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Sean Beaufort
Das Grauen der Nacht
Der Anführer der Küstenpiraten spielte mit der Spitze seines Krises...
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Sean Beaufort
Das Grauen der Nacht
Der Anführer der Küstenpiraten spielte mit der Spitze seines Krises und dachte an das Meer, an den Kampf, die Beute und die vielen Schiffe der Fremden, der Weißhäutigen, die den Reichtum vieler Küsten, vieler Inseln und auch seiner Heimat davonschleppten - in Länder, die er nie kennenlernen würde. Je länger er nachdachte - und er überfiel schon seit Jahren die Fremden - , desto mehr stieg seine Wut. Entweder starben er und seine mutigen, treuen, rücksichtslosen Kerle. Oder sie wurden zu reichen Männern. Er richtete sich auf und knurrte heiser wie ein gereizter Hund: „Auch das nächste Schiff, das hier vorbeisegelt, wird seinen Hafen nicht mehr erreichen. Tod den Fremden!“ Und nach einem Atemzug fügte er hinzu: „Und für uns die Beute ...“ Die Hauptpersonen des Romans: Djongrang – der Kapitän einer Piraten-Balor und dreier Piahiap-Boote wittert fette Beute, als der Ausguck eine tiefgeladene Fleute sichtet. Pieter Heemskerk – der Kapitän der „Vlissingen“ sieht Holland nicht weder– ein malaiischer Speer tötet ihn. Frans z'Waele –sein Erster Offizier wehrt erbittert die Angriffe der Djongrang-Piraten ab, aber dann strandet die „Vlissingen“. Philip Hasard Killigrew – als der Seewolf ein halbverbranntes Wrack sichtet, fühlt er sich verpflichtet, den Überlebenden zu helfen.
1. Sungh Ay drehte langsam den Kopf. Die großen, fast schwarzen Augen schienen plötzlich zu leuchten. Aber es waren die Strahlen der Nachmittagssonne, die bernsteinfarben in seine Augäpfel stach. Sunghs bloße Sohlen standen auf der obersten Sprosse der winzigen Bambusplattform, die, unsichtbar von See aus, sich in der Krone eines uralten, mächtigen Teakbaumes versteckte. Drei kleine Segel konnten Sungh Ays scharfe Augen entdecken. Sie bewegten sich auffallend langsam vor der Nordspitze der Insel auf Nusa Penida zu. „Faule, arme, stinkende Fischer“, sagte er, schlug nach Stechmücken und spuckte zwischen den dicken, dichtbelaubten Ästen hindurch. Der Baum hatte seine riesigen Wurzeln weit nach allen Seiten ins Erdreich gekrallt. Geradeaus, wo eine Felswand von der schäumenden Brandung umspült wurde, dümpelte die Balor am Anker und
zwei Landleinen. Eine lange Planke knarrte zwischen dem Felsen und dem Heckschanzkleid. Die drei schlanken Piahiap-Boote waren halb auf den Sand gezogen. Zwischen den Resten der Feuer schliefen einige der Männer. Sie waren satt und hatten die Vorräte des Palmweins halbiert. Djongrang kauerte im Bug der Balor und zog einen flachen Stein über die breite Schneide des Raumessers. Ab und zu tauchte er den Stein in das Wasser der Tonschale und schliff die Schneide, die schon scharf wie ein Fluch war, ununterbrochen weiter, mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen seines muskulösen Armes. Hin und wieder warf der Kapitän einen langen Blick hinauf zum Ausguck. Sungh Ay kletterte die Bambusleiter wieder hinunter und setzte sich auf die Matten, die über der Plattform aus dicken Bambusstücken lagen. Es blickte auf die See hinaus. Das riesige Gestirn näherte sich dem dunklen Schattenriß der Insel, die
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vor der westlichen Spitze Komodos lag. Über der Kimm flammten die riesigen, lang gezogenen Wolken auf. Langsam verging die Zeit. Eine halbe Stunde später hörte Sungh Ay die Stimme des Mannes, &m die „Perle der Brandung“ gehörte. „Nichts entdeckt, Ay?“ Der Ausguck beugte sich weit vor, winkte träge und rief zurück: „Nur Fischer! Keine Beute, Djongrang! Nicht heute nacht.“ „Warte ab. Auf unserer Seite ist die Zeit. Wir können warten. Die Weißhäutigen haben Eile. Schlaf nicht ein. Ich schicke dir in einer Stunde Batak. Er sieht mehr als du.“ Ay lachte und antwortete: „Aber nur im Dunkeln, Kapitän.“ Djongrang fuhr fort, seine Waffe zu schärfen, die fast so lang wie sein Arm war. Die Bucht, in der die Balor und die drei Boote versteckt waren, war winzig. Aber sie stellte einen idealen Schlupfwinkel dar, auch wenn die Besatzung größer gewesen wäre. Mit sechsunddreißig Männern waren sowohl die beiden schnittigen Boote als auch die Balor gerade richtig bemannt. Auch alle Waffen, Werkzeuge und ebenso die Geräte, die man brauchte, um auf See als Fischer zu gelten, wurden richtig geführt. Fünfhundert Schritte landeinwärts hatte eine Dschungelquelle einen winzigen See gebildet, der frisches Süßwasser lieferte. Was man sonst brauchte, Früchte und Wild, gab der Wald her. Aus dem Inneren der Insel wagte sich niemand in diesen abgeschiedenen Teil. Die wenigsten Bewohner Komodos kannten die Bucht. Manchmal hatte sich ein einzelner Fischer vor dem Sturm hierher geflüchtet. Als die malaiischen Piraten durch einen Zufall die Bucht im Schatten der hohen Bäume gefunden hatten, entdeckten sie Bootsplanken, Reste von Feuern und Fischgräten, aufgeschlagene Kokosnüsse und verwickelte Leinen in einem Gewirr von Tang. Sungh Ay blinzelte wieder in dem grellen Licht. Die Fischerboote waren nach rechts
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weitergezogen. Der riesige Ausschnitt des Meeres lag leer da. Auf den ruhigen Wellen leuchteten die Funken des Sonnenlichts, das sich langsam dunkler zu färben begann. In drei Stunden würde nach einer kurzen, mit riesigen Wolkenbergen aufflammenden Abenddämmerung die Nacht einsetzen. „Aber heute nacht kann ich ruhig schlafen“, murmelte der Ausguck. Er packte den Wassersack, nahm einen langen Schluck und rieb sich mit ein paar Handvoll Wasser die Stirn und die Augen ab. Er zwinkerte und versuchte, auf der riesigen, fast unerträglich hellen Fläche das zu erkennen, was sie alle sehen wollten und auf das sie warteten. Beute. Die Schiffe, die sich von den reichen, fernen Molukken-Inseln, von den Goldbuchten und Schatzküsten näherten und mit gefüllten Laderäumen auf dem langen Weg in ihre Heimatländer zurücksegelten. Sungh Ay dachte das gleiche wie der Kapitän der „Perle“. Noch ein halbes Dutzend Jagden auf die Fremden, noch zwei oder drei Portugiesen oder Holländer mit vollen Truhen und schweren Säcken - und jeder der lauernden Piraten war in seinem Heimatdorf ein Fürst, dessen Reichtum sprichwörtlich sein würde. Sunghs Gedanken an Gold und Sklavinnen, die zur Musik tanzten, wurden unterbrochen. Batak kletterte am Stamm und den schmalen Leitern aus Bambus und Lianenknoten aufwärts. Die Plattform schwankte, als die erste Brise des Abendwindes den Baum traf und die Blätter rascheln ließ. „Ich bin's, Ay“, sagte Batak und zog sich auf die Plattform. Er rückte das zusammengedrehte Tuch, das er über der Stirn trug, zurecht. „Nichts zu sehen?“ Ay grinste ihn an. Bataks Arm schlüpfte aus der Schlinge, an der er einen schlanken Krug um die Schulter hängen hatte. „Nichts. Keine fetten Holländer.“ „Einen Schluck? Vom Faß der toten Ungläubigen?“ „Immer. Ich brauche meine Augen nicht mehr offen zu halten“, sagte Sungh und
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trank mit kleinen Schlucken aus dem kühlen Gefäß. „Ich glaube nicht, daß du heute etwas entdeckst. Ich bin hungrig.“ „Am Feuer ist genug für zwanzig Hungrige“, sagte Batak und nahm ihm den Krug ab. „Alles frisch.“ „Ist gut.“ Sie nickten einander zu. Sungh Ay warf seinen Wassersack über die Schulter und kletterte hinunter. Als er in den warmen Sand sprang, schaute er sich schweigend um. Außer ihm, dem Kapitän und Batak schienen sich alle anderen Männer in den Schatten verzogen zu haben. Aus verschiedenen Richtungen hörte Ay tiefe Atemzüge und rasselndes Schnarchen. An die zwölf Bambushocker umstanden, tief in den Sand eingedrückt, die schwärzliche Glut unter dem Kessel. Rechter Hand steckten im nassen Sand, über der Hochwasserlinie, zwei Dutzend große Tonkrüge. Es war der Frischwasservorrat für die Besatzungen. Djongrang führte, was das Lager, die Schiffe und das Segeln betraf, eine strenge Herrschaft. Sonst konnten seine Männer tun und lassen, was sie wollten. Sungh Ay setzte sich, schöpfte einen Becher voll vom starken Kräutersud aus dem Kessel und trank schweigend. Seine Blicke huschten über den Strand, über die kleinen Wellen der zischend auslaufenden Brandung und über die langen Schatten, die Rümpfe und Masten der Boote über den Strand warfen. Noch immer schliff Djongrang seine Waffe. Das Geräusch schnitt wie ein Messer durch die Stille. Sungh fand warmen Reis, eine dicke Soße und kaltes Fleisch, gewürzte Stücke Fisch und eine Schale voller zerschnittener Früchte und Markfasern, die er eintunkte und langsam aß. Dann reinigte er die Gefäße im Salzwasser, spülte sie im Süßwasser und hängte sie auf das Bambusgitter, die Öffnungen nach unten. Er stocherte mit einem Holzspan in den Zähnen und ging langsam über den Steg aufs Deck der Balor. Vor dem Kapitän blieb er stehen und sah zu, wie Djongrang mit einem schmutzigen Fetzen Tuch Kokosöl auf das funkelnde Haumesser
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verrieb und die Schneide hingebungsvoll polierte. „Du hast offenbar viel vor, Kapitän?“ Sungh grinste und spuckte über Bord. „Wenn nicht heute nacht, dann morgen oder übermorgen“, erwiderte der andere und grinste breit. „Oder glaubst du nicht mehr daran, daß wir Beute haben werden?“ „Natürlich glaube ich's“, sagte Ay. „Wir müssen doch etwas dagegen unternehmen, daß die Fremden alle Inseln ausplündern, ohne daß wir es ihnen erlaubt haben.“ Sungh wußte es, ohne daß er hinzusehen oder gar den Kopf zu drehen brauchte: vom Bugspriet und der geschnitzten Maske des Vorstevens bis zum Ruder war die „Perle der Brandung“ mit größter Sorgfalt aufgeklart. Ein paar Befehle und einige Handgriffe genügten, und die Balor sowie die drei Boote legten ab und verließen das Versteck. Selbst die Bändsel, mit denen die Bambusspeere innen am Schanzkleid befestigt waren, zeigten die beste Art der Knoten. Die Matten und Decken, die der Mannschaft zum Schlafen dienten, lagerten, eng zusammengerollt, in den Bambusverschlägen, in denen sich auch die kleinen Krüge mit dem minderwertigen Palmöl und dem dünnen Pech befanden. „Oder wollen wir nach Norden, zu Fischerweibern?” fragte der Kapitän. Sungh schüttelte den Kopf. „Nicht heute nacht. Ich bin müde. Was die anderen wollen, weiß ich nicht.“ Djongrang schob seine Waffe in eine zwei Hände breite Lederscheide und knotete die Riemen bedächtig an einer Traverse des Bugspriets fest. „Die anderen, die kannst du hören. Sie schlafen. Gestern nacht ist es wild hergegangen.“ „Die Singaradja-Fischer, die Holzsammler und Waldjäger haben ein Fest gefeiert. Die Trommeln haben wir ja bis hierher gehört.“ „Deswegen sind sie so müde“, bestätigte der Kapitän. Er enterte in die dunkle Tiefe des Schiffsrumpfes ab und kehrte mit einem Krug und zwei Schalen zurück. Auf dem dreieckigen Deck aus dicken, sorgfältig
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verfugten Planken, das bis fast zum Mast reichte, lag eine dicke Matte. Die Männer lehnten sich gegen das Schanzkleid und tranken. „Von allem, was die Fremden mitbringen, ist dieser Saft, den sie ‚Wein' nennen, das zweitbeste“, sagte Sungh schließlich. „Ihre Musketen, Pistolen und Feuerrohre sind das beste. Aber wir haben zu wenig von dem schwarzen Pulver und von den großen Kugeln erbeutet. Wir müssen beim nächsten Kampf unbedingt darauf achten. Wenn wir ihre Hälse durchgeschnitten haben“, der Kapitän führte eine entsprechende Geste unter dem Kinn durch, „und wenn das Schiff nicht wieder brennt, durchsuchen wir jeden Verschlag, gleichgültig, ob es eine Fleute oder eine Karavelle ist.“ „Ich habe das alles schon mit Romlok, Sen Phu und Thbong besprochen. Sie wissen, was zu tun ist.“ „Gut. Einverstanden.“ Hin und wieder hoben sie ihre Köpfe und blickten über das Steuerbordschanzkleid aufs Meer. Die Segel der Fischerboote waren verschwunden. Die Wolken begannen sich gelb, rot und braun zu färben. Am Himmel waren nur Kormorane, Reiher und Fischadler und über dem ruhigeren Wasser der Bucht ein paar Seeschwalben zu sehen, die nach Mücken jagten. Weit und breit kein Schattenriß mit großen, dreieckigen Segeln, der irgendwo aus der Richtung auftauchte, wo sich die Inseln von Pulau Kalaotoa hinter dem Horizont versteckten. Schließlich, als er die Wirkung des warmen Weines zu spüren glaubte, sagte Sungh Ay halblaut: „Ich lege mich achtern hin. Wenn wirklich ein Fremder auftaucht, brauche ich nicht lange. Du weckst mich, Djong?“ Djongrang lachte schallend und versicherte: „Ich habe dich ganz schnell wach. Schneller als die anderen. Verlaß dich drauf.“ Sie nickten sich zu. Ay leerte die Schale und rollte auf den warmen Heckplanken die dicke Matte aus, zog ein dünnes Tuch über seinen Kopf und war nach wenigen Atemzügen eingeschlafen. Als er wieder
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aufwachte, hatte sich rund um ihn eine Unruhe ausgebreitet, die nur eine Bedeutung haben konnte. * Als er es nicht mehr aushielt, ins grelle rote Licht zu starren, drehte Batak wieder den Kopf und schaute nach Norden. Der Baumwipfel bewegte sich leicht im Wind, der jetzt aus Osten wehte, aus dem Inneren der Insel. Bisher hatten weder Sungh Ay noch Batak mehr gesehen als Einbäume und kleine Segler, einige langsame Lastschiffe, die dicht an den Ufern segelten und keinen Überfall lohnten. Die Seeleute waren noch ärmer als die Fischer. Batak spürte die letzte Wärme der Sonnenstrahlen auf den Schultern und auf dem Hals. Er starrte durch die raschelnden Blätter, und plötzlich sah er fast am Rand des Blickfeldes, rechts vor der niedrigen Huk, ein Unterbrechung der Kimmlinie. „Das ist kein Fischer“, murmelte der Späher. „Eine ganz andere Farbe.“ Er schloß die Augen, holte tief Luft und wartete eine Weile. Dann blickte er wieder in dieselbe Richtung. Aus dem ungewissen Punkt war ein Dreieck geworden. Ein bräunliches, großes Segel, das unverkennbar zu einem Schiff der Fremden gehörte. Batak wollte sicher sein und wartete. Fast unmerklich langsam wurde das Bild deutlicher. Nichts veränderte sich, als er zum zehntenmal hinblickte. Er sah den Rumpf und erkannte die Form jener Schiffe, mit denen die Holländer segelten. Wie nannten sie ihre großen Kanus? „Richtig, Fleute“, sagte er und versuchte die Entfernung genau abzuschätzen. Er sah die schäumende. Bugwelle, das Flattern der ausgebleichten Flagge, und ganz winzig erkannte er ein paar Gestalten auf dem hochgezogenen Achterdeck. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Die Sonne war halb hinter die Kimm getaucht und überschüttete die Bucht, das Meer und auch das große Dreiecksegel des Fremden mit ihrer blutigroten Farbe. Batak beugte
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sich vor, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff dreimal scharf und gellend. „Ja?“ rief Djongrang, der neben dem Feuer stand. Er hob den Kopf. Batak winkte und deutete nach Nordosten. „Ein Schiff! Von Nordosten. Ich hab's genau gesehen. Von uns etwa vier Stunden weit weg, Kapitän.“ „Kannst du genau sehen, wie tief es liegt?“ „Nicht gut, Djong. Wenig Licht. Aber ...” Er strengte sich an, im letzten Licht etwas zu sehen und glaubte zu erkennen, daß der Rumpf aus dunklem Holz tiefer in den Wellen lag als einige andere Schiffe, an die er sich erinnerte. Er rief zum Kapitän hinunter: „Sie sind gut beladen. Vielleicht nicht sehr gut. Und sie sind nicht sehr schnell, obwohl der Wind draußen auf See gut ist. Aber ich weiß, daß sie bald in unserer Nähe sein werden.“ „Dann holen wir sie uns, Batak“, sagte der Kapitän. „Bleib oben, bis nichts mehr siehst, klar?“ „Bis ich nichts mehr erkenne“, bestätigte Batak und sah gerade noch, wie der Kapitän in die Glut blies, ein paar Handvoll Blätter und dürre Ästchen hineinwarf und schließlich eine Fackel an den Flammen entzündete. Die Sonne versank hinter der Linie des Horizonts, und die Wolken schienen zu brennen. Vor den schreiend bunten Farben verschwand das fremde Schiff völlig. Batak schloß wieder die Augen und wartete. Er hatte sich die Stelle, an der er das Schiff zuletzt gesehen hatte, genau gemerkt. Aber er entdeckte es erst wieder, als nach einer kurzen Dämmerung sekundenschnell die Nacht einfiel und die Sterne aufflammten. „Sie wissen nicht, daß wir sie beobachten“, murmelte der Späher. „Verrückte Weißhäutige.“ Die Fremden hatten in der kurzen Zeit, in der er das Schiff aus den Augen verloren hatte, eine Buglaterne und eine Hecklaterne gesetzt. Beide Lichter waren heller als die Sterne am Horizont. Das Schiff segelte den Kurs, der ihn an der Westspitze der Insel vorbeibringen würde. Ob sie nach Süden abbogen oder nach Westen weitersegelten, das wußte nicht
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mal der Kapitän, der mit der geschwungenen Fackel über den Strand lief und seine Männer aufweckte. „An Deck! Bereitet alles vor! Eine Jagd in der Nacht, ohne Licht und mit vollen Segeln!“ rief er. Ein Drittel der malaiischen Besatzung war schon wach. Die Männer badeten im Meer, tranken oder hockten da und aßen. Die Kommandos und die Rufe Djongrangs rissen sie aus der schläfrigen Beschaulichkeit. Schließlich rief Batak von seinem Hochsitz: „Sie halten Kurs! Wenn wir jetzt ablegen, haben wir sie um Mitternacht eingeholt!“ „Steig runter und hilf deinem Steuermann!“ rief Djongrang zurück. „Bin schon unterwegs.“ Flammen loderten unter dem Teekessel. Die Männer hasteten nicht, aber sie bewegten sich zielstrebig und schnell. Sie wußten, was zu tun war, und Batak hatte ihnen bestätigt, daß sie noch genug Zeit hatten, zu essen und sich vorzubereiten. An Bord der „Perle“ wurde es lebendig. Einige Öllampen brannten auch in den Hecks der Piahiaps. Riemen und Bambusstangen klapperten. Batak ging zu Djongrang, zeichnete neben dem Feuer Linien in den Sand und erklärte den Kurs, den der Holländer segelte. „Gut so. Du hast recht. Wir haben sie um Mitternacht“, sagte schließlich der Kapitän. „Spätestens.“ Er winkte und rief zu den anderen: „Vergeßt nichts! Habt ihr alle Waffen auf den Booten? Die ‚Perle' wird zuerst lossegeln!“ „Der Wind ist gut“, erklärte Batak und nickte. „Wir müssen kreuzen. Ich glaube nicht, daß die Fremden von uns wissen.“ „Bisher hat's keinen gegeben, der es ihnen erzählen konnte!“ Djongrang schlug Batak mit der Faust lachend gegen den Arm. „Los, hol dein Zeug!“ Die Besatzungen der Boote hatten vor zwei Tagen die Arbeiten an den Rümpfen, am Rigg und an den Segeln beendet. Die Balor und die Piahiaps waren an den Strand gezogen und zur Seite gelegt worden. Jede
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Handbreit der Rümpfe glänzte, jede Leine war straff. Von diesen Arbeiten - jeder war nicht nur ein ausgezeichneter Seemann, sondern auch ein hervorragender Handwerker mit gutem Werkzeug - hatten sich die Malaien im Schatten ausgeruht, einen ganzen Tag und länger. Die Lagerstätten befanden sich zwischen den Wurzeln und im Sand am Waldrand, tief im kühlenden Schatten, unter geflochtenen Dächern. Jeder hatte seinen eigenen Platz, und dort bewahrte auch Batak seine Ausrüstung auf. Er lieh sich von Semang das Öllämpchen und sammelte seine Waffen. Er füllte den Wasserschlauch, trank heißen, honigsüßen Tee und knotete seinen knielangen Schurz neu, ehe er die Krise in den Gürtel schob. Ein paar Atemzüge später stand er neben Sungh Ay auf dem Achterdeck der Balor. „Schade, Ay“, sagte grinsend. sagte er grinsend. „Ich habe die Fremden gesehen. Du bist zu früh hinuntergeklettert.“ Sungh Ay winkte großzügig ab. „Ich kann's verschmerzen. Der Unterschied wird nicht groß sein, verlaß dich drauf.“ Sie sprangen zu Semang und seiner Gruppe, die das Segel aufzogen. Das Ruder war frei. Die erste Belegleine wurde in mäßiger Eile eingeholt. Mit langen Bambusstangen stakte die Besatzung die kleinen, schnittigen Boote aus dem flachen Wasser und in engem Bogen vor dem Bug der „Perle der Brandung“ nach Norden aus dem Bereich der verschwiegenen Bucht hinaus. Sen Phu und Thbong, die letzten Inselpiraten auf dem Strand, schütteten sorgfältig einen Wall aus Sand um das Feuer. Die Flammen durften nicht übergreifen. Ein Sturm würde den Dschungel abbrennen lassen. Und es war immer ein Vorteil, wenn sie, mit Beute beladen; zurückkehrten - mit ein paar Handgriffen hatten sie wieder Feuer unter den Kesseln. Dann liefen sie zur Planke, lösten an Bord die Knoten und kippten das schmale Gerüst zurück in den Sand. „Kurs auf die fremde Fleute!“ Djongrangs Stimme hallte über das Wasser der Bucht. „Wir holen uns die Beute, und wenn die
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Sonne im Mittag steht, liegen wir wieder zufrieden im Sand, erfolgreich und nach einer guten Jagd!“ Von den Booten und von Deck der „Perle“ antwortete das Geschrei der Malaien dem Kapitän. Langsam entfernten sich die „Perle“ und die drei Boote aus der Bucht. Sie waren nur schattenhaft zu erkennen, denn schon jetzt befanden sich die kleinen Öllämpchen im Schutz des Dollbords. Es gab gerade so viel Licht an Bord, daß die Malaien nicht ins Leere griffen. Der Wind ließ das Dschunkensegel heherumschwingen. Nur Mondlicht und der schwache Widerschein der Sterne verrieten, daß sich auf der endlosen Fläche des dunklen Meeres die Schiffe der malaiischen Inselpiraten bewegten. Sie waren nicht mehr als trügerische Schatten auf den lichtgesprenkelten Wellen. Die Dünung hob und senkte die Boote, als sie die Brandungswellen hinter sich ließen und hie beiden Lichter ansteuerten, die etwa sieben Seemeilen vor dem Bug der schnittigen Balor standen. Djongrang erschien achtern, lehnte sich neben Sungh Ay ans Schanzkleid und sagte: „Unsere Freunde sind entschlossen. Es wird keine einfache Jagd, die Fremden wissen sich zu wehren.“ Batak zurrte einen Knoten fest und erwiderte: „Auch heute nacht, Djong, werden wir sie halbwegs im Schlaf überraschen. Wie immer. Du weißt, daß wir so lautlos kämpfen wie die Dschungelteufel.“ „Ich weiß. Aber ich spür's bei mir selbst: langsam habe ich das Küstenpiratenleben satt. Ich will zurück in mein Dorf, zu den Kindern und den Frauen.“ Am Ruder deutete Sungh Ay eine Verbeugung an und sagte spöttisch: „Deine Frauen, o Meister des lautlosen Gurgelschnittes, werden sich unendlich freuen, wenn du als reicher Pirat heimkehrst. Deine Söhne werden die Schulen der Weißen besuchen und klüger werden als ihre Väter. Auch für meine undankbare Brut habe ich dieses Schicksal geplant.“ Er stieß
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ein heiseres Lachen aus. In der Dunkelheit blitzten seine Zähne. „Und deine Töchter, als reiche Bräute, sie werden die besten und schönsten Männer finden.“ Djongrang, der nicht genau wußte, ob ihn seine Freunde auslachten, oder ob sie im Ernst sprachen, murmelte: „Was soll das? Was wollt ihr mir sagen?“ „Nichts anderes, Herrscher der Ebbe“, erwiderte Batak, „daß auch wir nicht für alle Zeiten Inselpiraten bleiben. Noch zwei, drei Schiffe, dann haben wir genug für die Ewigkeit und zerstreuen uns in alle Winde.“ Djongrang ballte die Hand. „Aber heute nacht gedenkt ihr schon zu kämpfen? Oder soll ich wieder allein alles tun?“ Sie lachten laut. Der Rudergänger lehnte sich schwer gegen die Pinne aus glattpoliertem Holz. Er hatte sie selbst aus einem riesigen Stück Treibholz gesägt, geschnitzt und geschliffen. „Wir alle, Djong, werden wie Piraten kämpfen, die keine Furcht und nur den Sieg kennen. Wir holen uns das Schiff. Die Fremden werfen wir ins Meer, mit durchgeschnittenen Kehlen oder einem Kris zwischen den Rippen.“ „Wir haben schon fünf Schiffe zwischen die Klippen gejagt und geplündert“, sagte Djongrang entschlossen. „Wir holen uns auch heute wieder was sie uns gestohlen haben.“ „Bei allen Meergöttern!“ Sungh Ay sah zu, wie die „Perle“ weit nach Steuerbord überlegte und dann rasch Fahrt aufnahm. „Es wird eine gute, lange Jagd werden.“ „Ich sorge dafür“, sagte der Kapitän. Nacheinander führten die dunklen Boote das gleiche Manöver durch. Der Wind aus Südosten hatte aufgefrischt, und nach wenigen Minuten rauschten die Piraten auf Nordwestkurs - mit raumen Winden hinter den Fremden her. Die Segel und die niedrigen Schiffsrümpfe waren gegen den dunklen Hintergrund des diesigen Himmels so gut wie unsichtbar. Lautlos rückten sie im Kielwasser der Fleute näher. 2.
