Was hat der finstere Hexer Thantos im Sinn, als er seine Nichte Cam in den Sommerferien nach Conventry Island lockt? Weiß er, dass eine räumliche Trennung die Hexenkräfte der Zwillinge Cam und Alex schwächen kann? Bald schon scheint es nämlich, als brächte nicht nur der bezaubernde Inselbewohner Shane Cams Herz in Gefahr. Dunkle Visionen führen das Mädchen auf die Spuren ihrer Vergangenheit und ziehen sie auf unheimliche Weise mehr und mehr in ihren Bann.
2
H. B. Gilmour & Randi Reisfeld
Band 9
Dunkle Mächte
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr
Ravensburger Buchverlag
3
Für unseren lieben Freund Nance und unseren Lieblingsfan Martine -mit Dank und in Liebe. H.B.G. und R.R.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Thomas Schluck GmbH, Garbsen. Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. 1 2 3 07 06 05 © 2005 der deutschen Ausgabe Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „T*Witches Split Decision" bei Scholastic Inc. New York © 2003 by H. B. Gilmour und Randi Reisfeld Umschlagillustration - Scholastic Inc. Redaktion - Eva Issing Printed in Germany ISBN 3-473-34942-9
4
KAPITEL 1 FEUERWERK
Vor dem dunkelblauen Nachthimmel zuckte und sprühte das Feuerwerk. Ein prächtiger Farbenregen - mal orange oder giftgrün, mal blendendes Silber oder glitzerndes Gold -tauchte die Gesichter der andächtig zum Himmel schauenden Menschenmenge in flackerndes Licht. In Marble Bay, Massachusetts, feierte man den 4. Juli, den amerikanischen Nationalfeiertag, und fast die ganze Stadt war auf den Beinen, um sich die Show nicht entgehen zu lassen. Für diese Nacht wurden alle zu Nachbarn. Ooohs und Aaahs vermischten sich mit ausgelassenem Gelächter, während die bunten Leuchtraketen und Funkenregen über dem Wasser krachend explodierten. Selten gab es ein solches Freundschaftsgefühl wie in dieser Nacht am Strand. Und selten hatte sich Camryn Barnes so allein gefühlt. Bestätigt wieder mal die alte Redensart, dachte Cam, dass man sich mitten in einer Menschenmenge am einsamsten fühlen kann. Selbst wenn man eigentlich dazugehört - zumindest zu dieser Clique hier. Cam hockte auf einer Decke, dicht zusammengedrängt mit ihren fünf besten Freundinnen. Ihre leuchtend grauen Augen waren zwar auf das sagenhafte Feuerwerk gerichtet, aber ihre Gedanken wanderten wieder mal
5
ganz woanders hin. Sie trugen Cam mit sich zu Orten, zu denen sie auf keinen Fall wollte. Er war also nicht mehr hier. Na und? Schließlich war er nicht besonders weit weg - und auch nicht für immer. Jason Weiss-man war nur früher als die anderen ins College aufgenommen worden. Außerdem waren sie ja eigentlich nicht richtig miteinander gegangen. Kein offizielles Paar. Das Gefühl der Leere, das sie jetzt gerade empfand, konnte also mit Jason nichts zu tun haben. Ein besonders heftiger Böllerschuss brachte den Himmel buchstäblich zum Wackeln. Funkelnder Rubinsternregen ergoss sich hoch über dem Meer, Lichtringe fügten sich ineinander wie Glieder einer Kette. Blau schimmernde Fontänen und Feuersäulen zerteilten den schwarzen Himmel, gefolgt von blendend weißen Lichtblitzen, dann schössen gleißend rote Raketen in die Höhe und bildeten Sternenschwärme in den amerikanischen Nationalfarben Blau-Weiß-Rot. Die patriotische Begeisterung der Menschenmenge kannte keine Grenzen. Was wird eigentlich aus den ausgebrannten Feuerwerksraketen, wenn sie auf dem Boden aufschlagen ?, fragte sich Cam lustlos. Wahrscheinlich zerstäuben sie zu Asche in alle Richtungen. So ähnlich wie ihre Freundinnen. Das Feuerwerk am 4. Juli war so etwas wie der offizielle Sommeranfang. Und für Cams Clique markierte dieser Sommer den Übergang zur letzten Phase ihrer Schulzeit in der Highschool.
6
Außerdem war es der erste Sommer, den der „Sechserpack" getrennt voneinander verbringen würde. Amanda ging nach Norden in irgendein Jugendlager. Beth wollte hinunter nach Florida, wo ihr seit kurzem von ihrer Mutter geschiedener Vater jetzt wohnte. Sukari würde über den Teich nach Osten jetten, um in Europa an archäologischen Ausgrabungen teilzunehmen. Brianna und Kristen waren für ein ziemlich teures Tennistrainingslager irgendwo im Westen der Vereinigten Staaten angemeldet, mit freundlichen Grüßen bezahlt von Brees Dad, dem HollywoodProduzenten (Der Mann, der seiner Tochter eher Geld hinterherwarf, als auch nur eine Minute seiner Zeit für sie zu opfern). Nur Cam ging nirgendwohin. Dieses Jahr mussten die Sommerferien gestrichen werden, hatte Cams Adoptivvater Dave erklärt. Sie alle würden den Gürtel enger schnallen müssen. Ihre Adoptivmutter Emily hatte die Sache sehr viel klarer ausgedrückt: Sie hatten jetzt ein drittes Kind, das bald ein College besuchen würde - damit war Alex gemeint, die vor einem Jahr plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte -, und nicht nur zwei (nämlich Cam und ihren Bruder Dylan). Es wäre absolut unverantwortlich eine Menge Geld für Sommerferien hinauszuwerfen. Also würde Cam wohl oder übel die Sommerferien in Balkonien oder Terrassaland verbringen müssen. Fühlte sich die Leere in ihrem Magen nicht ein wenig wie Neid an?
7
Neeee, absolut nicht. Cam hatte nie zu den Leuten gehört, die im Selbstmitleid ertranken. Aber im Moment lebte sie offenbar tatsächlich in einem Dorf namens Jammertal, direkt an der Autobahn nach Klagenfurt. Das einzig Gute an der Sache war, dass ihre Freundinnen keinen Schimmer hatten, wie es in ihr aussah. Hatten sie eigentlich nie. Cam war schon immer das Sonnenkind gewesen, jedenfalls äußerlich, obwohl sie innerlich immer gespürt hatte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gewusst, dass sie anders war. Und damit hatte sie Recht. Sie war gerade vierzehn gewesen, als Alex in ihr Leben trat - ihre eineiige Zwillingsschwester, von deren Existenz sie bis zu diesem Zeitpunkt absolut null Ahnung gehabt hatte. Und von dem Augenblick an hatte alles in ihrem Leben plötzlich einen ganz anderen Sinn bekommen. Auch dieses fremde Mädchen, das von der anderen Seite des Landes kam, hatte genau dasselbe Gefühl gehabt irgendwie anders, seltsam, eigenartig zu sein. Und sie wussten auf einmal, was beiden gefehlt hatte. Zusammen hatten sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben als Ganzes empfunden, wenn auch nicht unbedingt als normal. „Snacks! Wir brauchen was zwischen die Zähne!", platzte die lockenhaarige Beth in Cams Träumerei. „Und Agua",
8
ließ sich Kristen hören. „Auch Wasser genannt. Wir sind total ausgetrocknet." Sukari richtete sich halb auf und blickte sich um. „Positionsbestimmung, Leute: Imbissbude in geringer Distanz. Halber Kilometer, höchstens, Variable x nicht eingerechnet." „Variable x?", bemerkte Brianna affektiert. „Hast du tatsächlich Variable x gesagt? Wenn ich dich höre, glaube ich am Ende noch, dass man Mathe sein ganzes Leben lang braucht." Sukari beachtete Bree nicht. „Die Variable x ist der Gesamtbestand des menschlichen Fleischsalats, der sich am Strand ausbreitet und uns von unserem Ziel trennt. Für diesen Hindernislaufbraucht man a) ziemlich viel Mut, b) kräftige Gehwerkzeuge und c) größte Rücksichtslosigkeit." „Hab ich alles", meldete sich Cam schnell, „ich gehe." Brianna nickte zustimmend. „Exzellent. Camryn die Tapfere beschafft uns was zu futtern." Nachdem die Mädchen ihre Bestellungen aufgezählt hatten, meinte Beth: „Das kannst du nicht allein tragen, Cam. Ich komme mit." Cam stand auf und versuchte Beth davon abzubringen. „Ich bin eure Anführerin", sagte sie so gelassen wie möglich. „Ich stelle mich der Verantwortung und der schweren Pflicht euch alles zu beschaffen, was lasterhaft süß und enorm kalorienreich ist."
9
„Abgemacht", beendete Brianna die Diskussion. „Also fünf Pepsis und ..." „Pepsi ist ausverkauft", murmelte Cam, geistesabwesend zum Imbissstand geblickt hatte.
die
„Dann eben ... hey, warte mal!", sagte Bree herausfordernd und hob die Augenbrauen. „Das kannst du doch von hier aus gar nicht sehen!" Aber Cam konnte es sehen. Sie konnte nicht nur sehen, dass Pepsi ausverkauft war, sondern sie sah auch alles andere in dem Imbissstand, sogar das Wechselgeld - ein Vierteldollar und ein Zehn-Cent-Stück -, das der Verkäufer gerade einem Kunden aushändigte. Ihr teleskopisches, zoomähnliches Sehvermögen war eine Gabe, von der ihre Freundinnen nichts ahnten. Sie fasste sich schnell wieder. „Ich hab gerade jemanden sagen hören, dass sie nur noch Eistee und dieses blauweiß-rote Slush-Zeug übrig haben." Bree rollte ihre smaragdgrünen Augen. „Egal. Dann eben vier Slushies und ..." „... einen Diät-Eistee." Cam wusste im Voraus, was Bree haben wollte. Ausgerechnet das Mädchen, das es am wenigsten nötig hatte Kalorien zu zählen, hielt strengste Diät. Inzwischen hatte sie zwar ihre Magersucht unter Kontrolle, aber geheilt war sie noch lange nicht.
10
Das galt allerdings auch für Cams Weltschmerz. Sie war froh ihren Freundinnen wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Während sie sich durch die Menschenmenge drängte, ging sie alle möglichen Erklärungen für ihre Stimmung durch. Hatten ihre Gefühle damit zu tun, dass alle ihre Freundinnen verreisten, oder hatten sie doch etwas mit Jason zu tun ? Er ist da l Er ist zurückgekommen! Wegen mir! Cam blieb wie angewurzelt stehen. Eine Mikrosekunde lang glaubte sie, die aufgeregten Worte seien ihre eigenen Gedanken. Aber nein. Die Urheberrechte für diese literarische Meisterleistung besaß einzig und allein ihre Zwillingsschwester Alex. Alexandra Fielding. Der Name erinnerte irgendwie an ein aufgedonnertes Starlet, das nach der Galapremiere seines ersten Films die Kinotreppe herunterschwebt. Aber absurder hätte ein Vergleich dieser Alexandra Fielding mit einem Starlet nicht sein können. Als ob sich Cams eineiiger Zwilling jemals in anderem Outfit als ihren verwaschenen, zerrissenen Jeans, der ausgefransten Tarnjacke und ihren ständig quietschenden Mokassins hätte blicken lassen! Cams Schwester lebte nach ihren eigenen Gesetzen und deshalb lag ihr Verhalten auch oft ziemlich daneben. Zum Beispiel heute Abend. Cams Sechserpack hatte Alex eingeladen mit ihnen zum Feuerwerk zu gehen, aber Alex hatte sich nicht überwinden können einmal im Leben ein wenig höflich zu sein.
11
Okay, dieses Mal hatte sie ja wenigstens einen Grund. Cams Zwillingsschwester stand nämlich total auf einen Jungen, den sie vor fast einem Jahr nur ganz kurz kennen gelernt hatte, bevor er sich nach Paris abgesetzt hatte. Der Glückliche hieß Cade. Und der war jetzt wieder zurückgekommen. Vielleicht für einen Sommer. Aber auf jeden Fall für Alex. Cam hatte sich eigentlich nicht absichtlich in Alex' Freudenschrei einloggen wollen, aber sie konnte nicht anders. Denn sie und Alex konnten gegenseitig ihre Gedanken hören. Wirklich hören - nicht wie normale identische Zwillinge, die höchstens mal spürten, was der andere Zwilling dachte. Denn Alex und Cam waren eben keine normalen Zwillinge, sondern sie waren Zwillingshexen. Hexengirls, wie sie sich selbst nannten, seit sie einander gefunden hatten. Und das war vor genau einem Jahr gewesen, am 4. Juli. Für Cam und Alex war der Unabhängigkeitstag zu einem Abhängigkeitstag geworden -dem Tag, an dem sie unentrinnbar aneinander gebunden worden waren. War das etwa kein Grund zum Feiern? Klar doch. Na dann: Herzlichen Glückwunsch. Cam erschrak, wie bitter ihre Gedanken klangen. Zugleich war sie erleichtert, dass Alex im Moment wahrscheinlich etwas anderes zu tun hatte, als Cams verbitterte Hirnströme anzuzapfen. Reiß dich zusammen, schimpfte sie mit sich selbst und versuchte sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, zwei extrem biegsame und halb aufgeweichte Papptabletts durch eine äußerst lebhafte Menschenmenge zu bugsieren - Tabletts, die mit einem halben Dutzend Hot Dogs, bis zum Rand gefüllten Trinkbechern und Chips
12
hoffnungslos überladen waren. Sie würde ein wenig Magie einsetzen müssen, um das zu schaffen - in diesem Fall könnte sie beispielsweise einfach die Getränke mit ihrem Superblick einfrieren, sodass sie nicht aus den Bechern schwappten. Gedacht, aber nicht getan. Denn in diesem Moment lief Cam trotz der schwülen, drückenden Nachtluft plötzlich ein Kälteschauder über den Rücken. Ein eiskalter Wind wirbelte um sie herum, als befände sie sich im Auge eines Tornados. Sie fror. Gänsehaut breitete sich auf Armen und Beinen aus, kalter Fieberschweiß trat auf ihre Stirn und ihre Augen begannen zu tränen. Der Strand und die Menschenmenge verschwammen zu einem einzigen riesigen Farbklecks. Ihr Kopf dröhnte. Klassische Symptome. Sie wurde wieder mal von einer Vorahnung heimgesucht, einer Vision. Null Chance sich dagegen zu wehren. Nicht gegen die Vision und schon gar nicht gegen die schlimmen Dinge, die sie ihr vorhersagen würde. Cam spürte nicht mehr, wie ihr die Tabletts aus der Hand glitten. Stattdessen sah sie ein Trio schmächtiger kleiner Jungen, alle ungefähr neun oder zehn Jahre alt, die auf einem leeren Feld kauerten. Zwei von ihnen starrten den langhaarigen Jungen an, der in der Mitte kniete. Er hielt etwas dicht vor dem Gesicht - viel zu dicht: einen Feuerwerkskörper. Jeden Moment würde die kleine Rakete losgehen. Cam konnte sie förmlich schon explodieren sehen ... in den Händen des Jungen. In
13
seinem Gesicht. Er würde schwer verletzt sein, vielleicht sogar erblinden. Cam würde seine Schmerzen spüren. Sie spürte sie bereits jetzt. Schmerzen, die von ihrer Hand ausstrahlten, durch ihren Arm und ihre Muskeln zum Hirn rasten, als bohre jemand eine lange, biegsame Nadel durch ihre Adern. Ihre Vision hatte ihr den ganzen Horror vor Augen geführt, doch alles war abgelaufen wie ein Stummfilm. Aber jetzt kam plötzlich der Ton wieder. „Sag mal, spinnst du oder was ?", schrie irgendein Typ sie an. „Erst schüttest du zwei Tabletts voller Fastfood über uns und dann stehst du rum und glotzt wie eine Mumie." Sein Freund fiel ihm ins Wort. „Mann, warte doch mal. Ihr ist vielleicht übel geworden. Hey, geht's dir nicht gut?" Cam wurde jäh aus ihrem Traumzustand gerissen. Langsam wurde ihr klar, dass sie sich jetzt wohl besser entschuldigen und anbieten sollte die Bescherung wegzuräumen. Aber sie schaffte es nicht. Ihr Kopf dröhnte und ihre Gedanken rasten. So schnell sie konnte, sprintete sie davon. Wo waren diese Jungen? Konnte sie das Unvermeidliche doch noch aufhalten? Und konnte sie es allein aufhalten? Ihre Sinne waren der einzige Kompass, den sie besaß. Sie rannte an der Kaimauer entlang, wich den Leuten in letzter Sekunde aus, sprang über Decken, Picknickkörbe, Coladosen und Strandbälle. Gehetzt bahnte sie sich ihren Weg durch die dicht gedrängt stehende Menschenmenge und rief hastig im Vorbeilaufen ein „Tut mir Leid" oder „Verzeihung" in alle Richtungen. Das Feuerwerk steigerte sich inzwischen zum großen Finale und niemand hatte Lust sich einer
14
Verrückten in den Weg zu stellen. Sie rannte bis zum Ende der Mauer und blieb abrupt stehen, als sie die hohen, aufgeregten Jungenstimmen hörte. Sie klangen höhnisch und herausfordernd. „Komm schon, Mann, mach schon. Hast du Schiss oder was ?" „Zünd ihn an, Mann! Jetzt!" „Lasst mich ... ich schaff es allein ..." Cam blickte über die Kaimauer und sah sie. Genau wie in ihrer Vision knieten die Jungen auf einem an den Strand grenzenden Feld, das dicht mit Unkraut überwuchert war. Aber sie waren weiter weg, als sie sich vorgestellt hatte - viel zu weit, um sie noch rechtzeitig zu erreichen. Sie fokussierte ihren Superblick auf das Trio. Schaut her, dachte sie intensiv. Schaut mich an! Aber die drei Jungen konzentrierten sich auf die Rakete, die der Junge in der Mitte in der Hand hielt. Er war kleiner als seine Freunde; seine Hände waren schmal und braun und zitterten. Links neben ihm kniete ein größerer Junge, der eine Streichholzschachtel hielt. Der Junge auf der anderen Seite griff gerade danach, um den Feuerwerkskörper anzuzünden. Wenn er nur aufgesehen hätte und ihrem Blick begegnet wäre, dann hätte ihn Cam mit ihrem Superblick bewegungsunfähig machen können, jedenfalls lange genug, um hinüberzulaufen und ihm die Rakete aus den Händen zu reißen. Aber er blickte nicht auf. Keiner von ihnen sah in ihre Richtung. Sie wünschte auf einmal, dass Alex hier wäre - Alex mit ihren telekinetischen Fähigkeiten. Ihre Schwester schaffte
15
es durch reine Konzentration Dinge zu bewegen. Sie musste nur wollen, dass sich etwas bewegte. Selbst auf diese Entfernung hätte es Alex wahrscheinlich geschafft, sich auf die Rakete zu konzentrieren und sie in hohem Bogen ins Meer sausen zu lassen. Aber wo war Alex? Cam hatte kurz zuvor ihre Gedanken gehört, also konnte ihre Schwester nicht sehr weit entfernt sein. Schnell schickte sie ihr ein telepathisches SOS, während sie auf die Jungen zulief, mit beiden Armen winkte und schrie: „Stopp! Stopp! Nicht anzünden! Sie reißt euch die Finger ab!" Ihr Geschrei hatte eine gute und eine schlechte Wirkung. Gut war, dass sie Cam hörten und sich zu ihr umdrehten. Schlecht war, dass sie sich jetzt nur noch mehr beeilten. „Mach schnell, Mann! Schnell, bevor sie uns die Rakete wegnimmt!" drängte ein Junge den in der Mitte. „Soll sie nur mal probieren", gab dieser angeberisch zurück. Ihr Wortwechsel verschaffte Cam ein paar Sekunden Zeit. Aber wofür ? Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war ja nur die Hälfte des Traumteams der Hexengirls. Total hilflos ohne Alex. Sie spürte panische Angst in sich aufsteigen.
16
KAPITEL 2 EXPLOSIVE SITUATION
Die Jungen kauerten dicht nebeneinander, noch entschlossener als zuvor die Rakete zu zünden. Sie drehten Cam jetzt den Rücken zu und hatten keine Ahnung, dass der Feuerwerkskörper beschädigt war und nicht in den Himmel aufsteigen, sondern in ihren Händen explodieren würde. Cam begann zu zittern. Was konnte sie allein jetzt noch tun? Die Antwort lag in einem kleinen Gegenstand, der um ihren Hals hing - das Sonnenamulett an der dünnen Goldkette. Das Amulett besaß große Zauberkraft. Ihr Vater, den sie und Alex nie hatten kennen lernen dürfen, hatte es für sie gefertigt. Jetzt begann es zu beben, aber Cam zitterte selbst so sehr, dass sie es kaum spürte. Doch dann endlich fühlte sie es; es erwärmte sich auf der Haut, auf der sich kalter Angstschweiß gebildet hatte. Sie griff nach dem fein gearbeiteten Goldamulett, schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Rakete unge-zündet aus den Händen des Jungen schoss, in weitem Bogen durch die Luft wirbelte und schließlich ins Meer stürzte. Ein Zauberspruch kam ihr plötzlich in den Sinn. Keiner dieser eleganten Verse, die ihr Vormund Ileana vielleicht gedichtet hätte, aber doch bestimmt genauso gut wie die
17
Songtexte, die Cam mit ihrer komponierenden Schwester zusammengeschustert hatte. In ihrer Verzweiflung zitierte sie die Worte einfach so, wie sie ihr von dem Sonnenamulett eingegeben wurden:
„Kein Leid soll auf törichte Kinder fallen, kein Schrei aus ihren Mündern hallen! Um allen Schmerz von ihnen zu wenden, nimm die Gefahr aus ihren Händen, schleudre sie in des Meeres Stille, um sie zu vernichten. Dies ist mein Wille!"
Cam zuckte zusammen, als sie panische Schreie hörte. Es hatte nicht funktioniert. Sie hatte versagt. Warum sonst würden die Jungen so schreien? Sie riss die Augen auf. Direkt vor ihr spielte sich Unglaubliches ab. Das Trio wurde rückwärts weggeschleudert wie durch einen gewaltigen Windstoß. Schreiend überschlugen sich die Jungen und rollten durch das hohe Gras. Cam sah eine rote Leuchtspur davonrasen - das glimmende Ende der Rakete, die aber noch nicht gezündet hatte. In einem weiten Bogen durchschnitt sie den dunklen Nachthimmel und explodierte über dem Meer.
18
Die Kinder waren in Sicherheit, doch in ihren Gesichtern spiegelte sich große Furcht. Sie rappelten sich keuchend auf und rannten über die Wiese davon. Nur der Kleinste blieb kurz stehen, wandte sich um und starrte Cam an. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Staunen und Angst. „Lauf!", schrie einer seiner Freunde über die Schulter zurück. „Hast du nicht gesehen, was sie gemacht hat? Das ist eine Hexe! Lauf weg!" Das ist eine Hexe! Das Echo des Schreis verlor sich in der Dunkelheit. Cam seufzte tief. Damit liegst du jedenfalls nicht voll daneben, dachte sie. Erschöpft und atemlos ließ sie sich zu Boden sinken. Sie hatte es geschafft! Man hatte sie gebraucht und sie hatte nicht versagt! Vielleicht, dachte sie, während sie noch um Atem rang, vielleicht will mir das Universum damit sagen, „Du kannst es auch alleine. Ganz alleine, Camryn. Ohne Hilfe. Ohne Alex."
„Bitte, Dave, wir haben den Urlaub verdient und die Sache fällt uns geradezu in den Schoß. Es ist ein unglaublich glücklicher Zufall!" Die Stimme gehörte Emily Barnes, Cams Adoptivmutter. Und sie klang schmeichelnd und honigsüß. „Da
19
bekommen wir nun plötzlich zwei Tickets geschenkt - die können wir doch nicht einfach verfallen lassen!" Cam hatte gerade die Haustür geöffnet, stand noch auf der Schwelle und lauschte. Sie wollte gerade ins Wohnzimmer stürzen und Emilys Bitte lauthals unterstützen. Also würde die Familie doch in die Ferien fahren! Vielleicht war der heutige Abend ja noch zu retten - trotz allem anderen. Oder auch nicht! Denn als sie die Antwort ihres Vaters hörte, blieb sie mitten im Flur stehen. „Aber Cam und Alex wären dann ganz allein zu Hause", widersprach David Barnes, wie immer der penibel korrekte Rechtsanwalt. „Cam und Alex!", betonte Emily. „Sie haben einander. Sie sind prima Mädels und zusammen sind sie einfach ... fantastisch, geradezu unschlagbar." Unschlagbar? Aber ja, klar doch. Cam konnte gerade noch ein verächtliches Schnauben unterdrücken. Mütter!, dachte sie. Ahnungslos von Natur aus. Tatsächlich wusste Emily Barnes nichts von der wirklichen Herkunft der Zwillinge und kannte nicht einmal ihre echten Namen - Apolla, das war Cam, benannt nach dem Sonnengott, und Artemis, das war ihre mondsüchtige Schwester Alex. David jedoch wusste mehr über die Mädchen als seine Frau, denn er war als Beschützer für Cam ausgewählt worden. Er wusste mehr - aber nicht viel mehr. „Sie sind erst fünfzehn, Emily!"
20
wandte er ein. „Schon bald sechzehn", erinnerte sie ihn sanft. „Oh, David, wie oft kommt so etwas vor? Dylan ist im Jugendlager und die Mädchen ... sind clever und vernünftig. Sie kommen allein zurecht und das weißt du auch. Und für uns ist das eine einmalige Gelegenheit..." Höchste Zeit einzugreifen. „Was ist eine einmalige Gelegenheit?", fragte Cam und trat ins Wohnzimmer. Emily stutzte überrascht und blickte Cam an. Sie lächelte, wie fast immer, wenn sie ihre Tochter sah. „Dad und ich haben zwei Tickets für eine Kreuzfahrt geschenkt bekommen. Wir wären ja nur drei Wochen lang weg ..." „Und?" fragte Cam und versuchte, nicht auf das leere Gefühl zu achten, das sich schon wieder in ihrem Magen breit machte. Also wären nicht mal ihre Eltern hier! Beide sahen sie an, zwei Paar fragende Augen. Warteten sie etwa darauf, dass Cam die Sache genehmigte? Dass sie ihren Segen erteilte? „Klar. Geht nur", sagte sie und legte so viel Begeisterung in ihre Stimme, wie sie zu Stande bringen konnte. „Ich ... wir kommen auch allein zurecht." Emily wirbelte zu Dave herum und strahlte ihn an.
21
Cam ließ sie allein und stieg die Treppe hinauf, wobei sie sich am Treppengeländer hochzog. Das Selbstmitleid drohte sie zu überwältigen. Alex und Cam waren zusammen - aber eben doch nicht. Denn da war ja noch der Faktor Cade zu berücksichtigen. Ein Faktor, der jede freie Minute in Alex' Leben beanspruchen würde. Cams Freundinnen verteilten sich in alle Welt. Ihr Bruder Dylan war im Jugendcamp „Extrem" - wahrscheinlich hing er gerade in einem Drachenflieger, surfte oder vertrieb sich die Zeit auf dem Skateboard. Und ihre Eltern? Die würden sich schon bald auf Deck in der Sonne räkeln. Und Cam? Ihr blieb nichts anderes übrig als in ihrem halb toten Wohnort abzuhängen und auf irgendwelche Visionen zu warten. Diesen Sommer konnte sie vergessen. Sie wurde nicht gebraucht. Nirgendwo und von niemandem. In ihrem Zimmer, das sie mit Alex teilte, steuerte Cam direkt auf das Notebook zu. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm, überging aber die Adresse, die alle kannten:
[email protected]. Stattdessen öffnete sie ein Postfach mit einer anderen Adresse. Es war ihre Geheimadresse, die sie für den E-Mail-Verkehr mit einer einzigen Person reserviert hatte. Und das war jemand, der sie ganz bestimmt brauchte. Cam hatte Shane Wright im vergangenen Jahr kennen gelernt. Und war sofort auf ihn abgefahren. Wem wäre das nicht passiert? Er sah super aus - blond, umwerfend und - er war böse. Daran musste sie sich immer wieder erinnern. Ein richtig böser, egoistischer, ja gefährlicher Typ. Eben ein Hexer.
22
Shane war durchaus dazu bereit, seine starken Zauberkünste in den Dienst des Bösen zu stellen. Hatte Cam es nicht selbst beobachtet? Waren sie und Alex nicht beinahe Opfer seiner Tricks und seines Verrats geworden? Shane lebte auf der Insel Coventry, der mysteriösen, von Meer und Wellen umtosten Insel, auf der Cam und Alex zur Welt gekommen waren und auf der immer noch der Rest ihrer Familie lebte. Darunter auch, wie sie erst kürzlich herausgefunden hatten, ihre leibliche Mutter Miranda DuBaer. Auf der kleinen Insel wimmelte es förmlich von Familie, Freunden ... und Feinden. Auch daran musste sich Cam immer wieder erinnern. Vor noch nicht sehr langer Zeit hatte auch Shane zu ihnen gehört. Zu den Feinden. Er hatte sich auf sehr undurchsichtige Bekanntschaften eingelassen und war dem falschen Anführer gefolgt. Aber dann hatte er alles gestanden, seine ganzen Verfehlungen. Er sei bereit sich zu bessern. Er brauchte Cam, um seine 180-Grad-Wende zu schaffen. Shanes E-Mails waren nicht weniger erstaunlich und unwiderstehlich als er selbst. Mir ist nie klar geworden, wie nahe ich am Abgrund stand, mein Leben nur noch im Dienst des Bösen zu verbringen, dem genauen Gegenteil meines Daseinszwecks als Hexer, hatte er Cam geschrieben. Bis ich dich traf und du mir einen besseren Weg gezeigt hast. Ich bin
23
hier, um zu helfen, zu heilen, meine magischen Kenntnisse für andere einzusetzen, und nicht für meine egoistischen Ziele. Zuerst hatte Cam nicht darauf reagiert - aber ihr Schweigen hielt ihn nicht ab ihr weiter zu schreiben. Er verstehe es vollkommen, wenn sie ihm nicht vergeben könne, gestand er ihr. Er sei nicht einmal sicher, ob er Vergebung verdiene. Er habe so viel Furchtbares getan, dass es vielleicht unverzeihbar sei. Er könne es verstehen, wenn sie ihm nicht antworten wolle. Und tatsächlich war es furchtbar gewesen, was er getan hatte. Shane hatte sie ausgenutzt, hatte sich ihr Vertrauen erschlichen und sie dann so rücksichtslos verraten, dass es Cam und Alex beinahe das Leben gekostet hätte. Aber in seinen E-Mails entschuldigte er sich so aufrichtig und wirkte so unglücklich und hoffnungslos, dass sie ihm in einem schwachen Moment doch zurückgeschrieben hatte. Sie hatte sich an sein Lächeln erinnert, seine glitzernden Augen, daran, dass sie bei ihm nie hatte verbergen müssen, wer sie wirklich war, und daran, dass ihr Herz jedes Mal hüpfte, wenn sie ihn sah. Sie erinnerte sich nicht mehr, wann genau Shane ihr vorgeschlagen hatte, dass sie ihm nur unter einer E-MailAdresse schreiben solle, zu der niemand außer ihr Zugang hatte und von der niemand sonst wisse. Oder wann er sie zum ersten Mal gedrängt hatte nach Coventry zurückzukommen. Aber vor einer Woche hatte er ihr erneut geschrieben. Du bist so, wie ich immer sein wollte. Und wie ich sein könnte. Ich brauche dich, Cam. Bitte komm zurück auf die Insel ... zurück zu mir. Auch wenn es
24
nur für kurze Zeit ist. Sagt dir dein Herz nicht, dass du mir vertrauen kannst? Dass du an mich glauben kannst? Er wollte Verzeihung und Vergebung. Und heute Abend war Cam in genau der richtigen Stimmung ihm beides zu gewähren. Und zwar persönlich. Alex wusste nichts von dieser heimlichen Korrespondenz. Cams Zwilling mit der borstigen SpikeFrisur würde total ausrasten, wenn sie davon erführe. Cam konnte geradezu hören, was sie sagen würde: „Wie konntest du nur? Nach allem, was er getan hat? Schon mal den Satz gehört: ,Wer einen Fehler vergisst, macht ihn noch mal'?" Nichts hatte Cam vergessen. Aber Alex verstand nicht, was in Cam vorging. Trotz alldem, was geschehen war, hatte Cam noch immer starke Gefühle für Shane. Und jetzt wollte er, dass sie ihm vergab. „Wer will, dass du ihm vergibst?" Erschrocken zuckte Cam zusammen. „Nächstes Mal warnst du mich gefälligst, bevor du hinter mir herschnüffelst!", fauchte sie ihre Schwester wütend an und schloss schnell das E-Mail-Fenster.
25
Alex zuckte die Schultern und fuhr mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln durch die gefärbten Haare. „Ich hab nicht hinter dir hergeschnüffelt", verkündete sie gut gelaunt. „Technisch sollte ich dazu eigentlich gar nicht in der Lage sein. Du hättest mich schon spüren müssen, als ich die Treppe heraufkam, dann hättest du nämlich genug Zeit gehabt deine privaten E-Mails zu schließen." „Warum kommst du schon so früh nach Hause?", wollte Cam wissen. „Hast du mit Cade nicht eine Menge nachzuholen?" Alex ließ sich auf ihr Bett fallen und kickte ihre schäbigen Mokassins von den Füßen. „Kannst du deinen Sarkasmus mal eine Stufe runterfahren ? Ich hab beschlossen mal richtig unegoistisch zu sein. Wollte nur schauen, ob bei dir alles okay ist." „Warum sollte bei mir nicht alles okay sein?" Alex tippte sich an die Stirn. „Vision vorbei, Hämmern im Schädel? Starke Kopfschmerzen? Deshalb wollte ich nachschauen, wie's dir geht." „Also hast du es gewusst." Cam versuchte ihr triumphierendes Grinsen zu unterdrücken. „Ich hab irgendwelche Kids davor bewahrt sich die Finger wegzublasen." Sie verschränkte die Arme und lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. „Du braves Hexchen", sagte Alex lässig und klatschte dreimal sehr langsam in die Hände.
26
„Alex, weißt du was ? Ich glaube, ich bekomme jetzt auch dein Supergehör. Ich hörte die Kids von ziemlich weit weg." „Irre Premiere!" Ihre Zwillingsschwester applaudierte noch einmal gelangweilt. „Zum ersten Mal! Und ich hab's ganz allein geschafft." Cam grinste und spreizte zwei Finger zum VictoryZeichen. „Ich will dir deinen Triumph nicht verderben, Schwesterchen, aber ganz so einfach lief die Show dann doch nicht." „Übersetzt du das mal fürs gemeine Volk?" Alex zog ihr Kapuzenshirt über den Kopf. „Wir, du und ich, Hexengirls GmbH, KG und Compagnie. Wir haben eingegriffen und die Knaben gerettet." Cams Gesicht lief rot an; sie konnte ihren Ärger kaum noch unterdrücken. „Wie kommst du denn darauf?", fragte sie. „Ich hab dir eine Denkmail geschickt. Du hast nicht mal geantwortet." „Wirklich nicht?" Alex hob die Augenbrauen - die heute scharlachrot waren, passend zu ihrem Haar. „Und was meinst du, warum dein Sonnenamulett zu vibrieren anfing, warum es heiß wurde?" „Willst du etwa behaupten, dass du das gemacht hast?", fragte Cam erstaunt. „Ich hörte dein telepathisches Gebrüll ganz genau. Nur war ich nicht nahe genug, um rechtzeitig bei dir zu sein. Also ... ich hab wieder mal meinen Ruf bestätigt, die
27
Schnelldenkerin von uns beiden zu sein, und hab was Neues ausprobiert. Ich hab mein Amulett umklammert ..." Alex führte vor, wie sie sich daran festgehalten hatte, als sei es ein Rettungsring beim Untergang der Titanic. Dann hielt sie ihrer Schwester das goldene Halbmondamulett vor die Nase und ließ es an der Kette hin und her schwingen. „Ich hab dir sogar einen Zauberspruch geschickt, eine poetische Meisterleistung, wenn ich mal ganz bescheiden so sagen darf. Und? Er funktionierte. Puff! Weg war die Bombe." Jetzt hatte Cam endgültig genug. „Nein, du Angeberin!", fauchte sie. „Deine Erklärung stinkt zum Himmel. Ich glaub dir kein Wort." „Wow", sagte Alex unbeeindruckt, „machen wir heute mal wieder so richtig auf Heulsuse?" Cam war selbst überrascht von ihrer scharfen Reaktion. Ihre Kehle schnürte sich zu und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wandte sich ab; Alex sollte nicht sehen, dass sie weinte. Warum fühlte sie sich wie eine Versagerin? Seit wann war sie so weinerlich ? Wo war die ewige Siegerin Cam, der modebewusste und allseits beliebte Star des Frauenfußballteams, zu dem alle aufblickten? Sie hasste es, sich so hilflos zu fühlen. Alex war offensichtlich auf Tränen nicht gefasst. Sie kam herüber, legte Cam die Hände auf die Schultern und massierte sie sanft. Doch
28
das machte alles nur noch viel schlimmer. Cam brauchte ihre ganze Willenskraft, um Alex' mitfühlende Hände nicht abzuschütteln. Sich selbst zu bemitleiden war schon schlimm genug, bemitleidet zu werden war aber noch viel schlimmer. „Wir haben die Sache zusammen durchgezogen, aber der Punkt geht an dich. Du hast es zuerst bemerkt", versuchte Alex sie zu trösten. „Und du hattest die Vision, Cam. Wenn du nicht gewesen wärst, wären die Dinger den Jungs mitten ins Gesicht explodiert. Du weißt ja, ich habe keine Vorahnun-gen."
Viel später, als Cam die Augen schloss, ging ihr nicht der Erfolg, das Feuerwerk oder Shane durch den Kopf, sondern sie sah eine üppig grüne Landschaft, einen stillen Ort... und eine Frau in lavendelfarbenem Umhang, deren kastanienbraunes Haar zu einem langen Zopf geflochten war. Sie flüsterte. Doch was? Cam strengte sich an etwas zu verstehen ...
29
KAPITEL 3 THANTOS' SPIEGELKABINETT
„... schlaf nur im goldenen Schein ... Mond guckt zum Fenster herein ..." Jemand sang ein altes Wiegenlied und eine Hand strich ihr über das Haar. Sie spürte die sanfte Berührung und fühlte sich sicher und geborgen wie damals, als sie noch ein Kind war. Leise flüsterte eine Stimme: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass du mich besuchst. Kannst du meinen schnellen Herzschlag hören?" „Alex hat das Supergehör, nicht ich", murmelte Cam, immer noch schläfrig. „Ich weiß schon, welcher Zwilling du bist, meine Tochter." Miranda DuBaer, Cams leibliche Mutter, saß auf der Bettkante und hielt ihre Hand. In leibhaftiger Gestalt sah Miranda genauso aus wie im Traum: Das lange, kastanienbraune Haar war zu einem über den Rücken herunterhängenden Zopf geflochten und auch der lavendelfarbene Umhang fehlte nicht. Und dann erst ihr wunderschönes Gesicht! Cams Blick glitt durch den Raum zu einem in die dicke Außenmauer eingelassenen Stabwerkfenster, über die goldverzierten Wände eines unbekannten Zimmers, die teilweise gerundet waren und
30
offenbar die Innenseiten eines gewaltigen Turms bildeten. Die riesigen Türme von Crailmore. Das konnte nur bedeuten, dass sich Cam wirklich auf der Insel Coventry befand! Hatte sie sich hierher geträumt? Aber das war doch sicherlich unmöglich? Miranda lächelte mit verträumtem Blick. „Du scheinst immer noch ein wenig benommen und verwirrt zu sein. Aber das ist eigentlich nicht erstaunlich. Selbst am Tag deiner Geburt hast du länger gebraucht als deine Schwester, um richtig aufzuwachen." „Wie lange bin ich schon hier?", fragte Cam, drehte sich auf den Rücken und rieb den Schlaf aus ihren Augen. „Seit gestern. Du warst ziemlich erschöpft und bist sofort schlafen gegangen." Seit gestern ? Cam blinzelte noch einmal und jetzt endlich kam die Erinnerung zurück. Sie war nicht durch Zauberkraft, sondern durch Manipulation hierher gereist. Dave und Emily waren zu ihrer Kreuzfahrt aufgebrochen; sie würden nichts davon erfahren, dass auch Cam nicht mehr zu Hause war. Alex hielt im Haus der Barnes die Stellung und vertuschte Cams Abwesenheit. Cam hatte Alex die Wahrheit gesagt. Dass sie nach Coventry gehen musste. Aber sie hatte ihr nicht den Grund ihrer Reise genannt und natürlich war Alex prompt misstrauisch geworden. Und als Alex vermutete,
31
dass Cam wegen Shane nach Coventry reisen wollte, hatte Cam die Behauptung sofort vehement abgestritten. Sie hatte behauptet, einfach mal eine gewisse Zeit mit Miranda allein sein zu wollen. Zwar hatte sie Alex eingeladen mitzukommen, aber natürlich hatte sie genau gewusst, dass ihre Schwester niemals die Stadt verlassen würde, solange Cade da war. Und so hatten die Zwillinge einen Pakt geschlossen: Alex würde die Verschwörung mitmachen und Cams Abwesenheit geheim halten, wenn Cam sich rechtzeitig vor der Rückkehr von Emily und Dave Barnes wieder in Marble Bay einfand. Und wenn Cam außerdem versprach Alex sofort zu verständigen, wenn sie irgendwelche Probleme bekam. Cam setzte sich auf und streckte sich ausgiebig. Erst jetzt blickte sie sich genauer um: ein rundes Zimmer mit goldverzierten Wänden. Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die hohen Fenster. Miranda saß vor ihr mit herzlichem, liebevollem Lächeln. Cam lachte glücklich. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in einem so weichen, großen und bequemen Bett geschlafen zu haben. Sie fühlte sich in einem Zustand absoluter Zufriedenheit. Und sie war sicher, dass sie richtig gehandelt hatte hierher zu kommen. Doch dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. War das nicht... „Richtig", bestätigte Miranda. „In diesem Bett hat dein Vater geschlafen." Sie strich mit der Hand über die Bettdecke, als könne sie dort noch die Wärme ihres
32
Mannes spüren, der vor so vielen Jahren ermordet worden war. „Deshalb fühlst du dich hier so beschützt und friedlich. Aron ist nicht mehr bei uns, aber seine Zauberkraft ist noch immer spürbar." „Woher kommt die Form des Zimmers?", fragte Cam verwundert. Das Zimmer war rund, verengte sich jedoch zu einem V, an dessen Spitze sich zwei Türen befanden. Es erinnerte Cam an die Form eines breiten Pizzastücks. Miranda erklärte ihr, dass die Schlafzimmer der ganzen Familie zu einem großen Kreis angeordnet waren. Alle Schlafzimmer seien miteinander verbunden. Die beiden Türen an den Wänden von Arons Zimmer führten zu den Zimmern seiner Brüder Thantos und Fredo. „Deine Großeltern wollten, dass ihre Söhne ein enges Verhältnis zueinander entwickelten. Die Anordnung der Zimmer sollte ihnen dabei helfen." „Das ging wohl gründlich schief, würde ich sagen", bemerkte Cam sarkastisch. Sie stieg aus dem Bett und lief schnell an eines der Fenster. Crailmore beherrschte die Insel; die Burgfeste befand sich seit Generationen im Besitz der Familie DuBaer. Und nun lebte hier Lord Thantos als Oberhaupt des DuBaer-Clans. Das hatte er Cams Onkel Fredo zu verdanken. Denn der schurkische Halbidiot Fredo hatte Aron, den Vater der Zwillinge, ermordet - um Thantos damit einen kleinen Gefallen zu tun. Cam begriff nicht, warum Miranda dem gefährlichen Hexenmeister noch immer vertraute. Sie begann zu zittern. War der gewaltige Hexer vielleicht sogar in der Nähe ? „Dein Onkel ist verreist", sagte Miranda kühl. „Aber er wird bald wieder
33
zurückkommen. Vor Thantos brauchst du wirklich keine Angst zu haben." Cam zuckte zusammen; Miranda hatte offenbar nicht die geringsten Schwierigkeiten sie denken zu hören. Schnell verschloss sie ihre Gedanken, die ohnehin durcheinander wirbelten: Klar doch, schön wär's, aber leider völlig daneben. Wörter wie „Thantos" und „keine Angst" in einem einzigen Satz ... das ist total unmöglich. Thantos! Die Vision überfiel Cam so plötzlich, dass ihre Knie nachgaben. Sie stützte sich schwer auf den Fenstersims, um nicht umzufallen. Miranda durfte es auf keinen Fall bemerken. Cams Blick wurde trübe; ein heftiger Schwindel setzte ein, dann Übelkeit. Schweißtropfen traten auf ihre Stirn. Plötzlich wich der Schleier von ihren Augen. Sie sah ein Buch. Gebunden in brüchiges Leder ... darin Blätter aus altem Pergament ... und eine Hand, eine weiche, vertraute Hand beschrieb das Pergament ... Thantos war das einzige Wort, das sie entziffern konnte. „Er weiß, dass du hier bist", drang Mirandas Stimme wie von fern in Cams Bewusstsein, als ihre Vision verblasste. Sie presste die Hände gegen die Schläfen, als könne sie so den pochenden Schmerz bekämpfen. Nach ein paar Sekunden konnte sie den Blick wieder auf ihre Mutter richten. „Wer weiß es ? Thantos ?"
34
In Mirandas Miene spiegelten sich Kummer und Sorge. „Nein, ich meine den Jungen. Den blonden Jungen, wild und unzuverlässig ..." Cam begriff erst allmählich, wen ihre Mutter meinte. Shane! Sie wird mich doch nicht davon abhalten wollen, ihn zu treffen, dachte sie panisch. „Warum sollte ich dich davon abhalten?" Miranda schien wirklich verwundert über Cams Gedanken. „Ganz bestimmt nicht. Aber sei vorsichtig, wenn du mit ihm zu tun hast." „Und?", fragte Cam. Sie wartete auf den Rest der Ermahnung, auf den Teil, den Emily betont hätte. „Wir vertrauen dir. Du wirst schon wissen, was du zu tun hast." Aber Miranda sagte nichts. Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: „Ich wünschte nur, Artemis wäre mit dir gekommen. Ich habe gerade an sie gedacht. Habe überlegt, ob ich sie hierher rufen sollte." Sie hielt Cam einen schön gemusterten Kimono hin. „Freust du dich nicht mich hier zu sehen?", fragte Cam und fuhr mit den Armen in die weiten Kimonoärmel. Sie genoss das Gefühl des weichen Stoffes auf ihrer Haut. „Ich meine, reiche ich dir nicht?" „Aber natürlich!" Miranda war erstaunt, dass Cam so etwas auch nur fragen konnte. „Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Aber ich muss euch etwas Wichtiges erzählen ..." „Okay. Fang an", drängte Cam.
35
Miranda schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht. Das will ich euch erst dann erklären, wenn ihr beide hier seid. Ileana und ich haben es so vereinbart. Deshalb hatten wir ohnehin vor, euch zu besuchen, sobald Ileana von ihrer Reise zurückkommt." Ileana war die Kusine der Zwillinge - und ihr Vormund. An dem Tag, an dem Aron starb und Miranda einen Zusammenbruch erlitt, war Ileana zur Beschützerin der Zwillinge bestimmt worden. „Diese wichtige Sache, die du uns beiden nur zusammen erzählen willst ... Wir waren doch beide hier auf der Insel, als Lord Karsh beerdigt wurde. Warum hast du es uns damals nicht erzählt?" Miranda war auf dem Weg zur Tür. Jetzt blieb sie noch einmal kurz stehen und sagte leise: „Weil ich es damals selbst noch nicht wusste."
Cam hatte eigentlich nicht vorgehabt in dem Zimmer herumzuschnüffeln. Aber es war schließlich das Zimmer ihres eigenen Vaters und sie war jeder Möglichkeit beraubt worden Aron DuBaer jemals kennen zu lernen. Das war hier eine einmalige Gelegenheit und sie beschloss sie sofort zu nutzen, sobald sie angezogen war. Sie staunte über all die Sieger- und Ehrenurkunden, Zertifikate und Trophäen, mit denen ihr Vater schon als Junge ausgezeichnet worden war. Cam war allmählich
36
richtig stolz auf ihn. Kein Wunder, dass auch sie selbst zu den Siegertypen gehörte, oder? Jedenfalls wurde Emily nicht müde, das zu behaupten. „Du bist einfach sagenhaft. Eine Athletin, die noch dazu super aussieht und gescheit ist - du bist ein Siegertyp, Cam", sagte ihre Adoptivmutter gewöhnlich und schüttelte vor Verwunderung den Kopf. „Ich weiß nicht, wie du das machst." Cam selbst war Emilys Lob manchmal fast peinlich. Aber nur fast. Jetzt kam ihr der Gedanke, dass ihre Begabungen vielleicht gar nicht ihr selbst zuzuschreiben waren, sondern von diesem erstaunlichen Mann vererbt worden waren. Aron war ein begabter junger Hexer gewesen. In einer besonderen Auszeichnung stand, dass er die vollständigen Weihen als jüngster Hexer aller Zeiten absolviert hatte. Aron hatte dabei seine Vorsätze beschrieben: dass er seine Begabungen und sein Familienvermögen einsetzen wolle, um der Menschheit zu helfen. Cam nahm nur ein einziges Andenken an sich: einen Zettel, den sie in einer Schublade fand und auf den Aron gekritzelt hatte: Tu was du willst, solange es niemandem schadet. Die Zimmer ihrer beiden Onkel erzählten ganz andere Geschichten. Fredo, der jüngste der drei Brüder, hatte seine Wände mit Postern von Monstern, godzillaähnlichen Eidechsen und riesigen Klapperschlangen beklebt. In seinen Schreibtischschubladen fand Cam Mitteilungen von Lehrern
37
und Nachhilfelehrern, die ihn ständig aufforderten sich mehr anzustrengen. Eine Notiz klang fast wie eine unheimliche Prophezeiung: „Fredo ist leicht in die Irre zu führen. Wir müssen ihn stärker ermutigen selbstständig zu denken." Das Zimmer des ältesten Bruders Thantos war wie ein Altar der Selbstanbetung. Überall hingen Spiegel. Cam zählte sieben Spiegel verschiedener Größen und Formen an den Wänden, an den Schranktüren, auf dem Tisch und über seinem Schreibtisch. Kein Kinderzimmer, sondern ein Spiegelkabinett. Schon als Kind war Thantos offenbar sein eigener und größter Fan gewesen. Aber er verehrte auch Aron, wenn man davon ausging, dass Nachahmung die ehrlichste Form von Schmeichelei war. Cam grinste, als sie bemerkte, wie viele Gegenstände mit dem Aufkleber „EIGENTUM VON ARON DUBAER" sich in Thantos' Zimmer finden ließen - von einem Beutel mit Kristallen bis zu einem Buch mit Zaubersprüchen, ja sogar Hausaufgabenhefte. Es fiel ihr mit ihrem Superblick nicht schwer zu erkennen, wo „Aron" sorgfältig ausradiert und durch „Thantos" ersetzt worden war. Ein Lehrer hatte sich nicht täuschen lassen. Thantos hat wieder einmal bei Aron abgeschrieben, stand in roter Tinte quer über einem Aufsatz. Cam konnte es kaum erwarten Alex von diesen interessanten Dingen zu erzählen. Sie wollte gerade in Arons Zimmer zurückgehen, als ihr Blick auf ein Foto fiel. Ein gerahmter Schnappschuss von
38
drei Jungen - der große, kräftige Thantos, der athletische, freundlich lächelnde Aron und der kleine Fredo, der seine Augen in der Sonne zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Cam ließ den Finger nachdenklich über das junge, hübsche Gesicht ihres Vaters gleiten. Als sie das Bild wieder auf seinen Platz zurückstellte, stieß sie gegen eine silberne Haarbürste, die daneben gelegen hatte. Die Bürste fiel mit lautem Klappern hinter die Kommode. Cam seufzte und ließ sich auf Hände und Knie nieder, um unter dem Möbelstück nach der Bürste zu suchen. Vor Überraschung hielt sie den Atem an. Was war das? Vorsichtig rückte sie die Kommode von der Wand weg. Eine seltsame Klappe wurde sichtbar, eigentlich eine kleine Tür, etwas mehr als einen Meter hoch, sodass ein Kind ohne weiteres hindurchkommen konnte. Aber warum war die Tür hinter der Kommode verborgen? Sie versuchte sie zu öffnen ... „Camryn, bist du schon angezogen?", rief Miranda vom Flur. Cam fühlte sich wie eine Diebin, die auf frischer Tat ertappt worden war. Schnell rückte sie die Kommode an die Wand zurück und stürzte durch die Verbindungstür in Arons Zimmer. Kaum eine Sekunde später klopfte Miranda an ihre Tür und trat ein. „Du hast Besuch", sagte sie lächelnd. „Männliche Variante." Shane! Cams Herz machte einen Hüpfer.
