« »Ich habe die Türen unverschlossen gefunden. Ich bin gekommen, um hier zu telefonieren. Doch dann hatte ich die Befürchtung, es könnte in diesem Haus etwas passiert sein.« Larry ließ während diesen Worten sein Gegenüber nicht aus den Augen. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit einer Fledermaus, ich habe einen Toten gefunden, ich wollte die Polizei benachrichtigen, Monsieur Canol.« Er betonte jedes Wort. Im bleichen Gesicht seines Gegenübers zuckte es. »Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus! Sie hatten kein Recht, hier einzudringen. Ich werde die Polizei benachrichtigen, ich …« Canol trat auf die Seite, Larry Brent mit dieser Geste zu verstehen gebend, daß er gehen sollte. Larry trat auf den dunklen Korridor hinaus. »Sie erlauben mir nicht, Ihr Telefon zu benutzen?« fragte er leise. »Gehen Sie«, zischte Canol. Larry senkte langsam die Waffe. Er spürte beinahe körperlich den Haß, den Canol ausstrahlte. Er wußte, daß der seltsame Hauseigentümer ihn angegriffen hätte, wenn er die Waffe nicht in der Hand gehalten hätte. Canol zog die Tür hinter sich zu. Larry lächelte kaum merklich. »Sie beschäftigen sich mit interessanten Experimenten, Monsieur Canol. Ihre Fledermauszucht dürfte es in dieser Form wohl kaum zum zweitenmal geben. Ich hoffe nur, daß Ihre Versuche nichts mit jenem Ungeheuer zu tun haben, das ich erschießen konnte.« Canol zuckte zusammen. Seine dunklen Augen schlossen sich spaltbreit. Larry wandte sich zum Gehen. Seine Muskeln und seine Sinne waren aufs äußerste gespannt. Er rechnete damit, daß Canol seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten konnte und auf ihn lossprang. Doch noch während Larry mit der Gefahr von links rechnete, geschah es. Hinter einer hohen, schmalen Vase löste sich ein Schatten. Larry begriff noch, daß das niemals Canol sein konnte. Er riß die Waffe in die Höhe, doch im gleichen Augenblick krachte ein schwerer, langer Gegenstand auf seinen Kopf. Wie vom Blitz gefällt stürzte Larry zu Boden. Canol wich unwillkürlich zwei Schritte zurück, als die Gestalt auf ihn zukam. 35
Der Biologe schluckte heftig, als er erkannte, aus welcher Tür der rätselhafte Besucher kam. Der Fremde kannte den Weg zu den Gewölben! Ein leises Lachen drang an Canols Ohren. Er sah die weißgekleidete Gestalt auf sich zukommen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er geglaubt, Professor Bonnard vor sich zu haben. Nur Bonnard und er kannten den geheimen Stollen! Doch der Mann, der Bonnards weißen Kittel trug, war nicht Bonnard! Er bewegte sich anders. »Ich bin kein Geist, Canol«, sagte der Mann. Es war die harte, unpersönliche Stimme, die Canol schon kannte. Das war der Mann gewesen, dem er schon in Bonnards Labor begegnet war. Dieser Mann hatte am Schalttisch und vor den Fernsehschirmen gesessen, dieser Mann hatte ihm den Blick in den Sonderraum verwehrt, in dem das erstaunlichste und faszinierendste Experiment dieses Jahrhunderts stattfand. Der Fremde war fast so groß wie Bonnard, auch die breiten Schultern erinnerten an den Professor, doch die Haltung war eine andere und auch die Stimme, die ihn im ersten Augenblick schon irritiert hatte. »Wer bist du - sind Sie?« verbesserte Canol sich. Der andere schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er hielt noch immer den langen, dicken Knüppel in der Hand, mit dem er Larry Brent niedergestreckt hatte. »Ich bin gerade zur rechten Zeit gekommen, Canol. Dieser Mann darf dieses Haus nicht lebend verlassen! Er hat zuviel gesehen, er weiß zuviel! Ich hatte gehofft, daß du ihn ausschalten würdest, als ich dich darauf aufmerksam machte.« »Er war bewaffnet«, stieß Canol hervor. »Heute abend scheinen wir kein Glück mit unseren Unternehmungen zu haben. Zwei Infrarotlinsen sind ausgefallen, sie müssen spätestens morgen repariert werden. Ich habe nur über die Hälfte dieses Anwesens eine Bildkontrolle. — Mindestens zwei Fledermäuse sind überfällig, Canol. Der Vampir, der den Auftrag hatte, Sarget auszuschalten, ist nicht mehr über die Ultraschall-Impulse erreichbar. Canol starrte sein Gegenüber an. »Was haben Sie mit Bonnard gemacht?« wollte er wissen. Er fing sich wieder. »Wieso wissen Sie soviel über das Experiment, über die Fledermäuse. Ich …« »Warum so viele Fragen, Canol? Bisher haben wir recht gut zusammengearbeitet. Ich hoffe, daß dies auch weiterhin so bleiben wird. Das dürfte auch in deinem eigenen Interesse sein, nicht wahr? Denke an das Experiment, Canol, und denke an die Polizei! Denk daran, daß alles auf dich zurückfallen wird, wenn jetzt der geringste Verdacht aufkommt. Wir müssen vorsichtig sein, Canol.« Der Biologe merkte, wie ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. Er wußte nur zu gut, wie recht sein Gegenüber mit seinen Worten hatte. Er steckte schon zu tief im Dreck, um jetzt noch zurückzukönnen. Die Versuchsanlagen in seinem Haus, die Fledermäuse – das alles konnte ihm das Genick brechen, wenn auch nur das geringste an die Öffentlichkeit drang. Er mußte weiter mit den Wölfen heulen. Er wurde erpreßt, und er konnte nichts dagegen tun. »Die Zusammenarbeit mit Bonnard …«, begann Canol, aber weiter kam er nicht mehr. Der Fremde in dem weißen Kittel stand jetzt direkt vor ihm. Canol sah die Umrisse des Gesichtes, die Form der Augen. Er erkannte die Ähnlichkeit mit Bonnard, aber er wußte, 36
daß dieser Mann vor ihm niemals Bonnard sein konnte. Es war ein Fremder für ihn, den er niemals zuvor in seinem Leben gesehen hatte. »Ich bin Bonnard, Canol! Und wir beide werden unser Werk fortsetzen, nicht wahr?« sagte sein Gegenüber in dem weißen Kittel, indem er den Knüppel senkte. Canol nickte. Sein Herz pochte wie rasend. »Ja«, erwiderte er dann rauh. »Wir werden unser Werk fortsetzen.« »Dann wollen wir keine Sekunde länger säumen. Durch einen unerwarteten Zufall wurde dieser Mann dort«, Bonnard zeigte mit dem Knüppel hinter sich auf Larry Brent, ohne sich umzudrehen, »mit einigen Dingen konfrontiert, die er besser nicht gesehen hätte. Man darf nicht nach diesem Mann suchen, man darf nicht herausfinden, daß er in deinem Haus war. Wir müssen ihn uns vom Hals schaffen — und dies so geschickt, daß man überhaupt nicht auf den Gedanken kommen kann, es könnte ein Mord sein. Es wird ein Unfall sein, Canol! Das Auto des Fremden wird brennen. Und er hatte das Pech, zur gleichen Zeit drinzusitzen.« Bonnard wandte sich um. Er ging auf die schmale Seitentür zu, von der aus eine Anzahl schmaler Steinstufen in die Tiefe eines Kellers führte. An der obersten Stufe wandte er sich noch einmal um und blickte durch den dunklen Korridor auf den immer noch unbeweglich dastehenden Canol. »Im übrigen: der Gewölbegang ist wieder frei. Die letzte Zuchteinheit befindet sich jetzt in den Höhlen. Das bedeutet, daß du nicht mehr den umständlichen Umweg zu meinem Gehöft machen mußt. Du kannst von deinem Haus aus wieder den direkten Weg benutzen. Durch den Stollen, der unsere beiden Grundstücke durch den Berg hindurch verbindet.« Mit diesen Worten verschwand Bonnard im Dunkel. »Aber wer … wer sind Sie?« fragte Canol leise, doch seine Stimme war noch laut genug, daß der Davongehende jedes Wort verstand. »Ich bin Bonnard, Canol! Für dich bin ich Bonnard …«, klang es dumpf aus der Tiefe des dunklen Ganges zurück. Dann schloß sich knarrend die schmale Tür, die genau mit der streng gemusterten Tapete abgestimmt war, die in diesem Korridor vorherrschte, und es war nicht mehr zu erkennen, daß an dieser Stelle eine Tür in einen verborgenen Stollen führte. Canol löste sich aus seiner Erstarrung. Er sah den dunklen, wie leblos daliegenden Körper des Fremden vor sich. Der Biologe befand sich in einem Aufruhr von Gefühlen, dessen er nicht Herr werden konnte. Wie eine Marionette bückte er sich und schleifte den Körper nach draußen. Das rote Cabriolet des fremden Eindringlings stand vor dem weitgeöffneten schmeideeisernen Tor. Keine hundert Meter dahinter, auf einem nach links abbiegenden Seitenweg, hatte Canol seinen Citroën abgestellt. Er war auf dem schnellsten Weg in sein Haus zurückgekehrt, als er durch Bonnard vernahm, daß jemand dort eingedrungen war. Bonnard! Canol fühlte ein Kribbeln auf der Haut, wenn er daran dachte, daß Bonnard gar nicht Bonnard war, sondern ein Fremder, der eine ständige Kontrolle über die nähere Umgebung hatte. Immer stärker fühlte Canol, daß er in eine zweitrangige Stellung gepreßt wurde. Seine dünnen Lippen kräuselten sich. Wütend warf er den Umhang von seinen Schultern, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Er hob Larry Brent auf den Beifahrersitz, setzte sich selbst hinter das Steuer, löste die Bremse und ließ das unbeleuchtete Cabriolet langsam 37
den Weg hinabrollen. Mit ernster, verbissener Miene saß Canol hinter dem Steuer. Seine Haut sah aus wie über die Knochen gespanntes Pergament. Sie war nicht mehr bleich, sie schien durchsichtig zu sein. Er hatte so viele Opfer, soviel Entbehrungen auf sich genommen. Er fühlte, wie Wut, Haß und Zorn in ihm aufstiegen. Er war zum Handlanger geworden, zum Mörder. Wer war der Fremde, den er mit Bonnard anredete, und der nicht Bonnard war? Was war aus Bonnard geworden? Hatte Bonnard einen heimlichen Mitarbeiter gehabt, von dem er, Canol, von Anfang an nichts gewußt hatte? Hatte der wirkliche Bonnard ihn schon hintergangen? Canol wurde von Zweifeln und tausend Fragen gequält. Er mußte Gewißheit haben, und er würde sich diese Gewißheit verschaffen. Doch er mußte auf der Hut sein. Er wußte, er war kein Kämpfer, er war labil, er ließ sich leiten, manipulieren, er war ein weltfremder Sonderling, der sich vor vielen Jahren von den Menschen zurückgezogen hatte, um ganz seiner Forschung zu leben. Ein kleines Vermögen gab ihm die Möglichkeit, sich diesen Luxus zu leisten. Er verstand nur eines: seine Fledermauszucht … Zunächst aber galt es, sich dieses unangenehmen Auftrages zu entledigen. Er warf einen flüchtigen Blick auf den reglosen Körper an seiner Seite. Der Fremde rührte sich nicht mehr. Er war vielleicht schon tot, dann brauchte er, Canol, sich keine Vorwürfe zu machen. Es gab etwas in seinem Bewußtsein, das stärker war als alle Skrupel. Es war der Gedanke an den Plan, den er und Bonnard verwirklichen wollten, und der einmalig in der Geschichte der Menschheit war … Er steuerte den rückwärts rollenden Wagen über die nachfolgende Asphaltstraße und bog nach etwa hundert Metern auf ein steiniges, von kleinem, steppenartigem Gras überwachsenes Grundstück ein. Der Boden führte leicht abwärts. Canol bremste. Er zog Larry Brent hinter das Steuer, durchsuchte seine Taschen und fand ein Sturmfeuerzeug. Er knipste es an, warf es auf den Rücksitz und wartete, bis das Polster zu qualmen anfing. Dann löste er die Handbremse, schlug die Tür zu und schob den Wagen kurz an. Wie von selbst begann das Cabriolet zu rollen. Schwacher Feuerschein zeichnete sich hinter den Fenstern ab. Dann wurden die Flammen größer, dicke Rauchwolken stiegen aus dem Innern des Wagens und das Verdeck stand in hellen, lodernden Flammen. Der Wagen rollte schnell auf der abschüssigen Strecke vorwärts. Noch ein paar hundert Meter, dann würde er über den Abhang hinausschießen und in der felsigen Tiefe in einer gewaltigen Explosion vergehen. Und damit würden auch alle Spuren eines Verbrechens ausgelöscht sein …
Kommissar Sarget trommelte seine Leute zusammen. Er rief sie an, er holte sie aus den Betten. Mit zwölf Beamten machte er sich auf den Weg zu Taillant. Die Männer waren bewaffnet. Sarget hatte sie darüber aufgeklärt, was sie unter Umständen erwarten konnte. Die Wagen flitzten über die Asphaltstraße, die aus Maurs hinausführte. Sarget wählte den kürzesten Weg. 38