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Pieter Heemskerk, der Kapitän der „Vlissingen“, setzte das Spektiv ab und zuckte einigermaßen ratlos mit den Schultern. „Eine herrliche Nacht“, sagte er halblaut. „Und wie in jeder schönen Nacht mit gutem Wind habe ich ein unbehagliches Gefühl. Das war schon so“, er drehte die Spitzen seines buschigen Bartes, „als ich noch Schiffsjunge war, auf den Kanalbooten.“ „Aber du lebst noch, Kapitän“, erwiderte Frans z'Waele im gleichen Tonfall. „Und, ohne zu scherzen, du hast auch weniger Narben als jeder andere an Bord.“ „Du magst recht haben, Frans. Trotzdem. Es ist so. Haben wir alle unsere Geschütze klar?“ „Wie immer, Pieter. Bis zur Scheldemündung bleiben die Pistolen, Musketen und Geschütze feuerbereit. Wir haben ja auf der langen Fahrt nicht viel anderes zu tun. Hoffentlich.“ Frans stand breitbeinig an der Pinne, der Kapitän lehnte neben ihm am Heckschanzkleid der Fleute. Die Hecklaterne warf ihr gelbliches Licht auf die Planken, und die Segelwache döste auf der Kuhl. Die Segel an den drei Masten standen prall, die Fleute glitt ruhig durch die mittelgroßen Wellen. Die Gedanken beider Niederländer waren längst in ihrem Heimathafen. Sie dachten immer häufiger daran, daß jede Stunde die „Vlissingen“ um eine Handvoll Seemeilen näher an dieses Ziel heranbrachte. Die Planken waren nicht morsch, die kostbare Ladung, mit der sie alle reiche Männer werden würden, ruhte fest verzurrt und perfekt verstaut in trockenen Laderäumen. Einundzwanzig brave Niederländer, die monatelang allen Gefahren widerstanden und nicht mehr als ein paar Beulen und ab und zu einen Fieberanfall überstanden hatten, wollten nur in Ruhe heimsegeln und endlich aus der tückischen Javasee mit ihren tausend Piratenverstecken verschwinden. „Obwohl“, seine Stimme ließ deutlich erkennen, daß Kapitän Heemskerk seine
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Gedanken laut fortspann, „an den reichen Küsten, auf den fabelhaften Molukken, in den vielen kleinen Dörfern die braunhäutigen Frauen immer in meinen Erinnerungen einen goldenen Platz behalten werden.“ „In meinem Herzen auch.“ Frans lachte leise. „Aber noch mehr Platz hat unsere Ladung. Ich weiß, ich hab's schon so oft gesagt. Ein Vermögen für jeden.“ Sie waren noch längst nicht aus dem Seegebiet hinaus, das sie als gefährlich erkannt hatten, nicht nur wegen der unzähligen Inseln und der Riffe, der Untiefen und der Eingeborenen, deren Sprachen und Sitten die Niederländer nicht kannten. Die Seeleute waren alles andere als feige, aber zuviel Fremdheit ließ sie unsicher werden. Schließlich fürchteten sie sich vor Erscheinungen, die andernorts an der Tagesordnung und ungefährlich waren. „Sehen wir zu“, sagte der Rudergänger und blickte wachsam über die endlosen Wellen, die im Licht des Nachthimmels schimmerten, „dass wir unser Vermögen trocken und ohne Rattenfraß nach Holland bringen. Ohne Schimmel und Rattenfraß. Der andere grinste. „Ratten fressen keinen Pfeffer, kein Gold und keine Perlen“, sagte Frans z'Waele. „In diesem Land, an diesen Küsten, fressen sich die Ratten wahrscheinlich gegenseitig auf. Ratten? Sieh dich auf dem Meer um, Rudergänger.“ „Genau wie du, Kapitän.“ Peter Heemskerk holte das Spektiv aus der tiefen Brusttasche des Wamses, zog es auseinander und suchte schweigend und langsam die Umgebung ab. Er sah genau das, was er erwartet hatte. Sternenhimmel, Mond, ferne Brandung, die verschwimmenden Schattenschnitte von Inseln oder einem Teil des Meeres, dem Wolken hingen, die silbernen Leiber von großen Fischen, die sich aus dem Wasser schnellten, die Spuren der Bugwelle und die lange Heckspur, die sich in der dunklen Ferne achteraus verlor. Nach einer Weile rief er hinunter zur Kuhl: „Ari? Schläfst du etwa?“
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Ari van Valdern, der Gehilfe des Stückmeisters, war zur Segelwache eingeteilt. Seine Stimme klang verschlafen und rauh, als er antwortete: “Wie sollte ich, Schipper! Hellwach wie immer.“ „Dann komm zu uns.“ „Aye, aye.“ Langsam stapfte Ari über die Planken und enterte den Niedergang auf. „Hör zu“, sagte der Kapitän. „Ich weiß, daß ihr es mittlerweile nicht mehr hören könnt. Ihr dürft ruhig grinsen und lachen und sagen, daß euer Alter ein Narr und ein Angsthase sei. Aber solange wir nicht durch den Kanal segeln, sind wir in Gefahr. Ist euer verdammtes Schießzeug in Ordnung?“ „Jedes einzelne verdammte Rohr im ganzen Schiff ist seit drei Tagen geladen .und feuerbereit, Kapitän“, sagte Ari van Valdern mit Nachdruck. „Wenn uns jemand angreifen sollte, brauchen wir nur richtig zu zielen und zu treffen. Das ist es.“ „Ist es das?“ Der Kapitän zog die breiten Schultern in die Höhe. „Wir wissen es von anderen Kapitänen und anderen Crews: die Piraten an diesen Ufern tauchen hinterlistig aus der Finsternis auf und sind nicht wirklich zu fassen.“ „Ein Schiff, ein Schrei, und alle Geschütze feuern nach allen Seiten, Kapitän“, sagte der Zweite Stückmeister. „Aber - wo sind diese verfluchten Piraten?“ Der Rudergänger sagte schroff: „Ich sehe keine. Das Meer ist einsam und leer.“ „Ich habe auch nichts gesehen“, äußerte der Kapitän beschwichtigend. „Ich wollte nur sehen oder hören, daß ihr und alle Waffen bereit seid. Es kann sein, es kann auch nicht sein, daß wir sie bald brauchen.“ Die Crew der „Vlissingen“ war mehr oder weniger gemeinsam aufgewachsen. Die dreimal sieben Männer kannten sich nicht nur von der langen Seefahrt her, sondern auch aus der Heimatstadt, aus zahllosen holländischen Schenken und aus den Tagen, in denen im Kanal zwischen Holland und England die Felicissima Armada im Feuer der Engländer ihren Tribut hatte zollen müssen. Der Kapitän war zwar eine Respektsperson, aber
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gleichermaßen war er auch einer der Jungen, mit denen man im Dorfteich gebadet hatte. Ari van Valdern erwiderte halblaut, mit knarrender Stimme: „Wir alle, Master Pieter, wissen, daß diese Inseln voller Gefahren sind. Deswegen steuert Frans auch weit von der Küste im freien Wasser. Vielleicht versuchen sie's, vielleicht nicht. Ich weiß es auch nicht. Wie gesagt: klare Kommandos, und wir schicken alle Inselpiraten auf den Boden des Ozeans.“ „So wahr uns Gott helfe“, murmelte der Rudergänger. * Das dritte Boot der Piraten war zurückgefallen. Die Malaien hatten Schwierigkeiten mit dem Segel. Aber jetzt holten sie wieder auf und segelten im Kielwasser der „Perle“, nach Backbord krängend, mit schäumender Bugwelle auf das Ende der weit auseinander gezogenen Linie zu. Batak sah undeutlich die Piahiap und nickte. Sie waren wieder vollzählig. „Sie haben uns nicht gesehen. Noch nicht“, sagte Sungh Ay und deutete zu den beiden Lichtern, die sich hoben und senkten. „Drei Stunden“, sagte der Kapitän. „Oder etwas mehr. Dann sind wir längsseits.“ „Hast recht. Wir schaffen es nicht eher.“ Die einzigen Lichter weit und breit waren die Laternen vorn und achtern der niederländischen Fleute. Auch an den Küsten der Inseln, die schwarz und wuchtig die Sterne in Höhe des Horizonts verdeckten, brannte kein einziges Feuer. Das Kielwasser der „Perle der Brandung“ leuchtete schwach in den Wellen und verlor sich in der Dunkelheit. Mit wachsender Ungeduld warteten die Malaien. Kaum einer sprach, nur ab und zu gab es ein leises Kommando, das im Rauschen der Wellen unterging, oder die Männer verständigten sich mit leisem Murmeln. Die vollen Köcher waren längst an die Bordwände gehängt worden, und leise klirrten die Spitzen der kurzen Bambusspeere. Djongrang brauchte seinen
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Männern nichts zu befehlen. Sie wußten genauso gut wie er, wie sie die Holländer anzugreifen und zu bekämpfen hatten. Die „Perle“ und die drei schmalen Boote hatten fast die Linie erreicht, die dem Kurs des Niederländers entsprach. Bis zu dieser Stelle hatten sie kreuzen müssen. Jetzt sprang Djongrang auf die Kuhl und gab eine Reihe halblauter Kommandos. In Nächten wie dieser trug der Wind jedes Geräusch weit über das Wasser, und die Piratenschiffe änderten ihren Kurs genau achtern der Fleute. „Leise!“ sagte der Kapitän. „Keinen Lärm.“ Schnell und fast ohne jedes verräterische Geräusch wurden die Segel neu getrimmt. Jedes Knarren schien viel zu laut zu sein. Langsam schwang st die Balos ihren Bug nach Westen, dann folgten die kleineren Boote. Der Wind fuhr von achtern in die Segel, und das Rauschen der Bugen wurde lauter und schärfer. Semang stand im Bug der Balor, stützte sich schwer auf das Schnitzwerk und starrte schweigend zum Heck und in die Segel der Fleute, in denen sich die Helligkeit der Hecklaterne fing. Die Holländer waren ahnungslos. An Deck bewegten sich keine Schatten, mehr konnte Semang nicht erkennen. Aber er sah deutlich, daß die „Perle“ schneller war als das Schiff der Fremden und die Fleute schwer geladen hatte. Er lehnte sich weit nach Backbord und sah die Bugwellen der Boote. Seine Unruhe nahm zu. Er spürte sie so deutlich wie die Erregung der an Männer. Er zog den Knoten seines bestickten Lederbandes um die Schläfen fester, dann griff er nach den scharfgeschliffenen Wurfdolchen, deren Bambusscheiden an seinem- Gürtel festgenäht waren. Schweiß tropfte aus den Achselhöhlen und sickerte zwischen den Schulterblättern. „Wartet nur“, flüsterte er und hob Hand. „Wir nehmen euch alles, ihr bleichhäutigen Räuber.“ Die nächsten Stunden schienen dahinzuschleichen. Aber immer größer und deutlicher wurden das Heck und die
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gischtenden Bahnen des Kielwassers. Jetzt konnte Semang die meisten Einzelheiten unterscheiden. Eine Piahiap, es war das Boot Negapatans, schob sich an Backbord an der Balor vorbei, und der Pirat am Ruder winkte zur „Perle“ hinüber. „Sie würden genauso angreifen wie beim letztenmal. Als Semang nach rechts schaute, entdeckte er schemenhaft den Bug von Panjalus Boot. Die Piraten hielten schon die Speere und Bogen in den Händen. Diesmal war es Semang, der zum anderen Boot hinüberwinkte. Panjalus Leute grüßten knapp zurück. Noch immer hatten die Fremden nichts gesehen, obwohl ein erster Lichtschimmer aus der Hecklaterne auf das schäumende Wasser der Bugwelle und das Segel fiel. Djongrang winkte und flüsterte. Beide Boote glitten weiter von den Bordwänden der Balor weg und schienen wieder in der Finsternis zu verschwinden. Das dritte Boot hielt sich schräg hinter dem Heck der „Perle“. Semang bückte sich und löste die Knoten, von denen die Wurfspeere festgehalten wurden. Immer näher rückte das Heck des Fremden. Die bloßen Füße der Piraten tappten mit leisem Klatschen über die Planken, als auch die Balor nach Steuerbord abfiel und langsam, noch immer unbemerkt, aus dem Lichtschein glitt und aufholte. Die Malaien hielten die Waffen in den Händen und duckten sich in den Schatten der Bordwand. Die zwei Boote waren auch für Semangs scharfe Augen nicht mehr zu erkennen. Sie sollten jetzt schräg vor der Fleute segeln, und es grenzte an ein Wunder, daß von Bord des Holländers niemand sie gesehen hatte. Als sich die „Perle“ fast auf gleicher Höhe mit dem Fremden befand, wirbelte Djongrang ein weißes Tuch über seinem Kopf und rief: „Zeigt ihnen, wie gut wir kämpfen.“ Im selben Augenblick, schon beim ersten lauten Wort, hatten die Fremden begriffen, was ihnen drohte. Im Heck schrien die Männer laut in der fremden, harten
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Sprache. Semang packte den Speer, holte aus und wartete, bis er ein Ziel sah. Die Holländer sprangen ans Steuerbordschanzkleid und schwenkten ihre Feuerrohre. Die drei Boote glitten auf den Bug der Fremden zu. Die Männer, die wild durcheinanderschrien, richteten ihre Aufmerksamkeit nur auf die Balor. Der erste Schuß peitschte auf. Wie ein Insekt surrte das Geschoß über den Bug der Balor. Semang streckte sich und schleuderte seinen Speer. Die Fremden waren aufgeschreckt, immer mehr Männer stürzten an Deck. Wieder knatterten Schüsse. Semangs Speer flog zwanzig Schritte weit auf die Heckaufbauten zu, schrammte über Holz und drang tief in die Brust eines Fremden ein, der seine Pistole abfeuerte. Mit einem gurgelnden Schrei taumelte er nach hinten, stolperte und brach zusammen. Eine Handvoll Piraten aus den Booten enterten über die Bordwand und die Rüsten an Deck. Pfeile huschten von drei Seiten auf die Fleute zu. Messer blitzten, und wieder dröhnten die Schüsse aus den schweren Feuerrohren. Semang warf einen Speer nach dem anderen, aber er sah auch, daß die Rohre der Geschütze sich aus den Luken hervorschoben. Männer schwangen Fackeln und Lunten. Aus dem Geschütz in der Heckbordwand der Fleute zuckte eine lange Flamme. Ein Donnerschlag brüllte auf. Eine gewaltige Rauchwolke hüllte das Heck der Fleute ein, die Ladung schlug ins Wasser, ins Holz des Bugs und stanzte Löcher ins Segel. Die Malaien hatten sich auf die Planken geworfen, sprangen wieder auf, und Djongrang brüllte: „Zurückfallen! Weg von den Geschützen!“ Sungh Ay stemmte die Pinne nach Steuerbord. Die Balor holte über und glitt in das gischtende Kielwasser des Fremden zurück. Undeutlich nahmen die Malaien in der „Perle“ wahr, daß die Angreifer aus den drei Booten in rasender Eile, die Dolche zwischen den Zähnen, wieder abenterten. Das wütende Peitschen der Schüsse hatte
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aufgehört. Die Fremden wehrten sich und waren auf dem Vorschiff versammelt. Als der letzte Pirat ins Heck der Piahiap sprang, verschwanden beide Boote wieder in der Dunkelheit. Einige Atemzüge später war auch die Balor verschwunden. Das Focksegel des Fremden killte und knatterte laut. Leinen peitschten durch die Luft und über Deck. Die Piraten hatten Tauwerk und Schoten durchgeschnitten. Semang rief: „Mindestens einer ist tot. Ich hab’ gesehen, wie ihn mein Speer getroffen hat.“ „Negapatan und Panjalu mit seinen Leuten haben bestimmt ein paar Kehlen geschlitzt.“ Djongrang grinste flüchtig, Von seinen eigenen Leuten war keiner verletzt worden. Während die „Perle“ sich hatte zurückfallen lassen, war das dritte Boot in der Aufregung des Kampfes hinter dem Heck der Balor erschienen, lag jetzt schräg hinter dem Fremden, und die Männer zielten mit ihren Pfeilen auf jeden, der sich an Deck sehen ließ. Deutlich hörte Semang das Sirren der Pfeile, die unsichtbar über das Wasser flogen. Laute Stimmen schallten von der Fleute herüber. In Abständen von zehn Atemzügen wurde ein Schuß aus Pistole oder Muskete abgegeben. Semang und Djongrang hatten oft beim Laden der Waffen zugesehen und wußten, wie lange dieser Vorgang dauerte. Aber es waren mindestens vier Kanonen an Bord, und die Geschütze fürchteten sie alle. „Keine Aufregung“, sagte der Piratenkapitän nach einer Weile. „Sie wissen jetzt, daß wir sie im Griff haben. Daß es mindestens drei Boote sind wissen sie auch. Wenn ich nicht ganz dumm bin, weiß ich, was sie tun werden.“ „Sie versuchen, zwischen den Inseln zu entwischen.“ „Richtig. Und dabei sind sie bald auf einer Untiefe. Wir müssen die Dunkelheit ausnutzen.“ „Wir haben gerade Mitternacht.“ Romlok deutete zum Mond.