39
Miranda trat zur Seite und Cam raste an ihr vorbei zur Tür hinaus. „Bitte", hörte sie Mirandas Stimme leise hinter ihr herrufen, „bitte sei vorsichtig." Cam nickte und versprach es ihr. Aber sie hielt sich nicht daran.
40
KAPITEL 4 KUSS, UNTERBROCHEN
Sei vorsichtig! Alex musste man nicht warnen, vorsichtig zu sein. Das hatte sie sich selbst ständig gesagt, seit Cade sozusagen mit einem Satz wieder in ihr Leben gesprungen war. Lass dich nur so weit in diese Sache ein, dass du jederzeit wieder aussteigen kannst. Halte dir immer einen emotionalen Notausgang offen. Zeige rechtzeitig Stoppsignale - hier kam ihr immer das entsprechende Verkehrszeichen in den Sinn, während sie auf ihrem Fahrrad fuhr - und zieh notfalls die Zugbrücke hoch. Lass ihn nicht zu nah an dich ran. Lass ihn nicht in dein Herz. Das wäre zu ... „Erde an Alex -" ... gefährlich. Aber es war bereits zu spät. Bumm - die Festung Alexandra war längst gefallen. Im Sturm erobert. Cade fuhr neben ihr her und Alex stellte fest, dass sich ihre Vorderräder genau in der gleichen Geschwindigkeit drehten.
41
„Wenn ich nur Gedanken lesen könnte ...", sagte er und seine blauen Augen mit den langen dunklen Wimpern glitzerten spöttisch. Alex' Griff um die Lenkstange wurde unwillkürlich fester. „... dann würde ich endlich wissen, warum du so grimmig und wild entschlossen aus der Wäsche blickst", führ Cade fort. „Warum du die Augenbrauen so düster und konzentriert zusammenziehst. Warum du deine Lippen spitzt. Warum wir schon eine ganze Weile nebeneinander radeln und du auf rein gar nichts reagierst, was ich zu dir sage." Hatte er tatsächlich etwas zu ihr gesagt? Zu der Superhexe mit dem Supergehör? „Oh Mann", stöhnte sie, „du hast es mit einer totalen Loserin zu tun." „Kann nicht sein", widersprach er ihr, „das bist du nicht, weder total noch sonst was." Verlegen wandte sie sich ab. Er sollte nicht sehen, dass sie rot wurde. Dass Alex Fielding rot wurde. Und dass sie sich im freien Fall befand. Alex hatte Cade Richman schon im vergangenen Schuljahr kennen gelernt, als sie beide neu in die Marble Bay High School gekommen waren. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Die Chemie hatte sofort gestimmt und zumindest sprachlich hatten sie sich auf Anhieb glänzend verstanden. Sogar in biologischer Hinsicht, wenn man das nach einem einzigen Kuss behaupten
42
konnte. Ihre Beziehung sah nur in geschichtlicher Hinsicht schlecht aus, denn sie war nicht sehr lange gewesen: Cades Vater hatte sich nach Paris versetzen lassen und die ganze Familie war dorthin gezogen. Aber Cade hatte ein Souvenir mitgenommen: Alex' Herz. Im Zeitraffer erzählt: Cade, dieser Junge mit den dunklen Locken, den graublauen Augen und dem leicht spöttischen Grinsen, war wieder da. Alex wusste nur, dass ihm sein Vater einen Job und ein Zimmer bei der Familie seines Chefs besorgt hatte. Aber war Cade nur für einen Sommer hier oder für immer? Die Frage hing zwischen ihnen, aber sie war bisher weder gestellt noch beantwortet worden. „Wir sind fast da", verkündete sie. Sie hatte Cade zu einem ganz besonderen Ort geführt, einem Ort, an dem wunderbare Dinge geschehen waren. Eigentlich nichts weiter als eine grüne Wiese mit einer uralten Eiche, aber zugleich war es der höchste Punkt im Mariner's Park von Marble Bay und bot einen atemberaubenden Blick über die gesamte Bucht. Seit vielen Jahren hatte sich ihre Schwester zu dieser Stelle hingezogen gefühlt, war aber immer allein hierher gekommen, bis Alex bei den Barnes eingezogen war. Ein paar Monate danach waren die Zwillinge unter dieser riesigen alten Eiche ihrer leiblichen Mutter Miranda zum ersten Mal begegnet. Alex hatte eigentlich nicht vorgehabt eine andere Person zu diesem Baum zu führen.
43
Aber manchmal beginnen die besten Dinge im Leben eben damit, dass etwas passiert, was nicht geplant war. Cade, zum Beispiel. „Jetzt wird mir klar, warum das dein Lieblingsplatz ist", sagte er, nachdem Alex angehalten und ihr Fahrrad ins Gras gelegt hatte. Er beschattete die Augen und blickte zu den weit entfernt im Hafen liegenden Jachten hinaus. „Eine richtige Postkartenszene, wie ein Schnappschuss aus einer anderen Welt", sagte er zögernd und schien auf etwas zu lauschen. „Hier ist es irgendwie anders. Sehr still, verstehst du? Friedlich." Er spürte es. Wie Alex eigentlich schon lange vermutet hatte, konnte er solche Dinge spüren. Sie fühlte sich auch selbst sonderbar beschwingt und ihr emotionales Sicherheitsnetz schien sich aufzulösen. Sie hatte eine Decke mitgebracht, aber jetzt schreckte sie davor zurück sich so nahe neben ihn zu setzen. Vielleicht wollte sie dann nie mehr aufstehen ? Vielleicht würde sie sich in seinen Augen und seiner Umarmung verlieren und nie mehr zurückfinden? Alex hatte nicht vor, so etwas zuzulassen. Sie rammte die Fäuste in ihre Taschen, als müsste sie ihre Hände daran hindern ihn anzufassen. In der rechten Jackentasche stießen ihre Finger gegen einen scharfkantigen Stein. Kaum hatte sie ihn berührt, spürte sie Wärme von ihm aufsteigen. Sie begriff sofort, dass es der Rosenquarz war, den sie und Cam schon oft für Zaubersprüche und Magie benutzt hatten. Sie könnte ihn auch jetzt benutzen, überlegte Alex, um ihre Gefühle zu besänftigen und ihr
44
Herz zu schützen oder um eine Sicherheitszone zwischen sich und Cade einzurichten. Nein! Dieser Kristall war ihr vom alten Hexer Karsh gegeben worden, ihrem Lehrer und Beschützer. Er hatte ihr beigebracht, dass Magie dazu benutzt werden solle, Liebe oder Heilung zu unterstützen, und nicht, um sich davor zu schützen. Alex ließ den Stein los - trotzdem hoffte sie, dass schon ein wenig von seiner Kraft in ihr Herz geflossen war. Eigentlich war sie nicht hungrig, aber sie öffnete ihren Rucksack und packte das Picknick aus, das sie vorbereitet hatte -Salate, Tunfisch, Käse, Brot, Obst, Chips und Mineralwasser. Cade pfiff anerkennend durch die Zähne. „Das finde ich so cool an dir: Man kann nie vorhersagen, was du tun wirst. Du machst nie das, was andere Leute erwarten ..." Alex richtete sich auf und verschränkte die Arme. „Aha. So ist das also: Ich hab knallrote Haare, schwarz lackierte Fingernägel, trage eine alte Tarnjacke statt Kaschmir und schon bin ich unfähig ein Sandwich zu machen ? So denkst du also über mich?" „Jetzt hast du mich kalt erwischt", gab er verlegen zu und wurde sogar ein wenig rot. „Meine Schwester leidet an Küchenangst. Obwohl Camryn in einem total bürgerlichen Haus aufgewachsen ist. Wenn die drei frische Erdbeeren auf ihre Cornf lakes legt und Milch darüber gießt, hält sie das für den Gipfel der Kochkunst. Und wenn wir schon von Widersprüchen
45
reden, die auf zwei Beinen herumlaufen - hast du eigentlich in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?" Cade war eines Tages in der Schule aufgetaucht - ein abgerissener Typ mit Löchern in der Jeans. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass Cade Richman aus einer reichen Familie stammte und die halbe Welt bereist hatte. „Ich hab dich eigentlich schon immer mal fragen wollen: Warum wolltest du verschleiern, wer du wirklich bist?" Er streckte sich auf der Decke aus, stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie an. Ihre Gesichter waren nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt. „Hab ich doch gar nicht versucht. Ich bin so, wie ich bin. Du warst das einzige Mädchen, Alex, das sich jemals die Mühe machte das herauszufinden. Außerdem haben wir doch alle unsere kleinen Geheimnisse ..." „Ich nicht", log Alex. „Ich bin wie ein offenes Buch. Du kannst mich alles fragen." Und das tat er auch. Die nächsten Stunden verbrachten sie mit reden, zuhören, lachen, Geschichten erzählen. Sie merkten, wie wenig sie voneinander wussten - und wie viel sie schon wussten. Obwohl Alex die ganze Hexengeschichte wegließ, stellte sie fest, dass sie mit ihm ewig weiterreden und ihm zuhören konnte. Cades Vater war irgendein hohes Tier in einem riesigen Konzern und Cades Familie hatte oft umziehen müssen. Mit seinen sechzehneinhalb Jahren hatte Cade deshalb
46
schon viele Schulen besucht. Das zurückliegende Schuljahr hatte er in Paris verbracht. „Es ist echt cool dort, aber bestimmt nicht die ideale Stadt, von der die Leute träumen." Alex hatte nie von Paris geträumt oder sich danach gesehnt die Stadt zu sehen. Ihre Wünsche waren viel bescheidener. Sie hatte sich immer gewünscht zu verstehen, warum sie so seltsam, so anders als die anderen Kids war. Sie hatte sich danach gesehnt endlich aus dem verwahrlosten Wohnwagen ausziehen zu können, in dem sie mit ihrer Adoptivmutter Sara gehaust hatte. Und am meisten hatte sie sich gewünscht, dass Sara ihre Krankheit überwinden, den Krebs besiegen und wieder gesund werden würde. Zwei ihrer Wünsche waren wahr geworden. Aber der dritte Wunsch war unerfüllt geblieben und daran litt sie noch immer. Trotz all ihrer Begabungen, ihrer Magie war Alex nicht in der Lage gewesen, die einzige Person, die sie damals als Mutter gekannt und gewollt hatte, vor dem Tod zu retten. »Soll ich etwas auf Französisch sagen?", unterbrach Cade plötzlich ihre Gedanken. Neckend fügte er hinzu: „Es ist schließlich die Sprache der Liebe ..." Das war schon mehr als ein Flirt, das war ihr klar. Er musste die schwarzen Erinnerungen gespürt haben, in denen sie gerade zu versinken drohte, und versuchte nun sie aufzumuntern, bevor es zu spät war. Ein wirklich erstaunlicher Junge. Sofort verflog ihre düstere Stimmung. „Oui!" Das war das einzige französische
47
Wort, das sie kannte. „Okay. Mal schauen, ob du erraten kannst, was ich sage. Tu es tres jolie, Alex, mon petit chou rouge", sagte er mit verschmitztem Lächeln. Alex hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeutete. Cade lehnte sich vor und umfasste ihr Kinn mit seiner Hand. „Es heißt: Du bist sehr hübsch ..." Sie wurde rot. „... mein kleiner Rotkohl." Alex verzog das Gesicht und boxte ihn leicht in die Brust. Cade zog sie sanft zu sich. Alex' Herz begann heftig zu klopfen. Sie erinnerte sich noch deutlich daran, wie sich Cades Kuss anfühlte. Sie schloss die Augen und lehnte sich zu ihm ... Hoffentlich ist es die Sache wert. Sonst wäre die ganze lange Reise umsonst gewesen. ... und riss jäh ihren Kopf zurück. Was zum ...? Was hatte er eben gedacht? Alex starrte Cade an. Wütend platzte sie heraus: „Hoffentlich ist was die Sache wert? Meinst du mich oder wen?"
48
Cade zuckte verblüfft zusammen. „Was ist denn jetzt los?" Natürlich meine ich dich. Wen denn sonst? Glaubst du vielleicht, ich will mich mit deiner zickigen Schwester abgeben? Alex setzte sich abrupt auf und rückte von ihm weg. „Ich weiß nicht, welches Spiel du spielst..." „Spiel? Alex, was ist los? Was hab ich denn falsch gemacht?", fragte Cade völlig perplex. Spiel ? Ist ja super. Wie wär's mit einem, das wir beide kennen, zum Beispiel Verstecken? Inzwischen kochte Alex vor Wut. Wahrscheinlich bin ich knallrot im Gesicht, dachte sie. Was konnte sie ihm antworten? Ich hab deine Gedanken gehört, du Idiot? Spielst du nur mit mir? Alex sprang auf, stürzte zu ihrem Fahrrad, bereit abzuhauen. Du bist durchgeknallt, Alex, bleib doch, du wolltest doch Verstecken spielen ... Alex packte den Lenker, kickte den Ständer hoch und erstarrte plötzlich. Das waren nichtCades Gedanken gewesen. Jemand anderes war da. Jemand, der stark genug war sich in ihre Gedanken einzuloggen. „Alex, sag mir, was los ist", drängte Cade verzweifelt. „Gib mir wenigstens einen Hinweis - ich hab wirklich null Ahnung." Er war aufgesprungen und legte ihr jetzt die Hände auf die Schultern, um sie zu sich umzudrehen.
49
Aber sie kam ihm zuvor, wirbelte zu ihm herum. Und dann sank ihr Herz. Sie brauchte seine Gedanken gar nicht zu hören. Cades verletzte Gefühle waren groß und breit auf seinem Gesicht zu lesen. Sie stotterte: „Ich ... ich wollte nicht... ich meine, das hat mit dir nichts zu tun, das ist meine Schuld ..." Sie rang nach den richtigen Worten. „Ich weiß, dass dir das seltsam vorkommt ... dass ich mich irgendwie völlig danebenbenehme, und du denkst wahrscheinlich, dass ich total..." Cade blickte ihr fragend in die Augen, suchte nach einem Anhaltspunkt. Er fand nichts und sie konnte ihm nicht helfen. Sie hoffte nur, dass ihr sehr schnell eine Erklärung einfallen würde, die er akzeptieren konnte. Und dass er ihr dann verzeihen würde. Oh, puh, Alex, du versuchst es ja nicht mal! Ausgerechnet du, die Jägerin Artemis ... Schande, Schande über dich! Grimmig wandte sich Alex von Cade ab und schoss eine eigene telepathische Nachricht zurück. Wer du auch sein magst, ich werde dich finden! Das wirst du noch bereuen! Blitzschnell ließ sie ihren Blick durch den Park gleiten und wünschte sich wieder einmal die Superaugen ihrer Schwester zu besitzen. Mit ihren eigenen Augen konnte sie jedenfalls niemanden entdecken. Nur eins entdeckte sie: Als sie sich wieder umdrehte, war Cade verschwunden.
50
Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, hätte ihm nachgeschrien: „Geh nicht weg! Warte doch!" Wie hatte das alles nur so gründlich und so schnell schieflaufen können ? Zum ersten Mal waren Cade und Alex wirklich zu zweit allein und schon gab es eine Katastrophe. Sie musste die Sache mit Cade irgendwie wieder auf die Reihe kriegen -aber erst musste sie diesen Dummschwätzer kaltstellen. Dummschwätzer? Jetzt sollte ich eigentlich beleidigt sein. Aber die Sache hat mir echt viel Spaß gemacht. Alex biss die Zähne zusammen. Sie hetzte so schnell den Hügel hinunter, dass sie ihre Absätze tief in den weichen Grasboden rammen musste, um nicht zu stürzen. Alle paar Meter blieb sie stehen, lauschte, überlegte. Ihr Gegner hatte sie und Cade ausspioniert, war in ihre Gedanken eingedrungen. Das konnte mit Sicherheit nur eine Hexe, aber die Frage war: welche Hexe ? Jedenfalls nicht Camryn, nicht Miranda und nicht einmal ihre manchmal recht boshafte Kusine Ileana würden sich auf diese Weise einmischen. Du denkst viel zu kompliziert, Alex. Spitz deine Ohren. Hör auf deine Instinkte. Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe!, schoss Alex zurück. Sie kannte jeden Winkel des Parks. Aber warum konnte sie niemanden sehen? Plötzlich wurde ihr klar, dass es gar keine Rolle spielte, ob sie jemanden mit den Augen entdeckte. Wozu hatte
51
sie ihr Super -gehör? Sie strengte ihre Ohren an und versuchte sich zu konzentrieren, da hörte sie ein wischendes Geräusch, als würde eine Decke über das Gras gezogen. Dann Fußschritte, die plötzlich stolperten, ausrutschten ... plumps! Alex' geheimnisvoller Besucher war auf den Hintern gefallen. Endlich kam eine Erinnerung zurück. Vor Wochen, auf der Insel Coventry: eine viel zu kurz geratene junge Hexe, die über den Saum ihres viel zu langen Capes stolperte und eine Treppe hinunterstürzte. Nein! Es konnte doch nicht Michaelina?! „Eins, zwei, drei im Zauberschritt!", sagte jemand und schon sprang die junge Hexe mit ausgebreiteten Armen hinter einem Baum hervor. Sie grinste schadenfroh und schrie im Singsang eines Boxpromoters: „Die Einzige! Die Größte! Die Beste! Miiiichaaaeeeliiiinaaaaaaaa!" Alex blinzelte verblüfft. Das konnte doch nicht wahr sein! Da stand sie tatsächlich vor ihr, die trickreiche Feindin, die Verräterin, die Alex auf Coventry kennen gelernt hatte. Was hatte sie hier zu suchen? Michaelina - mit ihren glitzernden grünen Augen, ihrem bösartig verzogenen Mund, ihrer seltsamen Frisur, die irgendwo zwischen Fee und Punk lag - gehörte zu dem Hexentrio, das sich „Die Furien" nannte: Sersee, Epie und Michaelina. Sie hatten sich alle Mühe gegeben, die Hexengirls Alex und Cam-ryn ernsthaft hereinzulegen. Und es war ihnen beinahe gelungen, dank Michaelina,
52
die sich als Doppelagentin kurz mit Cam und Alex angefreundet und sie dann in eine fast tödliche Falle gelockt hatte. „Das wirst du mir doch nicht ewig nachtragen!", spottete die kleine Hexe. „Wie sagt ihr Festländer immer: vergeben und vergessen ..." „In deinem Fall heißt das: Verschwinde und verpiss dich", fauchte Alex zurück. „Und zwar plötzlich." Michaelina grinste breit. „Du bist noch immer die Alte, Alex. Das ist cool." „Was hast du hier verloren?" Alex umfasste drohend ihr Mondamulett. Michaelina hielt beide Hände abwehrend hoch. „Ich komme in friedlicher Absicht. Wollte nur mal sehen, was auf dem Festland so abgeht. Das ist alles." Alex stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Das glaubst du ja selbst nicht! Wer hat dich geschickt?" „Niemand!", protestierte Michaelina. „Schau mal, Alex, natürlich ist mir klar, dass die Sache damals ziemlich übel war. Ich hab nämlich auch was dazugelernt. Ich gehöre nicht mehr zu Sersees Dienerinnen. Ich ... klar, das klingt kitschig, aber ich versuche neu anzufangen, verstehst du? Um eine zweite Chance zu bekommen."
53
„Eine zweite Chance wofür? Für einen neuen Verrat? Was sollte mich daran hindern gleich einen Fluch über dich zu verhängen ?" „Wirst du nicht tun", schnaubte Michaelina verächtlich. „Du gehörst doch zum Club der Ewig Edlen Hexen. Du glaubst doch den ganzen Scheiß, dass alles sich zum Besten wenden möge und so weiter und so weiter. Es wäre total gegen deine Natur mir irgendwie zu schaden." Michaelina hatte natürlich Recht, aber aus einem anderen Grund. Alex war einfach nicht wütend genug, um dem Mädchen ernsthaft zuzusetzen. Aber etwas an diesem üblen Kobold war seltsam - es lag in ihrem Blick und in der Art, wie sie sich hier als eine superharte, abgebrühte Straßengöre gebär-dete. Es erinnerte Alex an jemanden. Genauso eine Straßengöre wäre sie wahrscheinlich selbst geworden - wenn nicht der alte Hexer Karsh sie zu ihrer Schwester nach Marble Bay gebracht hätte.
54
KAPITEL 5 CAMRYNS MISSION
Shane war nur gekommen, um sie zu sehen. Das wusste sie und es reichte schon vollkommen, um ihren Verstand auszuschalten und die Tore zu ihrem Herzen sperrangelweit aufzureißen. Cam verlangte von Shane nicht einmal eine Erklärung, obwohl die längst überfällig war. Und sich selbst mahnte sie zu keinerlei Vorsicht, obwohl auch die dringend nötig gewesen wäre. Jason war vergessen. Shanes Verrat war vergessen. Er brauchte nur die Arme auszubreiten und sie wusste, dass sie sich ohne zu zögern in sie werfen würde. Der gewaltige Mahagonirahmen der Eingangstür von Crail-more sollte eigentlich allen Besuchern, die durch diese Tür kamen, das Gefühl vermitteln klein und unbedeutend zu sein. Bei Shane Wright funktionierte das nicht. Er fügte sich in den Rahmen, als sei er ein lebendiges Fürstenporträt. Und er nahm auch eine dementsprechende Haltung ein, wie Cam plötzlich bemerkte: eine Hand in die Hüfte gestützt, breitbeinig dastehend, das glänzend blonde Haar reichte ihm fast zu den Schultern. Seine Augen, die so blau wie der wolkenlose Himmel waren, betrachteten Cam aufmerksam.
55
Cams starker und ausdrucksvoller Blick aus grauen Augen wurde trübe, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Im Magen spürte sie Schmetterlinge, die sich erst in dem Moment beruhigten, als sich seine Arme um sie schlossen. Keine Frage, dass sie im Moment nicht die Coole spielen konnte. Jedenfalls nicht, solange sie von einem Jungen wie Shane umarmt wurde. „Endlich bist du da." Das war alles, was er sagte, wobei er sie eng an sich presste und vor Erleichterung seufzte. Hatte er denn daran gezweifelt, dass sie kommen würde ? Shane schob Cams Haarsträhnen zurück und küsste sie leicht auf die Stirn. „Komm mit", flüsterte er. Kommt nicht in Frage. Nicht bevor ich von dir eine vernünftige Erklärung bekommen habe, warum du uns verraten hast. Nicht bevor du mir die Wahrheit ins Gesicht sagst, meiner Mutter ins Gesicht sagst. Ich gehe keinen einzigen Schritt mit dir, bis du uns beiden bewiesen hast, dass du dich geändert hast. Okay. Genau das hätte Cam sagen sollen. Nur - wie hätte sie das in dieser Situation tun können ? Seine Hand hatte sich um ihre geschlossen und ihre Finger hatten sich ganz von allein ineinander verschlungen. Sie gingen still die Treppe hinunter, die Auffahrt entlang und verließen den Schlosspark durch das große schmiedeeiserne Tor. Cam war so versunken, dass sie den schlanken, riesigen Rappen zuerst gar nicht bemerkte, der vor dem Tor stand, an einen der Pfosten angebunden. Shane zog sie
56
zu dem Tier, aber sie wich zurück. „Was ist das?", fragte sie verwirrt. Shane warf den Kopf zurück und lachte. „Ich würde es als Pferd bezeichnen. Genauer: als Hengst", sagte er stolz und strich dem Tier über die dunkle, seidig glänzende Mähne. Im Prinzip hielt sich Cam für eine Tierfreundin, egal ob es sich um große oder kleine Tiere handelte. Aber wenn sie einem wirklich großen Tier so nahe kam, dass sein heißer Atem über ihr Gesicht strich und durch ihr Haar wehte - dann hörte die Freundschaft auf. „Er heißt Epona", erklärte Shane und strich über die gewaltigen Nüstern des Rappen. „Er sieht wild aus, aber in Wirklichkeit könnte er nicht mal einer Fliege was zu Leide tun." „Und was ist mit Menschen?", fragte Cam und runzelte die Stirn. Eponas Schweif schlug nervös hin und her und sein Blick wirkte aufmerksam, aber auf eine eher bedrohliche Weise, fast bösartig und zornig; er schien Cam irgendwie zu mustern. Sie wollte sich abwenden, aber Shanes Arm lag jetzt um ihre Schultern und er schob sie sanft zu dem Hengst. „Schließ Freundschaft mit ihm." Shane führte ihre Hand über den Hals des Tieres. Sie spürte angespannte, starke Muskeln und samtenes Fell. „Er bringt uns zum Strand. Stimmt's, alter Junge?" „Warum können wir nicht zu Fuß gehen ?" In der kurzen Zeit, die Cam auf Coventry verbracht hatte, war sie überallhin zu Fuß gegangen. Wie alle anderen.
57
Shane schüttelte entschieden.
den Kopf.
„Zu weit", sagte
er
„Und Autos ...?" „Nur auf dem Festland." „Und Skateboards, Rollschuhe, Fahrräder, Motorroller, Busse, Züge, Flugzeuge ...?" „Pferde", unterbrach er sie, „spielten in unserer Geschichte immer schon eine wichtige Rolle. Rappen wie dieser hier symbolisierten Macht und Vitalität. Hat dir das noch niemand erklärt? Und hast du noch nie den Namen Epona gehört?" „Nein zu beiden Fragen", gab Cam zu. „Dann muss ich dir wohl noch eine Menge beibringen. Heb mal den Fuß." Shane verschränkte die Finger zu einem Steigbügel und hielt sie ihr hin, sodass sie ihren Fuß hineinsetzen konnte. Zögernd folgte sie seinen Anweisungen. Er schob ihren Fuß in seine Hände. „Hoch mit dir. Halte dich am Sattelknauf fest. Keine Angst, ich passe schon auf, dass er dir nichts tut. Vertraue mir einfach." Ein zweifelnder Gedanke schlich sich irgendwo in eine Ecke ihres Verstandes. Vertrauen? Hat hier jemand schon mal was von Deja-vu gehört? Ein Wiederholungstäter? Der Typ hier hat dich doch schon mal hereingelegt und angelogen. Du hast ihm vertraut und er verriet dich.
58
Shane hatte keine Probleme ihre Gedanken zu hören. „Cam, du bist den ganzen langen Weg hierher gereist", sagte er und sein Blick war unschuldig und klar. „Du musst mir einfach eine Chance geben." Verlegen wandte sie sich von ihm ab, und als er sich hinter ihr auf das Pferd schwang und sie seine Arme um ihre Taille spürte, befahl sie ihrem Verstand endlich die Klappe zu halten. Der junge Hexer ließ Epona langsam durch den Park traben, der Crailmore umgab. Dann lenkte er den Hengst in die tiefen Wälder hinter dem Park. Sie ritten Richtung Nordküste, erklärte ihr Shane. „Dort ist es normalerweise ziemlich einsam, es gibt dort keine Strände und auch keine Anlegestellen für die Fähre." „Auf zu fernen Gestaden", sagte Cam mit leichtem Spott. Sie hätte gern seinen Gesichtsausdruck gesehen, ob er lächelte oder ernst war. „Ja wirklich", fuhr er fort, „du solltest die Gegend dort wirklich sehen. Schließlich ist es dein Besitz." „Mein was?", fragte sie und warf ihm einen verblüfften Blick über die Schulter zu. „Das alles hier gehört zum Land der DuBaers." Er wies mit einer Kopf bewegung voraus, als sie nun auf eine Felsenküste zuritten. „Also gehört es dir."
59
„Stimmt nicht", verbesserte sie ihn, „es gehört Thantos." „Und der ist dein Onkel", erklärte Shane. „Leider", murmelte sie. Sie ritten so weit, wie das Pferd noch sicheren Tritt finden konnte. Schließlich stiegen sie am Rand einer steil abfallenden Klippe ab und ließen den Hengst dort zurück. Hand in Hand stiegen sie einen schmalen Pfad hinunter zum Wasser, wobei sie den scharfen Felskanten gefährlich nahe kamen, die der Wind und der vom See aufsteigende Dunst in Jahrhunderten und Jahrtausenden geformt hatten. Cam, das athletische Naturtalent, erwies sich als sehr viel geschickter im Klettern als Shane. Mehrmals übernahm sie die Führung und half ihm über die felsigen, von den Wellen zerklüfteten Pfade. An dieser Seite der Insel war es kühler und windiger und Cam war froh, dass sie ein Haarband mitgebracht hatte. Nachdem sie die Haare zurückgebunden und wieder klare Sicht hatte, blickte sie sich um. Die Aussicht war überwältigend. Vor ihnen erstreckte sich der riesige See; die Mittagssonne glitzerte auf seiner vom Wind gekräuselten Oberfläche. „Danke, dass du mitgekommen bist." Shane drückte leicht ihre Hand, während sie am Strand entlanggingen. „Ich bin so froh und dankbar, dass du hier bist." Doch sofort piepste wieder ihre kleine rebellische Gehirnzelle: Ich hoffe, dass ich es niemals bereuen muss.
60
„Jeder verdient eine zweite Chance", sagte Cam beiläufig. „Obwohl es in deinem Fall eigentlich schon die dritte ist." „Es gibt absolut keine Entschuldigung für das, was ich getan habe", sagte der blonde Hexer so selbstsicher, als habe er den Satz vor dem Spiegel einstudiert. Er schob eine vom Wind zerzauste Strähne aus der Stirn. „Schließlich habe ich dein Vertrauen erschlichen und dich dann Sersee ausgeliefert. Und sie hat versucht dich umzubringen. So etwas kann man nicht verharmlosen." Sie erinnerte ihn nicht daran, dass er auch schon früher versucht hatte ihre beste Freundin Beth zu benutzen, um Cam auszutricksen. Damals hatte er in Thantos' Auftrag gehandelt. „Ich kann dich nur bitten zu versuchen, mich zu verstehen", fuhr er fort. „Ich hoffe, dass du mir verzeihst. Ich bin nicht mehr der Typ, der ich damals war. Ich arbeite nicht mehr für Thantos und zwischen Sersee und mir ist alles aus und vorbei." Sie gingen weiter und Shane redete ununterbrochen auf sie ein. Immer wieder hob er einen Stein auf und warf ihn aufs Wasser hinaus, wo er über die spiegelglatte Oberfläche hüpfte. Cam unterbrach ihn nicht. Wenn er weiterredete, würde sie sich vielleicht irgendwann davon überzeugen lassen, dass er wenigstens dieses Mal die Wahrheit sagte. „Es war abscheulich, absolut gewissenlos", führ Shane fort. „Irgendwie hatte ich den Boden unter den Füßen verloren, moralisch, meine ich. Das ist ziemlich hart, wenn man bedenkt, dass ich all diese Zauberkräfte besaß, diese Begabungen, aber
61
keinerlei Anleitung bekam, wie ich sie am besten einsetzen sollte." Cam wusste, dass Shane von seinen eigenen Eltern aus dem Haus gewiesen worden war, nachdem er verkündet hatte, dass er dem furchtbaren Hexenmeister Thantos die Gefolgschaft aufgekündigt habe. Sie wollte ihn gerade fragen, warum er in dieser Situation nicht zu Lord Karsh oder zu einem der anderen Erhabenen Ältesten der Hexengemeinschaft von Coven-try gegangen war, von denen die meisten sehr genau wussten, dass Thantos gewisse Fehler hatte. „Aber warum ...?", setzte sie an, als er plötzlich herumwirbelte, sodass sich sein blauer Umhang weit aufbauschte. „Pass auf!", unterbrach er sie. Aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel nahm er eine Hand voll grüner Blätter und rotvioletter Beeren. Er murmelte einen Zauberspruch, dessen Worte aber im Seewind nicht zu verstehen waren, und warf Blätter und Beeren in den Wind, der sie zu den Klippen hinauftrug, wo Epona friedlich graste. Hoch über ihnen scheute das große Tier plötzlich und wieherte wild. Und dann veränderte sich ganz allmählich die schweißglänzende schwarze Fellfarbe. Seine Beine wurden grau, sein Körper golden und seine Mähne blutrot. „Erkennst du ihn wieder?", fragte Shane herausfordernd.
62
Cam erkannte ihn nicht wieder. Sie sah nur noch ein zitterndes Pferd, dem immer mehr Schaum aus dem Maul troff. „Bitte verwandle ihn wieder zurück!", flehte sie. Shane starrte ihr eine Sekunde lang tief in die Augen. „Kannst du es nicht?", fragte er. Cam fasste an ihr Amulett. Es war kalt und still. Nicht die geringste Wärme war darin zu spüren und kein Zauberspruch kam ihr in den Sinn. „Nein", musste sie zugeben, „bitte, Shane." Sie fröstelte; er legte ihr den Arm um die Schultern und unter seinem Umhang spürte sie eine beruhigende Wärme. Mit einer Bewegung, die so schnell war, dass nur eine Person mit besonderem Sehvermögen wie Cam sie hätte wahrnehmen können, griff Shane in seinen offen stehenden Hemdkragen und zog ein hufeisenförmiges Medaillon aus Kristall heraus, das unter dem Hemd verborgen an einem dünnen Lederriemen gehangen hatte. Dieses Mal versuchte er nicht seine Beschwörungsformel absichtlich undeutlich zu sprechen. „Mächte des Wassers, des Himmels, der Erde", rief Shane in den Wind, „befreit diesen Hengst, wie ich es begehre. Lasst schwarz ihn werden, groß und zahm, verbergt die helle Form, in der er einst kam." Das war ein rätselhafter Zauberspruch und Cam hatte keinen Schimmer, was er bedeutete, aber er machte jedenfalls Eponas Leiden ein Ende. Der Hengst stand wieder ruhig, schwarz, groß und zahm auf der Wiese,
63
wie Shane es befohlen hatte. „Was war denn das ?", wollte Cam wissen. Sie war erschüttert, aber auch ziemlich beeindruckt. „Was hast du gemeint mit der .hellen Form, in der er einst kam'? Woher kam er denn?" Wieder starrte Shane forschend in Cams Augen. Erst als er erkannte, dass sie die Antwort wirklich nicht wusste, erklärte er: „Nach einer Legende kam er aus dem Meer. Ich meine, alle Pferde auf der Insel sollen angeblich aus dem Meer gekommen sein. Ich kann mich nicht an alle Einzelheiten der Geschichte erinnern. Wahrscheinlich sind sie von einem gestrandeten Schiff aus an Land geschwommen." Cam blickte zu dem gewaltigen Tier hinauf. Der Hengst schnaubte und scharrte mit den Hufen auf dem Grasboden. „Diese Beschwörung hab ich noch nie gehört", sagte sie nachdenklich, wobei sie Epona nicht aus den Augen ließ und nach einer Spur der leuchtenden Farben suchte, in denen sein Fell vor ein paar Sekunden noch geschimmert hatte. „Eigentlich ein ziemlich einfacher Spruch", sagte er und wechselte dann schnell das Thema. „Cam, ich hab mein Leben so durcheinander gebracht, ich habe meine Zauberkraft missbraucht, die mir gegeben worden war ..." Sie schaute ihn schweigend an. „Natürlich kann nichts von alledem als Ausrede gelten", fuhr Shane fort. „Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich immer nur den anderen folgte, erst Thantos, dann Sersee. Bis ich dich traf. Damals habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich mich ändern muss. Aber ich steckte damals schon zu tief im Schlamassel. Es tut mir so
64
sehr Leid, Cam." Cam spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihr Herz wurde weich beim Gedanken an den kleinen, verlorenen Jungen, der er einmal gewesen war, geschlagen, verraten, von den eigenen Eltern verstoßen. Vielleicht hatte sie das immer schon gespürt. Und vielleicht war das der Grund dafür, dass ihre Gefühle für ihn sich jeder vernünftigen Warnung verweigerten. Shane umschloss ihre Hände und schaute ihr tief in die Augen. Vielleicht sind wir Seelenverwandte. Cams Augen wurden weit. Hatte sie es tatsächlich fertig gebracht? Hatte sie die Gedanken eines anderen Menschen gehört, der nicht mit ihr verwandt war? „Was hast du gerade gedacht...?" Shane errötete und Cam hatte die Antwort auf ihre Frage. Ihre Fähigkeiten wurden tatsächlich immer stärker. Noch ein Gedanke kam ihr: Sie hatte kein einziges Mal an Jason gedacht, seit sie hier auf die Insel gekommen war. Vielleicht sollte das so sein. Vielleicht hatte Jason wirklich erst einmal weggehen müssen, damit sie klar erkennen konnte, dass ihr Weg zu Shane führte. Cam hatte nicht gelogen, als sie Alex erklärt hatte, sie müsse nach Coventry fahren, um herauszufinden, was Shane trieb, seit er seine große Bekehrung vollzogen hatte. Aber ihre Reise auf die Insel hatte noch einen anderen Grund, einen höheren Zweck, wie sie jetzt
65
wusste. Ihre Mission als Hexe war zu heilen, zu helfen, sicherzustellen, dass alles - und gehörten nicht auch die Menschen dazu? - zu höchster Blüte gedeihen möge, wie es im Großen Einheitsdom geschrieben stand. Shane brauchte sie. »Ich brauche dich wirklich, Cam. Du hast gar keine Ahnung wie sehr." Wieder hatte er ihre Gedanken gehört. Er legte die Arme um sie und zog sie erneut in die schützende Wärme seines Umhangs. Als sie die Augen schloss und sich von ihm küssen ließ, berührte sein Kristallhufeisen ihr Sonnenmedaillon. Die Berührung erzeugte einen seltsamen Schlag, wie ein Stromstoß. Einen echten Kick.
Cam kehrte am späten Nachmittag nach Crailmore zurück. Miranda arbeitete im Kräutergarten. Ihre Mutter hatte ihr weites Gewand abgelegt und trug stattdessen einen sehr viel praktischeren Overall und einen breitkrempigen Strohhut, der ihr Gesicht vor der starken Nachmittagssonne schützte. Sie sah ihrer Tochter lächelnd entgegen. Und Cam strahlte in hundertfacher Verstärkung zurück. Mirandas Herzschlag erhöhte sich ein wenig. Ihre Tochter -eine von den zwei unvergleichlichen Kindern, die sie für immer verloren geglaubt hatte - war so schön, so strahlend in ihrer
66
unverhüllten Freude. „Es ist wohl alles ganz gut gegangen?", vermutete sie. „Es war unglaublich." Cam konnte gar nicht aufhören zu strahlen. „Erzähle mir alles", drängte ihre Mutter. „Hier." Sie gab Cam eine Handschaufel und einen kleinen Topf, in dem eine zarte grüne Pflanze wuchs. „Du kannst mir helfen. Ich pflanze neuen Lavendel an." In Marble Bay hatte sich Cam nie im Garten nützlich gemacht. Die Barnes hatten die Gartenarbeit einer Gartenbaufirma überlassen. Aber im Moment fühlte sie sich zu absolut allem fähig. Sie kochte förmlich über vor Energie ... und Liebe. Geistesabwesend nahm sie die Handschaufel und den kleinen Tontopf und erzählte Miranda die wunderbaren Erlebnisse dieses Tages. Die Wörter sprudelten in einem scheinbar endlosen Strom aus ihr heraus. Sie schilderte, wie Shane durch die grausamen Umstände in die Irre geleitet worden war, und vertraute ihrer Mutter an, wie verzweifelt er sich um Besserung bemühte. Er sei völlig missverstanden worden und sei dringend auf Liebe und Zuneigung angewiesen. Miranda lächelte leise und nickte und äußerte kein einziges Wort des Zweifels.
67
Bis Cam den Hengst erwähnte. „Sein Name ist Epona. Shane sagte, dass Pferde ein wichtiger Teil unseres Erbes seien ..." Miranda setzte gerade eine duftende Lavendelpflanze in die Erde. Jetzt blickte sie abrupt auf. „Epona?" Sie wischte sich die Erde von den Händen und drehte sich zu ihrer Tochter um, bemüht ihr Erschrecken zu verbergen. „Ein rotes Pferd?", fragte sie. „Nein, es war völlig schwarz. Aber Shane wollte mich wohl beeindrucken und hat es verzaubert..." „Kam es aus dem Meer?", unterbrach Miranda und ihre Stimme zitterte. „Der Hengst?" Cam zuckte die Schultern. „Irgendwie schon, glaube ich. Shane sagte, alle Pferde auf der Insel ..." Ihre Stimme versagte, als sie bemerkte, wie verstört Miranda war. „Was ist los? Stimmt etwas nicht?", fragte Cam besorgt. „Nichts ..." behauptete Miranda. „Ich habe vielleicht zu viel Sonne abbekommen. Ich habe hier seit Mittag im Garten gearbeitet." „Es hat was mit Epona zu tun, stimmt's ?", riet Cam. „Er war am Anfang ziemlich nervös, aber dann wurde er sehr schnell wieder ruhiger. Danach war alles in Ordnung. Mir hat's nichts ausgemacht."
68
Aber im selben Augenblick, in dem sie versuchte ihre Mutter zu beruhigen, wurde sie plötzlich von einem heftigen Schwindel befallen. In ihrem Kopf begann es schmerzhaft zu pochen. Das Pochen ging rasch in das Geräusch galoppierender Pferdehufe über, die auf sie zurasten. Aber es war nicht Epona, sondern ein rotes Pferd, das Cam angriff. Sein Körper war nass vom Meeresschaum, und als es sich näherte, ging sein Fell in die seltsamen Farben über, die Eponas Fell bei Shanes Beschwörung angenommen hatte. Doch die wilde Mähne blieb blutrot, während seine Beine grau und sein Körper in durchscheinendem Gold schimmerten ... „Das Pferd des Todes galoppiert aus dem Meer", sagte Mi-randa. Cam wusste nicht, wie lange sie in ihrer Vision versunken gewesen war; ihre Mutter stand neben ihr und wirkte sehr besorgt. „In den Sagen und Legenden ist es manchmal rot, manchmal schwarz und manchmal ganz eigenartig gefärbt. Es soll jeden Tag den Wagen des Sonnengotts über den Himmel ziehen." Der Sonnengott Apoll. Der Gott, dessen Namen Cam trug -Apolla. Der Gott, der den Schlüssel zu ihren frühesten Zauberkräften trug. „Und es soll die Toten über das Wasser tragen ..." Cam blinzelte gegen das Licht; ihr Kopf schmerzte noch immer und sie verstand nicht recht, wovon Miranda redete. „Aber vielleicht kannte dein Freund diese Legenden gar nicht. Und natürlich geht es auch nicht immer nur um Tod und Chaos. Es gibt so viele Sagen und Legenden
69
und Mythen über die magischen Kräfte von Pferden", fügte ihre Mutter hastig hinzu. „Gezähmte Hengste sollen Kraft und Männlichkeit verleihen. Manche glauben auch, dass der Abdruck eines Pferdehufs ein Zeichen der Macht ist. Und nach einem anderen Aberglauben bringt ein Hufeisen Glück und über der Tür angenagelt, soll es das Haus beschützen ..." Ein Hufeisen - wie Shanes Kristallamulett. Miranda sammelte ihre Gartenwerkzeuge ein und ging mit Cam ins Haus zurück. Als sie durch die gewaltige Tür gingen, glaubte Cam ihre Mutter sagen zu hören: „Jetzt ist die Zeit gekommen, um es ihnen zu sagen. Ileana wird ihren Urlaub abbrechen müssen." „Wem was zu sagen ?", fragte Cam ohne zu überlegen. Miranda zuckte zusammen. „Ich habe nichts gesagt", behauptete sie.
70
KAPITEL 6 VERST OSS GEGEN DIE EISERNE REGEL
Alex hatte eine „Eiserne Regel" aufgestellt: dass sie sich nie wieder in Cades Gedanken einloggen würde. Sie wollte eine ehrliche, völlig normale Beziehung zu ihm haben. Und das konnte nur heißen: kein Gedankenlesen. Echte Notfälle ausgenommen, natürlich. Und natürlich schuldete sie dem total verwirrten Jungen eine halbwegs vernünftige Erklärung für ihr bizarres Verhalten, irgendeine Ausrede, die er ihr abkaufen würde, sodass er ihr verzeihen konnte. Allerdings hatte sie keinen blassen Schimmer, wie nah ihm die Sache gegangen war. Oder ob er überhaupt noch an einer Beziehung mit einem halb durchgeknallten Freak namens Alex interessiert war. Denn in ihren Augen war es absolut klar, dass er sie für nichts anderes halten konnte. Außerdem war Alex bewusst, dass der schnellste Weg zu seinem Verstand über seine Gefühle führte. Und wenn das kein Notfall war, was würde dann als Notfall gelten können? Nachdem sie der hartnäckigen Michaelina
71
versichert hatte, dass sie ihr eine letzte Chance geben würde, ihre Freundschaft unter Beweis zu stellen, radelte sie zu der riesigen Villa in dem imposanten Viertel, wo Cade in diesem Sommer wohnte. Eine Frau öffnete die Tür. Sie war Anfang dreißig und trug eine mittelgroße Juwelierkollektion echter Perlen, eine Bluse aus Seide und eine farblich dazu passende Hose. Sie war Alex absolut unbekannt. „Alex?", fragte sie und ihre Hand fuhr instinktiv zur Kehle, als befürchte sie an dem Namen zu ersticken. Das kann doch nicht das Mädchen sein, über das Cade ständig nachbrütet? Alex konnte sich unschwer vorstellen, wie sie aussah. Darüber hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. Nach zwei langen Radtouren an diesem schwülheißen Tag bot sie sicherlich nicht den besten Anblick. Ihr Hemd war schweißgetränkt. Sie fuhr mit der Hand durch ihr Haar und fand auch diesbezüglich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Die roten Strähnen waren total zerzaust. Und was diesen blöden Lidschatten betraf, den sie eigentlich nie auftrug - heute war eine Ausnahme und sie hatte dafür Cams reichhaltige Make-up-Sammlung geplündert -, so hatte sie nicht die geringsten Zweifel, dass er total verschmiert war und dass ihre Augen wahrscheinlich aussahen wie die eines Waschbären nach dem Winterschlaf. Alex versuchte das Schlimmste mit dem Handrücken zu beseitigen; aus reiner Gedankenlosigkeit wischte sie die Hand danach an ihrem durchgeschwitzten T-Shirt ab. Die Frau an der Tür erschauerte, als habe sie einen von Maden zerfressenen Schimmelkäse vor sich. Doch eine Sekunde später hatte
72
sie sich wieder im Griff und ihr geschockter Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig in ein freundliches Lächeln. „Wie unhöflich von mir, entschuldige. Ich bin Moira McDonald", verkündete sie. „Cade ist hinten im Garten auf der Terrasse. Er hat nicht viel gesagt, seit er nach Hause kam, aber irgendwie glaube ich, er hoffte, dass du noch auftauchst. Komm doch herein. Wenn du willst, kannst du dich zuerst frisch machen. Ich kann dir auch ein T-Shirt von mir leihen." „Das wäre echt sup... großartig", sagte Alex höflich und hoffte, dass sie dankbar klang. Aber als sie Cades Gastgeberin ins obere Stockwerk folgte, fragte sie sich, ob das T-Shirt aus Seide sein würde - oder noch schlimmer: rosa Seide? Es erwies sich als ein schwarzes Top aus leichtem Stoff, das sie gedankenverloren anzog, denn durch das Fenster im Gästezimmer hatte sie Cade erspäht. Und Alex brach ohne zu zögern ihre „Eiserne Regel": Wie ein Tresorknacker, der auf das Klicken des Zahlenschlosses lauscht, schloss sie die Augen und strengte sich an Cades Gedanken zu hören. Cade hatte einen CD-Player auf dem Schoß und der Kopfhörer teilte sein glattes schwarzes Haar in zwei Hälften. Und er war mächtig am Grübeln. Über sie! Während sie zuhörte, spürte sie, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Warum hat sie das gemacht?, dachte Cade. Zuerst lässt sie mich an sich ran und dann plötzlich dreht sie durch, nur weil ich versuchte sie zu küssen! Ich schnall das einfach nicht! Wenn sie nicht ...oh Mann, vielleicht war sie ja wirklich schlecht drauf oder irgendwie daneben oder echt krank - oder vielleicht ist sie manisch depressiv? Eine Minute supergut
73
gelaunt, die nächste total im Keller, vielleicht hat sie Angst davor oder ist misstrauisch ? Oder vielleicht wollte sie nur Hilfe, statt sich von mir anmachen zu lassen ? Ich Idiot, ich hätte hei ihr bleiben sollen! Aber vielleicht wollte sie mich tatsächlich in die Wüste schicken ? Alex brach ihre Spioniererei abrupt ab und raste die Treppe hinunter. Zu Cade. Er hörte sie nicht, als sie näher kam, da er den Kopfhörer über den Ohren hatte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und wippte leicht im Rhythmus der Musik. Sie berührte ihn von hinten an der Schulter. Cade fuhr herum. Erleichterung und Freude spiegelten sich auf seinem Gesicht, gefolgt von einem fragenden Ausdruck. „Wahnsinn? Ist das die Erklärung?" Ihr ziemlich erschüttertes Selbstvertrauen brach in sich zusammen. Sie starrte ihn verwirrt an, bis er auf das T-Shirt deutete, das ihr Moira die Perlenkönigin geliehen hatte. Es trug den Aufdruck: „Wahnsinn ist erblich. Von den Kids auf die Eltern." Alex brachte ein nervöses Lachen zu Stande. „Vielleicht reicht dir eine vorübergehende Leistungsschwäche meiner grauen Zellen als Erklärung?", fragte sie hoffnungsvoll. Cades Lachen klang nicht viel echter. Aber genauso verzweifelt hoffnungsvoll. Er rückte ein Stück beiseite, sodass sie sich neben ihn auf die Gartenbank setzen konnte. „Hör mal, Alex", fing er an, „ich hätte dich wahrscheinlich nicht gleich so anmachen dürfen ..." Verlegen ließ sie zu, dass er ihre Hand ergriff,
74
und hörte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühlen zu, als er ihr Wort für Wort das erklärte, was sie schon in seinen Gedanken gehört hatte. „Tut mir Leid, dass ich nicht dablieb, um herauszufinden, was wirklich los war", sagte er abschließend und schaute sie fragend an - in Erwartung einer Erklärung. Nur zu gern hätte sie ihm die komplette Wahrheit gesagt. Sie konnte praktisch die Wörter auf ihrer Zunge spüren, konnte sie hören, wie sie nacheinander aus ihrem Mund sprudelten. Aber sie sagte nichts. „Du hast Angst bekommen, stimmt's?" drängte er. „Deshalb hast du dich zurückgezogen und dich so seltsam aufgeführt?" „Nein, Cade, ich hatte keine Angst, nicht wirklich. Ich hab ..." Sie brach ab und holte tief Luft. Vielleicht würde sie eines Tages völlig ehrlich zu ihm sein können. Aber nicht heute, nicht jetzt. Und trotzdem wollte sie ihn auch nicht belügen. Sie konnte nur murmeln: „Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir." Und als sie zu ihm aufblickte, beugte er sich zu ihr. „Also", sagte sie sehr leise und heiser, wobei ihr fast die Stimme versagte, „wenn du willst..." „... machen wir dort weiter, wo wir aufgehört haben?", führte er ihren Gedanken zu Ende und gab ihr einen vorsichtigen, sanften Kuss. Die Art von Kuss, an die sie sich erinnerte. „Ich muss dir etwas gestehen", flüsterte
75
Cade. „Warum du zurückgekommen bist?", fragte Alex und berührte ihre Lippen, die sich noch an seine Lippen erinnerten und sich anfühlten, als vibrierten sie. „Du hast meine Gedanken gelesen." „Dieses Mal nicht", murmelte sie unabsichtlich. Er warf ihr einen erstaunten Blick zu, dann lächelte er und begann mit seinem Geständnis. Er hatte monatelang versucht, seinen Vater zu überreden ihn nach Amerika zurückfliegen zu lassen. Aber Mr Richman hatte für seinen Sohn andere Pläne. Er hatte Cade ein Praktikum in einem sehr bedeutenden Unternehmen vermittelt, dessen Hauptquartier sich in London befand. Cade hatte ihm schließlich einen Kompromiss abgerungen, um nach Marble Bay zurückkehren zu dürfen: Er würde einen Sommerjob in einer Anwaltskanzlei in Boston annehmen. Und der sollte am nächsten Morgen beginnen. Von neun Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags würde Cade in der Kanzlei arbeiten, in der Moiras Ehemann, ein alter Freund von Cades Vater, Vizepräsident war. „Mein Vater hat schon mein ganzes Leben bis zum Letzten verplant", sagte Cade. „Aber das ist nicht genau das, was du willst?", vermutete Alex. „Ich weiß noch nicht, was ich will. Vielleicht gehe ich wirklich auf dem Weg weiter, den er für mich geplant hat. Aber im Moment möchte ich manche Sachen auch selbst herausfinden." Er sagte es nicht laut, aber er dachte es: Mehr über dich herausfinden, Alex. Warum ich dich unbedingt wiedersehen wollte ... warum ich mich danach sehnte ... und ob du ... ob du dasselbe fühlst... genau wie ich ...