Taillants Anwesen lag weit außerhalb der Stadt. Sarget und seine Begleiter mußten die Umgehungsstraße benutzen, um nach dort zu kommen. Unterwegs stießen sie auf die tote Riesenfledermaus und den blutleeren Leichnam. Sarget hielt an. Im ersten Augenblick glaubte der Kommissar, daß der Tote von diesem Vampir angefallen und getötet worden war. Doch dann erkannte er einige Zusammenhänge, die nicht in ein solches Bild paßten. Er ließ vier Beamte zurück, um die Spuren zu sichern. Gleichzeitig forderte er über Funk einen Fotografen und den Polizeiarzt an. Er schärfte den Zurückgebliebenen ein, ständig die Waffe schußbereit zu halten. Sarget warf einen Blick in die Runde und zum Himmel hinauf. »Wir haben keine Gewißheit, daß sie nicht noch einmal wiederkommen. Seid auf der Hut! Und wir …«, er sah die Männer an, die ihn auf der Fahrt weiterbegleiteten, und denen Schrecken und Verständnislosigkeit in den Gesichtern geschrieben standen, »wir sehen bei Taillant nach dem Rechten. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.« Die Motoren sprangen an, die Wagenkolonne setzte sich in Bewegung. Zurück blieb ein schwarzer Peugeot und vier Beamte, die sich an die Arbeit machten. Mit hoher Geschwindigkeit steuerte der Beamte an Sargets Seite den Wagen über die Asphaltstraße. Der Kommissar teilte seinen Wagen noch mit seinem Assistenten Michel, einem jungen, zweiundzwanzigjährigen Burschen mit dichtem, schwarzem Haar und buschigen Augenbrauen. Nachdenklich saß er hinter Sarget auf dem Rücksitz. »Nun, Michel, was überlegen Sie?« fragte Sarget, einen flüchtigen Blick zurückwerfend. Der gestreifte Pyjama war unter dem geöffneten Jackett des Kommissars zu erkennen. Sarget machte sich nicht die Mühe, die Knöpfe zu schließen. »Die ganze Situation, Kommissar«, sagte Michel. Er hatte eine dunkle, etwas weiche Stimme. »Irgend etwas stimmt nicht. Ich komme nicht auf zwei, wenn ich eins und eins zusammenzähle.« Sarget nickte. »In der Sache paßt überhaupt nichts zusammen, Michel«, erwiderte er nach einer längeren Pause. Die Straße machte einen Knick nach links. Hinter der Abbiegung folgte eine Abzweigung. Für einige Minuten war auf der Anhöhe das dunkle Anwesen von Monsieur Canol zu erblicken, dann verschwand es hinter Baumwipfeln und Berghängen. Die Wagen bewegten sich auf der Straße um den Berg herum. Auf der anderen Seite des Berges lag Taillants Gehöft. Im Hintergrund, etwa vier Kilometer entfernt, waren die verschwommenen Umrisse des zerfallenen Gehöftes von Professor Bonnard zu erkennen. Die Männer ließen das weitabgelegene Anwesen linker Hand liegen und bogen dann auf einen breiten, ausgefahrenen Weg ein, der direkt auf den Bauernhof Taillants zuführte. Taillants Gehöft lag im Tal. Ein überdachter Geräteschuppen stand noch außerhalb des Anwesens. Hinter dem Schuppen breiteten sich die saftigen Weiden, die fruchtbaren Felder aus. Ein Teil der Weide war von einem flachen Gatter umgeben. Neben dem Schuppen lag ein Berg Unrat, alte Blechbüchsen, eine verrostete Pumpe, ein alter Handwagen, die Karosserie eines uralten Citroën, der noch vor dem Krieg gebaut worden war. Die Wagenkolonne hielt vor dem großen Tor. Das Tor war verschlossen. Auch der kleine Seiteneingang war nicht zu öffnen. Sarget hatte es nicht anders erwartet. Bei Einbruch der Dunkelheit verschloß Taillant die 39
Zugänge. Und er konnte jetzt nicht herauskommen, um ihnen zu öffnen. Irgendwo in der Nähe hielten sich die Vampir-Fledermäuse auf, bereit, sofort zuzuschlagen. Sarget griff zum einzigen Mittel, das jetzt wirksam war. Der Feuerstrahl aus der Waffe zuckte auf das Schloß zu. Holz- und Eisenspähne flogen durch die Luft. Sarget und Michel warfen sich gegen das Tor, um den letzten Widerstand zu überwinden. Es krachte und knirschte, dann flog das Tor auf. Sarget und sein Assistent Michel rannten zuerst in den dunklen Innenhof hinein. Links reihten sich die Ställe und das Wirtschaftsgebäude in einer fast geraden Linie vor der hohen, mit wildem Wein überwucherten Mauer. Rechts das Wohnhaus, die Garage, zwei Schuppen, in denen eine Dreschmaschine und viel Gerät standen. Vor dem einen Schuppen war ein gewaltiger Holzstoß aufgeschichtet. Vor dem Eingang zum Wohnhaus brannten zwei Lampen, die einen hellen Lichtfleck auf die Hausfront und auf den gepflasterten Boden davor warfen. Sarget und seine Begleiter stürmten in den Innenhof hinein, auf das Wohnhaus zu. Aus dem Schatten eines Geräteschuppens lösten sich zwei schrill zwitschernde Riesenfledermäuse. Sie stürzten auf die Menschen herab. Sarget und seine Leute reagierten prompt. Mehrere Schüsse zerrissen die Stille und die Dunkelheit. Die flatternden Riesenfledermäuse stürzten schwer zu Boden und rührten sich nicht mehr. Sarget untersuchte die Köpfe der toten Tiere, und er fand die silbern schimmernden Kapseln, die an zwei hauchdünnen Drähten hingen, die in das Gehirn der Tiere einoperiert worden waren. Sarget steckte die Kapseln ein. Er blickte sich um. Hatte Taillant nicht von drei Vampir-Fledermäusen berichtet? Und als hätte es nur dieses Gedankens bedurft, geschah es. Ein gellender Aufschrei hallte durch die Nacht. Von dem Holzstoß vor dem Schuppen lösten sich einige Scheite, knarrend fiel die Schuppentür ins Schloß. Ein riesiger Schatten stürzte sich auf die Gestalt, die sich schreiend in den Schuppen retten wollte. »Eine Frau«, rief Michel erregt, und mit diesen Worten stürzte er schon über den reglosen Körper einer Riesenfledermaus hinweg. Sarget zögerte ebenfalls keine Sekunde. Er sah, wie die Fremde mit heftigen Armbewegungen den Vampir zurückzudrängen versuchte. Die scharfen Krallen des Ungeheuers rissen das dünne Sommerkleid der Frau auf, ihr Haar, zuvor von einem hellen Band zusammengehalten, hing wirr ins Gesicht. Sarget und Michel waren in denkbar schlechter Schußposition, doch einer der Sarget begleitenden Beamten stand abseits. Er feuerte den ersten Schuß auf das angreifende, wütende Tier. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Der Beamte hatte vorsichtig sein müssen, um die Fremde nicht zu gefährden. Mit schrillem Zwitschern stieß das Tier herab, heftig schlugen die Flügel. Immer wieder stieß das Maul mit den messerscharfen Zähnen auf das unglückliche Opfer nieder, dessen Abwehrreaktionen merklich langsamer wurden. Die Fremde wurde auf den Holzstoß zugedrängt. In ihrer Verzweiflung griff sie mit zitternden Händen nach einem Scheit und schlug damit nach dem gierigen Blutsauger, der mit seinen scharfen Krallen die Kopfhaut der Fremden verletzte und die Haare nach oben riß. Sarget warf sich im Sprung auf das flügelschlagende, schrill zwitschernde Tier, ohne an die Gefahr zu denken, in die er sich damit begab. Er hatte nur eines im Sinn: die 40
Fledermaus abzulenken, die in diesem Augenblick die dolchartigen Eckzähne neben die Halsschlagader der Fremden grub. Sarget riß die Fledermaus an dem linken Flügel herum. Der Holzstoß kam ins Wanken. Und dann kippte der ganze Holzberg auf die Seite. Die Fledermaus wurde von zahllosen Holzscheiten getroffen, der hintere Teil ihres Körpers wurde regelrecht unter den Scheiten begraben. Wütend warf das Tier den Kopf in die Höhe. Im gleichen Augenblick reagierte einer der Beamten. Er drückte seine Waffe ab. Die Kugel drang dem Vampir mitten in den Schädel. Schwer schlug der Flügel nach unten. Sarget wurde förmlich zu Boden gedrückt. Er sah, wie zwei, drei Beamte, unter ihnen sein Assistent Michel, den bewußtlosen Mädchenkörper zur Seite zogen. Dann wurde er auch schon von dem schwarzen Körper des Vampirs begraben. Holz rutschte nach, beschwerte den Körper über ihm und nahm ihm den Atem. Sarget hörte Rufe, Befehle. Schritte klangen dumpf auf dem Boden. Dann wurde das Holz beiseite geräumt. Sarget fühlte, wie er wieder mehr Luft bekam. Dann zerrte einer seiner Begleiter den toten Vampir zur Seite. Sarget blieb einige Sekunden lang wie benommen liegen. Man war ihm behilflich, wieder auf die Beine zu kommen. Sarget schüttelte sich, und Michel erkundigte sich nach seinem Befinden. Der Kommissar wischte sich den Sand von den Lippen und aus den Augen. Er spuckte auf den Boden. »Es ist nicht angenehm, lebendig begraben zu werden«, knurrte er. Er blickte sich um. Er sah, daß seine Leute sich um die Verletzte bemühten. Sarget machte sich nicht einmal die Mühe, den Schmutz von seinem Jackett und seiner Hose zu klopfen. »Wie geht es ihr?« fragte er mit ruhiger Stimme, während er sich den Männern näherte, die die Fremde noch abstützten. Sie war kurz bewußtlos geworden. Jetzt kehrten ihre Sinne langsam in die Wirklichkeit zurück, und sie sah sich in der Runde um. Sie starrte verständnislos auf die Polizeibeamten in den dunklen Uniformen und zuckte zusammen, als Kommissar Sarget auf sie zukam und sie freundlich ansprach. »Mir scheint, wir kamen gerade noch zur rechten Zeit, Mademoiselle«, sagte Sarget. »Ich bin Kommissar Sarget von der Kriminalpolizei in Maurs. Sie brauchen uns nicht zu fürchten«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß der furchtsame Gesichtsausdruck bei der Fremden sich verstärkte. Fürchtete sie die Polizei? Warum? Sarget fühlte Mißtrauen in sich aufsteigen. Der Fremden schien es nicht gerade angenehm zu sein, daß die Polizei zu dieser späten Stunde hier aufgetaucht war. Warum hatte sie sich in dem Schuppen versteckt? Er gab zwei seiner Leute unauffällig das Zeichen, den Schuppen näher zu untersuchen, während er das Gespräch mit der jungen Unbekannten fortsetzte. »Ich danke Ihnen, Kommissar«, flüsterte sie schließlich. Sie löste sich vom Griff der Beamten. Sie konnte wieder allein auf den Beinen stehen, auch wenn sie noch etwas wacklig ging. Sie sah arg zugerichtet aus. Ihr Haar war vollkommen zerzaust, ihr Gesicht, ihre Arme und ihre Schultern trugen zahlreiche Kratzer und kleine, ständig nachblutende Bißwunden. Doch der harte Gesichtsausdruck, der Sarget noch aufgefallen war, wich jetzt immer mehr. Inzwischen hatte Michel den Bauern Taillant verständigt. Taillant stand auf der Schwelle zur Eingangstür. Mit zusammengepreßten Lippen trat er 41
zur Seite, als Sarget die junge Unbekannte ins Haus führte. Verständnislos schüttelte der Bauer den Kopf. »Warum haben Sie eine Frau mitgebracht, Kommissar?« fragte er mit dumpfer Stimme. »Bis vor einem Augenblick habe ich noch geglaubt, sie gehöre vielleicht zu Ihrer Familie, Taillant, und habe sich nicht mehr rechtzeitig ins Haus flüchten können, als die Fledermäuse aufkreuzten«, erwiderte Sarget mit deutlich vernehmbarer Stimme. Noch ehe Sarget eine weitere Bemerkung hinzufügen konnte, sprach die Unbekannte. »Ich glaube, ich bin Ihnen allen eine Erklärung schuldig.« Ihre Stimme war kaum zu hören. Mit einer nervösen Bewegung strich sie sich die zerzausten Haare aus der Stirn. »Bitte erlauben Sie zunächst, daß ich mich etwas zurecht mache. – Mein Name ist Nicole Bonnard, ich bin die Tochter Professor Bonnards, des bekannten ägyptischen Archäologen.« Taillant zeigte Nicole Bonnard die Tür zum Badezimmer. Bevor sie die Tür öffnete, wandte sie sich noch einmal um. »Bis vor wenigen Stunden habe ich nicht an die Dinge geglaubt, die sich angeblich in der Umgebung von Maurs abspielen sollten, Kommissar. Doch nun wurde ich selbst Zeuge eines Alptraums.« Die Worte sprudelten plötzlich nur so aus ihr heraus. Sie schien das, was sie wußte, plötzlich nicht mehr zurückhalten zu können. »Ich kam heute vormittag aus Paris hier an. Ich hatte schon lange von den angeblichen Vampiropfern gehört, aber nicht daran geglaubt. Dann las ich von dem Mordfall Marc Lepoir und den merkwürdigen Umständen, unter denen er ums Leben gekommen war. Das machte mich stutzig. Ich wußte, daß mein Vater und der befreundete Biologe Canol an einem Experiment arbeiten. Monsieur Canol, den Sie sicher kennen, beschäftigt. sich mit der Zucht von Fledermäusen. Vor drei Jahren begann er damit, sogenannte Vampir-Fledermäuse aus dem tropischen Amerika einzuführen, um mit ihnen Experimente durchzuführen. Ich fürchte, daß die Vorfälle unmittelbar mit den Versuchen Monsieur Canols in Zusammenhang stehen. Auch mein Vater muß etwas damit zu tun haben. Er benahm sich in der letzten Zeit sehr merkwürdig. Seit drei Tagen jedoch habe ich ihn nicht einmal mehr telefonisch erreichen können. Offenbar wollte er auf meine bohrenden Fragen keine Antwort geben. Seit seiner letzten Ägypten-Reise vor anderthalb Jahren kam er mir schon fremd vor. Wenn ich nur wüßte, warum er sich so verändert hat.« Die Augen Nicole Bonnards füllten sich plötzlich mit Tränen. Ihr Gesicht wurde blaß, Sarget sah, daß sie unsicher auf den Beinen stand. Er wollte auf sie zugehen, um sie zu stützen, doch da winkte sie ab. »Es geht schon wieder. Ein kleiner Schwächeanfall, Kommissar. Die Aufregungen des heutigen Tages. Es war alles zuviel …« »Sie sollten ein wenig ausruhen, Mademoiselle Bonnard«, meinte Sarget. Er legte seine Stirn in Falten. »Jetzt gleich. Wir können uns später noch unterhalten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will mich erst ein wenig frisch machen, dann werden wir weitersehen.« Sie zog die Badezimmertür hinter sich ins Schloß. Sarget, sein Assistent Michel und der Bauer Taillant gingen in das großzügig angelegte Wohnzimmer des Gastgebers. Das Haus war voller Geräusche. Aus den oberen Stockwerken hörte man Stimmengemurmel. Es waren die engsten Familienmitglieder und Verwandten des Bauern, die mit ihm unter einem Dach wohnten. Niemand von ihnen war an diesem 42