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„Der nächste Angriff geht los, wenn die Piahiaps wieder weit genug entfernt: sind. Habt ihr die Brandpfeile fertig?“ Jetzt brauchten sie sich nicht mehr verstecken. Aus allen Winkeln der Balor ertönten zustimmende Rufe. Aber die Öllampen blieben noch verdeckt und versteckt. Sungh Ay spukte über das Schanzkleid und packte die Pinne fester. „Ich bring' die ‚Perle' wieder nach vorn“ rief er. „Wieder an Steuerbord, Djong?“ „Ja. Vielleicht haben sie das große Ungeheuer noch nicht geladen.“ „Verstanden.“ Der Wind war weder schwächer noch stärker geworden. Backbord voraus lagen Komodo und die umgebenden Riff e, Schlammbänke und Untiefen. Sungh Ay kannte in diesem Gebiet nahezu jeden größeren Steinbrocken, lange genug hatte er dort gefischt. Wenn die Fremden allen Ernstes daran dachten, dorthin zu flüchten, waren sie schon jetzt so gut wie verloren. „Alles vorbereiten, meine Tapferen!“ rief Djongrang und hob beide Arme. Wieder schob sich die Balor aus der Dunkelheit Handbreite um Handbreite an die Fleute heran. Die meisten Pfeile schienen von den Kämpfern in den Booten verschossen zu sein, und auch die Feuerrohre der Fremden schwiegen. Djongrang wußte, daß sie von den Weißhäutigen in fieberhafter Eile neu geladen wurden. Mehr als zwanzig Augenpaare von Deck der „Perle“ beobachteten die Gestalten auf der Fleute und deren Schatten. Die Fock war wieder getrimmt, aber das würde sich bald geändert haben. Der Bug der „Perle“ stampfte durch die Wellen, als sie das Kielwasser des Fremden schnitt und sich dem Heck näherte. Aber noch war der Abstand zu groß für einen Pfeilschuß, und auch die Feuerrohre würden auf diese Entfernung nicht viel ausrichten. Wieder breitete sich Schweigen auf der „Perle“ aus. Die Balor überholte die Fleute, und einige Atemzüge später sagte der Anführer: „Ay! Näher heran!“ „Sofort, Djong“, ertönte es vom Ruder. Der Bug drehte einen Strich nach
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Steuerbord, darin wanderte er langsam in die andere Richtung, und beide Bordwände näherten sich einander. Die Malaien senkten ihre Bogen, tauchten die Pfeilspitzen in die Krüge mit dickem Öl und ließen sie vorsichtig abtropfen. Flackernd brannten die Lämpchen. Semang und die anderen, die Speere warfen, packten ihre Waffen fester. Schweigend warteten die Bogenschützen, bis sich die Entfernung verringert hatte. Dann hielten sie die öligen Stoffbündel an den Spitzen ihrer Geschosse in die Flämmchen. Als sie brannten, hoben die Bogenschützen ihre Körper über das Backbordschanzkleid und schossen die Pfeile in die Segel des Fremden. Ein Glutball nach dem anderen beschrieb eine flache Flugbahn. Die Feuerklumpen spiegelten sich grell in den Wellen. Ein paar der Geschosse verlöschten durch den Luftzug. Kaum hatten die Piraten ihre Pfeile abgeschossen, duckten sie sich wieder hinter das Holzwerk, zogen einen zweiten Pfeil aus dem Vorrat und tunkten ihn in die festgezurrten Krüge. An einigen Steilen des Holländers flammten die ersten Brände auf. Die Fremden hasteten zur Backbordseite und holten Wasser in Pützen aus dem Meer. Sie versuchten, brüllend und fluchend die Brände zu löschen. Aber jeder, der sich offen an Deck bewegte, begab sich in Todesgefahr. Durch die feuerflackernde Dunkelheit zischten die kurzen Speere. Semang zielte, so gut er es vermochte, aber er konnte nicht sehen, ob er einen Fremden tödlich getroffen hatte. Jedenfalls hörten sich manche Schreie so an, als seien nicht Wut oder Aufregung der Anlaß, sondern Schmerz. Etwa zwei Dutzend Brandpfeile oder ein paar mehr trafen ihr Ziel. Unter den Fremden befanden sich besonnene Männer mit kaltem Blut. Djongrang hatte nichts anderes gedacht. Einer von ihnen kauerte unsichtbar für die Piraten - hinter einem Geschütz und visierte lange und gründlich das Boot an, das seine Position durch die Brandpfeile verriet, die über der Bordwand
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auftauchten. Dann zündete völlig überraschend das zweite Geschütz. Wieder zuckte eine grelle Feuerzunge über das schwarze Wasser der Javasee. Eine gehackte Ladung peitschte durch die Rauchwand. Die scharfkantigen Geschosse kreischten und heulten durch die Dunkelheit. Neben der Backbordseite der Balor schien das Meer zu kochen und in hundert weißen Fontänen in die Höhe zu springen. Der Schiffskörper erzitterte unter den krachenden Einschlägen kleiner Trümmerstücke. Einige Teile der Ladung heulte über die Köpfe der Malaien und unter dem Großbaum des Segels hindurch. Ein Tau zerriß, wieder gab es neue, halb handgroße Löcher im riesigen Segel. Erstickend zog der weißgraue Rauch, in dem winzige Flocken zu brennen schienen, zur „Perle der Brandung“ hinüber Durch den Lärm und das singende Geräusch in den Ohren der Malaien erhob sich laut die Stimme des Kapitäns. „Ist jemand getroffen worden?“ Ein wütendes Geheul aus allen Richtungen schien auch ihn zu überzeugen, daß er und seine Mannschaft wieder mal Glück gehabt hatten. Noch drei Pfeile beschrieben ihre feurigen Bahnen durch die Nacht, dann hatte Sungh Ay das Schiff außer Reichweite gebracht. Semangs letzter Wurfspeer blieb zitternd in einer Planke des hochgebauten Hecks der Fleute stecken und wippte, bis der Bambusschaft abbrach. „Das wird sie lehren“, sagte Djongrang stocherte mit dem kleinen Finger zuerst im rechten, dann im linken Ohr, „daß wir nicht aufgeben.“ Tauwerk stand in Flammen. Sie liefen züngelnd an den Wanten und Stagen aufwärts. In einigen Segeln erschienen in den Flammen dunkelbraune Brandränder. Unaufhörlich schütteten die Fremden Wasser in die Brände. An einigen anderen Stellen quoll weißer Dampf in die Höhe und faserte im Wind. Es sah so aus, als steuerte der Rudergänger der Fremden sein Schiff weiter nach Backbord. In die Richtung der Inseln und Riffe.
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Marten Brom stieß Frans z'Waele an und sagte halblaut: „Er ist tot, nicht wahr?“ Ari van Valdern ließ die Schultern und den Kopf Dieter Heemskerks auf die Planken des Achterdecks zurücksinken Das Hemd und das Wams des Kapitäns waren bis hinunter zum breiten Gürtel von frischem Blut getränkt. Das Gesicht des Toten war im letzten Schmerz verzerrt. „Ja. Die Wunde ist tödlich. Ein malaiischer Speer aus dem Dunkel“, sagte Frans. Er drehte sich um und blickte zum Vorschiff. Das Focksegel war verbrannt. Nur noch triefende Reste hingen von der Rah. Ein paar Taue glimmten noch. Zwei Mann schleppten einen dritten von der Back zur Kuhl und in den Bereich der kleinen Lampen. „Es ist Dirck! Tot. Ein Pfeil durch den Hals!“ rief Cornelis, der Stückmeister. „Der Schipper auch. Ist noch einer tot? Oder schwer verwundet?“ rief Frans z'Waele zum Bug. Dumpfes Murmeln war die Antwort. Cornelis legte den Körper Dircks neben den des Kapitäns. Schweigend standen eine Handvoll Holländer um die Leichen, bis Cornelis rief: „Die Piraten greifen wieder an! Los! Ladet die Pistolen und die Musketen. Ich bin hei den Culverinen. Denkt ihr etwa, die werfen das nächstemal mit Lotosblüten?“ „Schon gut. Er hat recht.“ Neunzehn Mann hasteten auseinander. Einige löschten die letzten Brände und warfen zerbrochene Speere über Bord. Auf den Planken lagen zersplitterte Pfeile. Blut und große Fetzen verbrannter Leinwand lagen zwischen Rußflocken und großen Wasserpfützen. Frans z'Waele, der Erste Offizier, packte Abraham van Valken am Oberarm. „Du bist der beste Mann an der Pinne. Dich können die verdammten Halsabschneider nicht austricksen. Geh ans Ruder und bleib dort, bis ich es dir sage. Ich weiß, daß Pieter es nicht anders gewollt hätte.“ „Kannst dich auf mich verlassen. Weißt du auch, wohin wir uns verholen sollen?“ fragte der Rudergänger.
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„Nein. Halte die nächsten Minuten erst mal den Kurs.“ „Klar.“ Abraham van Valken löste den Rudergänger ab und sah schweigend zu, wie seine Kameraden die geladenen Geschütze ausrannten, die leergeschossene Halbculverine wieder luden, so schnell sie konnten, und die Hälfte der Crew fing an, die Musketen und Pistolen neu zu laden. Reymers schleppte die schußbereiten Drehbassen an Deck und setzte sie paarweise an Bug und Heck ein. Ein paar Wassergüsse reinigten die Decksplanken von der schmierigen Mischung aus Ruß und Blut. Die „Vlissingen“ hielt Kurs, wie es schien, war das Schiff nicht viel langsamer geworden. Frans hob die Hände an den Mund und rief: „Alle herhören! Dirck und der Kapitän sind von den malaiischen Piraten umgebracht worden. Sie waren auch an Deck und haben ein paar Taue gekappt. Ich habe eine große Balor und mindestens zwei kleinere Boote gesehen. In den kleinen Booten sind sechs oder vielleicht acht Kerle. Ich weiß nur, daß sie keine Feuerwaffen haben.“ „Aber mit Brandpfeilen können sie gut umgehen.“ Cornelis schnappte sich eine Lampe und einen Luntenstab und enterte zum Achterdeck auf. Er nickte Abraham zu und sagte: „Die Schweinekerle haben's auf unsere Ladung abgesehen. Und auf die Geschütze und das Pulver. Wenn sie Feuerwaffen haben, sind sie hier zwischen den Inseln wie die Könige. Deswegen werden sie kämpfen wie verrückte Teufel.“ „Weiß ich, Cornelis“, entgegnete Abraham van Valken. „Und wir haben noch drei Monate Fahrt vor uns. Keiner kennt das Gewässer hier gründlich genug.“ „Sie kämpfen wie die Teufel“, sagte Cornelis. „Und wir werden uns wehren wie die Teufel.“ „Darauf kannst du dich verlassen. Laß deinen häßlichen Schopf nicht über der Bordwand sehen. Siehst du etwas von ihnen?“
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„Merkwürdig“, antwortete Abraham unruhig und sicherte seinen Luntenstab. „Ich sehe überall querab und achtern ihre Boote. Und wenn ich genau hinschaue, sehe ich nichts außer den verdammten Wellen.“ „Ich kann auch nichts erkennen. Und wir haben noch sechs Stunden Dunkelheit.“ „Das wissen die Piraten auch.“ Im vagen Licht der Hecklaterne warfen sie sich einen langen, bezeichnenden Blick zu. Sie fürchteten sich, weil sie ahnten, daß die Piraten ihnen lange aufgelauert hatten. Mit größter Wahrscheinlichkeit waren diese drei oder mehr Boote auch mit weitaus mehr Männern besetzt als die gute alte „Vlissingen“. Die Holländer wußten, daß sie in der Nähe von Inseln und Passagen segelten, aber sie dachten, daß die freie See sicherer war. War sie es wirklich? Der Kapitän war tot, unwiderruflich, und jetzt gab der Erste die Befehle. Nach einer Weile schrie Frans z'Waele: „Das ist kein Spiel mehr, Männer! Sie oder wir! Bleibt in Deckung und gebt es ihnen. Sie werden bald wieder angreifen. Die Bastarde versuchen es nur in der Dunkelheit. Hat jeder genug Waffen? Ich denke, wir ändern den Kurs, wenn es zu schlimm wird. Backbord. Zu den Inseln, irgendwo bei Komodo.“ „In Ordnung, Frans.“ Die Holländer hatten die alte Fock aus der Segellast geholt und versuchten, das stehende und laufende Gut zu erneuern. Ununterbrochen wurden Musketen und Pistolen geladen und an die Crew ausgeteilt. Die Feuerwaffen waren die einzige Möglichkeit, den mörderischen und blitzschnellen Malaien und ihrer Übermacht standzuhalten. Wieder schrie Frans seine Befehle über das Deck. Er erwartete längst den nächsten Angriff. Daß sich die Piraten in der Finsternis dwars und achterlich versteckten, trieb seine Unruhen und seine Furcht in die Höhe. Er schob die zweite doppelläufige Pistole in den Brustgurt und beugte sich weit über das Schanzkleid. Die Hecklaterne und die kleinen Lampen für
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die Lunten der Drehbassen und der Musketen blendeten ihn. Er starrte in die Dunkelheit hinaus, auf die Wellen, auf denen Mondlicht und Sternenflimmer glänzte, und er nichts anderes als undeutliche Schatten. Wo zum Teufel, waren die Inselpiraten? Die Verantwortung über neunzehn Männer, ihr Leben und über die kostbare Ladung und das Schiff lag nicht schwer auf Frans z'Waeles Schultern. Noch nicht. Er wußte, daß jede Stunde schwieriger und tödlicher werden würde. Wieder versuchte er, neben oder hinter dem Schiff etwas zu erkennen, aber er sah nichts. Er ging in die Knie und setzte sich in den Winkel zwischen Schanzkleid und Planken. „Habt ihr dieses blöde Segel endlich aufgeklart?“ schrie der Erste nach einer qualvoll leisen Weile. „Und ist jemand an den Bugdrehbassen?“ Eine rauhe Stimme antwortete: „Ja. Ich, Stephanus.“ „Siehst du etwas?“ brüllte der Erste. „Nein.“ „Wir warten. Wenn jemand einen Malaien sieht, gut zielen und feuern, klar?“ Der Wind, etwa eine Stunde nach Mitternacht - denn ans Glasen dachte keiner mehr -, blieb kräftig und warm und wehte unverändert aus derselben Richtung. Der Mond beschrieb seine gekrümmte Bahn zwischen den großen, klaren Sternen. Schemenhaft zeichneten sich, flachen Dreiecken gleich, an der dunklen Kimm noch dunklere Schatten ab, Inselchen und Inseln, hintereinander gestaffelt vielleicht nur eine Ansammlung von Schemen. Inzwischen hatte sich die Crew von dem Schrecken der beiden ersten Angriffe erholt und wartete auf den dritten Überfall. Jeder trug eine Pistole oder zwei. In Griffweite standen geladene Musketen. Viele waren nicht an Bord. Die vier Drehbassen waren mit gehacktem Metall und Steinsplittern und mit einer starken Pulverkartusche in alter Leinwand geladen. Neun Stück, hatte Frans z'Waele gezählt, neun schwere Musketen. Die Männer, die in dieser Nacht nicht den ersten Angriff auf
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ein Schiff miterlebten, wußten, was zu tun war. Sie standen an Backbord und Steuerbord, duckten sich hinter das Schanzkleid, warteten und hoben ab und zu die Köpfe über die Deckung. Die Piraten ließen auf sich. warten. Aber sie waren da, undenkbar, daß sie freiwillig ihre Beute weitersegeln ließen. Ganz plötzlich, als habe sie die Dunkelheit ausgespuckt, tauchten die Piraten wieder auf. Die Balor erschien an Steuerbord, und Frans z'Waele sah, daß sie von drei schlanken, schnellen Booten begleitet wurde. Er kannte sogar den Namen dieser leichten Konstruktionen, in denen sich auch die Fischer weit aufs offene Meer hinauswagten. Piahiaps wurden sie von den Malaien genannt. An Bord der Piratenboote zeigten sich keine Lichter und keine Körper. Der Erste schrie: „Sie sind da! Schießt erst, wenn ihr auch trefft, Männer!“ Aus vier Richtungen erklangen wütendes Heulen und Schreien. Die gellenden Schreie erschreckten die Holländer, und die erfahrenen Seeleute wußten, daß sie ein Teil des Angriffs waren. Sie spannten die Hähne der Waffen und suchten nach einem Ziel. Der Rudergänger duckte sich ebenso wie jeder andere, und er dachte an nichts anderes als daran, zu überleben und die „Vlissingen“ auf Kurs zu halten. Als das ohrenbetäubende Geschrei, das den Holländern den Angstschweiß auf die Gesichter trieb, ganz plötzlich abriß, flogen die Wurfspeere und Pfeile durch die Luft. Jan-wildem, der achtern an der Drehbasse stand, schwenkte das kurze Rohr herum und zielte auf das Deck der Balor. Er bückte sich, hob die zischende und funkenwerfende Lunte und führte sie an das Zündloch der Waffe. Die scharfe, schmetternde Detonation schleuderte gehacktes Metall und Steinsplitter über eine Entfernung von zehn, zwölf Yards ins Segel und über die Kuhl der Balor. Durch das Sirren in seinen Ohren hörte Janwillem einen wilden Chor von Schmerzensschreien.
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„Ich hab' sie getroffen!“ schrie er, duckte sich und entging einem neuerlichen Hagel aus Pfeilen und Schleudersteinen. Dann dröhnte die Detonation von der Back. Stephanus hatte die erste Drehbasse gezündet. Lange Feuerzungen peitschten aus den Mündungen der Musketen. Zwei Brandpfeile flogen im flachen Bogen aus der Dunkelheit und bohrten sich ins Großsegel. Sofort flammten lange, züngelnde Feuerzungen aufwärts und fraßen sich durch den salzverkrusteten Stoff. Fast gleichzeitig feuerten die Drehbassen an Backbord. Lange Feuerlanzen zuckten durch das Dunkel. Einige Pistolenschüsse krachten, aber die Malaien antworteten mit weiteren Speeren und Brandpfeilen. Eins der Feuer im Segel war von selbst ausgegangen, und trotz des wütenden Angriffs versuchten die Seeleute, die anderen kleinen Flammen zu löschen. Wassergüsse wirbelten einen Tropfenregen über das Deck. Cornelis hastete über die Kuhl und hielt die Hand schützend vor seinen Luntenstab. Er sah, daß die Balor unverändert an Steuerbord dwars segelte, und versuchte, mit Richtkeil und Richthebel, das Geschütz auszurichten. Er zielte, so genau er konnte, aber durch die enge Stückpforte konnte er das Piratenschiff nur undeutlich erkennen. Schließlich zuckte er fluchend mit Schultern und feuerte das Geschütz ab. Er war halb taub und hustete, als er sich wieder aufrichtete und über das Schanzkleid spähte. Träge trieb der Pulverdampf entlang der Bordwand zum Bug. Die Piraten versuchten nicht, die „Vlissingen“ zu entern. Ihre Boote schoben näher, wichen wieder aus, überholten die Fleute langsam oder fielen rasch zurück, wenn an einer Stelle die Gegenwehr besonders hart wurde. Das Segel brannte nicht sehr, aber es waren riesige Löcher in der Leinwand. Wieder flogen Brandpfeile von einer Piahiap herüber, blieben in den Planken stecken oder wurden vom Tauwerk abgelenkt und landeten flammend auf den Decksplanken.
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Die Balor verschwand zuerst wieder in der Dunkelheit. Noch immer hörten die Holländer durch das Rauschen der Wellen und den Lärm des Angriffs die Schmerzensschreie der Piraten. Die Balor schien nicht entscheidend getroffen worden zu sein. Sie hatte, als die holländische Crew sie im Licht der eigenen Laternen und im Feuer der Geschütze gesehen hatten, elegant auf Kurs gelegen. Ein letzter Wurfspeer schlug gegen den Mast, wirbelte nach unten und traf Jan tom Broek am Arm.“ „Es ist wieder mal vorbei“, knurrte z'Waele. „Wie lange haben wir Ruhe?“ Er blickte auf die Leichen des Kapitäns und Dircks. Dann richtete er, während er die Pistolen einem Crewmitglied zum Nachladen gab, seine Augen auf den Rudergänger. Abraham van Valken nickte schwer. „Was tun, Frans?“ fragte er. Der Erste führte eine Geste der Ratlosigkeit aus. „Ich frage mich, ob es besser ist, nach Backbord abzudrehen. Die Piraten werden nicht aufgeben. Und wir? Wir können uns nirgendwo verstecken, Abraham.“ „Weiß ich. Abdrehen, Frans?“ Sie waren ratlos. Nichts hatte sich geändert. Es gab zwischen den Inseln keine größere Sicherheit. Aber die Angriffe auf dem Meer, wenn auch nicht weit von Buchten und Mangrovenwäldern entfernt, würden weiter gehen. Schließlich sagte der Erste: „Wenn wir abdrehen, haben es die Piraten auch schwerer. Vielleicht gelingt es uns bei Tage, sie auseinander zutreiben. Vielleicht ist es auch ein Irrtum. Ich sage, wir drehen nach Backbord. Backbord voraus oder sogar schon querab muß Komodo liegen.“ „Einverstanden.“ Die Crew hockte in der Deckung und lud in fieberhafter Eile die Pistolen und Geschütze nach. Der Erste enterte den Niedergang ab und duckte sich zwischen die Männer. „Wir versuchen, zwischen den Inseln zu entwischen. In mehr als drei Stunden können wir die Piraten sehen. Dann haben
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sie keinen Vorteil mehr bei ihrem Angriff. Vielleicht geben sie auf, wenn sie merken, daß wir uns wehren.“ „Recht so“, sagte Cornelis. „Ein paar von ihnen haben wir getroffen. Vielleicht - ich weiß, jeder sagt und denkt immer ‚vielleicht' - liegen bei denen an Deck auch ein paar Tote. „Verwundete haben sie ganz sicher“, erwiderte der Erste. „Also los! Die Crew an die Segel. Wir fallen drei Strich nach Backbord ab.“ „Alles klar!“ Frans tappte geduckt zurück zum Achterdeck. Er riskierte immer wieder lange Blicke über den Rand des Schanzkleides, aber die Piraten ließen sich nicht sehen. Unterdrückt rief er zum Rudergänger hinüber: „Abdrehen! Drei Strich nach Backbord, Abraham!“ „In Ordnung, Frans.“ Die Hälfte der Crew trimmte die Segel. Die andere Hälfte hantierte mit Pulverhörnern und Ladestöcken. Der Koch teilte kaltes Essen und Tee aus. Die Rahen knirschten, die Blöcke klapperten, als die Fleute langsam auf neuen Kurs ging. Über den Masttoppen schienen die Sterne zu wandern, und noch immer bereiteten sich die malaiischen Piraten auf den nächsten Überfall vor. Die Holländer vergaßen ihre Müdigkeit und schöpften neue Hoffnung, als wäre die Kursänderung ein Vorgang, der sie vor den Malaien retten könnte. Die Inseln, ebenso unsichtbar wie die vier Boote, waren möglicherweise wirklich die Rettung. Etwa eine Stunde lang ließen die Piraten ihre Beute in Ruhe. Einige Holländer schafften es sogar, für kurze Zeit zu dösen oder sogar einzuschlafen. Die „Vlissingen“ arbeitete sich, noch immer mit raumem Wind, durch höhere Wellen und auf einen der Umrisse zu, die an der Kimm die Sterne verdunkelten. Janwillem und Cornelis zurrten die letzten Brooktaue fest und streckten ächzend ihre gekrümmten Rücken. „Eigentlich“, sagte Cornelis und drehte den Luntenstab in dem feuchten Sand der Pütz
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fest, „brauchten wir keine Angst zu haben. Schließlich hat jeder an Bord schon böse Erfahrungen hinter sich.“ „Einige von uns sind auf berühmten Kaperern gefahren“, stimmte Janwillem zu. „Aber die Malaien kennen hier jeden Felsen und jede Palme. Wir nicht.“ „Hoffentlich schaffen wir's, bis es hell wird. Oder ein Sturm bricht los, ein Gewitter.“ Janwillem deutete zum Sternenhimmel. „Kein Sturm, kein Gewitter. Jetzt, da wir eins brauchen, wird uns das Wetter diesen Gefallen nicht tun.“ „Wunder gibt's erst wieder im Kanal oder der Biscaya.“ Cornelis enterte zur Drehbasse auf und hob die Schultern aus der Deckung. Als er nach achtern blickte, sah er den Bug und die schäumende Bugwelle der Balor. In schneller Fahrt schoß der Piratensegler aus dem Kielwasser der „Vlissingen“ hinüber zur Backbordseite. Cornelis sprang nach Backbord und schrie: „Sie greifen wieder an! An Backbord.“ Vorn Bug und von der Kuhl ertönten Flüche und Schreie. Waffen klirrten, während die Füße der Holländer über die Planken polterten. Die Drehbassen wurden bemannt, die Holländer spannten die Hähne der Waffen. Die Piraten blieben stumm. Frans z'Waele sagte sich erbittert, daß die verdammten Piraten hoffentlich den größten Teil ihres Vorrates an Speeren und Pfeilen verschossen hatten. Wenn sie versuchten, die „Vlissingen“ zu* entern, versprach sich der Erste einen kleinen Vorteil für seine Crew. Er rief Cornelis zu: „Vielleicht kannst du ein Boot leckschießen? Ziel besser, Cornelis!“ „Ich tue, was ich kann“, erwiderte der andere und richtete die Mündung auf den Bug der Balor aus, die das Kielwasser der Fleute verlassen und sich an Backbord bis auf eine Entfernung von rund dreißig Yards genähert hatte. Wieder hatten sich die Holländerzwischen Back und Achterdeck entlang des Schanzkleides verteilt und warteten.