76
Stunden später ließ sich Alex von Cade nach Hause fahren, müde, aber glücklich und aufgeregt. Sie hatte mit Cade und den McDonalds zu Abend gegessen und dann mit ihnen Monopoly gespielt und nebenher Moira geholfen köstliche Eisbecher zu machen. Alex hatte einen überraschend angenehmen Abend verbracht. Kurz vor Mitternacht hielten Alex und Cade vor dem Haus der Familie Barnes. Cade half ihr das Rad vom Fahrradträger herunterzunehmen, der am Heck des Geländewagens der McDonalds angebracht war. „Ich muss von morgen früh bis fünf Uhr abends arbeiten", erinnerte er sie, „wir sehen uns also erst wieder ..." „... eine Minute nach fünf." Alex küsste ihn und strahlte ihn an. Sie schwebte ins Haus wie auf Wolken. Und stürzte hart auf die Erde zurück, als im selben Moment das Telefon zu läuten begann und sich am anderen Ende eine ziemlich schrille Stimme meldete: „Wo wart ihr nur?" „Oh, du bist es, Emily", stotterte Alex. „Echt, ist es wirklich schon ... so spät?" „Wir versuchen schon seit Stunden euch zu erreichen!" Die Panik ging allmählich in Erleichterung über und Emilys Stimme wurde wieder ruhiger. „Wir haben auf
77
den Anrufbeantworter gesprochen und Cam eine SMS geschickt. Habt ihr die Nachrichten nicht erhalten? Wir wollten gerade die Pol..." Ihre Stimme brach ab. „Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht." Dave hatte Emily offenbar den Hörer aus der Hand genommen. „Wir dachten schon, dass etwas passiert sei." „Nein, nein, mir geht's ... hm, uns beiden geht's gut", versicherte ihm Alex hastig. „Cam ist... sie duscht gerade ..." Eine Pause trat ein. Dave wusste, dass die Zwillinge durch ihr geheimnisvolles Erbe verpflichtet waren zu helfen und zu heilen; er lieferte Alex eine ganz passable Ausrede. „Hat man euch wieder mal... gebraucht?", fragte er leise. „Äh, ja, genau", stimmte Alex zu. „Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung." Zumindest das war nicht gelogen, sagte sie sich. Cade hatte sie schließlich gebraucht. Außerdem war es durchaus vorstellbar, dass Cam in diesem Augenblick unter der Dusche stand. Auf der Insel Coventry. „Gut", sagte Dave. „Richte bitte Cam aus, dass wir angerufen haben. Bei uns ist alles in Ordnung. Telefonisch werden wir wahrscheinlich nicht so gut erreichbar sein; am besten halten wir Kontakt durch EMails. Sag Cam, dass sie uns eine Mail schicken soll, okay?"
78
„Eine E-Mail, na klar!" Mit dieser Idee konnte sich Alex sofort sehr gut anfreunden. Sie versprach, dass Cam ihren Eltern eine E-Mail schicken würde, sobald sie aus der Dusche kam. Und diese E-Mail hätten sie bestimmt auch bekommen, von Alex für ihren längst abwesenden Zwilling geschrieben, signiert und abgeschickt, wenn sie es bis zum Computer geschafft hätte. Wenn nicht Cade angerufen hätte. Und wenn sie nach dem langen, langen Gespräch nicht mit dem Hörer in der Hand eingeschlafen wäre.
Michaelina riss schwungvoll ihre Wohnungstür auf, bevor Alex anklopfen konnte. „Also, gebe ich eine passable Festlän-derin ab ?", fragte sie und drehte sich auf den Zehenspitzen vor Alex' kritischem Auge. Alex musste erst einmal schlucken. „Sorry, Kumpel. Damit lassen sie dich nicht mal über die Straße", erklärte sie ihr. Michaelina musste, was ihre Kleidung betraf, total die Orientierung verloren haben. Alex selbst war das ganze Getue um Mode ja ziemlich egal, aber wenigstens konnte sie eine vollkommen gelungene Klamottenkatastrophe erkennen, wenn sie sie direkt vor sich sah. Und das war hier zweifellos der Fall - die Katastrophe vollführte gerade vor ihrer Nase unter der Tür einer schäbigen Mietwohnung eine Pirouette. Michaelina hatte wirklich keine Stelle ihres Gesichts
79
ausgespart - bei ihrem Versuch durch unzählige Piercings so „festländisch" wie möglich auszusehen. Eine Ansammlung von kleinen Silberringen reihte sich an den Rändern beider Ohren; in ihrem linken Nasenflügel funkelte ein Stein und ihre Augenbraue zierte ein Stud mit Nieten. Die Tätowierung um ihren Hals stellte ineinander verflochtene Dornenzweige dar. Sie trug ein Top, das so eng war, dass es ihren ohnehin formlosen schmächtigen Oberkörper wie ein Rohr aussehen ließ. Ihre Knöchel ragten bleich und knochig aus einer Hose, die mindestens drei Größen zu weit war. Warum sie ein Hosenbein bis zum Knie hochgewickelt hatte, während das andere bis zum Knöchel reichte, blieb ihr Geheimnis. Eigentlich war es völlig egal, ob Michaelina damit als Hip-Hop-, Gothic- oder Skatergirl durchgehen wollte; der Effekt war jedenfalls so total daneben wie das, was sie mit ihrem Gesicht getan - oder besser ihm angetan - hatte. Zum Make-up dieser Fee von der Hexeninsel Coventry gehörte dick aufgetragener schwarzer Eyeliner und weißes Lipgloss -und alles zusammen wog sicherlich fast mehr als sie selbst. Insgesamt, so stellte Alex fest, sah diese schräge Erscheinung wie eine Kreuzung zwischen einer BarbiePuppe in der Albtraumversion und Frankensteins Monster aus. Michaelina stemmte die Fäuste in die Hüften. „Sag, wie findest du mich, oder bist du die alleinige Trendsetterin der Popmode?"
80
Alex schob die Hände in ihre Jeanstaschen und gab sich große Mühe ihr Gelächter zu unterdrücken. „Um deine erste Frage zu beantworten: Wenn du dich damit als Festländerin einschleichen willst, dann sehe ich da einige Probleme." „Ich hab nicht behauptet mich einschleichen zu wollen. Ich hab gefragt, ob ich als Festländerin durchgehen würde. Und überhaupt hab ich nur deinen Stil nachgeahmt." „Das ist keine Nachahmung, sondern eine Karikatur. Übrigens habe ich gar keinen Stil", schoss Alex zurück. „Bist du morgens immer so schlecht drauf?", fragte Michaelina beleidigt und wandte sich schmollend ab. „Ich kenne da ein paar super Zaubersprüche gegen fiese Laune, musst du wissen." „Gibt es auch welche gegen schräge Typen wie dich ?", parierte Alex. Michaelinas schmale Schultern sackten nach unten und sie drehte sich wieder zu Alex um. „Ich dachte, du würdest dich freuen", murmelte sie. „Ich hab ja nur versucht, so wie du zu sein, nämlich anders als alle anderen." „Okay, ich hab's geschnallt", gab Alex nach. „Für den Anfang ist dein Auftritt ja recht... brauchbar." Die Hexe begann zu strahlen. „Komm rein. Schau dir mal meine neue Bude an."
81
Alex folgte ihr in die Wohnung, die seltsamerweise die Form eines Indianerwigwams hatte. Graugelbes Tageslicht drang durch das einzige Fenster, das hoch in der schrägen Decke angebracht war und sich verzweifelt nach einer Reinigung sehnte. „Ich fühle mich schon richtig zu Hause", erklärte Michaelina stolz. „Zu Hause", echote Alex. „Wenn wir schon beim Thema sind: Was hast du eigentlich hier zu suchen? Auf dem Festland, meine ich? In dieser ..." „Bruchbude?", versuchte Michaelina Alex' Satz zu vollenden. „So könnte man es nennen", antwortete Alex. „Ich hätte nie geglaubt, dass unter allen Hexen ausgerechnet dir meine Wohnung nicht gefallen würde", sagte Michaelina angriffslustig. „Du hast dich wirklich verändert. Ziemlich stark. Fährst wohl nur noch auf den neuesten Trend ab ? Wann bist du zur anderen Seite übergelaufen ?" Während der Busfahrt hierher, dachte Alex und es war ihr völlig egal, ob die winzige Hexe ihre Gedanken hören konnte. Die Gegend, die Michaelina als Wohnort ausgesucht hatte, hatte Alex zutiefst erschüttert. Wer wusste schon, dass es dieses Viertel direkt neben dem makellosen Marble Bay, Massachusetts, überhaupt gab? Erschüttert war sie auch über ihre eigene Empfindlichkeit, als der Bus an einem ruinenartigen Wohnblock nach dem anderen vorbeigerollt war verkommene, zerfallene Häuser, zugenagelte Geschäfte, herumstehende Schrottautos, graffitibesprühte Mauern
82
und Zäune ... „Ach - die rostige Konservendose von einem Wohnwagen, in der du aufgewachsen bist, ist also im Vergleich dazu die reinste Luxusvilla?" Alex wich zurück. Hatte sie Michaelina jemals von dem Leben erzählt, das sie geführt hatte, bevor sie nach Marble Bay gekommen war? Die gerissene kleine Hexe hatte offenbar die Fakten genau gecheckt. Fragte sich nur: Warum und wozu? „Wir haben doch alle ein Art Vorleben, oder?" Michaelina lächelte matt. „Bei meiner Lebensgeschichte würden sogar dir die Haare zu Berge stehen - auch wenn du keine Spike-Frisur hättest. Waffenstillstand, okay? Möchtest du was trinken?" Alex folgte dem Mädchen in die hinterste Ecke des engen Zimmers - und fühlte sich plötzlich, als hätte ihr jemand einen Fausthieb in die Magengrube verpasst. Die Küchenzeile ein Elektroherd mit zwei Kochplatten, daneben eine halb abgesplitterte Arbeitsplatte aus Holz und ein armseliger Minikühlschrank - war fast identisch mit der Kücheneinrichtung des Wohnwagens, in dem Alex in Montana aufgewachsen war. Zusammen mit Sara. „Das ist die reinste Müllkippe", sagte Alex aggressiv und versuchte den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, „aber wenigstens oberirdisch. Im Gegensatz zu deiner früheren Residenz."
83
„Oh, das ging jetzt aber weit unter die Gürtellinie", beschwerte sich Michaelina und spielte die Beleidigte. Die unterirdischen Höhlen der Insel Coventry hatten den Furien als feuchtkalte Wohnung gedient. „Die Wahrheit, Michaelina!", forderte Alex. „Hör endlich auf mit..." Die kleine Hexe überhörte sie einfach und öffnete die Kühlschranktür. Dann trat sie einen Schritt zurück, sodass Alex hineinblicken konnte. „Oh, äh, leider leer ..." Aber der Kühlschrank war nicht leer. Auf den Regalen standen ein Glas mit Erdnussbutter und daneben lagen eine verschrumpelte Tomate und ein verwelkter Kopfsalat. Genau der Inhalt des Kühlschranks an dem Tag, als Alex ihr Zuhause in Montana verlassen hatte, als sie Cam zum ersten Mal gesehen hatte ... Konnte das alles wirklich nur ein Zufall sein? Ein Zufall oder war es ... »•.. eine abgekartete Sache?" Michaelina kicherte fröhlich. »Mach dir nichts vor, Alex. Glaubst du wirklich, dass ich dieses Zeug hierher geschleppt habe?" Die Hexe knallte die Kühlschranktür zu. „Was meinst du, sollen wir uns an der nächsten Ecke einen Cafe Latte besorgen?" Das musste sie Alex nicht zweimal vorschlagen. „Jetzt hör endlich auf mit den Lügen!", befahl sie, als sie die baufällige Treppe hinuntergestiegen und in das helle Tageslicht hinausgetreten waren. „Warum bist du hier? Was willst du?" „Hat doch keinen Zweck dir das zu
84
erzählen. Du glaubst mir ja doch nicht. Du vertraust mir immer noch nicht", antwortete die zierliche Hexe. Sie war so klein, dass sie fast rennen musste, um mit Alex Schritt zu halten. „Ich bin hier, weil ich dich für total cool halte. Wollte sehen, wo und wie du lebst. Und weil mich nichts mehr auf Coventry hält. Nachdem ihr beide, du und deine Schwester, verschwunden wart, hat sich die Bande praktisch aufgelöst. Epie haben sie in den Jugendknast gesteckt. Shane ist auf die Seite der Braven und Guten übergelaufen. Und Sersee leckt ihre Wunden ..." „Und du?", drängte Alex. „Ich?" Michaelina zuckte die Schultern. „Oh, ich versuche eben mich zu bessern. Niemand kümmerte sich um mich. Ich wurde nicht mehr gebraucht. Weder von Sersee noch von Shane noch von meiner eigenen Familie - was immer davon übrig ist..." „Was meinst du damit?" „Ich bin Vollwaise. Oder könnte es jedenfalls sein. Meine Mutter haute ab, als ich und meine Geschwister noch Babys waren. Mein Alter warf mich aus dem Haus, als ich zehn war. Behauptete, dass ich ihn an Delta erinnerte. So hieß meine Mutter. Er sagte, ich bringe nichts als einen Haufen Probleme und das würde sich auch nie ändern." Michaelina wandte schnell den Kopf, aber nicht schnell genug - Alex hatte gesehen, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Also bist du hier, weil ..." begann Alex, als ihr ein neuer Gedanke kam. „Oder glaubst du, deine Mutter lebt hier irgendwo auf dem Festland? Ist das der Grund, warum du hier bist?"
85
Michaelina blickte sie aufrichtig verblüfft an. „Oh nein. Warum sollte ich zu ihr wollen? Ich genieße meine Freiheit. Ich suche nicht nach meiner Mutter. Okay. Jetzt bin ich dran", sagte sie. Offenbar hatte sie plötzlich ihren emotionalen Tiefpunkt überwunden. „Ich muss dich was fragen." „Schieß los." Alex ließ ihre grauen Augen unruhig über die heruntergekommenen Häuser gleiten. Sie verspürte ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend. Dieses Wohnviertel war ihr nicht geheuer. „Wann bist du übergelaufen?" Die Frage verblüffte Alex. „Wann hast du dich dazu entschlossen?" fragte die kleine Hexe weiter. „Du bist in einem verwahrlosten Viertel aufgewachsen, aber dieses Viertel hier ist genauso wie deine Heimat und trotzdem hasst du es. Ihr alle fürchtet euch davor. Du lachst mich aus, weil ich diese Klamotten trage, und genauso wurdest du früher ausgelacht. Du tust so, als wärst du total unabhängig, aber mir traust du nicht zu allein hier zu wohnen und nur das zu machen, was mir gefällt." Alex wusste in diesem Moment nicht, was sie darauf antworten sollte. „Ich frag mich nur, wo du das Geld hernimmst. Wer finanziert das hier?" • »Hab mir Geld geliehen", sagte Michaelina vorsichtig. „Und beim Vermieter hab ich ein wenig Magie angewendet - er glaubt, dass ich genug Geld habe. Und außerdem hab ich vor brav und ordentlich nach einem Job zu suchen. Oder hast du etwa auch dagegen etwas einzuwenden? Ich meine, die Barnes' lassen dich ja
86
umsonst an ihrem Tisch essen." Alex wurde wütend. Sie hatte sich immer geweigert mehr als nur das Nötigste von Cams Eltern anzunehmen - auch wenn sie jetzt ihre legalen Vormunde waren. Sie trug keine Designerklamotten, besaß keinen eigenen Computer und keine neuen CDs. Ihr kostbarstes Eigentum war eine Gitarre Dy-lans alte Gitarre. Selbst ihr Fahrrad war alt - es hatte früher Cam gehört. Offenbar hatte Michaelina ihre Gedanken nicht gelesen. Oder war an ihrer Selbstanalyse nicht interessiert. „Also, wann ist es passiert? Wann hast du aufgehört, du selbst zu sein, und bist innerlich wie deine Schwester geworden ?" Alex' Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch ein metallisches Geräusch abgelenkt. Drei kleine Jungen kamen auf sie zu. Sie kickten eine Coladose vor sich her. Schon von weitem hörte sie ihr aufgeregtes Stimmengewirr, das ihr seltsam bekannt vorkam, obwohl sie sicher war, die Jungen noch nie gesehen zu haben. Michaelina hatte das Trio noch nicht bemerkt. „Du weißt genau, dass ich Recht habe", beharrte sie. „Du warst immer völlig frei ..." Die Stimmen. Sie gehörten den Jungen, die am 4. Juli mit der Feuerwerksrakete gespielt hatten. Cam hatte die Jungen gerettet und Alex hatte ihr dabei geholfen. „Wann hast du dich so weit einwickeln lassen, dass du nur noch nach den Regeln lebst, die andere aufstellen?",
87
stichelte Michaelina weiter. „Wann hast du aufgehört, du selbst zu sein?" Alex hörte die Frage. Sie wandte sich von den Jungen ab und versuchte sich zu konzentrieren. Michaelina sollte nicht merken, dass sie eine wunde Stelle getroffen hatte. Sosehr sie auch immer betonte, dass sie niemandem etwas verdanken wollte, hatte sie sich doch in dem einen Jahr daran gewöhnt gut zu leben - unter dem Dach und nach den Regeln von Emily und David Barnes. Was machte das schon für einen Unterschied, dass sie nicht die Art von Klamotten trug, die Cam und ihre Clique bevorzugten? Aber war das alles, was von ihrem Eigensinn und ihrer Unabhängigkeit übrig geblieben war? Hatte sie wirklich angefangen, ihre Herkunft zu verleugnen, wie Michaelina behauptete? Die Persönlichkeit zu verleugnen, zu der Sara sie hatte erziehen wollen? Wenn Sara Fielding sie jetzt sehen könnte, was würde sie von Alex halten? „Da ist die Hexe!" Drei zitternde kleine Jungen starrten sie aus weit aufgerissenen Augen an. „Das ist die Hexe vom Strand! Kommt, wir hauen ab!", riefen sie einander zu, als sie Hals über Kopf die Straße entlang flohen. „Was war denn das?", wollte Michaelina wissen. Alex zuckte betont gleichgültig die Schultern. „Woher soll ich das wissen?" antwortete sie schnell und mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht die Wahrheit hinausschreien zu müssen, die ihr in diesem Moment
88
völlig klar geworden war: Selbst die Jungen verwechseln mich mit meiner Schwester.
89
KAPITEL 7 DER GEHEIMGANG
Cam fühlte sich von der verborgenen Tür hinter der Kommode in Thantos' Jugendzimmer magisch angezogen. Obwohl sie nach dem wunderbaren Tag mit Shane innerlich stark aufgewühlt war, trieb sie etwas zu dieser Tür. Sie musste herausfinden, wohin der seltsame Durchgang führte - erst dann konnte sie entscheiden, ob die Sache es wert war sie gegenüber Miranda zu erwähnen. Sie hatte behauptet, erschöpft zu sein, und sich frühzeitig in ihr Zimmer zurückgezogen. Es war gegen Mitternacht, als sie sich schließlich sicher war, dass ihre Mutter fest schlief. Sie schlich sich in Thantos' Zimmer und schob behutsam und leise die Kommode beiseite. Die kleine Tür war nicht verschlossen und ließ sich leicht öffnen. Dahinter wurde ein düsterer Tunnel sichtbar. Sie folgte ihm und gelangte zu einer steinernen Treppe. Cam war fast sicher, dass sie zu den geheimnisvollen Höhlen der Insel Co-ventry hinunterführte. Diese Höhlen kannte Cam nur zu gut; sie war schon einmal dort gewesen,
90
hatte sich von Sersee hineinlocken lassen. Zwar hielt sich ihre Angst in Grenzen, als sie jetzt die spiralförmig gewundene Steintreppe hinabschlich, doch trotzdem bekam sie eine Gänsehaut. Cam wäre jede Wette eingegangen, dass Thantos früher diese Geheimkammern dazu genutzt hatte seinen halbirren Bruder Fredo zu quälen. Unten angekommen fand sich Cam in einer runden Höhle wieder, über der sich eine hohe Decke wölbte. Von hier gingen fünf düstere Gänge in verschiedene Richtungen ab, wie Strahlen einer schwarzen Sonne. Doch während sie noch in dem dunklen Gewölbe stand, wurde sie plötzlich von einem eigenartigen Gefühl gepackt. Es war weder eine Vision noch eine Vorahnung. Ihr wurde nicht schwindlig und sie hörte auch nicht das laute Brummen, das normalerweise ihre Visionen ankündigte. Es gab einfach keine rationale Erklärung für das, was ihr jetzt bewusst wurde. Ein Buch. Sie wusste plötzlich, dass es irgendwo ein wichtiges Buch gab. Sie hatte es nie gelesen, aber seltsamerweise kannte sie einen Teil des Inhalts. Das Buch schilderte, was unter dem Boden von Coventry lag, was - oder wem - sie begegnen würde, wenn sie weiter, tiefer in diesen Teil der berüchtigten Höhlen vordrang. Welche Wesen hier lebten, Wesen, die weit gefährlicher waren als die Furien. Hier hausten die Geister der Toten und der verirrten
91
Seelen, die sich blind und ohne Verstand auf jeden stürzten, der es wagte hier einzudringen. Diese entsetzlichen, unglückseligen Phantome konnten hinter jeder Biegung und in jedem Winkel der dunklen Gänge lauern. Dieses Wissen kam über sie, doch es war von keinerlei Furcht begleitet. Im Gegenteil: Cam spürte ein Gefühl der Ruhe, des Friedens, der Gelassenheit. Hier unten wurde sie beschützt. Sie wusste nicht genau warum, wie oder wovor, aber wer oder was auch immer sie dieses Mal hier in die Höhlen gelockt haben mochte, verfügte über eine mächtige Magie - eine Magie, die niemals zulassen würde, dass ihr etwas geschah. Sie stand völlig unbeweglich in der Mitte des runden Höhlengewölbes und wartete darauf, dass ihre Sinne sie weiterführen würden. Ihr Gehör war nicht so scharf wie das ihrer Schwester, aber dennoch war es dieser Sinn, der ihr ein Signal übermittelte. Sie hörte ein leises, kratzendes, schabendes Geräusch, das aus einem der Gänge zu kommen schien. Sie lauschte mit äußerster Konzentration. Ein gleichmäßiges, monotones Kratzen, wie Fingernägel, die über eine Schultafel gezogen wurden. Es jagte ihr erneut eine Gänsehaut über die Arme. Dennoch wagte sie sich weiter vor. Ihr Blick leitete sie wie die Strahlen eines Leuchtfeuers oder das Licht einer Taschenlampe in der Dunkelheit. Deshalb sah sie ihni lange bevor er sie sehen oder ihre Anwesenheit spüren konnte.
92
Ein schmächtiger Mann hockte mit dem Rücken zu Cam vor einem aus der Wand herausragenden Felsvorsprung, der eine Art Tisch bildete. Er trug einen ausgefransten Umhang, der einmal eine burgunderrote Farbe gehabt haben mochte, aber jetzt so schäbig und fettig war wie sein schütteres dunkles Haar, das am Hinterkopf zu einem mickrigen Zopf zusammengebunden war. Das war keine Erscheinung, kein Geist der Finsternis. Aber wer dann ? Wer sonst würde um diese Zeit in den eisigen Höhlen von Crailmore hocken? Und was tat er da? Sie wollte ihn nicht erschrecken, deshalb näherte sie sich vorsichtig und leise. Und während sie näher kam, wurde ihr auf einmal klar, was er tat und was sie gehört hatte. Die elende Kreatur malte mühsam mit einem Gänsekiel Buchstaben und Wörter auf ein steifes Pergament. So verwahrlost und hinfällig er auch wirken mochte, seine Hand zitterte nicht beim Schreiben. Zu seiner Rechten lag ein Stapel bereits beschriebener Pergamentblätter. Schrieb er ein Buch? War es das Buch, das sie in ihrer Vision gesehen hatte, das Buch, an das sie vor wenigen Augenblicken hatte denken müssen? Jetzt war sie nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt. Sicherlich würde er gleich ihre Gegenwart spüren. Sie
93
machte sich darauf gefasst, dass er hochschrecken würde, eine verirrte Seele, ein wirrer Geist, in dessen Höhle sie unbefugt eingedrungen war. Doch als er dann zu ihr herumfuhr, blickte sie nicht in das Gesicht eines unglückseligen, alten Einsiedlers, sondern in das glatte, faltenlose Gesicht eines jungen Hexers, der kaum älter sein mochte als Shane. Doch sein Gesicht war so kalt und abweisend, als sei es aus demselben Felsgestein gehauen, das er als Tisch benutzte. Cam fiel auf, dass sein Haar oben sehr kurz geschnitten war. Sie verspürte einen geradezu irren Drang dem Jungen zu erklären, dass diese Frisur längst mega-out war, doch sie sagte nichts - denn zum ersten Mal, seit sie Thantos' Zimmer verlassen hatte, verspürte sie plötzlich Furcht. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. „Wer ... was machst du hier?" Der Hexer gab keine Antwort. Er starrte Cam nur an, nagelte sie mit seinen tiefschwarzen Augen fest. Sie schluckte und versuchte ihre Angst nicht zu zeigen. Aber in diesem Augenblick wurde ihr Sonnenamulett immer wärmer, so heiß, dass es ihre Haut zu versengen schien. Als sie die Hitze nicht mehr aushielt und das Amulett von ihrer Haut lösen wollte, zuckte ein Schlag durch ihre Hand und ihren ganzen Körper. Jetzt wusste sie, dass sie fliehen musste, und zwar schnell. Dieselbe Kraft, die sie in die Höhlen gelockt hatte, trieb sie jetzt wieder hinaus. Sie gehorchte dem Zwang sofort, keinen Augenblick zu früh, denn schon
94
streckte der Hexer die Hand nach ihr aus und versuchte sie zu packen. Im offenen Kragen seines schmutzigen Hemds blitzte etwas kurz auf. Als Cam davonjagte, wurde ihr klar, was sie gesehen hatte: ein hufeisenförmiges Kristallamulett, das an einer Goldkette um seinen Hals hing. Es glich genau dem Amulett, das Shane getragen hatte.
„Ausgeschlossen, Apolla!", versicherte ihr Shane am nächsten Tag. Er war nach Crailmore gekommen, um sie zu besuchen und mit ihr den Nachmittag zu verbringen. „Du glaubst wirklich, Epona stamme irgendwie aus einem bösen Pferdereich ? Ein Todessymbol?" Der Tod, der den Wagen des Sonnengottes zieht, dachte Cam. Damit konnte nur sie gemeint sein, denn ihr Namensvetter war Apollo. Camryn hatte am Morgen in der gewaltigen Bibliothek des Schlosses ein Buch gefunden, in dem Mirandas Erinnerung an die Legende von Epona bestätigt wurde. Aber wie viel davon wusste Shane? Warum tat er so unwissend, oder wollte er nur testen, wie viel sie über die alten Symbole des Bösen wusste? Bis sie die Antwort auf diese Fragen gefunden hatte, beschloss Cam, würde sie sich nicht mehr blind von ihren Gefühlen leiten lassen, sondern alle Sinne in Alarmbereitschaft halten. Sie
95
konnte gleich damit anfangen, denn hier waren ihre Sinne sehr viel schärfer als anderswo. Ihre Fähigkeit, etwas selbst aus großer Entfernung zu hören, hatte sich deutlich verbessert, auch wenn sie noch nicht an Alex herankam. Auf Coventry war sie sehr viel besser auf ihr magisches Erbe eingestimmt. Vielleicht gehörte sie einfach hierher, überlegte sie. Diese Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, als sie neben Shane den mit Kopfstein gepflasterten Weg entlangging, der von Crailmore wegführte. Trotz der Begegnung mit der unheimlichen Gestalt in der Höhle fühlte sich Cam wieder stark, sicher und voller Energie. Deshalb war sie auch nicht auf den plötzlichen Schwindel gefasst, von dem sie überwältigt wurde. Sie versuchte sich auf Shane zu stützen, während alles um sie herum sich zu einer Art Nebel verwischte. Aber Shane war einen Schritt voraus und sie erreichte ihn nicht mehr rechtzeitig. Die Vorahnung packte sie mit solcher Gewalt, dass ihre Knie nachgaben. Sie taumelte und stürzte zu Boden. Sie versank! Tiefer und tiefer! Sie schrie: Hilfe! Hilfe! Aber niemand konnte sie hören, denn sie hatte keine Stimme. Ich kann nicht mehr atmen ... Ich kann nicht... Sie schlug um sich, strampelte verzweifelt mit den Beinen, versuchte sich aus dem Sog zu befreien ... Jemand musste ihr doch helfen! Sie wurde unaufhaltsam tiefer unter die Oberfläche gezogen. Etwas schloss sich um sie, schloss sich über ihr. War es Wasser? Es fühlte sich kalt und nass an, aber auch rau - und es drang ihr in den Mund, erstickte
96
sie mit etwas Körnigem ... Sand? Verzweifelt versuchte sie es auszuspucken. Du musst dir selbst helfen, benutz deine Hände ... Zieh dich hoch!, konnte sie nur noch denken. Aber es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Sie fand keinen Halt unter den Füßen. Unaufhaltsam sank sie tiefer. Wurde hinuntergezogen. In ihr Grab. Nein! Nein! Ich will nicht sterben ... Hilfe! Bitte, bitte helft mir doch! Alex! Doch dann konnte sie nicht mehr kämpfen, konnte sich nicht mehr wehren. Sie war bereit aufzugeben. Hände packten sie, riesige Hände umklammerten ihren Körper und rissen sie heraus. „Alles in Ordnung! Alles in Ordnung!" Shanes entsetzte Stimme drang allmählich zu ihr durch - wie von weit, weit her. „Streng dich an, Cam, komm zu dir, öffne die Augen ..." Sie lag auf dem Boden, auf dem moosbewachsenen Kopfsteinpflaster. Keuchend und nach Luft ringend. Ihr Kopf dröhnte. Neben ihr kniete Shane und blickte ihr entsetzt ins Gesicht. Cam zitterte und schwitzte heftig und klammerte sich an seinen Arm. „Was war los?", fragte er. „Ist dir schlecht geworden?" „Ich hatte ...", begann Cam, aber irgendetwas hielt sie
97
davon ab den Satz zu Ende zu bringen. Er hatte nicht bemerkt, was mit ihr geschehen war. Vielleicht war es auch besser so – und vielleicht sollte es so bleiben. Sie würde es für sich behalten. Jedenfalls vorerst. „Mir wurde plötzlich schwindlig", sagte sie. „Du zitterst immer noch", stellte er fest. „Bist du sicher, dass es dir jetzt wieder besser geht?" Im Moment schon, aber für wie lange ? In ihrem ganzen Leben hatte sie kein einziges Mal eine Vision erlebt, die dann später nicht eingetroffen war. Aber diese hier ... war die erste gewesen, bei der sie ihren eigenen Tod vorausgesehen hatte. Sie brauchte Alex. Sie brauchte ihre Schwester. Jetzt. Sofort. „Komm", sagte Shane sanft und half ihr auf die Beine. „Wir gehen zum Dorfplatz. Dort trinkst du eine Tasse Kräutertee. Wenn du dich danach nicht besser fühlst, bringe ich dich nach Hause." Beinahe hätte sie dagegen protestiert. Beinahe hätte sie gesagt: Nein, ich will jetzt sofort nach Hause. Wenn sie schon nicht mit Alex zusammen sein konnte, dann doch wenigstens mit Miranda. Vielleicht sollte sie ihrer Mutter von diesen beiden letzten Visionen erzählen, die sie gehabt hatte - und von der Entdeckung, die sie in der vergangenen Nacht gemacht hatte. Aber Shane drängte darauf weiterzugehen. Er lächelte sie an und meinte, nächstes Mal würde er besser aufpassen und sie rechtzeitig auffangen, wenn sie umzukippen drohte. Und obwohl sie sich geschworen hatte dieses Mal vorsichtiger zu sein, glaubte sie ihm.
98
Der Dorfplatz bildete den Mittelpunkt der Gemeinde und normalerweise war er voller Hexen und Hexer jeden Alters. Ringsum reihten sich kleine Läden und Marktstände aneinander und die Cafes hatten Tische und Stühle unter großen, bunten Sonnenschirmen ins Freie gestellt. Die Szene erinnerte Cam an ein verträumtes Künstlerviertel, das weder mit den Filialen irgendwelcher Drogeriemärkte noch mit T-ShirtBoutiquen aufgemotzt worden war. Kleine bunte Wimpel und Blumenkästen an den Fenstern, aus denen sich eine üppige Blütenpracht ergoss, verstärkten den Eindruck eines Märchendorfes. „Erst mal trinkst du ein Glas Tee." Shane führte sie zu einem Cafe, das sich Rive Gauche nannte. „Und vielleicht bestellen wir auch was Süßes dazu. Kann ich dich dazu überreden?" Okay, vielleicht war ja alles nur ein reiner Zufall, aber Cam glaubte nicht so recht daran. Das Cafe Rive Gauche hatte nur wenige Gäste und die saßen als Gruppe an einem Tisch im Freien. Es waren fünf Personen und alle waren ungefähr in Cams Alter. Und eine kam ihr schrecklich bekannt vor. Schrecklich im wahrsten Sinne des Wortes. Schrecklich und sarkastisch. „Wem verdanken wir denn diesen Besuch der noblen Prinzessin DuBaer, der Erbin des Imperiums? Die mächtige Prinzessin, die mit Blicken töten könnte, aber niemandem ein Leides tun will und die selbst ihre ärgsten Feinde verschont?"
99
Sersee. Die bösartige Hexe, die so rücksichtslos, so grausam war und die alles daran setzte Cam und Alex zu vernichten. Ihre Erlauchte Hochmut Sersee warf mit dramatischer Bewegung den Kopf zurück, sodass die Kapuze ihres Umhangs herunterglitt und sich ein Meer von ebenholzschwarzen Locken über ihre Schultern ergoss. Sie fasste Cam ins Auge - mit lanzenartigen, durchdringenden Blicken aus violettblauen Augen. Cam starrte die eitle Hexe kalt an. Was war aus der grauenhaften Erinnerung an das geworden, was erst vor kurzem geschehen war? Vergessen und überwunden? Scharf gab sie zurück: „Und was veranlasst dich zu dieser herzlich verlogenen Begrüßung?" Cam hatte ohne Zweifel ein Recht darauf, eine unstillbare Wut auf die Anführerin der Furien zu empfinden. Aber die Tatsache, dass Sersee zweimal verlassen worden war - zuerst von ihren Eltern, die beim Brand ihres Hauses ums Leben gekommen waren, dann von ihrem Beschützer, der mit ihr nicht fertig geworden war und versagt hatte -, dämpfte ihre Wut. Zwar tat ihr die arrogante Sersee in keinster Weise Leid, aber das brennende Verlangen, ihr den Schädel einzuschlagen, hatte sich verflüchtigt. Als Ersatz würde sie sich Shane vorknöpfen - offenbar hatte er den Mund nicht halten können und allen von Cams Besuch auf der Insel erzählt. „Willkommen." Sersees Gesichtsausdruck zeigte das genaue Gegenteil. „Komm, setz dich zu uns. Das hier ist die Coven-try-Version deines Sechserpacks von durchgeknallten Freundinnen, mit denen du immer im
100
Esssaal deiner Schule zusammenhockst. Wir werden uns die größte Mühe geben, damit du dich hier wie zu Hause fühlst. Allerdings: kein Sushi. Kein StarbucksCappuccino. Nicht einmal eine gescheite Beverly-HillsPizza. Aber bei Kräutertee, heißer Schokolade und Waldmeister-Eiskrem können wir locker mithalten. Und für unsere Kräutermittelchen haben schon so manche ... ihr Leben gegeben." Was für ein schöner Zufall, dachte Cam, dass am Tisch noch genau zwei Stühle frei sind. Shane meinte: „Ich möchte es dir überlassen zu entscheiden, Cam. Würdest du lieber woanders hingehen?" Dreimal darfst du raten, dachte sie. „Oh, aber jetzt noch nicht!", rief Sersee aus. „Wir müssen doch Lady DuBaer ihren zukünftigen Untertanen vorstellen." Shane runzelte wütend die Stirn. „Das reicht jetzt, Sersee." Sie überhörte ihn einfach. „Natürlich müssen wir das - hier ist zuerst einmal Epie." Die Vorstellung war überflüssig. Cam kannte das grinsende Mondgesicht bereits, die rundliche Hexe war Sersees treuester Schoßhund. „Man kann sie eigentlich nicht übersehen", fügte Sersee hinzu. Was sollte das nun wieder heißen? Wollte Miss Scharfe Zunge ihre treueste Gefährtin blamieren? Epie war zwar gut gebaut, aber das gab Sersee noch lange nicht das Recht solche Bemerkungen zu machen. Jetzt versuchte das Mädchen die Situation mit einem verlegenen Lachen zu übergehen,
101
aber ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen. „Gib mir wenigstens Gelegenheit mich für das zu entschuldigen, was letztes Mal passiert ist", sagte sie zu Cam. „Du erinnerst dich doch an mich, oder?" Cam verdrehte die Augen. Wie hätte sie Epie je vergessen können? Epie hatte am wenigsten Durchblick von allen drei Furien und brachte Sersee bedingungslose, blinde Treue entgegen. Michaelina dagegen war schlau und berechnend. Und alle drei zusammen waren beachtliche Gegnerinnen gewesen. „Wir wurden für das bestraft, was wir getan haben", fuhr Epie fort, als seien damit alle ihre Untaten aus der Welt geschafft -vergeben und vergessen. Sie sieht super aus, Mann! Einer der jungen Hexer starrte Cam hingerissen an. Er hatte langes braunes Haar und volle Lippen und hieß Rowan. Sein Freund, ein Junge mit einem schmalen, säuerlichen Pferdegesicht, wurde Serie genannt. Damit blieb nur noch eine junge Hexe übrig, ein grauäugiges Mädchen mit geradem, kinnlangem dunklem Haar, das Cam keineswegs nur anschaute, sondern sie äußerst kritisch musterte. Wo hatte Cam dieses Mädchen schon einmal gesehen? Das Mädchen grinste plötzlich. „Ich heiße Amaryllis. Ich arbeite auf Crailmore. Dort sind wir uns schon mal begegnet. Rowan hat Recht. Du siehst wirklich super aus." Cam lächelte, obwohl ihr Misstrauen stetig wuchs, dass das Mädchen und der Rest der Gruppe Sersees neue Sklaven darstellten, die neue, treue Gefolgschaft der Oberfurie. Cam vermutete sogar, dass Amaryllis eine Art doppelte Loyalität haben könnte - gegenüber Cams verräterischem Onkel Thantos, denn schließlich arbeitete sie auf seiner
102
Festung Crailmore für ihn, und gegenüber Sersee. Hatte sie den Auftrag Cam auszuspionieren? „Ich bin keine Sklavin, verstehst du", sagte Amaryllis sofort verärgert und beantwortete damit Cams unausgesprochene Frage. „Lord Thantos zahlt uns gut und gibt uns viel Freizeit." „Boss des Jahres, ich weiß", bemerkte Cam trocken. Shane ließ sich auf einen der beiden leeren Stühle nieder, offenbar ging er davon aus, dass sie bei der Gruppe bleiben würden. Doch bevor sich Cam zögernd setzen konnte, packte Sersee sie unerwartet am Arm. „Ich muss mit ihr mal ein paar private Worte wechseln", informierte sie die Gruppe arrogant. „Sicher hat niemand was dagegen?" »Ich schon." Cam riss ihren Arm aus Sersees Griff, aber die Hexe legte ihr blitzschnell den Arm um die Taille und schob sie vom Tisch weg, wobei sie ihr zuflüsterte: „Bitte. Was ich zu sagen habe, geht die anderen nichts an." Als sie außer Hörweite waren, fuhr sie fort: „Die blicken zu mir auf und so soll es auch bleiben. Und übrigens bedaure ich, dass ich dir damals solche... Unannehmlichkeiten bereitet habe." Unannehmlichkeiten? Das war so ungefähr, als würde einem der Arzt mitteilen, es könne ein wenig unangenehm sein, wenn er ohne Narkose einen vereiterten Fingernagel ausreißt. Und was Sersee ihr angetan hatte, war keineswegs angenehmer gewesen.
103
„Tut mir Leid", wiederholte Sersee noch einmal. „Ich möchte die Sache wieder gutmachen." Cam schüttelte ihre Hand ab. „Dann merk dir eins: Entschuldigung' reicht in deinem Fall nicht. Versuch's in hundert Jahren noch mal." Aber der blauviolette Blick zeigte keine Regung und Sersee fuhr fort, als lese sie den Text vom Teleprompter hinter der Kamera: „Du hast mir Shane ausgespannt. Und ich hab dich angegriffen, weil ich eifersüchtig war und mich rächen wollte." „Angegriffen? Du hast mich in einen Hamster verwandelt!" Cam merkte, dass ihre eigene Stimme fast wieder so quiekte wie damals, und begann schon bei der bloßen Erinnerung daran zu zittern. „Du hast sogar versucht mich umzubringen!" Sersee fuhr unbeirrbar fort, als sei Eifersucht eine vollkommen akzeptable Begründung für einen Mordversuch: „Shane versuchte auch gar nicht die Sache zu verschleiern! Ich fühlte mich von ihm verraten. Ich hatte ihn bei uns aufgenommen, hatte ihm geholfen, als er erledigt war. Und dann kommst du daher und schon gibt er mir einen Fußtritt. Mir! Stell dir nur vor! Er behandelte mich plötzlich wie irgendein dahergelaufenes Nichts!" Der Vergleich ist so unpassend nicht, dachte Cam. Sie war weit davon entfernt sich überzeugen zu lassen. „Das ist ja furchtbar ungerecht, Sersee!" Ihre Stimme wurde
104
scharf: „Er hat dich genauso behandelt, wie du es verdienst!" Man musste es ihr lassen: Sersee fiel nicht auf die Provokation herein. Sie wechselte nur die Taktik, spielte jetzt die Mitleidkarte aus. „Ich raste vor Wut. Du hast doch schon alles - ein Zuhause, eine Familie, Geld, Bewunderung - und alles nur, weil du zufällig die Person bist, die du bist, und nicht, weil du es dir verdient hättest! Und ich hatte nichts! Keine Eltern, nicht mal einen Beschützer, der mich bei sich behalten wollte. Und dann kommst du einfach in mein Revier und spannst mir den Freund aus!" „Dein Revier? Ich muss wohl irgendwo ein Schild übersehen haben, auf dem draufsteht:,Sersees Eigentum Betreten verboten'. Ich kam nur für Lord Karshs Beerdigung auf die Insel ..." Cam spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, als sie an ihn dachte. „Hatte keine Ahnung, dass Shane dein Freund war. Ich dachte ..." Ihre Stimme versagte und sie zuckte die Schultern. Sersees Anfall von Schuldbewusstsein klang reichlich lahm. „Ich hab wohl ein wenig vorschnell reagiert und mich von meinem Hass mitreißen lassen. Habe meine Magie missbraucht, um zu schaden, nicht um zu heilen. Wenn ich du wäre, würde ich mir nie verzeihen. Aber ...", sie blickte Cam hoffnungsvoll an, „ich bin nicht du. Du bist eine bessere Person, als ich jemals sein werde." Es war unglaublich - die Hexe führte tatsächlich ihre eigene Bösartigkeit als Entschuldigung an! Kein Wunder,
105
dass sie die Anführerin der bösartigen Furien war. Camryn gab ihr die Höchstpunktzahl für Unverfrorenheit. „Aber", Sersee ergriff wieder Cams Arm und führte sie zum Tisch zurück, wo die anderen saßen, „siehst du Rowan dort drüben am Tisch? Er ist mein neuer ..." „Schoßhund?" ergänzte Cam. „... Schatz", fuhr Sersee ungerührt fort. „Du kannst also Shane ganz für dich allein haben." „Danke, dass du mir deine Abfälle übrig lässt." „Abfälle? Das ist er nun ganz bestimmt nicht." Jetzt blitzte doch für einen Moment Wut in ihrem violettblauen Blick auf. „Shane A. Wright ist einer der begehrtesten Junghexer hier auf der Insel, ein echt guter Fang, wie ihr Festländer sagen würdet. Um bei dem zu landen, würde jede Hexe ihren besten Kristall opfern. Er ist absolut brillant, ehrgeizig, sieht super aus und gehört außerdem zu einer der wichtigsten Familien von Coventry." Das war Cam völlig neu. Alles, was sie von Shane erfahren hatte, war, dass ihn seine Eltern aus dem Haus geworfen hatten. „Ich hab eine Idee", fuhr Sersee fort. „Morgen zeig ich dir die Insel. Nur wir zwei Mädels. Ich kann dir zeigen, wo man ..." „Wenn wir schon von zwei Mädchen reden", unterbrach Cam sie, „wo ist eigentlich die dritte Furie deiner alten Clique -Michaelina?"
106
„Die sitzt noch. Für ihren Anteil an dem ... äh, was dir und Alex geschehen ist." „Sie sitzt?" Sersee lachte. „Na ja, nicht direkt, sie leistet noch ihre Strafe ab - Gemeinschaftsdienst." Wie bitte? Cams Kopf schaltete auf Alarmstufe Rot. Winzighexe Michaelina verbüßte noch ihre Strafe, während die gerissene Anstifterin Sersee und ihre treue Sklavin Epie bereits wieder entlassen waren ? Da stimmte was nicht. „Also ist jetzt alles wieder klar zwischen uns und du hast die Sache vergeben und vergessen", fuhr Sersee fort, als werde es schon dadurch wahr, dass sie es sagte. „Bleib noch eine Weile bei uns. Wir wollten bald aufbrechen, um die Sommersonnenwende ein wenig zu feiern. Okay, wir sind ein wenig spät dran, die echte Feier war letzten Monat, aber es macht Spaß. Vielleicht gefällt es dir. Allerdings bist du natürlich noch keine Vollhexe mit allen Weihen ... Wenn du also Angst hast..." Sie ließ den Satz auf provozierende Art unvollendet. Es wäre weit besser sich Shane zu greifen und mit ihm abzuhauen, dachte Cam. Aber obwohl ihr natürlich klar war, dass Sersee mit ihr spielte - sie hätte ganz gern auch mal eine echte Hexenfeier erlebt. Noch etwas sprach dafür sich der Gruppe anzuschließen: die Chance, den „besten Fang der Insel Coventry" mal in seinem natürlichen Biotop zu erleben. Solange das kein Sumpf war, in dem man ertrinken konnte ...
107
„Stimmt das ?", fragte Shane, als er ihr eine dampfende Tasse Tee brachte. „Du kommst mit zur Sonnwendfeier?" „Könnte ganz interessant werden", gab Cam zu. „Oh, total interessant", quiekte Epie und warf Sersee schnell einen Blick zu, um zu erkunden, ob sie das Richtige gesagt hatte. Oh ja, sie hatte das Richtige gesagt. Es sollte interessant werden - so interessant, wie es sich Cam niemals hätte vorstellen können.
108
KAPITEL 8 POMMES MIT HEXEREI
Das hatte Alex schon fast vergessen. Damals, zu Hause in Montana, hatte sie immer gearbeitet -nach der Schule, an den Wochenenden, in den Sommerferien. Ihre Freunde ebenfalls. Ihre Adoptivmutter Sara hatte sogar drei Jobs gleichzeitig gehabt, um sich und Alex über die Runden zu bringen. Egal, wie unangenehm die jeweilige Arbeit auch war, für Alex war sie wichtig: Sie wollte Sara unbedingt helfen und zum Haushaltseinkommen beitragen. Wenn sie ihre Sachen mit selbst verdientem Geld bezahlen konnte eine neue CD oder eine Kinokarte oder ein Schnäppchen in einem Secondhand-laden -, fühlte sie sich einfach wohler. Und das war ein Gefühl, an das sie sich kaum noch erinnerte. „Nur weil du jetzt mit den Barnes-Leuten im Villenviertel wohnst", bohrte Michaelina, „brauchst du doch noch lange nicht eine von ihnen zu werden!" Okay, die kleine böse Hexe hatte damit einen Volltreffer gelandet. Einen, den Alex nicht so schnell vergessen
109
würde. Unabhängigkeit? Klar, das war es, was Alex brauchte. Und sie wusste genau, wo sie damit anfangen konnte. Jason hatte vor seinem Weggang zum College in einer Pizzeria namens Pie in the Sky gearbeitet, die alle nur zu PITS abkürzten - der coolsten Pizzeria von Marble Bay. Cams Sechserpack und alle anderen Jugendlichen hielten die PITSas für absolut genial. Ob das PITS wohl schon Ersatz für Jason gefunden hatte? Alex brachte die widerwillige Michaelina dazu, sich halbwegs vorzeigbare Klamotten anzuziehen, dann nahmen sie den Bus in die Stadt. Sie standen gerade vor der Pizzeria und spähten durch die Fenster, als plötzlich eine Frau durch die Tür herausstürzte. Sie sah wütend aus und schien es sehr eilig zu haben. Alex kannte sie die immer mürrische Bedienung Irene Palmer. „Hi..." begann Alex, wurde aber sofort von einem ohrenbetäubenden Gebrüll übertönt. Mr Tagliere, der Geschäftsführer der Pizzeria, kam hinter Irene hergelaufen und schrie ihr nach: „Das können Sie nicht machen! Sie können nicht einfach abhauen! Sie müssen die Kündigungsfrist einhalten! Das ist gesetzlich vorgeschrieben!" Irene drehte nicht einmal den Kopf, sondern schrie nur verächtlich: „Stopf dir dein Gesetz sonst wohin!" Sie winkte kurz mit blutrot lackierten Fingern und schoss so
110
dicht an den beiden Mädchen vorbei, dass Alex sich ducken musste, um nicht von ihrer riesigen Handtasche erschlagen zu werden. Damit hatte die Pizzeria zwei Kellner verloren - Jason und Irene. Alex und Michaelina wurden sofort eingestellt, ohne dass irgendwelche Fragen gestellt wurden - außer: „Könnt ihr heute schon anfangen?" „Seh ich nicht total cool aus ?", fragte Alex zufrieden und strich die rot-weiß gestreifte PITS-Schürze glatt. „Ich wusste zwar, dass eine Stelle frei geworden war, aber gleich zwei? Und dass die Palmer genau in dem Moment den Job hinschmiss, als wir ankamen! Nicht zu fassen, wie viel Glück wir ..." Ihre Stimme versagte, als ihr etwas dämmerte. Langsam drehte sie sich zu Michaelina um. „Das warst nicht du. Sag mir, dass das nicht du warst." Michaelina kritzelte gerade ihren Namen auf ihr Namensschild. Sie zuckte voller Unschuld die Schultern. „Na ja, was hätte ich denn den ganzen Tag lang ohne dich machen sollen? Du bist doch der einzige Grund, dass ich hier bin." „Wir sollen den Menschen helfen, nicht dafür sorgen, dass sie alle arbeitslos werden!", fauchte Alex sie an. „Was hast du da bloß angestellt? Mach das gefälligst so schnell wie möglich rückgängig!" „Reg dich nicht auf", grinste Michaelina. „Irene ist erst einmal weg. Sie hat sich sowieso für viel zu gut für diesen Laden gehalten. Hast du nicht gesehen, wie sie sich aufführte ? Ich hab sie durch das Fenster beobachtet.