Abend zur Ruhe gekommen. Taillant schien sie nach dem Auftauchen der Fledermäuse alle geweckt zu haben. Jetzt, nachdem die Polizei im Haus weilte, hatte Taillant offensichtlich seine Familienmitglieder wieder nach oben geschickt, wo man noch aufgeregt die Geschehnisse besprach. Taillant bot seinen Gästen Platz an. Er war aufgeregt, und auf seiner Stirn perlte der Schweiß, den er immer wieder mit einem karierten Taschentuch wegwischte. »Kommen wir gleich zum Wichtigsten«, sagte Sarget. »Was wissen Sie von den Fledermäusen — und wie war das mit den Vampiren während der zurückliegenden Monate?« Taillant ließ sich in einen dunkelgrauen Sessel plumpsen. In seinem faltigen, von Wind und Wetter gegerbten Gesicht zuckte es. Taillant sah zehn Jahre älter aus, als er in Wirklichkeit war. »Da ist nicht viel zu sagen, Kommissar. Das meiste wissen Sie ja schon«, begann der Bauer. Er tippte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf die Bißwunde an seinem Hals. »Sie haben mich monatelang ausgenutzt, sie haben mir mein Blut abgezapft während des Schlafes, ohne daß ich davon etwas bemerkte. Und heute nun kamen sie, um mich zu töten.« Taillants Stimme klang leise und geheimnisvoll. Er konnte es nicht unterlassen, den Dingen einen Stich ins Unwirkliche, Phantastische zu geben. Taillant und sein spiritistischer Zirkel waren bekannt. Dies war der Hauptgrund, weshalb Sarget den Ausführungen des Bauern niemals Glauben hatte schenken können. Mit knappen Zwischenfragen brachte Sarget sein Gegenüber immer wieder dazu, mehr aus sich herauszugehen. Sarget ahnte: Nicole Bonnard hatte Taillant beobachten wollen. Zu diesem Zweck hatte sie sich auf den Hof des Bauern schleichen müssen. Nicole Bonnard hatte Gewißheit haben wollen über eine bestimmte Frage, die sie quälte, und über die er, Sarget, ebenfalls noch eine genaue Auskunft brauchte. Er fühlte, daß Nicole Bonnard etwas wußte, das auch dem Geheimdienst in Paris bekanntgeworden sein mußte, und das war der Grund, weshalb er, Sarget, seine Berichte laufend nach Paris zu schicken hatte. Sarget sah nun einiges in einem größeren Zusammenhang als zuvor, doch viele Fragen waren noch offen. Er hatte sich vorgenommen, Nicole Bonnard nach den Kapseln zu fragen, die einige Vampir-Fledermäuse in ihren Schädeln trugen und andere nicht. Nicole Bonnard schien sehr viel über die Fledermäuse zu wissen und auch über Monsieur Canol, der Fledermäuse züchtete. Welche Rolle allerdings der Vater Nicole Bonnards spielte, darüber war Sarget sich noch nicht im klaren. Doch vielleicht war auch in dieser Richtung noch einiges von dem Mädchen zu erfahren. Sarget sah auf die Uhr. »Sie bleibt lange«, sagte er und warf einen Blick auf den Flur hinaus. Man hörte aus dem Bad noch immer das leise Rauschen des Wassers. Der Kommissar erhob sich. Die Unruhe, die in ihm aufstieg, warnte ihn. Er ging mit raschen Schritten durch den Korridor und klopfte an die Badezimmertür. »Mademoiselle Bonnard?« rief er, lauschte und wartete auf eine Antwort. Vielleicht war sie ohnmächtig geworden und brauchte Hilfe. Das Wasser rauschte hinter der Tür. »Mademoiselle Bonnard?« 43
Wieder keine Reaktion auf seine Worte. Da handelte Sarget. Er drückte die Tür auf — und starrte in das leere Badezimmer. Das Fenster stand weit offen, das Wasser lief aus der Brause und rauschte in den Abfluß. Sarget stürzte zum Fenster und starrte in den dunklen Hinterhof. Schwarze Hecken zeichneten sich schemenhaft ab. Sarget ließ sofort das ganze Anwesen durchsuchen – ohne Ergebnis. Nicole Bonnard blieb verschwunden. Sarget faßte sich an die Stirn. Er hatte nicht eine Minute daran gezweifelt, daß Nicole Bonnard zu ihm zurückkehren würde. Es gab keinen Grund, daß sie sich absetzte, daß sie floh. Und doch war etwas eingetreten, womit er nicht gerechnet hatte. Es hatte ganz den Anschein erweckt, als ob Nicole Bonnard den Wunsch hätte, sich mit jemand zu besprechen. Der Entschluß zu fliehen mußte ganz plötzlich gekommen sein. Wodurch war er ausgelöst worden? Sarget fühlte die Bewegung neben sich. Sein Assistent Michel war neben ihn getreten. »Warum ist sie geflohen, Kommissar?« fragte Michel mit seiner dunklen Stimme leise. »Ich sehe den Grund nicht.« Sarget blickte sein Gegenüber an. »Wenn ich den Grund wüßte, wäre ich ebenfalls einen Schritt weiter. Vor zehn Minuten schien es noch so, als ob die Schwierigkeiten geringer würden. Jetzt sind sie eher größer geworden, Michel.« Sarget fand keine Gelegenheit, das neu aufgetauchte Problem näher zu erörtern. Er wurde zu seinem Wagen gerufen. Die Beamten, die bei dem unbekannten Toten am Straßenrand zurückgeblieben waren, wollten Sarget sprechen. Sarget griff nach dem Hörer. Er erfuhr, daß der Tote identifiziert war. Es handelte sich um einen amerikanischen Touristen namens Henry Parker, der im >Le Petit Jardin< untergekommen war. Sarget wußte, daß viele Spuren darauf hinwiesen, daß Parker offensichtlich während eines abendlichen Spazierganges von einer Vampir-Fledermaus angefallen worden war. Doch einige Spuren ließen auch erkennen, daß noch jemand anders im Spiel gewesen sein mußte. Ein Verbrechen konnte nicht ausgeschlossen werden. Doch um Genaueres zu wissen, dazu mußten die Untersuchungsergebnisse abgewartet werden – und er mußte auch noch mehr über Parker selbst erfahren. Sarget gab seine Anweisungen: »Macht Meldung an die Dienststelle! Ein Beamter soll sofort ins >Le Petit Jardin< gehen und dort das Zimmer Parkers versiegeln. Alles Weitere später.« Danach ließ er ein zweites Mal den Bezirk um den Hof des Bauern Taillant absuchen. Es ließ ihm keine Ruhe, daß Nicole Bonnard wie vom Erdboden verschluckt sein sollte. Etwa achthundert Meter von dem Anwesen entfernt lag ein Teich, der von hohen Büschen und Schilfgras umwachsen war. Dort, neben einem Baum, entdeckten Sargets Beamte die Abdrücke von vier Autoreifen. Die Spur führte quer über das Feld auf einen Seitenweg, der auf die Straße nach Maurs führte. Nicole Bonnard hatte ihr Auto hier verborgen. Nachdenklich kehrte Sarget zu seinem Peugeot zurück. Nach einem abschließenden Gespräch mit Taillant gab er seinen Männern das Zeichen zum Aufbruch. Während der Fahrt sprach Sarget kein Wort. Er saß da wie zur Salzsäule erstarrt. Plötzlich ertönte die Stimme Michels neben ihm. 44
»Wir müssen sie finden, Kommissar, auf dem schnellsten Weg. Sie ist der Schlüssel zur Klärung der Dinge, die uns jetzt noch beschäftigen.« Sarget warf nur einen flüchtigen Blick auf Michel. »Wen müssen wir finden?« fragte er den Assistenten. »Nun, Mademoiselle Nicole Bonnard.« Sarget lachte leise. »Sie nannte sich Nicole Bonnard, Michel, wer aber gibt uns die Gewißheit, daß sie wirklich diejenige war, für die sie sich ausgab? Mittlerweile zweifle ich daran. Sie behauptete, noch vor ein paar Tagen mit ihrem Vater hier aus Maurs gesprochen zu haben. Das ist unmöglich. Es ist allgemein bekannt, daß Professor Bonnard schon seit einiger Zeit wieder auf Reisen ist. Er hat zwar das Anwesen da oben gekauft…«, und Sarget wies auf die dunklen Umrisse des alten, zerfallenen Bauernhofes auf der Anhöhe in der Ferne, »… aber er hat es bis zur Stunde nicht betreten. Der Bauernhof ist unbewohnt, das wissen wir doch alle. Und in Maurs ist Bonnard polizeilich nicht gemeldet, er hat dort keine Wohnung. Wie kann er also aus Maurs telefoniert haben?«
Ein Hustenkrampf schüttelte seinen Körper. Er fühlte die Hitze, die rundum herrschte und ihn wie einen Mantel einhüllte. Larry Brent stöhnte gequält. Er hatte einen ungeheuren Durst, er fühlte, wie er seine Glieder bewegen wollte, um nach der Flasche zu greifen, die er vor sich sah. Doch sein Arm war schwer wie Blei. Das Bedürfnis zu schlafen wurde in ihm wach, und dieser Wunsch war größer als das Verlangen nach Flüssigkeit. Die Hitze, die seine Kehle ausdörrte, diese unbarmherzige Hitze! Er schwitzte am ganzen Körper, und er hörte das Knistern der Flammen. Traum und Wirklichkeit mischten sich, ohne daß ihm dies bewußt wurde. Das Knistern der Flammen! Wie ein Alarmsignal dröhnte dieses Geräusch plötzlich in seinen Ohren, erfüllte sein Bewußtsein und riß ihn unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. Seine Sehnen und Muskeln spannten sich, er spürte, daß eine beinah hypnotische Macht ihn dazu zwang, die Augenlider zu öffnen. Er sah den Flammenschein, der ihn einhüllte, sah die flackernden, leckenden, gierigen Zungen. Das Dach des Cabriolets war abgebrannt. Knallrot stand die Feuerbrunst hinter ihm. Das Auto brannte, es rollte. Wieso rollte es, wieso brannte es? Keine Zeit für Fragen … Sein Körper und sein Geist, in tausend Gefahren geschult, reagierten. Larry fühlte seinen schmerzenden Körper beinahe nicht mehr, als er sich dazu zwang, sich aufzurichten. Larrys Augen weiteten sich. Er sah den abschüssigen Abhang vor sich. Er ahnte in der Tiefe die Felsenspitzen mehr, als daß er sie sah. Seine Rechte zuckte zum Türgriff. Die Tür flog auf. Das Rauschen und Knistern der Flammen hinter ihm wurde zum Inferno. Larry stieß sich ab. Er warf sich regelrecht aus dem rasch rollenden Wagen. Das Fahrzeug schoß neben ihm vorbei. Brüllend griffen die Flammen auf die 45
Vordersitze über. Schwer atmend lag Larry auf dem Boden. Langsam begriff er, wie er in diese Lage gekommen war. Canol! Nur der Biologe konnte es gewesen sein! Er hörte das Knirschen, das die Luft erfüllte, und er sah, wie das Cabriolet wie ein Kugelblitz über den Abhang schoß. Eine Stichflamme stieg in die Höhe, stand sekundenlang vor ihm am nächtlichen Himmel, dann ertönte eine gewaltige Explosion, die den in die Tiefe stürzenden Wagen auseinanderriß. Der Boden unter Larry Brent erzitterte. Ein letzter, ohrenbetäubender Knall, dann verhallte das Echo in den Bergen, dann kehrte Ruhe ein. Aus der Tiefe des Abhangs vernahm Larry noch das letzte Knistern der erlöschenden Flammen. Larry schloß die Augen. Er hatte keine Sekunde zu spät reagiert! Sein Unterbewußtsein hatte instinktiv die Gefahr erkannt und seinen Körper zum Handeln gezwungen. Minutenlang blieb er liegen. Dann erhob Larry sich. Er torkelte mehr, als daß er ging. Der Boden unter seinen Füßen schien Wellen zu schlagen. Langsam nur bekam Larry Brent seine Bewegungen wieder unter Kontrolle. Er wischte sich über sein verschwitztes, von Ruß und Rauch verschmiertes Gesicht, orientierte sich nach dem Wald, der sich zu seiner Linken ausbreitete. Wenn er sich recht erinnerte, dann führte die Straße in einer weiten Schleife links um diesen Wald herum. Er hielt sich also links und stolperte über den felsigen Boden. Mechanisch setzte er ein Bein vor das andere. Seine Gedanken drehten sich wie ein Karussell im Kreis. Er hatte seine ganze Ausrüstung verloren und den Wagen. Die Versicherung würde nicht schlecht staunen, wenn er seine Rechnung vorlegte. Zunächst aber war es für ihn wichtig, so schnell wie möglich ins >Le Petit Jardin< zu kommen. Er sehnte sich nach einem Bad. Und gleich morgen früh wollte er sich neue Kleider besorgen. Unwillkürlich klopfte er seine Brust ab. Die Brieftasche war zum Glück nicht verlorengegangen. Das Scheckbuch war ihm geblieben. Mit jedem Meter, den er jetzt zurücklegte, spürte er die Müdigkeit mehr und mehr. Er hatte bereits das Gefühl, eine Ewigkeit unterwegs zu sein. Dann tauchte vor ihm das dunkle, gewundene Band der Straße auf. Larry wußte nicht, wieviel Kilometer es noch nach Maurs waren, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, den Weg zu Fuß fortzusetzen, wenn er nicht im Straßengraben übernachten wollte. Während er ging, überlegte er, wie alles gekommen war. Es mußte mit Henry Parker zusammenhängen. Immer mehr entwickelte sich in ihm diese Vermutung. Parker und der seltsame Ring, der zu Staub zerfallen war. Parker und die Fledermäuse — und schließlich noch der rätselhafte Biologe Canol, auf den er, Larry, gestoßen war. War auch Parker ein Opfer Canols? Hatte Parker Canols Geheimnis gelüftet und hatte deshalb sterben müssen? Canol züchtete die Fledermäuse, daran gab es für Larry keinen Zweifel, und sie wurden für einen ganz besonderen Zweck eingesetzt. Sie waren unterwegs, um zu töten, um zu morden. Boten des Grauens, die abends und nachts auf Jagd gingen. Und diese Boten sollten schon bald bei Tage einsatzbereit sein.