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Zwischen den Männern blitzten jetzt einige Blankwaffen auf. Die Fleute hatte leicht nach Steuerbord übergelegt. An Backbord zog Ari van Valdern die Keile zwischen Rohrende und Lafette heraus, lockerte sie und trieb sie mit einigen Schlägen tiefer hinein. Die langen Läufe der Geschütze senkten sich eine Fingerbreite nach der anderen. Der stechende Geruch der Lunten zog über das Deck. Keins der drei Boote war zu sehen. Aber die Holländer sagten sich, dass die Piraten jetzt den letzten Angriff vor dem Morgengrauen anfingen. „Laßt sie näher heran!“ rief der Erste. „Jede Kugel muß einen braunhäutigen Halsabschneider treffen!“ „Verdammt! Dann sollen sie sich zeigen und stillhalten“, fluchte Abraham. Cornelis beobachtete die Balor, auf der sich nicht ein Malaie zeigte. Abraham nahm hinter dem großen Schiff einen weiteren Schatten wahr, konzentrierte seinen Blick und schirmte die Augen vor dem Licht der Hecklaterne ab. Die dreieckige dunkle Erscheinung blieb, und jetzt sah er auch viel deutlicher, daß sie sich vor dem Hintergrund der verblassenden Sterne bewegte. Der Mond war längst hinter der Kimm verschwunden. Langsam schwenkte Cornelis die Drehbasse herum und richtete sie auf das undeutliche Ziel. Diesmal, hatte er sich geschworen, würde er auf den einzigen, den besten Moment warten. Neben seinem Knie brannte das winzige Flämmchen, und daneben steckte die Lunte. Die Balor war fast auf der gleichen Höhe wie der Bug der Fleute. Für Cornelis bedeutete sie im Augenblick keine Gefahr. Er wartete mit steigender Ungeduld, und sein Herz schlug wie eine Faust gegen seine Rippen. Je länger er den Schatten anstarrte, von dem er mit Sicherheit wußte, daß es nur eine Piahiap voller Piraten war, desto deutlicher wurde das Boot. Wie viele? Sechs? Acht? Kaum mehr als acht, dachte er und sah, wie sich der Bug langsam näherte. Er zwang sich zur Geduld und
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spürte dankbar den kühlenden Wind, der den Schweiß auf seinem Rücken verdunsten ließ. „Das sind die Kerle“, murmelte er und wußte, daß sie an Backbord achtern einen Angriff versuchten. Er sagte laut, ohne sich umzudrehen: „Schnell, an die achterliche Culverine! Ein Boot ist in ein paar Minuten längsseits. Das könnt ihr gar nicht verfehlen.“ Janwillem antwortete: „Ich versuch's. Wenn du feuerst, zünde ich das Geschütz. Richtig?“ „Wird das beste sein. Ich sehe von hier oben besser, was sie vorhaben.“ „Ich verlaß mich auf dich, Cornelis.“ „Hoffentlich tu' ich das Richtige“, brummte Cornelis in seinen Bart, der feucht von Schweiß und Seewasser war. Aber die Bugwelle des Bootes wurde deutlicher und weißer, größer und schäumender, und jetzt sah Cornelis auch den Bug, das Segel und mehr Einzelheiten. Ruhig geworden, zog er den Luntenstab aus der Pütz und wußte, daß die gesamte Crew auf ihn wartete und hoffte, er würde nicht in das Segel oder ins Wasser feuern. Als an Steuerbord die Malaien wieder ihre schauerlichen Angriffsschreie zur Fleute hinüberbrüllten, ahnte Cornelis, daß sie ablenken wollten, um dem dritten Boot die Möglichkeit zu geben, unbemerkt anzugreifen. Er grinste, duckte sich kurz, entzündete die Lunte und brüllte durch den ausbrechenden Lärm: „Bleib am Geschütz, Janwillem!“ „Verstanden!“ schrie der Holländer zu ihm hinauf. Die Mündung der Drehbasse deutete auf das Innere des Bootes, das sich heranschob und langsam aufholte. Der Bug befand sich bereits im Feuerbereich des schweren Geschützes, dessen Rohr weit aus der Stückpforte ragte. Als hellere Schemen zwischen pechschwarzen Schatten erkannte Cornelis die Gestalten von mehr als einem halben Dutzend Malaien. Zwischen ihnen blitzten schwach Messerschneiden oder die langen Blätter der Krise. Cornelis hob die Lunte, wartete noch einige Momente, die sich
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qualvoll ausdehnten, dann flammte das Pulver im Zündloch auf. Stichflamme, Donnerschlag und eine Wolke aus Pulvergasen gingen in einem Augenblick ineinander über. Cornelis wußte, daß er nicht danebengeschossen hatte. Eine Sekunde, nachdem sich der Rauch verzogen hatte, brüllte ein paar Fuß schräg unter seinen Sohlen das Geschütz los. Die Feuerzunge aus der Mündung schien das Segel der Piahiap zu berühren. Beide Ladungen trafen das Boot. Fetzen des Segels, Bambussplitter, Planken und Tauwerk wirbelten durch die Luft. Die Körper der Piraten wurden in die Höhe gerissen und durch die riesigen Löcher der Bordwand geschleudert. Wasser drang von beiden Seiten durch riesige Lecks. Das Segel stand in hellen Flammen, und als die Holländer sahen, daß schreiende Malaien im Wasser verschwanden und die Trümmer des Bootes auseinanderbrachen, der Mast einknickte und das Tauwerk brannte und glomm, schrien sie voller Begeisterung. Die achterlich segelnde Piahiap drehte sofort ab und versuchte, hinter dem Heck der „Vlissingen“ vorbei ihren Leuten zu Hilfe zu kommen. Die Balor und das letzte Boot griffen an. Wieder schossen die Malaien ihre Pfeile auf alles und jeden, der sich bewegte. Die Bambusspeere prasselten gegen das Holz, und zwischen den Flüchen und Schreien, den Schüssen und nach den lauten Detonationen aus den Drehbassen waren die Wutschreie und Schmerzensschreie zu hören. Sie ertönten aus der Menge der Piraten ebenso wie von den Holländern. Dieses Mal waren die Brandpfeile aus kürzerer Entfernung besser gezielt. Einige blieben im Holz stecken, wurden abgebrochen oder mit einem Säbelhieb heruntergeschlagen, andere waren durch Wassergüsse zu löschen. Aber ein halbes Dutzend der flammenden Bündel traf die Segel, schnitt durch den Stoff und setzte die Leinwand in Flammen. Die Holländer feuerten aus allen Rohren, aber sie versuchten, so genau wie möglich zu zielen.
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Wieder dröhnte ein Geschütz auf, und neben der Bordwand der Balor, vor dem Bug und zwischen den Schiffen bildeten sich unzählige große Fontänen. Teile der Ladung hämmerten mit dröhnendem Krachen in die Planken der Balos oder jaulten schrill durch die Luft. Die brennenden Segel der „Vlissingen“ beleuchteten die Balor und das dritte Boot, die nach Steuerbord und Backbord abdrehten. Frans ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. Klatschend fielen die Pützen an den dünnen Leinen in die Wellen. „Entweder geben sie jetzt auf“, sagte er müde, „oder sie verfolgen uns bis ans Ende der Welt.“ Es stank nach Asche und Pulvergasen. Aus dem Chor der Stimmen von der Kuhl löste sich ein einzelner Ruf. „Beekman! Hoog Beekman hat es erwischt! Ein Pfeil, ins Auge. Der dritte Tote, Frans.“ „Ich komme“, antwortete der Erste. „Das ist eine schlimme, lange Nacht.“ Dampf und Wasser erstickten die Flammen in den löchrigen Segeln. Die Sterne am Horizont begannen zu flackern und zu verblassen. Scheinbar spurlos waren die Piraten in der Dunkelheit verschwunden, aber ihre Segel bildeten achteraus dreieckige Schatten. Vor dem Schiff hoben sich die Schattenrisse zweier Inseln ab, deren unterste Enden einander überschnitten. Auf dieses umgedrehte Dreieck steuerte die Fleute zu. Frans z'Waele beugte sich über den Toten. Der Pfeil, länger als ein Unterarm, ragte senkrecht aus dem Auge. Der Kopf des Niederländers war von einer großen Blutlache umgeben. Im Todeskampf hatten die Hände Hoogs das Deck blutig verschmiert. „Wir bringen ihn zum Kapitän und Dirck“, sagte der Erste. „Und wenn wir Zeit und Ruhe finden, erhalten sie auch ein richtiges Seebegräbnis.“ „Gut.“ Schweigend schleppten sie den Toten bis in die Kapitänskammer, in der sie auch die anderen Toten ausgestreckt hatten. Drei Männer waren den Angriffen zum Opfer
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gefallen, und es war zum falschen Zeitpunkt geschehen. Sie hatten alle Gefahren überlebt, aber jetzt, auf dem ersten Teil der langen Fahrt zurück, hatte das Schicksal blind zugeschlagen. Der Erste stellte sich breitbeinig vor die geschlossene schmale Tür und betrachtete seine Kameraden und das verwüstete Deck. „Wir haben Zeit, bis es hell geworden ist“, sagte er laut. „Trotzdem werden sie wieder angreifen. Also ladet eure Waffen. Und bringt das Schiff in Ordnung.“ Abraham van Valken hatte sich umgedreht und spähte nach den malaiischen Schiffen. Die Balor hatte gewendet und segelte wieder im Kielwasser der „Vlissingen“ heran. Wenn es Überlebende aus dem versenkten Boot gegeben hatte, dann waren sie von den beiden anderen Piahiaps übernommen worden, denn auch die kleinen Boote wurden wieder an den Wind gebracht und setzten die Verfolgung fort. Die letzten Sterne verschwanden blinkend vom dunklen Himmel. „Der Kapitän wußte einiges von en Inseln“, sagte der Erste zum gähnenden Rudergänger. „Mit mir hat er über die alten Karten gesprochen. Es gibt eine Durchfahrt. Aber mehr weiß ich auch nicht.“ „Ich habe ebenfalls keine Ahnung“, erwiderte Abraham. „Mit mir hat er über Untiefen und Klippen gesprochen. Sie sind dort, wo wir sie nicht vermuten, hat er gesagt.“ „Schöne Aussichten“, murmelte Erste. „Jedenfalls müssen wir zwischen den Inseln durch.“ „Das ist klar.“ Die Crew der Fleute war inzwischen erschöpft und schleppte sich übers Deck und die Niedergänge. Langsam wurde aufgeklart, aber die Holländer warfen immer wieder lange Blicke zu den Inseln und den Verfolgern. Der Himmel hatte sich grau gefärbt. Im Osten zeigte sich der erste rosafarbene Streifen. Aus den schwarzen Schattenrissen der Inseln schälten sich Einzelheiten heraus, die weiße Brandung,
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einzelne große Bäume, Felsen und tiefe Einschnitte. Auch im Fahrwasser, recht voraus, tauchten weiße Schaumwirbel auf. Die Balor begann aufzuholen. „Die Piraten geben nicht auf“, sagte Cornelis und hantierte an dem Geschütz. „Oder wir müssen sie alle einzeln umbringen, Mann für Mann.“ „Das schaffen wir nicht! Aber wenigstens sehen wir die Hundesöhne!“ rief Jan tom Broek und fuhr mit dem Auskratzer durch den Lauf der Drehbasse. „Und wenn wir sie sehen, dann treffen wir sie auch.“ „Dazu haben wir bald wieder Gelegenheit“, murmelte Janwillem. Mit rot unterlaufenen Augen stierte er zu dem Segel der Balor. „Wahrscheinlich wollen sie gar nicht uns, sondern das Schiff.“ „Und die Ladung natürlich.“ Stephanus stellte das Pulverfäßchen auf die Planken. Ein Wasserschwall aus einer triefenden Pütz schwemmte einen Teil des geronnenen Blutes weg. „Wir können uns noch immer wehren. Cornelis hat es ihnen gegeben.“ „Wir müssen die Balor in Fetzen schießen“, sagte der Rudergänger. „Die Boote sind nicht so wichtig.“ Die ersten Sonnenstrahlen zuckten über das Meer und zauberten plötzlich aus der dunkelgrauen Wand der Inseln die ersten Farben. Einige Mann der Crew hoben die Schultern und blickten hinüber zur Brandung, die an Felsen schlug, und hinauf zu den Vogelschwärmen, die aus den Baumkronen der Uferwälder aufflatterten. Die Balor hielt sich außer Schußweite, und die Holländer klarten die „Vlissingen“ auf und fragten sich, was ihnen in den nächsten Stunden drohte. Das grelle Sonnenlicht des frühen Morgens zeigte zwar die Buchten, Strände und Mangroven der Inseln, aber die Stimmung der Verfolgten wurde dadurch nicht besser. Die Crew, unausgeschlafen, durstig, hungrig und erschöpft, hatte, so schien es, den Mut verloren. Einige waren verwundet, und der Feldscher hatte die Blessuren verbunden, so gut es die knappe Zeit erlaubt hatte.
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„Reusselaer!“ rief der Erste, der sich selbst graue Salbe auf die Abschürfungen geschmiert hatte. „Hast du noch Feuer unter deinem Kessel?“ Die Stimme des Kochs klang ebenso müde wie die des Ersten: „Ich versuch gerade, einen Tee zu kochen. Gleich gibt's eine Muck kalten Reiswein.“ „Ist gut. Beeil dich. Die Kerle werden nicht mehr lange warten.“ Die Fleute hielt auf das Fahrwasser der breiten Passage zwischen einer ausnehmend großen und einer kleineren Insel zu. Wieder luden die Holländer ihre leergeschossenen Geschütze und Handfeuerwaffen. Die Segel sahen erbarmungswürdig aus. Große und kleine Brandlöcher mit schwarzen Rändern klafften in der gespannten Leinwand. Das Blau des Himmels leuchtete durch die Risse und Löcher. An vielen Stellen war das Tauwerk versengt oder verbrannt. Schwarz und grau rieselte zunderartige Asche aus den Wanten. Die „Vlissingen“ krängte nach Steuerbord, und die Gegenstände rollten über die schrägen Decksplanken. Die Crew, die Überlebenden der feigen Angriffe aus dem Dunkel, wirkte, als hätten die Männer eine Woche lang nicht geschlafen. Die Niedergeschlagenheit stand in ihren Gesichtern geschrieben. „Kannst du noch durchhalten, Abraham?“ fragte der Erste, der sich ebenso elend fühlte wie seine Männer. Er zog das Spektiv auseinander und hob es ans Auge. „Selbstverständlich, Frans“, erwiderte der Rudergänger. „Ob wir wollen oder nicht, wir müssen diese Mistkerle abschütteln oder vertreiben. Die Passage sieht gut aus, denke ich.“ Der Erste stieß einen langen Fluch hervor und beobachtete die Balor sowie die beiden Boote, die ihr dichtauf folgten. Die schnellen, leichten Schiffe rückten mit verdächtiger Schnelligkeit näher. An Deck wimmelte es geradezu von schlanken, braunen Körpern. An Bewaffnung schien es den Piraten nicht zu mangeln. „Ich weiß nur, was ich sehe“, erklärte Frans z'Waele nach einer Weile. „Ein paar
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Felsen recht voraus. Halte dich mehr an die Westspitze der linken Inseln.“ „Verstanden.“ Der Rudergänger schob die lange Pinne eine Handbreite nach Backbord. Ein wuchtiger Felsen, auf dem ein paar Kormorane saßen und ihr Gefieder putzten, wanderte nach Steuerbord aus. Als der Koch auftauchte und die Mucks verteilte, enterte Frans zur Kuhl ab und blieb mitten zwischen zwei Gruppen niedergeschlagener Männer stehen. Er hob zwei geladene Doppelläufige auf und steckte sie hinter seinen Gurt, „Freunde“, in einer halben Stunde sind wir genau zwischen den Inseln, an der engsten Stelle. Dann werden die Schufte so nahe gerückt sein, daß sie angreifen können.“ „Vielleicht überleben wir“, sagte Janwillem. „Aber ob das Schiff noch durchhält?“ Der Erste schüttelte den Kopf und ließ seine Blicke von einem stoppelbärtigen, rußverschmierten und mit getrocknetem Blut bedeckten Gesicht anderen wandern. „Wenn die Malaien uns entern, dann schneiden sie uns die Kehlen durch. Sie lassen niemanden am Leben Das wißt ihr genauso gut wie ich. Das sind mörderische kleine Schurken, und ihr habt miterlebt, daß sie kämpfen können. Vielleicht treffen wir diesmal die Balor besser. Dann sind wir sie los.“ „Und wenn nicht?“ Frans starrte Brom, dem Jüngsten der Crew, in die blauen Augen. „Dann sind wir entweder alle bald tot, oder wir verholen uns in eine Bucht. Ich weiß es nicht besser, Brom.“ Brom stemmte eine Muskete in die Höhe, schluckte und sagte mit heiserer Stimme: „Wenn sie uns entern, nehmen wir ein paar von ihnen mit, bevor wir hier sterben. Verdammte Piratenbrut!“ „Wir haben tapfer gekämpft. Ich stelle mich selbst an eine Culverine“, sagte Frans. „Wir brauchen nur einen einzigen richtig schweren Treffer, dann werden sie aufgeben. Und das kriegen wir hin, Männer! Holt euch vom Koch das Essen,
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ein Festmahl gibt's erst, wenn wir wieder auf offener See sind.“ „Verstanden, Frans.“ Er trank einen Becher leidlich heißen Tee, schlang trockenes Brot und salziges Fleisch hinunter und enterte wieder zum Achterdeck auf. Die Piraten hielten sich achteraus an Backbord und schienen noch zu zögern. Durch das Spektiv betrachtete Frans z'Waele die beiden Boote und den großen Segler. Er versuchte, die Absicht des Piratenführers zu erraten. Die Malaien taten das gleiche wie die Holländer: sie bereiteten ihre Waffen vor. „Noch ein paar Brandpfeile in die Segel, dann müssen wir pullen“, sagte der Rudergänger grimmig. „Wenn wir das Segel der Balor in Fetzen schießen könnten ...“ „Ich versuch's“, versprach der Erste. „Aber bei dem Wellengang wird ein guter Schuß nicht einfach sein.“ Die Culverinen waren geladen und wieder ausgerannt worden. Auch die Drehbassen waren eingesetzt und reckten ihre Mündungen schräg in den Himmel. Die Sonnenstrahlen brannten inzwischen heiß auf die Planken. An der engsten Stelle zwischen den Inseln nahm die Wellenhöhe zu. Die Brandungswellen an Backbord wuchsen höher und höher und brachen sich vor der ersten, flachen Bucht. Undeutlich, halb im Schatten, waren große Wasserflächen zu erkennen. In die erste Bucht schien ein Bach zu münden und verwandelte einen Teil des Geländes in einen Brackwassersumpf. Der Erste atmete tief durch und rieb seine tränenden, geröteten Augen. Noch gab es keine Anzeichen für einen baldigen Angriff. Die Piraten hatten erlebt, daß sich die Holländer nicht widerstandslos kapern ließen, sondern sich erbittert wehrten. Auch die Balor mußte den Riffen und den kochenden Gischtteppichen um die Felsnadeln ausweichen, die längst achteraus der „Vlissingen“ aus dem Wasser ragten. „Eine verdammt große Insel“, sagte der Rudergänger und deutete vage nach Backbord. „Ist das wirklich Komodo?“
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„Der Schipper war sicher“, erwiderte der Erste. „Aber so genau weiß ich das auch nicht. Hier ist jede von den verfluchten Inseln gleich wenig wert. Ich will hier nicht mal begraben sein.“ „Vielleicht gehen wir hier alle drauf. Aber warte nicht drauf, daß uns die Malaien würdevoll begraben.“ „Ganz bestimmt nicht“, brummte Frans z'Waele. Die Fleute tanzte durch die steilen Wellen, richtete sich auf und setzte mit dem Bug schwer ein. Die Crew hatte eine Rah abgefiert und versuchte, den letzten Fetzen Leinwand für ein Ersatzsegel zu nähen. Zwei Männer lagen in der Sonne und schliefen, zusammengekrümmt wie Kinder. überall reckten sich die Läufe der Musketen hoch, und Säbel steckten in den Planken. Neben den Drehbassen ringelten sich die Bußfäden der Lampen in die Höhe und zerfaserten im frischen, kühlenden Wind. Noch immer versuchten der Erste und der erschöpfte Rudergänger abzuschätzen, wie das nächste Manöver der Piraten vor sich gehen würde. Sie glitten an Steuerbord näher, und wenn sie den Wind in ihren großen Segeln richtig nutzten, dann griffen sie auch von Steuerbord an. Wenn der Rudergänger noch näher an die Brandung heransteuerte, hatten die Malaien keine andere Möglichkeit, im Bereich der Inseln und Passagen einen Angriff vorzutragen. Also von achtern und an Steuerbord. Leise unterhielt sich der Erste mit Abraham van Valken. „Einverstanden“, sagte der Rudergänger. Noch immer lief die Fleute mit raumem Wind, und die Segel brauchten nicht getrimmt zu werden, als die Fleute eine Kabellänge näher an die Brandung heransteuerte. Frans rief zu seinen Leuten hinunter: „Sie greifen von achtern und an Steuerbord an. Ich bin ganz sicher, daß sie es nur noch einmal versuchen. Bevor ihr schießt, laßt sie nahe genug heran. Und holt genug volle Pützen an Deck. Sie feuern sicher wieder Brandpfeile ab.“ „Verstanden, Frans!“
