Burt Frederick Duell vor Cornwall
1. Es war ein Bild des Jammers. Sie hatten die ›War Song‹ zusammengeschossen, daß die...
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Burt Frederick Duell vor Cornwall
1. Es war ein Bild des Jammers. Sie hatten die ›War Song‹ zusammengeschossen, daß die ehedem stolze Kriegskaravelle nur noch wie ein lahmer Hund dahinschleichen konnte. Für Bootsmann Sullivan war das trotzdem kein Grund, in Wut auszubrechen. Denn die hatte er bereits an Sir John Killigrew ausgelassen, dem schlitzohrigen alten Halunken, der sich die Karavelle mit einem faulen Trick unter den Nagel gerissen hatte. Sullivan zwang sich, nicht mehr daran zu denken, denn sonst hätte er sich pausenlos selbst in den Hintern treten müssen. Und verdammt, im Moment war sowieso keine Zeit, sich mit ›Wenn und Aber‹ herumzuplagen. Die fünfzehn Männer von der Stammcrew der ›War Song‹ schufteten, was das Zeug hielt. Der achtere Mast hatte Notsegel. Gleich durch den ersten Schuß von der ›Isabella‹ war die Gaffelrute aus ihren Halterungen gerissen worden und mitsamt Segel und Takelage an Deck gekracht. Und ehe sie Zeit zum Luftholen gekriegt hatten, war das Ruder der Karavelle zerschmettert worden. Anschließend hatten sie ihr den Rest gegeben. Aber diese Teufelskerle waren so schlau gewesen, die ›War Song‹ nicht zu versenken, auch wenn der alte Killigrew sich das Schiff unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeeignet hatte. Denn immerhin war und blieb die Karavelle ein Kriegsfahrzeug Ihrer Majestät, der Königin von England. Das hatten sie respektiert, die Himmelhunde. Sullivan grinste, während er seine Befehle vom Deck des
Achterkastells brüllte. Als ihm klar geworden war, daß der ehrenwerte Sir John alles andere vorhatte, als einen Beuteschatz sicherzustellen, der der Königin gehörte, hatte er dem alten Halunken ein Ding verpaßt, von dem dieser sich bis jetzt noch nicht wieder erholt hatte. Und danach hatten sich die Männer von der ›Isabella V.‹ und der Schaluppe von ihrer anständigsten Seite gezeigt, hatten der ›War Song‹ ein Notruder gezimmert, die Lecks mit Bordmitteln ausgebessert und die Segel notdürftig geflickt. Noch in derselben Nacht hatten sie Kurs auf Plymouth genommen. Träge wie ein fetter Lastkahn auf dem LondonFluß waren sie dahingekrochen. Doch jetzt nicht mal mehr das. Ein starker Nordost vereitelte alle Bemühungen. Seit Stunden kreuzte die Karavelle praktisch auf der Stelle. Drei Schritte vor, zwei zurück, wäre noch geprahlt gewesen. Mit dem Notruder war kein Staat zu machen, und die geflickten Segel bewirkten den Rest der Hilflosigkeit. Allein sechs Mann waren pausenlos an den Pumpen im Einsatz. Ausbessern ist nicht Reparieren. Zwar lagen die Lecks allesamt oberhalb der Wasserlinie, doch bei jedem Überkrängen des Schiffes suppte es wie wild herein. Die Männer an den Pumpen waren voll beschäftigt. Kein Gedanke, daß sie dem Segelmacher auch nur zeitweilig zur Hand gehen konnten. Die Hände geballt, starrte Sullivan auf die tief dahin jagenden Wolkenberge. Es war witzlos, sich weiter mit diesem elenden Nordost herumzuschlagen. Reine Kraftverschwendung. Sullivan, der stämmige Haudegen mit den messerscharfen blauen Augen und dem vom Wind zerzausten blonden Haar, gab auf. Er kannte seine eigenen Grenzen. Hol’s der Teufel, mit einer voll einsatzfähigen ›War Song‹ wäre er selbst bei diesem Nordost sämtlichen Meerjungfrauen quer über den Hintern gesegelt!
Aber er war vernünftig genug, zu wissen, wann es keinen Zweck mehr hatte, die Männer durch die Gegend zu scheuchen. Mit Donnerstimme gab er Befehl, einen Treibanker auszuwerfen. Vier Männer hasteten zum Spill. Der Anker klatschte in einen heranrollenden Wellenberg. Kurz darauf stabilisierte sich die Karavelle. Sullivan stieß ein zufriedenes Brummen aus. Jetzt hieß es abwarten, bis der Wind günstiger stand. Und sobald der Segelmacher die Notsegel durch neues, vollständiges Tuch ersetzt hatte, konnte die ›War Song‹ wieder zeigen, daß sie alles andere als ein lahmer Kasten war. * Es war eine höllische Art des Erwachens. Mit dem Bewußtsein setzte der Schmerz ein. Gerade so, als hieben tausend spanische Minensklaven mit ihren Hämmern drauflos, um seinen Schädel von innen her zu sprengen. Als seine Sinne allmählich klarer wurden, begriff Sir John, daß sein Kopf kein Bergwerk war. Sein Erinnerungsvermögen kehrte schlagartig zurück. Ohnmächtige Wut packte ihn. Gerade rechtzeitig besann er sich, diese Wut nicht hinauszubrüllen, obwohl es ihn reizte, die Trottel, die mit ratlosen Mienen auf ihn hinunter blickten, gehörig zusammenzustauchen. Aber da drang fremdes Gebrüll in sein Bewußtsein, kurze, präzise Kommandos von einem, der sein Handwerk verstand. Für Sir John wirkte es wie ein Signal. Dank der ihm eigenen füchsischen Gerissenheit erkannte er das Gebot des Augenblicks: Er durfte nicht lautstark auf sich hinweisen. Denn wie es aussah, hatte der Hurensohn von einem Bootsmann im Moment andere Sorgen, als sich um seinen Widersacher zu kümmern, den er auf die Planken geschickt hatte.
Sir John schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Sein Verstand funktionierte voll. Aber der hämmernde Schmerz wollte nicht weichen. Er blickte nach beiden Seiten und stellte fest, daß er auf dem Deck der Kuhl hockte, mit dem Rücken an den Großmast gelehnt. Sein Gesicht war dem Vorschiff zugewandt. Also war er zumindest durch den Mast vor Blicken von achtern geschützt. Gut so. Er hob den Kopf und musterte seine Männer. Einige duckten sich unwillkürlich, als sie die Eiseskälte seiner Augen spürten. »Was gafft ihr so dämlich!« rief er halblaut und fauchend. »Ist es so verdammt komisch, den General-Kapitän von Cornwall mit dem Hintern auf den Decksplanken zu sehen?« Sie zogen die Köpfe noch ein Stück tiefer zwischen die Schultern und starrten auf eben jene Planken hinunter, als gäbe es dort etwas umwerfend Neues zu sichten. Sir John unterdrückte sein Verlangen, sich aufzurappeln, um wieder als ganzer Kerl vor diesen Bastarden zu stehen, die es ohne sein Kommando nicht fertiggebracht hatten, die Karavelle unter Kontrolle zu behalten. Er mußte noch ein Weilchen ausharren, denn es hing jetzt alles davon ab, das Überraschungsmoment zu nutzen. Offenkundig hatte die Stammcrew der ›War Song‹ alle Hände voll zu tun. Es war also durchaus anzunehmen, daß ein Überrumpelungsversuch klappen würde. Dazu brauchte man nicht einmal die gesamte Crew auszuschalten. »Seid ihr vollzählig?« erkundigte sich Sir John leise, aber dennoch mit der unnachgiebigen Schärfe des Vorgesetzten. »Jawohl, vollzählig, Sir John«, antwortete einer der Männer in der vordersten Reihe. »Wir haben sieben Verwundete, aber alle sind versorgt und einsatzfähig.« Sir John Killigrew nickte gnädig. Zweiundzwanzig Mann. Rein zahlenmäßig waren sie der Stammcrew damit sowieso überlegen. Und immerhin - wenn man diesen zweiundzwanzig
Bastarden nur die harte Faust zeigte und ihnen klipp und klar sagte, welche Richtung sie einzuschlagen hatten, dann parierten sie, dann konnte man sich auf sie verlassen. Letzten Endes stand und fiel alles mit den Fähigkeiten desjenigen, der die Befehle erteilte, Untergebene waren nichts weiter als Werkzeuge, die man nur richtig anpacken mußte. Sir Johns diesbezügliche Meinung wurde durch unerschütterliche Selbstüberzeugung gestützt. Daran änderten auch die Niederlagen nichts, die er gerade wegen dieser Meinung in der letzten Zeit hatte einstecken müssen. Für solche Erkenntnis war unter seiner Schädeldecke kein Platz. »Wo steckt der Bootsmann, dieser Hurensohn?« fragte er. »Auf dem Achterdeck, Sir.« »Wer ist bei ihm?« »Nur der Rudergänger, Sir.« »Und die anderen Strolche?« »Ein Teil ist unter Deck an den Pumpen. Die meisten anderen helfen beim Segelflicken.« »Gut, gut. Hört jetzt genau zu. Ich will, daß ihr euch den Bootsmann greift. Nur ihn. Keinen anderen. Und zwar muß das so plötzlich passieren, daß für seine Leute keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Wenn die Kerle kapieren, was los ist, muß schon alles erledigt sein. Klar?« »Jawohl, Sir.« Die Männer nickten ergeben und diensteifrig. »Auf mein Zeichen marschiert ihr los. Blitzschnell. Ihr greift euch, was ihr rumliegen seht. Belegnägel, Spaken, irgendwas. Und dann zeigt ihr dem Hurensohn auf dem Achterdeck, was es heißt, sich mit John Killigrew anzulegen!« * Sullivan hatte die Killigrew-Mannschaft zwar ständig im Blickfeld gehabt, aber er war zu angespannt gewesen, um ein wachsames Auge auf sie zu werfen.
Diese Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Säbelhiebs. Denn wie auf ein geheimes Kommando stürmten sie plötzlich los. Zweiundzwanzig Mann, die mit der Blindwütigkeit angestachelter Stiere in Richtung Achterdeck rasten. Auf dem kurzen Weg dorthin schnappten sie sich, was sie an Hiebwaffen finden konnten. Sullivan schaffte es nicht mehr, seinen eigenen Männern einen Befehl zuzubrüllen. Er wich zurück, spürte die Oberkante der Heckbalustrade im Gesäß, und es war ein beruhigendes Gefühl. Der Rudergänger starrte der heraufstürmenden Meute mit hochgezogenen Schultern entgegen. Seine Fäuste krampften sich wie haltsuchend um das Ruder. Aber ohne ein entsprechendes Kommando des Bootsmanns wagte er nicht, seinen Platz zu verlassen. Die Killigrew-Männ.er stießen verfrühtes Triumphgeschrei aus. In breiter Front walzten sie heran, mit Belegnägeln, Spaken und teilweise mit Messern bewaffnet. Den Rudergänger beachteten sie nicht. Er hatte das Gefühl, die nebensächlichste Erscheinung der Welt zu sein. Sullivan wußte, daß er gegen die Übermacht keine Chance hatte. Aber, zum Teufel, er war nicht der Waschlappen, der sich widerstandslos das Fell über die Ohren ziehen ließ. Wenn die Halunken das glaubten, dann hatten sie sich den Falschen ausgesucht. Ohne auch nur ein Augenzwinkern lang zu zögern, riß Sullivan seine schwere Radschloßpistole aus dem ledernen Hüftgurt. Die kunstvoll gravierte Waffe war ein Beutestück, von einem deutschen Büchsenmacher in Nürnberg angefertigt. Der Anblick des großkalibrigen Rohrs brachte die Meute für einen Moment ins Stocken. Das triumphierende Geschrei brach ab. Doch sie überwanden ihre Verwirrung überraschend schnell. Einer von ihnen, ein schwarzbärtiger Hüne, stieß sein Entermesser schräg in die Luft und gab damit das Zeichen, den
Angriff fortzusetzten. Nur noch vier Schritte trennten sie von dem Bootsmann. Sullivan zielte auf den schwarzbärtigen Hünen und drückte ab. Das Rad schnurrte, mit klickendem Hahn schlug der Flint auf und sprühte Funken. Krachend entlud sich die schwere Waffe. Ein grellroter Feuerstrahl zuckte den Angreifern entgegen, gefolgt von einer mächtigen Wolke von Pulverdampf. Entsetzensschreie gellten. Als sich der Pulverdampf senkte, sah Sullivan, daß dem Hünen das Gesicht fehlte. Und der Halunke hinter ihm schrie wie am Spieß. Die aufgepilzte Bleikugel hatte ihm einen blutigen Scheitel gezogen. Das Geschoß hatte folglich den Schädel des Hünen glatt durchschlagen. Eigentlich war der Mann schon tot. Dennoch stand er noch erschreckend lange kerzengerade - wie ein unerschütterlicher Baum im Wind. Dann löste sich das Messer aus seinen Fingern. Klirrend fiel es auf die Planken. Es war wie ein Signal für die anderen. Während der Hüne vornüberkippte, stürmten sie weiter voran, und diesmal klang ihr Gebrüll wutentbrannt und rachelüstern. Der mit dem blutigen Scheitel blieb zurück, immer noch schreiend. Sullivan packte die fast armlange Pistole am vorderen Ende des Laufes. Das Griffstück war mit einem schweren Messingknauf versehen. Eine Faustfeuerwaffe, wie sie für den Nahkampf nicht besser geeignet sein konnte. Im Halbkreis drangen sie auf ihn ein. Belegnägel und Spaken wurden geschwungen. Sullivan versuchte, auszuweichen, so gut es ging. Er teilte mörderische Hiebe mit der Pistole aus. Einem der Kerle zerschmetterte der Messingknauf die Schädeldecke, einem anderen brach er den Schulterknochen. Doch damit war die Widerstandskraft des stämmigen Bootsmanns am Ende. Er schaffte es nicht mehr, den Schlägen auszuweichen, die auf ihn niederprasselten. Denn zu
wildentschlossen kreisten sie ihn jetzt ein. Es war unmöglich, noch die Pistole hochzureißen und weitere Hiebe auszuteilen. Gleich zwei, drei Männer hängten sich an seinen rechten Arm und rissen ihn nach unten. Verzweifelt versuchte er, die Schläge der anderen mit dem linken Unterarm abzuwehren. Ein Spakenhieb vereitelte diesen Versuch. Sullivan hörte sich selbst aufschreien. Er hatte das Gefühl, daß sein Unterarm zerschmettert war. Glühende Schmerzen stachen bis in seine Brust. Ehe er weiter reagieren konnte, krachte ein Belegnagel auf seinen Kopf. Für Sullivan war es wie eine Explosion, die alles auslöschte. Von zusätzlichen Fausthieben der triumphierenden Killigrew-Männer getroffen, sackte er in sich zusammen. Er sah nicht mehr, wie sich ein mordlüstern verzerrtes Narbengesicht über ihn beugte, und er sah auch nicht den scharfen Stahl des Messers, das sich seiner Kehle näherte. * Sir John eilte behende auf das Deck des Achterkastells, noch bevor sich die Männer der Stammcrew von ihrem Schreck erholt hatten. Er blieb an der vorderen Balustrade stehen, so daß sie ihn vom Deck der Kuhl und vom Vorkastell deutlich sehen konnten. Mit hoch erhobenem Arm gebot er Einhalt. Seine Stentorstimme hallte über das Schiff. »Halt! Ohne meinen ausdrücklichen Befehl wird auf dieser Karavelle niemand getötet!« Sir John Killigrew straffte seine Haltung, und er war überzeugt, einen nachhaltigen Eindruck bei der Stammcrew hervorzurufen. Nicht unbegründet, denn er war von bulliger Statur, groß und rothaarig, mit eisklaren hellblauen Augen, was alles in allem ein imposantes äußeres Erscheinungsbild ergab. Ohne es sehen zu können, spürten die Männer von der Crew
der ›War Song‹, welche Gefahr ihrem Bootsmann drohte. Sie hielten den Atem an und blickten wie gebannt zum Achterkastell hinauf. Keiner von ihnen wagte es, sich zu rühren. Das Narbengesicht ruckte herum. Die übrigen Männer wichen beiseite und gaben für Sir John den Blick auf die Szenerie frei. Der Rudergänger harrte mit deprimierter Miene an seinem Platz aus. Der Mann, dem Sullivans Bleikugel eine Furche in die Schädeldecke gerissen hatte, hockte leise wimmernd auf den Planken. Mit der freien Hand zeigte der Narbige anklagend auf die Toten - den Hünen, dem das Gesicht fehlte, und den anderen, dem der Messingknauf der Radschloßpistole die Schädeldecke zertrümmert hatte. »Sir, der Drecksack hat zwei von uns abgemurkst! Dafür muß er ...« Killigrew unterbrach ihn mit einer ausladenden Handbewegung. »Werft die Toten über Bord, Männer! Der Bootsmann hat sich seiner Haut gewehrt. Es war ein offener, ehrlicher Kampf. Jetzt ist dieser Kampf vorbei. Wir haben keinen Grund, den Mann abzustechen wie eine hilflose fette Sau.« Der Narbige wagte nicht, zu protestieren. Achselzuckend richtete er sich auf und verstaute das Messer in seinem Gürtel. Dann packte er mit zu, als drei Männer herbeieilten. Mit kräftigem Schwung warfen sie die beiden Toten über Bord. Den klatschenden Aufschlägen der leblosen Körper folgte eine bedrückende Stille. Sir John nutzte den Moment, um seine Ansprache fortzusetzen. »Herhören, Männer!« Er wandte sich halb in Richtung Bug. »Ich meine vor allem euch, von der Crew der ›War Song‹. Euer Bootsmann hat sich ein bißchen vergaloppiert. Aber ich nehme ihm das nicht weiter krumm. Er konnte die Dinge nicht