111
Ich hab nur bestätigt, wovon sie schon überzeugt war. Hab ihr telepathisch eingeflüstert, dass sie ihre Zeit in dieser armseligen Pizzeria vergeudet, wo sie doch woanders viel mehr verdienen könnte ..." Alex zerrte wütend den Bändel ihrer Schürze wieder auf. Was für ein Plan - sie würde ihn in der Luft zerreißen, Michaelina ins Gesicht schleudern und dann abhauen. Aber andererseits sah Mr Tagliere so glücklich und erleichtert aus und nun war sie ja schon mal hier, um das zu tun, was sie sich so fest vorgenommen hatte: Sie wollte ihren Unterhalt selbst verdienen. Der erste Schritt war getan wieder die Person zu werden, die sie früher gewesen war. Nur hatte es damals eben keinen Cade gegeben. Und plötzlich dämmerte ihr noch etwas - in genau dem Moment, als ihr Mr Tagliere eine dampfende Pizza überreichte -, dass sie wahrscheinlich während der Hauptstoßzeiten im PITS arbeiten müsste. Also an den Abenden und den Wochenenden. Misstrauisch sah sie zu Michaelina hinüber, die sorgfältig einen Ecktisch mit einem feuchten Lappen sauber rieb. War der boshaften kleinen Hexe von vornherein klar gewesen, was Alex erst jetzt kapiert hatte - dass sich dieser Job genau mit Cades freier Zeit überschnitt?
112
Nachdem Alex die ersten Pizzas serviert hatte, wurden sie und Michaelina von Mr Tagliere zu einer Schnellschulung im Kellnern gerufen. In genau drei Minuten erläuterte er ihnen das Lohn-plus-TrinkgeldSystem, wie man Bestellungen aufnahm und an die Küche weitergab und wie man den Geschäftsführer zu behandeln hatte. Allerdings erwähnte er keinerlei Regeln, die sich auf Gedankenlesen, das Herbeischwebenlassen von Speisen oder magische Tricks im Umgang mit aufdringlichen oder lästigen Gästen bezogen. Und das sollte sich, jedenfalls in Anbetracht von Michaelinas Neigung keine Katastrophe auszulassen, als schwerwiegendes Versäumnis erweisen. Ihre ersten Kunden waren zwei Schwestern, ungefähr dreizehn und neun Jahre alt. Sie hatten sich kaum in einer Tischnische niedergelassen, als Michaelina der jüngeren bereits den wohlwollenden Rat erteilte: „An deiner Stelle würde ich keine Extraportion Käse auf der Pizza bestellen - den kriegst du nämlich nie mehr aus der Zahnspange." Das Mädchen fuhr erschrocken mit der Hand zum Mund, um ihre Zahnspange zu verbergen, und starrte die grinsende Bedienung aus weit aufgerissenen Augen an. Dem verblüfften älteren Mädchen riet Michaelina: „Vergiss die Diätpizza. Matthew kriegst du doch nicht, selbst wenn du schlank und mit einem Po wie Jennifer Lopez daherkommst. Los, wir laden dir alle Extras auf deine Pizza - fetttriefende Salami und tonnenweise Käse."
113
Was machst du denn, bist du jetzt völlig verrückt geworden?, fragte Alex telepathisch. Sie befürchtete, dass sich Michaelina bald als Hexe verraten würde, wenn sie so weitermachte. Aber die Schwestern blieben sitzen und befolgten erstaunlicherweise sogar Michaelinas Ratschläge. Was ist denn?, wollte die kleine Hexe mit unschuldigem Gesichtsausdruck wissen. Ich helfe den Leuten doch nur! Gehört zu meinem Job als Hexe. Alex knirschte mit den Zähnen. Falsch. Dein Job ist ihnen das zu bringen, was sie bestellen, und zwar ohne Kommentar!, denkmailte sie ihr. Michaelina zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. „He, Bedienung! Kann ich endlich was bestellen?", brüllte ein bulliger Mann hinter ihr her, als sie leicht eingeschnappt auf die Küche zusteuerte. Sie wirbelte zu ihm herum und grinste ihn breit an. „Sie haben schon bestellt!", rief sie. „Sie wollten entweder ,Chicken Parmesan' oder ,Salami mit Käse'. Aber dann haben Sie sich für die Salami-Pizza entschieden. Richtig? Hab ich schon notiert!" Sie zeigte dem verblüfften Gast triumphierend ihren Bestellblock. Michaelina entdeckte noch zahlreiche andere Möglichkeiten, wie sie „helfen" konnte. Sie zauberte
114
bestimmte Kräuter auf die Pizzas, weil sie „gut für die Verdauung" seien. Einem Kunden, der sich über Magenbeschwerden beklagte, streute sie ein Nesselgewürz über die Pasta und eine Frau mit einer Augeninfektion beglückte sie mit einer ordentlichen Dosis Malven auf der Peperoni-Pizza. Einem Kind, das ihr irgendwie unterernährt vorkam, mischte sie eine nahrhafte Prise gemahlene Holzwürmer in den Salat. „Wurmstichiges Holz regt den Appetit an", erklärte sie Alex im Vorbeigehen stolz. „Das war eine echt supergute Tat von mir!" In dem Augenblick, als Alex die Hoffnung gefasst hatte, Michaelinas Hexenkünste würden vielleicht doch niemandem auffallen, änderte sich alles. Die meisten Gäste merkten nichts von Michaelinas speziellen Pizzagewürzen. Aber den Stammkunden fiel bald etwas auf. Ein unzufriedener Kunde ließ seine Spagetti mit Fleischbällchen zurückgehen und verkündete lautstark, dass sie nach Terpentin rochen. „Daran ist aber die Bedienung nicht schuld", wies ihn seine Frau zurecht. Oh doch, die Bedienung ist sehr wohl schuld daran, dachte Alex und schüttelte wütend den Kopf, als Michaelina zu ihr hersah. Aber die schaltete auf stur. Das war Thymian, nicht Terpentin. Der Typ stank ekelhaft aus dem Mund! Pfui! Ich meine, was hätte ich denn machen sollen? Die widerspenstige Hexe ließ sich nicht belehren. Und irgendwie wirkte ihre Schadenfreude auch ansteckend.
115
Alex gab es bald auf, hinter ihr herzuspionieren oder sie auszuschimpfen. Sie hatte schließlich selbst ab und zu Magie angewendet, wenn sie mit jemandem hatte abrechnen wollen, der ihr Probleme gemacht hatte. Nur hatte sie damals noch gar nicht gewusst, was sie tat, und ihre magischen Kräfte waren auch noch nicht so eindrucksvoll stark gewesen wie jetzt. Alex verbrachte die gesamte Pause am Telefon - mit Cade, der zwar überrascht war, denn Alex hatte ihm nichts davon erzählt, dass sie einen Job suchte, ihr aber voll zustimmte. „Ich verstehe gut, dass du das machst, echt", versicherte er ihr. „Gibt einem ein gutes Gefühl, wenn man etwas selbst zu Stande bringt. Und wenn dir der Job hilft wieder die zu werden, die du früher warst, okay, dann will ich dich auch so. Ich will alles über dich erfahren." Sie schmolz dahin wie Käse auf der Pizza. Sie hatte Recht gehabt: Cade war einfach der Beste. „Was sagt eigentlich Cam zu deiner neuen Karriere? Vielleicht will sie sogar mitmischen, wenn sie zurückkommt?", stichelte Cade. Cam! Oh! Alex hatte ihr noch gar nichts davon erzählt, hatte ihre Schwester seit zwei Tagen überhaupt nicht mehr kontaktiert. War das nicht äußerst seltsam? Sie hatte nicht einmal an sie gedacht.
116
Nach dem Schichtwechsel am Hexenshow im PITS erst richtig ab.
Abend
ging
die
Eine Gruppe von Schülern spazierte herein, drei Jungen und zwei Mädchen, deren Idealvorstellung von Abendunterhaltung darin bestand, sich gegenseitig Spagetti an den Kopf zu werfen, sich mit Cola und Fanta zu bespritzen und die Zuckerdose auf dem Tisch auszuschütten. Michaelina und Alex warfen sich nur einen einzigen Blick zu und regelten die Angelegenheit mit kaum sichtbarem Grinsen so schnell und gründlich, dass die fünf zuerst gar nicht begriffen, was hier vor sich ging. Als sie die Gabeln als Schleudern benutzten, um sich von Tisch zu Tisch mit Spagetti zu beschießen, kamen die Nudeln plötzlich wie kleine Bumerangs zurückgeflogen, krochen in ihre Nasenlöcher, wickelten sich in ihre Haare und spritzten ganze Bäche von Tomatensoße in ihre Ohren. Herumspritzende Getränke erstarrten mitten in der Luft zu Eis und der Zucker rieselte ganz von allein in die Zuckerdose zurück. Sprachlos vor Entsetzen saßen die Unruhestifter artig auf ihren Stühlen. Alex sorgte dafür, dass sie die Rechnung bezahlten, bevor sie aus der Tür stürzten. Später betraten zwei arrogante Biker in schwarzer Lederkleidung das Lokal, offenbar auf der Suche nach Streit. Aber mussten sie sich ausgerechnet die Minihexe Michaelina vornehmen ? Keine kluge Wahl. Einer der Biker, dessen Haar, glänzend vor Gel, straff zurückgekämmt war, starrte Michaelina grinsend an.
117
„Hey, Süße ..." Er zwinkerte seinem Partner zu und wandte sich dann wieder an die kleine Hexe. „Dich nehm ich als Beilage zu meiner Portion Pommes, klar?" Sein Partner versuchte noch witziger zu sein. „Hey, Mann, kannst du nicht machen, die ersäuft sonst im Ketschup." Michaelina zuckte mit keiner Wimper, schenkte ihnen nur einen mitleidigen Blick, bevor sie ihre Bestellung holen ging. Das Nächste, was man von den beiden hörte, waren halb erstickte Laute: „mmmrrrphhh" und „grrrrummmppphhh". Pizzas mit Superkleber erschweren eben die Verständigung. „Was habt ihr gesagt ? Sprecht doch bitte deutlicher!", forderte Michaelina sie auf. Ihre Gesichter waren rot angelaufen; sie schwitzten heftig, deuteten ständig auf ihre Münder oder hämmerten mit den Fäusten auf den Tisch. Das erregte die Aufmerksamkeit der Gäste am Nachbartisch, die beim Anblick der zwei stummen und hilflosen Schlägertypen in lautes Gejohle ausbrachen. Michaelina befreite sie nach einigen Minuten von ihrer Qual und erklärte weise: „Das habt ihr davon, wenn ihr euch danebenbenehmt. Dann schlägt das, äh, Schicksal sofort hart zu." Hastig warfen die beiden zwei ZwanzigDollar-Scheine auf den Tisch und ergriffen die Flucht. Aber dann trieb es die kleine Hexe definitiv zu bunt. Eine aufgemotzte Blondine betrat das Lokal, begleitet von einer Freundin, an der sie ständig herumnörgelte: „Wer hat denn dein Haar geschnitten? Eddie der Rasenmäher? Sieht grauenhaft aus."
118
Und schon kam Michaelina, die rächende Fee, an ihren Tisch. Sie trug eine dampfende Pizza auf dem Tablett. Irgendwie löste sich der heiße Käse von der Pizza und flog in hohem Bogen durch die Luft. Alex war entsetzt. Zwar benahm sich die Blondine ausgesprochen ekelhaft, aber sie trug äußerst knappe Shorts. Der Käse würde genau auf ihrem Schoß landen und ihr die Oberschenkel verbrennen. Alex musste nicht lange nachdenken; sie griff ein. Sie hielt den Käse mitten in der Luft auf und dirigierte ihn dann auf die Pizza zurück, wobei sie Michaelina einen wütenden Blick zuwarf. Sie hat's verdient!, wehrte sich die kleine Hexe stur. Wieder glitt der heiße Käse von der Pizza, flog durch die Luft - und Alex konnte ihn gerade noch auffangen. Sie schrie auf, als ihr der Käse die Handfläche verbrannte. Michaelina schnappte nach Luft und sprang einen Schritt zurück, als erwarte sie eine Ohrfeige. Als das nicht geschah, brachte sie schnell die Pizza in die Küche zurück, wobei sie Alex am Arm hinter sich herzog. Sie stammelte Entschuldigungen, während sie in ihren Kräuterbeutel griff und kühlende, heilende Kräuter über Alex' Brandwunde streute. „Das reicht jetzt!", befahl Alex. Als das Lokal endlich schloss, waren beide erschöpft. Da Alex das ganze Haus der Familie Barnes für sich allein hatte, lud sie Michaelina ein bei ihr zu übernachten. Vor dem PITS warteten sie auf Cade. Michaelina hockte auf
119
der Bordsteinkante und zählte ihr Trinkgeld. Ihre Augen glitzerten. „Wer hätte gedacht, dass auf dem Festland so 'ne Show abgeht? Und noch dazu so profitabel?" Zufrieden verstaute sie ihre Einnahmen in der Tasche. Alex starrte gebannt die Straße entlang, wo Cade jede Minute im Geländewagen der McDonalds auftauchen musste, den er ausgeliehen hatte, um sie nach Hause zu fahren. „Cade, Cade, Cade." Michaelina streckte die Beine aus und lehnte sich zurück, die Hände auf den Gehweg gestützt. „Ist er wirklich so ... besonders? Ist er vielleicht der Eine, der Einzige?" „Schon möglich", gab Alex gedankenverloren zurück. „Mir geht immer durch den Kopf, dass Sara, also meine Adoptivmutter meine ich, ihn sicherlich gemocht hätte." „Kann sein, aber sie ist ja nun mal tot. Hey - warte mal!" Michaelina schnippte mit den Fingern, als sei ihr gerade eine brillante Idee gekommen. „Warum fragen wir sie nicht einfach ? Wir könnten sie doch zurückbringen, du weißt schon ... nicht sie selbst natürlich, sondern nur ihren Geist. Für ganz kurze Zeit." „Du spinnst ja!" Aber im selben Augenblick wurde Alex klar, dass es möglich war. Warum war sie nie von selbst darauf gekommen? Hatten sie und Cam nicht den Geist ihrer Großmutter Leila DuBaer angerufen, wenn auch nur zufällig? Warum also sollte sie Sara nicht anrufen
120
können? Sie konnte plötzlich nicht mehr sprechen, sie war nicht einmal sicher, ob sie noch atmete. Bald würde sie sechzehn sein und das Alter der Weihe erreicht haben. Dann würde sie eine voll ausgebildete Hexe sein. Wäre Sara nicht stolz auf sie? Und was würde ihre Mutter von Cade halten? Und was würde sie von dem Mädchen halten, das sie, Alex, allmählich wurde und das von seiner Mutter jetzt schon ein ganzes langes Jahr getrennt war? Was würde Sara Fielding jetzt über Alex denken? Sara. Vor langer Zeit hatte Alex jemanden gehabt, den sie ihr ganzes bisheriges Leben gekannt und geliebt hatte. Mit dem sie über alles hatte reden können. Sie sehnte sich danach, Sara wiederzusehen, ihr alles zu erzählen und herauszufinden, was Sara darüber dachte. Und welchen Rat sie ihr geben würde ... Alex warf Michaelina einen forschenden Blick zu. Die kleine Hexe nickte ihr aufmunternd zu.
121
KAPITEL 9 SONNWENDFEIER
Die Sonnwendfeier begann bei Sonnenuntergang und fand im Wald statt. Die Teilnehmer - Sersee, Epie, Amaryllis, Ro-wan und Serie - hatten in ihren Rucksäcken Kräuter, Steine, Teelichter und Kekse mitgebracht - und ein rohes Ei. Epie begann sofort aufgeregt zu erklären, wofür die Zutaten bestimmt waren, aber Sersee hielt ihr den Mund zu. „Das wirst du bald selbst herausfinden", wandte sie sich an Cam. „Sicher möchtest du doch lieber überrascht werden?" Überrascht? Von Sersee? Ganz bestimmt nicht, dachte Cam. Shane drückte ihre Hand und flüsterte: „Die Zeremonie ist ganz einfach. Deswegen musst du dir überhaupt keine Sorgen machen." Cam folgte der Gruppe, die immer tiefer in den Wald ging. Sie hatte zwar beschlossen bei ihrer Feier mitzumachen, aber sich keinesfalls so weit einlullen zu lassen, dass sie Freund und Feind nicht mehr unterscheiden konnte. Cams Vertrauen sollten sich diese Typen erst mal verdienen. Die Wälder von Coventry waren absolut einmalig, dachte sie. Sie genoss das leise Knacken der Fichtennadeln unter den Füßen, die frische,
122
reine Luft und die lebhaften Farben. Plötzlich fiel ihr der Anfang eines Gedichts ein. Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder, die ich traf... Wie lautete die nächste Zeile? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nur noch, von wem es stammte: Robert Frost. Schließlich erreichten sie einen Erlenhain. Die Natur hatte die Bäume mit rötlich leuchtenden Beeren und gezackten Blättern ausgestattet. Und Sersees Dekorationstrupp hatte sie mit silbernen und weißen Bändern behängt. Jenseits des festlich geschmückten Hains lag ihr Ziel: ein kleiner runder Teich. Wasser? Tiefes, unergründliches Wasser. Ihre Vision. Cam erschrak und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. „Stimmt was nicht?", fragte Shane. „Ich ... ich kann nicht", stotterte Cam. „Ich meine, ich hab hier kein Wasser erwartet..." „Der Teich ist nur eines der Elemente, die zur Zeremonie gehören", erklärte ihr Shane, „und zwar wegen seiner Form. Er bildet einen natürlichen, vollkommenen Kreis. Aber niemand muss ins Wasser." Haben es denn nicht alle Zauberkreise an sich, dass man sich hineinstellen muss, wenn der Zauber funktionieren
123
soll?, fragte sich Cam. Shane bot ihr an sie sofort zurückzubegleiten, wenn sie sich unwohl fühlte, aber schließlich entschied sie sich zu bleiben und der Zeremonie beizuwohnen. Alle nahmen ihre Plätze rings um den Teich ein. Sie setzten sich im Schneidersitz auf den Boden und legten rechts neben sich einen Quarzkristall und links ein kleines Goldstück. „Quarz weckt unsere psychischen Kräfte", erklärte Shane, „und das Gold soll Überfluss und Reichtum im kommenden Jahr bringen." Dann stellten sie die Teelichter rings um den Teich auf. Sersee erhob sich auf die Knie und reichte eine brennende Kerze im Kreis herum, mit der alle anderen Kerzen angezündet wurden. Nun erklärten sie einer nach dem anderen die Bedeutung der Zeremonie. Es ging dabei um das Vorhersagen der Reichtümer und des Überflusses, den die Natur bringen würde, und die Hoffnung auf eine gute Ernte. Das Ganze erinnerte Cam an den Wahlspruch von Coventry, der in der Großen Einheitshalle eingraviert stand: dass alles zu höchster Blüte gedeihen möge... Ganz allmählich entspannte sie sich, schloss sich sogar den anderen an, die sich an den Händen hielten und um den Teich herum tanzten. Nacheinander sprangen sie über die Kerzen -denn wer am höchsten sprang, würde im folgenden Jahr am erfolgreichsten sein. Weil Cam ein athletisches Naturtalent war, sprang sie deutlich höher
124
als alle anderen. Shane hielt triumphierend ihren Arm hoch, aber Sersee verdarb die ausgelassene Stimmung. „Wenn wir damit fertig sind Lady DuBaer anzubeten, können wir vielleicht zum nächsten Teil übergehen", verkündigte sie neidisch. Also, fang an, dachte Cam. Die Sache begann ihr Spaß zu machen. Sersee klatschte in die Hände und Epie öffnete ihren Rucksack, in dem sich die Kekse befanden. „Wir schließen die Augen und nehmen..." „... jeder nur einen einzigen Keks - mit Betonung auf der Zahl eins, Epie!", wies Sersee das Mädchen auf die Regeln hin. Die dicke Hexe lief knallrot an. „Äh, sie sind alle gleich", erklärte sie Cam und versuchte so zu tun, als habe sie ihre Anführerin nicht gehört. „Alle sind gleich, außer dem verbrannten Keks." Sersee konnte es nicht lassen Epie noch einmal zu ärgern. „Und du kannst mir ruhig glauben: Epie würde sogar den verbrannten Keks aufessen, wenn wir nicht auf sie aufpassen würden." „Hör schon auf!", protestierte Epie überraschend mutig. Cam blickte erstaunt zwischen den beiden hin und her. Schon immer hatte Sersee Epie eher wie einen ungeliebten Hund behandelt und weniger wie eine Person. Aber Epie hatte nie gewagt sich zu verteidigen. Deshalb war Cam überrascht, dass sie sich jetzt zur Wehr setzte, so wirkungslos und schwach der Versuch auch sein mochte. Sie verspürte fast so etwas wie Zuneigung
125
zu dem Mädchen. Aber gleichzeitig ermahnte sie sich: Wenn Epie allmählich zur Feindin von Cams Feindin wurde, bedeutete das noch lange nicht, dass sie automatisch Cams Freundin war. „Mach schon", befahl Sersee Epie. „Erklär ihr noch den Rest." „Die Person, die den angebrannten Keks erwischt", fuhr Epie fort, wobei sie Sersee mit einem wütenden Blick davor warnte, sich noch einmal einzumischen, „muss dreimal um den Teich laufen und über die Kerzen springen. Gleichzeitig wirft die Person, die die Kekse gebacken hat, das rohe, äh, Ei und versucht ... äh, die andere Person ... zu treffen ... und dann machen wir alle..." „Das reicht", wurde sie barsch von ihrer Oberhexe zum Schweigen gebracht. „Du machst alles viel zu kompliziert." Epie war beleidigt und schmollte; Serie trat vor. „Eigentlich ist es ganz einfach", erklärte er. „Wenn das Ei den Springer nicht trifft, wird die springende Person nächstes Jahr sehr großes Glück haben. Trifft es ihn, muss jeder von uns dem Springer ein kleines Geschenk geben, um ihm das Glück zu verleihen, das ihm offenbar fehlt. Klar?" Seltsame Zeremonie, dachte Cam, aber sie nickte. Der Rucksack wurde herumgereicht. Wie vorauszusehen, erhielt Cam den letzten Keks - den angebrannten. „Hast du heute nicht irre viel Glück?", bemerkte Sersee und zog eine Grimasse. „Mal sehen, wie du abschneidest, Lady
126
DuBaer, wenn Amaryllis das Ei nach dir wirft - sie hat nämlich die Kekse gebacken." Cam war bereit für die Aufgabe. Ihr Ehrgeiz wurde schon allein dadurch angeheizt, dass sie das alles für eine abgekartete Sache hielt. Außerdem fand sie es gemein, wie Sersee Epie behandelt hatte. Sie brannte förmlich darauf, bei diesem Spiel zu siegen und es Sersee einmal richtig zu zeigen. Sie klopfte die Erde von ihren Shorts und sprang über die Kerzen - einmal, zweimal... und immer noch hatte Amaryllis das Ei nicht geworfen. Cam hatte fast die dritte Umrundung des Teichs geschafft, als sie das Ei auf sich zufliegen sah. Sie versuchte dem Wurf auszuweichen, doch plötzlich wurde sie frontal von einem gewaltigen Windstoß getroffen. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie in den Teich stürzte, sah sie Epie: Ihre Backen waren aufgeblasen und ihr Mund gespitzt -hatte sie etwa den Windstoß erzeugt? Epie hob entschuldigend die Schultern und in dem Moment wurde Cam klar, so unwahrscheinlich es auch war, dass dieser dicke Windbeutel tatsächlich den Luftstoß produziert und Cam förmlich in den Teich geblasen hatte. Sie spürte sofort, dass sie vom trübschmutzigen Wasser wie von einem Strudel in die Tiefe gezogen wurde. Ihre Füße berührten den Teichgrund, aber zu ihrem Entsetzen sank sie trotzdem weiter, denn der Boden schien sich zu öffnen und sie noch tiefer hinunterzuziehen. Denn der Grund des Teichs bestand aus feinstem Sand. Treibsand! Eine tödliche Falle.
127
Cam wusste instinktiv, dass sie nur noch tiefer einsinken würde, wenn sie um sich schlug oder strampelte. Und sie wusste auch, dass sich ihr Mund und ihre Lungen mit Wasser und Schlamm füllen würden, wenn sie schrie. Also wehrte sie sich gegen das übermächtige Verlangen zu schreien und sich mit Händen und Füßen aus dem Sumpf herauszukämpfen. Ihre entsetzliche Vision wurde Wirklichkeit. Nein!, hallte es durch ihren Kopf. Nein, das kann nicht wahr sein! Aber ihre Visionen hatten immer etwas bedeutet. Warum hatte sie die Warnung nicht beachtet? Sie sank tiefer. Verzweifelt schwang sie einen Arm herum, tastete nach irgendetwas, woran sie sich festhalten und aus dem Sumpf herausziehen konnte. Aber sie fand nichts. Sie spürte, wie der Schlamm langsam höher stieg; er ging ihr schon bis zum Kinn. Jetzt hatte sie den Geschmack von grobkörnigem Schlamm im Mund. Und jetzt konnte sie auch den Schrei nicht mehr unterdrücken. „Hilfe! Hilfe!" Sie sank tiefer in den Sumpf. Warum kam ihr niemand zu Hilfe? Sie sah Shane, der am Rand des Teichs kniete. „Nicht aufgeben!", schrie er. „Ich komme!" Aber er kam nicht, sondern streckte nur die Hand aus, um ihr zu helfen. Und er war nicht nahe genug. Cam blieb völlig unbeweglich und versuchte, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Zieh dich raus. Du schaffst es. Nur keine Panik! Konzentriere dich!, befahl sie sich. Sie zog ein Bein an und versuchte mit dem Fuß aufzustampfen, um den Sand zu verdichten, um wenigstens für kurze Zeit darauf stehen zu können.
128
Aber jedes Mal wenn sie ihr Knie hob, gab der Sand unter ihr noch weiter nach. Das schwere Sumpfwasser drang ihr in Ohren und Nase. Wenn ihr nicht gleich etwas einfiel, war sie verloren. Verzweifelt berührte sie ihr Sonnenamulett. Würde seine seltsame Macht ihr helfen ? Und durch welche Magie konnte sie diesem Schicksal entrinnen ? Sie wusste es nicht... Sie fühlte sich, als trüge sie einen Gummianzug aus Schlamm, der mit kratzenden, schabenden Insekten gefüllt war. Jetzt konnte sie nur noch eins tun: um sich schlagen, strampeln, stoßen, sich strecken. Nicht aufgeben, sagte sie sich, hör nicht auf dich zu bewegen, vielleicht erreicht dich irgendjemand. Der Teich war schließlich nicht so breit. Und alle, die am Rand standen, waren Hexen und Hexer! Es konnte doch nicht so schwer sein einen langen Ast zu suchen, irgendeinen langen, harten Gegenstand, an dem sie sich festklammern konnte! Allerdings nur, wenn sie nicht... Bei diesem letzten Gedanken drehte Cam durch. Jetzt war ihr klar: Sie war wie ein blindes Huhn in die Falle gegangen. Und wie aus dem Nichts schoss ihr unvermittelt die letzte Zeile des Gedichts über den Wald durch den Kopf: ... doch noch nicht eingelöst, was ich versprach, und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf. Der lange Schlaf des Todes, darum ging es in dem Gedicht. Der Dichter wollte damit sagen, dass seine Zeit zu sterben noch nicht gekommen sei. Und ihre Zeit ganz bestimmt auch nicht!
129
Sie wollte schreien: „Holt einen Ast! Schnell!" Aber Wasser und Sand strömten ihr in den Mund. Wer konnte sie jetzt noch retten ? Miranda! Merkte ihre Mutter nichts, konnte sie nicht spüren, dass Cam in Todesnot war? Ganz bestimmt würde ihr jeden Augenblick jemand zu Hilfe kommen. Alex!, schrie ihr vor Todesangst fast rasender Verstand, während ihr der Schlamm bereits den Mund füllte. Sie versuchte verzweifelt ihn auszuspucken, aber es gelang ihr nicht mehr. Sie sank tiefer, wurde vom Sumpf bei lebendigem Leibe verschlungen. Alex ...
130
KAPITEL 10 HILFESCHREI
Hilfe! Hilfe, ich ertrinke! Alex fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Sie keuchte heftig und ihr war so schwindlig, dass sie beinahe ohnmächtig wurde, als sie versuchte sich aufzusetzen. Der Albtraum hatte sie mit der Kraft eines Sturms aus dem Schlaf gerissen. Er wirkte so echt, so wahr... Ich ertrinke! Es zieht mich hinunter ... ich kann nicht mehr raus ... Alex! Alex blinzelte, versuchte die schläfrige Benommenheit abzuschütteln, klar zu denken. Sie musste so müde gewesen sein, nachdem sie von ihrem ersten Arbeitstag nach Hause gekommen war. Ein Blick auf die Uhr: noch nicht einmal Mitternacht. Sie musste also direkt nach dem Einschlafen diesen schrecklichen Albtraum gehabt haben. Alex! Alex, wo bist du ? Ich ertrinke!
131
Cam, es war Cam! Ihre Schwester rief nach ihr! Aber war Cam nicht...? Alex warf einen Blick auf Cams Bett. Es war leer ... Schlagartig kam alles zurück: Cam, die Insel Coventry, vor ein paar Tagen war sie abgereist. Bitte, bitte hilf mir! Ich will nicht sterben! Alex riss die Augen auf. Das war tatsächlich ein Albtraum, aber von der absolut schlimmsten Sorte: Denn er war echt. Schlimmer noch: Es war nicht etwas, das irgendwann passieren würde - Cam schrie jetzt, in dieser Sekunde, um Hilfe. Funkte ihr telepathisch SOS. Alex sprang mit einem Satz aus dem Bett und versuchte sich zu beruhigen und klar zu denken. Miranda! Ileana! Sie waren schließlich auch auf Coventry. Warum zum Henker konnten sie Cam nicht retten? Sie raste zum Telefon. Und blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte keine Telefonnummer. Denn auf der Insel Coventry gab es keine Telefone. Ihre Gedanken rasten; dann entschied sie sich für Telepathie. Verzweifelt rief sie: Miranda! Ileana! Cam ist in Gefahr! Beeilt euch! Ihr müsst sie retten! Sie wartete. Strengte ihren scharfen Gehörsinn auf das Äußerste an. Aber sie hörte nur die üblichen Geräusche der Sommernacht von Marble Bay, das Zirpen der Zikaden, das Gebell eines Hundes in der Nachbarschaft,
132
das Summen der Klimaanlage. Keine Antwort von Miranda oder Ileana. Da plötzlich ... Es zieht mich hinunter! Ich kann nicht mehr ... kann nicht mehr raus! Bitte, bitte helft mir doch! Jetzt wurde Alex vollkommen von Panik überwältigt, als würde sie von riesigen Händen an den Schultern gepackt und gnadenlos geschüttelt. Sie flog die Treppe hinunter in die Küche, als könne sie dort eine Lösung finden. Ihr Blick fiel auf das Gewürzregal. Der Zauberspruch ... wie hieß er nur ... richtig: „Der Reisende"! Das war's! Mit seiner Zauberkraft würde sie sich nach Coventry versetzen und Cam retten. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum die Etiketten auf den kleinen Gewürzbehältern entziffern konnte. Und sie konnte sich auch nicht erinnern, welches Gewürz sie für den Zauberspruch benötigte. Es begann mit M... aber wie hieß es noch mal... Muskatnuss ? Nein, nein, Quatsch ... Majoran ... Oder holte man damit die Toten zurück? In ihrer Panik war Alex nicht mehr fähig zu denken. Sie öffnete jedes einzelne Gewürz und betete rasend schnell jeden Zauberspruch herunter, der ihr gerade einfiel. Halte durch, Cam! Ich komme! Ich rette dich! Ich muss nur noch den Spruch ... Die Küchentür flog krachend zusammen. Etwas raste auf sie zu.
auf.
Alex
133
zuckte
Michaelina in vollem Einsatz. Sie kreischte aufgeregt: „Was ist los? Ich hab dich rufen gehört..." „Es ist Cam!", schrie Alex. „Sie ... ich hab sie gehört..." Ihre Stimme versagte. Jetzt mal langsam. Alex' telepathische Denkmails nach Coventry ... waren sie vielleicht abgefangen worden - von Michaelina? Für Fragen war keine Zeit. Ein Kristall! Richtig, sie brauchte einen Kristall! Karsh hatte ihr einen Kristall geschenkt, aber der war in ihrem Schlafzimmer. Sie raste zur Treppe. Michaelina schrie ihr nach: „Ich helfe dir. Keine Angst, ich hab eine Idee!" „Wir haben keine Zeit...", brüllte Alex zurück. „Ich kenne einen Zauberspruch", versprach Michaelina. Sie lief Alex nach. „Wir können sie sehen. Und herausfinden, was eigentlich los ist. Und dann kann ich sie herausziehen ... Ich meine, dann können wir sie retten!" „Ich glaube, sie ertrinkt!" Alex zitterte heftig vor Entsetzen und Angst, dass sie schon zu viel Zeit vergeudet hatte und ihre Schwester schon ... „Dann los! Beeil dich!", schrie Michaelina. Sie raste die Treppe hinauf und erreichte noch vor Alex das Schlafzimmer der Zwillinge.
134
Alex' Herz raste ebenfalls. Was war, wenn sie Cams schwierige Lage sah, aber ihr trotzdem nicht helfen konnte? Wäre das nicht noch viel schlimmer? Und konnte das Michaelina überhaupt bewerkstelligen? Als Cams Bruder Dylan einmal vermisst wurde, hatte Thantos ihn lokalisiert; das war ihm mit einem mächtigen Zauberspruch namens „Lokalisator" gelungen. Aber Thantos war nicht nur das Oberhaupt des DuBaer-Clans, sondern auch einer der mächtigsten, geschicktesten und erfahrensten Hexer. Er war ungeheuer geübt in der Magie. Die Mini-Hexe, die hier vor Alex stand, war in keiner Weise mit ihm zu vergleichen. Aber Alex blieb jetzt keine andere Wahl. Michaelina packte ein kleines Glasgefäß, das auf Cams Schreibtisch stand, und ließ den Deckel aufspringen, der zugleich ein kleiner Spiegel war. In dem Gefäß lag eine kleine Va-nille-Duftkerze. „Anzünden!", befahl sie. Womit denn? Alex blickte sich gehetzt um. Cam hätte den Docht mit ihrem brennenden Blick anzünden können. Alex verfügte nicht über diese Fähigkeit, nicht einmal über gewöhnliche Streichhölzer. Dafür gehörte Telekinese zu ihren Begabungen. Sie schloss die Augen und konzentrierte ihre ganze Angst und Verzweiflung auf einen einzigen Gedanken: eine Flamme. In ihrer Vorstellung war die Flamme noch nicht einmal richtig entzündet, als sich schon eine Schublade öffnete und ein kleines Streichholzheftchen herausflog. Es landete direkt in ihren Händen.
135
Michaelina zog einen Rosenquarz aus dem Lederbeutel, den sie in der Tasche ihres Umhangs mit sich trug. Den Kristall legte sie neben die Kerze, dazu eine braune Wurzel, die wie eine Menschenfigur geformt war und Alex irgendwie bekannt vorkam. Während sie die Wurzel über die Kerzenflamme hielt, stieg Alex ein schwaches Apfelaroma in die Nase. „Das ist eine Alraunwurzel", erklärte die kleine Hexe, die sehr konzentriert arbeitete. „Oder Mandragore. Ihre Früchte werden manchmal auch Liebesäpfel genannt. Ich füge jetzt eine Prise Bilsenkraut dazu und du darfst jetzt die Flamme nicht mehr aus den Augen lassen. Dann sollten wir eigentlich Cam sehen können." „Und werden wir ihr auch helfen können ... ich meine, sie retten können?", drängte Alex verzweifelt. Aber Michaelina gab keine Antwort.
136
KAPITEL 11 DIE RETTUNG
Cams ganzes Leben rauschte in Zeitlupe, wie im Kino, vor ihrem geistigen Auge vorüber. Das Baby Cam, das mit den kurzen, dicken Beinen strampelt und vor Vergnügen quietscht, als David Barnes es hoch in die Luft wirft und wieder auffängt. Das kleine Mädchen Cam, das still und zufrieden auf Emilys Schoß sitzt und hingerissen der Gutenachtgeschichte lauscht, die Emily ihr vorliest. Dann die stolze große Schwester, die den neugeborenen Dylan in seiner Wiege schaukelt. Cam, die durch das Haus in Marble Bay tobt, mit dem ersten Fahrrad zur Schule fährt, die auf dem Bett hüpft, als sie zum ersten Mal allein bei ihrer Freundin Beth übernachten darf. Die Fußballspielerin, die ihr erstes Tor bejubelt... Und dann, später, in Montana, als sie zum ersten Mal in Alex' Augen blickt - und sich zum ersten Mal als ganze, vollkommene Person fühlt. Sicher. Geborgen. Hart und stark, wie gewaltige Stahlklammern, legte sich etwas um ihren Oberkörper. Hände, merkte sie plötzlich, jemand griff nach ihr, sie spürte einen Pulsschlag in den Handflächen dieses Ungeheuers - oder was auch immer
137
an ihr zerrte. Jetzt schlossen sich die Hände um ihre Taille und rissen sie Stück für Stück aus dem schwarzen Schlamm heraus, der sich schon über ihr geschlossen hatte. Eine wütende Stimme hallte von überall wider, als würde sie durch Lautsprecher verstärkt. „Seid ihr denn wahnsinnig geworden ?" Der eisenharte Griff ließ nicht nach. Cam wurde aus der Wärme gezerrt, aus der tödlichen Umarmung dieses entsetzlichen Schlamms, aus dem sumpfigen Wasser. Bevor sie begreifen konnte, was vor sich ging, wurde sie in eine dicke Decke gehüllt und sanft auf den Boden gebettet. Plötzlich überwältigte sie ein Husten und Würgen, das alles andere verdrängte. Sie spürte, dass ihr jemand den Rücken massierte. Diese Hände waren sanfter, leichter als die Hände ihres Retters, von denen sie aus dem Sumpf geholt worden war. Das waren Sha-nes Hände auf ihrem Rücken. Mit zitternder Stimme rief er: „Alles in Ordnung, Cam, du bist gerettet..." Und langsam begann sie zu begreifen. Sie war ins Leben zurückgeholt, gerettet worden. Aber nicht von ihm. Es dämmerte ihr nur ganz allmählich, wer sie gerettet hatte, und als sie es begriffen hatte, schien sich ihr Magen, der ohnehin den sumpfigen Morast herauswürgen wollte, vollends umdrehen zu wollen: Ihr Retter war Thantos DuBaer. Der Onkel, den sie über alles verabscheute, war aus dem Nichts aufgetaucht und hatte das getan, was offenbar niemand anders tun konnte oder wollte - er hatte sich in den todbringenden Sumpf gestürzt und die schon versunkene Cam herausgezogen. Hatte sie aus der Dunkelheit ins Licht geholt. Hatte ihr das Leben gerettet.
138
„Ich verlange eine Erklärung!", brüllte er die Gruppe an. Seine Stimme war lauter als Donner. „Wie konntet ihr zulassen, dass meine Nichte ertrinkt?" Ihre Antworten überschlugen sich, ein wildes Durcheinander von Ausreden, die nichts verrieten als nackte Angst. Cam verstand sie nur teilweise: „Sonnwendfeier ... Kerzen ... ein Unfall..." „Ein Unfall?", donnerte Thantos. „Fünf brillante Hexen und hervorragend ausgebildete Hexer tanzen um den Sumpf und niemand konnte sie retten?" „Wir haben es versucht, Lord Thantos ..." Shanes Stimme klang schwach und das lag nicht nur am Schlamm in Cams Ohren. „Wenn ich herausfinde, dass das nichts als ein übler Streich war, werdet ihr nicht lange auf die Strafe warten müssen. Und sie wird hart sein!", fügte Thantos kalt hinzu. „Und jetzt verschwindet, und zwar auf der Stelle!" Cam schnappte noch immer nach Luft, keuchte und hustete. Sie zitterte und ihre Zähne hörten nicht auf zu klappern. Shane hielt sie an sich gepresst, aber Thantos riss sie ihm aus dem Arm. „Du Ratte! Erst hast du mich verraten, jetzt verrätst du meine Nichte! Du würdest einen großartigen Helden abgeben! Wie konntest du
139
zulassen, dass ihr so etwas passiert? Geh mir aus den Augen! Los, verschwinde!"
Cam war in Thantos' gewaltigen schwarzen Umhang gewickelt. Sein bitterer Geruch fuhr ihr in die Nase, der Geruch eines Raubtiers. Cam wusste, dass sie eigentlich vor Erleichterung und Dankbarkeit außer sich sein sollte, doch stattdessen fragte sie sich, ob seine Wut weniger Shane als vielmehr sich selbst galt - dass er sie überhaupt herausgezogen und nicht gleich hatte umkommen lassen. „Wie kannst du so etwas von mir denken!", bellte sie der Hexer an, der neben ihr kniete und ihre Gedanken gehört hatte. „Ich weiß nicht, was ich denken soll", gab sie matt zurück. Der Hexer stand abrupt auf und zog sie an den Händen hoch. Von irgendwo wieherte ein Pferd. Thantos schnippte mit den Fingern und Epona trabte aus dem Schatten der Bäume auf sie zu. Bevor sie dagegen protestieren konnte, hob Thantos sie hoch und setzte sie auf den breiten Rücken des riesigen Tieres. „Wir bringen dich nach Crailmore zurück", erklärte er, während sie sich verzweifelt an den Sattelknauf klammerte. „Miranda wird sich um dich kümmern ..." Als er das sagte, starrte er sie erwartungsvoll an. Es kostete Cam große Mühe seinem Blick Stand zu halten. Unsicher presste sie hervor: „Danke."
140
Thantos legte seine Hand auf den glänzenden Pferdehals, um das tänzelnde Tier zu beruhigen. „Und dann kannst du mir deine Dankbarkeit beweisen ..." Cam zwang sich ihn noch einmal anzublicken. „Wie?" Sein brüllendes Gelächter hallte durch den Wald und Epona schabte nervös mit den Hufen. „Ich verlange nichts von dir -nur deine Aufmerksamkeit. Ich habe dir etwas zu erzählen. Und du sollst mir unbefangen und ohne Vorurteile zuhören. Das ist schließlich kein zu hoher Lohn für deine Rettung, meinst du nicht auch?" Bevor sie antworten konnte, schlug er dem Pferd auf die Flanke. Der schwarze Hengst jagte in wildem Galopp auf die Klippen von Crailmore zu.
141
KAPITEL 12 „ICH KONNTE DICH NICHT RETTEN"
Die Flamme züngelte hoch und ein Bild von Cam erschien in dem Spiegel, der den Deckel der Kerzendose bildete. Cam lag im Wasser. Aber es schien ihr recht gut zu gehen. Ihr Kopf lag auf dem Rand einer Badewanne aus Porzellan, ihr kastanienbraunes Haar war tropfnass und straff zurückgekämmt und ihre Augen waren geschlossen. Badeschaum stand ihr bis zum Hals. Sie atmete gleichmäßig. Bei diesem Anblick verlangsamte sich Alex' rasender Herzschlag spürbar. Die übergroße Anspannung wich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung. Ihre Beine gaben plötzlich nach und sie musste sich auf den Boden setzen. Alex hörte kaum noch Michaelinas Eigenlob und ihr aufgeregtes „Ich hab's dir ja gesagt". Die feenhafte kleine Hexe hatte es tatsächlich geschafft sie hatte den „Lokalisator"-Zauberspruch angewendet. Stärkste Ma gie, nur was für Fortgeschrittene. Doch auch wenn sich Alex jetzt entspannte, so war ihr doch klar, dass ihrer Schwester zuvor etwas sehr, sehr Schlimmes zugestoßen war und dass der telepathische SOS-Ruf, den
142
sie von Cam bekommen hatte, tödlich ernst gewesen war. Selbst jetzt, in der Badewanne, sah Cam sehr mitgenommen und erschöpft aus. Doch es ging ihr wieder besser, was auch immer geschehen sein mochte. Cam musste erst einmal zu Atem kommen; später würde sie sich sicherlich melden. Alex streckte sich auf dem Boden aus und starrte an die Decke. „Hey, was hast du jetzt vor, willst du hier einfach einschlafen?", wollte Michaelina vorlaut wissen. „Ohne mir auch nur zu danken ?" „Ja zu beiden Fragen", murmelte Alex. Sie gähnte und schloss die Augen.
Jemand stieß sie an, rüttelte sie wach. Die Person, die Alex sah, als sie die Augen öffnete, war dieselbe, die sie zuletzt vor dem Einschlafen gesehen hatte: Michaelina. Die kleine Hexe saß im Schneidersitz neben Alex auf dem Boden und hatte das Kinn in beide Hände gestützt. „Schläfst du immer so lange?" „Nur, wenn ich in der Nacht von einem Zwilling aus dem Schlaf gerissen werde, der sich in Todesnot befindet. Wie viel Uhr ist es eigentlich?" „Vier Uhr ..."
143
Was ? Alex setzte sich mit einem Ruck auf. Sie hatte den ganzen Tag verschlafen, die Arbeit geschwänzt, womöglich auch noch Cade verpasst... „... morgens", ergänzte Michaelina. Alex ließ sich wieder auf den Boden sinken. „Bitte sag mir, dass das nur wieder mal einer deiner üblen, durchgeknallten Scherze ist", murmelte sie genervt. Sie drehte Michaelina den Rücken zu und rollte sich wieder zum Schlafen zusammen. „Ich will nicht unhöflich sein, aber du darfst nur noch einen einzigen Satz sagen: ,Bis morgen!' Und dann mach ganz schnell die Fliege." „Ich geh ja schon. Aber nicht ohne dich! Vorausgesetzt, du hast immer noch das vor, worüber wir gestern geredet haben?" Sie hatten über so viele Dinge geredet... „Sara", erinnerte Michaelina Alex. „Wenn wir jetzt gehen, können wir noch vor Sonnenaufgang im Heiligen Hain sein. Und das ist bekanntlich die beste Zeit, um die Geister der Toten anzurufen." Michaelina rannte zum Telefon und tippte eine Nummer ein. „Wir müssen vor Sonnenaufgang in Salem sein", verkündete sie. „Deshalb ruf ich ein Taxi. Hat keinen Zweck Zeit und Energie für Reisezaubersprüche aufzuwenden. Wir brauchen alle Zauberkraft, die wir haben, um den Besuch deiner verlorenen Beschützerin halbwegs sauber hinzukriegen."
144
Plötzlich fühlte sich Alex nicht mehr sicher. Richtig - sie hatte sich danach gesehnt Sara wieder zu sehen. Sara, die beste und einzige Mutter, mit der sie vierzehn ihrer fünfzehn Lebensjahre verbracht hatte. Aber gerade jetzt? Und einfach so? Mit Michaelina, die offenbar alles im Griff behalten wollte? „Das ist gemein." Die kleine Hexe hatte ein Taxi bestellt und legte auf. Alex' Gedanken schien sie als pure Beleidigung zu empfinden. „Hab ich dir nicht geholfen zu sehen, dass dein Wunderzwilling gesund und munter ist? Schau dich mal um! Bin ich nicht die Einzige hier im Zimmer, die sich mit Kräutern auskennt, mit Kristallen und Zaubersprüchen ? Aber du kannst gern mal versuchen mich zu übertreffen!" Woher kennst du diese schwierige Magie? Alex konnte diesen Gedanken nicht unterdrücken. Soviel sie wusste, hatten weder Michaelina noch die anderen Furien die Weihen erhalten. „War nicht meine Schuld, dass ich diese Sachen weiß, das kann ich dir versichern", fauchte Michaelina. „Aber wir haben mehr Weihefeiern ausspioniert und mehr geheime Bücher geklaut und mehr Tricks von arglosen Hexen aufgeschnappt als jeder ordentliche Hexenlehrling. Du kannst mir vertrauen, Alex. Ich kann dich schneller zu deiner Mami bringen als Ileana und Miranda zusammen. Schon deshalb, weil keine der beiden hier ist oder im Moment auch nur bereit wäre dir oder deiner Schwester zu helfen." Alex überhörte den Sarkasmus. Die kleine Hexe wirkte sehr selbstsicher. Und so verunsichert, wie Alex im Moment war, sehnte sie sich danach, Saras raue Raucherstimme zu hören, ihr Gesicht zu sehen, selbst
145
wenn sie nur eine geisterhafte Erscheinung und nicht aus Fleisch und Blut sein würde. Es war Alex noch nie in den Sinn gekommen, ihre Mutter Miranda oder Ileana zu bitten Saras Geist anzurufen. Kurz darauf saßen sie im Taxi und fuhren die Schnellstraße entlang, die durch die Wälder von Salem führte. Alex bemerkte, dass Michaelina zunehmend gereizt war. „Wann sind wir denn endlich da?", nervte sie immer wieder den Fahrer. Sie nörgelte ständig und wirkte sehr ungeduldig; ihr Selbstvertrauen schien mit jeder Meile zu schwinden. War sie überhaupt fähig, den äußerst schwierigen Zauberspruch, mit dem man Geister rief, ohne Probleme anzuwenden? Michaelina brütete vor sich hin. Offenbar bekam sie Angst bei der Sache. „Fahren Sie bloß keine Umwege! Hey, wissen Sie überhaupt, wohin wir wollen?" Warum war Michaelina plötzlich so nervös? Schließlich stand Saras Geist doch nicht neben dem Grab und tippte ungeduldig auf die Uhr und es war auch nicht zu befürchten, dass er verschwinden würde, wenn sie ein paar Minuten zu spät kämen. Michaelina hatte natürlich Alex' Gedanken gehört. „Ich hätte mir gewünscht, dass du die Sache eine wenig ernster nimmst", schimpfte sie streng wie eine ältliche Lehrerin. „Es geht schließlich um deine arme, früh verstorbene Mutter!" „Okay, wenn wir schon davon reden: Warum müssen wir eigentlich den ganzen Weg nach Salem fahren ? Cam und ich haben Geister auch anderswo angerufen, im Mariner's Park zum Beispiel..."