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Larry wußte nicht, wie lange er schon gegangen war, als plötzlich der Wagen hinter ihm auftauchte. Das Licht der Scheinwerfer überflutete ihn. Larry Brent wandte sich nicht einmal um. Wie ein Roboter schritt er voran. Zunächst schien es, als ob das Auto an ihm vorbeifahren würde. Doch dann verlangsamte der Fahrer und steuerte den Wagen an die rechte Straßenseite heran. Mit Schrittgeschwindigkeit fuhr der Wagen neben Larry her. Das Fenster wurde heruntergekurbelt. Der Agent hörte die freundliche Stimme einer jungen Frau. »Sie sehen nicht gerade salonfähig aus, Monsieur. Hatten Sie einen Unfall? Kann ich irgend etwas für Sie tun? Darf ich Sie mitnehmen?« Der Wagen hielt. Larry hob den Blick. Er sah das hübsche, junge Gesicht, das von einer Flut dunkler Haare umrahmt war. Er erkannte aber auch auf den ersten Blick das zerrissene Kleid über den wohlgeformten braunen Schultern. Die Fremde trug blutige Kratzer im Gesicht und an der Hand, die sie auf dem herabgekurbelten Fenster liegen hatte. Larry lächelte kaum merklich. »Jetzt begreife ich auch, warum Sie sich vor mir nicht fürchten«, meinte er leise, während er mit einer jungenhaften Geste das blonde, in die Stirn fallende Haar zurückstrich. »Mit scheint, Sie hatten den gleichen Unfall wie ich. Leidensgefährten erkennen sich auf den ersten Blick.« Wortlos öffnete die Fremde die linke Tür. »Steigen Sie ein!« sagte sie dann. »Man kann nicht wissen, ob nicht noch mehrere Fledermäuse unterwegs sind. Ich glaube, daß auch Ihnen ein Zusammenstoß genügt.« Larry kam um den Wagen herum, stieg ein und zog die Tür hinter sich ins Schloß. »Danke«, murmelte er. Sein Atem ging schwer. »Übrigens - mein Name ist Nicole«, sagte sie, während sie beschleunigte. »Larry Brent.« Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Sie sind Amerikaner? Man merkt es Ihnen kaum an, Ihr Französisch ist sehr gut. Ein Amerikaner in der Provinz, man soll es nicht für möglich halten. Ich war bisher immer der Ansicht, daß für Amerikaner nur Paris interessant ist.« »Wenn ich geahnt hätte, was mich hier erwartet, dann wäre ich sicher auch in Paris geblieben.« Larrys Lippen wurden hart. »Es ist nicht jedermanns Sache, mit Fledermäusen und Mördern konfrontiert zu werden.« Sie sah ihn fragend an. »Mörder?« Larry erzählte, daß man ihn bewußtlos in sein Auto gelegt und den Wagen dann angezündet hatte. Nicole hielt den Atem an. Sie wollte noch eine Bemerkung zu Larrys letzten Ausführungen machen, doch Larry lenkte das Gespräch bereits ab. »Sie scheinen zum Glück auch mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Und wie mir scheint, haben Sie den Schock, daß eine Riesenfledermaus Sie angefallen hat, gut überwunden. Sind Sie schon daran gewöhnt? Es scheinen hier in dieser Landschaft einige Dinge üblich zu sein, von denen ich bisher nichts ahnte. In dem Reiseprospekt über Frankreich stand nichts davon, daß es hier zu Riesenwuchs gezüchtete VampirFledermäuse gibt, die eine besondere Attraktion für Einheimische und Touristen sind.« 47
Larry merkte, wie bei seinen Worten ein Schatten über das Gesicht seiner hübschen Fahrerin huschte. Doch dann lächelte sie schon wieder gewinnend. Larry musterte seine hübsche Begleiterin von der Seite. Er schätzte sie auf etwa vierundzwanzig Jahre. Ihr ebenmäßiges Gesicht, ihr natürliches Auftreten und ihre dunklen, fragenden Augen faszinierten ihn. Ihre Haut war weich und trug den samtenen Schimmer, den er bei einer Frau so liebte. Sie war alles in allem der Mädchentyp, auf den er flog. Und die Sympathien schienen auf beiden Seiten gleich zu sein. Vom ersten Augenblick an hatten sie Kontakt miteinander gehabt, vom ersten Augenblick an hatte Larry das Gefühl gehabt, auf einen guten Bekannten zu treffen. Und genauso verlief ihr Gespräch. Sie zog das zerrissene Kleid etwas über die Schultern, als sie Larrys Blick fühlte. Doch die Bewegung war umsonst. Der Stoffetzen rutschte wieder herab, als sie ihre Hand von der Schulter nahm. »Sie werden es nicht glauben, wenn ich Ihnen erzähle, auf welche Weise ich mit einer Riesenfledermaus zusammengestoßen bin, Larry.« Brent winkte ab. »Sagen Sie das nicht«, entgegnete er. »Seit ich hier bin, weiß ich, daß alles möglich ist. Ich habe immer geglaubt, daß nur wir in Amerika Unmögliches erleben können. Jetzt bin ich eines Besseren belehrt worden.« Und so kam Nicole Bonnard auf ihr Abenteuer auf dem Hof des Bauern Taillant zu sprechen. Larry fühlte beinahe körperlich das Mitteilungsbedürfnis der jungen Französin. Etwas bedrückte sie, sie wollte sich einen Stein vom Herzen wälzen, und sie glaubte, in Larry Brent die Person ihres Vertrauens gewonnen zu haben. Trotz seines lädierten Aussehens fühlte sie sich zu diesem jungen, dynamischen Mann hingezogen. Er erweckte ihr Vertrauen. Larry Brent erfuhr vom Aufbruch der Nicole Bonnard aus Paris. Nicole studierte dort Journalistik. Sie hatte Näheres über die Vampire erfahren wollen. Sie hatte sich auf den Hof Taillants geschlichen und war dort mit Einbruch der Dunkelheit von den Fledermäusen überrascht worden. Larry erfuhr auch, weshalb sie vor der Polizei geflüchtet war. »… erst habe ich reden wollen, doch dann – dann bekam ich plötzlich Angst. Ich dachte an meinen Vater. Ich ergriff die Chance, um aus dem Bad zu fliehen. Solange ich keine Gewißheit habe, kann ich nicht sprechen. Erst muß ich mit meinem Vater zusammentreffen. Erst muß ich wissen, wie weit seine Schuld wirklich geht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er sich zu diesem verbrecherischen Wahnsinn entschlossen hat.« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Sie haben einen Fehler begangen«, erwiderte der Agent. »Sie hätten vor der Polizei nicht davonlaufen dürfen. Im übrigen sind Sie jetzt nur vom Regen in die Traufe geraten.« Sie warf ruckartig ihren Kopf herum. Die dunklen Haare schwangen in ihr Gesicht. »Soll das etwa heißen, daß Sie auch …?« Larry nickte. Er erzählte ihr, daß er dem FBI angehöre und einen Urlaubstrip durch Europa mache. Ihr blieb vor Staunen der Mund offenstehen, und sie glaubte Larry erst, als er ihr seinen Ausweis gezeigt hatte. »So also sieht ein FBI-Agent aus«, murmelte sie, und ihre Stimme war wie ein Hauch. 48
»Ich habe mir darunter immer Burschen mit breiten Schultern, sportlicher Figur und markantem Aussehen vorgestellt. Und außerdem trinken sie ständig Whisky, schlagen sich herum und fallen in die Arme verführerischer Mädchen. Von allem stimmt bei Ihnen nur das erste.« Larry Brent grinste. »Ich könnte dafür sorgen, daß auch zumindest noch die letzte Bemerkung stimmt. Sie sollen von Ihren Ansichten über FBI-Agenten nicht enttäuscht werden.« Sie sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an. Dieses Thema war rasch vergessen, und sie kamen wieder auf das eigentliche Gesprächsthema zurück. »Was hat Ihr Vater mit den Vampiren zu tun, Nicole?« erkundigte sich Larry. Sie zuckte die Achseln. »Ich kann darüber nichts Genaues sagen. Ich weiß nur, daß mein Vater und Monsieur Canol gemeinsam an einem großen Versuch arbeiteten. Mein Vater war begeistert. Es muß mit den Vampiren, die Canol gezüchtet hat, in Zusammenhang stehen. Ich will meinen Vater nicht hinter Zuchthausmauern bringen, verstehen Sie, Larry? Ein falsches Wort von mir könnte - beim derzeitigen Stand der Dinge jedenfalls von größtem Schaden für ihn sein.« »Aber wenn Ihr Vater ein Verbrecher ist, ein Mörder, Nicole?« Sie schluckte. »Ich weiß nicht, ich … ich weiß überhaupt nicht, was noch richtig ist. Ich fürchte, ich habe bei Kommissar Sarget schon viel zuviel gesagt.« Larry legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie ließ es sich willig gefallen. Sie sah ihn bittend an. »Vielleicht können Sie mir helfen, Larry. Ich muß Gewißheit haben. Ich muß wissen, was mein Vater wirklich getan hat, und ich muß es wissen, noch bevor die Polizei in Maurs irgendwelche Schritte unternimmt.« Larry preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich will Ihnen gern helfen, Nicole. Aber es wird nichts sein, was gegen das Gesetz geht, das muß ich Ihnen gleich sagen.« »Das verlange ich auch nicht von Ihnen, Larry.« Ihre Stimme klang dumpf und verändert. »Wenn Vater ein Verbrecher ist, dann wird man ihn bestrafen, und dann werde und will ich es auch nicht verhindern. Aber ich will wissen, warum er es geworden ist. Niemand weiß, daß mein Vater sich in Maurs aufhält. Es heißt, daß er seit Monaten auf einer Reise ist. Das ist nicht wahr! Das zerfallene Gehöft auf der anderen Seite des Berges ist bewohnt. Es gibt darin ein Labor, in dem Vater oft gearbeitet hat. Er hat sich ganz nach dort zurückgezogen, um für seine Forschungen zu leben. Ich fürchte, er ist zum weltfremden Sonderling geworden, der vor einer ungeheuerlichen Entdeckung steht. Seine Briefe wurden immer seltener – und schließlich sind sie ganz ausgeblieben.« Kurz vor dem Ortsschild von Maurs, das darauf hinwies, daß die Ortschaft noch vier Kilometer entfernt war, bog Nicole Bonnard in einen Seitenweg ein und fuhr auf einem Umweg in die Ortschaft. Sie fürchtete, einem der Wagen Sargets zu begegnen. Nicole wollte Larry in der Nähe des >Le Petit Jardin< absetzen und dann selbst bei einer Freundin ein Nachtquartier suchen. Sie verabredeten sich für den Vormittag des nächsten Tages. Am Ortsausgang wollten sie sich treffen. Nicole wollte Larry Brent zum Gehöft ihres Vaters bringen. Larry stieg an einer dunklen Ecke in einer Seitenstraße aus. Der Nachtportier fiel fast aus allen Wolken, als der Agent im >Le Petit Jardin< auftauchte. 49
»Mein Gott, Monsieur, Sie hatten einen Unfall, nicht wahr? Ich werde sofort …« Larry winkte ab. Er erklärte, daß er ein Zimmer bestellt habe, und daß der Unfall halb so schlimm sei, wie es aussah. Er hätte im Moment nur einen einzigen Wunsch: so schnell wie möglich sein Bett zu sehen. »Wir haben für Sie Zimmer 117 reserviert, Monsieur Brent. Wir hofften, Ihnen damit einen besonderen Gefallen zu tun. Zimmer 116 war von einem Landsmann von Ihnen bewohnt, ein Herr namens Henry Parker, der …« Larry Brent lief es siedendheiß über den Rücken. Henry Parker, der Tote am Straßenrand. Er hatte die Polizei benachrichtigen wollen, doch in der Aufregung der sich überstürzenden Ereignisse hatte er das vollkommen vergessen. Doch nun erübrigte es sich. Man hatte Parker gefunden und identifiziert. Der Nachtportier brachte Larry Brent nach oben. Er zuckte bedauernd die Schultern, als er dem Amerikaner die Schlüssel überreichte und mit einer hilflosen Geste auf das Zimmer Nr. 116 wies, das polizeilich versiegelt worden war. »Es tut mir leid, Monsieur Brent, daß ich Ihnen diese Unannehmlichkeiten bereiten muß. Mister Parker ist heute abend offensichtlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Wenn es Sie stört, neben diesem Zimmer zu schlafen, dann werde ich mich darum bemühen, im Lauf des kommenden Tages ein anderes Zimmer für Sie bereitzumachen. Doch im Moment …«, wieder ein Achselzucken, »… unmöglich. Wir sind vollkommen belegt. Wenn sich jedoch morgen etwas ändert …« Larry nickte. Er drückte dem Portier ein Trinkgeld in die Hand, schloß die Zimmertür auf und ging nach drinnen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, das Licht anzuknipsen. Er hatte noch vorgehabt, zu baden, doch selbst das unterließ er. Er warf sich einfach voll angekleidet auf das Bett. Zwei Minuten später war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er war jedoch sofort hellwach, als er das Geräusch hörte. Es kam aus dem Zimmer nebenan. Larry merkte, wie sich alles in ihm spannte. Aus dem Zimmer nebenan? Das konnte nicht sein! Zimmer 116 war polizeilich versiegelt worden. Er hatte das Siegel selbst gesehen. Er richtete sich auf, ging zur Wand und legte lauschend das Ohr an. Er hörte, wie etwas Metallisches knackte, dann Stille, dann ein Rascheln, Papier. Brent warf einen Blick auf seine Uhr. Es war vier Uhr morgens. Draußen begann der Morgen zu grauen. Larry bewegte sich auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie leise. Er schlich an der Wand entlang, auf die Nachbartür zu. Er sah es sofort. Das Siegel fehlte. Es war fein säuberlich entfernt worden! Wer konnte Interesse daran haben, in dem Zimmer des toten Henry Parker herumzuschnüffeln? Larry Brent überlegte nicht lange. Blitzschnell öffnete er die Tür. Mit einem einzigen Blick überschaute er die Situation. Er sah den Fremden am Tisch. Eine große, knochige Gestalt im kragenlosen Sommeranzug. Vor sich hatte der Fremde einen geöffneten Koffer stehen. Utensilien lagen auf der Tischdecke. Ein Block, zwei Fotografien. Brent erkannte, daß in einem 50
Seitenfach des Koffers ein Geheimfach eingebaut war. Der Fremde hatte es gefunden und geöffnet. Die Eindrücke, die Larry sammelte, dauerten nur eine Sekunde. Im gleichen Augenblick, als er eintrat, handelte der große Knochige. Er nahm den Koffer und schleuderte ihn gegen Larry. Er griff sofort nach den Papieren auf dem Tisch, doch er kam nicht mehr dazu, sie an sich zu reißen. Larry schleuderte den Koffer mit einer Armbewegung beiseite. Mit dieser blitzschnellen Abwehrreaktion hatte der Hagere offenbar nicht gerechnet. Er wurde dazu gezwungen, sich zu verteidigen, als Larry nach ihm griff. Und er mußte dazu beide Hände freihaben. Block und Fotografien fielen zu Boden. Der Hagere drehte sich um sich selbst. Larrys wuchtig geführter Angriff ging ins Leere. Durch den eigenen Schwung wurde er direkt in den Sessel geworfen, der vor dem Fenster stand. Doch der FBI-Agent war sofort wieder auf den Beinen. Der Hagere war über ihm, Larry sah die Faust auf sich zuschießen. Er reagierte eine zehntel Sekunde zu spät. Er merkte, daß sein Reaktionsvermögen durch die Ereignisse des zurückliegenden Abends doch merklich gelitten hatte. Er verfügte noch längst nicht wieder über seine ursprüngliche Kraft. Die knochige Faust seines Gegners schleuderte ihn zurück. Larry war überrascht, wieviel Kraft in diesem hageren Körper steckte. Er fiel mit dem Kopf gegen die Tischkante. Für einige Sekunden verlor er das Bewußtsein. Der Hagere griff ihn nicht an. Er suchte die Notizen zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen. Als er bemerkte, daß Larry zu sich kam, wollte er das Weite suchen. Doch diesmal war der FBI-Agent schneller. Es gelang ihm, den rechten Fuß des Knochigen zu packen. Der Länge nach legte sich der Eindringling auf den Teppichboden. Er wehrte sich verzweifelt, und Larry Brent mußte einsehen, daß er es mit einem gleichwertigen Gegner zu tun hatte. Der Hagere parierte jeden Judo-, jeden Jiu-Jitsu-Griff. Er verstand eine ganze Menge davon. Larry kam auf die Beine zu stehen. Er ergriff den Unterarm seines Gegners, als dieser blitzschnell nach einer Vase auf der Fensterbank griff, um sie auf Larrys Schädel zu zerschmettern. Die Vase zerschellte auf dem Boden, der Hagere stöhnte unterdrückt auf. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich dem unbarmherzigen Griff zu entwinden. Larry schleuderte seinen Gegner zurück. Da waren Stimmen vom anderen Ende des Ganges zu vernehmen. Der Hagere reagierte sofort. Ehe Larry es verhindern konnte, war der Mann an der Tür. In langen Sätzen hetzte er zur linken Seite des Ganges hinunter und verschwand um eine Ecke. Larry setzte sofort nach. Er sah, daß am vorderen Gangende ein Pärchen die Stufen hochstieg. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie nicht einmal bemerkten, was sich etwa zwanzig Meter hinter ihnen abspielte. Larry nahm die Verfolgung auf. Er stürmte die Treppe auf der linken Seite des Ganges hinab. Er hörte, daß unten eine Tür ins Schloß fiel. Brent war eine halbe Minute später an der Terrassentür. Er riß sie auf und stürmte hinaus. Die kühle Morgenluft streifte sein erhitztes Gesicht. Tau lag auf den Plastiktischen und -stühlen. Blumen umrankten eine Pergola, die die Terrasse in ihrer gesamten Breite umschloß. Schmale Stufen führten hinaus in einen wunderbar angelegten Garten. Larry gab nach drei Minuten die Verfolgung auf. Der Hagere war wie vom Erdboden 51