überblicken und die wahren Hintergründe nicht erkennen. Für mich ist es deshalb verständlich, daß er den Bastarden von der ›Isabella‹ auf den Leim gegangen ist. Ich werde später darüber befinden, ob und wie er dafür zur Verantwortung gezogen werden soll. Im Augenblick zählt nur eins: das zu tun, was zu tun im Sinne Ihrer Majestät das Richtige ist. Deshalb übernehme ich ab sofort wieder das Kommando über dieses Kriegsschiff. Wenn einer von euch etwas dagegen einzuwenden hat, dann soll er sich jetzt zu Wort melden.« Sir John blickte auffordernd in die Runde. Die Männer auf dem Vordeck und auf dem Deck der Kuhl wechselten halblaute Worte. Aber schon an ihren Gesichtern las Killigrew ab, daß seine Rede nicht die beabsichtigte Wirkung verfehlte. Was den Bootsmann betraf, hatte er sich generös gezeigt, und das war genau der Punkt, der für die Crew der ›War Song‹ entscheidende Bedeutung hatte. Überdies fühlte sich Sir John in seiner Eigenschaft als General-Kapitän von Cornwall immer noch als Autorität, was letztlich auch für die Crew ausschlaggebend war. Keiner der Männer hob die Hand, niemand sprang protestierend auf. Sir John Killigrew lächelte zufrieden. Es gab ein weiteres entscheidendes Moment in seinen Überlegungen, wobei er sich jedoch hütete, darüber ein Wort zu verlieren. Dieser Bootsmann war ein brauchbarer Kerl, und mit seinen seemännischen Fähigkeiten stach er jeden einzelnen der Killigrew-Männer aus. Sir John hatte das Gefühl, daß er diesen Mann noch gut brauchen konnte. Denn für das, was er sich vorgenommen hatte, war ein erfahrener Mann mehr als Gold wert. Der alte Killigrew konnte nicht ahnen, daß er später einmal versucht sein würde, sich wegen dieser Entscheidung selbst ein Ohr abzubeißen. »Sperrt ihn in eine Kammer im Achterkastell«, befahl er,
indem er auf den bewußtlosen Sullivan deutete. »Sobald ich Zeit dafür habe, werde ich mich um ihn kümmern.« Während vier Männer den Bootsmann wegschleiften, gab Sir John seine ersten Befehle an die Crew. Und beruhigt nahm er zur Kenntnis, daß seinen Anordnungen prompt Folge geleistet wurde. Er ließ ankerauf gehen, scheuchte seine eigenen Männer vom Deck des Achterkastells hinunter auf das Deck der Kuhl und brachte sie auf Trab. Sir John ließ alle Segel setzen und forderte den Segelmacher und seine Helfer auf, ihre Arbeit schleunigst fortzusetzen. Der Rudergänger zeigte, daß er sein Handwerk verstand. Trotz des dürftigen Notruders schwang die ›War Song‹ in einem geradezu eleganten Bogen herum. Wellen klatschten gegen die Bordwand, und in feinen Schleiern sprühte Gischt über das Vorschiff. Die Rahen knarrten ächzend. Kurz darauf standen die Segel voll, und die Karavelle gewann Fahrt. Bei raumem Wind segelte die ›War Song‹ über Backbordbug nach Westen mit Kurs auf Falmouth. Die Männer von der Stammcrew der Karavelle wagten nicht, sich gegen den Kurswechsel aufzulehnen. Sie hatten sich damit abgefunden, daß der alte Killigrew wieder den Ton angab, und sie rechneten nicht mehr damit, daß sich daran noch etwas ändern würde. Was er mit dem neuen Kurs beabsichtigte, war für jeden an Bord der ›War Song‹ eindeutig: Sir John würde in Falmouth reparieren und dann die Verfolgung der ›Isabella‹ wieder aufnehmen. * In den Morgenstunden des 15. Februar 1580 lief die ›War Song‹ in den Hafen von Falmouth ein. An Land versammelte sich rasch eine Menschenmenge, während die Karavelle mit aufgegeiten Segeln an der Pier festmachte. Zwar waren die
Notsegel inzwischen durch neues Tuch ersetzt worden, aber noch immer erinnerte das jammervolle Aussehen des Schiffes frappierend an ein von Wunden entstelltes Kriegsroß, das seine letzte Schlacht mit knapper Mühe lebend überstanden hatte. Niemand unter den Neugierigen konnte wissen, daß die ›War Song‹ ihren Fortbestand einzig und allein der wohlkalkulierten Rücksicht ihrer Gegner verdankte. So gab es auch niemanden, der das würdevolle Gebaren Sir John Killigrews spöttisch belächelte. Nach außen hin war er der erfahrene Kapitän, der es offenkundig geschafft hatte, seine Männer und sein Schiff in einem mörderischen Gefecht bestehen zu lassen. Den wahren Sachverhalt kannte hier in Falmouth mit Sicherheit kein Mensch. Breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestimmt, baute sich Sir John auf dem Deck des Achterkastells auf, und seine Donnerstimme war bis in die nahegelegenen Hafengassen zu hören. »Beiboot abfieren! Trossen und Taljen klarieren! Anker fünfzig Yards nach Backbord ausbringen! Los, los, bewegt euch, ihr faulen Hunde! An die Kojen braucht ihr vorläufig nicht zu denken! Wir arbeiten Tag und Nacht durch, bis dieses Schiff wieder ein Prachtstück ist!« Die Männer quirlten durcheinander. Die Mitglieder der Stammcrew zeigten Bereitwilligkeit und gaben dort die notwendigen Handreichungen, wo Killigrews Leute nicht auf Anhieb zurechtfanden. Sir John registrierte es mit Genugtuung. Es bestärkte ihn in seinem Stolz und gab ihm das Gefühl, daß seine Autorität kein bißchen angekratzt war. Im Handumdrehen wurde das Beiboot zu Wasser gelassen. Sechs Mann pullten den Anker, dessen Trosse mittschiffs in Höhe des Schanzkleides durch eine Talje geschoren wurde, auf das Hafenbecken hinaus. Die Trosse wurde noch einmal durch eine Talje am Roring geschoren und anschließend zurück zur Talje an Bord geführt, nachdem sie den Anker ausgeworfen
hatten. Sir John ließ die Männer mit dem Beiboot längsseits in Wartestellung gehen. »Zweite Trosse unter den Großmars!« befahl er. Zwei Mann aus der Stammcrew hasteten hinauf, daß es eine Freude war, ihnen zuzusehen. Der eine war groß, strohblond, breitschultrig, mit Muskeln bepackt, der andere einen halben Kopf kleiner, drahtig und gewandt wie eine Raubkatze, Die beiden arbeiteten geschickt und waren zweifellos gut aufeinander eingespielt. Sir John beschloß, sich jeden Mann aus der Crew der ›War Song‹ nach und nach einzuprägen. Es würde sich auszahlen, wenn er die Eigenarten und die besonderen Fähigkeiten jedes einzelnen kannte. Nachdem sie die zweite Trosse durch eine Talje unmittelbar unter dem Großmars geschoren hatten, scheuchte Sir John vier Mann mit der Trosse an Land und ließ sie an einem Poller in Höhe des Großmastes belegen. Als die Trosse mehrmals durch die Taljen geschoren worden war, ließ Sir John die Steuerbordleinen losmachen. Auf sein Kommando begannen die Männer am Handläufer der Ankertrosse mit ihrer schweißtreibenden Arbeit. Langsam löste sich die ›War Song‹ von der Pier. Mit lautem »Hoool weg« und »Hau-ruck« brachten sich die Männer am Handläufer selbst in den richtigen Arbeitsrhythmus. Sir John ließ die Karavelle auf diese Weise etwa zehn Yards nach Backbord verholen. Die Ankertrosse wurde festgezurrt. »Ihr seid an der Reihe!« brüllte der alte Killigrew zu den Männern am Poller hinüber. Willig packten sie zu. Die Trosse, die schräg zum Großmars hinaufführte, straffte sich. Kurz darauf begann das Holz des Großmastes verdächtig zu knarren. Die Männer an Deck warfen die Köpfe in den Nacken und blickten mit zusammengepreßten Lippen zum Großmars, als erwarteten sie
jeden Moment, daß der Mast unter der Zugkraft der Trosse zu splittern begann. Aber das protestierende Knarren des Holzes verlor sich, je größer die Belastung wurde. Dann krängte die ›War Song‹ allmählich nach Steuerbord. Sir John begab sich an die Backbordbalustrade des Achterkastells und warf einen prüfenden Blick in die Tiefe. Die Lecks befanden sich knapp oberhalb der Wasserlinie. Die Hurensöhne an den Kanonen der verdammten ›Isabella‹ hatten Maßarbeit geleistet. Das mußte Sir John trotz allem anerkennen. Er wartete, bis die Karavelle soviel Schlagseite hatte, daß sich die Lecks etwas drei Fuß hoch über der Wasserlinie befanden. Dann gab er den Männern am Handläufer der Trosse das Zeichen zum Stoppen. Killigrew nickte zufrieden und stieg hinunter auf das Deck der Kuhl. Seine eigene Crew und die der ›War Song‹ blickten ihm erwartungsvoll entgegen. »Wer ist der Schiffszimmermann?« erkundigte er sich halblaut. »Hier, Sir.« Ein schwarzhaariger Riese mit kantigem Schädel und mächtigem Vollbart löste sich aus den hinteren Reihen und trat vor. Sir John war gezwungen, zu dem Mann aufzublicken. »Name?« »Thomas Canter, Sir. Ich fahre seit zwei Jahren als Zimmermann auf der ›War Song‹.« »Gut, gut. Dann können Sie jetzt beweisen, daß Sie was von Ihrem Fach verstehen, Canter. Sie übernehmen das Kommando und teilen die Leute ein. Das gilt auch für die Männer, die ich mit an Bord gebracht habe.« Keiner aus der Killigrew-Meute wagte es, zu murren. Über das Gesicht des riesenhaften Schiffszimmermanns glitt ein Lächeln. »Aye, aye, Sir.« »Wieviel Zeit brauchen Sie, Canter?« erkundigte sich Sir
John forsch. »Wenn Sie es für notwendig halten, können Sie in meinem Namen Hilfskräfte an Land anheuern.« Thomas Canter überlegte nicht lange. »Zwanzig Stunden, Sir«, lautete seine prompte Antwort, »übermorgen haben wir alle Schäden behoben.« »In Ordnung«, sagte der alte Killigrew und nickte, »verlassen Sie sich darauf, daß Sie Dampf unter den Hintern kriegen, wenn Sie die Zeit überschreiten, Canter.« Der Schiffszimmermann grinste nur. »Eine Frage noch, Sir«, sagte er nach einem Moment des Nachdenkens. Sir John hob auffordernd das Kinn. »Was wird aus Sullivan, unserem Bootsmann?« »Der bleibt vorläufig, wo er ist. Unter Bewachung, wie gehabt. Seht zu, daß ihr die Reparaturarbeiten zügig erledigt. Dann können wir uns irgendwann weiter über Sullivan unterhalten.« Thomas Canter schwieg, seine Miene blieb unbewegt. Durch nichts ließ er erkennen, daß es ihm mächtig in den Fingern juckte, dieses alte Schlitzohr auf die Planken zu legen. So, wie Sullivan es vernünftigerweise schon einmal getan hatte. Aber Canter sagte sich, daß dies nicht die passende Gelegenheit war. Wichtig war jetzt allein, daß die ›War Song‹ wieder auf Vordermann gebracht wurde. Und dabei betrachtete es der Schiffszimmermann fast als nebensächlich, daß Sir John den Befehl für die Reparaturen gegeben hatte. * Ablandiger Wind trieb die Nebelschaden aus der Falmouth Bay hinaus auf das offene Meer. Durch den zerfasernden Nebel zog das hellere Grau des beginnenden Tages herauf. Falmouth lag noch in tiefem Schlaf, als die ›War Song‹, von einer Schaluppe begleitet, am 17. Februar 1580 wieder auslief.
Thomas Canter hatte seine Zeit eingehalten, ja sogar noch um eine knappe Stunde unterschritten. Sir John Killigrew fühlte sich etwa so, wie sich ein Landsoldat fühlen mußte, der das Muskelspiel eines frischen Pferdes unter dem Gesäß spürte. Die Segel der Karavelle standen voll, der Bug hob und senkte sich sanft im mäßigen Wellengang. Nichts erinnerte mehr an die Schäden, die das Schiff im Gefecht mit der ›Isabella‹ davongetragen hatte. Die ›War Song‹ bot einen stolzen Anblick, wie es sich für ein Kriegsfahrzeug Ihrer Majestät, der königlichen Lissy, gehörte. Sir John warf nur einen kurzen Blick zurück. Die Feste Arwenack, hoch über dem Hafen von Falmouth, verbarg sich hinter Dunstschleiern im morgendlichen Zwielicht. In nervöser Unrast hatte Sir John dort, in der gewohnten Umgebung seines Familiensitzes, die zwei Tage und zwei Nächte verbracht. Unruhig war er gleich nach seiner Ankunft auf Arwenack geworden. Als er erfahren hatte, was sich in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar vor Pendennis Castle abgespielt hatte, war es mit seiner inneren Ausgeglichenheit vorbei gewesen. An Land kursierten die wildesten Geschichten über jene Nacht. In den Schenken überboten sich die Leute dabei, das Geschehen in immer leuchtenderen Farben auszumalen. Zwei »Geisterschiffe«, so hieß es, hatten den geplanten Überfall der Spanier auf Pendennis Castle verhindert - eine Galeone und eine Schaluppe! Es hatte nicht viel Scharfsinn dazugehört, die entsprechenden Schlußfolgerungen anzustellen. Für Sir John stand fest, daß es sich bei den beiden »Geisterschiffen« nur um die ›Isabella‹ und die dazugehörige Schaluppe gehandelt haben konnte. Sir Johns eigene Schaluppe segelte im Kielwasser der Karavelle. Auf dem Achterdeck des einmastigen Fahrzeugs war im Zwielicht schemenhaft die Statur des Mannes zu erkennen, der das Kommando führte: Simon Llewllyn Killigrew, 26 Jahre alt und Zweitältester Sohn Sir Johns.
Simon, von seinem Vater über die Geschehnisse unterrichtet, kochte vor Wut und Eifer fast über. Wut auf Old Shane, der Simons älteren Bruder Malcolm umgebracht hatte. Und Eifer, was die Jagd auf den Beuteschatz betraf, den Hasard, der elende Bastard, im Bauch seiner ›Isabella‹ gehortete hatte. Gedankenverloren blickte Sir John Killigrew über das Vorschiff weg. Seine Vermutung, daß die ›Isabella‹ und die sie begleitende Schaluppe versuchen würden, sich zu verstecken, war hieb- und stichfest. Immerhin wußte Sir John dank der Erzählungen über die »Geisterschiffe«, daß Ben Brighton, der Bootsmann der ›Isabella‹, westwärts gesegelt war, und nicht nach Osten, um die Beute in London abzuliefern. Daraus resultierte, daß Brighton vorhatte, abzuwarten, bis er Nachricht über Tod oder Leben seines Kapitäns erhielt. Sir John hatte nicht die geringste Ahnung, ob Hasard seine Kopfverwundung überstanden, oder ob er bereits das Zeitliche gesegnet hatte. Wenn es nach dem alten Killigrew ging, konnte der Bastard krepieren. Doch dieser Gedanke war zur Zeit eher nebensächlich. An erster Stelle aller Überlegungen stand für Sir John die logische Schlußfolgerung, daß sich Ben Brighton mit den beiden Schiffen irgendwo verstecken mußte. Und für diesen Zweck waren die unzähligen Buchten an der Nordküste Cornwalls wie geschaffen. Dort, davon war Sir John überzeugt, würde er Brighton aufspüren und den Beuteschatz vereinnahmen. Für die Mannschaft der ›Isabella‹ hatte Sir John bereits das Todesurteil ausgesprochen. Vor allem Old Shane und der alte O’Flynn, die beiden Abtrünnigen, hatten diese Strafe mehr als verdient.