146
„Das war nicht meine Idee", gab Michaelina scharf zurück, „sie haben gesagt, ich soll..." „Sie? Wer ist sie?" bohrte Alex nach, sofort misstrauisch geworden. „Wehe, wenn ich herausfinde, dass das eine abgekartete Sache ist!" „Sie? Habe ich ,sie' gesagt? Und entschuldige, aber was meinst du mit .abgekarteter Sache'?" Michaelina hatte sehr schnell von leicht beleidigt auf schwer beleidigt umgeschaltet. Sie richtete sich auf, obwohl sie auch so nicht einmal bis zu Alex' Schulter reichte. „Du selber wolltest es doch! Kriegst du jetzt kalte Füße, willst du die Person nicht wiedersehen, die dir früher am meisten auf der Welt bedeutet hat? Okay, ich bin die Hexe, die am Kontrollschalter steht. Ich kann dafür sorgen, dass es passiert, auch wenn du glaubst, dass ich dazu nicht fähig bin." Alex sagte vorsichtig: „Oh, ich weiß schon, dass du dazu fähig bist." Die Frage war nur: fähig wozu? Michaelina verschränkte trotzig die Arme. „Okay, ich hab's endlich geblickt: Du hast Angst." Und Alex hatte jeden Grund dazu. Sie war schon einmal in den Wäldern von Salem, Massachusetts, gewesen. Geister streiften durch die Dunkelheit. Seltsame
147
Lichterscheinungen hatten sich ihr genähert, waren ihr wie leichte Brisen durchs Haar gefahren, hatten ihr eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. Sie hatte modrige Gewänder gehenkter oder verbrannter Hexen gerochen, hatte die Scheiterhaufen noch glimmen sehen. Halb hysterisch hatte Cam damals geschworen, dass sie von etwas berührt worden sei. Alex selbst hatte halb erstickte, klagende Stimmen gehört, die sie und Cam gedrängt hatten nicht tiefer in den Wald zu gehen, sondern umzukehren. Denn wenn sie im Wald blieben - so waren sie von dieser Stimme gewarnt worden -, würde ihnen ein geliebter Mensch folgen und dabei umkommen. Dieser Mensch war Karsh gewesen. Er war ihnen gefolgt, um sie zu retten. Und genau wie die Geister vorausgesagt hatten, fand er hier im Wald von Salem ein furchtbares Ende. Alex erinnerte sich, wie der tödlich verletzte alte Hexer auf dem Boden gelegen hatte. Sie konnte Ileana sehen, die sich neben ihn kniete, um ihm zu helfen, vergebens, und versuchte seine letzten Worte zu verstehen. Die Alex zwar gehört, aber über all dem Entsetzen und der Trauer, die auf seinen Tod gefolgt waren, fast vergessen hatte. Jetzt erinnerte sie sich irgendetwas über ein Buch ... „Behalten Sie das Wechselgeld. Sind ja eh nur zwei Cent", fauchte Michaelina den Fahrer an. Sie sprang aus dem Taxi und knallte die Türe zu. Das Taxi fuhr rasch davon und Michaelina und Alex blieben in einer Staubwolke zurück. Alex war unendlich erleichtert, als
148
sie entdeckte, dass sie sich in einer ganz anderen Gegend befanden als das letzte Mal, als sie mit Cam zu diesem Wald gekommen war. Der Teil des Waldes, in dem Lord Karsh ums Leben gekommen war, war in der Nähe des Ufers, denn es hatte nach Meeresluft, Salz und Gischt gerochen. Doch dieser Waldabschnitt war trocken; den Boden bedeckte ein weicher Teppich aus Fichtennadeln. Aber auch hier erschien ihr der Wald eigenartig, unheimlich und düster, doch Alex konnte nicht sagen warum. Sie ließ sich von Michaelina einen schmalen Feldweg entlangführen, der den Wald durchschnitt. Doch nach einer Weile kamen sie an einem Schild vorbei, das an einen Baum genagelt worden war: „GALGENBERG" stand in roten Lettern darauf. Sie befanden sich also sozusagen im Revier des Henkers. Genau hier, in diesem Waldstück, waren vor langer, langer Zeit bei der Hexenverfolgung von Salem alle Hexen gehenkt worden, die man weder auf dem Scheiterhaufen verbrannt noch ertränkt hatte. Aber warum sollte sich Saras Geist ausgerechnet hier aufhalten? Sara war Alex' Beschützerin gewesen; sie hatte zwar felsenfest daran geglaubt, dass die Natur in ihrem ganzen Reichtum kranke Seelen heilen könne - aber sie war keine Hexe gewesen. Und sie war auch nicht ermordet worden, sofern man den Tabak nicht als Mörder ansah. Ihr Leben war durch Lungenkrebs zerstört worden, nicht durch eine Galgenschlinge. Außerdem hatte sie, soweit Alex wusste, keine Vorfahren gehabt, die einen Anlass gehabt hätten, in diesem Wald herumzugeistern.
149
„Dort drüben." Michaelina war stehen geblieben und deutete auf ein dichtes Gestrüpp von Koniferen. „Genau dort legen wir einen Heiligen Kreis an." Alex' Magen hüpfte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht richtig geglaubt, dass die Sache wirklich stattfinden würde. Aber jetzt schien sie doch sehr, sehr schnell Wirklichkeit zu werden. So wirklich, dass es ihr vorkam, als sei über all dem Summen und Rascheln der Waldbewohner ein seltsames Atmen zu hören, als warte irgendein Wesen nur darauf angerufen zu werden. Alex sog tief die Luft ein. Irgendwie erwartete sie, bereits jetzt den Duft von Veilchen und Kamille aufzufangen, den vertrauten Geruch ihrer Mutter. Stattdessen stieg ihr etwas anderes in die Nase - ein medizinisch steriler, scharfer Gestank ... „Pass auf!" befahl Michaelina. Mit einem dünnen Zweig in der Hand lief sie herum und zeichnete einen großen Kreis in den Waldboden. Noch bevor sie damit fertig war, zog sie bereits Steine aus ihrem Lederbeutel. „Opale stellen den Kontakt zur Geisterwelt her", verkündete sie. „Und jede Menge Majoran ..." Michaelina hatte eine Kerze mitgebracht, die einmal Cams Kerzensammlung angehört hatte und die sie anscheinend von Cams Nachttisch genommen hatte. „Komm rein." Michaelina streckte ihr die Hand hin. Alex ergriff sie und betrat den Kreis. „Bist du bereit?"
150
Benommen nickte Alex. Ihr Herzschlag dröhnte in den Ohren, sodass sie kaum die Beschwörungsformel verstehen konnte, die Michaelina aufsagte:
„Guter Geist, zeig uns dein Licht, bevor der Tag das Dunkel durchbricht, zeig dich, oh Mutter, die du einst warst, zeig dich der Tochter, die du nicht gebarst, sodass sie dich höre und sehe alsbald, deinen Rat suchend kam sie in den Wald. Wie du einst warst, Sara, zeige dich jetzt, bevor der Tau die Blätter benetzt.
Sei nicht enttäuscht, wenn sie nicht so aussieht wie früher." Michaelina drückte beruhigend und überraschend kräftig Alex' Hand. „Vielleicht sieht sie ganz anders aus, als du sie in Erinnerung hast." Eine Brise kam auf und Alex fröstelte. Ein leises Rascheln war zu hören und von irgendwo im Wald hörte sie nun ganz deutlich Schritte näher kommen. Hinter einem dichten Gestrüpp von Bäumen und Büschen drang plötzlich ein dünner, feiner Lichtstrahl hervor. Alex starrte gebannt in das Licht, das immer heller wurde, bis es so gleißend hell war, dass sie ihre Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, stand eine in
151
einen Umhang gehüllte Gestalt im dunklen Schatten der Bäume, knapp außerhalb des Kreises. Alex' Blick wurde trübe von Tränen und ein Kloß blockierte ihre Kehle. War es ...? „Ja, ich bin es. Ich habe so sehr gehofft, dass du mich anrufen würdest. Ich habe immer darauf gewartet..." Alex schnappte nach Luft. Saras Stimme - sie klang nicht ... heiser. Sie flüsterte nur, aber Alex hörte kein Keuchen, kein Husten. Ein wilder Gedanke schoss durch Alex' Kopf. War Saras Tod zugleich ihre Heilung gewesen, waren die Zerstörungen, die jahrelanges Rauchen angerichtet hatten, aus ihren Lungen und ihrer Kehle verschwunden? „Mom?" fragte sie und schluckte heftig. „Geht es dir ... gut?" „Ja", antwortete die sanfte Stimme. Sara erschien ihr ein wenig größer als früher, als könne sie sich jetzt, befreit von der Last der Krankheit, höher aufrichten als je zuvor. Ihre Augen hatten nicht den warmen Braunton, an den sich Alex erinnerte. Sie hatten das tiefe, dunklere Braun von feuchter Erde; es standen Tränen darin. Hatte sie geweint? Und ihre Haut, die kurz vor ihrem Tod so grau und verfallen gewirkt hatte ? Alex konnte zwar ihr Gesicht nicht klar erkennen, aber die Frau, die hier vor ihr stand, hatte glatte, faltenlose Haut, fast durchscheinend. Alex verspürte plötzlich den Drang zu ihr zu laufen. Sie musste nur einen riesigen Sprung tun, über den Kreis hinweg ...
152
„Wenn du das tust, verschwindet sie wieder", raunte Michaelina und drückte noch einmal Alex' Hand. „Das ist nicht erlaubt." Nur ein Mal in ihrem Leben hatte Alex einen Geist gesehen -ihre Großmutter Leila - und das war nicht die Art von Geist gewesen, der man zu nahe kommen wollte. Aber Sara! Alex forschte im Gesicht ihrer Mutter, fragte sich, ob sich der Geist an all das erinnerte, was sie gemeinsam erlebt und getan hatten, ob sie sie immer noch bei ihrem geliebten Kosenamen rufen würde ... „Lexi", flüsterte der Geist. Nein. Alex wich zurück. Sara hatte Alex immer Allie genannt. Konnte sie es schon vergessen haben? Alex schluckte eine momentane Enttäuschung hinunter. Sie wusste zu wenig darüber, was mit Personen geschah, nachdem sie ... ob sie sich noch an etwas erinnerten oder alles vergaßen. „Mom", sagte sie, „ich hab dir so viel zu erzählen, hab so viel zu fragen ..." „Wir haben nur sehr wenig Zeit. Ich kann nicht lange bleiben", warnte Sara, ohne zu lächeln. Alex holte tief Luft. „Mir geht's gut. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht, denn jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe eine Zwillingsschwester, wusstest du das eigentlich?" Es kam keine Antwort. Alex wiederholte leise: „Mir geht es gut. Alles in Ordnung, Mom."
153
„Daran hab ich nie gezweifelt. Du bist ein starkes Mädchen, Alexandra. Ich hatte immer großes Vertrauen in dich. Du musst mir jetzt genau zuhören. Ich habe dir etwas zu sagen." „Warte noch, okay?" Alex konnte nicht anders, sie musste Sara unterbrechen. Da war noch etwas, das sie seit Saras Tod immer hatte sagen wollen. Jetzt blieben die Worte in ihrer Kehle stecken, sodass sie fast daran erstickte. Aber schließlich stieß sie hervor: „Ich ... es tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen konnte, dich nicht retten konnte. Ich hatte damals noch keine Ahnung von all dem Zeug, das ich jetzt weiß. Ich wusste nicht, wie ich helfen konnte. Aber bald werde ich noch viel mehr können ..." Ein dünner Arm schoss aus dem Umhang des Geistes hervor. Sara hielt die Hand hoch, als wolle sie Alex gebieten zu schweigen. Aber die Schleuse war jetzt offen und Alex konnte nicht mehr aufhören. Sie brach in Tränen aus, schluckend und schluchzend fuhr sie fort: „Ich war ja nur vierzehn! Und wusste noch nicht, wie ich dich retten sollte! Mommy, es tut mir so, so Leid ..." „Reine Zeitverschwendung. Du tust dir nur selber Leid", sagte der Geist tadelnd. Für Alex kam das völlig unerwartet, wie ein Schlag vor den Kopf. „Nein", brachte sie schließlich hervor, „nicht mir selbst, sondern für dich ..."
154
„Für mich ist alles zu spät, Alexandra, aber es gibt andere, die dich brauchen. Die dich in diesem Augenblick um Hilfe bitten. Ich höre sie jeden Tag rufen. Du hast die Kraft, viele sterbliche Seelen zu heilen, aber sie sind zu weit entfernt. Je länger du hier bleibst, desto mehr Schaden richtest du an." Was wollte Sara ihr damit sagen ? Dass sie Menschen Schaden zufügte, weil sie ihrer Pflicht zu helfen und zu heilen auswich, weil sie zu lange in Marble Bay blieb ? Der Geist nickte. Aber dort lebte sie doch jetzt! Mit Dave und Emily, die sie aufgenommen hatten; mit Dylan, dem Bruder, mit dem sie sich glänzend verstand; und ganz besonders mit Cam, der Schwester, die sie brauchte. Und Cade. Der nach Marble Bay zurückgekommen war, nur weil er in ihrer Nähe sein wollte. Als sie noch lebte, hatte Sara Alex' Gedanken nicht hören können. Es war auch gar nicht nötig gewesen, denn sie hatte immer genau gewusst, wie es im Herzen ihrer Tochter ausgesehen hatte. Aber Saras Geist hörte ihre Gedanken und sagte streng: „Du darfst dich nicht von deinen Gefühlen daran hindern lassen, das zu tun, wofür du geboren wurdest. Nicht einmal von ihm ... diesem Jungen." Sie wusste über Cade Bescheid? „Du musst das Haus der Leute verlassen, die dich aufgenommen haben", befahl ihr Sara. „Sie mögen gute Leute sein, aber sie haben nichts mit deinem Schicksal zu tun. Du wirst anderswo gebraucht."
155
Kalte Schauer rannen über Alex' Rücken. Sara befahl ihr also nach Coventry zu gehen ... „Nein, nicht auf die Insel. Du wirst zu Hause gebraucht, in dem Ort, in dem wir beide gelebt haben. Das war mein Auftrag, als man mich dazu bestimmte deine Beschützerin zu sein. Du musst nach Montana zurückkehren. Sofort." Alex konnte nicht glauben, was sie da hörte. Was Sara sagte, kam völlig unerwartet. Tränen drängten sich in ihre Augen, aber sie biss die Lippen zusammen und unterdrückte den Zwang zu weinen. Schließlich stieß sie hervor: „Und du willst wirklich, dass ich das tue ?" „Ich will", sagte Sara mit erbarmungsloser Kälte, „dass du das tust, wofür du bestimmt bist. Ja: Das ist mein Wille." Alex streckte flehend die Hände aus. In der Hoffnung, ihre Mutter nur ein Mal, ein einziges Mal berühren zu dürfen, beugte sie sich vor, streckte die Arme, so weit sie nur konnte. Aber die Stelle, an der der Geist gestanden hatte, war leer. Sara war verschwunden.
156
KAPITEL 13 THANTOS, VERLIEBT
Er hatte ihr das Leben gerettet. Und deshalb hatte Cam eigentlich gar keine andere Wahl, als dem Schlossherrn eine Audienz zu gewähren. Und zwar allein. Denn Miranda, so hatte Than-tos klargestellt, war dabei nicht erwünscht. Miranda hatte sich über Cams jämmerlichen Zustand bei der Rückkehr ins Schloss sehr aufgeregt. Sie machte sich heftige Vorwürfe, weil sie nicht gespürt hatte, in welcher Gefahr ihre Tochter geschwebt hatte. Miranda hatte früher über höchst ungewöhnliche Zauberkräfte verfügt, doch hatte sie diese bei den tragischen Ereignissen zur Zeit der Geburt der Zwillinge verloren. In letzter Zeit hatte sie zu glauben begonnen, dass ihre Kräfte endlich wieder zurückkehrten. Cams Zustand zerriss ihr nicht nur das Herz, sondern nagte auch an ihrem zerbrechlichen Selbstvertrauen. Aber auch Cams Selbstvertrauen hatte einen schweren Schlag einstecken müssen. Sie und Alex waren doch angeblich von Geburt an dazu bestimmt die mächtigsten Hexen zu werden, die es gab. Wie kam es dann, dass sie sich nicht selbst hatte retten können? Und das, obwohl sie doch durch ihre Vision vorher gewarnt worden war und alles hätte kommen sehen müssen. Würde es jetzt immer so sein? Würden ihre Zauberkräfte ohne Alex
157
immer nur die Hälfte wert sein ? War sie ohne Alex vielleicht gar nicht so außergewöhnlich? Cam saß steif in einem der Ohrensessel im Salon des Hauses. Sie wandte dem Kamin den Rücken zu, über dem das mächtige Porträt des Familienpatriarchen Jacob DuBaer hing. Bei ihrem ersten Besuch auf Crailmore hatte Cam sehr widersprüchliche Geschichten über diesen herrischen Hexer gehört. Jacob, der als Arzt ausgebildet worden war, hatte die Hexenverfolgung in Salem überlebt. Thantos verehrte ihn; Ileana verachtete ihn und Cam hatte keine Ahnung, was sie von ihm halten sollte. Jacobs Nachfahr saß ihr direkt gegenüber, in schwarzer Hose und schwarzem Seidenhemd. Die schweren Nietenstiefel ruhten auf einem Fußstuhl und seine ganze Erscheinung war nicht weniger Furcht einflößend als das Porträt seines Ahnen. Selbst für den Sessel, in dem er saß, schien Thantos zu gewaltig. Er hatte die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt und sein mächtiges Kinn mit einer Hand abgestützt. Er betrachtete Cam aufmerksam und durchdringend; mit Sicherheit war ihm bewusst, dass ihr bei dieser eindringlichen Musterung alles andere als wohl zu Mute war. Endlich begann er zu reden: „Was wirst du wohl von mir halten, Apolla, wenn man berücksichtigt, wie viel Gift dir schon eingeflößt wurde?" Cam ließ den Blick zu ihm schweifen. In seinen kohlschwarzen Augen spiegelten sich winzige Flammen
158
des Kaminfeuers. Es war zwar fast schon Sommer, aber das Feuer wurde trotzdem angezündet - und nach Cams Meinung war das auch sehr vernünftig, denn ihr Onkel strömte eine eisige Kälte aus. Sie bemühte sich ihn nicht wütend anzustarren. Was ich von dir halte? Ich halte dich für eine Schlange und für einen Mörder. Mag sein, dass Fredo meinen Vater umgebracht hat, aber irgendwie hat er das für dich getan. Der Hexer hatte natürlich ihre Gedanken aufgefangen und grinste. „Man hat dir beigebracht mich zu hassen seit dem Tag, als du erfahren hast, dass es mich gibt", erinnerte er sie. „Aber frag dich doch einmal selbst: Wenn ich eine mörderische Schlange wäre, wie du glaubst, warum hat dann deine Mutter keine Angst vor mir? Mein lieber Bruder Aron war schließlich nicht nur dein Vater, er war auch Mirandas Mann. Und sie vertraut mir trotzdem." Darauf wusste Cam keine Antwort. Sie hatte sich selbst diese Frage schon oft gestellt. Ileana jedoch, Thantos' eigene Tochter, hielt ihn für die Ausgeburt des Bösen. Aber Miranda, seine verwitwete Schwägerin, hatte eine hohe Meinung von ihm, war ihm dankbar und hatte sich entschlossen unter seinem Dach zu wohnen. Beide waren kluge, leidenschaftliche und starke Frauen, die sich dem Schutz und der Erziehung der Zwillinge widmeten und sich dem wohltätigen Wahlspruch von Coventry verpflichtet fühlten. Wie kam
159
es nur, dass sich die beiden Frauen dermaßen im Widerspruch befanden, wenn es um den Charakter dieses Grauen einflößenden Mannes ging? Thantos schlug die Beine übereinander. „Ich behaupte nicht zu wissen, warum du jetzt hier bist. Aber ich habe mich entschlossen es als ein Zeichen zu betrachten." „Ein Zeichen? Wofür?" Der gewaltige Hexer räusperte sich. „Für jemanden in meiner Position ist es sehr schwer das einzugestehen. Aber ich war nicht immer der beste ... nun, Mann, der ich hätte sein können oder sein wollen. Ich habe mich nicht immer sehr fair verhalten gegenüber ..." „... deiner Tochter?" warf Cam ein. „Ich wusste, dass du sie irgendwann ins Spiel bringen würdest. Ileana ist verbittert und sie hat jedes Recht dazu." Cams Augenbrauen schössen in die Höhe. Ach, hat sie das? Ihr beißender Spott ließ ihn sehr wütend werden. „Es gab Gründe dafür! Komplikationen, die du wahrscheinlich nicht verstehen könntest!", gab er scharf zurück. „Noch nicht. Bald wirst du mehr darüber erfahren. Ich gebe dir mein Wort darauf." Dein Wort? Und was wäre das wohl wert...? Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie mit strenger Miene. Sie brauchte sich gar nicht erst in seine Gedanken einzuloggen, um zu erkennen, was er in diesem Augenblick dachte: Sollte das nicht angeblich der passivere Zwilling sein, der leichter zu beeinflussen war?
160
Doch Thantos brachte seine Wut rasch wieder unter Kontrolle. „Ich will, dass alles besser wird. Ich will das Beste für dich. Wollte ich schon immer." „Dann hast du aber eine seltsame Art mir das zu zeigen!", schleuderte ihm Cam wütend ins Gesicht. „Oder erwartest du vielleicht, dass ich total vergebe und vergesse, wie oft du versucht hast uns zu entführen, in die Falle zu locken, auszutricksen oder sogar umzubringen?" Der Hexer trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels. Seine Stimme wurde lauter. „Ich bin kein sehr geduldiger Mann, Apolla. Wenn ich dich hätte töten wollen, warum habe ich dich dann nicht in diesem Schlammloch versinken lassen? Wenn ich dich wirklich töten wollte, hätte ich das längst getan. Schließlich hatte ich oft genug Gelegenheit dazu." „Nur keinen Erfolg!", widersprach ihm Cam und sah ihm direkt in die Augen. „Jedes Mal kamen dir nämlich Lord Karsh oder Ileana in die Quere." Er holte tief Luft. „Wir haben eine Abmachung", erinnerte er sie. „Du wolltest mir zuhören, und zwar ohne Vorurteile." Cam legte die Hände wie Trichter hinter die Ohren und hielt den Kopf schief. „Ich bin ganz Ohr", sagte sie sarkastisch. „Du machst dich über mich lustig!" Thantos sprang wütend auf und beugte sich drohend über sie. „Ist das dein Dank dafür, dass ich dir
161
das Leben gerettet habe?" Wenn er erwartet hatte, dass sie dieser Wutausbruch beeindruckte, so hatte er sich getäuscht. Ihr Onkel stolzierte zum Kamin und starrte das Porträt von Jacob DuBaer an. Ohne sich von seinem düsteren Ahnherrn abzuwenden, sprach er leise, aber mit entschlossener Stimme: „Es gibt da etwas ... ein Geheimnis, das ich seit vielen, vielen Jahren allein mit mir herumtrage und für mich behalten habe. Ich will es dir jetzt mitteilen." War das die wichtige Sache, von der Miranda und Ileana gesprochen hatten? Die Sache, von der die beiden Frauen nicht reden wollten, solange Alex nicht auch dabei war? Thantos hatte ihre Gedanken gehört und wirbelte herum. „Dazu brauchen wir deine Schwester nicht. Das will ich nur dir mitteilen." Damit hatte er endlich Cams ungeteilte Aufmerksamkeit. „An dem Tag, als du geboren wurdest, dem tragischen Tag, an dem dein Vater getötet wurde, habe ich einen Schwur getan: in jeder nur denkbaren Weise für seine Familie zu sorgen. Du wurdest entfuhrt, wurdest mir weggenommen, aber wenigstens konnte ich das Versprechen gegenüber Miranda erfüllen. Deine Mutter war wie zerstört und ich habe die beste Pflege arrangiert, die man für Geld bekommen konnte. Und all die Jahre habe ich meine Pflicht an keinem einzigen Tag vernachlässigt."
162
„Meine Mutter glaubte, dass wir tot seien, deshalb hat sie so viele Jahre gebraucht, um wieder gesund zu werden", warf Cam leise ein. Vorwurfsvoll setzte sie hinzu: „Aber du wusstest die ganze Zeit, dass wir noch am Leben waren." „Ich wusste nichts davon!", donnerte er und verlor jetzt doch die Fassung. „Karsh war raffiniert und listig. Er hatte seine Methoden, wie er mich über euer Schicksal im Unklaren lassen konnte! Es hat viele Jahre gedauert, bis ich herausfand, dass ihr noch am Leben wart! Und dann schwor ich mir euch zu finden, euch zusammenzubringen - egal, wie lange das dauern würde." Plötzlich ertönte eine andere Stimme. Jemand war unbemerkt ins Zimmer getreten. „War es nicht eine wunderbar günstige Gelegenheit für dich, während die Zwillinge als vermisst galten, über ein ganzes Jahrzehnt lang die Dynastie der DuBaers zu beherrschen und ihr deinen Stempel aufzudrücken? Welch günstige Gelegenheit - und wie gemein!" Thantos und Cam waren beim Klang der Stimme herumgefahren. Ileana war zurückgekehrt. Die herrisch wirkende Hexe, deren goldblondes Haar über die Schultern wallte, ließ ihren Koffer bewusst hart auf den Boden fallen. Und schoss Thantos einen Blick zu, der aus reinstem Gift zu bestehen schien. Seine Augen waren schmal geworden.
163
„Das hier ist ein persönliches Gespräch, Ileana. Bitte geh." „Gehen? Ich? Bin eben erst angekommen. Wurde vorzeitig aus den Ferien gerufen. Jetzt weiß ich endlich warum." Sie verschränkte trotzig die Arme. Thantos befahl Cam: „Sag ihr, dass dieses Gespräch nur uns beide angeht." Cam war überrascht und glücklich, dass ihr Vormund gekommen war, aber Ileanas Zeitplanung hätte nicht schlechter sein können. Sie hatte das interessanteste - und längste - Gespräch unterbrochen, das Cam jemals mit ihrem furchtbaren Onkel geführt hatte. Erzählte er ihr nun die Wahrheit oder spannte er nur ein neues Lügennetz? Es schien ihr sehr wichtig zu erfahren, was der Mann zu sagen hatte, der ihr Schicksal bestimmte. „Du hast gehört, was Apolla denkt", knurrte Thantos. „Oder hast du deine unzuverlässige Magie am Ferienstrand zurückgelassen? Und pass auf, dass dir die Tür nicht in den Rücken fällt, wenn du hinausgehst." Ileanas graue Augen bohrten sich für einen kurzen Moment in Cams. Dann wandte sie sich abrupt um und stolzierte aus dem Raum. Die Tür krachte hinter ihr ins Schloss. „Sie ist natürlich nur eifersüchtig, weil dir und deiner Schwester so viel Aufmerksamkeit zuteil wird.
164
War sie schon immer." Thantos überging den Zwischenfall mit einer wegwerfenden Handbewegung und fuhr mit seinem Monolog fort. „Deine Mutter befand sich viele Jahre lang in einer abgelegenen Klinik in Behandlung und während dieser Zeit... kamen wir uns näher. Bitte versuche das zu verstehen, Apolla. Ich war ihr einziger Besucher, ich kümmerte mich um sie, sorgte für sie, redete mit ihr, versuchte ihre Lebensgeister aufzumuntern, selbst an den verzweifeltsten Tagen. Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte ..." „Du warst der Einzige, der wusste, wo sie war und ob sie noch am Leben war oder nicht!", brach es wütend aus Cam heraus. „Ich ..." fuhr Thantos zögernd fort, ohne auf Cam zu hören, „ich verliebte mich in sie." Was? Wie bitte?! Cams Kinnlade fiel Unmöglich! Sie musste sich verhört haben.
herunter.
„Aber leider erwiderte Miranda meine Zuneigung nicht. Wie konnte sie auch? Meine Geliebte trauerte." Der Hexer lief aufgewühlt im Zimmer auf und ab. „Trauerte um ihren toten Mann, um ihre Töchter. Sie musste erst einmal geheilt werden, musste wieder mit den tot geglaubten Kindern zusammengebracht werden. Und genau das machte ich zu meiner Lebensaufgabe. Dafür brauchte ich viel mehr Zeit, als nötig gewesen wäre, denn - wie du so zutreffend bemerkt hast -Karsh und Ileana warfen mir jedes Mal Steine in den Weg. Aber endlich konnte ich meine Chance wahrnehmen und das habe ich
165
diesem Mädchen zu verdanken, deiner Freundin ..." Welcher Freundin ? Cam war völlig verwirrt. „Ich meine dieses kränkliche Ding, das immer so mager war", erklärte Thantos ungeduldig. „Ich ließ sie in dieselbe Klinik einliefern, in der sich Miranda befand. Ich wusste, dass sie sich dort kennen lernen würden. Und als Miranda die Verbindung erkannte, konnten mich auch Karsh und Ileana nicht mehr aufhalten." Cam schüttelte den Kopf, um wieder klarer denken zu können. Ihre Freundin Brianna hatte an Magersucht gelitten und war in eine Klinik eingewiesen worden. Behauptete Thantos wirklich, er habe es absichtlich arrangiert, dass sie in dieselbe Klinik gebracht wurde, in der sich auch Miranda befand ? Wie sollte das möglich gewesen sein? Aber Cam fand sofort die Antwort: Er hatte Brice Stanley eingeschaltet, um Briannas Vater, einen Filmproduzenten, zu beeinflussen. Brice Stanley, der Hollywoodstar - und ein Hexer, der auf Coventry aufgewachsen und ausgebildet worden war. Der Ileanas Freund war. Er musste Brees Vater die Klinik empfohlen haben. „Aber woher wusstest du, dass Brianna ... ärztliche Hilfe brauchte?", fragte Cam, der es unheimlich vorkam, dass sich Thantos so intensiv in ihr Leben einmischte. „Hast du uns ständig beobachtet? Alex und mich und meine Freundinnen ... jede Bewegung ..." Cam war so erschüttert, dass ihre Stimme versagte. „Unterschätze mich nie!", brüllte Thantos plötzlich und völlig unerwartet.
166
Seine tiefe Stimme hallte in dem großen, hohen Raum wider. Cam zuckte zusammen und die Furcht krallte sich um ihr Herz. Sie atmete heftig und ihr wurde schwindlig. Während die Stimme ihres Onkels weiterdröhnte, versuchte sie das zu begreifen, was ihr gerade erzählt worden war ... Schließlich war Thantos so in Rage, dass er sich über sie beugte und sie an den Schultern packte und schüttelte. „Ich werde deine Mutter heiraten!", sagte er sehr klar und kalt. „Und du wirst mir helfen uns zusammenzubringen. Wir werden eine Familie sein, Apolla. Meine Familie."
Voller Wut hatte Ileana den Salon verlassen, aber sie war nicht weggegangen. Nachdem sie die Tür zugeknallt hatte, lehnte sie sich neben dem Türrahmen an die Wand und lauschte begierig auf jedes Wort, das ihr bösartiger Vater sagte. Sie hatte darauf verzichtet Miranda zu rufen, obwohl es wichtig gewesen wäre, dass sie hörte, was gesprochen wurde, aber dann hätte Ileana womöglich einen Teil von Thantos' erstaunlichem Geständnis verpasst. Aber jetzt wünschte sie sich beinahe, sie wäre schnell zu Miranda gelaufen, um sie zu holen. Er liebte Miranda! Was für ein schleimiger Schurke! Thantos versuchte, und zwar recht meisterhaft, Cam zu manipulieren, offenbar wollte er sie auf seine Seite ziehen - und Miranda für alle Zeit an ihn fesseln. Die ganze Sache war nichts weiter als ein übler Betrug, um sich in
167
Cams Vertrauen einzuschleichen und sie zu zwingen alles anzuzweifeln, was Ileana und Karsh ihr beigebracht hatten. Sicherlich würde Cam diesen ganzen Quatsch weit von sich weisen. Und sicherlich würde sie sehr schnell erkennen, was für ein verlogener Intrigant er war. Ein machtbesessener Hexer, der vor nichts und niemandem zurückschreckte, um sein Ziel zu erreichen: absolute Kontrolle über die reiche und angesehene DuBaerDynastie. Aber das sollte niemals geschehen. Lord Karshs Aufzeichnungen machten das sehr deutlich. Die Führung der Familie und die Kontrolle über ihr Vermögen mussten in die Hände von Arons Töchtern übergehen. Ah, er ist clever, mein so genannter Vater, überlegte Ileana zornig. Aber auch sie war clever genug, um es mit ihm aufzunehmen. Er hatte sich geweigert sie großzuziehen oder auch nur anzuerkennen. Aber sie hatte sein Blut in den Adern, seine Gene und sie konnte genauso gerissen sein wie er. Eines war ihr klar: Sie durfte sich nicht von ihrem Ärger, ihrer berechtigten Wut hinreißen und damit schwächen lassen. Immer wieder hatte Karsh sie davor gewarnt. Karsh, der Hexer, der Ileana aufgenommen und großgezogen hatte, musste sie aus genau diesem Grund zur Beschützerin der Zwillinge ernannt haben. Nicht nur, um die Mädchen zu schützen und ihnen zu helfen, sondern auch, damit sie selbst
168
lernte ihre vorschnellen und äußerst heftigen Emotionen zu beherrschen. Nun, Ileana war fest entschlossen, dem Vertrauen gerecht zu werden, das der weise alte Mann in sie gesetzt hatte: Sie würde Cam vor der größten Gefahr bewahren, die ihr jemals gedroht hatte. Und sie würde vorsichtig vorgehen und erst dann zuschlagen, wenn die Zeit reif war. Jetzt nicht, noch nicht. Ileana nahm eine runde Goldmedaille aus ihrer Tasche. Sie zeigte einen tanzenden Bären. Als Cam wie betäubt den Salon verließ, schob Ileana ihr die Medaille in die Hand. Das Familienamulett der DuBaers besaß gewaltige Magie. Cam würde seine Kraft dringend brauchen.
169
KAPITEL 14 CIAO, I CH MUSS GEHEN
Sie fühlte sich verloren statt in Sicherheit, bedrückt statt erleichtert, ärmer statt bereichert. Als Alex nach Hause zurückkehrte, war es bereits heller Morgen. Die seltsame Begegnung mit ihrer Mutter im Wald hatte eine kaum verheilte Wunde neu aufgerissen. Sie hatte ein Wunder erleben dürfen. Sie hatte die Chance bekommen Sara noch einmal zu sehen - und ihrer einzigen echten Mutter zu sagen, dass es der Tochter, die sie zurückgelassen hatte, gut ging, dass sie versorgt und sicher lebte. Sie hatte Gelegenheit bekommen, um Verzeihung zu bitten, die Schuldgefühle endlich zu bewältigen, die sie seit Saras Tod geplagt hatten - dass sie das Leben ihrer Mutter nicht hatte retten können. Eine letzte Chance. Sie hatte darum gebeten und sie gewährt bekommen. Doch es gab nichts umsonst. Hatte nicht Sara selbst ihr das beigebracht? Auch für den Besuch aus dem Jenseits war ein Preis fällig. Alex war gezwungen worden, einen
170
prüfenden Blick auf ihr neues Leben zu werfen. Sie musste zugeben, dass sie dieses neue Leben zum größten Teil schätzte und sogar liebte. Und jetzt erklärte ihr ihre verstorbene Mutter, dass sie all das hinter sich lassen müsse. Alex war es nicht gewohnt rationale Entscheidungen zu fällen. Normalerweise handelte sie impulsiv, ohne lange abzuwägen. Dafür war Camryn zuständig, der geduldige, nachdenkliche Zwilling, der alles erst einmal durchdenken musste. Doch als sich Alex nun die mit dickem Teppich belegten Stufen zu ihrem Zimmer hochschleppte, versuchte sie Cams Denkweise zu übernehmen. Sie musste sich zwingen, wie ihr Zwilling zu denken. Im Schlafzimmer holte sie einen Spiralblock aus ihrer Schultasche und warf sich aufs Bett. Dem ersten Blatt gab sie die Überschrift: Was ich sicher weiß. Karsh hatte sie nach Marble Bay ins Haus der Familie Barnes gebracht. Der gütige alte Hexer hatte immer nur ihr Bestes im Sinn gehabt. Er hatte sie seit ihrer Geburt beschützt. Wenn es wirklich ihr Schicksal gewesen wäre, nach Saras Tod in Montana zu bleiben, warum hatte er sie dann quer durchs Land hierher gebracht?
171
Vor einem Jahr. War das vielleicht der Grund? Hatte sie ein Jahr bekommen, um mit ihrer Zwillingsschwester, die sie nie gekannt hatte, eine Beziehung aufzubauen? Zwölf miese Monate, um herauszufinden, wer sie eigentlich war, und um das Leben kennen zu lernen, für das sie bestimmt war - nur um dann nach Crow Creek zurückgeschickt zu werden ? Erschöpft schloss Alex den Notizblock, ließ den Kugelschreiber zu Boden fallen und nahm den Telefonhörer auf. In Montana war es zwar erst fünf Uhr morgens, aber sie hatte eine Menge zu tun. Alex hatte den Kontakt zu ihrer Clique in Montana immer gepflegt. Vor allem am Anfang. Aber in letzter Zeit vielleicht etwas weniger, dachte sie schuldbewusst. Sie rief ihre alte Freundin Lucinda an. Nur um mal wieder Kontakt aufzunehmen, redete sie sich ein, und um Luce' ständig aufgeregt klingende Stimme wieder mal zu hören. Schon beim ersten Läuten machte sie sich klar, dass sie bei ihrer Freundin nichts von dem loswerden konnte, was in der Nacht passiert war. Wie auch ? Was hätte sie ihr denn erzählen können, ohne in Lucindas Augen als Verrückte dazustehen? Zuerst einmal hatte Alex allerdings sehr viel Mühe ihre Freundin zu überzeugen, dass sie nicht träumte. Und dass nichts Schlimmes passiert war. Erst dann öffnete Lucinda endlich ihre Tratsch-Kiste.
172
Sie war völlig begeistert, dass Alex anrief, und verlangte sofort jedes noch so pikante Detail über Cade zu erfahren - und konnte sich selbst nicht zurückhalten Alex von Andy Yatz vorzuschwärmen, ihrer „Größten-Liebedieses-Lebens". Luce war noch ganz die Alte - immer gut drauf und unkompliziert. Sie brachte Alex zum Lachen und weckte ein wenig ihr Heimweh, als sie vom Big Sky erzählte, dem Wild-West-Freizeitpark, in dem Alex einmal in den Ferien gearbeitet hatte. „Der Park läuft immer besser", berichtete Luce. „Immer mehr Leute verbringen ihre Ferien hier und alles, was mit dem Wilden Westen und Amerika zu tun hat, interessiert sie. Dabei ist nichts im Park wirklich echter Wilder Westen!" Ob echt oder nicht, die Parkverwaltung hatte schließlich Lucindas armseligen Lohn ein wenig aufgebessert. Nicht viel, aber genug, um einen Teil davon fürs College auf die hohe Kante legen zu können. Lucinda war immer eine Träumerin gewesen, aber jetzt sah es so aus, als arbeite sie hart daran ihre Träume zu verwirklichen. Sie tratschten über eine Stunde lang. Dann weckte Alex ihr nächstes Opfer: Evan, den wichtigsten Jungen ihres früheren Lebens, den Freund auf ewig. Ihm schien es bemerkenswert gut zu gehen. Seine Mutter erholte sich langsam von ihrer Alkoholsucht und war offenbar schon seit mehreren Monaten trocken, hatte Arbeit gefunden und war glücklicher als je zuvor. Auch Evan arbeitete im Big Sky, verdiente in diesem Sommer
173
ein paar Dollar dazu, um seiner Mutter bei der Miete zu helfen, und würde vielleicht noch ein wenig übrig haben, um eine gebrauchte Gitarre zu kaufen. Und schüchtern berichtete er, dass es da auch ein Mädchen gebe ... Als bei Doris Bass, der Dorfbibliothekarin und langjährigen Freundin von Sara und Alex, das Telefon klingelte, war sie schon seit Stunden auf den Beinen. Sie war überglücklich von Alex zu hören - „der früheren Haupteinnahmequelle der Bücherei, Rekordhalterin bei den Mahngebühren wegen verspäteter Buchrückgabe". Gut gelaunt erzählte sie Alex, dass Crow Creek im Rahmen eines Entwicklungsprogramms für ländliche Gebiete von der Regierung und auch von privaten Unternehmen Geld bekommen habe. Es gebe jetzt mehr Jobs und der unerwartete Überschuss im Dorfhaushalt wurde dazu verwendet die Schule zu renovieren. Alle schienen sehr hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Crow Creek, Montana, brauchte Alex? Weniger als je zuvor. Und trotzdem ... Bevor sie duschte und sich anzog, rief sie noch im PITS an. Heute war erst ihr zweiter Arbeitstag und schon musste sie melden, dass sie erst später kommen würde.
„Hi, Büromaus." Alex hämmerte kräftig an die dünne Trennwand, mit der Cades Schreibtisch von den übrigen
174
Arbeitsplätzen im Großraumbüro abgetrennt war. Sie war unangemeldet an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht. Er war erstaunt, aber keineswegs verärgert. Auf seinem Gesicht spiegelte sich reine Freude. Im selben liebevollspöttischen Tonfall gab er zurück: „Hi, Prinzessin. Wieso haben sie dich durch die Sicherheitskontrollen gelassen?" „Hab nichts zu verbergen." Alex hob beide Arme und drehte sich um sich selbst, um ihm das lavendelfarbene, äußerst knappe Top, die verwaschene Jeans und die ausgelatschten lila Mokassins vorzuführen. Er betrachtete sie verliebt. „Jetzt versteh ich", er grinste breit. „Du hast die Sicherheitsleute geblendet." Sie errötete plötzlich. Wurde erst rosa, dann dunkelrot, als er ihr aus einem Impuls heraus den Arm um die Taille legte, sie an sich zog und küsste. Alex schnappte nach Luft. „Wir müssen mal miteinander reden." „Oh, oh ..." Cades Augenbrauen schnellten hoch. „Das klingt aber gar nicht gut." Genau. Vielleicht hätte sie anders anfangen sollen. Gespräche, die mit diesem Satz begannen, endeten selten harmonisch. Sie schob ihm den Arm um die Taille. Wenigstens war er vorgewarnt. „Ich denke mal, dass das unter vier Augen ablaufen sollte", vermutete er und führte sie aus seinem Abteil und durch das Büro in den Flur hinaus. „Ich weiß
175
zuverlässig, dass Luke McDonald gerade eine lange Mittagspause einlegt. Wir können in sein Büro. Ich bin sicher, dass es ihm nichts ausmacht, solange wir dort nichts anderes machen als reden." Alex seufzte bedauernd, verkündete aber, dass sie nichts anderes vorhabe. Nur reden. Sie wusste, was sie ihm sagen wollte. Sie wusste nur nicht wie. Cades Familie bestand aus seinem Vater und seiner älteren Schwester - eine Mutter gehörte nicht dazu. Sie starb, als Cade ungefähr sechs war, hatte er ihr erzählt. Cades Vater hatte die Kinder so gut wie möglich allein erzogen. Er sei ein wirklich guter Kumpel, hatte Cade gesagt. „Cade", begann sie jetzt mit ernster Miene. „Wenn du mit deiner Mutter noch einmal reden könntest, nur ein einziges Mal, was würdest du zu ihr sagen?" Cade starrte sie verblüfft an. „Mit ihr reden ? Du meinst, wie in einer Seance, einer schwarzen Messe oder so ? So was wie Parapsychologie ?" So ähnlich und doch ganz anders. Aber Alex nickte. „Gibt es etwas, was du sie immer fragen oder ihr erzählen wolltest?" Cade zuckte die Schultern. „Eigentlich nicht. Ich war noch zu klein, als sie starb nicht wie bei dir. Und ich glaube sowieso nicht an solches Zeug. Ich halte das für einen großen Schwindel, man nutzt nur die Schwächen der Leute aus."
176
„Glaubst du wirklich?" „Absolut. Wenn man jemanden verliert, den man wirklich liebt, dann ist man natürlich besonders verwundbar und braucht Zuwendung. Also kommt ihm so ein direkter Kontakt zum Jenseits unglaublich verlockend vor. Die Leute sehnen sich so danach zu glauben, dass es möglich ist, dass sie sich sehr leicht verführen und um ihr Geld betrügen lassen. Was ich glaube? Ich glaube, wenn man tot ist, ist man tot. Punkt. Sag mal, hast du eigentlich keinen Hunger?" Es war ihr klar gewesen, dass Cade so denken würde. Er war schließlich kein Hexer. Ihm musste die Sache mit dem Kontakt zu Geistern wie ein gewaltiger Schwindel vorkommen. Alex war an einer Weggabelung angekommen; sie musste sich entscheiden. Sie hatte immer gewusst, dass sie einmal hier ankommen würde, und hatte versucht der Entscheidung auszuweichen. Innerlich war sie aufgewühlt, wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Also spielte sie erst einmal auf Zeit. „Ich hab letzte Nacht von meiner Mutter geträumt. Ein Traum, der mir wirklich sehr ... echt vorkam." Sie brach ab. „Okay", sagte er nach einer Pause und wartete, dass sie weiter sprach. „Sie ... sie hat angedeutet ..." Alex wich seinem Blick aus. „Nein, eigentlich hat sie deutlich gesagt..." Sie ließ den Kopf sinken und starrte ihre ungepflegten, abgebissenen Fingernägel an. „Dass ich zurückgehen muss ... nach Hause, nach Montana. Und zwar bald."
177
Wieder entstand eine Pause, dieses Mal länger. Alex' Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie sagte: „Cade, ich gehe. Zurück nach Montana." Cade starrte sie fassungslos an. „Willst du damit sagen, du hast von deiner Mutter geträumt und sie hat dir befohlen zu gehen - und du glaubst das auch noch? Das ist doch wohl ein Witz, oder? Du wohnst seit einem Jahr hier. Du hast eine neue Familie, neue Freunde, gehst hier zur Schule. Und ich weiß zwar, dass es nicht um mich geht, aber ich bin gerade hierher zurückgekommen, Alex, weil ich dachte, zwischen uns sei etwas." Zwischen uns ist doch etwas, wollte sie schreien, nur manchmal ist etwas eben nicht genug! Sie blickte ihn endlich wieder an und hätte am liebsten geweint. Seine blauen Augen irrten über ihr Gesicht, verzweifelt nach einem Anhaltspunkt suchend, ob es ihr ernst war oder ob sie nur einen schlechten Scherz gemacht hatte. Cade wirkte betroffen und verletzt. Aber sie musste noch etwas anderes in Erfahrung bringen. „Hast du eigentlich vor hier zu bleiben, wenn der Sommer vorbei ist? Hätte das dein Vater erlaubt?" Jetzt wich er ihrem Blick aus und starrte blind Luke McDonalds Urkunden und Fotos an, auf denen der Vizepräsident mit verschiedenen Berühmtheiten zu sehen war. „Ehrlich, Al-lie", sagte Cade schließlich und rieb nervös die Hände, „ich weiß es nicht. Ich hab
178
gedacht, dass mir das irgendwie klar werden würde, wenn ich erst einmal hier bin." „Du hast dich also noch nicht in der Schule angemeldet?" fragte Alex hartnäckig. Cade sprang auf und lief unruhig im Büro hin und her. „Alex, ob ich hier bleibe oder nicht, hat doch nichts damit zu tun, ob du nach Montana zurückgehst. Ich meine, dass du zurückgehen willst, nur weil du geträumt hast, dass ... Weißt du eigentlich, wie total verrückt das klingt?" Erster Akt: Alex flippt im Mariner's Park völlig aus, verwechselt Michaelinas blödes Gerede mit Cades Gedanken. Zweiter Akt: Alex kommt scheinbar zur Vernunft, glaubt dann aber, dass ihr die Mutter aus dem Jenseits befielt ihr Leben auf den Kopf zu stellen. „Ich kann es mir denken", gab sie zu, „aber trotzdem: Es könnte schon sehr bald passieren." Cades nächste Bemerkung kam völlig unerwartet; sie hatte nicht damit gerechnet, dass er diese Verbindung herstellen würde. „Dieses seltsame Mädchen, Michaelina ... hat sie etwas mit deiner plötzlichen Entscheidung zu tun aus Marble Bay abzuhauen?" „Wie kommst du denn darauf?", fragte sie gereizt. Er zuckte die Schultern. „Weiß nicht. War nur so ein Gefühl."
179
Cade nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände. „Hör mal, ich verlasse mich immer auf meinen Instinkt. Und der sagt mir, dass man diesem Mädchen nicht vertrauen sollte." Alex wandte den Kopf ab und wich seinem Blick aus.
Sie hätte von Cades Büro direkt zur Arbeit gehen können. In diesem Fall hätte sie sich nur wenig verspätet. Stattdessen ging sie nach Hause. Sie musste mit Cam Kontakt aufnehmen, das durfte nicht länger warten. Denkmails hatten nicht funktioniert, also wollte Alex eine Methode anwenden, die bisher immer funktioniert hatte: eine E-Mail an Ileana schicken und sie bitten die Botschaft an Cam weiterzuleiten. Sie fuhr Cams Computer hoch und ging online. Und dabei fiel ihr etwas Seltsames auf. Auf dem Monitor erschien unter „Posteingang" die Liste der Mails, die Cam bekommen hatte, bevor sie nach Coventry gereist war. Aber es war nicht ihr normales E-Mail-Postfach cambie@mb. com. Ihre Schwester hatte also noch ein geheimes Postfach. Alex brauchte sehr viel weniger als eine Sekunde, um zu entscheiden, ob sie Cams Privatsphäre respektieren - oder Cams neueste E-Mails lesen sollte.
180
Die Schnüfflerin in Überzeugungsarbeit.
Alex
gewann
ohne
große
Für das Passwort brauchte sie nicht viel Grips. Es war das gleiche wie das für Cams normales Postfach. Aber die Liste der Absender im geheimen Postfach
[email protected] unterschied sich völlig davon. Alex öffnete den Posteingang, ohne mit der Wimper zu zucken. Die E-Mails kamen alle von einer einzigen Person. Ihr Inhalt überraschte sie nicht, sondern machte sie traurig. Und dann wütend. Es war so leicht zu erkennen, dass Shane ihre Schwester hereingelegt hatte! Dieses ganze Geschwafel im Stil von „Ich brauche dich, komm zurück nach Coventry"! Schwindel und Betrug in höchster Vollendung! Der Junge war verdorben, und zwar durch und durch. Eine Sekunde lang trat Alex auf eine geistige Bremse. War sie nicht dabei zu übertreiben? Eine Überreaktion? Vielleicht hatte sie sich von Ileana anstecken lassen, der misstrauischen Hexe, die absolut niemandem vertraute? Vielleicht wollte sich Shane ehrlich bessern, vielleicht brauchte er dazu wirklich eine starke Dosis eines Medikaments namens Cam? Eher nicht.
181
Jeder auch nur halbwegs vernünftige Mensch, der nicht Cam hieß, würde klar erkennen, dass er ihr einen ganzen Sack voller Lügen aufgetischt hatte. Und das war der Augenblick, in dem Alex auf die Wahrheit stieß - hart und frontal. Jeder halbwegs vernünftige Mensch, der nicht Alex hieß, würde klar erkennen, dass Michaelina ihr genau dieselbe „Hilf-mir-doch-mich-zu-bessern"-Story aufgetischt hatte. Es war alles so klar, so offensichtlich! Selbst Cade als NichtHexer hatte den ganzen Schwindel sofort durchschaut. Cam die Leichtgläubige ? Alex musste sich eingestehen, dass sie selbst genauso großen Anspruch auf den Titel hatte. Und das führte sie direkt zur nächsten Schlussfolgerung: In welcher Gefahr Cam auch gesteckt haben mochte, er steckte dahinter - Shane. Und in welche Gefahr wollte Michaelina sie, Alex, locken? Sie würde nicht warten das alles herauszufinden. Aber erst einmal würde sie ihre Schwester irgendwie erreichen müssen. Die Rettung Montanas konnte warten. Aber Cam durfte nicht warten. Und in diesem Augenblick begann das Telefon zu läuten.