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„Ich gehe an die Steuerbordgeschütze und werde versuchen, das Segel zu zerfetzen oder in Brand zu schießen.“ „Viel Glück, Erster.“ „Danke. Brauchen wir alle. Zwanzig Minuten dauert's noch, schätze ich. Cornelis! An die achterlichen Drehbassen!“ „Komme schon“, Cornelis. Er wandte sich an Brom und deutete zur Back. „Stell dich in die Ecke, auf der Back. Vielleicht haben wir Untiefen voraus. „Sing's aus, wenn du was siehst, klar?“ „Klar, Cornelis. Sofort.“ Der Moses trank seinen Becher leer, sicherte seine Pistole und zog einen Säbel aus dem Holz. Er schlich mit hängenden Schultern zum Bug und enterte zur Back auf. Seine Kameraden standen am Schanzkleid, lehnten sich schwer dagegen und umklammerten ihre Waffen. Mit schweren Tritten stieg Cornelis aufs Achterdeck. „Nach diesem Kampf wissen wir alles“, sagte Abraham zu Cornelis. „Ich halte Kurs. Besser kann ich nicht helfen.“ „Sieh zu, daß du nicht auch noch einen Pfeil oder einen Speer einfängst, sie zielen sicher auf den Rudergänger“, sagte der Erste. „So wie wir, Frans“, erwiderte Abraham. Die drei Verfolger hielten sich noch er in einer Entfernung auf, in der ein Schuß aus den Culverinen, auch wegen des Seeganges, reine Verschwendung von Pulver und Geschossen war. Die Piraten segelten fast schon querab. Der Erste versuchte wieder zu zählen und kam auf mehr als dreißig Männer. Achtzehn gegen dreißig oder mehr. Er nickte fatalistisch. Der Erste warf einen letzten Blick durch den Kieker und sah, was er erwartet hatte. Die malaiischen Piraten griffen an. Jetzt. Er schob das Rohr zusammen und steckte es ein. Dann schlug er dem Rudergänger auf die Schulter und knurrte: „Es geht los, Abraham. Die Malaien greifen an.“ „Ich seh's, Frans.“ Der Erste enterte ab und kauerte sich hinter die Lafette des Geschützes. Er spähte
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durch den Ausschnitt, den die Stückpforte zuließ. Im eckigen Rahmen sah er die Bordwand der Balor, dann den Bug, schließlich nur noch Wellen, Gischt und die schreckerregende Maske der Galionsfigur. Die Fleute hob und senkte sich, gierte stark, und vor der Mündung des Geschützes zeigte sich innerhalb eines Atemzuges eine Folge von verschiedenen Bildern. Nur der Hintergrund blieb stets derselbe. „Verdammt“, sagte er, den Rauch des Lampenflämmchens in den Augen und in der Nase. „Ich muß warten, bis sie direkt vor der Mündung sind. Und diesen Gefallen tun sie mir sicher nicht.“ Er hielt sich an den Brooktauen fest und kauerte zwischen den beiden Lafetten. Er beobachtete, wie die Balor und die Boote den Kurs änderten. Eine Piahiap verschwand aus seinem Sichtbereich und glitt nach achtern ins Kielwasser der Fleute. Die Balor hatte die „Vlissingen“ überholt und steuerte jetzt auf die Steuerbordseite zu. Aber es war sinnlos, jetzt schon zu feuern. Der Schuß würde irgendetwas treffen, aber sicher nicht das, auf _das er zielte. Er wartete fluchend und hörte ein paar Atemzüge später die lauten, kreischenden Angriffsschreie der Malaien. Er zuckte mit den Schultern und zündete die Lunte an. Vorübergehend blieben die Bilder vor den Stückpforten weniger bewegt, und er dachte daran, den Lauf zu senken, aber kaum hatte er die Hand ausgestreckt, um den Richtkeil zu packen, krängte die Fleute wieder, und die Mündung deutete auf Wasser, Schaum und Wellenberge. Die Malaien schossen einen Pfeilhagel zur Fleute, schleuderten die Speere, feuerten Brandpfeile ab und glitten mit killendem Segel näher. Die ersten Musketenschüsse krachten. Noch immer hoffte Frans z'Waele, daß die wilden Bewegungen der beiden Schiffe wenigstens ein paar Atemzüge lang aufhörten. Cornelis zündete die erste Drehbasse. Dem Schuß und einem schwach rollenden Echo zwischen den Felsen und den riesigen
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Baumstämmen am Ufer folgte ein weiterer Wutschrei aus vielen malaiischen Kehlen. Der Erste sah die Planken der Balor, für einen langen Augenblick den Bug und das riesige Auge an Backbord, und sein Arm zuckte hinüber zum Pulverloch. Sprühend und zischend brannte das Pulver, dann verschwand die Flamme im Zündloch. Frans robbte zur Seite. Der Schuß löste sich mit donnerndem Krachen, das Geschützrohr wurde mit der Lafette rückwärts gerissen. Durch die Stückpforte quoll in dichten Wolken das graue Pulvergas. „Hoffentlich habe ich getroffen“, murmelte der Erste. Er erreichte das andere Geschütz und spähte zum Gegner. Er konnte weder die Balor noch das Boot sehen, aber er hörte durch das Sirren in seinen Ohren, daß der Kampf in vollem Gang war. Über das Deck schrie der Rudergänger brüllend seine Befehle. Von seinem Platz aus konnte er alles am besten überblicken. Pfeile bohrten sich in die Bordwand, ins Schanzkleid und in die Masten, schwirrten über die Köpfe der Männer und fielen an Backbord wirkungslos ins Wasser. Brandpfeile hatten sich in den Steuerbordwanten und in zwei Segeln verfangen. Die Flammen loderten und fraßen sich durch die Leinwand, an den Kauschen und Gordings entlang und in die Höhe. Noch immer zischten die Wurfspeere durch die Luft. Eine gehackte Ladung aus der Drehbasse war ins Segel des Beibootes gefeuert worden und hatte Mast, Rahrute und Stoff zerfetzt. Das Boot trieb quer im Kielwasser der „Vlissingen“, und die Malaien drohten schreiend mit den Fäusten. Die Holländer zielten sorgfältig und schossen nur, wenn sie auch glaubten, treffen zu können. Rauch aus Pistolenläufen und aus den Mündungen der Musketen brodelte auf und wurde vom Wind mit dem Rauch und den Flammen aus den Segeln vermischt. In der Bordwand der Balor klaffte ein vier Fuß breites Loch, gesäumt von den langen,
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hellen Splittern des zerfetzten Holzes. Dahinter lag ein blutüberströmter Pirat. Die Balor war dem Bug näher als dem Heck. Die schweren Geschütze konnten nicht so weit versetzt werden, daß ein Treffer möglich war. Cornelis hob die leergeschossene Drehbasse aus ihrer Halterung, legte sie an Deck und sprang nach Backbord, um das kleine Geschütz zu holen und an Steuerbord einzusetzen. Die Malaien schossen und schleuderten alles, was sie hatten, zu den Holländern hinüber. Ihre Vorräte an Pfeilen, Brandpfeilen und Speeren schienen riesengroß zu sein. Die letzten Schüsse aus den Feuerwaffen bellten und peitschten. Cornelis schwenkte die Drehbasse herum, packte den Stiel und zielte auf den Rudergänger der Balor, obwohl Pfeile heranflogen. Zweimal duckte er sich, als er die kurzen Bambusspeere sah, die schreiende Piraten auf ihn schleuderten. Er richtete sich wieder auf und zündete die Drehbasse. Als er den Schlag des Rückstoßes bis hinauf in seine Schulter spürte, ging er hinter dem Schanzkleid in die Knie und hustete. Die „Vlissingen“ drehte in einer engen Neunzig-Grad-Kurve nach Backbord. Der Bug hob sich in der Brandungswelle, dann stieg das Heck in die Höhe, schließlich packte die unwiderstehliche Kraft der rollenden Brandung das Schiff und jagte es, den Bugspriet auf den Mittelpunkt einer flachen, großen Bucht ausgerichtet, geradeaus auf den Strand zu. Der Großmast, dessen Wanten verbrannt waren, schüttelte sich lose und kippte nach Steuerbord über das Schanzkleid. Die Krone der Brandungswelle, die in eine mächtige Gischtrolle mündete, löschte die Brände und erstickte die Flammen. Die Holländer wurden von den Beinen gerissen, brachen auf Deck zusammen und versuchten sich während der rasenden Fahrt der Fleute festzuhalten und aufzurichten. Die Malaien schrien vor Freude, als sahen, daß ihre Beute auf den seichten Teil der Bucht zugetrieben wurde.
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Abraham van Valken verblutete, während sein Körper über der Pinne und zugleich mit dem langen Holzteil hin und her geschwenkt wurde. Finger und Stiefelspitzen schleiften über die Planken. Aus dem fast vier fingerbreiten tiefen Schnitt an seinem Hals schoß ein dicker Blutstrom in langen Stößen. Der Speer, dessen Schneide Haut und Sehnen und die Ader aufgerissen hatte, steckte noch zitternd im Schanzkleid, als sich Cornelis nach der Zündung der Drehbasse aufrichtete und umdrehte. „Mein Gott“, entfuhr es ihm. „Abraham ...“ Die Holländer schrien und fluchten. Die Fleute raste mitten in der zusammenbrechenden Brandungswelle scheinbar doppelt so schnell wie zuvor durch das Wasser, das seine Farbe langsam änderte. Die Balor hatte, halb versteckt hinter der Welle, abgedreht. Ein letzter Musketenschuß dröhnte auf. Das Siegesgeschrei der Malaien wurde vom Donnern und Zischen der. Brandung übertönt. Starr vor Schreck, sahen die Holländer, wie sich die Farbe des Wassers änderte, wie der Boden unter dem glasklaren Wasser grünlich zu schimmern begann, wie sich der Rand der Sandzunge näherte. Die schnelle Fahrt des Schiffes hörte auf, und noch bevor jemand richtig zur Besinnung gelangt war und das Unglück in seiner vollen Tragweite begriff, lief die „Vlissingen“ auf. Unter dem Bug berührte der Kiel den Grund. Die Fleute wurde von einer unsichtbaren Hand angehalten, das Heck schwang blitzschnell über Steuerbord herum. Der Kiel schrammte über Sand und Geröll. Ein paar Herzschläge danach schob sich die Fleute quer zur Strömung über den Grund. Gräßliche Geräusche tobten durch das Schiff und vergrößerten das Entsetzen der Überlebenden. Der Kiel wurde in voller Breite in den Sand gerammt. Die Wucht der
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auslaufenden Welle packte den Rumpf und kippte ihn über die Steuerbordseite um. Losgerissene Gegenstände, Waffen, Mucks und Pützen, Leinen und Segel wurden vom Deck, aus den Wanten und von den Planken gerissen und im hohen Bogen ins Wasser geschleudert. Die Holländer verloren den Halt, überschlugen sich, wurden durch die Luft gewirbelt und aus dem Schiff geschleudert, mitten in eine gischtende, auslaufende Brandungswelle hinein, die sie packte und dem Ende des Strandes entgegenschob. Die Fleute blieb auf der Seite liegen, richtete sich im zurückflutenden Wasser ein wenig auf und bohrte den Kiel tiefer in den strudelnden Sand. Von den Waldrändern hallte das gewaltige Krachen und Klatschen wider, als Frans z'Waele auftauchte, röchelnd nach Luft schnappte und festen Boden unter seinen Sohlen spürte. Trümmer und zahllose Gegenstände trieben auf die „Vlissingen“ zu und wurden von der nächsten Welle hinter den schwimmenden, watenden und schwankenden Männern her zum Strand geschoben. Aus dem Inneren der Fleute, deren Bordwände aus dem Wasser getaucht waren, ertönten schauerliche Geräusche. „Aus! Schiff verloren, gestrandet“, murmelte der Erste und sah zu seinem Entsetzen, wie der Körper des Rudergängers auf dem Bauch und mit ausgebreiteten Gliedmaßen an ihm vorbeitrieb, eine breite Blutspur durchs Wasser zog und langsam in der Strömung kreiselte. Frans kämpfte sich durch brusttiefes, dann kniehohes Wasser und stöhnte, während er gierig einatmete und sich das Wasser aus dem Haar und den Augen wischte. Langsam wandte er sich um und versuchte zu zählen. „Wie viele sind wir noch?“ stieß er hervor. Er überlegte: zusammen mit ihm sollte es siebzehn überlebende geben. Er watete durch das schienbeintiefe Wasser und versuchte, die anderen Flüchtenden zu zählen.
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Als er sich wieder umdrehte, sah er die Piratenbalor, die mit gerefftem Segel durch die Brandung schoß und auf die gestrandete „Vlissingen“ zuhielt. In einer riesigen Wolke aus Gischt folgten die beiden Boote rechts und links des großen Schiffes. Die dämonische Galionsmaske strahlte und funkelte am Bug. „Siebzehn?“ murmelte er, dann winkte er und schrie: „Zum Strand! Sie bringen uns alle um, wenn sie uns erwischen!“ Die Massenflucht durch niedriges Wasser ging weiter. Nur einen regungslosen Körper konnte Frans z'Waele erkennen: den des Rudergängers, einer seiner besten Freunde in der Crew. Er zählte zum drittenmal und gab es auf. Während Frans versuchte, die rund zweihundertfünfundziebzig Yards bis zum höchsten Punkt des Strandes und zum Rand des Uferwaldes möglichst schnell zurückzulegen, stolperte vor ihm der junge Brom. Frans faßte zu, legte den Arm des Moses über seine Schulter und schleppte ihn mit sich. Unter seinen Sohlen knirschte Sand. Frans blieb stehen, ließ den Jungen zu Boden gleiten und begann seine Crew erneut zu zählen. „Ein Wunder“, sagte er. „Siebzehn. Alles verloren — nur nicht das Leben.“ Er ging zur größten Gruppe hinüber. Die Holländer blickten zum Schiff und sahen, daß die Balor gewendet hatte und längsseits an die Steuerbordseite der „Vlissingen“ herangegangen war. Jetzt wurden Bug und Heck am eigenen Schiff belegt. „So, Männer“, sagte er und blickte in verzweifelten und hoffnungslose Gesichter. „Noch leben wir. Die glückliche Heimfahrt an die Schelde sollten wir schnell vergessen, und das ist bitter.“ Keiner antwortete. Sie verließen triefend und aus zahlreichen Wunden Abschürfungen blutend das flache Wasser und standen halb in der Sonne, halb im tiefschwarzen Schatten des Waldes. Sie starrten zum Wrack hinüber und zu den Piraten, die in großer Eile angefangen hatten, die Laderäume zu plündern. Vor
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den Augen des Ersten drehten sich Kreise und Wirbel. Er mußte versuchen, mit der gewaltigen Enttäuschung, der Wut und dem Gefühl der Niederlage fertig zu werden. Er schwieg, ging ein paar Schritte in den Schatten, setzte sich in den kühlen, feuchten Sand und stützte den Kopf in die Hände. Vielleicht konnten sie das Schiff retten, den Mast und das Segel bergen und zu einem holländischen Stützpunkt zurücksegeln. Vielleicht kümmerten sich die Malaien um die Ladung und verfolgten die Holländer nicht weiter. Vielleicht überlebten sie hier im Inseldschungel - wenigstens so lange, bis zufällig ein Schiff vorbeisegelte, sie dieses es Schiff sahen und der Schipper ihre Rauchsignale entdeckte. Die nächsten Stunden, Wochen und Monate bestanden aus lauter „Vielleichts“. Die Ladung, die Vorräte, ihre Seekisten - alles verloren! „O Anneke“, murmelte Frans z'Waele. „Du wirst lange auf mich warten müssen. Vielleicht sehen wir uns niemals wieder.“ Er richtete seine Blicke auf das Wrack, die riesige, flache Bucht und die Sträucher und Bambusstreifen an ihren Ufern, auf seine Kameraden und die Trümmer und Hinterlassenschaften aus der Fleute, die von der Strömung zum tiefsten Punkt der Bucht getrieben wurden. Ächzend stemmte er sich in die Höhe und stolperte auf die Crew zu. „Habt ihr einen besseren Einfall?“ sagte er vorwurfsvoll. Er sah sich längst nicht mehr als Vertreter des toten Kapitäns, sondern als einen Schiffbrüchigen unter vielen anderen. „Die Malaien kümmern sich nicht mehr um uns. Holen wir aus dem Wasser, was wir brauchen können.“ „Zu was?“ fragte Ari van Valdern. „Zum Überleben“, entgegnete Frans. „Oder glaubt ihr, daß uns die Piraten jeden Mittag füttern? Wir sind alle müde und erschöpft. Schlafen dürfen wir erst, wenn sie weg sind.“ „Ist ja schon gut“, brummte Jan tom Broek und zerrte sich langsam die Stiefel von den
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Füßen, bevor er ins Wasser watete und nach einzelnen Teilen des Treibgutes fischte. Der Tag, sonnig und wolkenlos, versprach schön, aber heiß zu werden. Die große, flache Bucht wäre ein herrlicher Platz für einen kurzen Aufenthalt gewesen. Fast an allen Stellen von Buschwerk und Wald umgeben, breitete sich die Öffnung zwischen den Huks mehr als eine halbe Seemeile breit aus. Ein Bach aus dem dichten Wald mündete auf der linken Seite der leeren, sandigen Fläche. An vielen Stellen wucherten ausgedehnte Bambushaine. Über der Bucht kreisten Fischadler über den Schwärmen vieler kleiner Vögel. Das Wasser war klar wie der Himmel. Zwischen den Wällen des Treibgutes ragten, jenseits der Flutwasserlinie, die weißen Äste und Stämme großer Mengen Treibholz hervor. Die Bucht öffnete sich nach Nordosten. Cornelis stapfte auf Frans z'Waele zu, richtete seinen Blick auf die Plünderer und sagte erbittert: „Wir müssen auf Knien danken, wenn wir überleben. Die Ladung, das Schiff – alles verloren.“ „Ich versuche damit fertig zu werden. Pieter, Abraham, Dirck und Beekman sind tot. Hoffentlich können wir die ,Vlissingen` wieder einigermaßen aufklaren. Eine schreckliche Nacht. Aber wir leben, und das ist das Wichtigste, Cornelis.“ Was die Crew aus dem Wasser und vom Rand des Strandes aufsammelte, war möglicherweise wertvoll für das Überleben am Strand und im Wald, stellte aber darüber hinaus keinen wirklichen Wert dar. Während sie müde nach Schalen, Mucks und Hemden, einer Pütz und Holztrümmern fischten, Tampen aus den niedrigen Wellen zogen, Marlspieker und Handspaken, hoben die Holländer immer wieder die nassen Köpfe und starrten zu den Piraten, die alle ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche zerstört hatten. Die Malaien hatten zwischen der Kuhl der Balor und den Laderäumen der Fleute eine Kette gebildet. Kiste um Kiste, Ballen, Säcke und Fässer wurden unter Gelächter
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und Gejohle aus dem unbeweglichen Wrack gewuchtet, an Deck gestemmt und in die Balor verladen. Die vielen kleinen Gestalten arbeiteten mit fieberhafter Eile. „Sie nehmen alles mit, was sie tragen können“, sagte Peter van Coopen. „Wenn die Balor voll ist, fallen sie über uns her“, murmelte Marten und schleppte einen Riemen aufs Trockene. „Wir enden hier auf der Insel` sagte Stephanus von Cortland heiser, „und niemand wird uns finden.“ Frans brüllte in einer plötzlichen Aufwallung von Wut und aufflackerndem Kampfgeist: „Ihr Schlappschwänze! Mir kommen gleich die Tränen! Seid froh, daß ihr noch lebt! Wo Leben ist, kann man hoffen. Packt das Zeug und lauft zum Wald.“ „Jawohl“, murmelte Herman, schulterte ein Bündel aus Leinen und bewegte sich mit hängenden Schultern auf jene Stelle des Strandes zu, an der sich zwischen krummen Palmenstämmen ein breiter Durchgang zum Dschungel zu öffnen schien. Die anderen Holländer folgten, einer nach dem anderen. Alle Dutzend Schritte blieben sie stehen und versuchten, sich vom traurigen Anblick der Fleute loszureißen. Auch beide Boote wurden beladen, und zwischen Bug und Heck stapelten sich pralle Säcke. Die Piraten banden die Seekisten mit Tauwerk und Lianenschnüren fest. „Immerhin. Wir werden nicht verhungern”, sagte Janwillem leise. „Es gibt Kokosnüsse.“ Die siebzehn Überlebenden besaßen ihre Kleidung und die Messer. Sie würden sich auch ein Lager und Feuer verschaffen können. Aber gegen die Piraten, die auch Musketen, Pistolen, Pulver und Geschosse erbeutet hatten, blieben sie ziemlich wehrlos. Brom und Reusselaer verschwanden hinter den Palmenschäften und warfen am Rand der Büsche ihre Bündel in den Sand.