verschwunden. Er kehrte ins >Le Petit Jardin< zurück. Es herrschte Ruhe im Haus. Niemand von den Gästen schien etwas von dem Zwischenfall bemerkt zu haben. Larry ging ins Zimmer Nr. 116. Der Inhalt des Koffers, die Notizen und die Fotografien lagen auf dem Boden verstreut. Larry Brent schloß die Tür, dann sammelte er die Utensilien ein. Die Notizen interessierten ihn. Alles, was mit dem geheimnisvollen Mister Parker zusammenhing, faszinierte ihn auf eigenartige Weise. Er konnte sich dem Bann des Toten nicht entziehen. Dieser Mann war einer großen Sache auf der Spur gewesen. Er hatte sterben müssen. Hatte Parker im Auftrag einer Organisation hier gearbeitet? Der Ring, die Inschrift stiegen vor Larrys geistigem Auge auf. Im Dienste der Menschheit - X-RAY-18. Larry untersuchte den Koffer. Als ausgebildeter FBI-Agent war es für ihn kein Problem, das Geheimfach zu öffnen. Und er entdeckte hinter einem schmalen Metallband das etwa daumengroße Magnetophongerät. Der Hagere war bei seiner Arbeit gestört worden. Er hatte nicht mehr alles aus dem Geheimfach nehmen können.. Er hatte nicht einmal mehr die Notizen und die Fotografien an sich nehmen können. Während der folgenden zehn Minuten beschäftigte sich Larry eingehend mit dem Studium der Notizen und den Aufzeichnungen des Bandgerätes. Er kam zu einem erstaunlichen Ergebnis. Er vergaß, wo er sich befand, er vergaß die Zeit, und in diesen Minuten hatte nur noch ein Gedanke in ihm Platz: er wollte alles tun, um den sinnlosen Tod seines Landsmannes mithelfen aufzuklären. Er sah die Skizze vor sich, auf der Professor Bonnards Gehöft deutlich markiert war. Er hielt eine Fotografie des Hauses in der Hand, in dem der Biologe Canol lebte. Und er hatte auch Aufnahmen von Canol und Bonnard. Bonnard war ein Mann Anfang Fünfzig, von kräftigem Wuchs, mit graumeliertem Haar. Die überragende Persönlichkeit und Intelligenz dieses Mannes war selbst auf diesem Foto zu spüren. Dazu hörte Larry die Bandaufnahme. Es war die Stimme Henry Parkers. Larry erfuhr von Parkers Versuchen, Canol auf die Schliche zu kommen. Er beschrieb genau den Weg und das Leben Canols, das ihm merkwürdig erschien. Parker vermutete, daß es vom Haus Canols zum Anwesen Professor Bonnards einen direkten Verbindungstunnel gab. Trotz dieses vermuteten Tunnels fuhr Canol ständig um den Berg herum, um zu Bonnard zu kommen. Larry erfuhr eine Reihe von Einzelheiten, die sich zu einem größeren Bild zusammenfügten. Die Polizei in Maurs durfte von Parkers Anwesenheit nichts wissen. Parker stand im Dienste einer Organisation, die ihm, Larry, nicht bekannt war. Parker hatte ursprünglich den Auftrag, Bonnard unter die Lupe zu nehmen, und er war dabei auf eine offensichtlich viel wichtigere Person gestoßen, auf Canol. Die Ägyptenreise Bonnards und der Einsatz der Fledermäuse durch Canol schienen in unmittelbarem Zusammenhang zu stehen. Parker hatte von Anfang an an die Vampire geglaubt, von denen einige Einwohner in dieser Gegend erzählten, und er war ihren Spuren nachgegangen. Er hatte unmittelbar vor dem Ziel gestanden. Die Aufklärung hatte greifbar nahe gelegen – da war er vom Tod überrascht worden. Larry mußte an die Situation denken, die er bei seiner Anfahrt erlebt hatte: Parker war von Canol aus dem Citroën gezerrt worden. Es sollte alles wie ein Unfall aussehen. Gedankenverloren packte er die Dinge in den Koffer zurück und verstaute ihn im 52
Schrank. Er zog die Tür vorsichtig hinter sich zu und betrat sein Zimmer. Seine Gedanken kamen nicht mehr zur Ruhe. Während er sich eine Zigarette anzündete, versuchte er die Dinge, wie er sie jetzt sah, logisch zu ordnen. Es gab noch zwei Unbekannte in der Rechnung, die er aufstellte: die Rolle Bonnards und der Hagere, der sich für die Aufzeichnungen Parkers interessierte. Es gab eine dritte Gruppe in diesem Spiel, das er noch nicht ganz durchschaute, in dem er aber selbst eine Rolle übernommen hatte. Er war in die Dinge hineingezogen worden, ohne es zu wollen. Der Anschlag auf sein Leben gab ihm das Recht, sich um die Sache zu kümmern. Jetzt, wo er seinen Plan gefaßt hatte, würde ihn nichts mehr davon abhalten. Er hatte durch Henry Parkers Aufzeichnungen einen Einblick in die Dinge gewonnen, und er wußte zu diesem Zeitpunkt schon mehr als die Polizei, die hier nur sehr langsam vorankommen würde. Er hatte größere Freiheit, und er hatte zusätzlich die Bekanntschaft Nicole Bonnards gemacht. . . Die Spuren des Kampfes im Zimmer 116 waren verwischt, und er hatte die Dinge, die ihn interessierten, nur mit Handschuhen angefaßt. Wenn die Polizei das Fehlen des Siegels bemerkte, würde ein großes Rätselraten anfangen. Er, Larry, hatte keine wichtigen Spuren verwischt, mußte sich jedoch schützen. Es würde so aussehen, als ob jemand versucht habe, Parkers Zimmer zu durchsuchen, was auch der Wahrheit entsprach. Daß er darauf aufmerksam geworden war, durfte zunächst nicht publik werden. Die Verhöre, die langwierigen Untersuchungen waren zeitraubend. Er war der Polizei jedoch im Augenblick eine größere Hilfe, wenn er sich frei bewegen und handeln konnte. Er wollte heute morgen gleich das Kommissariat aufsuchen. Dabei würde er offiziell das fehlende Siegel bemerken und Meldung erstatten. Alles andere war im Augenblick noch unwichtig. Larry ließ Badewasser einlaufen und erfrischte sich. Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die Geschäfte öffneten. Er bestellte sich telefonisch einen neuen Anzug, zwei neue Hemden, ein paar Schuhe und einige andere notwendige Artikel. Während er auf die Lieferung wartete, ließ er sich sein Frühstück aufs Zimmer bringen. Nur mit einem Badehandtuch bekleidet aß er. Dann brachte man ihm auch schon die bestellten Sachen. Der Portier nahm durch die nur spaltbreit geöffnete Tür den Scheck entgegen. Larry zog sich rasch an. Er fühlte sich jetzt nach dem Bad richtig frisch und voller Elan. Er betrachtete sich im Spiegel. Außer einigen Kratzern von den scharfen Krallen der Vampir-Fledermaus waren keine Spuren von den Ereignissen der vergangenen Nacht zurückgeblieben. Larry verließ das Zimmer und schloß es ab. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Tür Nr. 116. Er wollte daran vorübergehen, als es wie ein Ruck durch seinen Körper lief. Alles in ihm sträubte sich gegen das, was er sah. Das polizeiliche Siegel klebte vorschriftsmäßig auf der alten Stelle!
Der Hagere ließ sich vom Lift aufwärts tragen. Das Zimmer, in dem sein Herr wohnte, lag im siebten Stock. Das Hotel >Des Fleurs< war ein neuer Bau, er stand noch keine drei Jahre. Das moderne 53
Hochhaus lag nur knapp fünfhundert Meter von dem >Le Petit Jardin< entfernt. Als der Hagere den Lift verließ, konnte er durch das breite Panoramafenster über den unter ihm liegenden Straßenzug sehen — und er sah hinter den Häuserblocks auch die Umrisse des >Le Petit Jardin<. Bony lächelte kaum merklich, als er den Gang hinunterging. Es war kein frohes Lächeln. Er hatte zum zweiten Mal ins >Petit Jardin< gemußt. Das war ärgerlich. Doch diesmal hatte es wenigstens geklappt. Der Fremde aus Zimmer 117 hatte ihn nicht bemerkt. Es war Bony gelungen, alle notwendigen Unterlagen aus dem Geheimfach des Koffers zu entnehmen und danach das zuvor abgelöste Siegel mit äußerster Sorgfalt wieder anzubringen. Bony klopfte nicht an, als er das Zimmer betrat. Leise drückte er die Tür hinter sich zu. Vor ihm, neben dem zugezogenen Vorhang, saß ein Mann im fast weißen Sommeranzug. Mister Gallun. Er trug eine dunkle Brille. Er hob nicht den Kopf, als Bony eintrat, er konnte Bony auch nicht sehen. Mister Gallun alias X-RAY-1 war blind. Doch Gallun fühlte die Stimmung Bonys wie einen körperlichen Schmerz, und unwillkürlich tastete seine Rechte nach der langen schmalen Narbe, die längs seines Nacken hinablief und sich bis über den Haaransatz hinweg bis fast zur Mitte des Kopfes fortsetzte. »Ich spüre, daß etwas schiefging, Bony«, sagte Gallun mit leiser Stimme. »Wie konnte das passieren?« Bony gab seinem Herrn Bericht. X-RAY-1 hörte aufmerksam zu. Seine Züge sahen müde aus. Er hatte während des Fluges über den Ozean kaum ein Auge geschlossen. Er hatte sich ständig mit dem Fall beschäftigt, auf den er X-RAY-18 alias Henry Parker angesetzt hatte. Und nach seiner Ankunft im Hotel >Des Fleurs< hatte er auch noch keine Zeit gefunden, etwas zu ruhen. Es hatte alles vorbereitet werden müssen, um die Unterlagen aus Parkers Zimmer so schnell wie möglich zu entfernen. Das mußte noch geschehen, ehe die Polizei sich um Parkers Eigentum kümmerte. X-RAY-1 sah ernst drein, als er den Bericht Bonys verfolgte. Doch kein Wort des Tadels kam über seine Lippen. Auf Bony war sonst immer Verlaß. Er konnte ohne Bony nicht sein. Er war seine stete Hilfe. Bony hatte ihm das Leben gerettet, damals, als er den schweren Unfall gehabt hatte. Der junge Mann, der eigentlich Fred hieß, wurde von ihm nur Bony genannt. X-RAY-1 hatte Bony noch niemals gesehen, und doch konnte er sich aufgrund einer Beschreibung seines Dieners ein recht genaues Bild von ihm machen. Er wußte um das hagere, knochige Aussehen seines Begleiters, und so hatte sich der Name Bony entwickelt. Bony war der einzige Mensch, der das Geheimnis um X-RAY-1 kannte. Er hatte den damals schwerverletzten David Gallun mit seinem Wagen sofort in das nächste Krankenhaus gebracht. Gallun war klinisch tot, als er auf den Operationstisch kam. Vier Minuten nur dauerte dieser Zustand an. Während dieser Zeit machte das Gehirn eine Veränderung durch. David Gallun konnte gerettet werden, doch er blieb blind. Durch seine Verletzung von der er die fast zwanzig Zentimeter lange Narbe zurückbehalten hatte, war er zum Empathen geworden. David Gallun konnte Stimmungen und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen, und er konnte diese Stimmungen und Gefühle ebenso bei anderen Menschen erzeugen. Seit dieser Zeit hatte sich das Leben Galluns grundlegend verändert. 54
X-RAY-1 nickte bedächtig. »Es scheint also, daß der Fremde Einblick in die Notizen bekam, und daß er das Tonband abhörte. Wir haben einen unliebsamen Mitwisser, der uns Scherereien machen kann, Bony. Du mußt ihn im Auge behalten. – Doch jetzt möchte ich Näheres über die Unterlagen erfahren.« Bony las die Notizen vor. Er beschrieb die Skizze und die Fotografien, und er ließ schließlich das kleine Bandgerät laufen. Für X-RAY-1, der die Vorgeschichte des Falles kannte, vervollständigte sich das Bild. Er erhob sich, zog den Vorhang zurück und stellte sich mit dem Gesicht zum Fenster. Es schien, als ob er auf die Straße hinunterblickte. Er fühlte die warme Morgensonne durch das Fenster hindurch. »Es scheint ein sonniger, warmer Tag zu werden«, meinte David Gallun, doch seine Gedanken weilten ganz woanders. Er dachte an das Telefongespräch, das er vor einer halben Stunde mit dem Minister für besondere Angelegenheiten geführt hatte. Von ihm hatte er auch die Berichte entgegengenommen, die Kommissar Sarget von der Kriminalpolizei von den Vampiren angefertigt hatte. Eins fügte sich jetzt ins andere. Und das war der Stand der Dinge: Vor fast einem Jahr hatte die ägyptische Regierung sich an den französischen Geheimdienst mit einer besonderen Bitte gewandt. Es bestand die Vermutung, daß Professor Bonnard bei seiner letzten Ägyptenreise aus einem bisher unbekannten Grab kostbare Grabbeilagen und eine Mumie entfernt hatte. Man hatte keinen Beweis für diese Annahme. Der französische Geheimdienst nahm sich des Falles an. Die Computer im Hauptquartier der PSA in New York wurden wenig später mit den Daten gefüttert, als es in Frankreich, in der Nähe von Maurs, zu den Überfällen von Vampiren kam. Die Computer zogen aus den entscheidenden Merkmalen Schlüsse. Drei Faktoren waren maßgebend: Professor Bonnard - die verschwundene Mumie — das Auftauchen der Vampire, die ausschließlich Blut der Blutgruppe A absaugten. Die Resultate der Computer waren ebenso ungeheuerlich wie erschreckend: sie sahen einen Zusammenhang. Das Blut könnte für die Mumie gebraucht werden. Es schien, als ob Professor Bonnard eine Möglichkeit gefunden hatte, eventuell vorhandene Lebensspuren durch frisches Blut wieder anzufachen. Noch fehlten die Beweise, aber die Beweise sammelte X-RAY-18, und er starb dafür. Das Bild hatte sich etwas verändert. X-RAY-1 sah diese Veränderung. Die Vampire waren in der Zwischenzeit zu Mordwerkzeugen geworden. Sie töteten bewußt. Die Berichte in der heutigen Morgenzeitung redeten ihre eigene Sprache. Drei Menschen waren heute nacht ermordet worden. Sie waren Träger der Blutgruppe A gewesen. Doch es war auch ein Mordanschlag auf Kommissar Sarget erfolgt. Sarget aber hatte Blutgruppe B, wie er den Journalisten gegenüber erwähnt hatte. Die Fledermäuse ließen sich steuern. Sie waren Werkzeuge in der Hand eines Mörders. Die Fälle zu Anfang und die Fälle jetzt unterschieden sich beträchtlich voneinander. X-RAY-1 wußte, daß er so schnell wie möglich eingreifen mußte. Parker hatte gründliche Vorarbeit geleistet. Auf diesem Grund konnte er aufbauen. Sorgen bereitete ihm noch eins: der Außenstehende, der Einblick in die Notizen gewonnen hatte. Es war erstaunlich, daß der Mann sich überhaupt dafür interessiert hatte. Er hatte die Aufzeichnungen fein säuberlich in das Geheimfach des Koffers eingeräumt. Der Fremde hatte den Wert erkannt – oder er versuchte jetzt, Kapital aus seinem Wissen 55
zu schlagen. Vielleicht nahm er Kontakt mit Bonnard auf? Die Lippen David Galluns wurden hart. Nach den Aufzeichnungen Parkers zu urteilen, mußte Bonnard dem Wahnsinn verfallen sein. Doch bis zur Stunde war nicht klar, ob Bonnard überhaupt hinter den Anschlägen steckte. Parker hatte Bonnard nicht zu Gesicht bekommen, er hatte gehofft, daß es noch dazu kam. »Nennen wir ihn Mister X«, sagte David Gallun unvermittelt, ohne daß Bony wußte, worum es überhaupt ging. »Er muß fürchten, daß jetzt, nach den Vorfällen der letzten Nacht, der Boden für ihn sehr heiß werden wird. Wenn sein Informationsvermögen so groß ist, wie Parker andeutet, dann wird ihm nicht entgangen sein, daß sich jetzt mehrere Stellen für ihn zu interessieren beginnen. Es ist einiges in Verwirrung geraten. Diese Verwirrung können wir uns zunutze machen. Doch wir müssen vorsichtig sein. Unser Gegner verfügt über eine schreckliche Waffe. Parkers Tod muß uns eine Warnung sein.« — Bony verstand nur die Hälfte von dem, was David Gallun meinte. X-RAY-1 schien immer nur einen Teil seiner Gedanken halblaut vor sich hinzusprechen. Der Blinde ging mit sicheren Schritten durch das Hotelzimmer. »Ich glaube, die Computer haben recht«, sagte er plötzlich. »Wir werden schon bald den Beweis in den Händen haben.« – Was sie jedoch nicht wissen konnten, war, daß ein Mörder die Rolle Bonnards übernommen hatte. David Gallun fühlte die Nervosität, die von Bony ausging, und er lächelte. »Wir werden es schaffen, Bony. — Noch etwas: ich brauche alle Unterlagen über den Mann, mit dem du im >Le Petit Jardin< zusammengestoßen bist. Name, Beruf, Herkunft. Er hat sich nicht umsonst für die Unterlagen interessiert. Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß wir schon bald wieder auf ihn stoßen werden …« Bony verstand das zwar nicht, aber er nickte. Er war daran gewohnt, daß X-RAY-1 Dinge in einem größeren Zusammenhang sah, die ihm, Bony, erst viel später bewußt wurden. Und er hatte sich abgewöhnt, diesbezügliche Fragen zu stellen.