2. Ein handiger Südost pfiff über die düsteren Klippen von
Pentire Point. Blauschwarze Wolkenbänke wurden von dem ablandigen Wind in immer dichteren Formationen über die Küste Cornwalls weg auf die See getrieben. Zusehends länger wurden die Zeitabstände, in denen die Wolkendecke aufriß und es dem abnehmenden Mond erlaubte, sein fahles Licht auf die rauhe Landschaft auszugießen. Es war der Abend des 23. Februar 1580. Leise klirrten die Hufeisen des Pferdes auf dem steinigen Boden. Der Atem des erschöpften Tieres stand für Augenblicke in milchigen Schwaden vor seinen Nüstern, bis er vom Wind wieder zerfasert wurde. Das blonde Haar des schlanken jungen Mannes schimmerte matt in der Dunkelheit. Er führte sein Pferd an den Zügeln hinter sich her. Trotz der mörderischen Strapazen, die er ertragen hatte, waren seine Bewegungen von federnder Elastizität. Zügig näherte er sich der Felsenküste, von deren Fuß das Donnern der heranrollenden Wogen zu hören war. Dan O’Flynn war tagelang unterwegs gewesen, bis er Pentire Point, die Halbinsel an der Westseite der Port Isaac Bay, erreicht hatte. Hinter ihm lag das tückische Bodmin Moor, das zu durchqueren selbst für Ortskundige nicht ungefährlich war. Und hinter ihm lagen endlose Umwege, die er hatte reiten müssen. Er war jeder menschlichen Siedlung ausgewichen, um seinen Auftrag nicht durch einen unverhofften Zwischenfall zu gefährden. Denn davon hatte er genug erlebt, nachdem er das Haus von Sir Anthony Abraham Freemont in Plymouth verlassen hatte. Wie sich gezeigt hatte, war das Anwesen Sir Anthonys bewacht worden, und sofort nach Verlassen des Hauses war Dan von einem Mann abgefangen worden, der ihn zu Friedensrichter Samuel Taylor Burton schleppen wollte. Dan hatte keine andere Wahl gehabt, als Burtons Schergen zu töten. Nicht besser war es den Strauchdieben ergangen, die ihn kurz darauf außerhalb von Ply-mouth hatten ausplündern und umbringen wollen.
Hasard, der inzwischen über den Berg war, wurde im Haus Sir Anthonys gesundgepflegt. Bei ihm waren Gwen, Dans Schwester und jungvermählte Ehefrau des Seewolfs, sowie der Kutscher. Nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, hatte Hasard erfahren, was seit seiner Verwundung geschehen war. Und er war zu dem einzig möglichen Schluß gelangt, daß Ben Brighton sich mit der Galeone und der Schaluppe in einer der Buchten an der einsamen Nordküste Cornwalls verstecken würde - so lange, bis der Seewolf wieder zur Stelle war. Aber Hasard hatte es nicht ertragen, isoliert zu sein und sich nicht um das Schicksal seiner Crew kümmern zu können. Deshalb hatte er Dan O’Flynn losgeschickt, dessen Aufgabe darin bestand, die ›Isabella‹ zu finden und Hasards Verbindung zu seinen Männern wieder herzustellen. Hier, auf Pentire Point, wollte Dan mit der Suche nach der Galeone beginnen. Durch das Gewirr der bizarren Felsformationen fand Dan seinen Weg zur Steilküste. Eine Gasse, die einem Hohlweg ähnelte, öffnete sich vor ihm. Der Klippenrand zeichnete sich als scharfe Linie vor den weißen Schaumkronen der in der Tiefe rollenden Wellenberge ab. Dan schlang die Zügel um eine Felsnase und ließ das Pferd zurück. Nachdem er vier oder fünf weitere Schritte hinter sich gebracht hatte, stockte er plötzlich. Schwacher Lichtschein schimmerte zum Klippenrand herauf. Dan prischte sich lautlos näher heran, obwohl er nichts zu befürchten hatte. Das Tosen der Brandung schluckte alle Geräusche auf größere Entfernung. Er ging in die Knie, streckte sich und kroch auf den Rand des Abgrunds zu. Die schwache Hoffnung, die ungewollt in ihm aufgekeimt war, zerschlug sich. Unsinn, dachte Dan, so ein unverschämtes Glück, die ›Isabella‹ gleich beim ersten Versuch zu finden, kann es doch gar nicht geben! In etwa vierzig Fuß Tiefe erstreckte sich unter ihm das
Halbrund einer Felsenbucht. Zwei Schiffe lagen in der Bucht vor Anker, eine Dreimastkaravelle und eine Schaluppe. Dan kniff die Augen zusammen. Im Laternenschein erkannte er, daß an Bord rege Betriebsamkeit herrschte. Aber von den Worten, die zweifellos gewechselt wurden, konnte er wegen der Entfernung nichts hören. Dan O’Flynns Neugier war schlagartig wachgekitzelt. Was für Schiffe waren das, die ausgerechnet hier, an der Nordküste Cornwalls ankerten? War es ein Zufall, daß sie ebenso versteckt lagen, wie es zweifellos auch bei der ›Isabella‹ und der Schaluppe der Fall sein würde? Dan beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, ohne weitere Zeit zu verlieren. Er richtete sich auf und pirschte vorsichtig nach rechts auf der Klippe entlang, bis er einen schmalen Grat fand, der für einen einigermaßen sicheren Abstieg geeignet war. Am Fuß der Steilküste gab es eine Reihe von schroffen Felsvorsprüngen, die ihm hinreichenden Sichtschutz boten. Dan kauerte sich hinter einen der Gesteinsbrocken und spähte zu den beiden Schiffen hinüber. Die Entfernung betrug jetzt nur noch etwa vierzig Yards, und sobald er sich genügend konzentriert hatte, war er auch imstande, die an Deck geführten Gespräche zu verstehen. Im nächsten Moment, als seine ungewöhnlich scharfen Augen die Einzelheiten erfaßten, traf es ihn mit der Wucht eines Hammerschlags. Der Mann am Backbordschanzkleid der Kuhl war unverkennbar Sir John Killigrew. Grimmig preßte Dan O’Flynn die Lippen aufeinander. Der Anblick dieses Schlitzohrs brachte sein Blut zum Kochen. »Verdammte Schlafmütze!« brüllte Sir John mit vornüber gebeugtem Oberkörper. »Kann man so was nicht rechtzeitig feststellen? Wozu hast du deinen Strohkopf, zum Teufel! Wenn der nicht angewachsen wäre, bringst du es glatt fertig und
vergißt ihn in deiner Miefbude!« Dan mußte grinsen, und sein Zorn verrauchte ein wenig. Sein Blick wechselte hinüber zur Schaluppe, und er erkannte den Mann auf dem Achterdeck sofort. Simon Llewellyn Killigrew, der Bruder des toten Malcolm. Simon war einen halben Kopf kleiner als Malcolm, doch er hatte das gleiche widerwärtige Ferkelgesicht und die gleichen roten Haare. »So lasse ich nicht mit mir umspringen!« schrie der Sohn des alten Killigrew zurück, und seine Stimme kippte dabei über. »Als wir in Falmouth abgelegt haben, war der Mistkahn noch in Ordnung!« Ruckartig streckte Sir John den rechten Arm aus und deutete auf die Backbordseite der Schaluppe. »Ha! Willst du mir weismachen, daß die Planke in den letzten paar Tagen morsch geworden ist? Glaubst du, ich ziehe meine Hosen mit der Kneifzange an, he?« »Du kannst mich mal!« antwortete Simon giftig. Trotz der Entfernung sah Dan, daß sein Ferkelgesicht krebsrot war. »Schrei rum, soviel du willst. Das ändert nichts daran, daß wir reparieren müssen. Die Planke zieht Wasser, und damit basta. Es ist mir scheißegal, sei wann das so ist. Jedenfalls können wir so nicht weiter.« »Was für einen Ton erlaubst du dir!« brüllte Sir John schnaubend. »Wie redest du mit deinem Vater!« »Anders kapierst du es ja nicht!« schrie Simon, außer sich vor Wut. »Ich will jetzt sofort den Schiffszimmermann haben!« »Ach nein!« Sir John lachte schallend und höhnisch. »Du willst ihn haben? Einfach so? Und wenn ich dir sage, daß du ihn nicht kriegst?« »Dann hau doch ab!« »Ja, das werde ich auch tun! Ich kann mir diese elende Zeitverschwendung nicht leisten. Wenn wir nämlich so weitermachen, finden wir die ›Isabella‹ nie. Geht das in deinen
Strohkopf hinein?« »Das und noch mehr!« rief Simon fauchend zurück. »Daß du nämlich mit deinem lächerlichen Waschzuber allein gegen die ›Isabella‹ und die Schaluppe verdammt wenig ausrichten kannst. Denk mal drüber nach, Alter!« Sir John Killigrew rastete sichtlich ein, war verwirrt und fand nicht sofort die passenden Worte. Das Grinsen hatte sich in Dan O’Flynns Mundwinkeln festgesetzt. Die Brüllerei zwischen Vater und Sohn war geradezu aufheiternd. Und auch einige der Männer an Deck der Karavelle konnten sich ein verstohlenes Grinsen nicht verkneifen. »Also gut«, sagte Sir John. »Du kriegst den Schiffszimmermann. Aber ich komme ‘rüber und reiße dir eigenhändig den Hintern auf, wenn du die Sache nicht ruckzuck erledigst!« »Mit deinem Gefasel haben wir schon genug Zeit verplempert!« schrie Simon bissig zurück. »Wir hätten längst fertig sein können, wenn du dich nicht wie eine hirnrissige alte Jungfer angestellt hättest!« Sir John schluckte es, ohne eine Antwort zu geben. »Ganter!« »Sir?« Der bärtige Schiffszimmermann trat an das Schanzkleid. »Setzen Sie über und fangen Sie an. Nehmen Sie die Männer mit, die Sie brauchen.« »Aye, aye, Sir.« Canter wandte sich halb um und nickte zwei Männern aus der Stammcrew der ›War Song‹ zu. »Hornblow, Rufus - bewegt euch.« Die beiden traten bereitwillig vor. Hornblow war groß, strohblond und breitschultrig. Unter seinem derben Segeltuchhemd zeichneten sich imposante Muskelpakete ab. Rufus war drahtig und einen halben Kopf kleiner als der Blonde, seine Bewegungen hatten etwas von der
Gewandtheit einer Raubkatze. Sir John erinnerte sich, daß ihm dieses Gespann bereits einmal aufgefallen war. Es mußten brauchbare Burschen sein, wenn der Schiffszimmermann sich für sie entschied. »Beiboot abfieren!« befahl der alte Killigrew dröhnend. Dann ruckte sein Kopf in Richtung Schaluppe, und seine Stimme schwoll an. »Muß ich euch erst auf Trab bringen? Seht gefälligst zu, daß ihr euren morschen Kahn krängt! Oder soll Canter Daumen drehen, bis ihr soweit seid?« Simon Llewellyn gab keine Antwort. Statt dessen schrie er seine Mannschaft zusammen, wobei er auf den Zehenspitzen wippte, die Arme gestreckt herabhängen ließ und die Hände ballte. »Los, los, auf was wartet ihr noch, ihr faulen Hunde! Für’s Herumstehen werdet ihr nicht bezahlt! Bewegt euch endlich! Beiboot abfieren! Trossen und Taljen klarieren! Anker ausbringen!« Die Männer an Deck hasteten los, und immer noch auf den Zehenspitzen wippend, beobachtete Simon Llewellyn mit selbstgefälligem Lächeln, welche hektische Betriebsamkeit seine Befehle hervorriefen. Thomas Canter, Hornblow und Rufus hatten währenddessen auf der ›War Song‹ ihre Werkzeugkisten in das Beiboot gepackt und ließen sich abfieren. Sir John Killigrew wandte sich mit gönnerhafter Miene der restlichen Crew zu. »Herhören, Männer! Es läßt sich leider nicht vermeiden, daß wir diesen unvorhergesehenen Aufenthalt in Kauf nehmen müssen. Aber ich sehe nicht ein, daß wir deshalb herumhocken und Trübsal blasen. Seit ich das Kommando wieder übernommen habe, habt ihr gezeigt, daß ihr bereit seid, zu arbeiten. Und ich bin verdammt kein Unmensch. Ich weiß, wann man eine Leistung anerkennen muß. Deshalb gibt es jetzt eine Sonderration von unserem guten Schottischen. Hat einer
was dagegen einzuwenden?« Begeistertes Gebrüll war die Antwort. In ihrer Zustimmung waren sich Killigrews Meute und die Männer der Stammcrew hundertprozentig einig. Sir John lächelte zufrieden, während sie losrannten, um das Whiskyfaß anzuzapfen. Dann stapfte er zu seiner Kammer im Achterkastell, wo er sich selbst mit einem Trinkbecher versorgte. Dan O’Flynn harrte regungslos in seinem Versteck aus. Immerhin wußte er jetzt, daß die Suche des alten Killigrew bislang erfolglos geblieben war. Die Reparatur der Schaluppe würde Ben Brighton und den anderen einen weiteren Zeitvorteil verschaffen. Vor seinem Aufbruch in Plymouth hatte Dan vom Kutscher erfahren, daß sich Sir John die Karavelle unter den Nagel gerissen hatte und hinter der ›Isabella‹ her ausgelaufen war. Deshalb bestand über die Absicht des alten Halunken jetzt nicht mehr der geringste Zweifel. Während Dan die beiden Schiffe beobachtete, dachte er angestrengt nach. Er war allein und lediglich mit Messer und Pistole bewaffnet. Hatte es da überhaupt einen Sinn, zu überlegen, ob er gegen den alten Killigrew etwas ausrichten konnte? Seine Gedanken kreisten in vagen Bahnen, und er wußte, daß er von einem Entschluß noch weit entfernt war. Der Schiffszimmermann und seine beiden Helfer pullten zu der Schaluppe hinüber. Sie hatten sich zusätzlich mit zwei Laternen ausgerüstet, die ihnen bei der Reparatur die nötige Helligkeit liefern sollten. Inzwischen war die Arbeit auf der Schaluppe bereits fortgeschritten. Einer der Anker war nach Steuerbord ausgebracht und dessen Trosse durch eine Talje im oberen Drittel des Mastes geschoren worden. An Deck standen sechs Männer am Handläufer der Trosse bereit und warteten auf das Kommando ihres ferkelgesichtigen Kapitäns. Kurz darauf hatte auch der zweite Anker an Backbord gefaßt. Die
Trosse wurde mittschiffs in Höhe des Schanzkleides belegt. Das Beiboot mit Thomas Canter und seinen Helfern erreichte die Schaluppe. »Hool-weg!« schrie Simon Llewellyn. »Hool-weg! Hool-weg ...« Er wippte im Takt seiner Kommandos. Die Männer am Handläufer packten zu. Rasch straffte sich die Trosse, und das Mastholz begann protestierend zu knarren. Kurz darauf neigte sich die Schaluppe zügig nach Steuerbord. »Langsamer, ihr Hornochsen!« brüllte Simon Llewellyn. »Wollt ihr den Kahn zum Kentern bringen?« Die Männer duckten sich unwillkürlich und verringerten ihr Arbeitstempo sofort. »Genug!« rief Thomas Canter aus dem Beiboot. Mit fachmännischem Blick hatte er die morsche Planke gesichtet, die sich nun etwa drei Fuß hoch über der Wasserlinie befand. Heiseres Gegröhl setzte an Bord der ›War Song‹ ein. Dan O’Flynn blickte zu der Karavelle hinüber und sah, daß die Männer im Halbkreis auf dem Deck der Kuhl hockten und die Whiskybecher kreisen ließen. Dans Überlegungen nahmen festere Formen an. Dumpfe Hammerschläge erklangen bei der Schaluppe. Thomas Canter war ein Mann, der sein Handwerk verstand. Das erkannte Dan O’Flynn an der schnellen und geschickten Art, mit der der bärtige Riese sein Werkzeug handhabte. Während sie bei der Schaluppe noch arbeiteten, wurde das Grölen auf der Karavelle zunehmend ausgelassener. Dan beobachtete das Geschehen mit wachsendem Interesse. Er spürte die Kälte nicht. Seine Sinne waren darauf konzentriert, wie sich die Lage entwickelte und welchen Nutzen er möglicherweise daraus ziehen konnte. Die Zeit verstrich. Etwa gegen Mitternacht hatten Thomas Canter und seine Helfer ihre Arbeit beendet. Die Trossen wurden gelöst, und der
Mast der Schaluppe schwang in die Senkrechte zurück. Nachdem sie die Anker eingeholt hatten, gab es auch für Simon Llewellyns Mannschaft eine Sonderration Whisky. »Ihr sollt nicht leben wie die Hunde!« brüllte der alte Killigrew vom Schanzkleid der Karavelle herüber. Seine Zunge war bereits schwer geworden. »Sauft euch voll! Dafür zeigt ihr mir morgen, daß ihr brauchbare Kerle seid! Jedem, der nicht pünktlich auf den Beinen ist, ziehe ich eigenhändig die Neunschwänzige über! Wenn es sein muß, auch meinem eigenen Sohn!« Brüllendes Gelächter brach an Bord der Karavelle aus. Die Männer auf der Schaluppe schrien sich ihre Begeisterung aus dem Leib. Simon Llewellyns Protest ging im Lärm unter. Mit dem Beiboot ließ Sir John ein Whiskyfaß zur Schaluppe transportieren. Anschließend kreisten auch dort die Becher, und Simon Llewellyn langte nach anfänglichem Zögern mit zu. Sein Ferkelgesicht rötete sich mit jedem Schluck, den er hinunterkippte, mehr.