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„Ich bin durstig“, sagte der Moses leise. „Und hungrig. Und so müde, daß ich umfallen könnte.“ „Ich auch“, antwortete Peter von Coopen. „Wir müssen bereit sein, Moses. Wahrscheinlich verfolgen sie uns, die Mistkerle.“ Noch sah es nicht danach aus. Binnen weniger Minuten hatten sich die Gestrandeten im gescheckten Schatten unter den knurrenden und raschelnden Palmwipfeln versammelt. Frans z'Waele betrachtete stirnrunzelnd die wenigen Funde und sagte: „Wenn sie wegsegeln, ohne daß sie uns abschlachten wollen, sehen wir erst mal in der Fleute nach. Wahrscheinlich finden wir noch das eine, oder andere.“ „Ich glaube, sie sind mit der Beute frieden“, sagte Cornelis. Die Holländer sortierten ihre Funde auseinander und legten jedes Stück, das als Waffe dienen konnte, zur Seite. Frans ging nach links zwischen die Büsche, bewegte sich hundert Schritte weit schräg ins Innere der Insel und schaute sich um. Im Sand hatte er nur Spuren von Tieren, aber keine Fußabdrücke von Eingeborenen entdeckt. Er sah nichts, das ihn beunruhigte, zuckte mit den Schultern und rieb das Salz von der Stirn und vom Hals. Es fing an, in den Schnitten und offenen Stellen zu beißen und zu schmerzen. Die mörderische Stimmung des Ersten, der nicht mehr war als einer von einer Handvoll Gestrandeter und Ausgeplünderter, verschaffte sich mit einer Reihe lauter und ausgesucht kräftiger Flüche Luft. Er fühlte sich, als er erschöpft schwieg, keineswegs 'besser. Als er zwischen den letzten Palmenstämmen und entlang einer Zone doppelt mannshohem Bambus entlangstolperte und sich nach rechts wandte, um wieder zu seinen Kameraden zurückzukehren, sah er vor sich auf einer sonnenbeschienenen Sandfläche seltsame Spuren. „Was ist das?“ murmelte er. Er starrte auf unzählige schmale Furchen im Boden. Sie waren wild durcheinander
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gezogen, nebeneinander und übereinander. Sie bildeten ein verwirrendes Muster aus fingertiefen Rinnen. Er hatte derlei noch nie in seinem Leben gesehen. Schweigend drehte er den Kopf, starrte zwischen die Büsche und suchte mit den Blicken die Umgebung ab. Die Spuren hatten keinen Anfang und kein Ende. Sie breiteten sich nur auf der Sandfläche aus. Schließlich zuckte der Erste mit den Schultern und ging zu Peter van Coopen hinüber. „Ein Boot legt ab. Sie haben genug erbeutet“, sagte Peter und deutete zu den Piraten am Schiff. „Setzen sie etwa doch zum Strand über?” fragte der Erste und blieb zwischen den Palmenstämmen stehen. Die Crew hatte sich etwa zweihundert Schritte ins Innere der Insel zurückgezogen und eine breite Spur zurückgelassen. „Es sieht nicht danach aus“, erwiderte Peter. Frans und Peter starrten auf das Bild, das deutlich zeigte, wie ihre letzten Hoffnungen zerstört wurden. Die Malaien hatten offensichtlich alles; was für sie wichtig war, an Bord der eigenen Boote und der Balor gebracht. Das zweite Boot legte ab und wurde um das Heck der „Vlissingen“ herumgepullt, dann fuhr der Wind ins Segel. Von der Balor sprangen ein paar Piraten mit rauchenden Fackeln hinüber zur Fleute. „Diese verfluchten Hundesöhne“ preßte Peter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sie zünden unser Schiff an.“ Die Leinen der Balor wurden losgeworfen. Nur eine einzelne Leine hing von der Rah der „Vlissingen“ hinunter. Die Piraten waren im Bauch der Fleute verschwunden, und an einem halben Dutzend Stellen zwischen Back und Achterdeck kräuselte sich schwarzer Rauch in die Höhe. „Tatsächlich“, sagte Frans z'Waele. „Und wir können uns nicht gegen die Mistkerle wehren.“ Er ließ die Schultern hängen und fluchte. Ein Pirat stellte seinen Fuß in das Auge der Leine, warf die Fackel aufs Achterdeck
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und schwang sich auf die Back der Balor. Die ersten Flammen züngelten mittschiffs über das Holz des Schanzkleides. Obwohl die Holländer dieses gräßliche Ende geahnt hatten, waren sie starr vor Schrecken und Wut. Ihre Möglichkeiten, auf der Insel zu überleben, kannten sie nicht. Aber sie wären in der Lage gewesen, ihre Fleute wieder einigermaßen herzurichten. Jeder war ein Handwerker. Der nächste Pirat schwang sich vom Deck, die Flammen waren größer geworden. Rauch hüllte die Back ein, Tauwerk und Segel standen in hellen Flammen. „Vielleicht verbrennt nicht alles“, versuchte Frans den anderen zu trösten. Am Tonfall erkannte Peter, daß der Erste selbst nicht daran glaubte. „Was willst du mit einem Kiel und ein paar Planken anfangen? Ein Floß bauen?“ fragte Peter zurück. Der letzte Malaie verließ das brennende Wrack. Mit Bambusstangen stießen die Piraten die Balor von der Bordwand ab, stakten sie in genügend großen Abstand und in weitem Bogen um das Heck der „Vlissingen“ herum und auf weißen Wellenstreifen der Brandung zu. Halblaut sagte der Erste: „Jetzt wissen wir wenigstens, daß sie nicht vorhaben, uns abzumurksen. Es ging ihnen um die Beute.“ „Das stimmt mich nicht freudiger. Was fangen wir jetzt an, Frans?“ „Wasser suchen und erst mal ein paar Stunden schlafen“, schlug der Erste vor. „Und zuschauen, wie unser braves Schiff in Rauch aufgeht.“ Die Fleute rührte sich auch jetzt nicht, obwohl sie deutlich höher aus dem Wasser gerückt war. Die Flammen hatten sich über die gesamte Länge des Schiffes ausgebreitet. Die Segel fielen als große, schwarze Flecken in den Rauch, das Prasseln der Flammen war bis zum Strand zu hören. Aus den Stückpforten wirbelten schwarzer Qualm und lange Flammen, die im Rauch unsichtbar wurden. „Es ist aus. Mit dem, was uns das Feuer übrigläßt, können wir nichts mehr anfangen“, sagte der Erste. Seine Augen
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unter den buschigen Brauen schimmerten feucht. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen.“ „Gehen wir.“ Sie wandten sich ab. Die Crew war, vom Prasseln und Heulen des Feuers aufgeschreckt, zwischen den Büschen erschienen und stand ebenso starr und fassungslos da wie der Erste und Peter van Coopen. Als sie zwischen den Crewmitgliedern standen, sagte der Erste: „Wir suchen uns einen kühlen Platz und schlafen. War von euch schon einer an dem Bach?“ „Ja, ich“, sagte der Moses. „Das Wasser ist gut. Eine Menge Spuren von Tieren.“ „Gut. Ich bin dort drüben im Schatten.“ Der Erste ging bis zum Waldrand und setzte sich zwischen zwei Büsche mit breiten Blättern. Er fing an, die Stiefel von den Füßen zu zerren und entledigte sich der feuchten, stinkenden Jacke. Aber auch von hier aus sah er mitten in der Bucht die Flamen und die Rauchsäule, die vom verbrennenden Wrack aufstieg und nach Südwesten abgetrieben wurde. Gleichmäßig rollte die Brandung heran, brach sich und schlug gegen die Pranken des unbeweglichen Wracks. * Die Piraten waren verschwunden. Kein anderes Boot zeigte sich. Die Überlebenden der „Vlissingen“ hatten sich, den erbärmlichen Besitz neben sich, im Sand ausgestreckt und schliefen. Keiner stand Wache, es gab keine Eingeborenen, vor denen sie sich hätten fürchten müssen. In zwei Stunden würde die Sonne ihren höchsten Stand erreicht haben. Die Holländer atmeten laut, stöhnten und schnarchten. Aus dem Wrack, dessen Spanten schwarz in die Luft ragten, stiegen nur noch dünne Rauchfäden auf. Das Schiff war bis zur Wasserlinie verbrannt. Die dicksten Holzteile glühten noch, von dicken schwarzen Aschenbrocken und Schlacken bedeckt. Dampfwolken trieben langsam über das Wasser davon. Die große Bucht lag ruhig da, nur Vogelgeschrei und
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die Wellen waren zu hören, die über den Sand zischten. Über den stahlblauen Himmel segelten einige weiße Wolken. Große Vögel flogen mit langsamen Flügelschlägen zwischen dem Wald und dem seichten Wasser hin und her. Schwüle Hitze lagerte über dem Uferwald und dem spiegelnden Halbrund der Bucht. Die siebzehn Schiffbrüchigen schliefen tief und schwitzten trotz des Schattens. Der Sog in der namenlosen Bucht schwemmte aus dem Wrack einige halbverbrannte und rußbedeckte Reste zum Ufer. Ein lauter Möwenschrei schnitt durch die Stille. Die Holländer wußten, daß sie alles verloren hatten. Die Erkenntnis hatte sie betäubt. Aber Frans z'Waeles Alptraum handelte davon, wie sie sich ins Innere dieser Insel kämpfen würden, wie sie eine gute Quelle entdeckten und versuchten, aus den kümmerlichen Resten der Fleute ein segelfähiges und seetüchtiges Boot zu zimmern, mit dem sie die nächste holländische Niederlassung anlaufen konnten. 4. Brom, der Moses, reinigte mit Sand und einem nassen Lappen ein Fäßchen, das angetrieben war, ein offenes Wasserfaß, das rußbedeckt gewesen war. Hinter sich hörte er, wie seine Kameraden dicke und dünnere Bambusschäfte mit ihren Messern abzusägen versuchten. Herman hatte sich ausgezogen, war zum Wrack geschwommen und hatte im Kielraum, in einer Wuhling aus verbrannten Bruchstücken, Fetzen und Trümmern zwei Säbel und eine Säge aus dem Werkzeug des Schiffszimmermanns gefunden. Vielleicht gab es noch andere und bessere Fundstücke. Die Stiefel der Holländer hingen an den niedrigen Ästen der Bäume und trockneten in der Hitze. Am Nachmittag hatte Brom, von Durst und trockenen Lippen gefoltert, einen feuchten Tierpfad entdeckt, der weit in den
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Dschungel führte. Am Fuß einer Handvoll riesiger Steine sickerte klares Wasser aus der Erde. Rings um den schmalen Wasserlauf breitete sich ein kleiner Sumpf aus, der aus Lehm und unzähligen Spuren von Tieren bestand, die das Erdreich zerwühlt hatten. Brom fing sofort zu arbeiten an. Er schichtete die Steine um, grub mit den Händen im Schlamm und hatte eine Stunde später ein tiefes, längliches Becken fertig, abgestützt mit abgebrochenen Zweigen und Bambus, in dem sich das Wasser sammelte. Brom schnitt Zweige ab, als er zurückging, sammelte sie und sah zu, daß er alle Hindernisse auf dem Pfad beseitigte. Er schaute sich nach Beeren und Früchten um und hörte unentwegt, ohne daß er etwas sah, das Rascheln kleiner Tiere hinter dem Gebüsch, in der Dunkelheit des Waldes. Nur wenig Sonnenlicht schimmerte durch das Blätterdach. Als die Sonnenstrahlen zahlreicher wurden und die Helligkeit zunahm, wusste Brom, daß er sich nicht verlaufen hatte. Er gelangte zwischen dünnen Büschen, Bambus und den Wurzeln der Palmen wieder auf den Bereich des Strandes. „Wir haben gutes Wasser, gar nicht weit entfernt“, meldete er dem Ersten. Frans deutete zum Strand und sagte: „Ich glaube, da schwimmt ein Faß. Wenn du's rausholst, haben wir ein kleines Wasserfaß. Klar?“ „Klar, Mijnheer.“ Jetzt hatte er das Faß außen und innen tadellos sauber und schleppte es ins grelle Sonnenlicht. Kurz nach Mittag war ein leichter Wind aus Norden aufgekommen und hatte den letzten stinkenden Rauch des Wracks in die Nasen der Schläfer getrieben. Die ärgste Hitze und die feuchte Luft waren vertrieben worden, aber die Mücken stachen und bissen wie die Rasenden. Frans winkte Reusselaer und Janwillem und sagte: „Ihr könnt euch für das Faß ein Tragegestell zusammenzurren. Dann laßt euch von Brom zeigen, wo wir das Wasser finden. Ich kümmere mich um das Feuer.“
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„Sehr gut, Frans. Wir holen Wasser. Los, Brom. Zeig uns den Weg.“ Bambusabschnitte, ein paar rußgeschwärzte Enden und das Faß waren mit wenigen Griffen und mit Pützensteks miteinander verbunden. Die drei Männer verschwanden zwischen den Palmenstämmen. Herman wühlte in den schmierigen, rußigen Abfällen in der Bilge und hatte noch immer keine Axt entdeckt. Der Erste und Stephanus von Cortland zerrten aus den riesigen Haufen Tang und Treibholz die kleinsten Äste und Knüppel hervor und schichteten sie an der höchsten Stelle des Strandes, wo die Crew ihr erstes Lager aufgeschlagen hatte, zu einem spitzen Haufen zusammen. Das Holz war schneeweiß und mit einer dünnen Schicht Salz bedeckt. Die beiden steckten Bambusspreißel und trockenen Tang zwischen die knorrigen Äste und abgesplitterten Stämme. „Wenn wir wenigstens Segelleinen hätten!“ rief Reymers. Er war halb nackt und schwitzte ebenso wie alle anderen. „Was meinst du, Frans, können wir mit der ,Vlissingen` noch was anfangen?“ „Das kannst du Herman fragen, wenn er wieder hier ist.“ „Ich glaube, ich schwimm' rüber und helfe ihm“, sagte Marten. „Kann ja sein, daß wir doch noch ein bißchen Glück haben.“ Während die Holländer weiter arbeiteten und versuchten, sich zwischen Palmen und Büschen einzurichten, dachten sie darüber nach. Wenn der Kiel und die Spanten sowie ein Teil der Planken noch in Ordnung waren und man den Steinballast bei Ebbe aus der Bilge hinauswarf, war es vielleicht möglich, eine Art Boot zu bauen. Aber dazu brauchten sie Werkzeug, und es sah nicht danach aus, als ob in den Resten noch etwas zu finden war. „In Ordnung“, sagte der Erste. „Sieh zu, daß du etwas findest. Wir brauchen jede Kleinigkeit.“ Cornelis und Jan tom Broek sammelten Kokosnüsse auf und brachten Arm um Arm zum Lagerplatz. Frans versuchte, aus einem dünnen Stück Bambus sowie einem Kardeel aus einem armlangen Tampen
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einen Feuerbogen herzustellen und spannte den federnden Bambus. Sie brauchten ein Feuer, obwohl es nicht mal einen winzigen Braten gab. Marten watete ins Wasser und schwamm, als er den Boden unter den Füßen verlor, zum Wrack. Die Strömung schob alles, was Herman aus der Bilge holte, in einer langen Zickzackbahn zum Strand. Noch drei Stunden bis zur Abenddämmerung, sagte sich Frans und suchte in den Trümmern nach einem Stab und einem Brett oder einer zerbrochenen Planke, um seinen Feuerbohrer in Tätigkeit setzen zu können. Die anderen fuhren fort, aus Palmwedeln und Bambus einfache Hütten und Verschläge zu bauen, Kokosnüsse zu halbieren und das Fruchtfleisch zu kauen, das im Mund aufquoll und das Gefühl des würgenden Hungers milderte. „Morgen suchen wir uns einen Platz, an dem wir Beeren und Früchte finden!“ rief Frans und preßte den flachen Kieselstein auf das obere Ende des leidlich geraden Astes, dessen Spitze sich in einer Vertiefung der Planke einmal rechtsherum, einmal linksherum drehte, summend und knirschend, und schon stieg dünner Rauch auf. „Und einen richtigen Braten“, sagte Ari van Valdern, der zwischen den Büschen nach Blättern suchte, aus denen man so etwas Ähnliches wie einen Tee kochen konnte. Trockene Grashalme, dürrer Tang und Blätter fingen schließlich Feuer. Fans blies kräftig in die winzigen Flämmchen. Dann brannten endlich die Bambussplitter, schließlich leckten die Flammen an dem salzigen Treibholz. „So“, sagte Frans und stand auf. .,Der erste Schritt. Mit heißem Wasser könnten wir uns sogar rasieren, wenn nicht alles verbrannt wäre.“ Die Wasserholer kehrten zurück und hatten ein Wams voller Beeren bei sich, von denen sie wußten, daß sie eßbar waren. In der Mitte eines Halbkreises aus Unterständen und primitiven Hütten, die der nächste Sturm wegfegen würde, loderten die ersten Flammen aus dem
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Holzstoß. Tausende Mücken drehten sich in ihren selbstmörderischen Tänzen über den Flammen und wurden verbrannt. Eine graue Rauchfahne erhob sich schräg zwischen den Palmenwipfeln. „Hierher mit dem Wasser!“ Ein paar Kokosnüsse waren leergeschabt worden und dienten als Trinkbecher. Cornelis brachte einen zerbeulten Kessel und hielt ihn triumphierend in die Höhe. „Wo ist der Koch?“ „Wo es nichts zu kochen gibt, brauchen wir keinen Koch“, antwortete Stephanus. „Die Zeit der fetten Braten und der leckeren Soßen für den Reis ist vorbei.“ Marten und Herman schwammen langsam auf den seichten Teil der Bucht zu und wateten schließlich an Land. Sie waren schwer bepackt und hatten noch ein paar Funde vor sich hergeschoben. Die Holländer eilten zum Strand und halfen ihnen. Die Leichen waren verbrannt oder ins freie Meer hinausgetrieben worden. „Die verfluchten Malaien waren zu schnell, zu hastig“, sagte Marten und stemmte ein Fäßchen in die Höhe, in dem sich Rindfleisch in Öl befand, wie die eingeschnitzte Schrift bewies. Für siebzehn Mann gerade zweimal eine ausreichende Mahlzeit. „Wir haben auch einen kleinen Sack Reis gefunden, natürlich aufgeweicht.“ „Das reicht, um eine dicke Suppe zu kochen“, sagte der Koch. „Her damit!“ Eine Axt, deren Stiel verbrannt war, eine schartige Säge von Unterarmlänge, einige Tampen und mehr oder weniger nützliche Dinge wie Marlspieker, Belegnägel und Fetzen von Segeltuch waren die magere Ausbeute. „Unter Wasser ist alles unversehrt“, sagte Herman. „Wir können den Rest der Fleute wahrscheinlich aufschwimmen lassen.“ „Heute tun wir nichts mehr“, bestimmte der Erste. „Trinken, essen und ausschlafen. Morgen sehen wir weiter.“ Die Männer bauten ein Dreibein, hängten den Kessel in die Flammen, tranken klares, frisches Wasser und waren trotz des Schlafes viel zu erschöpft, um viel über die nächsten Tage nachzudenken. Sie hatten
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überlebt, die Insel gab genügend her, daß sie nicht verhungerten, und morgen würden sie weitersehen. Je tiefer die Sonne der unsichtbaren Kimm entgegensank, desto stiller wurde es im Lichtkreis des Feuers. Es gab keinen Rum, keinen Wein, keinen Palmwein oder Reisschnaps. Die Arbeit hatte die Holländer von den bohrenden Fragen und der Frucht abgelenkt, was die nahe Zukunft bringen würde, und der halbe Tag hatte ihnen gezeigt, daß sie vielleicht doch nicht dazu verurteilt waren, ihr Leben auf diesem Eiland zu beenden. Jetzt kehrten die Gedanken wieder zurück, schwärzer und lastender als in den letzten Stunden. Von allen ihren Hoffnungen und Anstrengungen war ihnen nur das nackte Leben geblieben. Und das Wrack der „Vlissingen“, das mit einem gewaltigen Arbeitsaufwand wieder hergerichtet werden konnte. Sie schliefen schon ein, als der Koch noch versuchte, ein essbares Gericht in seinem Kessel zuzubereiten. Die Sonne schien dem Horizont entgegenzurasen, und plötzlich waren auch die Quälgeister der Stechmücken verschwunden. Schließlich fiel die Nacht über die weite Bucht. Das Feuer war der einzige Platz, in dessen Nähe es Leben gab, und aus dem riesigen Berg von Treibholz war ein kniehoher Haufen geworden, der hellrot und heiß im Mittelpunkt des Lagers brannte. Im Kessel sang das Wasser. * Frans wandte sich an Cornelis und fragte: „Was denkst du darüber? Sollen wir Wachen aufstellen?“ Cornelis hob die Schultern und erinnerte sich an die Erzählung von Marten, wie die Leiche des Rudergängers ausgesehen hatte. An ihr fraßen jetzt die Fische zwischen Brandung und Buchteingang. „Nein“, sagte er mürrisch und gähnte zweimal. „Weswegen? Es gibt nur irgendwelche Tiere und keine blutgierigen Eingeborenen. Kann sein, daß sie im
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Inneren der Insel leben. Morgen, Frans, heute nicht. Laß die Jungens schlafen.“ „Einverstanden. Aber morgen brauchen wir die Glut“ „Dann schieben wir die dicksten Kloben in die Glut. Warte noch, Frans. Wir sind alle todmüde.“ „Einverstanden.“ Die Crew hatte genügend Kokosnüsse aufgeschlagen und aufgeschnitten. Jeder hatte seinen Eßnapf. Eineinhalb Stunden nach Einbruch der Nacht aß jeder Holländer mit den Fingern, was der Koch zustande gebracht hatte. Dazu tranken sie Wasser. Rund um das Feuer sitzend, essend und redend, fühlten sie sich an dem Strand der fremden Insel geborgen und in Sicherheit. Die trocknenden Stiefel verströmten einen stechenden Geruch. Einer nach dem anderen schlief ein, und es wurde immer stiller. Der Erste wuchtete große Brocken Treibholz heran und schob sie sternförmig in die Glut des herunterbrennenden Feuers. Schließlich schlief auch Frans z'Waele, und in dieser Nacht hatte er keine schlimmen Träume. * Brom und Cornelis wachten zur selben Zeit auf. Die ersten Sonnenstrahlen blitzten durch den Nebel, der über der Bucht lag. Von allen Blättern und Wedeln tropfte der Tau. Brom erinnerte sich undeutlich an einen wirren Traum voller Fauchen und Schreien. Er richtete sich auf, kroch unter den geflochtenen Wedeln und Zweigen hervor und tappte zum Feuer, um einen Kloben, der nur noch schwach rauchte, tiefer in die Glut zu schieben. Er sah Cornelis, der gähnend aufstand und sich umsah. Brom zog fröstelnd die Schultern hoch und sah, daß der Platz neben Marten leer war. „Wo ist Jaan?“ fragte er, suchte den Strand ab und dann den feuchten Sand, in dem er aber keine Spuren sah. Cornelis trat, seine Schultermuskeln mit wilden Armbewegungen lockernd, auf das Feuer zu.
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„Hast du auch so lausig geschlafen?“ fragte er und schöpfte Wasser aus dem Faß in den Kessel. „Oder habe ich den Lärm und das Geschrei nicht geträumt.“ Sein Blick fiel auf Stephanus, der an ihrer Unterhaltung wach geworden war, mit einiger Verblüffung auf die leere Stelle in seinem Unterstand starrte und sich dann die Augen rieb. „Wo steckt Driesen?“ wollte er wissen. Gleichzeitig antworteten Brom und Cornelis: „Verschwunden. Jaan ist auch weg.“ Der Sand zwischen dem Feuer und den Eingängen der zeltartigen Unterstände war von zahllosen Fußspuren zerfurcht. Die Männer schauten sich um. Nach und nach kamen alle auf die Beine. Der Erste zählte gähnend ab und sagte verblüfft: „Fünfzehn. Oder zählt jemand mehr?“ Aus dem fahlen Nebel tauchte schemenhaft das schwarze Skelett der Fleute auf. Aus dem Dschungel ertönten das Zwitschern, Schreien und Lärmen, mit dem jeder neue Morgen anbrach. Die schläfrigen Männer gingen ratlos in alle Richtungen auseinander und schrien die Namen der beiden Verschwundenen. „Schaut nach, ob sie irgendwo in der Bucht schwimmen!“ brüllte schließlich der Erste. „Seht, ob ihr Spuren findet!“ Die Holländer packten ihre Spaken und Bambusknüppel und verteilten sich. Brom und Cornelis, der sich mit einem der schartigen Säbel bewaffnete, drangen auf dem Pfad in den feuchtigkeitsgesättigten Wald ein, der zur Quelle führte. Schweigend hastete Ari van Valdern hinter ihnen her, der breitschultrige Mann mit dem langen schwarzen Haar. Die Bucht, ein Teil des Dschungels, der Streifen, auf dem Bambus wuchs, und der Wald aus Palmen hallten wider von den Rufen. „Jaan!“ und „Driesen!“ riefen die Schiffbrüchigen, hoben die Hände an die Ohren und lauschten auf eine Antwort. Aber das Geschrei scheuchte nur noch mehr kreischende und flatternde Vögel von den Zweigen und aus Nestern auf.
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Frans z'Waele blieb als einziger der Crew in der Mitte des Lagers stehen und versuchte, seine Gedanken zu klären. Für ihn war es völlig widersinnig, daß zwei Männer den Schutz der kleinen Gemeinschaft verließen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Gemeinsam konnten sie überleben. Der einzelne wurde schneller, als er glaubte, ein Opfer der Gefahren. Um etwas Nützliches zu tun, rückte Frans den Kessel in die Flammen des Feuers, in das er das halb heruntergebrannte Holz schob. Asche stob auf und vertrieb die ersten Mückenschwärme. „Wo sind die verdammten Kerle“, murmelte er. „Sie können doch nicht durchgedreht haben?“ Er trat nach einer zersplitterten Kokosnuß und verfolgte Peter und Reymers, die rechts und links des Wassers liefen, immer wieder stehen blieben und die Namen der Verschwundenen schrien. Langsam, von Minute zu Minute mehr, ahnte der Erste, daß er seine Kameraden nicht mehr wiedersehen würde. Aber warum und wohin waren sie verschwunden? Er ging durchs Lager und suchte auch hinter den Hütten nach Spuren. Er sah im Sand und zwischen den Gräsern und Blättern der Gewächse die Reste ihrer Arbeit, aufgescharrtes Erdreich und zahllose Fußabdrücke neben einigen faulenden Kokosnüssen und den Resten toter Fische, die von Vögeln hierher geschleppt worden waren. Aber auf die beiden verschwundenen Holländer deutete nichts hin. „Aber auch keine Spur von irgendwelchen Eingeborenen“, sagte Frans z'Waele. Er setzte seine langsame Wanderung fort, die ihn an alle offen zugänglichen Stellen rund um die Hütten und Unterstände brachte. Es gab nur eine deutliche Spur, die ihm etwas sagte – die tiefen Schleifspuren, die von den Haufen des Treibgutes zum Feuer führten und von schweren Holzstücken stammten. Peter und Reymers hatten fast die beiden Huks am Ende der Bucht erreicht und winkten zurück zu Frans.