Larry Brent ging zum Kommissariat. Auf dem Weg dorthin stellte er einige Überlegungen an, und er entdeckte, daß er bisher einiges in einem falschen Licht gesehen hatte. Auch die Vorfälle des gestrigen Abend rollten noch einmal vor seinem inneren Auge ab. Er mußte sich eingestehen, daß sein Verdacht auf Monsieur Canol nicht aufrechterhalten werden konnte. Wenn er seine Aussage im Kommissariat machte, dann mußte er hier sehr vorsichtig sein, um kein falsches Bild zu schildern. Es gab keine Gewißheit für ihn, daß Canol wirklich mit dem Mordanschlag auf ihn in Verbindung gebracht werden konnte. Canol hatte an der Tür gestanden, die zu den Versuchsräumen mit den Käfigen führte. Ihn, Larry, aber hatte man von der Seite her niedergeschlagen. Es mußte noch jemand im Haus gewesen sein. Hatte Canol davon gewußt — oder hatte man ihn selbst überrascht? Erst die Zukunft würde diese Frage klären. Larry beschleunigte unwillkürlich seinen Schritt. Zum Kriminalkommissariat brauchte 56
er keine zehn Minuten. Lässig eilte er die breiten Stufen des alten Sandsteingebäudes hoch. Die kühle Halle nahm ihn auf. Brent orientierte sich auf einer schwarzen Tafel über die einzelnen Abteilungen. Die Mordkommission war im ersten Stock untergebracht. Larry kam zum Büro Sargets. Das Namensschild war mitten auf der Tür angebracht. Der Amerikaner klopfte an. Hinter der Tür blieb es still. Vom anderen Ende des Ganges her näherte sich ein Polizeibeamter. Larry hielt ihn an und fragte ihn, ob Kommissar Sarget schon in seinem Büro sei. »Natürlich«, erwiderte der Beamte. »Er ist morgens der erste und abends der letzte, Monsieur.« »Es öffnet aber niemand«, sagte Larry. Abermaliges Klopfen blieb wieder ohne Erfolg. Der Polizeibeamte kam näher. Er drückte kurzentschlossen die Klinke herab. »Kommissar Sarget?« fragte er leise, und er streckte seinen Kopf durch den Türspalt. Im gleichen Augenblick kam ein unterdrückter Aufschrei über seine Lippen. Der Polizist stürzte in den Raum hinein. Larry war sofort hinter ihm. Auf dem Schreibtisch lag vornübergebeugt ein Mann. Mitten in der Stirn saß das Einschußloch einer Kugel. »Kommissar Sarget«, hauchte der Polizist. Wenig später war das Büro erfüllt von den Stimmen und den Geräuschen einer Anzahl Menschen. Der Spurensicherungsdienst war da, Michel, Sargets Assistent, Dr. Pascal, der den Toten mit ernstem Gesicht untersuchte. Larry wurde vernommen, und er gab einen genauen Bericht. Kriminalassistent Michel war bleicher als sonst. »Der Tod Sargets ist für mich wie ein Schock«, sagte er leise, während er sich mit zitternden Fingern eine Zigarette anzündete. Larry Brent wurde Zeuge der Untersuchungen und der Gespräche. Er hatte es seinem Ausweis als FBI-Beamter zu verdanken, daß er länger bleiben konnte als ein Normalsterblicher, den man längst weggeschickt hätte. Man schaffte den Toten hinaus, nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren. Larry hatte Gelegenheit, ein paar Worte mit Dr. Pascal zu sprechen. »Er ist aus allernächster Nähe erschossen worden. Er hat seinem Mörder gegenübergesessen«, sagte Pascal benommen. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Sarget ist noch keine halbe Stunde tot. Daß niemand in den Nachbarzimmern den Schuß hörte, ist nur dadurch zu erklären, daß der Mörder auf der Waffe einen Schalldämpfer trug.« Der Kommissar, der den Fall übernommen hatte, trat zu der kleinen Gruppe. In seinen Augen konnte Larry den Schock und die Erregung lesen, unter der dieser Mann stand. »Ich bin gekommen, um einige Aussagen in den Fällen zu machen, die Kommissar Sarget bearbeitet«, machte Larry sich bemerkbar. »Es scheint, daß gerade diese Fälle in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem Tod stehen«, erwiderte Dr. Pascal. »Noch heute morgen, als wir den Fall Parker erörterten, erwähnte er mir gegenüber, daß er einen entscheidenden Punkt erreicht habe. Sarget wußte etwas. Das brach ihm das Genick. Die Vampir-Angelegenheit ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Bei Marc Lepoir glaubte Sarget noch an einen Unfall, bei 57
Henry Parker jedoch erkannte er den vorsätzlichen Mord. Er ist nun selbst ein Opfer des Mörders geworden, den er zu stellen hoffte. Larry pflichtete ihm bei. »Es sieht gerade so aus, als ob jemand verzweifelt versuche, seine Haut zu retten. Und er verstrickt sich dabei doch immer tiefer in den Maschen des Gesetzes.« Pascal nickte. »Sarget wußte zuviel. Auch Sie wissen etwas. Das, was Sie zu Protokoll gegeben haben, ist sehr detailliert. Achten Sie auf sich, Monsieur Brent! Einmal versagte Ihr Mörder, es ist nicht ausgeschlossen, daß er ein zweites Mal zuschlägt. Wir werden jedenfalls alles tun, um Monsieur Canol unter die Lupe zu nehmen. Doch vorerst brauchen wir einen Haussuchungsbefehl.« Die neuen Umstände waren es, die Larry Brent dazu veranlaßten, auch den nächtlichen Vorfall in Zimmer 116 zu erwähnen. Er sagte, daß es wohl besser wäre, in diesem Zimmer einmal nachzusehen. Es sei nicht ausgeschlossen, daß sich darin jemand umgesehen habe. Seinen Zusammenstoß mit dem Hageren jedoch erwähnte er nicht. Als Larry ging, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Er spürte die Gefahr, die auch ihm drohte. Sarget war nicht dazu gekommen, seine Nachforschungen weiterzutreiben. Und die Unterlagen, die er über den Vampir-Fall angelegt hatte, waren offensichtlich aus seinem Büro verschwunden. Der Mord an Sarget war ein weiteres Rätsel. Niemand hatte an diesem Morgen eine verdächtige Person in das Kommissariatsgebäude gehen sehen. War der Mörder schon im Haus gewesen? Eine andere Lösung gab es nicht. In der Nacht, so hatte man Larry erzählt, war eine Vampir-Fledermaus auf Sarget angesetzt worden. Sarget hatte rechtzeitig reagieren können. Die Kapsel, die er zur Untersuchung gegeben hatte, war von einem Elektronik-Fachmann analysiert worden. Mit einer bestimmten Anzahl von Ultraschall-Impulsen war die Fledermaus zu Sarget gesteuert worden. Da jedoch der schreckliche Bote des Mörders versagt hatte, war der Mörder persönlich gekommen. Und Sarget schien ihn empfangen zu haben wie einen Freund, ohne zu wissen, daß er in Wirklichkeit seinem Henker gegenübersaß … Larry kehrte ins >Le Petit Jardin< zurück. Noch ehe er sein Zimmer aufsuchen konnte, teilte man ihm an der Rezeption mit, daß man ihn angerufen hatte. »Mademoiselle Nicole wollte Sie sprechen, Monsieur«, sagte der diensthabende Portier. »Sie hat darum gebeten, daß Sie sofort nach Ihrer Ankunft zu ihr kommen sollen. Zum vereinbarten Ort.« Larry kniff die Augen zusammen. Er war erst in zwei Stunden mit Nicole verabredet. Warum eilte es ihr auf einmal so? »Ich danke Ihnen«, sagte Larry. Er machte auf dem Absatz kehrt, nahm draußen ein Taxi und ließ sich zum Ortsausgang bringen. Schon von weitem sah er den beigen Wagen am Straßenrand stehen. Der Agent ließ anhalten. Er zahlte und legte dann die letzten Meter zu dem wartenden Auto zu Fuß zurück. Nicole Bonnard saß hinter dem Steuer. Sie hatte ein duftiges, hellrotes Kleid an mit einem etwas zu tief geratenen Dekollete. Sie lächelte, als Larry in den Wagen stieg. Doch ihre dunklen Augen lächelten nicht mit. 58
Wortlos ließ sie den Motor anspringen. Sie wendete den Wagen auf offener Straße und fuhr der Abzweigung entgegen, die um den Berg herumführte. »Ich warte schon über eine Stunde auf Sie, Larry«, begann Nicole Bonnard mit leiser Stimme, ohne den Kopf zu wenden. »Es ist schade, daß ich Sie nicht gleich erreicht habe.« »Wir waren für später verabredet, Nicole.« Sie nickte. »Ich weiß. Es hat sich etwas verändert. Ich habe es heute nacht nicht mehr ausgehalten vor Ungewißheit. Ich habe Monsieur Canol angerufen, wollte etwas über Vater wissen, nachdem ich ihn telefonisch nicht erreichen konnte. Canol hat mich gebeten, heute morgen so früh wie möglich zu ihm zu kommen. Er müsse mir etwas sagen. Es sei wichtig für mich.« Sie fuhr wie der Teufel. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt, wenn sie in die Kurve ging. Der Weg zu Canols Anwesen lag wenig später vor ihnen. Nicole fuhr auf das schmiedeeiserne Tor zu. Sie hupte und betätigte wenig später die Klingel neben dem Sandsteinpfosten. Im Haus rührte sich nichts. Larry und Nicole gingen um den Zaun herum, nach Monsieur Canol Ausschau haltend. Sie sahen ihn nirgends. Dafür entdeckten sie die schadhafte Stelle im Gitterwerk. Sie zwängten sich hindurch. Wortlos näherten sie sich dem Haus. Nicole Bonnard sah sehr blaß aus. Sie hatte Angst, sie fürchtete irgend etwas. »Canols Stimme klang besorgt«, flüsterte sie, als sie an der Eingangstür standen. »Ich fürchte, hinter den Dingen steckt mehr, als wir uns träumen lassen.« Die Tür ließ sich nicht öffnen. Larry mußte sie aufbrechen, als niemand auf die Klingel reagierte. Sie drangen in das Haus ein. Larry erkannte auf den ersten Blick den Korridor wieder, in dem man ihn niedergeschlagen hatte. Er sah die eichenen Vitrinen, die Vasen, die Ziergegenstände und Gobelins an den Wänden. Aber er vermißte die Geräusche aus den Versuchsräumen! Er riß eine Tür auf — und prallte zurück. Er sah die leblosen Vögel, die Hunde und Schweine und die Fledermäuse in den Käfigen. Vergiftet! Canol hatte die Versuchstiere vergiftet! Im anderen Raum war es das gleiche. Sie riefen nach Canol, sie suchten das ganze Haus nach ihm ab. Er befand sich nirgends. »Aber er muß doch da sein«, machte Nicole sich bemerkbar. »Er erwartet mich doch.« Sie standen im Korridor. Larrys Lippen waren zu einem Strich zusammengepreßt. Er erinnerte sich der Skizze, die Henry Parker von diesem Haus und dem Anwesen Professor Bonnards angefertigt hatte. Da war ein Geheimstollen eingezeichnet gewesen. Es mußte vom Korridor her einen Zugang zu diesem Stollen geben. Brent suchte den Korridor ab. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Ein schmiedeeiserner Kerzenständer neben der Vitrine wurde durch eine unachtsame Bewegung von ihm berührt. Aber der Kerzenständer fiel nicht um, sondern drehte sich um seine eigene Achse. Er war auf ein Kugellager montiert, das lautlos rotierte! Erstaunt wich Larry zurück, als die Tapetentür vor ihm aufschwang. Er starrte in die dunkle Tiefe. Kühle streifte sein Gesicht, und modriger Geruch stieg in seine Nase. Steil und sehr schmal führten ausgetretene Treppen nach unten. 59
Larry rief mehrmals den Namen Ca-nols. Es hallte schaurig in dem dunklen Gewölbe wider. »Wir sehen auch unten nach. Einen Moment, Nicole. Ich bin sofort zurück!« Larry Brent erinnerte sich daran, eine Taschenlampe im Handschuhfach des Wagens von Nicole Bonnard gesehen zu haben. Er brauchte keine zwei Minuten, um sie zu holen. Die Stufen waren so schmal, daß sie nur hintereinander hergehen konnten. Feuchtigkeit tropfte von den Wänden. Nicole Bonnard fröstelte. Am Ende der Treppe hatten sie ein kellerartiges Gewölbe erreicht, das fast kerzengerade unter dem Haus entlangführte. Larry war nicht in der Lage, mit dem Licht der Taschenlampe das Gewölbe auszuleuchten. Der Weg unter ihren Füßen war zunächst noch glatt und ebenmäßig, dann wurde er holprig, und das kellerartige Gewölbe wurde zu einer Art Stollen, der notdürftig zu beiden Seiten von armdicken Balken abgestützt wurde. Der Weg wurde immer steiniger. Sie mußten jetzt zum Teil massive Felsblöcke umgehen, die sich ihnen in den Weg stellten. Larry und Nicole drangen immer tiefer in das Gewölbe ein. Nach Larrys Schätzung mußte der Tunnel etwa eine Länge von dreihundert Metern haben, ehe er unter dem Anwesen Bonnards endete. Sie hatten plötzlich das Gefühl, daß es wärmer wurde. Die Temperatur stieg an. Larry verhielt im Schritt, ließ den Kegel der Taschenlampe kreisen. Der Tunnel war hier sauberer, glatter ausgearbeitet, und er machte an dieser Stelle einen scharfen Knick nach links,. Das Phänomen des Temperaturanstiegs beschäftigte den FBI-Agenten. Achselzuckend ging er weiter. Er mußte niesen. Staub lag in der Luft. Wie Rauchschwaden zog er über ihre Köpfe hinweg. In der Tiefe der Dunkelheit ein Geräusch. Lauschend verhielten die beiden Menschen im Schritte. Das Geräusch kam näher. Ein Stöhnen. In der Dunkelheit vor ihnen bewegte sich jemand. Der Lichtkegel von Larrys Lampe ruckte hoch. Er erfaßte die Gestalt, die auf sie zuwankte, blutüberströmt, mit zerrissenen Kleidern, die von dickem, grauem Staub bedeckt waren. Der Aufschrei von Nicole Bonnards Lippen gellte in Larry Brents Ohren. »Canol!« Nicole Bonnard schlug die Hände vors Gesicht, wandte sich ab und lehnte sich schluchzend an Larrys Brust. Larry drückte sie sanft beiseite. Er ging mit raschen Schritten auf die blutüberströmte Gestalt zu. Sie wankte, fiel zu Boden. Der Verletzte röchelte. Larry war über ihm. »Es – es – geht zu Ende!« Canol hatte die zuckenden Augenlider geschlossen. Das blutverkrustete Haar klebte auf seinem Schädel. Nicole Bonnard kam näher, sie zitterte am ganzen Körper. Sie hockte sich neben den Verletzten. »Canol«, flüsterte sie erregt. »Was ist geschehen?« Ein Zucken lief über das blutende, staubverschmierte Gesicht Canols. »Nicole?« hauchte er mit ersterbender Stimme. Larry und die junge Französin warfen sich einen Blick zu. Die Augen Nicoles füllten 60