3. Dans Entschluß stand fest. Zwei Möglichkeiten schieden aus, obwohl sie ihm, gemessen an seiner Tollkühnheit, keineswegs als absurd erschienen: Im Alleingang, nur mit Messer und Pistole ausgerüstet, hatte er keine Chancen, beide Schiffe zu kapern oder gar zu versenken. Aber es gab eine dritte Möglichkeit, und die Voraussetzungen dafür standen gut. Dan wartete bis zweieinhalb Stunden nach Mitternacht. Sowohl auf der Karavelle als auch auf der Schaluppe war Ruhe eingekehrt. Die Männer hatten sich restlos verausgabt und horchten offenbar ihre Kojen ab. Dan konnte nur hoffen, daß er mit dieser Annahme recht behielt, Eine Ankerwache war
jedenfalls nicht postiert. Der alte Killigrew schien sich absolut sicher zu fühlen. Dan O’Flynn richtete sich hinter dem Felsbrocken auf. Erfreut stellte er fest, daß der ablandige Wind stärker geworden war. Damit war das Glück auf seiner Seite. Wo es auch bleiben sollte. Das schwor er sich. Er zog sich bis auf die Haut aus, legte die Pistole geschützt zwischen die Kleidungsstücke und klemmte das Messer zwischen die Zähne. Geduckt lief er auf das steinige Ufer zu, verharrte noch einmal hinter einem schützenden Felsbrocken und horchte. Nicht das leiseste Geräusch war von den beiden Schiffen zu hören. Ohne noch einen Atemzug zu verschwenden, schlich Dan weiter. Lautlos ließ er sich in die eisigen Fluten gleiten. Die Kälte drang ihm bis auf die Knochen, und er mußte sich zusammenreißen, um das aufkommende Zähneklappern zu unterdrücken. Seine Willenskraft half ihm. Nichts konnte ihn mehr von seiner wilden Entschlossenheit abbringen, den Plan in die Tat umzusetzen. Die Wellen packten ihn. Aber mit kraftvollen Schwimmzügen bezwang er die Macht der Fluten und glitt zügig auf die Karavelle zu. An Bord beider Schiffe waren inzwischen alle Lichter gelöscht. Doch Dans außergewöhnlich scharfe Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er war imstande, zumindest die Konturen der Schiffe wahrzunehmen. Als düsterer Schatten wuchs der Rumpf der Karavelle vor ihm auf. Der Wind ließ die Takelage knarren und ächzen. Dan brauchte nicht lange zu suchen, um die Ankertrosse zu entdecken. Mit der Linken hielt er sich an dem armdicken Tau fest, und mit der Rechten packte er den Griff des Messers. Fast mühelos gelang es ihm, mit der rasiermesserscharfen Schneide ein Hanfkardeel nach dem anderen zu durchtrennen. Dann hing die
›War Song‹ für einen Moment nur noch an einem dünnen Faserstrang. Dan zog das Messer darüber weg. Jäh gab es einen harten Ruck. Das freie Ende der Trosse zischte empor und sank kurz darauf mit leisem Klatschen auf der Wasseroberfläche zurück. Dan ließ das andere Ende der Trosse los und klemmte sich das Messer wieder zwischen die Zähne. Mit kraftvollen Schwimmzügen bewegte er sich auf die Schaluppe zu. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß der Schatten der Karavelle sanft und lautlos seewärts abtrieb. Jeden Moment erwartete er alarmierendes Gebrüll von Bord der ›War Song‹. Aber er unterdrückte seine Befürchtungen, als er die Ankertrosse der Schaluppe erreichte. Wieder setzte er die scharfe Klinge des Messers an. Die Hanffasern gaben ihren Geist auf. Und abermals gab es den gleichen jähen Ruck, wie schon zuvor bei der Karavelle. Die Trosse züngelte in die Luft und klatschte dann auf die Wellen. Ebenfalls lautlos glitt die Schaluppe davon - langsamer allerdings als die Karavelle, denn jene bot dem Wind aufgrund ihrer Hochbordigkeit wesentlich mehr Angriffsfläche. Dan O’Flynn beeilte sich, zum Ufer zurückzukehren. Immer noch rechnete er damit, daß sie zumindest auf einem der beiden Schiffe Lunte riechen würden. Aber nichts dergleichen. Nur das Heulen des anschwellenden Windes war zu hören. Zitternd vor Kälte kroch Dan auf das steinige Ufer. Erst jetzt spürte er, was er hinter sich gebracht hatte. Er fühlte sich wie erfroren und hatte den Eindruck, daß seine verhärteten Muskeln nie wieder die alte Elastizität zurückgewinnen würden. Mit klappernden Zähnen verharrte er minutenlang und spähte auf See hinaus. Die Umrisse der Karavelle waren bereits von der Dunkelheit verschluckt worden. Nur der Schatten der Schaluppe befand
sich noch in Sichtweite. Doch die Konturen begannen zu zerfließen. Einzig auf die Schärfe von Dans Augen war es zurückzuführen, daß er den Einmaster überhaupt noch wahrnahm. Dann war auch das vorbei. Und es gab kein wütendes Geschrei, keine aufflackernden Laternen, nichts. Der Wind hatte die Gewalt über die beiden führerlosen Schiffe ergriffen. Endgültig. Ein zufriedenes Grinsen huschte über Dan O’Flynns schmales Gesicht. Er lief am Ufer auf und ab, um warm zu werden und seine Haut vom Wind trocknen zu lassen. Aber die Kälte ließ sich nicht vollends bezwingen. Er zog sich wieder an, verstaute seine Waffen und erklomm die Steilküste auf demselben Weg, den er zuvor beim Abstieg benutzt hatte. Sein Pferd wartete geduldig an der Stelle, wo er es zurück gelassen hatte. Es schnaubte erfreut, als es ihn witterte. Dan strich dem Tier mit der flachen Hand über, die Nüstern. Er löste die Zügel und führte das Pferd landeinwärts. Etwa eine Viertelmeile von der Küste entfernt stieß er unverhofft auf eine verborgene Höhle, die sich in einer senkrecht aufragenden Felswand befand. Die Höhle vergrößerte sich nach innen und war hoch genug, um auch dem Pferd Platz zu bieten. Hohl hallten die Hufschläge von den feuchten Gesteinswänden zurück, als Dan das Tier hineinführte. Dan lief ins Freie und fand wenig später ein Wäldchen, das sich landeinwärts der vegetationsarmen Felsenregion anschloß. Es sammelte soviel trockenes Holz, wie er tragen konnte, und schleppte es zu der Höhle. Noch zweimal brachte er den gleichen Weg hinter sich, bis er einen ausreichenden Vorrat für den Rest der Nacht hatte. Er entfachte ein Feuer, versorgte das Pferd mit Hafersack und Wasserflasche und kauerte sich anschließend dicht an die wärmenden Flammen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er sich
vorzustellen versuchte, wie die Kerle auf der Karavelle und der Schaluppe reagieren würden, wenn sie begriffen, was mit ihnen passiert war.
4. Sullivan spürte die eigentümlichen Bewegungen des Schiffes durch jede Holzfaser der Planken, auf denen er zusammengekrümmt kauerte. Es war dieses Gefühl, das ein Mann entwickeln konnte, wenn er ein halbes Menschenleben lang unter der königlich-britischen Flagge über die Meere gesegelt war. Er war mit dieser Karavelle verwachsen, als sei sie ein Stück von ihm selbst. Daß mit der ›War Song‹ etwas nicht stimmte, war für den Bootsmann so sicher wie das Amen in der Kirche. Er rieb sich die verschlafenen Augen. Wie lange er gedöst hatte, wußte er nicht. Trotz des Spektakels an Bord war er eingenickt, aber es war kein richtiger Schlaf gewesen. Immer wieder war er aufgewacht, wenn sich der Lärm gesteigert hatte, den die rauhen Männerkehlen inszenierten. Gähnend richtete Sullivan sich in der engen, muffigen Vorpiek halb auf. Wenigstens hatte ihn dieser alte Halunke Killigrew nicht fesseln lassen. Statt dessen hörte Sullivan seinen Magen knurren, und es klang wie die gereizte Stimme eines ausgemergelten Wolfes. Doch er unterdrückte sein Hungergefühl, und die Müdigkeit schüttelte er schlagartig ab. Stirnrunzelnd horchte er. An Bord herrschte eine seltsame Stille. Keine Kommandos, die vom Achterkastell schollen, und kein Gemurmel der Männer, die an Deck arbeiteten. Nur das Knarren und Ächzen der Takelage, das Klatschen der Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen, und die merkwürdig trägen Bewegungen der Karavelle.
Aber Sullivan war nicht der Mann, der sich stumm und duldsam mit seiner mißlichen Lage abfand. Er riß den Mund weit auf und formte einen Trichter mit den Händen. »Aufwachen!« brüllte er aus Leibeskräften. »Aufwachen! Verdammt noch mal, ihr hirnrissigen Bastarde, wacht auf!« Keuchend hielt er inne und horchte abermals. Doch nichts rührte sich. Unverändert blieben die rhythmischen Geräusche der Takelage und das Schmatzen der Wellen am Rumpf der Karavelle. Längst war Sullivan sich darüber im klaren, daß das Schiff trieb. Es war mehr als ein Instinkt, der ihm das sagte. Die ›War Song‹ war ihm ans Herz gewachsen, und es schmerzte ihn, zu fühlen, daß die stolze Kriegskaravelle hilflos den Naturgewalten ausgeliefert war. »Aufwachen!« brüllte Sullivan von neuem. »Aufwachen! Kommt endlich zur Besinnung, ihr verdammten Hurensöhne!« Er begann, mit beiden Fäusten gegen das Vorpiekschott zu hämmern. Minutenlang setzte er sein Gebrüll und den Trommelwirbel seiner Fäuste fort, bis ihm der Schweiß in kleinen Bächen über die Stirn rann. Die Luft in der Vorpiek war stickig und feucht. In Falmouth hatte ihn der alte Killigrew in dieses neue Verlies umquartieren lassen. Das Schlitzohr schien sich noch immer nicht entschieden zu haben, was mit ihm geschehen sollte. Wieder brach Sullivan ab und lauschte schweratmend auf eine Reaktion. Nichts. Er wußte, daß er kaum etwas anderes erwarten konnte. Diese Bastarde hatten sich bis über den Rand vollaufen lassen. Und wenn ein Sealord seinen Rausch ausschlief, dann mußte schon Geschützdonner die Schiffsplanken erzittern lassen, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Trotzdem gab der Bootsmann nicht auf. Immer wieder brüllte er sich seinen Zorn aus der Kehle, bis diese heiser wurde und
nur noch ein Krächzen hervorbrachte. Eben bevor er die Fäuste sinken lassen wollte, spürte er, daß sich das Schott unter seinen derben Schlägen zu bewegen begann. Sullivan stutzte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und dann hieb er noch einmal mit seinen beiden mächtigen Fäusten gegen das harte Pinienholz. Kein Zweifel, das Schott hatte Spielraum. Nur Bruchteile eines Zolls, doch es genügte, um neue Hoffnung in dem stämmigen Bootsmann aufkeimen zu lassen. Wenn die Kraft seiner Fäuste ausgereicht hatte, diesen Spielraum hervorzurufen, dann mußte ... Er dachte es nicht zu Ende. Er handelte. So gut es in der engen Vorpiek möglich war, wich er zurück, nahm Anlauf und rammte seine rechte Schulter mit der geballten Wucht seines Körpergewichts und seiner Muskelkraft gegen das Schott. Ein splitterndes Geräusch entstand. Sullivan richtete sich auf, betastete das Schott mit den Händen und stellte fest, daß sich der Spielraum vergrößert hatte. Ein freudiges Lächeln malte sich in sein wettergegerbtes Gesicht. Und mit neuer Energie wiederholte er den Rammstoß. Die Schmerzen, die dabei durch seine Schulter zuckten, ignorierte er. Der zweite und auch der dritte Versuch brachten wiederum nur einen Teilerfolg. Aber das Schott hatte sich inzwischen so weit aus seiner Verriegelung gelöst, daß Sullivan seine Handfläche hindurchschieben konnte. In den vierten Versuch legte er alle Kraftreserven, die zu mobilisieren er imstande war. Splitternd und berstend löste sich der Riegel in seine Bestandteile auf. Sullivan konnte seinen eigenen Schwung nicht mehr bremsen. Das Schott flog weg, begleitet von den Splittern des Riegels. Sullivan segelte hinterher und landete der Länge nach auf dem Batteriedeck.
Zwei, drei Atemzüge lang blieb er liegen und hob lediglich den Kopf. Aber noch immer war nicht der geringste Laut an Bord zu hören, der darauf hätte schließen lassen, daß einer der Halunken endlich wach geworden war. Fluchend, doch innerlich halbwegs froh, rappelte Sullivan sich auf. Die Schmerzen in seiner Schulter hatte er bereits vergessen, und auch seine Stimmbänder funktionierten wieder. Das stellte er mit einem energischen Räuspern fest. Durch die Kombüse hastete er an Deck und hatte das Gefühl, daß ihm die stumpfe Seite eines Enterbeils gegen den Schädel geschmettert wurde. Wie festgenagelt stand er auf den Decksplanken der Kuhl. Sein Kopf ruckte nach links und rechts, und mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Bild, das sich ihm bot. Nirgendwo eine Menschenseele. Nicht ein einziger Mann war auf Station, kein Segel war gesetzt. Wie manövrierunfähig trieb das Schiff in der kabbeligen See. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen, und der Südost, der durch die Takelage pfiff, hatte für Sullivans Ohren einen spöttischen Klang. Bei jeder Bö krängte die ›War Song‹ bedrohlich nach Steuerbord. Und was das Schlimmste war: So sehr Sullivan seine Augen auch anstrengte, er vermochte die Küste von Cornwall nicht mehr zu entdecken. Der Teufel mochte wissen, wie weit sie schon abgetrieben waren. Über den Grund dieses rätselhaften Geschehens nachzudenken, erschien dem Bootsmann im Augenblick müßig. Er gehörte zu jener Sorte Mensch, die vor allem erst einmal zupackte, wenn es galt, ein Problem zu lösen. Die Wolkenbänke waren grau und düster wie am Vortag. Dieser neue Tag war bestenfalls zwei oder drei Stunden alt. Das Zwielicht des Morgengrauens war noch nicht vollends gewichen. Sullivan erinnerte sich, daß das Saufgelage an Bord bis spät in die Nacht gedauert hatte. Allzu weit konnten sie folglich noch nicht abgetrieben sein.