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„Nichts!“ bedeuteten ihre Zeichen. Er hob den Arm und signalisierte, daß er verstanden habe. Sie sollten zurückkehren. Sie liefen noch bis zu den leeren Dünen, verschwanden dahinter und gingen nach einer Weile mit hängenden Köpfen wieder zurück. Die Rufe im Wald, hinter Bambus und Palmen, waren leise und schließlich unhörbar geworden. Der Erste senkte seinen Knüppel, trat gegen ein paar knirschende Knochen und blieb beim Feuer stehen. „Verschwunden“, sagte er, als könne er es noch nicht glauben. „Sie sind weg, als könnten sie sich in warme Luft auflösen.“ Noch fünfzehn Überlebende, dachte er. Das Schicksal meinte es nicht gut mit den überlebenden der „Vlissingen“. Wieder fand er für sich und die Crew keinen Rat. Wir müssen hier weg, war das einzige, was ihm einfiel. Und zwar noch heute. Die Angst saß tief in ihm, und seine Ratlosigkeit vergrößerte noch die Furcht vor dem unsichtbaren Feind. Er wartete, bis die beiden wieder den Abhang heraufstapften, dann sagte er scharf: „Ihr habt natürlich nicht die geringsten Spuren gefunden, stimmt's?“ „Keine Spuren, keine Ahnung, wohin sie sich gewandt haben könnten. Aber auch nichts anderes. Das ist hier so verdammt einsam wie am Ende der Welt, Frans.“ Peter schlug nach Stechmücken. „Und warum sollten irgendwelche Jäger oder Fischer zwei von uns neben den anderen aus der Hütte zerren und davonschleppen?“ Der Erste spuckte in den Sand und rührte gedankenlos mit einem Bambusrohr im Wasserkessel herum. „Weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, daß ich mich vor unsichtbaren Mördern fürchten muß.“ „Wir auch, Frans, wir auch“, entgegnete Reymers. „Schon wieder zwei von uns. Fünfzehn.“ „Ich weiß. Wir brechen das Lager hier ab und suchen uns einen besseren Platz.“ „Einverstanden.“ Die Sonne kletterte über die Baumwipfel. An der scheinbaren Ruhe und Einsamkeit
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der Bucht hatte sich nichts geändert. Das Wasser der Quelle und weniger ärmlicher Zuflüsse wusch jetzt, während des niedrigsten Standes der Ebbe, tiefe, schwarze Rillen in den sandigen Boden der Bucht. Krabben waren aus ihren Löchern gekrochen und raschelten, mit den Scheren klappernd, über den Strand. Es wurde heiß, und es stank nach Fisch und fauligem Wasser. Nacheinander kehrten die Holländer aus dem Dschungel zurück, und sie berichteten, was der Erste geahnt hatte: es gab keine Spuren. Die beiden Männer blieben verschwunden – als ob Dämonen oder Geister sie geholt hätten. Der Koch brachte etwas Eßbares zustande, teilte es aus, und als die Männer ihre karge Mahlzeit verzehrten, sagte Frans z'Waele in einem Tonfall, als wisse er genau, was zu tun sei: „Wir essen, und dann räumen wir das Lager ab. Brom, du warst, glaube ich, am weitesten im Wald. Kennst du einen Platz, an dem wir uns sicher fühlen können?“ „Ja“, erwiderte der blonde Moses. „Eine kleine Lichtung, rechts von der Quelle. Nichts Besonderes. Aber da habe ich die Beeren gefunden. Viele Gräser und so.“ „Du bringst ein paar von uns dorthin“, bestimmte Frans. „Und wir, die anderen, bauen unsere holländische Niederlassung ab und schleppen sie in Einzelteilen dorthin.“ Als der Erste seinen Blick auf die schwarzen Spanten des ausgekohlten Wracks richtete, sahen sie, daß seine Augen feucht waren. Die Ebbe zeigte ihnen auch die Reste ihres Schiffs. Es war beim höchsten Stand der Ebbe verbrannt. Über dem Wasser zeichnete sich, rund drei Fuß hoch, ein Streifen heller, unversehrter Planken deutlich ab. 5. Die Holländer brauchten nicht viel zu arbeiten. Trotzdem schwitzten sie, als sie ihr Lager aus Bambus und Matten und Geflecht abbauten und alles auf dem Pfad, den Brom, Cornelis und Ani van Valdern mit Messern und schartigen Säbeln so gut
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wie möglich verbreitert hatten, durch das sonnenflirrende Halbdunkel des Dschungels schleppten. Die Hitze des Mittags brannte auf die Bucht und den Dschungel. Der Schlamm, aus dem sich die Wurzeln der Mangroven reckten, stank schlimmer als die Bilge eines Sklavenschiffes. Die Schiffbrüchigen folgten den Windungen des Pfades, gingen an der Quelle vorbei und zwischen den moosbedeckten, lianenbehangenen Stämmen dicker Bäume auf eine Lichtung zu, die einen Durchmesser von weniger als einer Kabellänge hatte. Rechter Hand erstreckte sich in gelber Helligkeit ein breiter Sandstreifen bis zu einem niedrigen Hügel. Die Lichtung, annähernd rund, war zum Wald hin von einer grünen Mauer aus Büschen und Ranken abgegrenzt. Das Gras, das sich im Wind bewegte, war etwa kniehoch. „Wir brauchen mehr Bambus“, sagte Peter van Coopen. „Ich will nicht im Gras pennen. Da wimmelt es von Schlangen und Skorpionen.“ „Bambus gibt es nur am Strand“, sagte Marten. „Gib mir den Cutlass. Damit kann ich schneller und besser das Zeug abhauen.“ „Da, nimm.“ Die Männer säbelten und schnitten soviel Gras wie möglich ab. Die Halme und die langen Lanzetten waren scharf wie Messerklingen. Unter dem Gras war nichts als krümeliger Sand und ein wenig trockene Erde. Einige dicke Wurzeln ringelten sich von den Bäumen am Rand der Lichtung auf die Mitte zu. Die Holländer rammten Baumbuspfähle ein und befestigten Querstreben daran. Vorübergehend war das Wrack völlig vergessen, Beklommenheit und Furcht beherrschten die Gedanken. Nach und nach entstanden auf der leeren Fläche seltsame, schwankende und behelfsmäßig mit Lianenstücken, Tampen und anderen Materialien zusammengebundene Konstruktionen, Mischungen zwischen Zelten und Hütten.
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Unaufhörlich schleppten die Holländer zwischen der Lichtung und dem Strand ihren gesamten Besitz zur Lichtung. Zuletzt wuchteten sie Treibholz auf ihre Schultern und trugen einen Teil der Glut im zerbeulten Kupferkessel über rund eine halbe Meile tief in den Wald und sorgten dafür, daß zwischen den Unterständen ein Feuer brannte. Stephanus und Reusselaer schwammen zum Wrack hinaus, wühlten in der Bilge, zerrten ein paar Steine aus dem Ballast zwischen dem breitartig durcheinander gewirbelten, rußigen Abfall hervor und warfen sie neben den Kiel. Aber sie fanden nichts, was ihnen irgendwie weitergeholfen hätte, nicht mal Werkzeug. In der Stunde vor Sonnenuntergang bot das Lager der Männer die Illusion einer bestimmten Ordnung mitten im Wirrwarr aus Furcht und Todesangst. Ein Feuer brannte, es gab genügend frisches Wasser, denn die Quelle war nur ein paar hundert Schritte entfernt, die Männer hatten Beeren gesammelt und Kokosnüsse herangeschleppt. In dem annähernd runden Ausschnitt zwischen den Wipfeln erschienen die ersten Sterne und der bleiche Mond. Die Stimmung blieb gedrückt und niedergeschlagen. Niemand wußte, was der nächste Tag brachte. Die Holländer sprachen leise miteinander, streckten sich auf den Blättern und Wedeln aus, die über die Bambusmatten gelegt worden waren, und während noch immer die Flammen in die Höhe züngelten, schliefen die ersten ein. Als die Vögel am nächsten Morgen ihr grelles Konzert anstimmten, fehlten vier Männer. Jan tom Broek sah die schmale Bahn kalter Asche, die sich vorn Feuer in die Richtung des Streifens aus Büschen und Sand hinzog und ahnte, daß in der Dunkelheit der Nacht etwas vorgefallen war, das noch schrecklicher war als die Erlebnisse am Strand.
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Er rutschte ins stoppelige Gras hinunter und hörte, wie der Erste brüllte: „Habt ihr Reusselaer gesehen?“ „Nein.“ Seine Schreie weckten den Rest der Crew. Die Männer fuhren verstört in die Höhe, schauten sich um und entdeckten, daß ein Teil ihrer Kameraden ebenso verschwunden war wie Jaan und Driesen vor einer Nacht am Strand, mit Kleidern und Stiefeln, mit allem, was sie am Körper trugen. „Herman ist weg!“ schrie Cornelis. „Er hat keine sieben Schritte von mir entfernt geschlafen.“ „Morgen stellen wir Wachen auf!“ rief der Erste. „Und Marten ist auch verschwunden.“ Der Erste faßte sich nach einigen Minuten und zählte an den Fingern auf. „Ich bin da. Cornelis und Brom leben noch. Dort sehe ich Ani und Jan, Stephanus und Janwillem haben sie auch nicht verschleppt, und auch Reymers und Peter van Coopen hadie Nacht überlebt. Sind also neun. Piet und Aarek suchen dort drüben. Also elf.“ „Alle anderen sind weg. Sie sind tot, sage ich“, ächzte Peter. „Der Teufel hat sie geholt.“ Der Erste zeigte zum Feuer und zog den Säbel aus der Erde. „Sucht nach Spuren! Alle!“ schrie er, leichenfahl und mit zitternden Fingern. „Sofort, Frans.“ Die Holländer schwärmten aus, gähnten, rieben sich den Schlaf aus den Augen und hasteten kreuz und quer durch das Lager. Der Schrecken hatte sie gepackt und ließ sie nicht mehr los. Die vier Kameraden, die sie seit Jahren kannten, schien der Boden verschluckt zu haben. Sie untersuchten jede Handbreite der Lichtung, hieben die Äste der Büsche ab, suchten und suchten und waren halb krank vor Furcht. Bis Mittag rannten, stolperten und schrien sie in alle Richtungen rund um die Lichtung herum. Sie fanden uralte Knochen, einen moosbedeckten, halbierten Schädel – der zu einem großen Affen gehört haben konnte – und auf einigen
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Blättern kleine, rote Punkte, die Blut sein konnten oder auch die Absonderungen von Tieren, die sich nicht kannten. Frans z'Waele raufte seine langen, an den Schläfen weißen Haare. „Nur noch elf“, ächzte er. „Jemand hat uns verflucht. Heute nacht müssen wir das Feuer brennen lassen. und mindestens drei Mann gehen Wache.“ Nur Ari und Jan hörten, was er sagte. Der Rest versuchte, das tödliche Geheimnis zu lüften. Die Männer der „Vlissingen“ waren nicht furchtsamer oder abergläubischer als andere Seeleute. Während sie verzweifelt nach ihren Kameraden suchten, empfanden sie nicht nur die kalte Furcht vor dem Tod, der den einzelnen Seemann in einer der folgenden Nächte packen würde, sondern fingen zu ahnen an, daß die Insel einen gespenstischen Fluch beherbergte. Brom und Cornelius holten bis zum Abend eine riesige Menge Treibholz vom Strand und schleppten es auf die Lichtung. Jedesmal, wenn sie aus dem Dunkel des Waldes ins grelle Licht über der Bucht hinaustraten, hielten sie schweigend und mit brennenden Augen Ausschau nach einem möglichen Retter, einem anderen Schiff, dem sie Signale geben konnten. „Nichts“, sagte Cornelis zwei Stunden vor Einbruch der Nacht. „Wir sind ganz allein, Kleiner.“ „Und morgen werden wir Fisch fangen müssen. Wir haben alle Vogelnester geplündert, die zu finden waren.“ „Das ändert auch nichts an unserem Elend.“ Sie starrten ein letztes Mal hinaus aufs Meer und sahen nichts anderes als das vertraute Bild der verbrannten Fleute. Die Flut war aufgelaufen und bedeckte die unversehrten Planken bis zu der Stelle, wo der Brand seine vernichtenden Spuren hinterlassen hatte. * Das rötlich zuckende und flackernde Licht der Flammen reichte bis an den Rand der Lichtung. Die Bäume, die Lianen, die
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blütenübersäten Wände aus Blättern und Ästen wirkten wie eine dicke, hohe Mauer, hinter der unaufhörlich all die Schreie und Geräusche des nächtlichen Waldes zu hören waren. Einige Männer schliefen. Die letzten Nüsse, Beeren, Vogeleier und Früchte waren aufgegessen. Piet, der am Rand einer wackligen Plattform, etwa drei Fuß über dem abgeschnittenen und zertrampelten Gras hockte, blinzelte in die Flammen und schnitzte an einer halben Kokosnuß herum. Neben ihm lag griffbereit ein angerosteter Säbel, den er in der letzten Stunde mit einem nassen Stein zu schleifen versucht hatte. Frans z'Waele, drei Yards von ihm entfernt, sagte gerade zu Stephanus: „Morgen werden wir anfangen. Eine Hälfte sucht Nahrung und fischt, und wir versuchen, die ,Vlissingen` an Land zu bringen.“ „Wir hätten schon früher anfangen sollen“, erwiderte Stephanus. „Vielleicht schwimmt das Wrack von selbst, wenn wir den Ballast draußen haben.“ „Das wird sich zeigen.“ Eine Bambusleiter lehnte am Stamm eines Baumes, der dort stand, wo sich der Wald im Westen der Lichtung verdünnte und in eine sandige, kiesbedeckte Fläche überging, die zwischen Felsen und am Rücken eines riesigen Mangrovendschungels zu einem Hügel führte, von dem aus man die nächste kleine Bucht sah. Auf der obersten Sprosse kauerte Aarek, mit Messer und Knüppel bewaffnet. Zusammen mit dem Ersten hatten sie die Wache bis Mitternacht übernommen. Ihre Gedanken drehten sich nur um eins: was tat der lautlose Fluch der Insel in dieser Nacht? Würden sie das tödliche Rätsel lösen? „Und wenn wir das Wrack nur so weit reparieren“, sagte Stephanus halblaut, „daß wir uns in andere Buchten verholen können.“ Ihn plagten Aufregung und Schlaflosigkeit. Er haßte die dauernden Laute aus den Baumkronen, das scharfe Knacken und die
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Schreie, die von nachjagenden Tieren und ihren Opfern erzählten. Er haßte den Wald und sehnte sich nach den vertrauten Geräuschen der plätschernden Wellen zurück. Der Erste gähnte und antwortete bedächtig: „Von Bucht zu Bucht, notfalls pullen. Das könnte gehen, Stephanus. Es wird ein hartes Stück Arbeit. Wir können nur bei Ebbe die Steine hinauswuchten.“ „Besser das, als hier zu krepieren“, sagte Stephanus. „Hast recht. Morgen geht's los.“ Der Erste stand auf, packte den zweiten Cutlass und stapfte zum Feuer. Er schob und zerrte vier mächtige Stücke Treibholz in die Glut. Wenn die dicken Enden zuerst brannten und verkohlten, ersparten sie sich die Arbeit, die Äste abzuhacken, die hart wie altes Eichenholz waren. Frans ging langsam durch das Lager, lauschte auf das Schnarchen seiner Schutzbefohlenen und winkte Piet und Aarek. „Alles ruhig“, stellte er fest. „Schlaft nicht ein, Freunde. Und wenn ihr etwas merkt, stimmt ihr ein furchtbares Geschrei an und werft trockenes Holz und das Gras ins Feuer.“ „Jawohl“, sagte Aarek und hob die Faust. Der Erste fand nichts, was ihn beunruhigt hätte. Er beendete seinen langsamen Rundgang und kehrte auf seinen unbequemen Platz zurück. Die letzten leisen Unterhaltungen hörten auf, die Flammen sanken langsam in sich zusammen. Der große Kreis aus weißroter Glut strahlte und leuchtete nach allen Seiten, einzelne Funken und Ascheflocken wirbelten in die Luft. Piet, Aarek und Frans versuchten sich zu entspannen, ohne einzuschlafen. Um Mitternacht, als sich der Mond am Rand des großen runden Lochs über der Lichtung zeigte, schliefen alle, bis auf die Wachen. Langsam verging die Zeit. Die Viertelstunden schienen sich endlos zu dehnen. Piet und Aarek verließen ihre Plätze, und Peter van Coopen und Cornelis lösten sie ab. Kurze Zeit später rüttelte der
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Erste Stephanus von Cortland an der Schulter und zog sich auf die knisternde und stachelige Unterlage aus Gras, Blättern und Wedeln zurück. Wieder wurde frisches Holz ins Feuer geschoben, und die Flammen beleuchteten den freien Raum zwischen den Bambusbauwerken und den schrägen Flechtwerkdächern. Mückenschwärme wirbelten im Rauch des Feuers. Etliche Stunden nach Mitternacht, noch weit vor der Morgendämmerung, verstärkten sich die Laute aus dem Dschungel. Nichts bewegte sich, niemand zeigte sich. Die Posten saßen kerzengerade und voller Spannung da und versuchten, etwas zu erkennen. Irgendwo raschelten und zischten unsichtbare Wesen. Zweimal oder dreimal gab es knackende Geräusche, dann ein unterdrücktes Murmeln, danach raschelte es, als ob tausend kleine Füße über Sand und durch Gras huschten. „Hast du etwas gesehen?“ fragte Peter. Cornelis flüsterte zurück: „Nichts. Nur dieses Geräusch gehört.“ Er packte den Säbel, tastete sich die runden Bambussprossen hinunter und warf trockenes Zeug ins Feuer. Die Flammen loderten hoch, nachdem der erste Rauch aufgewirbelt war. Im hellen Licht blickten sich Cornelis und Stephanus um, aber es gab weder etwas zu hören noch zu sehen. Die Unruhe im Wald ringsum nahm wieder ab. Cornelis hob ratlos die Schultern und faßte sein Kantholz fester. Er suchte den Boden ab und spähte ins Dunkel der Nachtlager. Schließlich gingen sie wieder zurück zu ihren Plätzen und hielten Wache, bis sie abgelöst wurden. Am Morgen stellte sich die schreckliche Wahrheit heraus. Piet und Aarek fehlten. Sie waren verschwunden. Die Schiffbrüchigen fanden kein Blut, keine Spuren, weder zerrissene Kleider noch einen einzigen Fußabdruck. Aus kalter Furcht wurde Panik, die gerade noch mühsam unterdrückt werden konnte. Neun Mann waren übrig geblieben. Die Holländer schwärmten in alle Richtungen
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aus, suchten in steigendem Entsetzen stundenlang die Umgebung ab und kehrten erschüttert, niedergeschlagen und zitternd vor Angst wieder zurück. „Wir müssen damit rechnen“, sagte Frans z'Waele tonlos, „daß Piet und Aarek ebenso verschwunden sind wie die anderen. Sie sind alle tot. Ich kann's nicht beweisen, aber ich weiß es.“ Er straffte seine Schultern, blickte herausfordernd von einem Gesicht ins nächste und sagte: „Wir verholen uns in die Bucht und fangen Fische. Brom bringt Wasser. Vielleicht können wir heute abend auf dem Schiff schlafen. Wenn wir zäh arbeiten, können wir auch in eine andere Bucht verholen.“ „Auch dort wird uns der Unsichtbare fassen“, sagte Ari van Valdern und würgte den bitteren Tee hinunter. „Das glaube ich nicht.“ Der Erste bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. „Versuchen wir's. Es gibt keine andere Möglichkeit.“ „Einverstanden.“ Eine Stunde später waren alle überlebenden wieder in der Bucht, versuchten große Fische zum Ufer zu treiben und mit Messern, Säbeln und Hieben mit Belegnägeln und Rundhölzern zu erlegen. Die Hälfte der überlebenden Crew schwamm und watete zum Wrack und fing an, zu tauchen und zu versuchen, die schweren Steine des Ballasts aus dem Wrack zu wuchten Es war eine mehr als mühsame Arbeit. Die runden, glatten Steine rutschten immer wieder aus dem Griff der Finger. Der Ballast in der Bilge war noch immer mit einer dicken Schicht bedeckt, die aus den vielfältigen Resten des Brandes bestand. Sie stank und war schmierig. Es dauerte lange, bis das erste Dutzend der Brocken neben dem Wrack im Sand der Bucht lag und durch das klare Wasser zu erkennen war. Ein großer Kreis Schmutz, Abfall, Ruß und öliger, mit verkohltem Holz vermischter Dreck breitete sich um das Schiff aus. Die fünf Männer wirken wie kranke
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Gespenster, deren Baut seltsame Schmiermuster trug. „Wir schaffen es!“ rief Cornelis gegen Mittag. Er tauchte unter, verrieb eine Handvoll Sand in seinen Händen und im Gesicht und spülte den Schmutz in den Wellen ab. „Nur noch den Rest.“ Sie hatten kaum ein Zehntel der Ballaststeine herausgeschafft und waren jetzt schon erschöpft. Am Abend waren sieben einigermaßen große Fische gefangen und etwa ein Fünftel des schweren Ballasts herausgeschafft worden. Erschöpft schwammen die Holländer zum Ufer. Stephanus rubbelte seine Haut sauber. „In vier Tagen haben wir es!“ rief er. Wieder einmal hatte die harte Arbeit die Stimmung der neun Überlebenden über die Stunden der Helligkeit hinweggerettet. Von Schwimmen, Tauchen und Schuften kamen sie nicht zum Nachdenken, und die Furcht vor der Nacht war wieder in ihrem Herzen, aber klein und versteckt. „Los“, sagte der Erste und .latschte in die Hände. „Zurück zum Lager. Oder wollt ihr hier schlafen und den Fisch roh runterschlingen?“ „Ganz sicher nicht“ erwiderte Jan tom Broek. Schweigend und müde stapfte einer nach dem anderen auf dem Pfad in die grüne Düsternis des Waldes zurück und fragte sich, was in dieser Nacht passieren würde. 6. Kapitän Philip Hasard Killigrew dachte längst nicht mehr an die Aufregungen, die wegen der „Puputan“-Kämpfe seine Crew in Atem gehalten hatten. Aber er wußte, daß die dankbaren Balinesen ihnen so viel Proviant und Leckerbissen an Bord geschleppt hatten, daß sie viele lange Seemeilen segeln konnten, ohne nachbunkern zu müssen. Keine Sorge, dachte er. Der Kutscher hat zwar begeistert die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber bei einer Crew von drei Dutzend hungriger Mägen würde der Berg der Köstlichkeiten bald
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zusammengeschmolzen und abgetragen sein. „Kurz liegt an!“ rief der Rudergänger. „Auf die Passage zu, Sir?“ So war es abgesprochen, Pete“, erwiderte Hasard in bester Laune. „Es ist der kürzeste Weg. Ich habe mich von Dan überzeugen lassen.“ „Aye, aye, Sir.“ Die Schebecke lag gut am Wind. Die Mannschaft war ausgeschlafen und ging wieder normal Wache. Von der Kombüse her roch es wieder, wie in der letzten Zeit, nach irgendwelchen balinesischen Spezialitäten. Hasard stellte seine halbleere Muck ab und zog das Spektiv aus dem Gürtel. Unter seinen Sohlen hob und senkte sich das Grätingsdeck. „Die Passage“, sagte er halblaut, „scheint breit genug und ohne besondere Hindernisse zu sein.“ Ruhig und mit gewohnter Sorgfalt betrachtete er die Uferlinien der Insel, die sich über die Kimm erhob. Jenseits des weißen Brandungsstreifens tanzte das Bild in den Linsen. Fast nicht mehr erkennbar stieg zwischen den dichten Wipfeln des Inselurwaldes eine einzelne Rauchsäule auf. „Eine ziemlich unbelebte Insel, denke ich“, murmelte Hasard. „Wenn nicht der Rauch wäre. Aber wir sehen es genauer, wenn wir nahe genug heran sind.“ Dan O'Flynn hockte auf den Planken des Achterdecks und beschäftigte sich mit einer Karte. Neben sich hatte er ein aufgeklapptes Buch liegen, in das er von Zeit zu Zeit einige Zeilen schrieb. „Komodo, Sir, nennt sich die Insel, wenn meine Karten richtig sind.“ „Wie auch immer“, antwortete Hasard, „wir segeln durch die Passage voraus und kreuzen weiter. Eigentlich wollten wir längst in der Karibik sein.“ Ben Brighton lachte laut und sagte: „Die Fahrt in die Karibik, Sir, ist mit tausend Abenteuern, Hindernissen und Überraschungen gespickt.“ „Und mit widrigen Winden“, fügte Pete an der Pinne hinzu.