182
KAPITEL 15 CAMS RACHE
Nach dem Vier-Augen-Gespräch mit Onkel Thantos war Cam total geschafft. Blackout. Emotionaler K.-o.-Schlag. Sie hatte sich alles angehört, ohne es in diesem Moment richtig verarbeiten zu können, was er ihr erzählt hatte. Dass er bei der Leitung des Familienunternehmens einen sehr erfolgreichen Job leiste. Dass er die Dynastie der DuBaers genau in Arons Sinn geführt habe. Dass Thantos sich auch bei der Leitung der DuBaer Industries an Arons Wunsch gehalten habe, das Unternehmen immer zum Wohl der Menschheit arbeiten zu lassen. Wusste Cam eigentlich, dass er, Thantos, es gewesen war, der jeden Bürger von Coventry mit einem Computer ausgestattet hatte? Die Großmut des Thantos DuBaer wurde, Thantos DuBaer zufolge, von niemandem übertroffen. Und seine Großmut würde noch weiter zunehmen, er würde noch besser, noch mächtiger sein, hatte Thantos bescheiden hinzugefügt, wenn Miranda ihn heirate. Und wenn Camryn zustimme bei ihm und Miranda zu leben und mit ihnen eine Familie zu bilden. „Alex", hatte Cam tonlos eingeworfen, „du hast Alex vergessen."
183
„Ja, ja, selbstverständlich auch Alex", hatte der Hexer ungeduldig zugestimmt, „natürlich auch Alex." Ihr Onkel hatte so sehr auf sie eingeredet, dass Cam unter einer Art Informationsüberlastung fast zusammengebrochen wäre. Sie war förmlich aus dem Salon getaumelt, hatte kaum bemerkt, dass Ileana vor der Tür lauerte, hatte kaum ihr Versprechen gehört: „Wir lassen Alex herkommen. Sie wird bald hier sein. Sei geduldig, Apolla. Warte, bis Miranda und ich dir alles erklären können, dir alles zeigen können, was du wissen musst." Und Ileana hatte ihr ein Medaillon in die Hand gedrückt, eine Münze. Aber auch das hatte Cam kaum wahrgenommen, sondern war zuerst benommen in ihr Badezimmer gegangen, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Erst als sie den Wasserhahn aufdrehen wollte, fiel die Goldmünze aus ihrer Hand. Sie trug eine Prägung, die Cam sofort erkannte: einen gekrönten Bären - das Wappentier der Familie DuBaer. Und instinktiv wusste sie, dass dieses Medaillon genauso große Zauberkraft hatte wie das Sonnenamulett, das ihr Vater für sie geschmiedet hatte.
Cam hatte das Abendessen ausfallen lassen. Sie hatte keinerlei Appetit. Es hatte sie fast ihre ganze Kraft gekostet sich zum Computer in der Bibliothek von Crailmore zu schleppen und sich in das E-Mail-
184
Programm einzuloggen. Sie hatte eine kurze und dringende Mitteilung getippt: Alex, ich brauche dich. Dann war sie in Arons Zimmer gegangen und war sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.
Shanes telepathische Nachricht hörte sie nicht. Sie wusste auch nicht, dass er versucht hatte sie zu besuchen und dass er vom Personal weggeschickt worden war. Dass er hier gewesen war, erfuhr sie erst, als sie am nächsten Morgen im Bett frühstückte. Neben ihrem Gedeck lag ein Zettel. Ich muss mit dir sprechen. Es ist dringend. Ich warte vor dem Schlosstor auf dich. Wenn es sein muss, warte ich den ganzen Tag. Cam schob das Tablett von sich und kämpfte den Drang nieder sich in die Kissen zurücksinken zu lassen und weiterzu-schlafen. Sie litt an ZVN - zu vielen Neuigkeiten. Allmählich wurde ihr klar, dass sie zuerst einmal über alles nachdenken musste, was sie erfahren hatte. Aber womit sollte sie anfangen? Etwa mit Thantos' schockierendem Geständnis, dass er Mi-randa liebte ? Und dass er von Cam verlangte - was verlangte er eigentlich von ihr? Ihren Segen? Ihr Einverständnis? Dass sie Miranda überredete ihn zu erhören? Oder ging es nicht eher um seine beiläufige Bemerkung, dass er das Leben der Zwillinge bestimmen könne? Beweisstück A: Die Begegnung von Bree und
185
Miranda hatte verwirklicht.
Thantos
meisterhaft
geplant
und
Und B: Was war mit Cams Beinahe-Tod im Treibsand? Wie hatte Thantos es geschafft genau zum entscheidenden Zeitpunkt aufzutauchen und wie ihr Racheengel aufzutreten ? Es war fast Mittag, als sie endlich aufstand und sich anzog. Crailmore schien verlassen, wenn man von den Dienstboten absah. Sie checkte ihre Mails - aber immer noch keine Antwort von Alex. Nirgendwo ein Zeichen von ihrer Mutter oder von ihrem Onkel. Ileana, vermutete Cam, war wahrscheinlich in ihr eigenes Haus zurückgekehrt. Cam dachte kurz daran, sie dort zu besuchen. Sie stand bereits an der großen Eingangstür, als ihr ein Gedanke kam. Sie zögerte. Was wäre, wenn ...? Wenn in dem, was Thantos ihr gesagt hatte, doch ein Körnchen Wahrheit steckte? Wenn Ileana ihren Vater tatsächlich so hasste, dass sie nicht mehr unvoreingenommen denken konnte, und als Beraterin ausschied? „Erzähl es mir. Ich werde dir zuhören", sagte eine Stimme. Cam blickte auf. Gedankenversunken war sie Richtung Tor gelaufen und hatte es fast erreicht. Und dort stand Shane. Wie er angekündigt hatte, wartete er dort auf sie, voller Reue, mit einem Hundeblick in den Augen. „Nein", sagte sie erschrocken.
186
Er hob beide Hände, eine Geste, die andeuten sollte, dass er bereit war sofort nachzugeben, sie aber auch um Geduld bitten wollte. „Bitte, ich muss mit dir reden. Es geht um das, was gestern ..." „Gestern - das sind zwei verschiedene Dinge. Gestern hast du mir weismachen wollen, dass mir nichts passieren würde, und gestern hast du absolut gar nichts unternommen, um mich zu retten. Welches Gestern meinst du?" Er ließ niedergeschlagen den Kopf hängen und sagte flehend: „Du wirst mir doch nicht glauben, ich weiß. Aber es war Sersee ..." Cam schämte sich fast - für ihre Leichtgläubigkeit, aber auch für das, was ihr Herz ihr einflüsterte. Sie öffnete einen der gewaltigen Torflügel und ließ Shane in den Park - aber dieses Mal würde sie im Park bleiben, egal, was er ihr mitteilen wollte. „Was war Sersee ?", drängte sie ihn. Ziemlich entsetzt stellte sie fest, dass sie Shane zwar nicht mehr vertraute, sich aber immer noch zu dem verräterischen Hexer hingezogen fühlte. Er griff gierig nach der Chance sein Verhalten erklären zu dürfen. „Ich habe die halbe Nacht gebraucht, aber dann ist es mir gelungen ihr einen starken Wahrheitsbann aufzuerlegen. Und da hat sie dann endlich alles zugegeben." Cams Magen verkrampfte sich. Es war ein fast schon vertrautes
187
Gefühl. Noch bevor er weitersprach, wusste sie, was er ihr erzählen würde. Aber diese Vision war seltsam verschwommen, undeutlich, wie unter einem Grauschleier, als habe jemand versucht eine Schrift an der Wand zu übertünchen. Ihr Sturz in den Sumpf sei kein Unfall gewesen, erklärte er ihr, sondern eine Falle, die Sersee gestellt habe. Sersee sei bösartig und neidisch und natürlich habe sie gewusst, dass sich unter der Wasseroberfläche tückischer, tödlicher Treibsand verbarg. Sie habe sogar damit geprahlt, dass sie nur deshalb vertraulich mit Cam habe reden wollen, um sie unter einen mächtigen Zauber setzen zu können und so ihr Misstrauen zu zerstreuen. Sie habe ganz bewusst Cams Fairness ausgenutzt und „diese naive Tussi vom Festland" gezwungen ihr noch eine Chance zu geben. Und damit habe sie es geschafft Cam wie einen Magnet an sich zu ziehen und ihren tödlichen Plan auszuführen. Shane behauptete, Sersee habe einen Fluch über ihn verhängt, der ihn lähmen sollte, damit er sich nicht in ihren Plan einmischte. Außerdem habe sie auch dem Rest der Gruppe eine kräftige Dosis Kräuter verpasst, um sie zu verwirren und zu lähmen, sogar ihrem Lehrling, dieser armseligen Epie. Aber Sersee habe nicht mit Thantos gerechnet. Durch den Grauschleier ihrer Vision sah Cam die beiden zusammen - den riesigen furchtbaren Hexenmeister mit seinem grauenhaften Grinsen und neben ihm die unterwürfige junge Hexe. Warum hatte sie ausgerechnet der eigensüchtigste Hexer der ganzen Insel gerettet?
188
Shane gab ihr eine Erklärung: „Du hast nach jemandem gerufen, der dich liebt." Cams Kinnlade fiel herunter. Selbst in ihren wildesten Träumen wäre sie nicht auf die Idee gekommen Thantos auf die Liste ihrer Verehrer zu setzen. „Ich hab eine Idee." Shanes reuevoller Hundeblick wich plötzlich einem schadenfrohen Glitzern. „Du könntest dich an ihr rächen. Du bist schließlich auch eine Hexe mit starker Magie. Das schuldest du dir - nach allem, was sie dir angetan hat." Cam schüttelte den Kopf, nicht ablehnend, sondern um die seltsame Vision loszuwerden. Sie besaß starke Magie ? Nicht ohne Alex. Shane hörte ihre Gedanken und küsste sie auf die Stirn. „Deine Schwester ist nun mal nicht hier. Aber ich", flüsterte er. „Und ich würde mich liebend gern an Sersee rächen. Sie hat mich hilflos gemacht, hat mich daran gehindert dich zu retten. Deshalb hasse ich sie." Die Wörter Rache und Hass sprangen Cam geradezu ins Gesieht. „Nein", sagte sie leise, „dafür haben wir unsere Zauberkräfte nicht bekommen. Das weißt du genau." „Sersee hat versucht dich zu töten, Cam! Jetzt schon zum zweiten Mal! Sie hat dich angelogen, dich getäuscht, dich feige von hinten angegriffen. Und außerdem", redete er schnell weiter, sodass sie ihn nicht unterbrechen konnte, „wird sie das nicht umbringen, was ich vorschlage.
189
Sterben wird sie nicht dabei, nur so wird sie vielleicht ihr bisheriges Leben ändern."
Cam hatte über Shanes Plan gegrübelt, seit er nach ihrem Gespräch losgegangen war, um Sersee zu holen - und bis zu dem Augenblick, als sie die Glocke am Parktor läuten hörte. Ihre Gäste waren eingetroffen. Während sie wartete, hatte sie hundertmal die Meinung geändert. In einem Moment hielt sie Shanes Einfall für falsch und völlig unverantwortbar, im nächsten Moment verspürte sie eine geballte Ladung Energie durch ihren Körper pulsieren, sobald sie nur an den Plan dachte. Es war eine unangenehme, aber aufregende Energie, eine Kraft, die nicht von ihrem Sonnenamulett oder ihrem edlen Erbe kam, sondern von schierer Schadenfreude genährt wurde. Immer noch unentschlossen, öffnete Cam das Tor und ließ Shane und Sersee herein. Ein Blick in das hochmütig verzogene Gesicht der schwarzhaarigen Hexe genügte vollkommen. Noch ein Blick und wir stürzen uns in einen telepathischen Schlagabtausch, dachte Cam. Erst telepathisch und dann physisch ... In diesem Moment stand ihr Entschluss fest, bei der Ausführung von Shanes Plan mitzumachen. Sie versuchte das mulmige Gefühl hinunterzuschlucken. Ihr Herz schlug zwar heftig, aber sie spürte keine Angst. Jeder Nerv in ihrem Körper bebte vor Aufregung, doch
190
ihr Verstand schien bemerkenswert klar zu arbeiten. Sie ist stolz und eingebildet und muss lernen sich unterzuordnen, sagte sie sich immer wieder. „Willkommen auf Crailmore", hörte sich Cam sagen, aber es klang, als befände sie sich weit entfernt. Sie lächelte, zumindest das wusste sie, und zugleich verspürte sie das aufgeregte Pulsieren ihres Blutes. Plötzlich war sie übereifrig, gereizt, fast wütend, als würde reines Adrenalin in ihre Adern gepumpt. „Erwarte bloß nicht, dass ich mich entschuldige", fauchte Sersee und rauschte an Cam vorbei. Cam ballte die Fäuste und wandte sich zu ihr um. Etwas stimmte nicht mit Sersee. Wie üblich trug sie ihr Markenzeichen, den violetten Umhang, aber sie wirkte müde. Eigentlich, merkte Cam plötzlich, sahen Sersees Augen überhaupt irgendwie ... braun aus. „Hast du neue Kontaktlinsen?", fragte sie, ehrlich neugierig. Sersee konnte nicht verhindern, dass ihre Hand erschrocken zum Mund fuhr. Verdammt! Das hätte sie eigentlich nicht sehen sollen! Ich hab vergessen sie herauszunehmen! Und diesen Gedanken hätte Cam eigentlich auch nicht hören sollen! Sersee verfluchte sich selbst. Seit wann war sie so vergesslich ? Um das Thema zu wechseln, fauchte sie aggressiv: „Du hast dich ja schnell erholt. Das ist doch ..." „•.. eine bittere Enttäuschung?", warf Cam ein. Sersee runzelte die Stirn. „Aber, aber! Du wirst doch nicht etwa glauben, dass ich
191
wollte, dass dir auch nur ein Haar deiner teuren Frisur gekrümmt wird!" Ein Haar vielleicht nicht, aber der ganze Rest von mir – der sollte dabei umkommen!, dachte Cam, während sie Shane und Sersee durch die große Halle und zur Turmtreppe führte. Sie gingen zu Arons Zimmer - wie geplant. Sersee inspizierte das Zimmer, nahm Gegenstände in die Hand, betrachtete verächtlich Arons Urkunden, Pokale und Preise. „Mein Vater war nicht nur mächtig", sagte Cam, „sondern auch sehr klug ... und doch bescheiden, hat man mir erzählt." „Bescheiden ?" Sersee wirbelte zu ihr herum und lachte schrill. „Bescheiden vielleicht, aber mächtig und sehr klug? Ich weiß nicht... Dein Vater wurde nämlich von seinem eigenen Bruder ermordet, und zwar vom schwächsten Glied in der Du-Baer-Kette. Fredo war schon damals bekanntermaßen und nachweislich ein Vollidiot." „Du hältst wohl nicht viel von Bescheidenheit, Sersee?", fragte Shane mit schlauem Lächeln.
192
„Absolut gar nichts", gab sie scharf zurück, „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr ..." „Womit kommt man dann weiter?", wollte Cam wissen, die plötzlich neue Wut in sich aufsteigen spürte. „Mit Betrug? Täuschung? Arglist? Arroganz?" „Alles hart erarbeitet", erklärte Sersee. „Aber wo ist dein Onkel? Schließlich bin ich nicht den langen Weg hierher gekommen, um dich zu besuchen." „Dein Stolz, Sersee", bemerkte Cam, wobei sie sich exakt an das Drehbuch des Plans hielt, „ist nichts weiter als heißer Dampf, ein aufgeblasener Ballon." Sersees blauviolette Augen - die sich hinter diesen seltsamen rehbraunen Kontaktlinsen verbargen verengten sich zu drohenden Schlitzen. Wenn Cam nicht gewusst hätte, was Shane nun gleich tun würde - und wenn sie sich nicht so stark und selbstsicher gefühlt hätte, zu allem fähig -, hätte ihr dieser Blick vielleicht Angst einjagen können. Aber so tat ihr die junge Coventry-Hexe fast Leid. Aber auch nur fast. Shane griff Sersee von hinten an. Er warf ihr eine winzige Prise Helmkraut über den Kopf. Das violette Pulver sollte bewirken, dass Sersee erstarrte und sich nicht mehr bewegen konnte. Als das Pulver über die
193
ebenholzschwarzen Locken der Hexe rieselte, nahm Shane Cams Hand und gemeinsam intonierten sie die Beschwörung, die er ihr beigebracht hatte:
„Erbarmungslose, du bist mit Blindheit geschlagen. Du musst dich besinnen, deiner Bosheit entsagen. Wie ein eitler Ballon, so sollst du dich blähen, bis du zu achten lernst alle, die angeblich unter dir stehen."
Plötzlich schien ein bunter, völlig Karnevalswagen in die Luft zu fliegen.
überladener
Sersees Umhang blähte sich auf, immer weiter und höher, um mit ihrem plötzlichen Wachstum in die Breite mithalten zu können. Denn ihr magerer Körper dehnte sich rasch in alle Richtungen und bald sah sie aus wie eine Kugel auf zwei Beinen. Sie musste gar nichts sagen; ihr entsetzter Gesichtsausdruck sprach Bände. Furcht und Panik spiegelten sich darin und sie war so schockiert, wie Cam selbst es noch nie gesehen oder erlebt hatte - und dazu zählte sogar ihr Beinahe-Tod im Sumpf. Trotz der absurden Schadenfreude, die Cam verspürte, hätte sie Shane darum gebeten Sersee wieder zurückzuverwandeln. Doch die Hexe, die sich immer
194
noch weiter aufblähte, drehte mühsam den Kopf zu ihr und spuckte voller Bitterkeit: „Ich wünschte nur, du wärst im Treibsand verreckt! Verflucht sei Thantos, dass er dich herauszog!" „Großmächtiger, was für ein überzogenes Ego! So was Aufgeblasenes hab ich noch nie gesehen!", gab Cam scharf zurück, wobei sie sich immer noch genau an den Plan hielt, den sie und Shane vereinbart hatten. „Ich lasse mal einen Wagen vorfahren, der dich nach Hause bringt." Bei diesem Stichwort trat Amaryllis in den Raum. Sie schob eine Schubkarre vor sich her. „Rein mit dir!", befahl Cam grinsend und gemeinsam mit Shane und Amaryllis hob sie die überdimensionale Sersee in den „Wagen". Der Anblick der kugelförmigen Hexe hätte eigentlich komisch sein können. Denn Sersee zitterte vor Wut und ihr Körper glich einem riesigen Wackelpudding. Zumindest kam sie Rowan und Serie höchst komisch vor, als sie von Shane herbeigerufen wurden, um Sersee nach Hause zu karren. Jetzt fehlte nur noch eine Teilnehmerin der Party: Epie. Fürchtete sich das Mädchen etwa davor, Cam nach dem Verrat am Teich noch einmal unter die Augen zu treten? Cam wollte Shane gerade danach fragen, als er sie mit einem triumphierenden Grinsen in den Arm nahm. „Na, hab ich dir nicht gesagt, dass Rache süß ist?"
195
Aus Cams Kehle löste sich ein hasserfülltes, bösartiges Lachen. Es hinterließ ein dumpfes Gefühl. Süß? Genau, dachte sie. Man verdirbt sich dabei den Magen. Und doch empfand Cam weder Mitgefühl noch Bedauern, als sie den Schmerz in Sersees Augen sah, die von ihren so genannten Freunden in einer Schubkarre durch den Park zum Ausgang gerollt wurde, ein armseliger, lächerlicher Anblick. Nein - Cam fühlte sich ... mächtig.
196
KAPITEL 16 UNENTSCHIEDEN
Nachdem Shane gegangen war, lag Cam lange Zeit zitternd in Arons riesigem Bett. Die gärende Schadenfreude, die sie zu ihrem widerlichen Verhalten getrieben hatte, war völlig gewichen - und an ihrer Stelle hatte sich blanke Scham ausgebreitet. Was auch immer die bösartige Hexe getan hatte, es rechtfertigte in keiner Weise das, was sie selbst Sersee angetan hatte. Es war schlicht und einfach falsch. Schließlich hielt sie es im Zimmer ihres Vaters nicht mehr aus, sie durfte es nicht mit ihrer Gegenwart beschämen. Abscheu erfüllte sie, wenn sie an ihr übles Verhalten dachte. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie zu solcher Grausamkeit fähig war. Sie hatte eine Grenze überschritten ... hinüber auf die dunkle Seite des Bösen. Cam verspürte plötzlich den Drang sich zu reinigen, sich selbst einzugestehen und bewusst zu machen, was sie getan hatte. Sie zitterte noch immer, als sie aufstand. Sie brauchte eine Person, der sie das alles anvertrauen und die sie um Vergebung bitten konnte.
197
Das konnte nicht Miranda sein, auch nicht Ileana. Zu tief saß ihre Scham. Ganz bestimmt auch nicht Thantos, denn sie vermutete, dass er über das, was sie getan hatte, eher erfreut als angewidert sein würde. Wer dann ? Karsh, natürlich Karsh ... Karsh hättte sie alles erzählen können. Aber er war tot. Er konnte Cam nicht helfen. Bis zu seiner Trauerfeier auf Coventry hatte Cam noch nie einen Toten gesehen. Ihr Entsetzen hatte sich in dem Moment verflüchtigt, als sie den alten Hexer erblickt hatte - der friedlich in seinem schlichten Sarg aus Fichtenholz gelegen hatte. Sein Gesicht war faltenfrei gewesen und er hatte gelächelt -oder jedenfalls war es ihr damals so erschienen. Selbst im Tod hatte er sie gelehrt, ihr gezeigt, wovor sie sich fürchten musste und wovor nicht. Sie verließ Arons Zimmer und bat eine Hausangestellte ihr den Weg zum Friedhof zu beschreiben. „Zu welchem Friedhof?", fragte sie Cam, berichtigte sich aber schnell. „Du meinst sicherlich den DuBaer-Friedhof." Aber als Cam ihr sagte, wessen Grab sie besuchen wollte, wies sie ihr den Weg zur Südspitze der Insel. Dort lag der Antayus-Friedhof. Und dort, unter all den einfachen, flach in das Gras gebetteten Grabsteinen mit den Namen der Verstorbenen, fand sie endlich das Grab, das sie gesucht hatte. Sie kniete sich nieder und wischte die
198
Spuren von Sand und Erde weg, die der Wind auf die Grabplatte geweht hatte. Erst vor wenigen Wochen hatte man neues Gras gesät, das jetzt aus der dunklen Erde spross. Bald würde es einen grünen Rahmen um den Grabstein des alten Hexers bilden. „Karsh", flüsterte sie, als könne sie sich ihm nur durch Flüstern verständlich machen, „ich weiß nicht, mit wem ich darüber sprechen soll. Ich weiß, dass du ... nun, nicht mehr bist." Cam leckte eine Träne ab, die bis zu ihrem Mundwinkel geronnen war. Sie setzte sich neben das Grab, umschlang ihre Knie und begann ihr Herz auszuschütten. „Ich bin völlig durcheinander. Ich dachte, ich hätte jetzt endlich begriffen, wer ich bin und was ich tun muss. Dachte, ich könnte jetzt unterscheiden, wer böse ist und wer nicht, war mir sicher, dass ich mich immer für das Gute und gegen das Böse entscheiden würde. Und jetzt steht alles wieder auf dem Kopf. Du hast mir beigebracht mich vor Thantos in Acht zu nehmen, der Alex und mich lieber tot sehen wollte. Aber er behauptet, dass das nicht stimmt. Er will, dass wir eine Familie werden. Er behauptet auch, dass er meine Mutter liebt und sie heiraten will. Karsh, ist das wirklich das, was mein Vater gewollt hätte ?" Lange Zeit saß sie einsam neben dem Grab. Nach und nach wurde sie ruhiger. Sie bekam keine wirklichen Antworten auf ihre quälenden Zweifel, aber allmählich wurde ihr bewusst, dass es wichtig war diese Antworten selbst herauszufinden. Und sie wusste auch, dass sie sie finden würde, wenn die Zeit reif war. Sie fuhr mit dem
199
Finger die in den Stein gemeißelten Buchstaben seines Namens nach und stellte noch eine letzte Frage. „Was ich Sersee angetan habe ... war furchtbar, ich weiß. Aber sie hat versucht mich umzubringen - und das mehr als nur einmal. Hat sie es nicht verdient?" Cam beugte sich über den Stein. In ihrer Tasche raschelte etwas und sie griff hinein. Ein zusammengefalteter Zettel; auf ihm stand: Tu was du willst, solange es niemandem schadet. Ihr Vater hatte diesen Satz als kleiner Junge geschrieben. Hatte Karsh gewollt, dass sie diesen Satz jetzt, in diesem Augenblick, las? War das etwa die Antwort? Hexen hassen nicht, sie lassen andere nicht leiden, sie schaden niemandem. Und sie hatte Sersee geschadet. Cam stand auf und wischte die Erde von ihrer Hose. Sie würde jetzt sofort Shane aufsuchen und ihn dazu bringen den Fluch aufzuheben und Sersee ihre normale Körperform wiederzugeben. Es spielte keine Rolle, was die teuflische Hexe ihr angetan hatte. Weder Karsh noch ihre Eltern Aron und Miranda DuBaer hätten gewollt, dass sie sich an Sersee rächte. Cam wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als ihr Blick auf einen Grabstein fiel, der nur ein paar Meter von Karshs Grab entfernt lag. Beatrice Hazlitt DuBaer. Was hatte eine DuBaer hier zu suchen ? Waren nicht alle in dem viel prächtigeren Friedhof beerdigt worden, der auf der anderen Seite der Insel lag?
200
„Meine Frau", sagte jemand hinter ihr. Sie zuckte zusammen und fuhr erschrocken herum. „Thantos? Was machst..." „Ich habe dich gesucht", antwortete der finstere Hexer. „Meine Leute sagten mir, dass du vielleicht hier sein könntest, und ich wollte sicher sein, dass du dich nicht schon wieder in irgendein lebensgefährliches Abenteuer stürzt." Cam wies auf den Grabstein. „War sie Ileanas Mutter?" Er nickte. „Sie starb bei ihrer Geburt. Und sie liegt hier, weil das ihr Wunsch war. Ich habe alles versucht, aber ich konnte sie nie dazu bringen sich als Mitglied der Familie zu fühlen. Sie wollte hier beerdigt werden, unter ihren eigenen Verwandten." „Ist das der Grund, warum es auf Crailmore kein einziges Porträt von ihr gibt, kein einziges Andenken ..." Und niemanden, dachte sie, der diese Frau je erwähnt hat. Wenn dieser Grabstein nicht wäre, hätte man annehmen können, dass Beatrice DuBaer niemals gelebt hatte. Cam dachte an Ileana. Kein Wunder, dass ... Thantos legte ihr einen Arm um die Schultern. Cam zuckte dieses Mal nicht zurück und versuchte nicht ihn
201
abzuschütteln. „Ich habe davon gehört, was du diesem Mädchen angetan hast." Er meinte natürlich Sersee. „Gut gemacht. Eine DuBaer sollte niemals zulassen, dass andere sie ..." Cam wollte gerade widersprechen, als Thantos plötzlich abbrach und sich zu voller Größe aufrichtete. „Wir haben Gesellschaft." „Wo ist sie, Thantos?", sagte Ileana scharf. Ihr königsblauer Umhang bauschte sich hinter ihr. In ihrer Wut sah sie sehr schön aus. „Wie wunderbar, dass du gekommen bist." Aber Thantos sprach nicht zu seiner Tochter, sondern blickte durch sie hindurch, als stünde sie nicht vor ihm. Denn hinter ihr stand Miranda und sein Gruß galt ihr. „Ich wollte Apolla gerade erzählen ..." Miranda unterbrach ihn brüsk. „Wir haben versucht Alex zu finden. Sie ist nicht da, wo du behauptest, dass sie sein sollte. Wo ist meine Tochter?" Ihre Stimme klang scharf und misstrauisch und zugleich besorgt. Cam verspürte Panik. „Alex ist verschwunden ?" „Nein, nein!", versicherte Thantos den Frauen. „Natürlich nicht. Wart ihr schon ..." „Wir waren an allen Orten, die du genannt hast", antwortete Miranda und ihre Stimme zitterte. „Im Haus der Barnes, bei dem Jungen, in der Wohnung dieses kleinen Mädchens aus Coventry..."
202
„Welches Mädchen aus Coventry?" Cam konnte sich nicht vorstellen, wen sie meinte. „Sie heißt Michaelina", antwortete Miranda. „Du kennst sie, sie ist eine von den jungen Hexen, die dich und Alex damals quälten. Jetzt wohnt sie in Marble Bay und hat sich mit deiner Schwester angefreundet. Hast du das nicht gewusst?" Marble Bay? Wie konnte das sein, wo Michaelina doch angeblich hier auf Coventry ihre Strafe, den „Gemeinschaftsdienst", ableistete? Na klar. Sersee hatte natürlich auch in dieser Sache gelogen. War ja nichts Neues. „Du hast uns absichtlich auf eine falsche Spur angesetzt, Thantos", beschuldigte Ileana ihren Vater. „Wenn ihr etwas passiert ist..." „Nein!" stieß Cam atemlos hervor. Drei Paar Augen blickten sie fragend an. Aber Cam antwortete ihnen mit einer Gegenfrage. „Wenn Alex etwas Schlimmes zugestoßen wäre, würde ich es doch sofort wissen. Oder nicht?" Miranda legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich hoffe es", sagte sie nur. Thantos verdrehte die Augen. „Oh, ihr Weiber! Kommt mal her, ich zeige euch, was sie gerade treibt." Aus dem Lederbeutel, den er unter dem Umhang trug, nahm er ein
203
goldenes Feuerzeug und betätigte es, wobei er eine Hand voll Kräuter in die Flamme warf. Gleichzeitig zitierte er den „Lokalisator"-Zauberspruch. Und dort, in der Flamme, sahen sie Alex. Doch sie war nicht allein. Jemand, Cam vermutete Cade, legte ihr die Hände um das Gesicht. Einen winzigen Augenblick überlegte Cam, ob sie die Flamme ausblasen sollte. Wenn Alex gerade mit Cade allein war, würde sie sicherlich nicht begeistert sein heimliche Zuschauer zu haben. Aber in diesem Moment verblasste die Vision bereits wieder. „Ich hole sie", sagte Miranda entschlossen und wandte sich zum Gehen. Thantos hielt sie am Arm fest. „Spar dir die Mühe, Miranda. Du bist doch eben erst zurückgekommen und solltest dich erst mal ausruhen. Ich schicke einen Diener. Das ist schneller und für dich weniger anstrengend." Selbst Cam bemerkte, dass Thantos Ileana völlig ignorierte. Hatte er denn überhaupt keine Gefühle für sie? „Nein, hat er nicht", sagte Ileana. Cam war verlegen, denn ihr Vormund hatte ihre stille Frage laut beantwortet. „Es ist doch sehr passend, dass mir mein Vater wieder mal seine Abneigung gerade hier beweist, während er am Grab meiner Mutter steht", fuhr Ileana ironisch fort. „Er glaubte damals, was ihm Leila DuBaer immer einredete - dass Beatrice Hazlitt für ihn nicht gut genug sei. Nicht einmal im Tod wollte er seine Frau,
204
meine Mutter, unter die DuBaers lassen." Cam war verwirrt. „Aber ...", begann sie und wandte sich an Thantos, „hast du nicht gesagt, dass Beatrice selbst hier beerdigt werden wollte?" Mit dieser Frage brach bei Ileana der letzte Damm der Selbstbeherrschung; sie verlor völlig die Fassung. Rot vor Wut schrie sie Thantos an: „Hast du ihr das wirklich gesagt?" Jetzt mischte sich Miranda ein. „Beruhige dich doch, warte ... Bestimmt wollte Thantos nicht..." Aber Ileana ließ sich nicht mehr beruhigen. In ihr tobte ein Orkan. Und der traf nun Cam. „Frag doch deinen lieben Onkel Thantos nach dem wahren Grund, weshalb er meine Mutter verstoßen hat! Lass ihn mal erzählen, was er von .ihrer Abstammung' hielt! Lass ihn erzählen, warum er jemanden gegen den Willen seiner Mutter heiratete - und warum er mich dann verstoßen hat, sein eigenes Fleisch und Blut. Und dann, Apolla, solltest du ihn auch fragen, warum er alles an sich gerissen hat, was nicht ihm gehört. Weil es nämlich dir gehört. Und deiner Schwester! Und mir!" Ileana wirbelte wieder zu ihrem Vater herum und forderte ihn mit wütendem Blick zu einer Antwort heraus. Aber er sah sie gar nicht an. Cam war wie am Boden zerstört. Nicht nur wegen der Hass-tirade, die Ileana gerade gegen Thantos abgefeuert hatte - davon hatte sie nicht einmal die Hälfte begriffen. Sondern wegen des Blicks, mit dem Thantos Miranda während Ileanas vorwurfsvoller Rede beobachtet hatte.
205
Er hatte ihr Mienenspiel beobachtet, abzuschätzen versucht, wie sie darauf reagierte, was sie empfand. Und auch Cams Mutter war völlig verstört. Aber sie war immer um Versöhnung bemüht und so versuchte sie auch dieses Mal die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Sie streckte die Hand nach Ileana aus, aber die Hexe war außer sich vor Wut und für keine Versöhnung zu haben. Miranda wandte sich an Thantos und sagte ruhig: „Du hättest sicherlich noch andere Wege finden können, als dein Kind vollkommen zu verstoßen. Egal, wie groß dein Schmerz und dein Kummer auch gewesen sein mochten." Thantos richtete sich zu seiner vollen Furcht einflößenden Größe auf. „Ich habe getan, was ich für das Sicherste und Beste hielt. Ich hatte damals beinahe den Verstand verloren. War außer mir vor Trauer über den Tod meiner Frau. Und deswegen kam ich schließlich auf die Idee Ileana der Fürsorge des guten und weisen Karsh anzuvertrauen." Jetzt riss sogar Miranda vor Verblüffung den Mund auf. „Unsinn!", rief sie aus. „Das war Arons Idee, nicht deine!" Ileana lachte bitter auf. „Welche Überraschung. Du eignest dir Arons Idee an - das hast du ja schon immer getan. Du warst immer neidisch auf alles, was er hatte - sogar auf seine Frau. Und jetzt auf seine Kinder." Cam drehte sich fast der Magen um. Ihr fielen die Bemerkungen von Thantos' ersten Lehrern ein: Er hat
206
wieder einmal bei Aron abgeschrieben. Also ... hieß das, dass er Miranda gar nicht liebte ? Hatte er gelogen, als er das behauptete ? Stand dahinter blanker, hässlicher Neid? Der gewaltige Hexer brachte Cams Gedanken mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Sie blinzelte, wandte aber den Blick nicht ab. „Warum war es das Beste Ileana bei Karsh aufwachsen zu lassen?", verlangte sie zu wissen. „Warum hast du deine eigene Tochter nicht selbst erzogen?" „Er wird dir niemals die Wahrheit sagen", schnaubte Ileana verächtlich. „Er wird behaupten, dass er nicht für die Vaterrolle taugte. Aber du kannst es selbst nachlesen. Lord Karsh hat alles aufgeschrieben. Alles." Ileana band ihren Umhang auf und griff in eine Tasche, die sie darunter trug. Sie nahm ein in Leder gebundenes Buch heraus. Cam sah, dass es aus Pergamentblättern bestand. Hatte sie nicht schon einmal ein solches Buch gesehen? Wo hatte sie diese Pergamentblätter gesehen? „Nein!", mischte sich Miranda heftig ein. „Jetzt noch nicht, Ileana. Wir haben das doch abgemacht. Wir wollten warten, bis Artemis hier ist." Also das war es! Das war die große Sache! Ohne Alex würde Cam Lord Karshs Aufzeichnungen nicht zu sehen bekommen. Sie sprach so ruhig wie möglich, aber sie wusste genau, welche Wirkung ihre Worte haben würden. „Was steht in dem Buch ... Mutter?"
207
Miranda wurde blass. Es war das erste Mal, dass Apolla sie „Mutter" genannt hatte. Was immer sie hatte sagen wollen, war plötzlich wie ausgelöscht. Die ätherisch wirkende, schöne Frau brach einfach in sich zusammen und begann leise zu schluchzen. Sie konnte ihrer Tochter nicht antworten. Aber Ileana konnte es. Sie hielt das Buch in die Höhe. „Deine Familiengeschichte steht hier geschrieben. Dein Erbe. Das dir und Alex zusteht. Dein Schicksal." „Oder", donnerte Thantos plötzlich, sodass alle zusammenzuckten. „Oder steht das alles etwa hier drin?" Alle fuhren zu ihm herum. Auch er hielt ein Buch in den Händen - und es glich genau dem anderen Buch.
208
KAPITEL 17 VOM FEUER VE RRATEN
Alex wartete auf Ileana. Ihre Beschützerin hatte ihr erhöhte Alarmbereitschaft befohlen; sie müsse sich auf eine Blitzreise nach Coventry gefasst machen. Allerdings hatte Ileana nicht erwähnt, wann genau der Start geplant sei. Als dann das Telefon klingelte, stürzte sich Alex förmlich auf den Apparat. Aber es war nur Michaelina die versuchte Alex zu überreden, zur Arbeit zu kommen. Inzwischen hatte es sich nämlich wie durch ein Lauffeuer herumgesprochen, dass im PITS eine Show mit „parapsychischen Bedienungen" abging. Alle Kunden verlangten von ihnen bedient zu werden. „Also komm endlich her. Das ist das Land der unbegrenzten Trinkgelder." „Genieß es, solange du kannst", riet ihr Alex. „Ich hab was anderes vor, muss gleich los nach ..." Sie brach ab. Michaelina vertrauen ? Selbst Cade hatte ihr davon abgeraten. Obwohl er keine Ahnung hatte, zu welchen Tricks diese halbe Portion fähig war. „Aber es ist noch nicht so weit", entfuhr es Michaelina laut. Und fast gleichzeitig hörte Alex übers Telefon ihre Gedanken, als hätte sie sie laut und deutlich ausgesprochen. Und die klangen nach Panik pur. Sie werden sie doch nicht schon jetzt in die Wälder gerufen haben ? Doch nicht, ohne mir etwas zu sagen!
209
Meinte sie die Wälder von Salem?, fragte sich Alex. Und warum sollte wohl Saras Geist mit Michaelina Kontakt aufnehmen, bevor er Alex mitteilte, dass es Zeit war nach Montana zurückzukehren ? „Bitte, bitte", bettelte Michaelina. „Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Der Laden ist gerammelt voll. Das ist nicht fair. Schließlich war die Sache mit unseren Jobs im PITS deine Idee. Lass dich wenigstens kurz hier blicken. Bitte. Es ist wirklich sehr wichtig. Ich meine, ich hab was für dich. Etwas, das du brauchst, und du wirst es total irre finden. Du brauchst nicht mal ins Lokal zu kommen. Ich treffe dich am Hinterausgang." „Ich kann wirklich nicht lange bleiben", warnte Alex, die trotz ihres Misstrauens neugierig geworden war. „Draußen", informierte sie Mr Tagliere vorwurfsvoll, als sie zwanzig Minuten später an der Pizzeria ankam. Er nickte in Richtung Hinterausgang. „Sie macht gerade Pause. Musste heute ziemlich hart ran, schließlich hatte sie doppelt so viel Arbeit, weil du ja nicht aufgekreuzt bist." Der Hinterausgang des PITS führte zu einer Metalltreppe, die zur Lieferantenzufahrt führte. Der Himmel hatte sich zugezogen. Die weißen Schäfchenwolken waren längst schweren, düsteren Wolken gewichen. Es sah nach Regen aus. Michaelina hockte auf der obersten Treppenstufe und zählte ein dickes Bündel Geldscheine. Alex war beeindruckt - und wurde noch misstrauischer. „In den paar Stunden hast du so viel verdient? Was hast
210
du nur gemacht - die Leute weggehext und jede Viertelstunde neue Gäste an die Tische gesetzt?" Die kleine Hexe grinste. „War nicht nötig unsere werten Gäste beim Essen zu hetzen. Ich hab nur eine Art magische Buchhaltung erfunden, um das MichaelinaVermögen - äh, und Alex-Vermögen, meine ich - ein bisschen aufzubessern. Hab dir doch gesagt, dass ich was hab, was du brauchst." Sie wedelte mit den Banknoten. Alex wagte nicht zu fragen, nur zu denken: Wen hatte Michaelina nun betrogen, die Gäste oder Mr Tagliere ? „Niemanden!" protestierte Michaelina. „Jedenfalls nicht sehr." Sie behauptete die Rechnungen völlig korrekt geschrieben zu haben. Aber jedes Mal, wenn sie die Belege in die Kasse legte, hätten sich die Beträge ... hm ja, eben ein wenig verändert. Weniger Geld für Taglis Kasse, mehr Geld für Michaelinas Tasche. Ziemlich cooles System, fand sie. Aus einer Rechnung über vierundzwanzig Dollar seien auf magische Weise vierzehn Dollar fürs PITS und zehn Dollar Trinkgeld für sie geworden ... und natürlich auch für Alex, fügte sie schnell hinzu. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich was hab, was du brauchst", wiederholte die gerissene Hexe noch einmal. Alex schäumte vor Wut. „Wie kannst du so etwas nur machen ? Ich weiß nicht, wie's auf Coventry läuft, aber hier auf dem Festland nennt man das Unterschlagung oder Diebstahl. Das ist ein Verbrechen und darauf steht Knast." Michaelina zuckte die Schultern und bemühte sich Alex' Einwand herunterzuspielen. Sie
211
rechtfertigte sich: „Ich hab dafür gesorgt, dass mehr Gäste ins PITS kommen. Die kamen alle, um mich zu sehen - und dich. Das ist wie ein Spiel und ich liefere die Unterhaltung. Wenn die schon keinen Eintritt bezahlen müssen, ist es doch nur gerecht, dass ich mehr vom Gewinn abkriege." „Das ist völlig verdreht! Außerdem - ich hab zwar noch keine Weihen, aber ich weiß, dass wir Hexen unsere Kräfte nicht einsetzen dürfen, um Leuten zu schaden!" Michaelina zuckte die Schultern. „Ich geb dir mal einen Tipp, gratis. Manchmal nützen unsere Kräfte viel mehr, wenn wir sie für uns selber einsetzen." Alex verschränkte die Arme. „Wir gehen jetzt da rein und du wirst Mr Tagli jeden einzelnen Cent zurückzahlen, den du ihm schuldest." Sie stand auf und griff gerade nach Michaelinas Hand, als sie plötzlich von einem Schwindelgefühl befallen wurde. Sie klammerte sich an das Treppengeländer, um nicht umzukippen. Erhebe dich, Artemis. Die Zeit ist gekommen. Du wirst gebraucht! Die Stimme war definitiv nicht Ileanas Stimme. Sie klang eher wie die Stimme von Saras Geist, aber sehr ungeduldig und herrisch. Wo werde ich gebraucht? Wer bist du? Michaelina stand direkt neben Alex. Auch sie zitterte. Und auch sie hatte den Befehl gehört.
212
Erkennst du mich nicht? Ich bin Sara, deine Mutter. Ich habe dir gesagt, die Zeit wird sehr bald kommen, dass du gebraucht wirst. Beeile dich, geh in die Wälder. Dort ist alles für den Reise-Zauberspruch vorbereitet. „Der Reisende" wird dich dort hinbringen ...wo du gebraucht wirst. Alex war klar, dass Michaelina ihre telepathische Antwort hören konnte, aber das war jetzt nicht zu vermeiden. Ich kann jetzt noch nicht gehen! Ich muss erst auf die Insel Coventry. Cam-Apolla-, meine Zwillingsschwester, ist dort und Ileana wird mich bald abholen und dorthin bringen. Ich bin noch nicht bereit... Ich bestimme, wann du bereit bist!, brüllte die Stimme plötzlich. Du hast keine Wahl, Artemis. Geh sofort in die Wälder. Ich erwarte dich dort! Alex wandte sich schnell von Michaelina ab und versuchte verzweifelt ihre Gedanken so zu verwirren, zu verheimlichen und durchzuschütteln, dass Michaelina sie nicht mehr entziffern konnte. Denn eines wusste sie plötzlich mit absoluter Sicherheit: Diese Stimme war nicht Saras Stimme. Wenn Alex Sara erklärt hätte, dass jemand ihre Hilfe brauchte, hätte ihre Mutter sie nicht nur gehen lassen, sondern sie sogar dazu gedrängt. Sie hätte Alex niemals aufgefordert, der hilfsbedürftigen Person den Rücken zuzukehren, und sie hätte niemals so hart und streng mit
213
Alex gesprochen. Wer immer sie jetzt gerufen hatte, wen immer sie in den Wäldern von Salem gesehen hatte, konnte ganz bestimmt nicht Sara Fielding oder ihr Geist gewesen sein! Alex war wie am Boden zerstört. Ihre Wut wurde von Enttäuschung und tiefem Schmerz gedämpft. Aber wer war nun diese Betrügerin? Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden. Sie packte Michaelinas Arm und fauchte die vor Schreck erstarrte Hexe an: „Wir gehen nach Salem. Sofort. Und dieses Mal wirst du für das Taxi bezahlen. Du kannst es dir ja jetzt leisten." Aber egal, was Alex sagte, Michaelina weigerte sich stur von dem Drehbuch abzuweichen, an das sie sich seit Tagen genau gehalten hatte. Sie wusste angeblich nichts über Shane und Cam. Sie sei nur hier, weil sie eine zweite Chance haben wolle. Sie habe gehofft in Alex eine neue Freundin zu finden, die ihr helfen könne. Sie habe nicht den blassesten Schimmer, warum sie von Alex jetzt plötzlich so fies behandelt wurde. Michaelina log, sobald sie den Mund aufmachte, aber in ihren smaragdgrünen Augen lag Angst, und zwar echte Angst. Wer oder was ihr diese Angst eingejagt hatte, blieb ihr Geheimnis. Und sie hatte sehr viel mehr Übung darin als Alex, ihre Gedanken zu verwirren und zu verschlüsseln. Was immer ihr so zusetzte, blieb verborgen und Alex hatte keinen Zugang.
214
Es war mitten am Tag. Doch die Wälder waren so unheilvoll wie in der Nacht. Aber vielleicht lag es am Regen. Der schwarze Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und im Wald war es düster und schlammig. Immerhin sorgte der dichte Baldachin aus Blättern dafür, dass Alex und Michaelina nicht bis auf die Haut durchnässt wurden. Sie hatten kein Problem die Stelle zu finden, an der sie in der Nacht gewesen waren: Sogar der Kreis war noch da. Der Regen hatte die Linie nicht weggewaschen, die Michaelina in den Waldboden gezogen hatte; die Rinne war bemerkenswert tief und sehr deutlich sichtbar. Alex kniff die Augen zusammen und starrte in das Unterholz hinüber, wo Sara erschienen war. Versteckte sich dort jemand? Sie ging direkt darauf zu, war aber noch nicht sehr weit gekommen, als eine Stimme rief: „Zurück! Du musst im Kreis bleiben!" Wütend schrie Alex zurück: „Ich hab aber keine Lust im Kreis zu bleiben!" „Wie du willst!", fauchte die Geisterstimme gereizt. Und dann trat eine Gestalt hinter den Bäumen hervor. Ein großes, rundes, unförmiges Geschöpf, das in ein wallendes Gewand gekleidet war, ein Gewand, das wie ein gewaltiges Igluzelt aus Samt aussah, in das der Wind blies. „Du musst dich entscheiden, Artemis: Entweder stirbst du hier, in diesen Wäldern, oder du tust, was ich dir sage, und gehst in den Kreis zurück." Alex war viel
215
zu verblüfft, um wütend zu sein. „Wer bist du eigentlich? Oder was bist du? Und was willst du?" Der „Geist" warf die Kapuze des Umhangs zurück. Alex starrte verblüfft das ebenholzschwarze Lockenhaar an - irgendwie bekannt, aber auf diesem aufgeblähten Körper völlig fehl am Platz. „Sersee?", flüsterte sie heiser. „Du wirst mir folgen, Artemis DuBaer!" Aus den dicken Händen der Hexe schössen plötzlich Flammen. Alex spürte, dass die Flammen an ihrer Haut züngelten und sie versengten. Sie taumelte zurück und stürzte in den Kreis. Sersees magischer Flammenwerfer hatte auch Michaelina zu Fall gebracht. Die kleine Hexe lag neben Alex - und keineswegs aus freiem Willen. Sie war knallrot im Gesicht und schwitzte. Vorsichtig rappelte sie sich auf und starrte ihre Schwesterfurie wütend an. „Wieso hast du dich als Mastschwein verkleidet ? Sie weiß jetzt, wer du bist, du kannst dich zu erkennen geben." Sersee gab keine Antwort und plötzlich dämmerte Michaelina die Wahrheit. Sie schnappte nach Luft. „Oh nein!" schrie sie und versuchte ohne großen Erfolg ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken. „Das ist echt! Das hat sie doch nicht etwa gemacht? Du hast zugelassen, dass dich Apolla DuBaer in diese Gestalt verwandelt?"
216
„Sie hatte einen Helfer", fauchte Sersee zurück. „Shane hat mich verraten. Aber du brauchst keine Angst zu haben, der Fluch wirkt nur vorübergehend. Im Gegensatz zu dem Fluch, den ich gleich auf euch beide anwende - der wirkt für immer und ewig!" „Auf uns beide?" Michaelinas Grinsen verschwand. „Wieso legst du dich mit Ihm ran? Wir sollten doch nur sie loswerden!" Alex blinzelte Michaelina verwirrt an, dann plötzlich dämmerte es ihr. Die ganze Sache war Verrat! Ein abgekartetes Spiel! Und nicht nur, um sie in die Falle zu locken. Sersee & Co. wollten gleich beide Hexengirls mit einem Schlag ausschalten. Shane hatte Cam nach Coventry gelockt. Michaelina hatte ihre Karte „Mutter-ruft-aus-dem-Jenseits" ausgespielt und Alex um ein Haar weit weg nach Montana geschickt. Und Sersee hatte überall die Finger drin. Alex brauchte nicht zu fragen, wer die Regie führte und die Fäden zog. Die aufgeblähte Hexe platzte auch ungefragt damit heraus. »Oh ja, hast du das nicht gewusst?", stichelte Sersee und wandte sich an Michaelina. „Mein Befehl von Lord Thantos lautete euch beide loszuwerden. Aber natürlich hatte ich keine Lust dich vorher schriftlich zu warnen." »Ich hab mich nicht so voll gefressen, dass ich nicht mehr denken kann", gab die wütende Minihexe zurück. „Oder nicht mehr rechnen kann. Einfache Rechenaufgabe - zwei gegen ... na ja, sieht so aus, als wärst du jetzt eine
217
doppelte Portion, aber trotzdem bist du in der Summe doch immer noch allein gegen ..." „Ich bin allein?" Sersee, deren Ballongesichtshaut aufs Äußerste gespannt war, tat ihr Bestes, um ein verächtliches Grinsen zu Stande zu bringen. „Stimmt, ich bin allein, aber Lord Thantos hat mich für die Aufgabe mit den besten Zauberkräften ausgestattet. Aber offenbar hat die kleine Punkerin endlich geschnallt, worum es geht, und will nicht mehr mitspielen ... Schade. Ich werde euch beiden jetzt mal kräftig einheizen, obwohl ihr so ein angenehm warmes Ende eigentlich gar nicht verdient habt, und dann werde ich eure Asche dem Wind übergeben." Sersee hatte braune Kontaktlinsen getragen, als sie Sara gespielt hatte. Jetzt fokussierte sie ihre wilden violettblauen Augen auf den Waldboden direkt vor ihren Füßen. Trotz der Nässe, die der Regen verursacht hatte, begannen die Fichtennadeln, die welken Blätter und kleinen Zweige sofort zu rauchen und zu glimmen. Winzige Flammen stachen durch den aufsteigenden Rauch. Sie bildeten einen Ring innerhalb des „heiligen Kreises". Knackend und knisternd wuchsen sie immer höher und fraßen sich immer näher an Alex und Michaelina heran. Der Rauch brachte Alex' Augen zum Tränen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr fokussieren, konnte nicht mehr durch Willenskraft einen Ast herabstürzen oder einen
218
Stein vom Boden aufsteigen lassen, um die bösartige, gefährliche Hexe außer Gefecht zu setzen. Auch Michaelina hustete und keuchte im Rauch und fiel als Kampftruppe ebenfalls aus. Die beiden Mädchen waren im Feuerkreis gefangen, aber das reichte Sersee noch nicht. Sie sah ihren Auftrag noch nicht als erfüllt an und hatte nicht die geringste Absicht das Ableben der beiden Hexen Mutter Natur zu überlassen. Deshalb warf sie ihren Umhang ab, steckte ihn in Brand und ließ ihn telekinetisch hoch über die im Kreis gefangenen Hexenmädchen schweben, wo er sich herabsenkte, um sie unter sich in den Flammen zu ersticken. Panisch versuchten Alex und Michaelina dem todbringenden fliegenden Feuerteppich auszuweichen, aber inzwischen waren auch die Flammen auf dem Waldboden bis zu ihnen vorgedrungen. Sie konnten nicht fliehen, waren dem Feuer hilflos ausgeliefert und mussten zusehen, wie sich der tödliche Feuerteppich über ihnen und ringsum immer weiter ausbreitete. „Bitte, Sersee, bitte!", schrie Michaelina. „Ich kann deinen Fluch aufheben! Ich kann dir deine normale Figur wiedergeben!" Das war eine aus der Verzweiflung geborene Lüge, wie Alex wusste. Und dann blieb Sersees brennender Umhang mitten in der Luft stehen! Aber es war nicht Sersee, die seinen Flug gestoppt hatte. „Nur über meine Leiche!", erklang eine weinerliche Stimme. Ein arktisch kalter Windstoß zerrte an dem
219
Umhang, hob ihn über die Baumwipfel hinweg und riss ihn mit sich zum Meer. Eine Sekunde später blies ein weiterer heftiger Windstoß die Flammen aus, die aus dem Waldboden schlugen. Durch den schwarzen Rauch konnte Alex eine vertraute dicke Gestalt erkennen, die am Rand der Lichtung stand und Sersee aus schmalen Augen wütend anstarrte. „Epie!", kreischte Sersee, offenbar genauso geschockt wie Alex und Michaelina. „Du Verräterin! Du Biest! Wie konntest du es wagen! ?" Sie versuchte ihre fleischigen Hände zu Fäusten zu ballen, aber sie waren zu dick und es gelang ihr nicht. „Wie hast du herausgefunden, wo ich bin? Wer hat dich hierher geschickt?" „Dreimal darfst du raten", gab Epie keck zurück. „Thantos!", schrien Alex und Sersee wie aus einem Mund. „Aber warum bloß?" Michaelina schüttelte verständnislos den Kopf. Sie versuchte die letzten, hartnäckigen Flammen auf ihrer verkohlten PITSSchürze zu ersticken. „Ich wusste, dass dein aufgeblähtes Ego - und aufgebläht meine ich wörtlich, Sersee! irgendwann einmal zu diesem Ende führen würde!", sagte Epie. „Und Thantos vertraut dir noch weniger, als du jemals mir vertraut hast. Er hat mich beauftragt dich auszuspionieren und dafür zu sorgen, dass du deinen Job ordentlich erledigst..." „Und warum hast du mich dann dabei unterbrochen, du Vollidiot?"