Wenn er schnell genug handelte, hatte er das Schiff wieder unter Kontrolle, bevor sie auf eins der gefährlichen Riffs vor Cornwall brummten. Unter Kontrolle! Das Wort setzte sich in seinen Gedankengängen fest. Sullivan geriet in Bewegung, stürmte zum Mannschaftslogis im Vorderkastell und prallte schon nach den ersten zwei Schritten kopfschüttelnd zurück. Zwischen den Kojen hing eine Wolke von Alkoholdunst, die geeignet war, bei einem Nüchternen Schwindelgefühle hervorzurufen. Das Schnarchkonzert der Kerle war ohrenbetäubend und ließ die Planken vibrieren. Im ersten Moment war Sullivan versucht, sie nach Strich und Faden zusammenzubrüllen und ihnen Feuer unter den Hintern zu machen, daß ihnen hören Hören und Sehen verging. Aber er unterdrückte dieses Verlangen. Es gab Wichtigeres. Dies war seine Chance, die ›War Song‹ wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Ohne noch zu überlegen, verließ Sullivan das Logis und schlich so geräuschlos wie möglich über das Deck der Kuhl. Im Vorbeigehen schnappte er sich einen Belegnagel, der neben einer aufgeschossenen Trosse lag. Es verwunderte ihn nicht mehr, daß kein Rudergänger am Kolderstock stand. Diese ganze verdammt Bande hatte einfach vergessen, wozu sie da war. Den ehrenwerten Sir John schien es ebenfalls einen Dreck zu interessieren, was aus der Karavelle wurde. Sullivans Wut erreichte ihren Siedepunkt. Aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Unbehelligt erreichte er das Achterkastell und den Niedergang zur Kapitänskammer. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, damit die Stufen unter seinem Körpergewicht so wenig wie möglich knarrten. Und er schaffte es. Die Tür war unverriegelt. Langsam, Zoll
für Zoll, drückte er sie nach innen. Eine üble Dunstwolke schlug ihm entgegen. Sullivan rümpfte die Nase und betrat die düstere Kammer. Der alte Killigrew schnarchte seltsam abgehackt. Zwischendurch gab er undefinierbare Töne von sich, die den Bootsmann trotz aller Wut zu einem Grinsen veranlaßten. Den Belegnagel in der Rechten schlich er auf die Koje zu. Der Alkoholdunst verstärkte sich, je mehr er sich dem schlafenden Halunken näherte. Die übrigen Dünste, die der ehrenwerte Sir John ausstrahlte, waren selbst für einen abgebrühten Seefahrer von Sullivans Schlag so unangenehm, daß ihm fast übel wurde. Aber dann huschte ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht, als er vor dem friedlich schlummernden alten Killigrew stand. Sir John gerötetes Gesicht erinnerte frappierend an die Schwarte eines geschlachteten Schweins, dem man soeben die Borsten abrasiert hat. Sullivan hab den Belegnagel und schlug zweimal hart und trocken zu. Sir John gab ein Grunzen von sich, zuckte einmal kurz und streckte sich dann. Kein Schnarchen mehr. Er war in einen endgültigen Tiefschlaf übergewechselt, aus dem er vorerst nicht wieder erwachen würde. Einen Atemzug lang betrachtete Sullivan die beiden schwellenden Beulen, die auf Sir Johns Schädel wuchsen. Dann ließ der Bootsmann den Belegnagel fallen, lief an Deck, kehrte mit einer Taurolle zurück und verschnürte den unrechtmäßigen Kapitän der ›War Song‹ nach allen Regeln der Kunst. Zum Abschluß knotete er die Enden des Taues an den Kojenpfosten fest. Doch er gab sich damit nicht zufrieden. Er wußte inzwischen zur Genüge, wie gerissen der alte Halunke war. Sorgfältig blickte Sullivan sich um und sammelte alles ein, was er an scharfen Gegenständen finden konnte - Messer, Eßbestecke, einen Ledergurt mit Metallschließe, nautische
Instrumente. Abermals ging er an Deck und warf das Sammelsurium über Bord. Dann kehrte er noch einmal in die Kapitänskammer zurück und nahm seine Radschloßpistole von dem Schapp neben der Koje. Es erstaunte ihn nicht im geringsten, daß der alte Killigrew sich das wertvolle Stück unter den Nagel gerissen hatte. Mit einem Blick stellte Sullivan fest, daß die Pistole sogar ordnungsgemäß geladen war. Abschließend verriegelte er die Kapitänskammer von außen und stürmte mit langen Sätzen zum Vorderkastell. Im Logis schnarchten sie noch immer, daß sich die Balken bogen. Mit grimmiger Miene spannte Sullivan den Hahn der Pistole. Er hob die schwere Waffe und riß den Abzug durch. Der Flint klickte auf das schnurrende Rad, sprühte Funken und zündete die Pulverladung. Als urwelthaftes Donnern hallte der Schuß durch das stickige Logis. Die großkalibrige Kugel klatschte in einen der Oberdecksbalken, und der scharfe Geruch der sich ausbreitenden Pulverwolke vermischte sich mit dem Alkoholdunst. Mit dem Ausklingen des Donners brach das Schnarchkonzert schlagartig ab. Erschrockene Rufe wurden laut. Graugesichtige Gestalten fuhren aus ihren Decken hoch, mit krampfhaft blinzelnden Augen versuchten die Kerle in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sullivan gab ihnen den nötigen Dampf dazu. »Hoffentlich bewegt ihr euch bald!« brüllte er dröhnend. »Raus aus euren verdammten Miefkisten, oder muß ich erst nachhelfen? Wenn ihr Dreckskerle nicht in zwei Minuten auf Station seid, lasse ich euch reihenweise kielholen! Los, los, Tempo, Tempo! Oder braucht ihr erst einen Tritt in den Hintern?« Die. ersten, die blitzartig nüchtern waren und aus ihren Kojen
sprangen, waren die Männer der Stammcrew. Aber auch die anderen gerieten in Bewegung und schienen trotz ihres umwölkten Verstandes zu begreifen, daß das Kommando an Bord der ›War Song‹ erneut gewechselt hatte. Ein dürrer Rotschopf in einer der vordersten Kojen schrie dem Bootsmann seinen Protest entgegen. »Du hast uns überhaupt nichts zu ...« Sullivan ließ ihn nicht zu Ende reden. Mit einem Satz war er bei ihm, packte ihn am Kragen und schleuderte ihn auf die Planken zwischen den Kojen. Der Dürre schrie auf. Sullivan verpaßte ihm einen Tritt in den Hintern. Der Mann schlidderte durch den Mittelgang und blieb irgendwo zwischen der durcheinanderquirlenden Crew liegen, heulend vor Wut und vor Schmerz. Hilfreiche Hände packten zu und stellten ihn auf die Beine. »Sonst noch einer, dem was nicht paßt?« schrie Sullivan fauchend. »Falls einer noch immer nicht kapiert hat, was hier los ist, soll er sich bei mir melden. Aber schnell! Damit ich es ihm in den Schädel hämmern kann!« Die harten Fäuste des Bootsmanns und die mächtige Pistole, die er am Lauf gepackt hatte, sprachen eine Sprache, die für jeden deutlich genug war. Die Männer duckten sich. Auch jene, die zur Killigrew-Meute gehörten, beeilten sich, in ihre Sachen zu steigen. Aber Sullivan war noch nicht fertig. »Damit ihr endlich klar seht!« brüllte er, wobei seine Adern an Hals und Schläfen anschwollen. »Und damit meine ich vor allem euch von der ›War Song‹. Ihr müßtet es eigentlich wissen, aber ich werde es euch zum letztenmal eintrichtern! Hoffentlich kapiert ihr dann endgültig, was ihr euch geleistet habt! Genaugenommen war das glatte Meuterei, verdammt noch mal! Was, zum Teufel, habt ihr euch dabei gedacht, diesem Hurensohn Killigrew nach der Pfeife zu tanzen? Der Mistkerl hat nichts anderes vor, als die königliche Lissy übers
Ohr zu hauen! Und dies ist noch immer ein Schiff Ihrer Majestät, verstanden!« Thomas Canter, der riesenhafte Schiffszimmermann, schob die anderen beiseite und trat vor. »Sullivan, hör mal, wir konnten doch nichts anderes tun als ...« »Es interessiert mich einen Scheißdreck, was ihr konntet oder nicht konntet! Für mich steht fest, daß ihr euch wie erbärmliche Feiglinge aufgeführt habt!« Thomas Canter senkte den Kopf und ließ die breiten Schultern hängen. »Mahoney!« rief Sullivan schnaubend. »Wenn ich dich in einer Minute nicht am Kolderstock sehe, reiße ich dir den Arsch auf! Kurs Südost, klar!« Mahoney, der Rudergänger, ein schlanker schwarzhaariger Mann mit einer leuchtend roten Messernarbe auf der rechten Wange, hastete los, Er zwängte sich an Sullivan vorbei, und im nächsten Moment waren seine eiligen Schritte auf den Decksplanken zu hören. »Alle anderen sofort an Deck!« fuhr der Bootsmann mit Donnerstimme fort. »Canter!« »Ja?« Der Schiffszimmermann hob den Kopf. »Du übernimmst die Wache vor der Kapitänskajüte. Der alte Hurensohn schläft wie ein Murmeltier, und wenn er aufwacht, wird er sich nicht rühren können. Sollte er trotzdem irgendwelchen Stunk machen, meldest du es sofort.« »Aye, aye, Sir.« Thomas Canter rannte los. Die Männer der Killigrew-Meute setzten niedergeschlagene Mienen auf. Die Tatsache, daß ihr Kapitän außer Gefecht gesetzt war, wirkte endgültig demoralisierend auf sie. Ihre verkaterte Stimmung tat ein übriges. Der wütenden Entschlossenheit dieses Rauhbeins von einem Bootsmann hatten sie nichts entgegenzusetzen. »Die ›War Song‹ wird ab sofort wieder das tun, wofür sie in Dienst gestellt wurde«, erklärte Sullivan mit halbwegs gemäßigtem Tonfall. »Unsere verdammte Pflicht und
Schuldigkeit ist es, das Eigentum Englands und der königlichen Lissy zu schützen und dafür zu sorgen, daß es nicht irgendwelchen hergelaufenen Strolchen in die Hände fällt. Deshalb werden wir uns der ›Isabella‹ als Begleitschutz zur Verfügung stellen, sobald wir sie gefunden haben.« Die Männer der Stammcrew nickten beipflichtend, und ein entschlossenes Leuchten zeichnete sich in ihren Gesichtern ab. Killigrews Horde verfiel dagegen in stumpfe Niedergeschlagenheit. Sullivan scheuchte sie an Deck und brachte sie auf Trab. In Rekordzeit waren alle Segel gesetzt. Die ›War Song‹ segelte mit halbem Wind süd-ostwärts. Der Wind hatte inzwischen auf Südsüdwest gedreht, und Mahoney, der Rudergänger bewies sein Können, indem er jede einfallende Bö geschickt ausnutzte. Sullivan hatte vor, zunächst zur Küste zurückzusegeln und dann mit der Suche nach der Galeone des Seewolfs zu beginnen. Sie hatten inzwischen festgestellt, daß die Ankertrosse gekappt worden war. Doch eine Erklärung für diesen rätselhaften Umstand fand Sullivan beim besten Willen nicht, so sehr er seinen Grips auch anstrengte.
5. Das Knirschen ging durch Mark und Bein. Jedem Seefahrer, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, hätte es das Blut in den Adern kochen lassen. Die Mannschaft der Schaluppe reagierte indessen mit schlaftrunkener, alkoholseliger Trägheit. Die Männer lagen an Deck, hatten sich dort zusammengerollt, wo sie in der Nacht zuvor randvoll in sich zusammengesunken waren. Keiner von ihnen hatte es noch geschafft, in die Kojen zu kriechen. Um so spürbarer fiel jetzt die morgendliche Kälte über sie her. Gähnend und frierend richteten sich die Männer halb auf,
kniffen die Augen zusammen, rissen sie wieder auf, starrten in die Helligkeit des Tages und begriffen nicht, was dieses höllische Knirschen zu bedeuten hatte. Simon Llewellyn Killigrew, der am Steuerbordschanzkleid kauerte, war als erster auf den Beinen. Die frische Seeluft ließ sein gerötetes Ferkelgesicht wie Feuer brennen. Er schwankte und mußte sich festhalten. Krächzend spie er aus. Jäh ging ein Ruck durch den Schiffsrumpf. Simon Llewellyn verlor das Gleichgewicht und schlug vornüber auf die feuchten Decksplanken. Schmerz stach durch sein Nasenbein, und der Geruch von Teer und Holz umnebelte seine ohnehin noch vom Alkohol beeinträchtigten Sinne. Er hörte die erschrockenen Stimmen der Männer und nahm wie durch Nebenschleier das Durcheinander wahr, das plötzlich entstand. Keuchend wälzte er sich auf den Rücken und versuchte, sich aufzurappeln. Er schaffte es nicht, die Welt um ihn herum drehte sich noch immer. »Elende Bastarde!« schrie er schrill. »Hoffentlich trabt ihr bald an!« Die beiden Männer, die sich ihm widerwillig näherten, unterdrückten ein Grinsen, als sie ihn auf die Beine stellten, Sie wollten ihn stützen und ihm helfen, das Gleichgewicht zu behalten. »Weg, weg, verdammt noch mal!« sagte Simon Llewellyn zischend. »Haltet ihr mich für einen Schwächling, der seine Knochen nicht allein senkrecht halten kann?« Achselzuckend kehrten die Männer zu den anderen zehn Crewmitgliedern zurück, die noch ratlos herumstanden und versuchten, sich über die Lage klar zu werden. Simon Llewellyn Killigrew lehnte sich mit dem verlängerten Rückgrat gegen das Schanzkleid. Er schnaufte, schluckte, schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Mit den Fingerkuppen der Rechten betastete er sein Nasenbein, das
anzuschwellen begann, aber offensichtlich nicht gebrochen war. Dann fiel sein Blick auf den Mast. Die Segel waren aufgegeit, der Wind ließ die Takelage knarren, und die Wellen schmatzten gegen den Schiffsrumpf. Aber die Schaluppe lag so ruhig wie eine eiserne Kanonenkugel im knöcheltiefen Uferwasser. Simon Llewellyn stutzte, wirbelte herum und mußte sich abermals festhalten, um das aufkommende Schwindelgefühl zu bezwingen. Blinzelnd starrte er in die kabbelige See. Flecken von unterschiedlichen Schattierungen waren knapp unter der Wasseroberfläche zu erkennen. Der Blick des jungen Killigrew wanderte weiter, und im nächsten Moment erschrak er. Zwanzig, dreißig Yards entfernt an Steuerbord ragten schroffe, scharfkantige Gesteinsformationen aus den dunklen Fluten. Simon Llewellyn begriff. Und die Wut kochte so siedend heiß in ihm hoch, daß er sich am liebsten selbst in den Hintern gebissen hätte. Hölle und Teufel, sie waren auf eins dieser verdammten Riffs gelaufen! Das bedeutete, daß sie mehrere Seemeilen von der Nordküste Cornwalls entfernt sein mußten. Wie, zum Teufel, war das passiert? Simon Llewellyn ballte die Hände in ohnmächtigem Zorn. Weder die Kriegskaravelle seines Vaters war zu sehen, noch die Küste. »Ich will wissen, was hier los ist!« schrie Simon Llewellyn mit sich überschlagender Stimme. »Was ist mit dem Anker? Wieso sitzen wir auf diesem verdammten Riff? Was fällt euch ein, einfach zu pennen und euch einen Scheißdreck um den Kahn zu kümmern? Bewegt euch gefälligst, ihr Drecksäcke, oder ich hänge euch eigenhändig am Mast auf!« Wutentbrannt wippte Simon Llewellyn auf den Zehenspitzen, ohne jedoch seinen Platz zu verlassen. Die Männer waren nüchtern geworden. Zwei von ihnen liefen zum Vorschiff. Drei andere hasteten unter Deck, und die
übrigen begannen, Trossen und Taljen zusammenzutragen. Verächtliche Blicke trafen den aufgeblasenen Killigrew-Sproß, der mit ungeduldig verkniffenem Ferkelgesicht das Geschehen verfolgte. Einer der Männer kehrte vom Vorschiff zurück. »Die Ankertrosse ist gekappt worden, Sir.« Simon Llewellyn schluckte. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot. Einen Moment lang sah es aus, als wollte er sich auf den Mann stürzen. »Willst du mich zum Narren halten?« flüsterte er gefährlich leise, und dann steigerte sich seine Stimme zu einem schrillen Diskant. »Das gibt es doch überhaupt nicht, Mann! Wer von euch Bastarden hatte Ankerwache? Los, heraus damit!« »Niemand, Sir. Sie hatten keine Ankerwache eingeteilt.« »Was nimmst du dir heraus!« schrie Simon Llewellyn. »Willst du mich verscheißern? Ich werde dir zeigen ...« Er wurde unterbrochen. Einer der Männer, die unter Deck nach dem Rechten gesehen hatten, lief auf ihn zu. »Sir, der Kahn fängt an zu lecken! Spanten und Planken sind nicht gebrochen, aber es suppt ziemlich wild herein. Ich denke, wir sollten ... »Hier denkt nur einer!« fauchte Simon Llewellyn. »Ich brauche Kerle, die parieren. Nichts anderes. Ist das klar?« Der Mann, bullig, untersetzt und aschblond, preßte die Lippen aufeinander und schwieg. »Ist das klar?« wiederholte Simon Llewellyn drohend. »Aye, Sir«, antwortete der Bullige mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Na also. Warum nicht gleich so, Stopforth. Ich werde dieses Schiff jetzt wieder flottmachen, und zwar im Handumdrehen.« »Aye, aye, Sir«, sagte der bullige Stopforth gepreßt. »Wie lauten Ihre Befehle?« Simon Llewellyn Killigrew verschränkte die Arme auf dem
Rücken und beugte sich wippend vor. »Bin ich ein Hellseher?« fragte er spöttisch und herablassend. »Wo hast du dein Handwerk gelernt, Stopforth? Hast du noch nicht kapiert, daß ein Kapitän genaue Informationen braucht, bevor er eine Entscheidung treffen kann?« »Doch, Sir, ich ...« »Siehst du, Stopforth«, sagte Simon Llewellyn ölig, »deshalb wäre ich dir jetzt sehr zu Dank verpflichtet,wenn du mir mitteilen würdest, an welcher Stelle unser hübsches Schiff Wasser zieht.« Der Bullige schluckte die Demütigung, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur in seinen eisgrauen Augen entstand ein böses Glimmen. »Dehnungsfugen in der Bodenwegerung, Sir. An Steuerbord, etwa mittschiffs. Ich nehme an, daß wir auf einem ziemlichen Brocken festsitzen. So leicht wird es nicht sein ...« »Was du annimmst, interessiert nicht, Stopforth. Du hast Feststellungen zu treffen und mir zu melden. Mehr nicht. Was dann passiert, ist meine Sache. Klar?« »Aye, aye, Sir«, sagte Stopforth knurrend. In einem Anflug von bissiger Herausforderung fügte er hinzu: »Und was passiert, Sir?« Simon Llewellyn Killigrew reckte das fleischige Kinn und zog die Augenbrauen hoch. Er ahnte nicht, daß er sein Gegenüber damit bis aufs Blut reizte, ihm die Blasiertheit aus dem Gesicht zu prügeln. »Beiboot abfieren. Anker fünfzig Yards nach achtern ausbringen. Und dann hol euch der Teufel, wenn ich den Kahn nicht in einer halben Stunde von diesem lächerlichen Felsklumpen gezogen habt!« Stopforth und seinem Nebenmann klappten die Kinnladen herunter. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, Sir«, sagte der Bullige entgeistert, »wenn wir so verfahren, wie Sie sagen, reißen wir
der Schaluppe glatt den Bauch auf. Außerdem müssen wir erstmal die Pumpen einsetzen, bevor wir überhaupt ...« Simon Llewellyn Killigrew stieg auf die Zehenspitzen und ballte wutentbrannt die Hände. »Ich habe einen klaren Befehl gegeben, Stopforth! Was erdreistest du dich, daran Kritik zu üben? An die Arbeit, Mann! Oder muß ich dir und den anderen erst Beine machen?« Stopforth schüttelte ungläubig den Kopf und wechselte einen fassungslosen Blick mit seinem Nebenmann. Dann gab sich der Bullige einen entschlossenen Ruck. »Sie können mich mal, Killigrew. Sie können mich mal sonstwo. Wir sind doch nicht verrückt und halten uns an diesen Blödsinn, den Sie da verzapfen.« Er legte seinem Nebenmann die Hand auf die Schulter, und beide wandten sie sich ab, ohne den jungen Killigrew noch zu beachten. Simon Llewllyn schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann riß er den Mund auf, und seine Stimme klang so schrill und geifernd wie das Zetern eines Waschweibs im Hafen von Plymouth. »Sofort hierher, Stopforth! Stehenbleiben, Mann! Das ist Meuterei! Glatte Meuterei! Du wirst dich dafür verantworten müssen! Jetzt und auf der Stelle! Wer sich meinen Befehlen widersetzt, ist ein Meuterer! Und jeder von euch dreckigen Bastarden weiß, welche Strafe auf Meuterei steht! Zum Teufel, Stopforth, hoffentlich bist du bald hier und stellst dich deiner Aburteilung wie ein Mann!« Stopforth drehte sich nur kurz um. »Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun, Mann. Später können Sie Ihr idiotisches Urteil fällen. Aber nicht jetzt.« Simon Llewellyn verschlug es die Sprache. Auf seiner roten Gesichtshaut entstanden weiße Flecken, er brachte kein Wort hervor, obwohl er sich bemühte, seine Wut hinauszuschreien. Mit kreisrunden Augen sah er, wie Stopforth die Leute einteilte.