sich mit Tränen. »Ja, Monsieur Canol, ich bin's, Nicole.« Ein kaum merkliches Lächeln spielte um die bleichen Lippen des Verletzten. »Nun sind Sie ... doch noch ... gekommen. Zu spät ... paßt auf ... vorne, das Gewölbe ...« Ein Zucken lief durch den Körper. Canol atmete heftig. Seine Stimme war kaum mehr zu verstehen. »Ich wollte im letzten Augenblick noch alles zunichte machen ... doch ich bin nicht einmal bis ... nach drüben ge ... gekommen. Das Gewölbe ist eingestürzt, er muß mein Kommen bemerkt haben ... Er hatte vielleicht schon damit gerechnet – deshalb die Dynamitladung – ich muß stundenlang unter den Trümmern gelegen haben, ehe ich mich befreien konnte.« Canol öffnete die Augen. Doch er schien schon nichts mehr wahrzunehmen. Seine Augen waren stumpf und glanzlos. »Nach Ihrem Anruf, Nicole, wollte ich Sie sprechen ... wollte Ihnen beweisen, daß Ihr Vater mit den schrecklichen Dingen nichts zu tun hat... Er hätte es niemals so weit kommen lassen ...« Sein Atem flog. Der Schweiß lief in Strömen über sein Gesicht. »Ich habe manches getan, was ich nicht tun wollte ... doch ich habe mein Werk vernichtet. Die Formel für das Makropherim, das Präparat, das den Riesenwuchs erzeugt – niemand wird es nachmachen können — es war alles umsonst, alles ...« Er schien erst jetzt zu bemerken, daß Nicole nicht allein gekommen war. Er registrierte die beiden Menschen in seiner Nähe, ohne sie sehen zu können. »Ihr müßt zu Bonnards Haus — ihr müßt den Mörder stellen.« , Nicole Bonnard schluckte. »Vater? Was ist mit Vater?« Canol öffnete die Lippen. Nicole mußte sich ganz zu ihm hinunterbeugen, um die gehauchten Worte noch verstehen zu können. »Ich weiß nicht, Nicole, Bonnard ...« Sein Oberkörper bäumte sich auf. Mit letzter, verzweifelter Kraftanstrengung wollte er noch etwas sagen. Doch der Tod war schneller. Es schien, als ob seine Lippen noch das Wort >Vorsicht< hatten formen wollen, doch er konnte es nicht mehr aussprechen. Canol fiel zurück. Larry Brent zog Nicole Bonnard in die Höhe. Sie zitterte am ganzen Körper. Der FBIAgent ließ die Taschenlampe kreisen. »Wir müssen weiter«, sagte er mit rauher Stimme. »Wenn ich Canol nicht mißverstanden habe, dann ist ein Teil des Stollens durch eine Dynamitladung gesprengt worden. Aber er muß nicht vollständig zugeschüttet sein.« Sie mußten niesen. Der Staub wurde dichter, ihre Kehlen trockneten aus, er brannte in ihren Augen. Und es wurde glatter, und Larry fühlte, daß Heizröhren hinter diesen Wänden entlangzulaufen schienen. Dann türmten sich die Gesteinstrümmer vor ihnen auf, ein Berg grauroter Felssteine. In der aufgerissenen Wand entdeckte Larry Kabelleitungen, elektrische Heizdrähte und ein infrarotes, empfindliches Fernauge, das wie durch ein Wunder die Explosion überstanden hatte. Sie arbeiteten sich an dem Steinberg vorbei, unter dem Canol gelegen haben mußte. Sie sahen das verkrustete Blut auf einzelnen Blöcken, Kleidungsreste, einen Schuh … Nicole Bonnard sprach kein Wort. Sie hielt ein Taschentuch vor Mund und Nase gepreßt, um sich vor dem Staub zu schützen. Die Partikel senkten sich in diesem Stollen nur langsam zur Erde. 61
Mühselig mußten sie oft einen Stein nach dem anderen beiseiteräumen, um auf die andere Seite des Stollens zu kommen. Der Schweiß perlte von Larrys Stirn. Nicoles Haare waren aufgelöst, sie fielen über ihre Schultern und in ihr Gesicht, und sie machte sich schon gar nicht mehr die Mühe, sie zurückzustreichen. Ihr Kleid klebte wie eine zweite Haut an ihrem schweißüberströmten Körper. Sie brauchten fast zwanzig Minuten, um sich an den Gesteinstrümmern vorbeizuarbeiten. Doch auch danach gönnten Larry und Nicole sich keine Pause. Sie beschleunigten ihren Schritt im Gegenteil noch. Der Stollen sah jetzt eher aus wie ein weißgetünchter, glatter Gang. Tropische Wärme hüllte sie ein. Immer wieder sah Larry Kontaktleitungen der elektrischen Heizröhren aus der Wand ragen. Und er entdeckte auch in regelmäßigen Abständen die dunklen Knopfaugen der infrarotempfindlichen Linsen, die diesen Gangabschnitt überwachten. Ratten huschten an ihren Füßen vorbei, und sie hörten das leise Rascheln über sich. Larry schwenkte die Lampe herum, und der Lichtstrahl erfaßte die Decke über ihnen. Über die Lippen Nicole Bonnards kam ein unterdrücktes Stöhnen. Unwillkürlich drückte sie sich enger an ihren Begleiter. Ihr Herz pochte, als wolle es in ihrer Brust zerspringen. So weit der Lichtstrahl reichte, so weit ihre Blicke in dieser Dunkelheit vordringen konnten — Fledermäuse, riesige Fledermäuse. Sie hingen an extra angefertigten Gestellen an den Wänden und an der Decke. Ein Himmel, der aus riesigen, grauen, atmenden Todesboten bestand, spannte sich über ihnen. »Deshalb also die Heizung«, flüsterte Larry kaum hörbar. »Vampir-Fledermäuse, schon mit dem von Canol entwickelten Präparat behandelt, sind auf die tropische Wärme ihrer Heimat angewiesen. Hier wird das tropische Klima künstlich erzeugt.« »Sie werden uns töten«, stieß Nicole Bonnard erregt hervor. Ihr Blick flackerte. Sie starrte auf die lebende Mauer, die sie umgab, die sich bis über ihre Köpfe hinweg fortsetzte. »Wir werden hier niemals lebendig rauskommen.« Wortlos ging Larry weiter, langsam, um die Tiere nicht zu erschrecken. »Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Wir haben eine Chance, Nicole, eine verschwindend kleine zwar, die sich auf eine Vermutung stützt, aber es ist immerhin eine Chance.« — Seine Stimme war nur ein Hauch. Er machte Nicole Bonnard auf die münzgroßen Kapseln aufmerksam, die einige der Vampire auf dem Hinterkopf sitzen hatten. Andere Fledermäuse hingegen waren nicht in dieser Weise gekennzeichnet. »Die Kapseln sind Empfänger, Nicole. Diese Fledermäuse müssen wir fürchten. Ein Ultraschall-Impuls kann sie aktivieren.« Er nahm, während er diese Worte sprach, unwillkürlich seine Waffe aus der Halfter. »Die anderen dagegen sind harmlos, harmlos für uns jedenfalls. Unter der einen Bedingung: daß weder ich noch Sie die Blutgruppe A tragen. Sie sind auf diese Blutgruppe dressiert und eingestimmt, und sie werden uns anfallen, wenn wir Träger dieser Blutgruppe sind. Von mir weiß ich, daß ich die Blutgruppe 0 habe. Sie, Nicole?« »AB. Es könnte mir also, wenn Ihre Theorie stimmt, nichts passieren.« Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. »Was wissen Sie, Larry?« »Zu wenig, um darüber zu sprechen. Doch ich hoffe, schon bald mehr zu wissen.« Über ihnen raschelte und bewegte es sich, Unruhe entstand. Larry Brent senkte den Lichtkegel und schirmte ihn ab. Sie erreichten das Stollenende. Zwei schmale Treppenstufen führten seitlich in eine Nische. Eine schwere Holztür beendete ihren Weg. Sie ließ sich mühelos öffnen. 62
Ein kellerähnlicher Raum breitete sich vor ihnen aus. Wieder eine Treppe, die nach oben führte. Der Lichtkegel der Taschenlampe riß die morschen Treppen, die alten Möbel und den Unrat aus der Finsternis. »Das müßte das Haus Ihres Vaters sein, Nicole«, meinte Larry. Es war das Anwesen Bonnards. Wenig später hatten sie Gewißheit. Sie bewegten sich durch die stillen, verlassenen Gebäude. Tageslicht fiel durch die Ritzen der schiefen Fensterläden, durch die halbgeschlossenen Türen. Larry ging zum Ausgang. Er konnte auf den fast quadratischen Innenhof hinaussehen. Er erblickte den alten Brunnen und sah die verhältnismäßig frischen Reifenspuren auf dem harten Sandboden. Er ging hinaus. Die Wärme legte sich wie ein Mantel über ihn. Doch in der Ferne, im Westen, erkannte Larry dicke, schwarze Gewitterwolken, die sich zusammenballten. Ein heftiger Wind kam auf. Dumpfes Grollen näherte sich. Der Brunnen war abgedeckt. Aber eine der breiten, abgesägten Bohlen hatte sich verschoben. Larry warf unwillkürlich einen Blick durch den breiten Spalt, in den das grelle Sonnenlicht eindrang. Er mußte einen zweiten Blick riskieren. Und dann warf er mit hastiger Bewegung die Bohlen von dem Brunnenrand. Nicole Bonnard kam mit eiligen Schritten näher. Larry sah die reglose Gestalt auf dem Brunnenboden. Der Brunnen war nicht tief. Er war von Moos, Gras und Steinen bedeckt. Die Gestalt im hellen Anzug lag auf dem Rücken. Der Blick war gen Himmel gerichtet, die starren, gebrochenen Augen weit aufgerissen. Nicole Bonnard wich mit einem Aufschrei zurück. Larrys Miene wurde hart. Er hatte nur ein einziges Foto dieses Mannes gesehen, und doch erkannte er ihn auf den ersten Blick wieder. Der Tote war — Professor Bonnard! »Ich habe geahnt, daß Ihr Vater nicht mehr am Leben ist, Nicole, aber ich habe gehofft, daß wir nicht so hart mit der Tatsache konfrontiert würden.« Larry zog sie vom Brunnen weg. Nicole Bonnard ließ sich leiten wie eine Marionette. Beruhigend sprach Larry auf sie ein, doch er wußte, daß alles, was er sagte, nur ein schwacher Trost sein konnte. Nicole Bonnard mußte den Schlag allein überwinden. Regentropfen klatschten hart und rhythmisch auf den trockenen Boden und wurden von ihm wie von einem Schwamm aufgesaugt. »Warum?« schluchzte Nicole, »warum mußte dies geschehen?« Sie gingen in das Haus zurück. Der Regen trommelte auf das undichte Dach, gegen die Fensterläden, und er drang in Strömen durch die schadhaften Stellen im Dach. Ein Donnerschlag ließ das Gemäuer erzittern, Blitze zuckten über den schwarzgelben Himmel. Das Unwetter brach mit Gewalt los. Sturm und Regen wurden durch die Fensterläden gepeitscht. Staub wirbelte auf. Larry und Nicole suchten schützend die tiefer gelegenen Räume auf. Immer wieder sah sich Larry suchend um. Noch immer hielt er die Waffe in der Hand, bereit, sofort zu reagieren, wenn es notwendig sein sollte. Er hatte mit einem Gegner gerechnet. Doch dieser Gegner trat nicht auf. Hielt er sich verborgen, wartete er auf einen günstigen Zeitpunkt? Larry ließ in seiner Aufmerksamkeit nicht nach. Systematisch durchsuchte er die unten 63
liegenden Gänge und Räumlichkeiten, die im Gegensatz zu den anderen Räumen einen geordneten und sauberen Eindruck machten. Hier unten hatte jemand gewohnt und gearbeitet. Und dann entdeckte er die weiße Tür. Sie führte in das Laboratorium. Wie ein Schlafwandler ging Larry an den Regalen und Gestellen vorbei, warf einen Blick auf die Schaltanlagen und Skalen und auf die Fernsehschirme. Er durchschaute das System, und er verstand auch, was die kleinen Hebel zu bedeuten hatten, die in einer langen Reihe auf ein schmales Schaltbrett montiert waren. Mit diesen Hebeln wurden die Fledermäuse aktiviert, wurden die Ultraschall-Impulse abgestrahlt, die von den kapselartigen Empfängern auf den Schädeln der Tiere aufgenommen wurden. Er machte die Probe aufs Exempel, und er sah auf einem Fernsehschirm, wie sich vier, fünf Vampire in der Tiefe des Gewölbes regten und aufflatterten. Nicole Bonnard schüttelte benommen den Kopf. Sie faßte sich an die Stirn. »Ich wußte nicht, daß Vater sich eine so ausgedehnte Forschungsstatte geschaffen hat. Er sagte mir zwar, daß er nach seiner Ägyptenreise Forschungen treiben wollte, aber daß sie ein derartiges Ausmaß annehmen wurden … Vater hatte etwas zu verbergen. Er beschäftigte sich mit etwas Verbotenem, aber ich weigere mich zu glauben, daß er ein Morder war.« Larry Brent legte seinen Arm um die Schultern Nicoles »Es ist oft ein kleiner Schritt, vom Pfad des Gesetzes abzuweichen«, sagte er, während seine Blicke auf die beiden inaktiven Fernsehschirme gerichtet waren Er hatte gerne erfahren, was über diese Schirme beobachtet werden konnte, doch es gelang ihm nicht, sie einzuschalten »Ihr Vater ist davon abgewichen « »Aber Vater ist tot, und er starb nicht erst vor einer Stunde Er muß seit Tagen in diesem Brunnen da draußen liegen. Wer hat Canol –« Da hörte sie plötzlich das Geräusch. Es klang wie ein fernes, fremdartiges Singen. Es kam aus dem Haus, ganz in der Nähe. Sie eilten aus dem Labor hinaus und näherten sich der Tür, hinter der sie die Geräusche vermuteten. Vorsichtig öffnete sie Larry. Er blickte in einen kleinen Raum, der wie ein modernes Wohnzimmer eingerichtet war. Vor einer großen, breiten Glaswand stand ein bequemer Sessel, ein Rauchtisch. Im Ascher lagen zwei zerdruckte Kippen, und der Geruch abgestandenen Rauches erfüllte das Zimmer. Und hinter der Glaswand spielte sich – wie auf einer Leinwand – eine eigenartige Szene ab. Larry sah die exotische Fremde in ihrem farbenprachtigen Gewand. Sie saß auf einer goldverzierten Bettstatt. Die Wände, die sie umgaben, waren mit seltsamen, altagyptischen Zeichen bedeckt. Auf einem kleinen flachen Tischchen lagen Schmuckgegenstande, eine schwere goldene Kette, im Vordergrund stand eine herrliche Vase. Larry und Nicole hatten das Gefühl, in das Privatgemach einer reichen ägyptischen Prinzessin zu sehen. Für Larry Brent erschien alles glasklar. Er wollte etwas sagen, doch eine Bemerkung Nicoles ließ ihn im Ansatz verstummen. »Sie singt leise vor sich hin, aber sie beachtet uns nicht«, flüsterte sie. »Auf ihrer Seite ist diese Wand, durch die wir sehen, ein Spiegel, Nicole«, erwiderte Larry Brent. »Diese Ägypterin«, er betonte jetzt jedes Wort ganz genau, »sieht so jung aus wie Sie, Nicole.« Er konnte nicht verhindern, daß seine Stimme etwas zitterte. Auch er 64