220
„Genau deshalb! Weil du mich so fies behandelt hast! Ich dachte, du wärst meine Freundin. Aber das bist du gar nicht! Lord Thantos hat mir das gesagt. Er wollte, dass ich dich umbringe, sobald du Alex und Michaelina beseitigt hast. Und das hab ich ihm auch versprochen. Deshalb hat er mir die Macht verliehen dich ins Meer zu blasen, genau wie du mich dazu gebracht hast Camryn in den Treibsand zu blasen ..." „Cam!" Alex hatte genug gehört. Höchste Zeit nach Coventry zu reisen. Auf der Stelle. Sie hoffte nur, dass es nicht schon zu spät war. „Wage es nicht dich zu rühren!", schrie Sersee Alex an. Ihr rotes Samtkleid spannte sich bis zum Platzen über ihre wulstigen Körperformen. Sie sah aus wie eine wütende, überreife Fleischtomate. „Du kannst mich nicht aufhalten, Sersee. Und ihr beide werdet mich auch nicht aufhalten können." Alex starrte Epie und Michaelina drohend an. Michaelina hob ergeben die Hände. „Ich will dich gar nicht aufhalten", versprach sie. „Aber du wirst mich auch nicht daran hindern können zu gehen. Ich will nach Coventry zurück. Mit dir." „Und ich auch!", sagte Epie entschlossen. Sie drehte sich zu Sersee um. „Mit dir bin ich fertig ..."
221
„Du gehst nirgendwohin!" befahl ihr die aufgeblasene Hexe. „Jedenfalls nicht ohne mich. Ich hab zu Hause ein paar ernsthafte Rechnungen einzutreiben." Und so begleiteten Alex drei aufs Äußerste gereizte und vor Wut rasende Furien auf die Insel Coventry. Epie und Michaelina waren wütend auf Sersee und Sersee wollte den verräterischen Schurken Thantos lieber tot als lebendig sehen. Alex wurde bei der ganzen Sache eins absolut klar: Niemand auf der Welt konnte so furchtbaren Zorn entfalten wie drei ausgetrickste Furien.
222
KAPITEL 18 LIEBE MACHT BLIND
„Lügner!" tobte Ileana. „Undankbare Brut!", gab Thantos verächtlich zurück. „Du bist ein übles, betrügerisches Ungeheuer! Egal, was der Hohe Rat mit seinem Urteil behauptete - du warst verantwortlich für Arons Tod, nicht Fredo!" „Und du hast durch deine unmäßige Sturheit deinen ach so heiß geliebten Vormund Karsh in den Tod gelockt!" „Du wagst es seinen heiligen Namen auch nur in den Mund zu nehmen?! Pass auf deine Zunge auf, sonst verwandle ich sie in eine schleimige Nacktschnecke!" „Du könntest gar keinen Fluch gegen mich aussprechen, du jämmerliche Figur! Selbst als du deine Magie noch hattest, du falsche Schlange! Du bist genauso verdorben, schwach und eitel wie deine Mutter ..." Der Oberhexer gegen die Beschützerin der Zwillinge. Der Vater gegen die Tochter. Der Streit war geradezu klassisch, dachte Cam, wie in einer großen griechischen Tragödie. Thantos und Ileana verachteten einander aus tiefster Seele, ihre Wut war übermächtig und entzog sich
223
jeder Vernunft. Cam und Miranda spürten fast körperliche Schmerzen, als sie diesen Streit mit anhörten. „Dieses Buch ist genauso falsch und böse wie dein ganzes Leben !", tobte Ileana weiter und versuchte ihrem Vater das Buch zu entreißen, aber er hob es einfach hoch und sie konnte es nicht mehr erreichen. „Gegenüber Miranda schleimst du herum wie die Freundlichkeit in Person, obwohl du sie in ein Irrenhaus gesteckt und jahrelang belogen hast! Du hast sie über ihre Kinder belogen ..." „Halt endlich den Mund, du ... du ... !" Thantos drehte sich so abrupt auf seinen Absätzen um, dass sich sein Umhang weit aufblähte. „Warum sollen wir auf Artemis warten, wenn Apolla doch schon hier ist?", fragte er Miranda. „Ich denke, wir sollten jetzt alle erst einmal nach Crailmore zurückgehen und uns die beiden Bücher genau ansehen. Dann werden wir schnell erkennen, welches das Original und welches eine unverschämte Fälschung ist!" Ileana schrie: „Unverschämte Fälschung - so ist es! Die kann ja nur von dir kommen! Warum hätte Karsh ausgerechnet dir sein Buch anvertrauen sollen?" Doch während sie noch weitertobte, warf Thantos eine Hand voll Kräuter in die Luft und sprach schnell und leise eine Beschwörung. „Der Reisende", wie Cam feststellte. Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, fand sie sich mit Miranda und dem düsteren Onkel im gewaltigen Salon von Crailmore wieder. »Wo ist Ileana?",
224
wollte Miranda wissen und legte Cam schützend den Arm um die Schultern. „Bringe sie sofort hierher oder wir gehen!" »Miranda, liebe Miranda, wann wirst du es endlich begreifen ?" Thantos stolzierte zu seinem thronähnlichen Sessel und warf sich theatralisch hinein, als habe ihn die Bitte seiner Schwägerin zutiefst getroffen. Er schüttelte traurig den Kopf. „Du bist viel zu vertrauensselig, zu gut, um zu merken, zu welcher Falschheit und Arglist deine Nichte fähig ist!" Aber zu Cams Freude und Überraschung starrte Miranda ihn nur wütend an. Sie wiederholte ihre Bitte, aber dieses Mal klang sie wie ein Befehl. „Bringe Ileana jetzt sofort hierher oder wir gehen!" Thantos seufzte übertrieben, stand auf und murmelte noch einmal die Beschwörung. Schließlich warf er die Arme in die Luft. Cam erwartete einen Lichtblitz, vielleicht auch ein wenig Rauch, in dem sich dann eine benommene und angeschlagene Ileana materialisieren würde. Es dauerte einen Moment, dann erschien die schöne Hexe tatsächlich - keineswegs benommen, sondern wütender als je zuvor. „Ileana." Miranda trat zwischen den Hexer und seine tobende Tochter. „Wem kann das schon schaden? Lass uns doch einfach das machen, was Lord Thantos vorgeschlagen hat. Wir vergleichen die Bücher ..."
225
„Ausgezeichnet." Thantos lächelte Cam und Miranda freundlich an, legte sein ledergebundenes Buch auf den Tisch und schlug es auf. Dann winkte er sie näher, damit sie es prüfen konnten. Das Buch bestand aus einem Packen Pergamente, die mit einer dicht gedrängten Handschrift beschrieben worden waren. Selbst Cam konnte erkennen, dass es die Handschrift des weisen alten Hexers sein musste, obwohl sie sie nur selten gesehen hatte. Allerdings war sie vor ein paar Wochen in seinem Haus gewesen und hatte seine Schriften gesehen. „Ah." Thantos strahlte Cam dankbar an. „Du kennst also seine Handschrift. Dann wirst du sicher bestätigen, dass das hier Karshs eigene Schrift..." „Es ist eine Fälschung!" brüllte Ileana und presste ihr eigenes Buch an die Brust. „Ist es wirklich eine Fälschung? Dann wollen wir sie mal vergleichen." Obwohl Thantos jetzt sehr höflich sprach, war seine abgrundtiefe Verachtung für Ileana in seinem Tonfall nicht zu überhören. Als Ileana ihr Buch auf den Tisch legte, lachte er spöttisch. „Komm mal her und schau dir das an, Miranda", sagte er einladend, wobei er durch das Buch blätterte. „Schau dir diesen armseligen Versuch an, Lord Karshs Handschrift nachzuahmen, schau nur, wie unregelmäßig, chaotisch und unsicher die Schrift auf den letzten Blättern ist!" „Das ist doch gerade der Beweis, dass sie echt sind!", sagte Ileana beharrlich. „Er stand schon mit einem Bein im Grab, als er diese Seiten geschrieben hat! Natürlich war seine Schrift unter
226
diesen Umständen zittrig. Er brauchte seine letzte Kraft, um das hier niederzuschreiben. Und um dafür zu sorgen, dass wirklich alles gesagt und erklärt worden war." Und als sie Karshs letzte Worte wiederholte - „Es steht geschrieben, Kinder. Alles steht geschrieben" -, brach sie fast in Tränen aus. „Aber du selbst hast natürlich überhaupt gar keinen Grund zu lügen?", bemerkte Thantos sarkastisch. Seine Miene war scheinheilig und seine schwarzen Augen funkelten hinterlistig. Möglicherweise wollte er sie täuschen und dann die Falle zuschnappen lassen. Jedenfalls fügte er hinzu: „Welchen Grund du haben könntest, werden wir bestimmt bald sehen." Cam trat neben ihre Mutter und betrachtete beide Bücher eingehend. Ihre Einbände schienen identisch zu sein - Zwillinge, so wie Alex und sie. Beide trugen den auf abgegriffenem Leder eingeprägten Titel Vergebung oder Rache. Aber das Innere der Bücher war verschieden. In Thantos' Band waren die Per-gamentblätter zu einem Buch gebunden; im anderen Band, der Ileana gehörte, lagen sie aufgestapelt in einem kastenähnlichen Hohlraum, den man aus dem ursprünglichen Buch herausgeschnitten hatte. Beide Texte waren anscheinend mit Tinte geschrieben worden, aber in Ileanas Buch fanden sich viel mehr Tintenflecken und sonstige Verunreinigungen. Beide hatten denselben Umfang und in beiden Büchern brach der Text an einigen Stellen ab. Die Handschrift unterschied sich nur geringfügig, vor allem auf den letzten Blättern. Thantos blätterte durch die beiden Bücher, bis er zu einer Stelle auf einer der letzten Seiten kam. Während er langsam Seite um Seite wendete, hatten alle Gelegenheit, die beiden Texte zu
227
vergleichen. Offensichtlich enthielten sie fast identische Darstellungen. So wurde in beiden Büchern beschrieben, dass Karsh Antayus und Nathaniel DuBaer - der Großvater der Zwillinge - zeit ihres Lebens die engsten Freunde gewesen waren. Selbst wenn sie verwandt gewesen wären, hätte ihre Beziehung nicht enger sein können. Diese Tatsache wurde nirgendwo bestritten und ebenso unbestritten war, dass Nathaniel seinem Freund Karsh seinen letzten Wunsch in Bezug auf die Familie anvertraut hatte. Aber von dieser Stelle an wichen die beiden Texte voneinander ab. In dem Buch, das sich in Thantos' Besitz befand, gestand Karsh, Nathaniel in den Tiefen der Höhlen von Coventry getötet zu haben: Von plötzlicher Wut gepackt, ermordete ich meinen teuersten Freund. Ein unverzeihlicher Akt, den ich gestehen muss, bevor ich sterbe. Der Fluch, so hatte Karsh demnach geschrieben, hatte sich als stärker erwiesen als unsere Freundschaft. Und wenn es stimmte?, überlegte Cam und schon beim bloßen Gedanken sank ihr Mut. Hätte der freundliche, sanfte Karsh in einem rasenden, unbeherrschbaren Wutanfall jemanden töten können? Wäre ihr weiser Beschützer, der sie und Alex zusammengebracht und stets mutig verteidigt hatte, fähig gewesen seinen besten Freund zu ermorden ? In Ileanas Buch wich das Szenario an dieser Stelle entscheidend vom anderen Text ab. Karsh und Nathaniel waren zusammen in die Höhlen
228
hinuntergestiegen, wo Nathaniel einem der geistig verwirrten Höhlenbewohner, einem Hexer, zum Opfer fiel. Karshs Versuch den Freund vor dem Tod zu bewahren, schlug fehl, schlimmer noch: Karsh wurde zum Instrument seines Todes. Aber dennoch war es ein Unfall gewesen. Auch in dieser Version erwähnte Karsh einen Fluch. Aber keiner der beiden Texte erklärte, worum es bei diesem Fluch eigentlich ging. Was auch immer er beinhalten mochte, musste also an früheren Stellen der Texte beschrieben worden sein, überlegte Cam, oder würde später erläutert werden. Ileanas Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken. „Da!", schrie die wütende Hexe und deutete auf Thantos' Buch. „Genau da beginnen die giftigen Lügen! Was hier steht, ist der Grund für diese ungeheuerliche Fälschung!" Cam las die Passage in Thantos' Buch laut vor, auf die Ileana deutete: „Meine Söhne sollen mein Erbe fortführen. Alle meine Söhne, doch in der Reihenfolge ihrer Geburt: Thantos, Aron und Fredo sollen die Dynastie der DuBaers in das nächste Jahrhundert führen. Ich habe meinen Söhnen alles mitgegeben, was gut, gerecht und richtig ist. Ich habe volles Vertrauen in sie. Wenn irgendein Mensch den Antayus-Fluch beenden kann, dann nur die nächste Generation der Männer der Du-Baer-Familie." Das waren Nathaniels letzte Worte gewesen - Thantos' Buch zufolge.
229
Ileanas Buch erzählte allerdings eine ganz andere Geschichte. „Von diesem Tag an", las Ileana mit vor Erregung zitternder Stimme, „werden nur Frauen das Schicksal des DuBaer-Clans bestimmen. Es werden bemerkenswerte Frauen sein, dem Guten verpflichtet, voller Mitgefühl und Gerechtigkeit, die die Künste unseres Standes erlernt haben und die vom Makel des Antayus-Fluchs befreit sind." Ileana wandte sich an Cam und Miranda, nach Bestätigung suchend, doch ihr Gesichtsausdruck ging von Triumph zu Entsetzen, Schock und schließlich Wut über. „Ihr glaubt mir nicht? Miranda Martine DuBaer! Du hast es mit eigenen Augen gesehen. Du ..." „Ich habe das Buch gesehen, das du mir gezeigt hast. Und ich hatte keinen Grund an seiner Echtheit zu zweifeln." Miranda wandte die Augen ab und senkte den Kopf, unfähig Ileanas vorwurfsvollen Blick zu ertragen. „Aber das war, bevor ich erfuhr, dass es ein zweites Buch gibt. Ileana, du trägst einen so tiefen Hass auf deinen Vater in dir - ist es nicht möglich, dass dein Buch die Fälschung ist? Ist es nicht denkbar, dass du in deiner Rachsucht... unüberlegt... überstürzt gehandelt hast, um den Mann zu bestrafen, der dich verstoßen hat?" Thantos bemühte sich mit geringem Erfolg ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken. Er schob sich an seiner wie erstarrt dastehenden Tochter vorbei und legte Miranda einen Arm um die Schultern. „Wir dürfen nicht zu hart mit ihr umgehen", säuselte er wohlwollend. „Sie verhält
230
sich nicht aus bösem Willen so ablehnend und rachsüchtig. Das liegt nun mal in ihrer Natur." Jede Farbe war aus Ueanas wunderschönem Gesicht gewichen. Sie schnappte hörbar nach Luft. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Aber das blieb nicht lange so. „Natürlich versucht er alles, um mich als Lügnerin hinzustellen, als sei ich nichts weiter als eine rachsüchtige Idiotin, eine verlogene, skrupellose, gewissenlose Intrigantin!" Ileana war zutiefst verletzt, aber sie kämpfte die Tränen nieder, die in ihre ungewöhnlichen grauen Augen getreten waren. „Aber du, Miranda! Du kennst mich seit meiner Geburt - bestimmt weißt du doch genau, dass ich keine Lügnerin bin! Wie kannst du nur glauben, dass ich einen so grotesken Schwindel erfinden würde?" Miranda, die an Thantos Arm wie an einem Anker hing, senkte den Kopf - ob vor Verlegenheit oder Verwirrung, konnte Cam nicht erkennen. Doch plötzlich rief Ileana auch Cams Namen. „Apolla! Camryn - verstehst du denn nicht, worum es geht? Diese Familie, diese stolze Dynastie - es war der letzte Wille deines Großvaters, dass du und Artemis die Führung der Familie übernehmen solltet. Nicht ich! Schon deshalb nicht, weil ich durch meine Mutter das ,unreine' Blut der Antayus' in mir trage. Sondern die Töchter Arons, du und deine Schwester ..." „Wenn es das wäre, was Lord Karsh meinte", fuhr Thantos grob und mit verächtlichem Grinsen dazwischen, „warum hätte er dann ausgerechnet ein
231
rebellisches, rachsüchtiges Kind wie dich zu ihrer Beschützerin, ihrem Vormund bestellt ? Du warst damals noch nicht einmal voll erwachsen, eine junge Göre, an der die gesamte Hexengemeinschaft schier verzweifelte ! Warum hat er nicht einen der erhabenen Ältesten dazu bestimmt, jemanden, der weise und angesehen war? Nein, Ileana. Alles, was du sagst, beweist nur immer dasselbe - du lügst!" Cam verspürte einen wilden, unbeherrschbaren Drang sich die Ohren zuzuhalten und nur noch zu schreien: „Stopp! Hört auf! Genug!" Nichts ergab mehr einen Sinn. Es gab zu viele verzerrte Versionen dieser vertrackten Geschichte, sie musste erst einmal in Ruhe darüber nachdenken. Ihr Instinkt und ihr Herz standen auf Ileanas Seite, aber wenn nicht einmal Miranda die Geschichte der gereizten und völlig überspannten Hexe noch glauben wollte ... Cam war bis aufs Mark erschüttert. Schließlich war sie wegen Shane hierher gekommen - war es wirklich erst eine Woche her? Der unzuverlässige Hexer hatte sie gebraucht - oder jedenfalls hatte er das behauptet. Und sie war gekommen, um ihm zu helfen. Vielleicht auch in der Hoffnung in ihm einen Seelenverwandten zu finden, jemanden, mit dem sie sich voll und ganz verstand. Stattdessen waren ihr bei jedem Schritt, den sie auf Coventry getan hatte, neue Geheimnisse wie explodierende Minen um die Ohren geflogen. Und jetzt war sie direkt auf die offenen Wunden einer uralten
232
Familienfehde gestoßen. Wenn Ileanas Version der Geschichte stimmte, würde man sie und Alex dann bald auffordern die Führung der DuBaer-Dynastie zu übernehmen? „Aber das ist doch total verrückt!", brach es aus Ileana heraus, deren Gesicht nun von Tränen überströmt war. „Miranda, Camryn - ihr könnt doch nicht ernsthaft glauben, dass ich dieses Dokument aus Hass und Boshaftigkeit gefälscht habe -in allen Details, die es enthält! Wie hätte ich denn das machen sollen? Mit welchen Mitteln? Glaubt ihr denn wirklich, dass ich tageund nächtelang nichts anders zu tun gehabt hätte, als die Aufzeichnungen meines verehrten Meisters und Vormunds abzuschreiben und zu verändern ? Seinen letzten Willen zu verfälschen ?" Cams Augen wurden trübe; sie sah plötzlich etwas, das sich gar nicht in diesem Raum befand. „Ist alles in Ordnung?", fragte ihre Mutter besorgt und legte ihr den Arm um die Schultern. „Hast du eine Vision, eine Vorahnung?" „Nein", antwortete Cam benommen, „aber ich erinnere mich plötzlich an etwas ..." Thantos trat sofort zwischen Cam und Miranda. Er legte Cam seine schwielige, schwere Hand auf die Stirn, als
233
wolle er ihre Temperatur überprüfen, um festzustellen, ob sie Fieber hatte. Cam wich ihm aus. Sie wusste instinktiv, dass seine Berührung, so fürsorglich sie auch scheinen mochte, einen anderen Zweck verfolgte: sich physisch zwischen Cam und Miranda zu drängen, sie voneinander zu isolieren - oder Cam davon abzuhalten, das zu beschreiben, was ihr offenbar wieder eingefallen war. Okay, dachte sie. Es hatte keinen Zweck sich auf eine Wortschlacht mit ihrem tückischen Onkel oder seiner überdrehten, unglücklichen Tochter einzulassen. Hier zählten nur Beweise. Deshalb bat sie die anderen - nein, sie bestand darauf- ihr zu folgen. Miranda war ohne Zögern bereit dazu und folgte Cam zur Tür. Ileana wirkte so verunsichert, dass sie offenbar niemandem mehr zu trauen schien, aber nach kurzem Zögern schloss sie sich an. Thantos blieb allein zurück. „Apolla!", fauchte er hinter ihnen her. „Das ist mein Haus und ich bin das Familienoberhaupt! Du kannst hier nicht einfach herumkommandieren!" Aber niemand achtete auf den wichtigtuerischen Hexer. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu entscheiden -entweder schmollend hier zu bleiben oder sich den Frauen anzuschließen. Er überlegte nicht lange. Cam, Miranda und Ileana hatten gerade die Salontüren erreicht, als er bereits mit großen Schritten hinter ihnen hereilte. Laut und wütend stampfte er über die Marmorfliesen.
234
„Aber das war mein Zimmer!" protestierte er zornig, als Cam die Tür zu seinem Kinderzimmer öffnete. Sie beachtete ihn nicht, sondern ging zu der kleinen Kommode und rückte sie zur Seite. Miranda und Ileana schauten ihr schweigend zu. „Welche Idiotie hast du jetzt wieder vor?", wollte Thantos wissen. „Das hier habe ich rein zufällig entdeckt", erklärte Cam, als die Geheimtür sichtbar wurde. „Und natürlich bin ich hinuntergestiegen ..." „In das Rattenloch?" Thantos verzog sein Gesicht zu einem künstlichen Grinsen. Cam fuhr zu ihm herum. „In die Höhlen. Ich glaube, dass du sehr genau weißt, was sich dort befindet!" Thantqs wollte wütend auffahren, doch dann lachte er verächtlich. „Wir haben es immer nur Rattenloch genannt. Eine Spielhöhle für uns Kinder. Ich hab schon längst vergessen, dass es diese Luke überhaupt gibt." Doch Cam hatte bereits die Tür geöffnet und betrat den Tunnel. Die Stimme ihres Onkels hallte in dem dunklen Gang. „Da unten ist nichts, schon gar nichts, was mit unserer Sache zu tun hat!", rief er ungeduldig. „Das werden wir ja sehen ..." hörte Cam Miranda sagen, dann hörte sie ihre leichten Schritte hinter sich auf der gewundenen Steintreppe, gefolgt von dem scharfen Klicken, das Ileanas hochhackige Schuhe erzeugten.
235
Thantos folgte als Letzter. „Welche Verrücktheit ist das jetzt wieder?", schimpfte er. „Was hoffst du denn in diesem schimmeligen, verlassenen Loch zu finden?" „Ich glaube, das weißt du ganz genau", gab Cam über ihre Schulter zurück. Sie hatte inzwischen die runde Höhle erreicht. Und blieb stehen, entsetzt und sprachlos. Die Kammer in der Mitte und alle fünf Tunnel, die sternförmig von ihr fortführten, lagen halb zerfallen, verlassen und unheimlich still vor ihnen. Es gab keinen Felsvorsprung, keinen großen Felsen, der dem Schreiber mit der Rattenschwanzfrisur als Tisch hätte dienen können, keinerlei Hinweise auf Wachsspuren an den Felsenwänden oder auf dem Boden, die bewiesen hätten, dass hier einmal Kerzen gebrannt hatten. Thantos hörte alles, was sie dachte, und brach in brüllendes Gelächter aus, das die leere Felsenkammer erbeben ließ. „Es gibt da eine Prophezeiung, dass du und deine freche Schwester einmal mächtige Hexen werden würdet", stieß er zwischen seinen Lachanfällen verächtlich hervor. „Und doch kennst du nicht mal den Unterschied zwischen einem Albtraum und einem Omen!" Cam war zutiefst verwirrt. Hatte sie das alles wirklich nur geträumt? Oder war es eine Vision gewesen - die erste ihres Lebens, die nicht wahr geworden war? „Nein!" Ileanas Stimme klang sehr bestimmt. Auch sie hatte Cams Gedanken gehört. „Sag es laut. Sag uns, was du gesehen hast. Ich glaube dir, Apolla!"
236
Mirandas Blick glitt von Ileana zu Thantos. Und sie traf ihre eigene Entscheidung. „Du bist meine Tochter und ich vertraue dir aus ganzem Herzen. Hab keine Angst. Erzähle uns alles." „Genau hier, an dieser Stelle", erklärte Cam mit fester Stimme, „habe ich einen Jungen gesehen. Einen Hexer. Er hatte wirres Haar und schrieb etwas mit einem Gänsekiel in ein Buch. Er hatte einen Stapel Blätter vor sich liegen, die genauso aussahen wie die Seiten in deinem Buch, Ileana. Ich glaube, dass er sie abgeschrieben hat." Thantos applaudierte, aber betont langsam und verächtlich. „Gratuliere, Apolla. Du hast wirklich eine bemerkenswerte Fantasie." Er neigte den Kopf, als zolle er ihr großen Respekt. „Jemand hat einmal gesagt, Vorstellungskraft sei wichtiger als Wissen. Du scheinst das jedenfalls auch zu glauben." Bevor Cam widersprechen konnte, fuhr er schnell fort: „Deine Treue gegenüber Karsh ist absolut lobenswert - auch wenn du selber dabei gründlich getäuscht worden bist. Aber wir sehen es ja alle: Es gibt eben absolut keinen Beweis für deine absurden Anschuldigungen." Er wies mit einer lässig einladenden Handbewegung zur Treppe und deutete damit an, dass sie wieder nach oben gehen sollten. Aber Cam war jetzt sicher, dass Karshs echte Aufzeichnungen hier, in dieser Höhlenkammer, abgeschrieben worden waren, dass es eine gefälschte
237
Version davon gab. Das hatte sie hier unten mit eigenen Augen gesehen. Einen Moment lang starrte Thantos Cam bösartig und drohend an. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als ihr auf einmal klar wurde, dass er jederzeit einen Fluch über sie verhängen konnte. Einen Fluch, mit dem er ihr nahezu alles antun konnte - von der totalen Körperstarre bis hin zur Verwandlung in einen Kartoffelkäfer. Aber er drehte sich nur abrupt und angewidert um und stieg die Treppe hinauf. Doch Ileana war noch nicht fertig mit ihm; sie stürzte sich auf ihn und versuchte ihn an seinem schwarzen Umhang zurück-zuzerren. „Du warst es, du Lügner! Du hast eine Abschrift anfertigen lassen, eine Fälschung von Lord Karshs Aufzeichnungen!" Thantos wandte sich langsam um und befreite sein Cape mit einer ruckartigen Bewegung aus ihrem Griff. Er stand bereits auf der Treppe und blickte von oben wütend auf sie herab. „Fass mich nie wieder an!", fauchte er drohend. „Und wage es nie wieder mich vor Miranda als Lügner zu bezeichnen! Nie wieder, verstanden?" „Mach, was du willst. Ich gebe nicht nach. Cam hat hier unten einen Jungen gesehen, einen deiner Lehrlinge oder einen Gefangenen, was weiß ich, einen Diener oder eine Geisel, jedenfalls jemand, der unter deinem Kommando
238
steht. Und du hast ihm befohlen Karshs Buch abzuschreiben und seine Schlussfolgerungen so zu verändern, dass alles zu deinem eigenen Vorteil ist!" Cam und Miranda hörten zitternd Thantos' Drohung und Ileanas Behauptung. Sie fürchteten sich vor Thantos' unbeherrschten Wutausbrüchen. Cam spürte es zuerst: Eine sanfte, milde Brise umwehte sie plötzlich, wirbelte herum, als wolle sie einen Wärmekokon um sie spinnen. Miranda stöhnte leise auf und blickte suchend um sich. Über ihnen auf der Treppe brüllten sich Thantos und Ileana noch immer an, aber Cam und ihre Mutter wurden von einem unsichtbaren Band umgeben, das aus Wärme zu bestehen schien, eine Schutzschranke zwischen ihnen und dem Vater-Tochter-Streit. „Aron?", flüsterte Miranda, als erwarte sie eine Antwort. Auch Cam spürte es. Jemand oder etwas schützte sie. Einen Augenblick später wusste sie warum. Miranda, die immer noch Cams Hand hielt, verkündete: „Ich glaube ihr." Sie sprach mit so ruhiger Gelassenheit, dass der Streit über ihr jäh verstummte. „Wenn Apolla behauptet, hier unten einen Hexer gesehen zu haben, der etwas aufschrieb und vielleicht Lord Karshs Aufzeichnungen kopierte, dann glaube ich ihr. Sie ist
239
meine Tochter. Und sie ist Arons Tochter - und so mächtig, gut und ehrlich wie ihr Vater. Geboren, um ständig selbst zu lernen und andere anzuleiten. Sie bildet sich diese Dinge nicht ein. Und sie lügt nicht." „Genau!", schrie Ileana triumphierend. Thantos fuhr zu ihr herum und trat eine Stufe tiefer. Ileana nahm an, dass er ihr das Buch entreißen wollte, drehte sich schnell und wollte es Miranda zuwerfen, bei der es sicher gewesen wäre. Aber Thantos war nicht hinter Karshs Aufzeichnungen her. Er packte Ileanas Kopf mit beiden Händen und zog ihn zu sich herum, sodass sie ihn anblicken musste. Sie schrie auf und versuchte verzweifelt den Blick abzuwenden, aber es war schon zu spät. Thantos' glitzernder schwarzer Blick brannte sich in ihre Pupillen. Eine Sekunde später heulte Ileana vor Schmerzen und Entsetzen auf. „Nein! Nein! Ich bin blind! Ich kann nichts mehr sehen!" Miranda trennte sich abrupt von Cam und von dem warmen Band, das sie umwehte. In ihren Augen stand blankes Entsetzen. Völlig außer sich schrie sie: „Wie konntest du das tun! Thantos, du ..." Aber sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Thantos brachte sie mit einer einzigen Handbewegung zum Schweigen, dann lähmte er sie mit einer Beschwörung. Cam wollte sich nicht überwältigen lassen. Sie griff schnell nach ihrem Sonnenamulett und, wie ihre Mutter kurz zuvor, flüsterte sie: „Aron. Vater ..." Sie spürte, wie sich die Wärme, von der sie umgeben war, in dem Amulett konzentrierte. In dem Amulett, das ihr Vater für sie geschmiedet hatte. Cam fühlte sich bereit.
240
Aber Thantos war listig; nie ließ sich voraussagen, was er als Nächstes tun würde. Er schien nicht daran interessiert zu sein sie zu lähmen oder auszuschalten. „Folge mir, Apolla!", befahl er rau, drehte sich um und stapfte die letzten Treppenstufen hinauf. „Deiner Mutter geht es gut, sie spürt keine Schmerzen. In ein paar Minuten kannst du wieder zu ihr gehen und ganz normal mit ihr reden." Cam hatte keine Angst - sie war nur neugierig. Ohne ihr Amulett aus der Hand zu lassen, folgte sie ihm. Vor der Tür, die in sein Jugendzimmer führte, blieb er kurz stehen. „Du musst mir vertrauen, Apolla. Stelle dich auf meine Seite", sagte er mit ungewohnt weicher Stimme. „Spielt es wirklich eine Rolle, welches Buch der alte Hexer geschrieben hat? Er ist tot. Und ich bin das Familienoberhaupt. Wenn mich deine Mutter heiratet, wirst du all das erben ..." Jetzt begann sie zu begreifen, in Wellen kam ihr die Einsicht, Schwindel erregend, aber kristallklar. Jeder Zweifel wurde hinweggefegt. Natürlich besaß Ileana das echte Buch, das Buch, in dem geschrieben stand, dass Arons Zwillingstöchter die mächtige DuBaer-Dynastie führen müssten. Und natürlich konnte Thantos diese Wahrheit nicht akzeptieren. Thantos, der nur an eins glaubte: an seine eigene Überlegenheit, an sein unverdientes, aber unveräußerliches Recht zu herrschen. Von frühester Jugend an war ihr Onkel von einem Gefühl verzehrt worden: von seinem Neid, seiner Eifersucht. Die Zeichen dafür erkannte Cam jetzt in aller Klarheit, nicht nur in dem, was er tat, sondern auch in
241
seinem Jugendzimmer. Und mit all seinem Betrug, seiner Täuschung, seiner dunklen Magie und noch schlimmeren Übeltaten hatte Thantos nur ein einziges Ziel verfolgt: sich das zu verschaffen, was ihm nicht zustand. Cams Hand schloss sich noch fester um das Amulett. Aber Thantos konnte nichts tun. Er hatte zwar immer wieder versucht Cam und ihre Schwester zu fangen und zu vernichten, aber keiner seiner brutalen Pläne war gelungen. Und kein Plan würde ihm je gelingen. Nicht solange Cam und Alex Rücken an Rücken kämpften. Und nicht solange Miranda, ihre Mutter, und Ileana, ihre Beschützerin, auf ihrer Seite standen. Und ganz bestimmt nicht mehr, wenn sie erst ihre Weihe als Hexen empfangen hatten. Ihr werdet niemals geweiht! Hatte Thantos gewollt, dass sie seinen stillen Ausruf hörte, oder hatte er gar nicht gewusst, dass sie Gedanken hören konnte? Cam jedenfalls wusste, dass dieser Ausruf zugleich ein Schwur gewesen war. Ein Versprechen, das er unter allen Umständen versuchen würde zu halten. Und zum ersten Mal, seit sie und Alex zusammengetroffen waren, wurde Cam klar, wie wichtig es war, dass sie endlich geweiht wurden. Dass sie an ihrem sechzehnten Geburtstag mit den vollen Zauberkräften ausgestattet wurden. In wenigen Monaten würde es so weit sein. Erst dann würden sie und Alex ihren rechtmäßigen Platz in der Gemeinschaft von Coventry einnehmen können - und auf Crailmore.
242
Thantos bückte sich und wollte gerade durch die kleine Tür in sein Jugendzimmer treten, als Cam mit eisiger Stimme befahl: „Widerrufe sofort den Fluch, den du über meine Mutter und Ileana verhängt hast." Er zögerte nur kurz. „Alles zu seiner Zeit. Miranda geht es gut. Sie spürt nichts, keinen Schmerz. Glaubst du wirklich, dass ich ihr Schmerzen bereiten würde?" „Warum nicht? Du liebst sie nämlich gar nicht, sondern du brauchst sie. Und mich hast du nicht aus dem Treibsand gerettet, weil du mich magst. Sondern weil du mich brauchst, um Miranda zu bekommen", antwortete Cam. „Ah, das ist genau der Punkt, an dem du dich irrst", sagte ihr Onkel kalt. „Ich liebe Miranda wirklich. Ich habe sie immer geliebt. Aber sie traf keine sehr kluge Entscheidung, als sie meinen Bruder heiratete. Aron war ein Schwächling. Er verfolgte völlig verrückte Ziele, sein Ehrgeiz war zerstörerisch. Er wollte das ganze Vermögen und alle Macht unserer ruhmreichen Familie in den Dienst völlig fremder Menschen stellen. Nein - ich bin als Einziger der Brüder stark und entschlossen genug unser rechtmäßiges Erbe zusammenzuhalten. Und was ist mit dir? Deine Mutter hat Recht. Du bist eine starke Hexe, Apolla. Wenn du dich mit mir verbündest, werden wir beide davon profitieren." Genau darum ging es, stellte Cam im Geiste fest. Er brauchte nur eine der beiden Zwillingsschwestern für seine Allianz des Bösen. Denn solange sie voneinander
243
getrennt waren und nicht zusammenarbeiten konnten, waren ihre Zauberkräfte stark gemindert, sodass Thantos immer die Oberhand behalten würde. Aber warum hatte er sich für Cam entschieden? War sie wirklich so viel leichter zu beeinflussen ? „Ich bewundere deine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis", sagte der Hexer mit beißender Ironie. Na super. Sie war also zur Selbsterkenntnis fähig, das war schon mal was. Und wenn sie dabei entdeckte, dass sie das Zeug zur Mörderin hatte? Dann Gnade dem Idioten, der ihr in den Weg geriet, wenn sie ihre Begabung gleich ausprobierte. Und das war in diesem Fall Thantos. Sie versuchte ihn mit ihrem Superblick zu blenden, aber er wich ihrem heißen Blick geschickt aus. „Du bist ein cleveres Mädchen, aber ich warne dich mein Blick kann größeren Schaden anrichten als deiner. Also komm, schließ dich mir an. All das hier könnte dein Eigentum sein. Alex brauchst du doch gar nicht. Du bist der Star der Familie." Der Star der Familie. Hatte sie nicht immer genau das sein wollen? „Und wo passt deine eigene Tochter in deinen großartigen Plan ?", fragte Cam provozierend.
244
„Nirgendwo", schoss Thantos scharf zurück und warf einen Blick in Richtung Ileana, die auf die Knie gesunken war und mit den Händen ihre blinden Augen bedeckte. „Ihre Mutter war eine Antayus. Die Tochter ist ein zu großes Risiko, eine potenzielle Gefahr für mich." Schon die Art, wie er es sagte, mit dieser absolut gleichgültigen Aufrichtigkeit, jagte Cam einen Kälteschauer über den Rücken. Er würde Ileana umbringen und sich nicht das Geringste dabei denken. Und wenn eine von Mirandas Töchtern für die große Sache der DuBaers geopfert werden musste, so konnte man eben nichts machen. War er wirklich schon so wahnsinnig, dass er glaubte, Miranda würde das einfach hinnehmen? Oder glaubte er etwa, dass er seine skrupellosen Pläne auf ewig vor ihr geheim halten könne ? Thantos wandte ihr den Rücken zu. Er zwängte sich durch die kleine Tür und verschwand. „Wie lange, glaubst du, würde es dauern, bis meine Mutter dich durchschaut ?", rief ihm Cam nach. „Bis in dein verderbtes Innerstes?" „Was für eine interessante Frage, ausgerechnet von dir", gab er scharf zurück. „Ich denke, du kennst die Antwort schon längst." Cam eilte ihm nach. „Wovon redest zu eigentlich?", verlangte sie zu wissen, als sie wieder in sein Jugendzimmer trat. „Liebe macht blind", sagte er mit
245
bösartigem Lachen. Sie folgte seinem Blick. An einem der Fenster stand ein großer, sportlicher junger Hexer und schaute in den Park hinaus. „Das gilt sogar für die Sonnenprinzessin", fügte Thantos spöttisch hinzu und schnippte mit den Fingern. Der Junge drehte sich um. Das Letzte, was Cam sah, bevor sie in die Dunkelheit gestoßen wurde, war das Glitzern eines Medaillons. Es hatte die Form eines Hufeisens. Und wie ihr mit dem letzten Gedanken klar wurde, war es das Abzeichen von Thantos' treuesten Gefolgsleuten. Das Medaillon hing um Shanes Hals.
246
KAPITEL 19 KAMPF
„Der Reisende" wirkte, vielleicht stärker als je zuvor, denn dieses Mal wurde seine Wirkung wurde durch die Wut dreier rasender Furien und einer chaotischen Zwillingshälfte dermaßen angeheizt, dass sie praktisch mit Lichtgeschwindigkeit reisten. Für Alex jedenfalls fühlte es sich so an; sie war so außer Atem, dass sie praktisch nur noch nach Luft japsen konnte, als „der Reisende" sie vor dem Schlossportal von Crailmore ziemlich unsanft absetzte. Ihre Reisegefährtinnen allerdings schienen nichts dergleichen zu verspüren. Rasend vor Wut und aufs Äußerste entschlossen stürmten sie durch die gewaltigen, massiven Türen und fegten die paar Hexenlehrlinge einfach beiseite, die dumm genug waren sich ihnen in den Weg zu stellen. Alex hörte die Stimmen zuerst. Thantos knurrte: „Offenbar bekommen wir noch mehr Besuch - und der wird nicht erwartet und ist auch nicht erwünscht. Jedenfalls kommt er äußerst ungelegen."
247
„Davon hatte ich keine Ahnung", versicherte Shane nervös. „Das müsst Ihr mir glauben!" Alex rannte, so schnell sie konnte, in den Ostflügel des Schlosses, wo sich das Zimmer befand, in dem Thantos als Kind gehaust hatte. Denn von dort hörte sie die Stimmen. Sersee allerdings ging dorthin, wo sie Thantos zuletzt gesehen hatte und wo sein Geruch noch immer ziemlich penetrant in der Luft hing. Aus schierer Gewohnheit folgten ihr Epie und Michaelina durch den Korridor mit seinen vielen Porträts bis zum Salon. Alex stürzte in das Turmzimmer, bereit, es mit ihrem brutalen Onkel und dessen heimtückischen Speichelleckern aufzunehmen. Aber als sie Cams Gesicht sah, verlor sie die Fassung. Ihr Zwilling starrte ins Leere blicklos. Thantos hatte Alex natürlich längst erwartet. Er strich über seinen dunklen Bart, betrachtete sie mit scharfem, aber auch spöttischem Blick und verkündete: „Du kommst von weit her. Für nichts und wieder nichts. Deiner Schwester kann niemand mehr helfen. Am besten, du gehst gleich wieder, solange du dich noch bewegen kannst." Alex achtete nicht auf ihn. „Cam!", schrie sie auf. Sie griff nach ihrem Mondamulett und wirbelte zu Shane herum. Der Junge zitterte am ganzen Körper, aber Alex wusste nicht, ob es Angst war oder Wut. „Was hast du mit meiner Schwester gemacht?", bellte sie ihn an.
248
„Er hat sie geblendet. Mit Liebe", spottete Thantos und versuchte Alex' Blick zu bannen. „Schau ihm nicht in die Augen!", befahl Cam verzweifelt. „Schau keinem von beiden in die Augen!" Denn in dem Moment, in dem Cam Shane angeblickt hatte, war ihr kostbares und ungewöhnliches Sehvermögen zerstört worden. Der Hexer und sein Hufeisenamulett hatten ihre Augen geblendet. Sein Gesicht und das Amulett hatten sich in ihre Netzhaut eingebrannt - als hätte sie zu lange in die Sonne geblickt. Sie konnte nichts mehr erkennen. „Lauf! Rette dich!", flehte Cam ihre Schwester an. Alex brauchte eine Sekunde, um die Situation zu überblicken. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Ileana, die ebenfalls nicht mehr sehen konnte und irgendwo im Dunkeln kniete ... neben ihrer Mutter Miranda ... Aber hatte sie die beiden Frauen wirklich gesehen ? Alex' Vorteil lag in ihrem Supergehör. Die Gedanken anderer Leute zu hören, war für sie kein Problem. Aber sehen? Sich Ileana tatsächlich vorzustellen, wie sie in ihrem elenden Zustand in irgendeiner düsteren Höhle lag, vernichtet, laut weinend, während Miranda erstarrt war? War es möglich, dass Alex das alles jetzt sah, weil Cam nichts mehr sehen konnte? Das liegt an der Insel, antwortete ihre Schwester telepathisch. Wenn wir hier sind, nehmen unsere Zauberkräfte zu. „Das stimmt leider", bestätigte ihr Onkel. Aber Alex wusste, dass auch seine Zauberkraft auf Coventry stärker war als anderswo.
249
Alex hielt ihr Mondamulett immer noch fest in der Hand, das sich nun rasch erwärmte. Sie wandte sich dem grinsenden Schurken zu - und genau darauf hatte er nur gewartet. Ein einziger Blick auf das Feuer, das in seinen schwarzen Augen loderte, und sie hatte seine teuflische Absicht durchschaut: Er wollte ihre Augen blenden, damit sie so blind wurde wie ihre Schwester und Ileana. Schnell wandte sie sich ab, aber nicht schnell genug, um nicht bereits ein scharfes Brennen zu verspüren. Tränen traten in ihre Augen und für einen Moment konnte sie tatsächlich nicht mehr klar sehen. Aber als sie die Augen schloss, wurde ihr Gehör noch schärfer als je zuvor. Steh auf, Ileana!, hörte Alex von weither Mirandas Befehl. Ich kann sehen, auch wenn ich mich nicht bewegen und nicht sprechen kann. Achte nur genau auf meine Gedanken und ich werde dich leiten. Sie befanden sich in einer Höhle, so viel wusste Alex bereits. Aber wo ? War es die Höhle, in der die Furien gehaust hatten, direkt unter LunaSoleil? „Was machen wir mit dem Mondkind?", dröhnte Thantos tiefe Stimme in Alex' Gedanken und brachte sie wieder hierher zurück - in das Turmzimmer und zu den Schwierigkeiten, die sie dringend lösen musste.
250
In der Tasche ihrer Tarnjacke spürte sie plötzlich eine Wärme, die langsam, aber stetig zunahm. Karshs Kristall! Der Rosenquarz, den der Hexer so oft benutzt hatte und den auch Cam und Alex schon ein- oder zweimal eingesetzt hatten, um eine wirklich starke Zauberwirkung und Magie zu erzielen. Vielleicht konnte sie damit Cam vom schrecklichen Fluch ihres Onkels befreien ... „Hexer, ich rede mit dir! Was sollen wir mit ihr machen?", wiederholte Thantos ungeduldig. „Was Ihr wünscht...", antwortete Shane untertänig. Cam griff nach ihrem Sonnenamulett und wandte ihr Gesicht in die Richtung, aus der Shanes Stimme gekommen war. „Lass sie in Ruhe, Shane. Du bist zwar ein Lügner, aber doch kein Idiot. Selbst wenn du Alex jetzt etwas antust, wird er dir eines Tages hundertmal Schlimmeres zufügen, egal, ob du seine Befehle befolgst oder nicht." „Wie rührend", warf Thantos ein. „Sie liebt dich immer noch." „Ja, stimmt", rief Cam zu Alex' Entsetzen aus. „Das hat man mir nämlich beigebracht - uns beigebracht", verbesserte sie sich, „dass die Rache den Rächer stärker trifft als das Opfer. Dass Vergeltung Gift ist und dass nur Liebe ..." „... den Hass überwinden kann", vollendete Alex. Sie begriff jetzt, was ihre Schwester meinte. Die
251
Worte brachten ihr schmerzhaft den alten Hexer in Erinnerung, der den Zwillingen so viel beigebracht und ihnen so viel gegeben hatte. Darunter auch den Rosenquarz in ihrer Tasche. Thantos' brüllendes Lachen hallte von den düsteren Steinmauern wider. „Komm schon, Shane, sag uns, welches Ende am besten zur Schwester deiner verblendeten Freundin passen würde. Sie ist... mir ein Dorn im Auge - ja, das ist es! Wie wär's, wenn überall aus ihrer Haut Dornen hervorbrechen würden?" Alex behielt Shane genau im Auge. Er zitterte heftig. Der blonde Junge stand mit hängendem Kopf vor dem finsteren Hexer. „Wollt Ihr das wirklich ?", fragte er und seine Stimme klang unsicher und nervös. Thantos entging sein Zögern nicht. „Hast du Angst?" Thantos' natürlicher Raubtierinstinkt befahl ihm jeden anzugreifen, der Schwäche zeigte, und das war gerade sein treuester Diener. Shane fiel vor seinen Füßen auf die Knie. Die Tür flog krachend auf. „Steh auf, du Verräter, du Hund!", schrie Sersee, die in den Raum hereinbrach wie eine gigantisehe Bowlingkugel, dicht gefolgt von der winzigen Michaelina.