»Vier Mann an die Pumpen! Porter und Mevyn, ihr nehmt das Beiboot und bringt einen Anker nach Backbord aus. Irgendwo in den Riffs findet ihr eine passende Stelle. Alle anderen an den Handläufer! Aber gezogen wird erst auf mein Kommando!« Die Männer spritzten los und beeilten sich auf geradezu freudige Weise, die Anordnungen auszuführen. Dabei bedachten sie den wutschnaubenden Killigrew-Sproß mit unverhohlenem abfälligem Grinsen. Simon Llewellyn hatte unterdessen seine Stimmbänder wieder in der Gewalt. »Stopforth!« keifte er, stemmte die Fäuste in die Hüften und wippte in zunehmend heftigerem Rhythmus auf den Zehenspitzen. »Stopforth, du meldest dich auf der Stelle bei mir! Du wirst dich für deine Unverschämtheit verantworten! Verdammter Hurensohn, willst du wohl parieren? Mit welchem Recht nimmst du dreckige Kreatur es dir heraus, dich meinen Befehlen zu widersetzen? Du und alle anderen, ihr werdet dafür zur Rechenschaft gezogen! Das schwöre ich euch, so wahr ich Kapitän dieses Schiffes bin!« Stopforth, der beim Abfieren des Beibootes mit zugepackt hatte, drehte sich abrupt um und stapfte auf den ferkelgesichtigen Killigrew zu. Zornesadern schwollen an den Schläfen des bulligen Mannes. Simon Llewellyn erbleichte, als Stopforth ihn mit beiden Fäusten am Kragen packte. Unbändiger Haß funkelte in den Augen des gedemütigten Mannes, seine wutverzerrte Miene ließ keinen Zweifel darüber, daß er nicht mehr gewillt war, sich wie ein verdammter Narr behandeln zu lassen. »Jetzt reicht es, Mann«, sagte er leise, beinahe flüsternd. »Wie war das? Hurensohn? Dreckige Kreatur? Oder habe ich mich verhört?« Simon Llewellyn keuchte. Der harte Griff des Mannes raubte
ihm den Atem. »Stopforth«, entgegnete er ächzend, »reiß dich zusammen. Es wird dir später verdammt leid tun, wenn du jetzt ...« Blitzartig löste der Bullige die Rechte vom Kragen des jungen Killigrew, holte aus und schlug mit der flachen Hand zu. Es hatte den Anschein, als würde Simon Llewellyns Kopf durch die Wucht des Hiebes vom Rumpf getrennt. Er schrie gellend auf, schüttelte sich und versuchte vergeblich, sich aus den abermals erbarmungslos zupackenden Fäusten Stopforths zu befreien. Die linke Wange Killigrews schwoll in Sekundenschnelle mit glühender Röte an. »Elendes Miststück!« brüllte Stopforth in überschäumender Wut. »Dreckiger Leuteschinder! Noch dazu mit Stroh im Kopf! Wenn einer hier an Bord krepiert, dann bist du es! Bilde dir nicht ein, daß du auf uns herumtrampeln kannst, wie es dir gerade paßt!« Der Bullige stieß den Ferkelgesichtigen gegen das Schanzkleid. Erneut schrie Simon Llewellyn auf, diesmal in nackter Todesangst, Er zweifelte nicht mehr daran, daß Stopforth allen Ernstes vorhatte, ihn über Bord zu stoßen. Unvermittelt wurden Rufe laut. Die Männer, die ihre Arbeit für Minuten unterbrochen hatten, gaben dem Bulligen aufgeregte Handzeichen. »Mastspitzen!« rief einer. »Steuerbordvoraus!« Stopforth wandte den Kopf nach links. Mit schmalen Augen spähte er in die angegebene Richtung. In der Tat. Lateinersegel schoben sich über die durch den morgendlichen Dunst verschwommene Kimm. Kurz darauf war eindeutig zu erkennten, daß es sich um eine Dreimastkaravelle handelte. Stopforth lockerte seinen Griff, als er sah, daß die Karavelle ihren Kurs änderte und mit vollem Zeug auf die havarierte Schaluppe zurauschte.
Simon Llewellyn Killigrew sank in sich zusammen wie ein aufgeschlitzter Mehlsack. Mit dem Rücken an das Schanzkleid gelehnt, blieb er schnaufend liegen. Die Todesängste und die nervliche Anspannung der letzten Minuten waren mehr gewesen, als er verkraften konnte.
6. Sullivan setzte das Spektiv ans rechte Auge und justierte sorgfältig die Scharfeinstellung. Das Bild wurde klarer, wie eine exakte Federzeichnung, nur zeitweise von vorüberziehenden Dunstschleiern getrübt. Der Bootsmann brauchte sein Sehvermögen nicht sonderlich anzustrengen. Auf Anhieb stellte er fest, daß es sich um die Schaluppe Simon Llewellyn Killigrews handelte, die dort auf ein Riff gelaufen war. Und deutlich waren die schroffen Gesteinsformationen zu erkennen, die rings um die Schaluppe nur wenige Fuß hoch aufragten und von gischtenden Wogen umspült wurden. Die Entfernung mochte etwa fünfhundert bis sechshundert Yards betragen. Noch befand sich die ›War Song‹ nicht im Gefahrenbereich des Riffs, und ausnahmsweise traf Sullivan diesmal keine Blitzentscheidung. Er überlegte angestrengt, während er durch den Kieker der Wuhling an Bord der Schaluppe beobachtete. Simon Llewellyn Killigrew war nicht zu sehen. Konnte es angehen, daß die Mannschaft die Nase voll gehabt und sich den Burschen kurzerhand vom Hals geschafft hatte? Immerhin hatte Sullivan mitgekriegt, wie unbeliebt der Sproß des alten Schlitzohrs bei seiner Crew war. Möglich aber auch, daß Simon Llewellyn sich aufs Ohr gehauen hatte, seinen restlichen Rausch ausschlief und den Männern die Arbeit überließ. Zuzutrauen war es ihm.
Sullivan zögerte. Wenn er sich um die Schaluppe kümmerte und der Crew Hilfe leistete, konnte es Verdruß mit dem jungen Killigrew geben. Andererseits aber - sofern sie das ferkelgesichtige Söhnchen tatsächlich abserviert hatten - konnten die Männer mit ihrer Schaluppe eine wertvolle Unterstützung für die ›War Song‹ bedeuten. Ein zusätzlicher Begleitschutz gewissermaßen, wenn sie erst einmal die ›Isabella‹ aufgespürt hatten. Dieser letzte Gedanke war ausschlaggebend für den Entschluß des Bootsmanns. »Mahoney!« rief er. »Geh höher an den Wind!« »Aye, aye, Sir, höher an den Wind gehen«, wiederholte Mahoney und legte Ruder. Die ›War Song‹ luvte an, verlor ihre Schräglage und lief jetzt mit Direktkurs auf das Riff zu. Sullivan ging kein unnötiges Risiko ein. Immerhin hatten sie Glück gehabt, daß es ihnen mit der Karavelle nicht ähnlich ergangen war wie der Schaluppe. »Rufus!« brüllte er. »Sir?« Der Drahtige wirbelte auf dem Deck der Kuhl herum und blickte zum Achterdeck hoch. »Schnapp dir die Lotleine und häng dich über den Vorsteven! Ich will ständig deine Meldungen hören.« »Aye, aye, Sir.« Rufus lief los. »Was steht ihr herum!« herrschte Sullivan die anderen an. »An die Geitaue! Tempo, Tempo!« Die Männer gerieten in Bewegung. Auch die KilligrewMeute packte mit an. Sie hatten es aufgegeben, zu murren, und Sullivan stellte zufrieden fest, daß er in dieser Hinsicht offenbar keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten hatte. Der Bug der Karavelle hob und senkte sich im mäßigen Wellengang. »Dreizehn Faden!« schrie Rufus vom Vordeck herüber. »Dreizehn Faden - zehn Faden ...«
Die Entfernung zum Riff hatte sich auf vierhundert Yards verringert. »Sieben Faden!« meldete Rufus mit durchdringender Stimme. »Geit auf die Segel!« befahl Sullivan dröhnend. Die Männer packten zu, und augenblicklich verlor die Karavelle an Fahrt. »Fünf Faden!« ertönte Rufus nächste Meldung. Die Entfernung zu der havarierten Schaluppe betrug noch knapp dreihundert Yards. Sullivan ließ den Anker werfen und das Beiboot zum Abfieren klarieren. Kurz darauf lag die Karavelle auf ruhigem Kiel. Sullivan stieg zum Deck der Kuhl hinunter und winkte Hornblow heran. Der strohblonde Mann mit dem muskelbepackten Oberkörper folgte der Aufforderung mit federnden Schritten, die unbändige Energie ausstrahlten. Sullivan deutete mit einer knappen Handbewegung auf die Schaluppe. »Ich brauche Canter dort drüben. Du übernimmst die Wache vor der Kapitänskammer und bist mir dafür verantwortlich, daß dieser Hurenbock Killigrew keine Scherereien macht.« Ein breites Grinsen huschte über Hornblows Gesicht. »Aye, aye, Sir«, antwortete er nur. Doch seiner Miene und dem Klang seiner Worte war zu entnehmen, daß er sich durch nichts in der Welt davon abbringen lassen würde, den ehrenwerten Sir John Killigrew auf Nummer Sicher zu bewahren. »Canter!« rief Sullivan, indem er den Kopf zur Seite wandte. »Komm her, es gibt Arbeit für uns!« Der riesenhafte Schiffszimmermann eilte herbei, nachdem Hornblow seinen Platz vor der verriegelten Kapitänskammer übernommen hatte. Canter warf einen Blick zu der Schaluppe und nickte verstehend. Wortlos schleppte er sein Werkzeug heran und verstaute es im Beiboot. Sullivan scheuchte sechs Mann an die Taue.
»Klar zum Abfieren!« Er wandte sich um. »Rufus!« Der Drahtige ließ die eben aufgeschossene Lotleine fallen und wandte sich dem Bootsmann zu. »Sir?« »Du übernimmst hier an Bord das Kommando, solange ich drüben auf der Schaluppe bin. Falls wir eure Hilfe brauchen, um den Kahn freizukriegen, verständigen wir uns durch Handzeichen. Klar?« »Aye, aye, Sir.« Rufus strahlte. Sullivan drückte ihm das Spektiv in die Hand. Ohne weitere Worte zu verschwenden, stieg er gemeinsam mit Canter in das Beiboot. Nachdem sie sich hatten abfieren lassen, pullten die beiden Männer mit kraftvollen Riemenschlägen auf die Schaluppe zu. Schon von weitem sahen sie, daß die Crew des Einmasters einen Anker nach Backbord ausgebracht hatte. Doch die Männer an Deck verharrten untätig. Die Hilfe, die sie von der Karavelle zu erwarten hatten, war ihnen offenbar mehr als willkommen. Mit Fingerspitzengefühl manövrierten Sullivan und Canter das Beiboot durch die schroffen Gesteinsformationen des Riffs. Beide gehörten sie zu jenen altgedienten Seefahrern, die mit dem Bug einer solchen Nußschale ihren Namen ins Wasser schreiben konnten, wenn man es von ihnen verlangte. Ab Backbordschanzkleid der Schaluppe gingen sie längsseits und legten die Riemen auf die Duchten. Canter packte ein Tau, das die Männer vom Schiff herunterwarfen, und machte das Boot fest. Da die Schaluppe ohnehin leichte Schlagseite nach Backbord hatte, bereitete es den beiden Männern von der ›War Song‹ keine Mühe, über das Schanzkleid zu klettern. Hilfreiche Hände streckten sich ihnen entgegen. Ein bulliger Mann trat aus dem Halbkreis der Crew vor und schüttelte Sullivan die Hand. »Mein Name ist Stopforth. Ich habe hier an Bord das Kommando übernommen.«
Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den jungen Killigrew, der noch immer zusammengesunken am Schanzkleid lag. »Der Hundesohn hat uns lange genug auf der Nase herumgetanzt. Und wie ich die Sache sehe, haben Sie es seinem Alten ungefähr so ähnlich besorgt.« »Das ist richtig«, sagte Sullivan und nickte, »die ›War Song‹ wird wieder ihren Auftrag im Dienst Ihrer Majestät erfüllen, wie es sich für ein Kriegsschiff der britischen Krone gehört. Wir werden versuchen, die ›Isabella‹ zu finden und ihr dann unseren Begleitschutz anbieten. Sind Sie bereit, uns dabei zu unterstützen, Stopforth?« »Selbstverständlich, Sir.« Der Bullige drehte sich zu seiner Crew um. »Oder hat einer was dagegen?« Es gab keine Widerworte. Die Männer schüttelten lediglich schweigend den Kopf. »In Ordnung«, sagte Sullivan, »Mr. Canter, mein Schiffszimmermann, wird die Schäden beheben, die an der Schaluppe entstanden sind. Wie sieht es damit aus, Stopforth?« »Wir haben keine Lecks, Sir. Lediglich Dehnungsfugen in der Bodenwegerung, und zwar an Steuerbord. Vier Mann sind bereits an den Pumpen. Mit dem Anker wollen wir versuchen ...« Stopforth wurde unterbrochen. »Schluß mit dem Gewäsch!« Simon Llewellyn Killigrews schrille Stimme übertönte die Worte des bulligen Mannes. »Ich habe jetzt endgültig genug davon! Ihr verdammten Bastarde werdet mich kennenlernen!« Die Köpfe der Männer ruckten herum. Verblüfft sahen sie, wie sich der ferkelgesichtige Killigrew-Sproß mit überraschender Schnelligkeit aufrappelte. Mit kurzen schnellen Schritten stelzte er auf die Männer zu und stieß Stopforth beiseite, der zu verdattert war, um sofort zu ragieren. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, baute sich Simon Llewellyn in drohender Pose vor dem Bootsmann der ›War
Song‹ auf. Sullivan wußte im ersten Moment nicht, ob er grinsen oder die Geduld verlieren sollte. »Welche Funktion haben Sie an Bord der ›War Song‹?« herrschte Simon Llewellyn ihn an. »Bootsmann«, antwortete Sullivan und entschloß sich nun doch zu einem Grinsen. Die übrigen Männer sahen es, und ihre Haltung entspannte sich. Sie beobachteten das beginnende Schauspiel mit belustigtem Gesichtsausdruck. Simon Llewellyns Gesichtshaut hatte wieder die gewohnte Röte angenommen. »Also unterstehen Sie dem Kommando meines Vaters, Sir John Killigrew«, sagte er schneidend. »Sie werden deshalb auf diesem Schiff einzig und allein das tun, was ich Ihnen befehle. Niemand hat das Recht, sich über meine Anordnungen hinwegzusetzen, und dieser Bastard, der sich erdreistet hat, meine Befehlsgewalt zu mißachten, wird wegen Meuterei verurteilt werden. Soviel zur Klärung der Situation. Wie ist Ihr Name?« »Sullivan«, erwiderte der Bootsmann der ›War Song‹, immer noch grinsend, immer noch geduldig. Er wechselte einen kurzen, vielsagenden Blick mit Thomas Canter. Der bärtige Riese schüttelte fassungslos den Kopf. Simon Llewellyn spürte nichts von dem unterschwelligen Spott. Er weidete sich vorzeitig in seiner vermeintlich wiedergewonnenen Autorität. »Gut, gut, Sullivan«, sagte er mit einem gönnerhaften Nicken. Er warf einen Blick in das Beiboot, wo Canters Werkzeug bereitlag. »Wie ich sehe, hat mein Vater den Schiffszimmermann gleich mitgeschickt. Gehen Sie also sofort an die Arbeit. Beheben Sie die Schäden an der Bodenwegerung, und dann werden wir die Schaluppe freiziehen.« Sullivan grinste noch breiter und klopfte ihm mit seiner