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„Für uns nicht gerade neu“, sagte der Seewolf. Über den blauen Himmel trieb der Wind kleine, weiße Wolken. Fliegende Fische huschten dicht über die weißen Spitzen der Wellenkämme. die fischenden und jagenden Vögel über der westlichen Spitze der Komodo-Insel waren winzige Punkte über dem dunklen Grün. Unscharf zeichneten sich jetzt die ersten Sandstreifen kleiner Buchten ab. Weit und breit war kein Segel zu erkennen. Die Schebecke krängte leicht nach Backbord und hielt auf die Passage zu. Plymmie lag auf der Back und betrachtete faul die wenigen Bewegungen an Deck. Die Sonne hatte den höchsten Stand im Mittag überschritten und strahlte auf die Nacken und Schultern der Seewölfe-Crew hinunter. Die riesigen Lateinersegel standen prall, Wind pfiff und wimmerte im Geschirr. Die Schebecke schien auf die Insel zuzuschleichen, aber in Wirklichkeit betrug die Geschwindigkeit des schlanken Dreimasters mehr als acht Knoten. „Na, Sir, schon einzelne Eingeborene zu zählen?“ fragte Edwin Carberry, der den Niedergang zum Achterdeck aufenterte. „Vorläufig nur dein bemerkenswertes Kinn, Ed“, entgegnete der Seewolf und grinste. „Geh mir aus der Linse.“ „Aye, aye, Sir.“ Langsam verschoben sich die Huks nach Steuerbord, Strände verschwanden dahinter, andere Buchten tauchten davor auf. Auch Ben Brighton zog die Teile des Kiekers auseinander und peilte zum Ufer hinüber. Eine halbe Stunde später sagten der Seewolf und der Erste fast gleichzeitig: „Bucht Steuerbord voraus. Mitten in der Bucht ein ausgebranntes Wrack ohne Masten.“ „Verstanden. Klar erkannt.“ Hasard zählte zusammen: Rauchsäule, ausgebranntes Schiff, das einmal eine Karavelle oder eine Fleute gewesen sein mochte, Westende der Insel und eine bekannte Passage. Nach kurzer Überlegung sagte er: „Das sehen wir uns aus der Nähe an, was Ben?”
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„Bin auch dafür, Sir“, antwortete der Erste. „Möglicherweise brauchen ein paar arme Schiffbrüchige unsere Hilfe. Wahrscheinlich wieder holländische Jans, über die wir uns ein paar Tage lang ärgern müssen.“ „Leider hat der Brand auch die Flagge nicht verschont“, sagte der Seewolf mit unüberhörbarem Sarkasmus. „Pete. Klar zur Kursänderung. Wir gehen mit achterlichem Wind in die Bucht, wenn das Wrack querab liegt.“ „Aye, aye, Sir.“ Ben rief seine Befehle aus. Die Schebecke stampfte auf geradem Kurs weiter, bis zuerst eine kleinere, flache Bucht an Steuerbord vorbeiglitt, dann eine Huk, vor der sich ein Mangrovendickicht ins flache Wasser vorschob. Philip junior stand auf der Back, rief die Tiefe aus und deutete auf die wenigen Riffe und Felsen. Als das Wrack querab an Steuerbord lag, ging die Schebecke in eine enge Kurve. Ben rief, beide Hände an den Lippen, klare Kommandos aus. Die Schebecke krängte schwer, die Segel killten knatternd, und der Bug richtete sich auf, während die Segelcrew über Deck lief, die Segel umsetzte und ins Gei hängte. Mit schäumender Bugwelle rauschte die Schebecke durch die Brandung, hob und senkte klatschend den Bug und glitt auf das Wrack zu. Der Ausguck auf der Back rief dreimal eine Richtungsänderung durch, denn das Wrack lag mit dem Kiel in eine Untiefe eingegraben. „Klar bei Fallen Anker!“ schrie der Seewolf. Die Schebecke umfuhr das Wrack, und die Männer warfen seewärts, weit genug von der Brandung entfernt, den Anker. Noch während die Seewölfe das Schiff aufklarten und die Schoten aufschossen, griff der Anker. Die Trosse wurde belegt, als feststand, daß das Schiff frei schwojen konnte. Das Heck schwang langsam herum, und schließlich lag das Wrack keine zwanzig Yards genau achteraus.
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„Dieses Wrack“, sagte Carberry nach einigen Minuten, „liegt noch nicht lange hier. Keine zehn Tage, schätze ich.“ Hasard junior deutete hinter der Heckbalustrade schräg zum Grund. „Ich sehe, daß sich jemand mit den Resten beschäftigt hat. Erstens ist die Bilge an einigen Stellen aufgeklart, und zweitens liegen Ballaststeine in der Bucht, neben dem Wrack.“ Die Flut war aufgelaufen, einzelne Wellen plätscherten träge über die Planken in das unverbrannte Innere des Wracks. „Es lief auf Grund und ist bei Flut abgebrannt“, sagte der Erste. „Oder weiß jemand von euch eine bessere Erklärung?“ „Noch nicht.“ Hasard studierte gründlich alle Einzelheiten des Wracks, hörte hinter seinem Rücken den Profos poltern und die Crew arbeiten, und das knappe Dutzend Seewölfe, das achtern über Grätingsdeck und Schanzkleid spähte, stellte weitere, wichtige Einzelheiten fest. „Vor ein paar Tagen, sage ich, haben die Kerls hier noch gearbeitet“, sagte Hasard. „Was würden wir an ihrer Stelle unternommen haben?“ „Mit aller Kraft versuchen“, sagte Dan, der seine Arbeit unterbrochen hatte, „aus dem Wrack einen seegängigen Kompromiß zu basteln. Sie waren auf dem richtigen Weg. Ballast raus, den Rest lenzen, dann an Land und aufrüsten. Ihr könnt an dem abgekratzten Holz sehen, daß sie schwer geschuftet haben.“ Hasard drehte sich um und rief: „Ed! Bringt die Jolle zu Wasser! Eine kleine Crew, Waffen und alles Notwendige. Keine falsche Eile, Profos.“ Carberry winkte zurück. „Aye, aye, Sir.“ Ben und Hasard suchten mit den Spektiven jede Fußbreite des Strandes ab. Sie sahen an der höchsten Stelle, vor dem Wall aus Büschen und links eines Kokospalmenwäldchens, die Spuren eines großen Feuers – Holzreste, Asche, einen Kreis aus Steinen. Ob es Fußabdrücke der Schiffbrüchigen gab, konnte von hier aus niemand sehen. Als Hasard sein Spektiv nach rechts ausrichtete und den kleinen
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Hügel sah, der einen Übergang zu der nächsten Bucht bildete, bemerkte er eine blitzschnelle Bewegung. Ein großes Wesen, eine dunkle Silhouette wie ein Kaiman, mit langem Schwanz – mehr konnte er nicht sehen, denn das Tier verschwand hinter dem dünenartigen, von niedrigen Pflanzen bewachsenen Hügel. Hasard hob die Schultern und sagte: „Ein Rätsel der Tierwelt. Wir werden aufpassen müssen.“ Er wandte sich an Ben Brighton, Dan und Big Old Shane. „Wahrscheinlich seid ihr meiner Meinung. Hier sind ein paar Fremde versteckt. Schiffbrüchige, die von diesem Wrack stammen. Warum sie hier nicht weiter arbeiten, das werden wir herausfinden. Noch mehr als vier Stunden Tageslicht. Sehen wir nach!“ „Selbstverständlich. Viel mehr als an die zwanzig Leute können auf dem Schiff nicht gesegelt sein.” Daß die halbverbrannten Reste einem Schiff gehört hatten, das in Spanien, England oder Holland gebaut worden war, hatte jeder auf den ersten Blick feststellen können. Abgesehen von Vogelschwärmen war die weite Bucht wie ausgestorben. Auf der linken Seite, wo ein Bach ins klare Wasser mündete und als Zunge aus Schwemmgut und feinverteiltem Schlamm zu erkennen war, wuchs niedriger Bambus und schilfartiges Gesträuch, das sich im Wind bewegte. „Es ist wirklich eine verdächtig stille Bucht“, sagte Ben Brighton und schüttelte voller Unbehagen den Kopf. Die Jolle senkte sich klatschend an Steuerbord ins Wasser, die Jakobsleiter klapperte über die Planken. „Scheint mir auch so“, pflichtete ihm Dan O'Flynn bei. „Eine unheimliche Stille „ „Wenn es dafür einen Grund gibt, dann finden ihn die Seewölfe heraus!“ Der Profos, in seinen Pranken ein halbes Dutzend Pistolen, darunter Hasards Drehling, verteilte die Waffen und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Jolle klar, Sir“, meldete er. „Ich bleib an Bord und sorge dafür, daß anständig
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aufgeklart wird. Oder wollen die Gentlemen heute am Strand schlafen?“ Hasard grinste breit und schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht, Ed. Wir sehen uns nur gründlich um. Al soll eine Drehbasse laden, für einen Signalschuß.“ „Aye, aye“, antwortete der Profos und wartete auf dem Achterdeck, bis Hasard und sechs Seewölfe in die Jolle abgeentert waren und das Beiboot mit den Riemen von der Bordwand abstießen. Als sie zwischen Heck und Wrack pullten, zog der Profos Ben Brightons Spektiv auseinander und hob es an die Augen. Er sah schweigend zu, wie die Jolle halb um das Wrack herumgepullt wurde und wunderte sich nicht, als Philip junior zur Schebecke zurückrief, daß Rahen, stehendes und laufendes Gut und die Reste eines Mastes halb aufgeklart am Wrack verzurrt seien. „Natürlich haben die Kerls am Wrack gearbeitet“, sagte er und verfolgte die Jolle durch die Linsen. „Ist ja auch die einzige Möglichkeit, von der Insel zu verschwinden. Wahrscheinlich sind's ein paar schurkische Portus. Na ja, auch nur arme Schiffbrüchige.“ Schweigend pullte Dan O'Flynn, neben sich Batuti, langsam und im Takt mit den anderen Mannen in der Jolle. Die traurigen, geschwärzten Schiffsreste schoben sich vor das Heck und das Ruder der Schebecke. Der Profos und Don Juan de Alcazar winkten kurz. Hasard saß an der Pinne und steuerte auf die Stelle des Ufers zu, an der sich, knapp eine Kabellänge vom Wasser entfernt, die verlassene Feuerstelle befand. Nach einigen Minuten knirschte Sand unter dem Kiel der Jolle. Hasard rückte den Cutlass zurecht und wies auf die Kokospalmen. „Dan, Jung Hasard und Clint. Ihr kommt mit mir. Ich habe vorhin ein seltsames Tier gesehen. Ihr versucht“, er wandte sich an Batuti, „Spuren der Schiffbrüchigen zu entdecken. Wahrscheinlich haben sie sich in den Wald verholt. Seid vorsichtig, verstanden?“ „Keine Sorge, Sir“, antwortete der Gambiamann und nahm den Bogen vom
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Rücken. Philip junior zerrte die Jolle halb aus dem Wasser und folgte dem riesigen Mandingo. Blacky ging auf den Feuerkreis zu. Er tastete mit den Fingern in der Asche, richtet sich wieder auf und sagte: „Kalt. Zudem ein paarmal 1 feucht geworden. Also haben sie hier seit ein paar Tagen kein Feuer gehabt.“ „Hier sind Spuren!“ rief Philip und folgte ihnen. Er sah viele Fußabdrücke, die in beide Richtungen verliefen. Die Schiffbrüchige hatten mit sich schwere Gegenstände, wahrscheinlich Treibholz und dicke Bambusstücke, durch den Sand zerren müssen. Überall lagen losgerissene Palmwedel und dürre Blätter. Die Spuren verschwanden zwischen ein paar Büschen, deren Äste man gekappt hatte, in der Düsternis des Waldes. „Halt!“ erklang Batutis dunkle Stimme. „Hasard scheint etwas gefunden zu haben.“ Er, Philip und Blacky blieben im Schatten stehen. Aus dem Wald drangen wenige Laute, aber ein warmer, stechend muffiger Geruch, der in den Nasen kitzelte und unangenehme Erinnerungen hervorrief. Je länger sie sich hier aufhielten, desto deutlicher wurde der Eindruck, als sei dieser Teil der Insel leer, ausgestorben, viel einsamer, als an solchen Küsten zu erwarten war. „Tatsächlich. Gehen wir hinüber“, sagte Blacky. Alle Spuren, die zwischen dem Wasser und dem Dschungel deutlich zu sehen waren, konnten nur eine Bedeutung haben: die Schiffbrüchigen hatten sich ins Innere der Insel geflüchtet, nachdem sie hier ihr Lager aufgeschlagen und ziemlich schwer am Wrack gearbeitet hatten. Langsam stapften die drei Seewölfe quer über den Strand, den niedrigen Hügel hinauf und am Rand des Palmenwäldchens vorbei. Über ihnen lärmten die Vögel. Seeadler, Kormorane und ein paar Möwen drehten hoch über den Masten der Schebecke lautlos ihre Kreise. „Dort drüben“, sagte Dan O'Flynn plötzlich, als seine Kameraden hinter ihm
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standen. „Ich habe von diesen Biestern gehört. Es soll sie in allen Größen geben.“ Auf einem Teil des flachen Strandes der kleineren Bucht sahen sie ein Tier, das jeder von ihnen als Drachen bezeichnet hätte. Dan erklärte: „Die Fischer fürchten sich vor diesen Tieren. Sie haben einige Namen für sie. Tatsächlich heißen sie Warane, und die von Komodo sollen die größten und schlimmsten sein.“ „Und das ist einer davon?“ fragte Hasard. Ein solches Tier hatte er durch das Spektiv während des ersten Manövers kurz gesehen. Der Waran hob den Schädel, halb Drache, halb Kaiman, schien zu den Seewölfen hinüberzublinzeln und verschwand mit schnellen Bewegungen, den Schwanz als eine Art Ruder benutzend, über den Sand und zwischen den Mangroven und dem Schilf. Seine Spur führte durch die Bucht und endete unterhalb des Hügels, auf dem die Seewölfe standen. Jetzt gingen sie vorsichtig zwischen den kurzen Grasbüscheln hinunter und auf die Wurzeln einiger mittelgroßer Bäume zu. „Das ist wohl ihr Freßplatz?“ murmelte Blacky. Im weiten Umkreis, zwischen den Wurzeln, Büschen und wild sprossendem Bambus, lagen unzählige Knochen, Federn und Vogelschnäbel, kleine, zerrissene Skelette von Affen, Fischen, Vögeln und anderem Kleingetier. Einige Reste – Hasard stocherte mit der Spitze der Waffe darin herum – sahen aus wie winzige Stofffetzen. Der Platz stank nach fauligem Fisch und schwärendem Aas. Auch Blacky suchte unter den Blättern. „Ein paar Knochen sehen aus, als könnten sie von Menschen stammen“, murmelte er. „Aber das alles hier ist ziemlich alt.“ Die Seewölfe untersuchten noch einige Minuten lang die Überreste, gingen auseinander und stöberten an einem halben Dutzend Stellen, an denen sie ähnliche Überreste vermuteten. Wenn unter den Knochen und Resten, die sie, halb im Schlamm, Sand und Moos versteckt, fanden, Menschenknochen waren, dann
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waren sie uralt. Hasard winkte, und sie gingen zurück auf die höchste Stelle des Hügels. Auch diese kleinere Bucht schien ausgestorben und von allem Leben verlassen zu sein, außer von Vögeln und Waranen. Aber es zeigte sich kein zweiter Drache. Die Seewölfe sahen nur die Spuren, die kreuz und quer durch die Bucht und entlang der Brackwasserzonen liefen. „Mir ist nicht ganz wohl“, bekannte der Seewolf, „wenn ich an die armen Kerls denke. Ob sie vor dem Waran geflohen sind?“ „Wenn sie in den Dschungel gelaufen sind, dann bestimmt nicht vor einem einzelnen grauen Drachen“, meinte Dan. „Wollen wir hinterher?“ Hasard sah nach dem Stand der Sonne und folgte Batuti, der auf die Stelle zustapfte, an der die vielen Spuren zwischen Lianen und Baumstämmen verschwanden. „Ich glaube, es ist heute zu spät dafür“, sagte Hasard, als sie im Schatten standen und den Modergeruch des Waldes rochen. „Und wir sind zu wenige. Morgen, denke ich, mit entsprechender Ausrüstung. Vielleicht wagen sie sich in der Nacht an den Strand.“ „Dann sehen sie unsere Lichter und können Signale geben“, setzte Dan hinzu. „Richtig.“ Die sieben Männer fanden ohne Schwierigkeiten den breit ausgetretenen Pfad, der hinter den Büschen anfing und in wirren Windungen zwischen Bäumen und durch feuchten Untergrund führte. Sie folgten ihm zweihundert Schritte weit und sahen ihre bisherigen Beobachtungen bestätigt. Die Fußabdrücke waren nicht älter als ein paar Tage. „Zurück“, sagte Hasard, als sie vor einem vermodernden, von Ameisen wimmelnden Stamm standen, der quer über dem Pfad lag. „Wir haben nicht mal eine Fackel dabei. Morgen unternehmen wir einen gezielten Vorstoß. Wenn sich die Kerle nicht auch noch vor uns verstecken, finden wir sie.“ „Aye, aye, Sir.“
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Sie bahnten sich den Weg zum Strand, enterten in die Jolle und pullten zur Schebecke zurück. Nichts hatte sich verändert, kein Schiff hatte sich durch die Passage gewagt, nur die Sonne war weiter zur Kimm gewandert. Als sich Hasard über das Schanzkleid schwang und vor dem Großmast stehenblieb, war fast die gesamte Mannschaft versammelt. „Wacheinteilung, Backen und Banken, Bug- und Hecklicht, alles wie gewohnt, Freunde“, sagte er. „Mit etwa zwanzig Mann, mit Fackeln, Waffen und bestens ausgerüstet, suchen wir die Seeleute von diesem Wrack. Noch etwas: wahrscheinlich haben sie ihr Schiff nicht selbst angezündet. Piraten? Ich weiß es nicht. Wir werden uns jedenfalls nicht überraschen lassen, nicht wahr, Mister Stückmeister?“ Al Conroy grinste grimmig und nickte. „Nein, Sir“, sagte er. „Sollte ein Pirat so verrückt sein, uns kapern zu wollen, dann hat er's zuerst mal mit einem Dutzend Culverinen und acht Drehbassen zu tun. Wir sind feuerbereit, Sir.“ „Ich hab' auch nichts anderes erwartet“, sagte der Seewolf. „Es ist denkbar, daß die Schiffbrüchigen nachts unsere Lichter sehen. Dann ersparen wir uns den Ausflug in den Dschungel.“ „Das werden wir erleben – oder nicht“, sagte Dan O'Flynn und entere den Niedergang unter Deck ab. Mehr als eine Stunde später leuchteten die beiden Laternen weit über das ruhige Wasser der Bucht. Die Crew ging vorschriftsmäßig Wache, die Jolle war längsseits belegt, Waffen funkelten im Licht, und der Geruch des Essens, der von der Kombüse über Deck wehte, versprach weitere Köstlichkeiten der balinesischen Küche. Ab und zu schallten über die Bucht Schreie aus dem Wald, die sich anhören, als würden sich große Tiere gegenseitig zerfleischen und, vom Schmerz überwältigt, wild in die Nacht brüllen und wimmern. Diese schaurige Begleitmusik hielt bis Mitternacht an.
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Das kleine Feuer brannte, schwelte und stank. Die letzten Überlebenden der „Vlissingen“ hockten auf der Bambusplattform, hörten und spürten ihre knurrenden Mägen und ahn' daß sie das Sonnenlicht nicht ehr sehen würden. „Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Frans z'Waele. „Wir müssen morgen, meinetwegen in der Nacht, im Wrack schlafen können. Wenn wir noch länger bleiben, sterben wir alle.“ „Ari van Valdern“, sagte Cornelis. „Was denkst du darüber?“ „Genauso“, erwiderte der dritte Überlebende. „Wir krepieren hier, ganz bestimmt. So wie die anderen. Warum sind wir nicht gleich beim Wrack geblieben?“ „Ich wollte weiterarbeiten“, sagte Brom, der Moses. „Jetzt, da wir nur noch fünf sind, brauchen wir zehnmal so lange.“ „Richtig“, murmelte Jan tom Broek und senkte den Kopf. Es war die siebente Nacht auf der Insel. Der furchtbare, unsichtbare Gegner hatte alle anderen verschwinden lassen. Die Holländer wußten, daß sie tot waren, denn mindestens einer wäre entkommen oder hätte geschrien oder sich gewehrt. Die Furcht lauerte in ihnen, über ihnen, in jedem Schatten, in jeder Bewegung. „Es ist gut, daß wir dieses Haus hier gebaut haben“, sagte Cornelis, zählte in Gedanken die Männer und sprach unhörbar die Namen der Toten. „Mit den Resten der anderen Unterstände und Dächer.“ „Ja. Und keiner traut sich zum Feuer und schiebt Holz nach“, sagte der Erste, packte den Säbel und sprang von der Plattform. Sie stand zwei Yards hoch über dem Boden. Das Gras war abgebrannt, der Sand glattgefegt. Vielleicht sahen sie doch noch Spuren. Frans zerrte und schob, mit schnellen, angstvollen Bewegungen, Holz und Bambus in die Flammen und enterte die Stufen wieder auf. Hungrig, den Bauch voller Wasser und Beeren, zitternd vor Angst, warteten die Holländer und fanden keinen Schlaf...
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