252
Thantos' verächtliches Grinsen wandelte sich in ein erstauntes „Oh". Zwar hatte er gewusst, dass Shane und Cam gegen Sersee einen Fluch ausgesprochen hatten, der ihre Eitelkeit zutiefst verletzen sollte, aber dieser Anblick versetzte selbst ihn in Erstaunen. Sie sah tatsächlich einem Ballon sehr ähnlich. Der spektakuläre Auftritt der Furien sorgte kurzzeitig für Ablenkung und Alex nutzte sie, um sich mit Cam zu verständigen. Bei Alex' Anblick hatte Cam vor Glück und Erleichterung weinen müssen - obwohl das, was sie von ihr sehen konnte, kaum mehr war als ein Schatten, umringt von kleinen Lichtblitzen. Aber die Tränen taten ihr gut, denn sie linderten das Brennen in ihren Augen. „Nimm das Amulett in die Hand und lass es nicht mehr los", flüsterte Alex ihr zu. „Und gib mir die andere Hand." „Hast du einen Plan?" fragte Cam leise und konnte schon wieder ein wenig lächeln. „Plan? Na ja", sagte Alex ausweichend, „ich hab zumindest den Rosenquarz. Das ist schon mal etwas. Du hast nicht zufällig ein paar Zaubersprüche parat?" „Du!" knurrte Thantos Sersee an, als er die Fassung wieder gefunden hatte. „Du hast versagt, hast mich im Stich gelassen! Artemis ist hierl Sie ist hier, um alles zu zerstören, was ich aufgebaut habe! Befolgst du so meine Befehle?" „Warum fragt Ihr nicht Epie?", fauchte Sersee zurück. „Ich lebe ja auch noch und bin auch hier obwohl Ihr Epie befohlen habt mich zu töten. Meint Ihr
253
nicht, dass sie auch versagt hat?" Sie wandte sich wieder zu Shane und befahl ihm noch einmal: „Steh auf, du Verräter! Hebe sofort den Fluch auf oder ich zerquetsche dich!" Der Junghexer kam zögernd auf die Beine. Seine Lippen zuckten und seine Kiefermuskeln mussten heftig arbeiten, um ein Grinsen zu unterdrücken. „Mit der Figur dürfte dir das wirklich nicht schwer fallen", sagte er kalt. Sersee streckte die krallenartigen Hände nach ihm aus. „Universum der Liebe, enttäusche mich nicht, gib zurück meiner Schwester das Augenlicht", flüsterte Alex. „Lass uns leben und helfen den Menschenkindern, zum Beispiel Sersees Zustand schnellstens lindern ..." fuhr Cam fort, dann brach sie ab, da ihr kein passender Reim einfiel. „Und?", drängte Alex ungeduldig. Aber Cam zuckte verlegen die Schultern. „Okay, okay." Alex dachte hektisch nach. „Kindern ... mindern ... hindern ... ich hab's!" zischte sie triumphierend. „Und kick die Verräter in den Hintern!" Cam blinzelte - und konnte wieder sehen, so klar und scharf wie zuvor. Und mit einem lauten, knarrenden Ton wich die Luft aus Sersees aufgeblähtem Ballonkörper. „Tja, war wohl alles nur heiße Luft", erklärte Alex trocken und schickte Cam einen stillen Befehl: Komm
254
schon. Wir müssen nach LunaSoleil, Miranda und Ileana sind in Schwierigkeiten! „Das stimmt", bestätigte Thantos, der die Denkmail aufgefangen hatte. „Ihr müsst euch beeilen. Ihr werdet dringend anderswo gebraucht!" „Hab ich mich eigentlich schon für die vielen außergewöhnlichen Zauberkräfte bedankt, die Ihr mir für meine Mission verliehen habt?", erkundigte sich Sersee bei Thantos. „Dann werdet Ihr mir sicher erlauben einige davon mal vorzuführen - an Euch!" Thantos zögerte keine Sekunde, sondern packte Shane mit seinen gewaltigen Pranken um die Hüfte und hielt ihn vor sich wie einen Schutzschild, während Sersee mit ausgestreckten Krallenhänden sprungbereit lauerte und versuchte an den Hexer heranzukommen. „Sie sind nicht in LunaSoleil", erklärte Cam ihrer Schwester, „sondern hier. Aber Ileana hat er geblendet und Miranda gelähmt..." „Epie!" brüllte Shane, aber Thantos presste den Arm so stark um den Brustkasten des Jungen, dass er keinen Ton mehr hervorbrachte. Aber Michaelina führte Shanes Aufschrei zu Ende. „Sers", schrie sie und deutete mit dem Finger, „da ist
255
Epie!" Thantos warf Michaelina einen drohenden Blick zu und wandte sich wieder zu Sersee um. „Jetzt müsste ich eigentlich beleidigt sein", fauchte er, das Gesicht von kaum beherrschbarer Wut verzerrt, „dass du einen so abgenutzten Trick an mir ausprobieren wolltest, um mich abzulenken. Deine frühere Komplizin würde nie wagen mir jemals wieder unter die Augen zu kommen, nachdem sie dermaßen versagt hat! Ich bin wirklich enttäuscht, dass du so wenig Fantasie besitzt!" Sersees Hände schössen vor. Ihre Finger waren jetzt wieder schlank und mit ihren langen, scharfen Krallen wirkte sie mindestens genauso gefährlich wie im Wald von Salem. „Ich fackle dich ab!" schrie sie außer sich und Flammen zuckten aus ihren Fingerspitzen. Thantos, der noch immer Shane als Geisel festhielt, wich den Flammen geschickt aus, während sich Shane in seinem eisernen Griff verzweifelt wand, um aus Sersees Feuerlinie zu kommen. Der Feuerstrahl verfehlte ihn zwar, aber die Funken verkohlten sein Hemd - und enthüllten ein Hufeisenamulett. Sersee lachte schrill und schadenfroh und richtete ihren Feuerblick auf das Amulett. Es begann sich zu drehen und wirbelte die Kette immer enger um Sha-nes Hals. Als es wieder still hing, hing es verkehrt herum - ein schlechtes Omen. „Da! Es hat sich umgedreht!" verkündete Sersee mit befriedigtem Grinsen. „Und das gilt auch für dein Glück!" Ihre Stimme wurde zu einem unbeherrschten Kreischen: „Und jetzt verschwinde, du doppelköpf iger Verräter, bevor ich deine zwei falschen Gesichter röste!"
256
Ihre Stimme überschlug sich. „Mit dir rechne ich später ab. Erst kommt der große Meister der Lügner dran!" Thantos schleuderte Shane grob zur Seite. „Schieß dein Gift ab, du Schlange!" brüllte er Sersee an. Wieder stieß Sersee ihre Hände nach vorn in Richtung seines Herzens. Eine riesige Stichflamme schoss heraus. Thantos wehrte den Angriff ohne große Mühe ab. Er stieß den Atem aus und die Flamme zuckte in Sersees Richtung zurück. Sie versengte ihre Kapuze und ihr rabenschwarzes Haar fing Feuer. Ein ekelhafter Schwefelgeruch breitete sich aus. Das triumphierende Grinsen des Hexers verschwand schlagartig, als plötzlich Epie zu Sersee lief, ihr das eigene Cape über den Kopf warf und die Flammen erstickte. „Du!", brüllte Thantos. Ein einziger glühender Blick genügte und Epie stürzte zu Boden. Doch ihr Cape, das seinen Zweck erfüllt hatte, flog hoch in die Luft, schwebte herab und deckte Epie zu. „Sie ist nicht allein!" Michaelina hatte endlich die Sprache wieder gefunden. Plötzlich stand Ileana schwankend in der schmalen Türöffnung, die zur unterirdischen Kammer führte. Sie war immer noch blind. Alex und Cam hatten sie noch nie so verletzlich gesehen. Sie liefen schnell zu ihr, aber bevor sie den Zauberspruch noch einmal aufsagen
257
konnten, der Cams Blindheit aufgehoben hatte, legte Ileana ihre Hände auf Cams Schultern und sagte drängend: „Schnell, die Medaille! Benutzt das Du-BaerMedaillon!" „Wo ist Miranda?", fragte Alex, während Cam ihre Taschen nach dem goldenen Medaillon durchsuchte. „Sie ist unten in den Höhlen." „Ich hole sie", stieß Alex hervor. Cam suchte immer hektischer das Medaillon. Hatte sie es in Arons Zimmer gelassen? Welche Kleider hatte sie an dem Morgen getragen, als ihr Ileana das Medaillon in die Hand geschoben hatte ? „Nein", widersprach Ileana und hielt Alex zurück. „Sie kann sich nicht bewegen, aber ihr Verstand funktioniert ausgezeichnet und man kann sich auch telepathisch mit ihr verständigen. Im Moment ist sie dort sicher ..." Thantos griff in seinen Kräuterbeutel und nahm eine Hand voll getrockneter Kräuter heraus. „Passt auf!", brüllte Michaelina. Sie stand zwischen Ileana und Thantos und duckte sich verzweifelt. „Camryn", donnerte der Hexenmeister und versteckte die Kräuter in seiner Faust, „ich gebe dir eine letzte Chance. Und ich gebe sie dir nur um der Frau willen, die ich liebe ..." „Wie bitte?", fragte Ileana entgeistert. „Ist das etwa dieselbe Frau, die du gerade in Stein verwandelt hast?" Wie immer überhörte ihr Vater die Bemerkung. „Vertraue mir, Cam", fuhr er fort, „und verbünde dich mit mir ..." Cam brachte Thantos' Unverschämtheit derart aus der Fassung, dass sie ihre Stimme nur mit Mühe unter Kontrolle brachte. „Ich soll mich mit dir
258
verbünden? Dir vertrauen? Lass mich mal darüber nachdenken ..." Sie holte tief Atem. Sie musste jetzt auf jeden Fall so ruhig wie möglich bleiben. Ihre Stimme musste gleichgültig klingen; ihr Gegner durfte nicht die Überhand gewinnen. „Einerseits hast du mir versprochen, dass wir zur mächtigsten Familie auf Coventry werden könnten, wenn ich dir helfe. Du, Miranda und ich - nur wir drei." Auf Alex wirkte das wie ein Keulenhieb. „Hat er das wirklich gesagt ?" Ihr Blick irrte zwischen ihrer Schwester und Thantos hin und her. „Na klar doch." Cam ging lässig auf ihren Onkel zu, bis sie fast gegen ihn stieß, dann wich sie blitzschnell an ihm vorbei, sodass er sich zu ihr umdrehen musste, und stellte sich an seine rechte Seite. Zu Alex sagte sie beiläufig: „Unser heiß geliebter Onkel meint, dass du entbehrlich bist. Überflüssig. Er hat dich praktisch aus dem Familienporträt ausradiert." Alex' Augen wurden noch weiter. Das Puzzle fügte sich zu einem Ganzen. Thantos wollte sie loswerden. Und sie wäre beinahe darauf hereingefallen! Sie hatte sogar Cade schon gesagt, dass sie nach Montana zurückgehen müsse - weil „Sara" es ihr befohlen habe! Alex hätte alles getan, solange sie überzeugt war, dass es der Wunsch ihrer verstorbenen Pflegemutter war. Volltreffer! Denn das war genau das, worauf Thantos gehofft hatte. Aber der große Meister hatte sich gründlich verrechnet. Er hatte Sara nicht gekannt. Wie hätte ein
259
solcher Mann jemals eine Frau verstehen können, deren Herz vor Liebe überfloss, wenn sein eigenes Herz nur Eifersucht und Hass kannte ? Laut fragte Alex: „Was wäre passiert, wenn ich dann doch nicht getan hätte, was mir Saras Geist befahl ? Wenn ich doch nicht abgereist und in Marble Bay geblieben wäre?" „Lass mich mal raten", sagte Cam und versuchte auch jetzt, so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Wenn du nicht nach Westen reist, dann eben nach Süden. Und Süden heißt unten, also zwei Meter unter die Erde. Keine Alex, keine Probleme." „Schließlich ist ja auch nichts dabei", stieß Ileana durch zusammengebissene Zähne hervor, „mit dem eigenen Kind so umzuspringen. Wer wüsste das besser als dieser famose Vater des Jahres?" Thantos' Blick wurde noch kälter, aber er schwieg. „Okay, wartet mal", sagte Cam langsam und so überzeugend wie möglich. „Ich wurde dazu erzogen immer fair zu bleiben. Also will ich sicher sein, dass ich die Sache richtig kapiert habe, bevor ich mich festlege. Alex und Ileana verschwinden und weil's so schön war, darf ich mich auch gleich von allen anderen Leuten in meinem Leben verabschieden - von Dave, Emily, Dylan, meinen Freundinnen und Freunden in Marble Bay. Am Schluss bleibe nur ich übrig und ich lebe auf Coventry, und zwar für immer mit dir und Miranda. Stimmt das so ungefähr?" Thantos nickte vorsichtig.
260
Cam legte eine Pause ein, ließ den Blick durchs Fenster gleiten. „Es gibt schlimmere Orte auf der Welt. Und wer weiß? Vielleicht würde ich sogar irgendwann dazugehören, vielleicht würde es mir sogar gefallen." Ein erstickter Schrei kam vom Boden. „Glaub ihm nicht!" Cam blickte auf den rundlichen Haufen zu ihren Füßen hinunter. Sie hatte die arme Epie fast vergessen, die da von ihrem eigenen Cape gefangen gehalten wurde. Cam unternahm nichts, um der unglücklichen Furie zu helfen, sondern meinte nur: „Ich bin seine Nichte, Epie. Wäre doch eigentlich logisch, dass ich ihm glaube. Oder ihm zumindest die Chance gebe sich mein Vertrauen zu verdienen." Alex wollte etwas sagen, aber Ileana wusste, dass es besser war zu schweigen. Sie schickte Alex eine Denkmail, dass sie sich nicht einmischen solle. Der Augenblick der Abrechnung war da, und soweit Ileana verstand, was vor sich ging, hatte Cam-ryn ihre wahren Absichten und Gefühle noch nicht preisgegeben. Arons Sonnentochter spielte mit verdeckten Karten, sie spielte raffiniert und pokerte ziemlich hoch. Ileana konnte nur hoffen, dass sie die Regeln gut gelernt hatte und wusste, was sie tat. Nachdenklich fuhr Cam fort: „In ungefähr einem Jahr wird sich mein Leben ohnehin total ändern. Meine Freundinnen werden alle weggehen, zum College, und ich wahrscheinlich auch. Warum also sollte ich nicht
261
hierher ziehen? Ich könnte mich wirklich gut daran gewöhnen, hier auf einem Schloss, auf Crailmore, in all dem Luxus zu leben. Oder, was noch besser wäre, in LunaSoleil, wo ich eigentlich hätte aufwachsen sollen. Ich könnte mit meiner echten Mutter zusammen sein und bei meinen eigenen Blutsverwandten leben." Michaelina konnte sich nicht mehr beherrschen. „Bist du vielleicht ein noch größerer Idiot als deine Schwester?" Cam wirbelte zu der kleinen Hexe herum, die sie total entgeistert anstarrte. „Warte mal, Michaelina. Versetz dich doch mal in meine Situation. Wenn ich hier bleibe, hab ich alles - Geld, Macht, Popularität, Ruhm. Stell dir nur mal vor, wie viel Gutes ich tun könnte, ich wäre wirklich in der Lage den Menschen auf der Welt zu helfen. Und ooooh, als Extrabonbon krieg ich sogar auch noch Shane." Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er hockte wie ein Häufchen Elend auf dem Boden und wehrte sich verzweifelt gegen Sersee, die ihn mit Flammen traktierte. „Bester Fang auf der Insel", fügte Cam hinzu und versuchte, nicht allzu sarkastisch zu klingen. Sersee knurrte: „Darauf würde ich nicht wetten." Cam verdrehte die Augen. „Oh, komm schon, Sersee, du bist wirklich keine Konkurrenz für mich. Du hast ja selbst gesagt, ich bin eine reiche Erbin." Thantos blinzelte - er war jetzt nicht mehr so sicher, was hier vor sich ging. Cam kreiste um ihn herum und sagte mit einschmeichelnder Stimme. „Stimmt doch, Onkel
262
Thantos ? Macht, Ruhm, Prestige! Du kennst mich doch wirklich verdammt gut. Ich bin käuflich ... schon immer gewesen, bin oberflächlich, hab einen krankhaften Überlegenheitskomplex, bin gierig und will natürlich nichts anderes, als zur Elite der Schönen und Berühmten zu gehören. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und wie der Onkel, so die Nichte, meinst du nicht auch?" Alex stand wie vom Donner gerührt, stumm vor Verblüffung. Nicht über das, was ihre Schwester sagte sondern über Thantos! Es war kaum vorstellbar, aber er glaubte diesen totalen Schwachsinn, schluckte den Honig, den Cam ihm ums Maul schmierte. Schnell verwirrte Alex ihre Gedanken, damit er sie nicht hören konnte. Aber dafür hatte er gar keine Zeit. Er war viel zu sehr mit der Aussicht beschäftigt, alles das zu bekommen, was er wollte, so nahe dran am Sieg! Schnell sagte er: „Auch du hast DuBaer-Blut in den Adern, Apolla. Reinstes DuBaerBlut. Du bist Erbin - und dein Erbe ist unendlich größer, als du dir je erträumt hättest. Jetzt musst du nur noch die richtige Entscheidung treffen, Apolla. Und zwar die, die sich auch dein Vater für dich gewünscht hätte." Damit hätte er es beinahe geschafft. Dass er Aron erwähnte, ihren Vater, brachte Cam fast zum Explodieren. Aber sie ging nicht darauf ein. Sie hatte das Spiel so weit getrieben, jetzt hatte sie nicht vor nur wegen dieser Bemerkung ihre wahren Gefühle zu verraten. Sie griff in die Hosentasche und sagte sehr leise und sehr
263
ruhig: „Mein Vater hätte also gewollt, dass ich dir vertraue? Hast du das gemeint? Nun, in diesem Fall werde ich ..." Sie fiel auf die Knie, beugte den Kopf, als wolle sie Thantos ihre Hochachtung zollen. Sie spürte, obwohl sie es nicht sah, wie sich ein triumphierendes Grinsen auf dem bösartigen Gesicht ihres Onkels ausbreitete. Er streckte die Hand nach ihrer Hand aus. Und sie streckte sie ihm entgegen. „Ich denke, ich werde dir die Chance geben und dir vertrauen", sagte sie andächtig. Doch einen Sekundenbruchteil, bevor sich ihre Hände berührten, um den Pakt zu schließen, sprang Cam plötzlich auf und wich zurück - außer Thantos' Reichweite. „Aber wenn ich recht überlege - doch lieber nicht. Lieber mach ich dich fertig!" Tief in ihrer Tasche hatte sie endlich das Amulett gefunden, das Erbe der DuBaer-Familie, das ihr Ileana gegeben hatte. Alex stand sofort an ihrer Seite. Thantos' Kiefermuskeln spannten sich an. Er reagierte sehr schnell und wie immer handelte er so, wie es niemand erwartete. Er stürzte sich nicht auf Cam, um ihr das Amulett zu entreißen und Cam, Alex und Ileana auszuschalten. Nein - erst einmal sorgte er dafür, dass das Kräfteverhältnis wieder ausgeglichen wurde.
264
Die Trockenkräuter in seiner Faust dufteten stark und besaßen mächtige Zauberkraft; wer ihren Duft einatmete, würde verwirrt und wie benebelt werden. Thantos öffnete die Faust und blies eine Wolke feinsten Kräuterpulvers über die Furien. Noch im Flug verschmolzen die Flocken plötzlich und formten sich zu Ringen, die sich um die Beine ihrer Opfer wanden wie Lassos und sie eng aneinander fesselten. Die Furien waren buchstäblich außer Gefecht gesetzt; eine Bewegung genügte, ob gemeinsam oder einzeln, und sie würden alle zusammen stürzen. Und für den Fall, dass sie es trotzdem versuchten, sorgte Thantos noch dafür, dass sie dabei unendliche Schmerzen erleiden sollten. Sein Zauberspruch hallte wie Donner von den Wänden wider:
„Jede Rose hat Dornen, jeder Tag seinen Morgen, jeder Morgen dunkelt, wenn die Furie munkelt. Üble Hexen, euch dreien darf niemand verzeihen. Zum Dornenstrauch verbunden schlagt ihr euch selber die Wunden."
Noch während er den Spruch murmelte, bohrten sich scharfe Dornen durch Sersees magere Arme, durch
265
Michaelinas winzige Beine und Epies dickliche Hände. Die Furien brachen gemeinsam in lautes Wehgeschrei aus. Das furchtbare Stechen der Dornen schaltete die drei Furien vollkommen aus. Für Thantos stellten sie keine Bedrohung mehr dar. Drei auf einen Schlag! Der mächtige Hexer grinste hämisch. Aber er hatte dafür ein paar wertvolle Minuten opfern müssen - Minuten, die den Hexengirls die einmalige Chance verschafften ihn anzugreifen. Sie zögerten keine Sekunde. Cam hielt das DuBaer-Familienamulett hoch in die Luft - es sollte als Schutzschild gegen die furchtbaren Zauberkünste ihres Onkels dienen. Tatsächlich zögerte er kurz, als die Zwillinge ihre doppelten magischen Kräfte gegen ihn schleuderten. Kräfte, die vorher nur eine von ihnen besessen hatte, wirkten jetzt plötzlich bei beiden. Zwei Paar ungewöhnliche graue Augen ließen Thantos erstarren, froren den gewaltigen Hexer praktisch auf der Stelle fest, den Mund zu einem ungläubigen Oh! geöffnet, die finsteren Augen im Schock aufgerissen. Dann brachten sie eine Doppeldosis ihrer telekineti-schen Kräfte zum Einsatz: Seine Hände wurden hinter seinem Rücken mit dem Samtgürtel seines Capes verknotet. Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte nicht mehr sprechen, konnte nicht mehr angreifen. Cam wollte ganz sicher sein, dass Than-tos auch alles genau sah, was geschah. Er sollte wissen, mit wem er es zu tun hatte. Sie verhexte alle Spiegel im Raum, sodass sie sich auf Thantos richteten und er überall sein eigenes Spiegelbild sah - ohnmächtig, gefesselt, gelähmt. „Wir haben's geschafft!" Alex rannte zu Ileana, die immer noch blind
266
war. „Warte, bis wir deinen Fluch aufheben, dann kannst du es mit eigenen Augen sehen! Wir haben Thantos besiegt. Er kann uns nichts mehr tun." Aus den Augenwinkeln sah Cam etwas vorbeiflitzen. Shane! Der junge Hexer hatte staunend beobachtet, welche Wirkung die Doppeldosis der Hexenkräfte auf Thantos ausübte, und hatte sofort seine Entscheidung getroffen: Flucht. Nur weg von hier! „Nicht so schnell!", fauchte Cam und ging auf ihn zu. „Mit dir bin ich noch nicht fertig! Erst helfen wir Ileana, aber dann werde ich mich mit größtem Vergnügen mit dir beschäftigen!" „Du wirst nichts dergleichen tun!", befahl Ileana hart. „Eure Mutter geht vor. Lass den Feigling verschwinden und mich lasst ihr hier. Miranda hat schon viel zu lange ausharren müssen. Geht zu ihr." „Aber wir brauchen nur eine Minute ..." begann Alex, die nicht tatenlos mit ansehen wollte, dass Ileana auch nur eine Sekunde länger blind blieb. „Und wenn er dir was antut ?" Cam hatte Shane gemeint, der aber bereits zur Tür hinausfloh. „Solange ich euer Vormund bin, macht ihr gefälligst das, was ich euch sage. Geht endlich und befreit Miranda!"
267
KAPITEL 20 MIRANDA POKE RT HOCH
Cam führte Alex durch die kleine Tür und sie stiegen hastig durch den dunklen Tunnel die Treppe hinunter. Alex staunte, wie schnell und trittsicher Cam die enge, verwinkelte Treppe hinunterlief. Mehrfach rief sie Mirandas Namen. Hatte Cam mit all dem hier allein fertig werden müssen, während Alex... was getan hatte? Sich von Michaelina zum Narren halten ließ? Ihr Herz ausgerechnet Sersee ausschüttete, die sich in eine falsche „Sara" verwandelt hatte? Und vergiss nicht, dass du stundenlang mit deinem Freund zusammen warst oder dich zumindest nach diesem dunkelhaarigen Jungen gesehnt hast. Alex' Augen weiteten sich erstaunt. Irgendwo im Halbdunkel konnte sie Miranda ausmachen, die dort erstarrt stand. Aber wie konnte ihre Mutter das alles wissen, wo sie doch hier unten in ihren weißen Kleidern stand, steif und starr wie eine griechische Statue? Mein Körper ist erstarrt, aber mein Verstand funktioniert so gut wie immer. Eigentlich sogar noch besser, kam die Antwort. Ich hatte geglaubt alle meine Zauberkräfte verloren
268
zu haben, aber jetzt werden sie wieder erweckt, und zwar schneller, als ich es für möglich gehalten hätte. Und ich bin eure Mutter. Das Schicksal hat es gefügt, dass ich die kostbarste aller meiner verloren geglaubten Gaben zurückerhalten habe - meine eigenen Kinder zu kennen, ihre Gefühle und ihre Gedanken. Und sogar zu wissen, wo sie sich aufhalten. Alex' Mund stand offen. „Mach endlich den Mund zu", riet Cam ihrer Schwester. „Bringen wir's hinter uns. Mom hat später noch genug Zeit dir laut und lang die Leviten zu lesen." Die Zwillinge nahmen ihre Mutter in die Mitte und legten ihr die Arme um die schmale Taille. Fast schien es, als schmelze Mirandas Erstarrung allein durch die körperliche Berührung ihrer Kinder, aber wahrscheinlich war es einfach die richtige Kombination von Kräutern, dem Rosenquarz in Alex' Hand und den vereinigten Amuletten der Zwillinge. Und das unzertrennbare Band der Liebe zwischen Mutter und Kindern. Als sich Miranda wieder frei bewegen konnte, verloren die drei keine Sekunde: Später würden sie noch genug Zeit finden ihre Erlebnisse auszutauschen. Ileana hatte schon viel zu lange auf ihre Befreiung von dem Fluch warten müssen. Sie brauchte die Zwillinge jetzt sehr dringend. Triumphierend rannten die drei Hexen die Treppe hinauf. Aber ihre Freude verging schlagartig, als sie in Thantos' Zimmer traten. Thantos war nicht mehr gefangen. Seine Hände waren frei von Fesseln. Er starrte Alex und Cam drohend entgegen, die ihre Arme schützend um ihre Mutter legten. Sie brauchten nicht viel Fantasie, um zu erkennen, wie sich Thantos befreit hatte:
269
Er hatte sich von anderen helfen lassen. Nicht nur Shane war zurückgekommen, dessen Treue zu Thantos an Selbstaufgabe grenzte, sondern er hatte auch noch Verstärkung mitgebracht: Thantos' Dienerin Amaryllis. Thantos hatte sie für den Auftrag, Cam auszuspionieren, mit zusätzlichen Zauberkräften ausgestattet. Und gemeinsam mit Shane hatte sie es geschafft den Bannfluch der Hexengirls aufzuheben. Jetzt standen sich zwei Dreierteams gegenüber. Shane, Amaryllis und Thantos auf der einen Seite, Miranda und ihre Zwillingstöchter auf der anderen. Und wer stand zwischen den Gegnern, mitten auf dem Schlachtfeld? Ileana, zwar nicht gefesselt, aber blind und im Moment absolut hilflos. Alex war sofort klar: Thantos brauchte nur den kleinen Finger zu bewegen und Ileana würde zu seiner Geisel. Mach dir um mich keine Gedanken!, schrie Ileana telepathisch. Macht sie fertig! Miranda reagierte so schnell und so unerwartet, dass alle Anwesenden sekundenlang fassungsslos waren. Sie schüttelte abrupt die Arme der Zwillinge ab und trat dicht an Thantos heran. Es war ein riskanter Schritt, aber sie wusste genau, was sie tat. Sie blickte ihn freundlich an. „Kann ich jetzt vernünftig mit dir reden? Ich habe meine Stimme wieder, wie du hören kannst, und meinen Verstand auch." Thantos' Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst und er nickte Miranda fast unmerklich zu. Camryn beobachtete
270
angewidert, wie Mirandas zerbrechliche Schönheit, ihre blasse Haut und auch ihr reines Herz auf ihn einwirkten. „Vielleicht pfeifst du jetzt erst einmal deine Wachhunde zurück", fuhr Miranda fort, „das würde uns allen helfen." „Worüber willst du mit mir sprechen, Miranda ?", fragte Than-tos und in seiner Stimme klangen Hoffnung und Misstrauen zugleich. „Über die Dinge, die ich eben erst entdeckt habe. Du hast mir nie deine wahren Gefühle für mich verraten. Das habe ich eben erst von meinen Töchtern erfahren. Und das verändert alles." Sein Blick war so schwer zu durchschauen! Alex versuchte sich in Cams Gedanken einzuloggen. Konnte Cam vielleicht erraten, was ihr Onkel im tiefsten Innern empfand? Aber Cam blieb stumm. War sie etwa zu geschockt, um klar denken zu können, oder wusste sie auch keinen Rat? „Es ist noch nicht zu spät, Thantos", murmelte Miranda. „Du hast noch keinen irreparablen Schaden angerichtet. Wir können vergessen, was war, und uns auf die Gegenwart konzentrieren. Und auf unsere Zukunft. Ich will dir nichts vormachen: Ich liebe dich nicht - noch nicht. Aber ich bin fair und du hast bestimmt niemals Anlass gehabt daran zu zweifeln. Erkläre mir jetzt, wie du das alles siehst." Thantos stand völlig unbeweglich da. Nichts verriet seine Empfindungen.
271
Miranda fuhr fort, als habe er ihr eine Antwort gegeben. „Aber zuerst musst du diesen entsetzlichen Bann aufheben, den du über deine Tochter verhängt hast. Und befreie die drei Mädchen hier. Wir schicken sie weg, alle drei, Sersee, Epie und Michaelina und deine Anhänger Shane und Amaryllis ebenfalls. Das hier ist kein Schlachtfeld und was hier besprochen wird, geht sie nichts an. Das ist eine Familienangelegenheit. Unserer Familie." Miranda hatte das alles sehr sanft, aber dennoch sehr bestimmt gesagt, mit solcher Selbstbeherrschung, dass nicht einmal ihre Töchter wussten, wie aufrichtig sie in diesem Augenblick war. Aber sie erreichte ihr Ziel, denn Thantos schien auf ihren Vorschlag einzugehen. „Ich werde dafür sorgen, dass sich Ileana und meine Töchter nicht in unser Gespräch einmischen", versicherte ihm Miranda. „Das verspreche ich dir. Gibst du mir auch dein Versprechen?" Man musste nicht in Thantos' Gedankenwelt einbrechen, um zu erkennen, was darin vor sich ging. Vielleicht liebte er Miranda tatsächlich. Er war drauf und dran, sich von ihr führen und leiten zu lassen. Miranda drängte ihn sanft. „Wirst du mir den Gefallen tun, Thantos? Vertraust du mir?"
272
Noch immer rührte er sich nicht. Bis Miranda ihren letzten Trumpf ausspielte: „Wenn du mir nicht vertraust, liebst du mich auch nicht." Es geschah, noch bevor sie diese Worte zu Ende gesprochen hatte. Ileanas Blindheit wich; sie konnte wieder sehen. Die Dornen in der Haut der Furien verschwanden, ihre zusammengefesselten Körper trennten sich. Zusammen mit Shane und Amaryllis verließen sie den Raum ohne ein weiteres Wort. Jetzt erst erlaubte sich Miranda ein breites Lächeln. Und wie geblendet versank Thantos darin. Sie nahm seine Hand. „Komm, wir reden nebenan miteinander." Arons Zimmer. Sie führte ihren bösartigen Schwager in das Jugendzimmer ihres eigenen Mannes, in dem Arons Zauber, Arons Geist noch deutlich zu spüren waren. Aber Thantos war schon zu weit gegangen, um noch widerstehen zu können. In ihren Händen war er sanft wie ein Lamm. Miranda wandte sich noch einmal zu ihrer Nichte und ihren Töchtern um. „Bitte bleibt, wo ihr seid. Folgt uns nicht und bitte versucht nicht uns zu belauschen. Das dürft ihr nicht." Cam war unruhig, keineswegs bereit, so leicht zu kapitulieren, nur weil Miranda es so wollte. Auch Alex glaubte, dass Thantos immer noch fähig war ihr etwas anzutun. Nur Ileana blieb ausnahmsweise vernünftig und ruhig und voller Vertrauen in Miranda. „Eure Mutter muss selbst wissen, was gut für sie ist. Alles liegt jetzt in ihren Händen. Und welche Entscheidung sie auch trifft: Wir werden uns
273
danach richten müssen." Miranda führte Thantos durch die Tür und verschloss sie hinter sich. „Also, okay, wir belauschen sie nicht", sagte Cam, „aber wir haben ja noch andere Sinne." „Genau." Alex nickte Cam auffordernd zu. Ileana zuckte nur die Schultern, ohne zu widersprechen. „Was siehst du ?", fragte Alex. Cam schloss die Augen und öffnete ihren Verstand weit. „Ah, oh", entführ es ihr, als das nebelhafte Bild immer schärfer wurde. „Sie setzen sich auf die kleine Couch ..." „Das ist ein Diwan", korrigierte Ileana. „... und jetzt klopft sie mit der Hand auf den Platz neben sich. Er soll sich setzen." Alex spannte sich innerlich an. Sie mochte es nicht, dass der gerissene Hexer ihrer Mutter so nahe kam. Wie ihre Schwester schärfte sie alle ihre Sinne und versuchte zu hören, was im Nebenzimmer vor sich ging. Rein zufällig zuzuhören war doch etwas anderes als zu belauschen, oder? Mirandas Stimme klang beruhigend. „Wir kennen uns seit unserer Kindheit, Thantos. Und obwohl ich zugeben muss, dass ich mir über meine Gefühle dir gegenüber nicht völlig im Klaren bin, kann ich dir
274
jedenfalls eins versichern: Dein Bruder liebte dich aufrichtig und ohne jede Einschränkung. Du und er, ihr wart vom selben Stamm." Alex verdrehte die Augen. Ihre Mutter trug ja verdammt dick auf. Sie konnte alles hören und plötzlich bemerkte sie erstaunt, dass auch Cam es hören konnte. Die Zauberkräfte ihrer Schwester wuchsen offenbar phänomenal! Cam grinste und dachte begeistert: Unsere Mom - ist sie nicht total cool? Auf Thantos traf das jedenfalls nicht zu. Wie ein stotternder Teenager drängte er sie: „Meinst du wirklich, Aron würde wollen, dass wir zusammen sind? Dass wir eine eigene Familie gründen, vielleicht sogar einen Sohn bekommen ?" „Wir können ihn ja mal fragen", schlug Miranda vor. „Meine Zauberkräfte sind zu schwach geworden, aber du könntest doch Arons Geist anrufen, Thantos? Dann können wir seine Wünsche herausfinden." Eine Pause entstand. Jetzt konnte sich auch Ileana nicht mehr beherrschen. Sie strengte alle ihre Sinne an, um zu hören, was vor sich ging. „Was geht denn jetzt ab?" wollte Alex wissen. Cam schloss wieder die Augen. „Ich glaube, er dreht durch." Und plötzlich konnte auch Alex etwas sehen. Nebelhaft zwar, aber dennoch erkannte sie ihre Mutter und Thantos, die sich auf den beiden Enden des Diwans gegenübersaßen. Sie konnte sogar sehen, dass Thantos leichenblass geworden war. „Nein", flehte er, „das ist zu
275
gefährlich. Äh, ich meine, es wäre sehr unklug. Weil ... diese Sache müssen wir beide allein regeln, ohne Arons armen ruhelosen Geist zu stören ..." Ileana schnappte nach Luft. Als Cam und Alex sie ansahen, flüsterte sie: „Er hat Angst vor eurem Vater! Hat Angst vor dem, was Aron sagen könnte! Miranda hat ihr kleines Spielchen gewonnen. Er kriegt sie nicht ohne Arons Einverständnis, aber er hat viel zu viel Angst vor ihm, um ihn darum zu bitten." „Ja!" kicherte Alex. Cam und Ileana sahen sich an und erstickten beinahe an unterdrücktem Gelächter. Sie brauchten ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht wie Kinder laut herauszuplatzen. „Er ist erledigt!", stellte Cam fest. „Schaut ihn nur mal an, wie ein leerer Luftballon, total abgeschlafft, schlimmer als Sersee, nachdem ihr die Luft abgelassen wurde." „Je stärker sie aufgeblasen werden, desto schlaffer sehen sie nachher aus", kommentierte Alex schadenfroh. „Er wagt nicht mal mehr sie anzuschauen!", berichtete Ileana, die so gespannt durch die Wand sah, dass sie nicht einmal bemerkte, dass eine weitere ihrer verlorenen Zauberkräfte wiedergekehrt war. „Sie wartet..." „Aber er hat ihr nichts mehr zu sagen", flüsterte Cam. „Pst! Sie stehen auf." Alex hörte das leichte Rascheln der Kleider und sah die verschwommenen Gestalten im anderen Raum aufstehen. Miranda - groß und erhaben wie eine Königin; Thantos - von der Königin schachmatt gestellt. Als Miranda wieder ins Zimmer trat, hockten die Zwillinge bereits im Schneidersitz auf Thantos' Bett und hörten hochkonzentriert Ileana zu, die ihnen die
276
Reimstruktur und das Versmaß von Zaubersprüchen erklärte. Der Mann, der Miranda folgte, war nur noch ein Schatten seiner selbst, mit gebeugtem Kopf und hängenden Schultern wirkte er völlig ausgebrannt. Er trug keine Fesseln; kein Zauberspruch hatte ihn gebannt. Aber Miranda hatte seinen eisernen Willen überlistet. Er blickte sie nur kurz an, als interessiere ihn nichts mehr. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt", murmelte er und ging eilig zur Tür hinaus. „Du warst sagenhaft!" Ileana umarmte Miranda und wurde dann von Alex beiseite gedrängt. „Supershow, Mom!" Auch Cam nahm ihre Mutter in die Arme. Miranda umarmte alle begeistert - und stellte erleichtert fest, dass niemand außer ihr Thantos' Gedanken gehört hatte, als er die Zwillinge beim Hinausgehen angesehen hatte. Wir sind noch nicht fertig miteinander!, hatte er gedroht.
277
KAPITEL 21 RUHE VOR DEM STURM
Cam schloss die Augen. Sie hob das Gesicht in die Sonne und ließ es von den warmen Strahlen liebkosen. „Sonnenkind" -es hatte ihr immer gefallen so genannt zu werden. Sie lächelte in die Sonne. Neben ihr hockte Alex im Schneidersitz, mit dem Rücken gegen einen Holzpfahl gelehnt. Ihre Hände lagen flach auf den warmen Holzbohlen des Kais. Hingebungsvoll lauschte sie dem Geplätscher der Wellen, die leise gegen die Kaimauer schwappten. Die Hexengirls waren wieder in Marble Bay. Hier am Kai warteten sie auf Dave und Emily, die heute von ihrer Kreuzfahrt zurückkehren sollten. Doch während sie warteten, leisteten ihre kleinen grauen Gehirnzellen Schwerstarbeit. Der Sommer hatte mit dem gewaltigen Feuerwerk am 4. Juli seinen Einstand gegeben und sich seither mindestens so prächtig entwickelt wie das Feuerwerk damals - ein emotionaler Kracher nach dem anderen. Cam hatte fast das Leben verloren und Alex
278
hatte ihr Selbstvertrauen bis auf ein paar klägliche Reste eingebüßt. Jetzt, zwei Wochen später, waren die Hexengirls reif für eine längere Siesta. Für ein wenig Frieden und Ruhe. Cam hatte ihr glänzendes, kastanienbraunes Haar mit einem bananengelben Haarband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine leichte Brise löste ein paar Strähnen. Alex fuhr nachlässig mit den Fingern durch ihren unregelmäßig geschnittenen Haarschopf und schnupperte die salzig duftende Meeresluft. Die Anspannung wich nur langsam: Cam spürte es förmlich; sie stellte sich vor, wie die Spannung als dicker, zäher Sirup aus ihrem und Alex' Körper herausfloss, durch die alten Holzbohlen des Anlegestegs in das Meer troff und von der Flut hoffentlich so weit wie möglich auf das Meer hinausgetragen wurde. Beide wussten, ohne dass es ausgesprochen werden musste, dass die bevorstehenden Wochen und der Rest des Sommers nur die Ruhe vor dem Sturm sein konnten. Denn im Herbst sollte endlich ihre Weihe als Hexen stattfinden, ungefähr um die Zeit ihres sechzehnten Geburtstags. Die Weihe war der Startpunkt, das Öffnen einer Tür, der erste Schritt hinaus auf einen Weg, der sie zu ihrer Bestimmung führen würde. Der Weg lag offen vor ihnen; sie mussten nur wagen ihn zu beschreiten.
279
Und sie konnten nur eins tun: diesen Weg gemeinsam gehen. Auf der Insel Coventry hatten Miranda und Ileana den Zwillingen endlich die Erklärungen gegeben, die schon sehr lange überfällig gewesen waren. Nachdem Miranda Thantos so effektvoll ausgeschaltet hatte, waren sie gemeinsam durch den duftenden Kräutergarten spaziert, den Miranda so liebevoll gepflegt hatte. Und dort hatten die beiden Frauen den Zwillingen schließlich alles erzählt, was sie wissen mussten. Sie hatten einige Abschnitte des Buches gelesen, des wahren Buches, das Karsh Antayus geschrieben und Ileana vermacht hatte. Damit Cam und Alex begreifen konnten, was vor ihnen lag und was der Wille ihres Großvaters gewesen war, mussten sie zunächst einmal alles über die Geschichte der Familie erfahren. Cam war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen: eine emotionale Achterbahn, ein ständiges Schwanken zwischen Stolz und Enttäuschung, als ihr die alten Geschichten von Heldentum und Verrat, von Liebeszauber und schicksalhaften Beschwörungen erzählt wurden. Geschichten von Leuten, von denen sie selbst in direkter Linie abstammte. Alex dagegen kam es so vor, als würde ständig ein altes Tonband zurückgespult. Alles, was sie über die Hexenprozesse von Salem gelernt und gelesen hatte - in Geschichtsbüchern, Erzählungen oder Dramen wie Hexenjagd von Arthur Miller -, tauchte bei diesen
280
Geschichten wieder aus ihren tiefsten Erinnerungen auf. Nur waren die Hauptdarsteller jetzt ihre eigenen Verwandten. Die Zwillinge erfuhren endlich, was der mysteriöse Fluch bedeutete, der ihre Familie verfolgte. Jacob DuBaer hatte Abigail Antayus verraten; sie war als Hexe angeklagt und später gehenkt worden. Ihre Kinder hatten deshalb den Rachefluch über die DuBaer-Familie ausgesprochen: dass fortan in jeder Generation ein Antayus einen DuBaer töten würde. Cam und Alex waren entsetzt, als Miranda und Ileana bestätigten - und ihnen die entsprechenden Passagen aus Karshs Buch vorlasen -, dass der Fluch immer noch wirkte. Dass er noch nie eine Generation übersprungen hatte. Dass sich der Fluch sogar durchgesetzt hatte, obwohl ihr Großvater Nathaniel DuBaer und Karsh Antayus die besten Freunde gewesen waren und sich geschworen hatten den Fluch noch zu ihren Lebzeiten zu durchbrechen. Der Fluch hatte sich als stärker und mächtiger erwiesen als der gute Wille und die edle Gesinnung dieser beiden Männer. Zwar war es ein furchtbarer, tragischer Unfall gewesen aber im Grunde hatte Thantos Recht, wenn er behauptete, dass Karsh den Tod Nathaniels verursacht habe. Der Fluch hatte jedoch eine Einschränkung: Er war so formuliert, dass er sich nur auf Männer beziehen konnte. Ileana las den Zwillingen aus Karshs Buch vor, was der letzte Wille ihres Großvaters gewesen war: „Von diesem
281
Tag an werden nur Frauen das Schicksal des DuBaerClans bestimmen." Frauen würden die neuen Oberhäupter der DuBaers sein. Und damit würde der Fluch enden. Doch natürlich wusste Thantos von diesem letzten Willen, wie ihnen Ileana erklärte - von dem Pakt, der ihm das Recht entziehen würde die mächtige und reiche Familie zu beherrschen. Die bittere Eifersucht des Hexers gegenüber Aron hatte schon am Tag der Geburt des jüngeren Bruders begonnen und war über die Jahre ständig gewachsen, als er zusehen musste, wie Aron zu einem mildtätigen, gütigen Mann heranwuchs. Doch erst, als Arons Ehefrau Miranda die Zwillinge - weibliche Erben! - gebar, hatte sich Thantos' Neid endgültig in Hass verwandelt. Er hatte sich geschworen dafür zu sorgen, dass sich diese Kinder ihm nicht in den Weg stellen würden. Im Grunde war das Ziel des gewaltigen Hexers sehr einfach: Er wollte Cam und Alex aus dem Weg schaffen. Auf welche Weise das geschah, war ihm gleichgültig. Er konnte die Zwillinge trennen - ein Mädchen wegschicken, das andere an seine Seite ziehen - oder, falls das nicht gelang, eines oder beide umbringen. Und so verbrachte er fast ein volles Jahr damit, Pläne zu schmieden und andere mit ihrer Ausführung zu beauftragen, um die Hexengirls aus dem Weg zu schaffen. Er würde alles tun, um den Lauf des Schicksals abzuwenden. Aufmerksam hörten die Zwillinge zu, als ihnen Miranda und Ileana mit ernster Stimme Karsh
282
Antayus' letzte Worte vorlasen und dann das in Leder gebundene Buch schlossen. Die beiden Frauen bestanden darauf, dass Alex und Cam sich genug Zeit nehmen sollten, um gründlich über alles nachzudenken, was sie erfahren hatten. Sie hatten dazu den ganzen Sommer, denn dieses Wissen mussten sie erst einmal in sich einsinken lassen. Ileana schlug vor, dass sie nach Marble Bay zurückkehren sollten, zurück in ihr anderes sicheres und friedliches Leben im Haus von Emily und David Barnes. „Wir wollen, dass ihr euch ausruht, damit ihr stark werdet", sagte sie. „Und mir müsst ihr versprechen", hatte Miranda hinzugefügt und ihre beiden Töchter geradezu flehend angesehen, „dass ihr das Leben genießt, dass ihr den Rest des Sommers so sorglos und unbekümmert wie möglich seid." Sie hatte nicht hinzufügen müssen, dass das für lange Zeit die letzten sorglosen und unbekümmerten Wochen sein mochten, die die Zwillinge erleben würden. Jetzt, an diesem wahrhaft unübertrefflichen strahlenden Sommermorgen saßen Cam und Alex nebeneinander auf dem Kai. Es würde noch mehrere Stunden dauern, bis das Schiff anlegte, auf das sie warteten. Sie hatten den ganzen Kai für sich allein. Ihre Gedankengänge liefen wie synchronisiert ab. „Er hat ein Katz-und-Maus-Spiel mit uns getrieben." Sie platzten fast vor Lachen, denn sie hatten diesen Satz genau
283
gleichzeitig laut ausgesprochen, gefolgt von einem weiteren: „Wie konnten wir nur so blöd sein ?" Thantos hatte all ihre wunden Punkte gnadenlos ausgenutzt. Im Fall von Alex war das vor allem ihr Bedürfnis die Sache mit Sara zu bewältigen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, zu beweisen, dass sie sich nicht verändert hatte, obwohl sie jetzt zur Familie Barnes gehörte. Deshalb hatte er Michaelina zu ihr geschickt. Die kleine Hexe sollte sich ihre Freundschaft erschleichen und sie ständig an all die Träume erinnern, die sie einmal gehabt hatte. Und Michaelinas wichtigster Auftrag war, Alex die Erfüllung ihres größten Wunsches anzubieten: Sara noch einmal zu sehen. Bei Cam hatte Thantos eine andere Taktik angewandt: Er hatte ihre Einsamkeit ausgenutzt, ihre wirren Gefühle für Jason und die Tatsache, dass sie total auf Shane abfuhr, diesen verführerischen Hexer, den Thantos deshalb mit ganz besonderen und höchst ungewöhnlichen Zauberkräften ausgestattet hatte. Doch am schlimmsten war, dachte Cam unglücklich, dass er ihre eigene Eitelkeit und ihre Arroganz gegen sie selbst eingesetzt hatte. Natürlich hatte es ihr immer gefallen die Nummer eins zu sein - die beliebteste, attraktivste Athletin, außerordentlich begabt, außerordentlich clever, ein Mädchen, das ein super Leben führte und es in vollen Zügen genoss. Und genau in dem Augenblick, als Cams famoser Lebensstil bedroht
284
erschien - und sei es auch nur für kurze Zeit, nur für einen Sommer -, hatte Thantos zugeschlagen und seinen Plan in die Tat umgesetzt. Nur war ihm glücklicherweise dieser schöne Plan zunichte gemacht worden. Thantos hatte seinen eigenen Stolz unterschätzt. „Thantos ist immerhin unser Onkel und in einer Beziehung hatte er jedenfalls Recht", sagte Cam. „Ob es uns gefällt oder nicht: Wir haben auch sein Blut in den Adern - warum sonst bin ich manchmal ... wie soll ich es beschreiben, ich weiß nicht genau ... eitel, machthungrig? Oder naiv und leichtgläubig?" „Stimmt alles", nickte Alex, „ das trifft auch auf mich zu Unabhängigkeit um jeden Preis, auch wenn's mir selber schadet. Jemand, der das große Ganze nicht sieht, immer gleich reagiert, ohne die kleinen grauen Zellen in Gang zu setzen. Jemand, der es sogar schafft, jede Warnung, jedes gesunde Misstrauen, das gute Freunde vorbringen, vom Tisch zu fegen und dann auch noch dem üblen Rat schlechter Freunde zu folgen! Man könnte fast glauben, dass ich so etwas wie einen kleinen Fredo in mir habe!" Bei dieser Vorstellung brachen sie erneut in Gelächter aus. Beide erinnerten sich sehr deutlich daran, was Miranda gesagt hatte, kurz bevor sie die Zwillinge nach Marble Bay zurückgeschickt hatte: „Jeder Mensch hat seine Schwächen und ist verletzlich. Wäre das nicht der
285
Fall, wären wir keine Menschen. Thantos hat mit euren Schwächen gespielt und sie ausgenutzt. Und beinahe wäre es ihm gelungen. Aber er ist schließlich auch nur ein Mensch. Und deshalb hat auch er seine Schwächen. Das dürft ihr nie vergessen." Sie würden es nicht vergessen. Miranda war eine wunderbare Mutter; sie hatte sich an Thantos für das gerächt, was er ihren Töchtern und Ileana angetan hatte. Sie war die Einzige, die es ihm heimzahlen konnte, denn sie hielt den Schlüssel zu seiner Schwäche in ihrer Hand: Sie war seine Schwäche. Cam runzelte die Stirn. Alles hätte auch ganz anders laufen können. Hätte sie nur die Vorzeichen richtig erkannt; hätte sie nur mehr über die Sagen und Legenden gelernt; hätte sie nur mehr über das Pferd und das Hufeisenamulett gewusst; hätte sie sich nur nicht so einsam gefühlt, so ... „... menschlich?" unterbrach Alex ihre Schwester. Es war eine rein rhetorische Frage. „Hexenschwester, wenn das ein Wettkampf im Sich-Vorwürfe-Machen sein soll, dann haben wir beide die Goldmedaille verdient. Warum hab ich nicht gemerkt, dass Michaelina zu mir geschickt worden war, um mich auszunutzen, mich glauben zu machen, dass sie Sara zurückbringen könne? Warum hab ich nicht geschnallt, dass das gar nicht meine Mutter war, die da im Wald mit mir redete, obwohl ich sie eigentlich gar nicht gesucht habe? Am Schluss ging die Sache nur deshalb gerade noch mal gut, weil Sersee keinen blassen Schimmer hatte, wie Sara redete." Leichtgläubig? Wahrscheinlich ist das erblich. Alex und Cam warfen sich einen schnellen, überraschten Blick zu. Beide hatten es
286
gehört. Dann mussten sie lachen. Sie hatten eine telepathische Erinnerung von Miranda bekommen. War sie nicht auch jahrlang hereingelegt worden? Von Thantos! „Ich hab der Person geglaubt, der ich niemals hätte vertrauen dürfen", bemerkte Alex und meinte Michaelina, „und ich hab den Rat der Person beiseite gewischt, die mir die Wahrheit sagte. Und was noch schlimmer ist: Ich hab meinen eigenen Instinkten nicht vertraut. Ich hatte doch schon vermutet, dass Cade ein Sensitiver sein könnte, aber trotzdem hab ich nicht auf ihn gehört. Weil", fügte sie bedauernd hinzu, „er kein Hexer ist. Ich dachte immer, was weiß er schon ? Aber er wusste immerhin, dass man Michaelina nicht vertrauen durfte. Er wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte." „Vermutlich wollte er nur das Beste für dich", sagte Cam und dachte an etwas, was Dave einmal zu ihr gesagt hatte. „Darum geht es bei der Liebe. Dass man für den anderen nur das Beste will. Und ich glaube, dass das mächtiger sein kann als jede Zauberei." „Ich glaube, ich weiß, was Karsh sagen würde, wenn er hier wäre", sagte Alex nachdenklich. .„Blickt in die Zukunft, Hexengirls'?", riet Cam. „Oder: ,Am Ende hat doch wieder das Gute gesiegt'?" Sie lachten, aber beiden war vollkommen klar, dass das nur teilweise stimmte. Klar, Thantos hatte verloren und sie hatten die Schlacht gewonnen. Aber eben nur eine Schlacht. Denn die Gefahren waren noch nicht vorbei -
287
andere und viel größere Abenteuer standen ihnen noch bevor. Cam wandte sich zum Meer und sah weit entfernt etwas, was außer ihr noch niemand sehen konnte. Ein Schiff näherte sich langsam. Es brachte das mit sich, was ihnen Miranda und Ileana gewünscht hatten: Sicherheit, Geborgenheit, Verlässlichkeit. Es brachte Dave und Emily Barnes nach Hause.
288