mächtigen Hand auf die Schulter. »Denk mal ein bißchen nach, Söhnchen. Meinst du nicht auf, daß es anders herum besser wäre?« Simon Llewellyn kriegte kreisrunde Augen. Seine Nasenspitze färbte sich weiß. Sekundenlang schnappte er nach Luft. »Was fällt Ihnen ein?« schrie er dann. »Was, zum Teufel, nehmen Sie sich heraus, Mann? Wie kommen Sie dazu, einen solchen Ton anzuschlagen? Ich werde Sie ...« Seine Worte gingen in einem Gurgeln unter, denn Sullivan packte ihn blitzschnell am Kragen und zog ihn zu sich heran. Und jetzt grinste der stämmige Bootsmann der ›War Song‹ nicht mehr. Simon Llewellyn zappelte und versuchte vergeblich, sich aus dem eisenharten Griff zu befreien. »Was wirst du?« sagte Sullivan eisig. »Mich auch wegen Meuterei verurteilen? Schlag dir das aus dem Kopf, Söhnchen. Du scheinst noch nicht kapiert zu haben, was los ist. Dein ehrenwerter Daddy hat sich die Pfoten verbrannt, und jetzt hockt er drüben auf Nummer Sicher und denkt hoffentlich darüber nach, ob es sich lohnt, die königliche Lissy übers Ohr zu hauen.« Simon Llewellyn rang keuchend nach Luft. »Dreckige Meuterer!« stieß er mühevoll hervor. Dem Bootsmann riß der Geduldsfaden. »Jetzt ist Schluß!« brüllte er. Der junge Killigrew zuckte vor Schreck zusammen. Aber Sullivan ließ ihn nicht aus seinem Griff frei. »Ihr elenden Leuteschinder habt lange genug auf uns herumgetrampelt. Mit uns springt ihr nicht mehr so um, verstanden? Und du schon gar nicht, du Witzfigur!« Simon Llewellyn wurde weiß vor Wut. Aber er schaffte es nicht mehr, diese Wut hinauszuschreien. Sullivan holte aus, und er traf voll auf den Punkt. Es sah aus, als fliege der Kopf des jungen Killigrew durch den furchtbaren
Fausthieb außenbords. Aber es hatte nur den Anschein. Die geballte Kraft des Hiebes schleuderte den Ferkelgesichtigen quer über die Decksplanken. Die Männer wichen mit einem Sprung beiseite. Der Länge nach schlidderte Simon Llewellyn auf das Steuerbordschanzkleid zu und prallte mit dem Kopf gegen das Schanzholz. Es gab einen häßlichen, trockenen Laut. Der junge Killigrew streckte alle viere von sich, erschlaffte und rührte sich nicht mehr. Angewidert wischte sich Sullivan die Hände an der Lederweste ab. »Ich denke, der Drecksack hat endgültig genug«, sagte er knurrend. »Stopforth!« Der Bullige war sofort zur Stelle. »Über Bord mit ihm?« Sullivan schüttelte den Kopf. »Das wäre hirnverbrannt. Sein Alter ist General-Kapitän von Cornwall, auch wenn er ein gottverdammter Bastard ist. Wir würden unnötige Schwierigkeiten kriegen, wenn wir auch nur einen von den beiden zu den Fischen schicken.« Stopforth nickte widerstrebend. »Dann verschnüren wir ihn, wie es sich gehört?« »Einverstanden«, entgegnete Sullivan. »Zwei Mann erledigen das. Alle anderen Leute brauchen wir jetzt für die Arbeit.« Mit einer Handbewegung schickte Stopforth zwei Männer los, die sich ein aufgeschossenes Tau schnappten und freudestrahlend begannen, den bewußtlosen Simon Llewellyn zu fesseln. »Und wie soll die Sache ablaufen?« erkundigte sich der Bullige. Sullivan hatte seinen Plan bereits entwickelt. »Wir setzen euren Anker an Backbord ein und arbeiten gleichzeitig mit Trosse und Ankerwinde von der ›War Song‹. Wir werden die Schaluppe schräg nach achtern von dem Felsklotz herunterziehen. Mit genügend Krängung nach
Backbord müßte das funktionieren. Canter, du fängst inzwischen schon mal an, nach dem Rechten zu sehen. Sobald wir den Kahn freihaben, will ich, daß du loslegst.« »Aye, aye, Sir.« Der Schiffszimmermann stieg über das Schanzkleid und reichte sein Werkzeug aus dem Boot herauf. Sullivan gab währenddessen seinem Stellvertreter an Bord der Karavelle die erforderlichen Zeichen. Rufus bewies, daß er genügend Geschick hatte, den Bootsmann zu vertreten. Die Karavelle ›War Song‹ ging ankerauf, setzte das Focksegel und lavierte vorsichtig um die Untiefen herum. Kurze Zeit später näherte sich das Kriegsschiff der havarierten Schaluppe von achtern. In knapp hunder Yards Entfernung ließ Rufus das Segel bergen und nach weiteren zwanzig Yards den Anker werfen. Sullivan schickte vier Mann von der Schaluppe mit dem Beiboot hinüber, damit sie die Trosse holten. Unter Deck wurde die Arbeit an den Pumpen ohne Unterbrechung fortgesetzt. Als dann das Beiboot mit der Trosse von der ›War Song‹ zurückkehrte, hatte Rufus an Bord der Karavelle bereits die Männer eingeteilt, um das Bergungsmanöver nach Sullivans Anweisungen reibungslos über die Bühne zu bringen. * »Dieser kleine Knilch hält sich für mächtig schlau«, sagte Sam Corduroy, der Mann mit dem Narbengesicht, leise. »Aber er macht die Rechnung ohne uns. Genau wie dieser verdammte Sullivan.« Der überwiegende Teil der Killigrew-Mannschaft lungerte auf dem Deck der Kuhl, in der Nähe des Großmastes, herum. Nur wenige von ihnen hielten sich mit auf dem Vordeck auf, wo Sullivans gesamte Stammcrew unter dem Kommando des drahtigen Rufus bereitstand, um bei der Bergung der Schaluppe
zuzupacken. Es war in der Tat ein Fehler, den Rufus begangen hatte, als er sein Augenmerk weniger auf die Killigrew-Meute als auf die verläßlichen und einsatzerprobten eigenen Männer gerichtet hatte. Doch der Umstand, daß sich die Mannschaft des alten Schlitzohrs in den letzten Stunden absolut loyal verhalten hatte, hatte Rufus arglos werden lassen. Die Blicke der Männer hefteten sich erwartungsvoll auf den Narbigen, der sich in ihre Mitte schob und seine halblaute Ansprache fortsetzte. »Paßt auf, daß sie uns nicht beobachten«, sagte Corduroy. »Die Kerle auf dem Vordeck nicht und vor allem nicht dieser Bastard vor der Kapitänskammer.« Die anderen nickten zustimmend, sahen sich um und gaben dem Narbigen durch Handzeichen zu verstehen, daß man ihnen keine Aufmerksamkeit widmete. Vor den Blicken des Wachtpostens waren sie ohnehin durch das hölzerne Verdeck für den Rudergänger geschützt. Vom Vordeck erschollen die ersten Kommandos. Ein Knarren zeigte an, daß die Ankerwinde in Gang gesetzt wurde. Corduroy nickte beruhigt und winkte die Männer dichter zu sich heran. »Paßt auf, Kumpels. Wir werden denen jetzt was vorzaubern, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Ich sehe nämlich verdammt nicht ein, daß wir das mitspielen sollen, was dieser Hurensohn von einem Bootsmann vorhat. Dabei springst nämlich nichts für uns heraus. Ist euch das klar?« Zustimmendes Nicken war die Reaktion, begleitet von lauernden, ahnenden Blicken. »Und eine bessere Gelegenheit als jetzt kriegen wir nicht wieder«, fuhr Corduroy fort. »Wenn wir es schnell genug anstellen, haben wir diesen Kahn im Handumdrehen wieder unter Kontrolle. Und ich denke, ihr wißt, daß Sir John sein Versprechen halten wird. Wenn wir dieses sagenhafte
Schatzschiff erstmal erwischt haben, fällt für jeden von uns ein fetter Brocken ab. Das ist sicher. Schließlich kennt ihr Sir John.« Beifälliges Gemurmel setzte ein. Corduroy brachte sie mit einer Handbewegung wieder zum Schweigen. »Außerdem gibt es noch eine kleine Rechnung zu begleichen. Unser Freund Sullivan hat zwei von uns umgebracht und einigen anderen ziemlich hart zugesetzt. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen, auch wenn Sir John anderer Meinung gewesen ist.« Der Mann, dem die Bleikugel aus Sullivans Pistole einen Scheitel gezogen hatte, nickte heftig. Doch er hielt sofort wider inne, verzog das Gesicht vor Schmerzen und tastete nach dem Verband, der seinen Kopf wie ein orientalischer Turban zierte. »Wie soll die Sache vor sich gehen?« fragte ein anderer, dessen kantiger Schädel von kurzem, blaßgrauem Stoppelhaar bedeckt war. »Du bist mit dabei, Hanks«, sagte Corduroy kurzentschlossen. »Außerdem du, Sherrard. Dann Flanagan, Morse und ich selbst. Wir greifen uns den Blonden vor der Kapitänskammer. Ihr anderen steht auf dem Sprung. Sobald ihr unser Zeichen habt, riegelt ihr das Vorderkastell ab und laßt keinen von den Bastarden mehr runter. Alles weitere kann dann Sir John wieder selbst in die Hand nehmen. Noch Fragen?« Die Männer schüttelten die Köpfe. In ihren Augen brannte die Gier. Die Aussicht auf einen Anteil an dem schon legendenumwobenen Beuteschatz des Seewolfes Philip Hasard Killigrew genügte, um alle Bedenken in ihnen zu zerstreuen. Sam Corduroy spähte noch einmal sichernd zum Vordeck. Die Crew war ausnahmslos beschäftigt und hatte alle Hände voll damit zu tun, das Bergungsmanöver abzuschließen. Eile war geboten. Corduroy scharte seine vier Helfer um sich und gab das Zeichen zum Angriff.
Lautlos schlichen sie im Sichtschutz des RudergängerVordecks zum Achterkastell. * Hornblow stand am Fuß des Niedergangs zum Kapitänskammer. Mit dem Rücken lehnte er an der verriegelten Tür, hinter der sich der alte Killigrew stundenlang vergeblich die Wut aus der Kehle gebrüllt hatte. Inzwischen hatte Sir John es aufgegeben und sich schweigsam mit seinem Schicksal abgefunden. Vom Vordeck schollen Rufus Kommandos herüber. Hornblow lächelte. Sein drahtiger Freund, mit dem er seit vielen Jahren auf britischen Kriegsschiffen gefahren war, verstand eine Menge von dem Handwerk, das Sullivan ihm anvertraut hatte. Unvermittelt bemerkte Hornblow die Schatten, die von der Niedergangskappe herabfielen. Er hatte nicht das leiseste Geräusch gehört. Ruckartig warf er den Kopf in den Nacken. Und im selben Atemzug hatte er das Gefühl, daß sich seine strohblonden Haare sträubten. Das Gesicht des Narbigen war in blindwütiger Angriffslust verzerrt. Den anderen voran, schnellte er den Niedergang hinunter. Hornblow spannte seine mächtigen Muskeln. Zum Ausweichen war kein Platz vorhanden. Der enge Raum vor der Kapitänskammer ließ ihm für eine wirksame Verteidigung nicht viel Bewegungsfreiheit. Wie reißende Raubtiere stürzten sie sich auf ihn. Zwei von ihnen hatten sich mit Belegnägeln bewaffnet. Der Narbige und die beiden anderen begnügten sich mit den bloßen Fäusten. Es waren nur Sekundenbruchteile, die dem blonden Hünen blieben, um sich auf eine wirksame Abwehr einzustellen. Einzig beruhigend war das massive Türholz in seinem Rücken. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schnellte der
Narbige von der vorletzten Stufe auf ihn los. Im Moment behinderten sich die vier anderen noch gegenseitig und waren nicht sofort in der Lage, eine alles vernichtende Angriffsfront aufzubauen. Mit schmalen Augen taxierte Hornblow den Ansturm des Narbigen. Eine blitzartige Körperdrehung nach rechts genügte, um Corduroy leerlaufen zu lassen. Buchstäblich im letzten Augenblick konnte der Narbige es verhindern, daß er sich den Schädel an der Tür zur Kapitänskammer einrannte. Während er noch versuchte, herumzuwirbeln und sein Gleichgewicht wiederzufinden, handelte Hornblow mit einer Reaktionsschnelligkeit, die die übrigen Angreifer sekundenlang verblüffte. Mit geballter Muskelkraft schmetterte er dem Narbigen beide Fäuste gleichzeitig in den Nacken. Corduroy fiel wie ein vom Blitz getroffener Baum. Aber Hornblow packte ihn, bevor er zu Boden stürzen konnte und schleuderte ihn den Kerlen entgegen. Der Anprall brachte sie in heilloses Durcheinander. Fluchend versuchten sie, ihre Arme und Beine zu entflechten und sich von dem schweren Körper des Bewußtlosen zu befreien. Nur Hanks schaffte es, rechtzeitig auszuweichen. Ein heiserer Knurrlaut entrang sich seiner Kehle, und mit einem Satz hechtete er auf den Blonden zu. Der Belegnagel in Hanks rechter Faust zischte nach unten. Es gelang Hornblow, dem Hieb auszuweichen. Dumpf schmetterte die gefährliche Schlagwaffe gegen das Türholz - haargenau an der Stelle, wo sich eben noch Hornblows Kopf befunden hatte. Aber dem Anprall des vierschrötigen Kerls vermochte er nicht mehr zu entgehen. Hanks rammte ihm die geballte Masse seines Körpergewichts vor den Brustkasten. Hornblow sah nicht, daß der Mann ihm den kantigen Schädel auf das Zwerchfell gedonnert hatte.
Er spürte nur den grausamen Schmerz, der durch seinen Oberkörper zuckte, sich rasend schnell ausbreitete und seine Muskeln lahmte. Überdies war seine Atemluft jäh wie abgeschnitten. Hornblow fühlte förmlich, wie sich sein Gesicht verfärbte. Verzweifelt versuchte er, zur Besinnung zu gelangen, den Schmerz abzuschütteln und wieder Luft zu holen. Er brauchte zuviel Zeit für diesen Versuch. Noch während sich Hanks vor ihm aufrichtete, hatten sich Sherrard, Flanagan und Morse aus ihrer mißlichen Lage befreit und kamen dem Stoppelhaarigen zu Hilfe. Hornblow schaffte es, die Arme hochzureißen. Aber die Körperdeckung war kläglich angesichts der massierten Angriffswut von vier Gegnern. Einer der Belegnägel knallte auf Hornblows linken Unterarm. Ungewollt schrie er vor Schmerz auf. Der Arm pendelte kraftlos herab. Der zweite Belegnagel traf Hornblow auf den Kopf, und er mußte es fast wehrlos geschehen lassen. Schwarze Schleier wallten vor seinen Augen auf. Die düstere Woge der Bewußlosigkeit raffte ihn hinweg. Er spürte nicht mehr, wie er hart und schwer auf die Planken stürzte und wie sie ihn mit Fußtritten beiseitestießen, um sich freien Zugang zur Kapitänskammer zu verschaffen. Auch der Narbige war noch immer bewußtlos, während die anderen den Riegel wegrissen. »Ihr Himmelhunde!« tönte es freudig und überrascht aus der Kammer. »Der Teufel soll euch holen, daß endlich mal Verlaß auf euch ist! Wenn es noch länger gedauert hätte, wäre ich leider gezwungen gewesen, euch samt und sonders kielholen zu lassen.« Sir John Killigrew stieß ein unterdrücktes Lachen aus.
7. Mit sieben Faden Wassertiefe unter dem Kiel dümpelte die Schaluppe sanft im Wellengang. Der Einmaster lag jetzt etwa fünfzig Yards achteraus von der Karavelle. Stopforth und seine Männer warteten darauf, Segel zu setzen und sich der ›War Song‹ auf der Suche nach der ›Isabella‹ anzuschließen. Gleich nachdem sie die Schaluppe vom Riff freigezogen hatten, war es Thomas Canter ohne große Mühe gelungen, die Dehnungsfugen in der Bodenwegerung abzudichten. Durch das Bergungsmanöver waren am Rumpf des Seglers keine weiteren Schäden entstanden. Sullivan und Canter pullten mit dem Beiboot zum ›War Song‹ zurück. Die Trosse war inzwischen wieder eingeholt worden. »Ein Segen«, sagte Canter lächelnd, »daß wir endlich die verdammte Killigrew-Sippe vom Hals haben.« Sullivan wiegte bedenklich den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Irgendwann und irgendwie müssen wir den Alten und sein Söhnchen loswerden. Und ich garantiere dir, daß die beiden danach Himmel und Hölle in Bewegung setzen werden, um uns Verdruß zu bereiten.« Canters Lächeln schwand. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er düster. »Teufel, ich mag noch nicht daran denken, wie die Sache mal ausgehen könnte.« Sullivan zuckte mit den Schultern. »Sobald wir uns mit der ›Isabella‹-Crew zusammengetan haben, werden wir einen Ausweg finden, denke ich. Die Burschen haben uns eine Menge voraus, und sie wissen, wie man mit Bastarden vom Schlage eines Sir John Killigrew umzuspringen hat.« Thomas Canter nickte wortlos, doch aus seiner Miene war der zweifelnde Ausdruck noch nicht gewichen.