konnte sich der Faszination dieses Augenblicks nicht entziehen. »Und doch ist sie ein paar Jahrtausende älter. Sie lebt vom Blut jener Menschen, auf die Canol und Ihr Vater die Vampire angesetzt hatten.« Nicole bewegte sich nicht. Ihr Körper schien unter einem Schock stocksteif zu werden. »Das ist, was Canol uns noch sagen wollte, aber er kam nicht mehr dazu«, fuhr Larry fort. »Und er wollte.« Weiter kam er nicht. Da war die Stimme hinter ihnen. »Ich habe mich etwas verspätet. Aber ich bin doch wenigstens nicht zu spät gekommen. Ich habe gewußt, daß ich Sie hier treffen würde, aber ich habe nicht angenommen, daß Sie auch Besuch mitbringen würden. Das erleichtert meine Situation, Monsieur Brent! Auf diese Weise kann ich einen Mitwisser mehr auschalten!« Larry wirbelte herum Er starrte in den Lauf einer Pistole, auf der ein Schalldampfer saß. Dann hob er den Blick. Larry stand – Dr Pascal gegenüber. »Lassen Sie die Waffe fallen, Brent.« Pascals Stimme war messerscharf. Larry gehorchte. »Ich hatte – seit der Mord an Sarget passiert war – vermutet, daß unser geheimnisvoller Mörder nur in seiner Nähe zu suchen war. Aber ich hatte niemals auf Sie getippt. Jetzt allerdings wird mir vieles klar.« »Sie wären vielleicht schon früher draufgekommen, wenn Sie gewußt hätten, daß Professor Bonnard ein Halbbruder von mir war, Brent! Ich stammte aus der ersten Ehe der Mutter. Ich hatte in meiner Jugend wenig Kontakt zu Bonnard. Wir lernten uns erst viel später kennen, und Bonnard wandte sich auch an mich, als er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Während einer Expedition durch Ägypten war er auf ein unbekanntes Grab gestoßen. Er entdeckte eine Mumie, und er stellte in dieser Mumie noch Lebensspuren fest. Das mag Sie merkwürdig berühren, doch das gibt es tatsächlich. Die alten Ägypter waren Künstler der Einbalsamierung. Die Zellen waren frisch, es gab sogar noch flüssige Blutreste in dem Körper der Mumie. Bonnard kam auf eine ungeheuerliche Idee. Er wollte versuchen, mit den heutigen Mitteln der Technik und der Medizin diese Mumie zum Leben zu erwecken. Mit der Yacht eines Freundes, die in Alexandria vor Anker lag, schaffte er die Mumie nach Europa. Auf Umwegen gelangte sie nach hier. Was lag für Bonnard näher als dieses Versteck, das jedermann für unbewohnt hielt! Schon lange Zeit vorher hatte Bonnard sich damit beschäftigt, abgestorbene Zellen wieder aufzufrischen. Seine Tierversuche waren zum Teil erfolgreich verlaufen. Er wollte sein Werk krönen mit dieser Mumie, dem Leichnam einer alten ägyptischen Prinzessin, die als junge Frau gestorben war. Doch da stellten sich ihm Schwierigkeiten in den Weg. Die Mumie sprach auf normale Blutkonserven nicht an. Bonnard benötigte Frischblut. Die Ägypterin hatte Blutgruppe A. Canol stellte sich zur Verfügung. Er war der erste freiwillige Spender. Zu diesem Zeitpunkt stieß ich auf Bonnard. Ich erfuhr von seinen Versuchen. Er brauchte einen verschwiegenen Mitarbeiter, und er glaubte, diesen in mir gefunden zu haben. Canol wußte nicht, daß ich mit Bonnard zusammenarbeitete. Er hat es bis zu seinem Ende nicht erfahren, obwohl er neugierig geworden war. Bonnard war von seinem Experiment fasziniert, doch er sah ein, daß Canol als Spender nicht ausreichte. Und er selbst konnte sich nicht an die Öffentlichkeit wenden. Niemand 65
durfte und sollte wissen, woran er arbeitete. Er war besessen, er glaubte fest daran, einen Menschen zum Leben zu erwecken, der vor mehr als viertausend Jahren existiert hatte. Von einem Menschen zu erfahren, wie die Zeit damals wirklich war, ein Augenzeugenbericht gewissermaßen. Das Wissen, das Hunderte von Historikern über die ägyptische Geschichte zusammengetragen hatten, würde nichts sein im Vergleich zu dem, was er dazu beitragen würde.« Dr. Pascals Augen leuchteten in einem fiebrigen Glanz. »Bonnard brauchte also mehr Spender. Canol kam auf den Gedanken, seine Fledermäuse einzusetzen. Seine Zucht war einmalig. Ich war zunächst entsetzt, als ich erkannte, was der Biologe da geschaffen hatte. Er stimmte einen Vampir durch Eigenversuche auf seine Blutgruppe ein. Und damit begann es. Immer mehr Desmotidae wurden einsatzbereit. Zur gleichen Zeit arbeitete Canol auch noch an der Entwicklung der Ultraschallkapsel, einem Empfänger, der die Fledermäuse mit Bestimmtheit auf den besten Spender ansetzen würde. Ich nahm diese Kapseln später, um mit Gewißheit jene Personen auszusuchen, die mir gefährlich werden konnten.« Ein ungeheuerlicher Donnerschlag folgte den Worten Dr. Pascals. Das Gemäuer erbebte. Es folgte Donner auf Donner. Das Unwetter entlud sich mit aller Macht. Und jetzt fiel kein Tropfen Regen mehr. Ein trockenes Gewitter, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr aufgetreten war, zog über das Land. »Sie drängten sich auch vor, als Bonnard aufgeben wollte, nicht wahr? So war es doch?« fragte Larry hart. »Bonnard wollte aufgeben, als er bemerkte, wohin es führte, unschuldige, unwissende Menschen zu Opfern seiner Versuche zu degradieren. Sie zerstritten sich. Bei dieser Gelegenheit töteten Sie den Professor.« Pascal lachte höhnisch, und seine Mundwinkel verzogen sich. »Er war von Kindheit an derjenige, der begünstigt war. Er wurde unter besseren Verhältnissen groß, er erhielt die bessere Ausbildung. Ja, ich tötete ihn! Ich wollte weitermachen. Warum aufgeben, wenn sich der Erfolg abzeichnete? Bonnard war vom Weg abgekommen, so oder so, es gab kein Zurück mehr für ihn. Der Tod war für ihn eine Erlösung.« Nicole Bonnard schluchzte. »Er lügt, Larry. Er lügt!« Ihre Stimme überschlug sich. »O nein, er lügt nicht, mein Kind!« Dr. Pascal schien es Freude zu bereiten, Nicole Bonnard zu quälen. »Es ist nicht schlecht, wenn du die Wahrheit über ihn erfährst – und es ist nicht schlecht, daß du auch einmal den Mann kennenlernst, der das Werk deines Vaters fortsetzt.« »Es wird keine Fortsetzung geben, Pascal«, stieß Larry Brent hervor. »Sie schaffen es nicht allein. Sie haben sich zuviel zugemutet. Ihr erster Fehler war, Marc Lepoir zu töten. Ein Unfall – aber doch ein Mord. Sie probierten die Kapseln aus, sie gaben einen falschen Befehl, und wollten den Befehl wieder rückgängig machen. Die Fledermaus fiel Lepoir an, und sie tauschte das falsche Blut aus, das sie zuvor gesaugt hatte. Lepoir starb daran. Henry Parker mußte sterben, weil er Ihnen auf der Spur war, Canol wurde ausgeschaltet, weil er Sie gefährdete. Und Kommissar Sarget mußte sterben, weil er anfing, sich über bestimmte Dinge Gedanken zu machen. Mord, Mord, Mord, Pascal! Und noch kein Ende?« »Sie haben erstaunlich viel begriffen, Brent. Ich habe Sie von Anfang an für einen gefährlichen Mann gehalten.« Dr. Pascal lachte. »Aber was nützt Ihnen Ihre Weisheit? Es gibt kein Entkommen, Brent! Für Sie nicht - und für Mademoiselle Bonnard auch nicht.« 66
Sein Blick schweifte ab, und er blickte durch die Panoramascheibe in den Raum, in dem die Ägypterin lebte. »Sie ist soweit, daß sie zu sprechen anfängt. In wenigen Tagen werde ich auf dem Gipfel sein.« »Bis dahin werden Sie noch viele Fledermäuse ausschicken müssen, Pascal«, entgegnete Larry Brent. »Ja, das werde ich. Seit sie atmet, muß alle zwei Stunden ein Blutaustausch vorgenommen werden. Bonnard glaubte noch, mit einer einmaligen Infusion davonzukommen. Als er bemerkte, wie die Dinge wirklich liefen, wollte er aufgeben. Er war ein Narr. Er versäumt den größten Augenblick seines Lebens.« Seine Augen schienen Larry und Nicole zu durchbohren. »Schade um Sie, Brent. Aber ich kann keine Ausnahme machen. Ich diene der Wissenschaft.« Seine Stimme klang fast schrill. Über Larrys Rücken lief ein Schauer. Aus den Augen Pascals leuchtete der Wahnsinn. Pascal hob die Waffe, er zielte auf Larry – und drückte ab.
Auf dem holprigen Weg zu Bonnards Anwesen näherte sich ein Auto. Es war stockfinster, der Himmel wogte unter heftigen Windböen. Blitze zerrissen die Wolken und stachen wie zerfetzte Geisterfinger aus dem Dunkel hervor. Aber nur vereinzelt fiel ein Tropfen. Bony saß verbissen hinter dem Steuer des Leihwagens. X-RAY-1 saß neben ihm. Das Gesicht David Gallons alias X-RAY-1 wirkte angespannt. Er war von einer unerklärlichen Unruhe erfüllt. Es trieb ihn förmlich zum Gehöft Bonnards. »Ich fühle die Gefahr, Bony. Schneller! Sie kommt aus dem Haus da vorn!« Er konnte das Haus nicht sehen, und doch konnte er es bezeichnen. »Menschen sind in Gefahr, Bony.« Der knochige Diener drückte das Gaspedal herab. Der dunkle Leihwagen schoß nach vorn. Die Federn knirschten, als das Auto durch das nachfolgende Schlagloch fuhr. Im gleichen Augenblick schrie Bony auf. Der Himmel vor ihm schien sich zu spalten. Der Blitz rasten kerzengerade zur Erde herab, blendete den Fahrer. Die Helligkeit war so grell, daß selbst der Blinde zusammenzuckte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ließ die Luft erzittern. Der Blitz war mitten in das Gehöft eingeschlagen. Wie eine Fackel loderten die Flammen in die Höhe.
Pascal wurde förmlich herumgerissen. Der Schuß löste sich, die Kugel drang in die Decke. Im gleichen Augenblick hatte Larry das Gefühl, als ob ein Erdbeben das morsche Haus zerreißen wollte. Die Panoramascheibe zersprang. Mit einem Aufschrei stürzte Pascal in den Raum der Ägypterin. Und dann war auch das Feuer schon überall. Flammenzungen leckten über die mit Stoff überzogenen Wände, ergriffen die Bettstatt. Die Ägypterin wurde vor den Augen 67
Larrys zu einer brennenden Fackel. Sie schrie gellend auf und stürzte bewußtlos zu Boden. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Sie wurde zu Asche, zu Staub, in einer unheimlichen Schnelligkeit. Auch Pascals Kleider fingen Feuer. Schreiend wälzte er sich am Boden. Das morsche, ausgetrocknete Holz brannte wie Zunder. Im Nu stand der Raum in hellen Flammen. Funken sprühten, brennende Balken stürzten herab. Larry begann zu laufen. Er rannte durch das Meer von Feuer, das sie plötzlich umgab, und riß Nicole Bonnard mit sich. Der Rauch biß in seine Augen, so daß er kaum noch etwas sehen konnte. Halb blind versuchte er, sich ins Freie zu retten. Doch er hatte die Orientierung verloren. Er wich hier instinktiv einer umstürzenden Wand aus, da einem herabfallenden Balken. Feuer überall. Eine Feuersbrunst, die sich rasch ausbreitete, und die in dem trockenen, morschen Holz reichliche Nahrung fand. Er erreichte das Freie, ohne zu wissen, wie. Halb ohnmächtig torkelte er in den Hof hinaus. Und dann stürzte er zu Boden. Er merkte nicht mehr, wie hilfreiche Hände nach ihm griffen, ihn und Nicole Bonnard in einen Wagen zerrten. Sie waren beide bewußtlos.
Als er aufwachte, erblickte er die gewohnten Umrisse seines Hotelzimmers. Er richtete sich im Bett auf. Wie kam er hierher? Er fühlte die Bewegung neben sich. Nicole Bonnard saß an seinem Bett. Sanft drückte sie ihn zurück. »Wie ist alles gekommen, Nicole? Ich …« »Ein zufällig vorbeifahrender Autofahrer hat uns aufgelesen, Larry. Es ist alles in bester Ordnung.« »Die Polizei, Nicole. Sie muß unterrichtet werden. Sie muß wissen, daß Dr. Pascal …« »Auch das ist erledigt, Larry. — Ich denke, Sie wollten Urlaub machen?« Brent nickte. »Ja, deswegen bin ich eigentlich nach Frankreich gekommen.« »Sehen Sie, und genau das sollen Sie jetzt tun.« Nicole beugte sich zu ihm herab. Ehe er es verhindern konnte – aber wollte er es eigentlich? – fühlte er ihre warmen, feuchten Lippen auf seinem Mund …
Die Urlaubstage währten nicht lange. Dann mußte Larry Brent Abschied nehmen. Ein Telegramm traf bei ihm ein: >erwarten dringend ihre rückkehr — stop — fbi einsatzleitung< Was hatte das zu bedeuten? Im Büro seines Chefs in Amerika erfuhr er es achtundvierzig Stunden später. Sein Vorgesetzter hatte die Personalakte Brents vor sich liegen. Larry hörte, daß er aus 68
den Diensten des FBI entlassen würde. Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Warum?« »Die PSA interessiert sich für Sie, Larry. Warum, weshalb? Da fragen Sie auch mich zuviel.« »Die PSA?« Larry Brent dehnte die fremde Bezeichnung. »Wer oder was ist das?« Sein Gegenüber lächelte. »Über die PSA weiß kaum jemand etwas Genaues. Es handelt sich um eine geheime Sonderabteilung, die sich auf eine bestimmte Art von Verbrechen spezialisiert hat. Sie sind ein Glückspilz, Larry! Sie sind einer der wenigen Menschen, die — vielleicht — fähig sind, unter besonderen Bedingungen das Bestmögliche zu leisten. Ich wünsche Ihnen auf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute, Larry Brent!« Der entlassene FBI-Agent wurde von einem Buick abgeholt. Wie benommen saß Brent hinter dem Fahrer. Larry wußte, daß er auch in Zukunft für Recht und Gesetz kämpfen wurde, aber unter anderen und weit gefährlicheren Bedingungen. Er ahnte nicht, daß zwei Menschen Zeuge seiner Abfahrt wurden. In einer Seitenstraße stand ein weißer Ford-Mustang. Hinter dem Steuer saß der Chauffeur. Groß, hager, fast dürr. Bony. Dahinter wiederum ein blinder Mann. Der Blinde fühlte die Stimmungsausstrahlung Larry Brents. X-RAY-1 lächelte gedankenversunken. Ein spitzbübischer Zug war in seinem väterlichen Gesicht zu erkennen. »Er ist aufgeregt wie ein großer Junge«, sagte er. »Wenn er wüßte, was ihn wirklich erwartet. Er wird überrascht sein, daß es noch eine härtere Schule als die des FBI und der CIA gibt. Er wird sich wundern über die Tests, die er durchmachen muß. Man wird seinen Geist und seinen Körper härtesten Bedingungen aussetzen. Er wird in die Geheimnisse der Aikido- und Taekwon-do-Technik eingeführt. Ich habe das Gefühl, Bony, daß er alle Tests und Prüfungen besteht. Ich glaube, wir haben in ihm einen guten Mitarbeiter gefunden, den wir in die Reihen der X-RAY-Agenten aufnehmen können. Larry Brent wird seinen Weg machen …« ENDE
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Die Reise durch das
DÄMONEN-LAND geht weiter!
Manche historischen Wahrheiten sind schrecklicher, als ein Schriftsteller es je erfinden könnte. Wir lesen von den Greueln eines Vlad Dracula in Bram Stokers Roman und wissen, daß dies nur zum Teil Fiktion ist. Wir schaudern bei den Beschreibungen der Inquisition und können fast nicht glauben, daß es wirkliche lebende Menschen waren, die unschuldige Frauen als Hexen quälten. Und wir erfahren von Elisabeth Bathory, der Blutgräfin. Auch sie hat tatsächlich gelebt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ihre Taten sind furchtbar – und in alten Dokumenten wörtlich überliefert. Ein außergewöhnliches Thema, aus dem Hugh Walker einen seiner besten und dunkelsten Romane gemacht hat. Die Blutgräfin kehrt zurück - und mit ihr all das Grauen, das längst vergessen schien. Sie können dabei sein. Doch eine Warnung sei Ihnen mit auf den Weg gegeben: Sie werden starke Nerven brauchen!
DIE BLUTGRÄFIN von Hugh Walker
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