Zügig manövrierten sie das Beiboot zu die Backbordseite der ›War Song‹ heran. Da sie zu sehr ihren Gedanken nachhingen, fiel ihnen die ungewöhnliche Ruhe an Bord nicht auf. Es waren Männer von der Stammcrew der ›War Song‹, die die Taue herabwarfen und schweigend das Beiboot emporhievten. Als Sullivan und der Schiffszimmermann über das Schanzkleid stiegen, traf sie der Schock. Die Fassungslosigkeit nagelte sie förmlich auf den Decksplanken fest. Breitbeinig und grinsend stand Sir John Killigrew neben dem Großmast. In seiner Rechten ruhte eine schwere Steinschloßpistole, deren großkalibrige Laufmündung ohne das geringste Zittern auf Sullivan gerichtet war. Auch die übrigen Männer der Killigrew-Meute waren bewaffnet - einige mit Handfeuerwaffen, die restlichen mit Entermessern und Spaken und Belegnägeln. Und sie hielten die Stammcrew der Karavelle in Schach, die es nicht riskierte, einen Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Halunken aufzunehmen. Wie ein Hofhund auf dem Sprung stand der narbengesichtige Corduroy neben dem alten Killigrew. Der Blick des Narbigen war leicht glasig, doch in seinen Augen glomm überdeutlich die Mordlust, und das funkelnde Messer in seiner Faust unterstrich dies noch. »Aus der Traum, Sullivan«, sagte Sir John höhnisch. »Wir beide hätten eher abrechnen sollen. Aber der Zeitpunkt ist jetzt vielleicht gerade richtig.« Killigrew hob die Pistole mit ausgestrecktem Arm und visierte Sullivan voller Ruhe an. Der Bootsmann war in seinen Augen jetzt nicht mehr als ein in die Enge getriebenes Stück Wild, das nur noch den Fangschuß brauchte. Sullivan brachte kein Wort hervor. Er preßte die Lippen aufeinander, daß sie einen dünnen Strich bildeten. Er spürte, wie die Wut übermächtig in ihm emporkochte, und es gab nichts, womit er diese grenzenlose Wut noch unterdrücken
konnte. Es war zu spät, die eigene Pistole zu ziehen und zu feuern. Ohnehin waren seine Gedanken wie ausgelöscht. Nur noch der instinktive Überlebenswille und der unbändige Zorn auf dieses alte Schlitzohr bestimmten seine Reaktion. Sullivan sah, wie sich der Zeigefinger Sir Johns langsam zu krümmen begann. In dem stämmigen Bootsmann brannte die Lunte durch. Mit einem heiseren Schrei schnellte er vorwärts und überbrückte die Distanz von drei, vier Schritte traumhaft schnell. Sir John zog durch. Dumpf wummernd entlud sich die Steinschloßpistole, nachdem das Pfannenpulver zischend gezündet hatte. Aber ein bewegliches Ziel ist immer ein schlechtes Ziel, das mußte Sir John in dieser Sekunde feststellen. Sullivan fühlte einen glühenden Schmerz, der wie ein Brenneisen über seinen Schädel strich. Es brachte ihn nicht aus der Fassung, sondern stachelte seinen Zorn nur noch mehr an. Sir John fand keine Zeit mehr, die Pistole am Lauf zu packen und dem Bootsmann das eisenbewehrte Griffstück auf den Kopf zu schmettern. Sullivans Faust traf ihn wie ein Rammstoß gegen die Brust. Sir John taumelte rückwärts, seine Schritte wurden schneller, und er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht einzufangen. Sullivan setzte sofort nach. »Macht sie fertig!« brüllte er wild. Es war das Signal, das alles auslöste. Thomas Canter stürzte sich auf den narbengesichtigen Corduroy, der seine Verwirrung und seine Benommenheit noch nicht vollends überwunden hatte. Indem sie sich mit wildem Gebrüll gegenseitig anfeuerten, stürmten die Männer der Stammcrew auf die Killigrew-Meute los. Das Zeichen, das ihr Bootsmann gesetzt hatte, gab ihnen neuen Mut und die wilde Entschlossenheit, das Blatt nun doch
noch zu wenden. Schüsse krachten, doch der Feuerzauber war nur von kurzer Dauer. Die Männer der ›War Song‹ hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, und so richteten die Kugeln der Killigrew-Meute keinen nennenswerten Schaden an, abgesehen von den Holzsplittern, die sie aus Spanten und Masten fetzten. Rufus war es, der sich allen voran jener Front entgegenwarf, durch die sie auf dem Vordeck abgeriegelt worden waren. Ohne daß es eines Kommandos bedurfte, wußten Rufus und die anderen, daß es für sie jetzt nur ein Ziel gab, das von entscheidender Bedeutung war: zum Achterkastell durchzudringen. Die Männer der ›War Song‹ verfügten lediglich über Belegnägel und Spaken. Aber da die Schußwaffen der Gegner abgefeuert waren und keine Zeit zum Nachladen blieb, hatte sich die Lage ausgeglichen. Sullivan trieb den alten Killigrew mit gnadenlosen Fausthieben vor sich her. Ein Schlag, den er von unten herauf führte, schleuderte die Pistole Sir Johns in hohem Bogen über das Steuerbordschanzkleid. Durch den Kampfeslärm war es nicht zu hören, wie die Waffe klatschend ins Wasser fiel. Ein letzter Hieb brachte Sir John endgültig aus dem Gleichgewicht. Die Kraft, die hinter Sullivans Faust saß, hob den alten Killigrew um etliche Zoll von den Planken und ließ ihn der Länge nach auf den Rücken krachen. Der Bootsmann kreiselte auf dem Absatz herum. Eine torkelnde Gestalt flog ihm entgegen. Corduroy, der Narbige, von unbarmherzigen Rammstößen des riesenhaften Schiffszimmermanns getrieben. Angesichts der Körperkraft Canters wirkte das Messer, das Corduroy noch immer krampfhaft in der Faust hielt, geradezu lächerlich. Sullivan empfing den Narbigen, indem er kurzerhand das Knie hob und es ihm ins verlängerte Rückgrat stieß.
Corduroy knickte fast nach hinten zusammen. Er warf die Arme hoch, ruderte und suchte nach einem Halt, den es nicht gab. Canter war zur Stelle, bevor Sulliyan ein zweites Mal eingreifen mußte. Ein brettharter Faustschlag des Schiffszimmermanns traf den Messerarm des Narbigen. Klirrend landete die Klinge auf den Decksplanken. Sofort schickte Canter einen zweiten Hieb hinterher, der Corduroys Kopf in den Nacken rucken ließ. Sullivan packte den Narbigen, nutzte dessen Schwung aus und schleuderte ihn in Richtung Vordeck. Zwei, drei Männern der Killigrew-Meute wurden durch den heranschliddernden Bewußtlosen die Beine unter dem Leib weggerissen. Reaktionsschnell setzten ihre Gegner aus der Stammcrew der ›War Song‹ nach, und wiederum war es Rufus, der wie ein hagerer Teufel voranstürmte und seine Kameraden mit gellenden Kampfesschreien anfeuerte. Sullivan und Ganter verständigten sich durch ein Handzeichen. Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie noch, wie Hornblows strohblonder Haarschopf im Niedergang zur Kapitänskammer auftauchte. Ohne darüber nachdenken zu müssen, wußten sie in diesem Moment, was passiert sein mußte. Es war erleichternd und ermutigend zugleich, daß die Killigrew-Strolche es in der Eile offenbar versäumt hatten, den blonden Hünen umzubringen. Und Hornblow stürmte mit langen Sätzen herbei, als Sullivan und Ganter der bereits zurückweichenden KilligrewMannschaft in den Rücken fielen. Die Fäuste der drei Männer schlugen eine Bresche. Ihr mit Vehemenz geführter Angriff verfehlte seine demoralisierende Wirkung nicht. Die bislang verbissen kämpfende Front der Killigrew-Meute bröckelte auseinander. Rufus und die anderen stießen mit Triumphgeschrei in die entstandene Lücke vor und trieben die Gegner nach beiden Seiten auseinander. Nur wenige von der Stammcrew hatten
sich in der Eile Entermesser verschaffen können, mit denen sie jetzt erbarmungslos auf die Gefolgsleute Sir Johns einstachen. Sullivan und Canter ließen ihre Fäuste wirbeln, daß die Schädel krachten. Hornblow sah unvermittelt einen der Kerle vor sich, die ihn am Fuß des Niedergangs zur Kapitänskammer überwältigt hatten - Flanagan, ein hochgewachsener Rotschopf mit ungesunder bleicher Gesichtsfarbe. Und dieser Flanagan war es gewesen, der Hornblow den fast tödlichen Hieb mit dem Belegnagel versetzt hatte. Der blonde Hüne konnte seinen Zorn nicht mehr stoppen. Von wilder Entschlossenheit getrieben, griff er sich den Rotschopf, bevor dieser ausweichen konnte. Hornblow zog ihn aus dem Gewühl der Kämpfenden heraus, zerschmetterte seine verzweifelte Abwehr mit einem einzigen Fausthieb und gab ihm im nächsten Moment den Rest. Zwei blitzartige Schläge, hinter denen Hornblows ganze urgewaltige Muskelkraft saß, trafen Flanagan in den Nacken und brachen ihm das Genick. Der Mann war tot, noch bevor er auf die Decksplanken stürzte. Irgendwo im Kampfgetümmel schrie einer der KilligrewMänner mit sich überschlagender Stimme seinen Schmerz hinaus. Blut rann auf die Planken. Die Männer der Stammcrew verstanden es, ihre Entermesser wirkungsvoll einzusetzen. Die entstandene Bresche vergrößerte sich. Sullivan sah den vierschrötigen Hanks vor sich auftauchen und schickte ihn mit zwei trockenen Schlägen zu Boden. »Durch zum Achterkastell!« brüllte Sullivan, und seine Donnerstimme übertönte den Kampfeslärm. »Zeigt es den Hundesöhnen! Macht sie fertig!« Ein freudiges Johlen der Stammcrew war die Antwort. Das Beispiel, das ihnen ihr Bootsmann gegeben hatte, verursachte eine nachhaltige Wirkung. Die Männer waren jetzt nicht mehr aufzuhalten. Und Sir Johns Crew, ohnehin bereits stark dezimiert, vermochte der wilden Angriffswut der zuvor noch zahlenmäßig unterlegenen Mannschaft Sullivans nur noch
wenig entgegenzusetzen. Während sich die Männer der ›War Song‹ bereits ihren Weg durch die beiseite weichenden Gegner bahnten, war Sir John unvermittelt wieder auf den Beinen. Vor dem Steuerbordschanzkleid, durch seine kämpfenden Gefolgsleute abgeschirmt, rappelte er sich auf und schüttelte die Benommenheit schlagartig ab, als er die Lage zu überblicken begann. Seine Schläfenadern schwollen an. »Packt die elenden Dreckskerle!« brüllte er. »Verdammt nochmal, laßt Sie nicht durch! Wollt ihr ihnen wohl Zunder geben! Sonst mache ich euch Beine!« Noch einmal flackerte der Widerstandswille der KilligrewMannschaft auf. Mit neuer Entschlossenheit, und auch aus Angst vor dem Zorn Sir Johns, versuchten die Männer, zu retten, was zu retten war. Aber der überwiegende Teil der Stammcrew hatte bereits das Achterkastell erreicht. Sullivan, Canter, Hornblow und Rufus standen in vorderster Front, noch auf dem Deck der Kuhl, und lieferten den nachsetzenden Killigrew-Männern ein Rückzugsgefecht, gegen das kein Kraut gewachsen war. Die Fausthiebe von Sullivan und seinen Getreuen trieben einen Angreifer nach dem anderen zurück. Sir Johns Wutgeschrei, das vom Steuerbordschanzkleid herüberscholl, half nichts mehr. Der zusammengeschmolzene Haufen seiner Männer wich endgültig zurück. Sullivan und die anderen erreichten das Deck des Achterkastells. Sie hatten einen unschätzbaren Teilerfolg errungen. Aber sie wußten auch, daß ihnen nur eine kurze Verschnaufpause gewährt werden würde. * Noch unsicher auf den Beinen, beschloß Sir John, seinen Befehlsstand auf dem Vordeck einzurichten. Auf dem Weg
dorthin traktierte er seine Männer ununterbrochen mit heiser gebrüllten Befehlen. »Laßt die Bastarde nicht vom Achterdeck herunter! Schafft die Bewußtlosen weg! Los, los, bewegt euch, ihr Lahmärsche! Kümmert euch um die Leute, daß sie wieder auf die Beine kommen! Sherrard, Morse, trabt an! Aufs Vordeck mit euch, an die Drehbassen!« Die beiden Männer beeilten sich, dem Befehl ihres Kapitäns Folge zu leisten. Schnaufend unterbrach Sir John Killigrew sein Gebrüll. Die ohnmächtige Wut, die ihn gepackt hatte, bescherte ihm eine nie gekannte Atemnot. Dieser Hurensohn von einem Bootsmann hatte es tatsächlich geschafft, wieder einmal Oberwasser zu behalten. Aber dabei sollte es nicht lange bleiben. Das schwor sich Sir John, wobei er die Fäuste zusammenpreßte, daß die Knöchel weiß hervortraten. Halbwegs beruhigt stellte er fest, daß Sullivan und die Stammcrew auf dem Deck des Achterkastells offensichtlich noch beratschlagten. Ein sofortiger neuer Ausfallversuch war also nicht zu erwarten. »Sir, die Schaluppe!« rief Morse, der die Drehbasse an Steuerbord besetzt hatte, aufgeregt. Der alte Killigrew wandte sich ruckartig um. Tatsächlich segelte der Einmaster schräg von achtern auf die Steuerbordseite der Karavelle zu und war kaum noch dreißig Yards entfernt. Deutlich zu erkennen war die gespannte Haltung der Männer an Deck. Sir John dachte nicht daran, erst lange abzuwarten, für welche Seite sie sich entscheiden würden. Mit beiden Fäusten stützte er sich auf die Balustrade des Vordecks, beugte sich vornüber und blies ihnen den Marsch, daß sie die Köpfe einzogen. Zur Bekräftigung der Worte Sir Johns schwenkte Morse die Drehbasse herum und richtete sie auf die Mannschaft der Schaluppe. Jeder dort unten wußte, welche verheerende
Wirkung das gehackte Blei aus dem Lauf der schweren Waffe anrichten würde. »Laßt euch keine Schwachheiten einfallen!« brüllte der alte Killigrew. »Wenn ihr Drecksäcke euch nicht augenblicklich besinnt, welchem Kommando ihr untersteht, dann lasse ich euch in Fetzen schießen! Habt ihr das kapiert?« Stopforth wollte aufmucken, aber die anderen packten ihn an den Schultern, zogen ihn zurück und redeten beschwörend auf ihn ein. Für sie sah es so aus, als beherrsche Sir John die Lage an Bord der Karavelle. Der kleine Haufen Sullivans auf dem Deck des Achterkastells war nicht ermutigend genug, um sich gegen die Drohungen des alten Killigrew aufzulehnen. Und Sullivan verhielt sich abwartend. Er konnte es nicht verantworten, die Mannschaft der Schaluppe gegen Sir John aufzuwiegeln. Denn immerhin war Sullivan selbst noch nicht hundertprozentig davon überzeugt, daß sie im Kampf gegen die Killigrew-Meute auch weiterhin bestehen würden. »Was ist mit meinem Sohn?« schrie Sir John. »Ihr verdammten Bastarde, hoffentlich kriege ich bald eine Antwort!« Deutlich war der Crew auf der Schaluppe die wachsende Nervosität anzusehen. Noch immer standen sie dichtgedrängt um Stopforth und redeten auf ihn ein. Sullivan und seine Getreuen beobachteten es mit wachsender Spannung. Wie würde Stopforth entscheiden? Und auf welche Seite würden sich seine Crewmitglieder schlagen? »Ich gebe euch noch eine Minute!« rief der alte Killigrew wutentbrannt. »Dann ...« Er brach ab, denn unvermittelt löste sich Stopforth aus dem Haufen der anderen und trat an das Backbordschanzkleid der Schaluppe. »Ihrem Sohn ist kein Haar gekrümmt worden, Sir!« rief er. »Aber ich muß gestehen, daß ich ihm das Kommando abgenommen habe, weil er die Schaluppe durch ein völlig
unsinniges Mannöver vom Riff ziehen wollte. Dabei wären noch weitaus größere Schäden entstanden. Deshalb konnte ich nicht anders als ...« »Fasele nicht herum, Mann!« unterbrach ihn Sir John. »Ich will Simon Llewellyn sehen, und ihr unterstellt euch meinem Kommando. Sonst reiße ich euch den Arsch auf, darauf könnt ihr Gift nehmen.« »Es gibt da noch eine Sache, Sir«, entgegnete Stopforth kleinlaut. Er zögerte, weiterzureden. »Was, verdammt noch mal?« brüllte der alte Killigrew ungeduldig. »Ihr Sohn hat gedroht, mich wegen Meuterei zu verurteilen«, antwortete der Bullige. »Dabei habe ich doch nur das Beste gewollt. Ich wollte, daß wir unser Schiff nicht unnötig beschädigen. Ich konnte es einfach nicht verantworten, das mitzumachen, was Ihr Sohn vorhatte. Aber wenn ich deshalb zum Tode verurteilt werden soll ...« Er sprach nicht weiter. Sir John überlegte nur einen Moment. Ihm war klar, daß er jetzt nicht lange fackeln durfte, wenn er eine Entscheidung herbeiführen wollte. Es schien offenkundig, daß die Crew der Schaluppe hinter Stopforth stand. Deshalb mußten sie besänftigt werden. Denn für einen Sieg über Sullivan und seine hirnrissigen Bastarde konnten sie von ausschlaggebender Bedeutung sein. »Vergiß es, Mann! rief Sir John deshalb in seiner gut gespielten gönnerhaften Art. »Wir werden die Angelegenheit später klären. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß, daß Simon Llewellyn manchmal durchdreht und die verrücktesten Sachen anstellt. Also, was ist jetzt?« Freudige Rufe ertönten an Deck der Schaluppe. »Wir stehen unter Ihrem Kommando, Sir!« schrie Stopforth strahlend. Die Furcht vor der angedrohten Todesstrafe war stärker gewesen als all seine anderen Überlegungen. Sir John Killigrew lächelte zufrieden und voller
Selbstherrlichkeit. Die Männer auf dem Deck des Achterkastells waren fassungslos. »Schweinehunde«, sagte Rufus zornig, »die drehen sich wie ein Blatt im Wind.« »Ist das ein Wunder?« entgegnete Hornblow. »Alles, was irgendwann mal unter einem Killigrew-Kommando gestanden hat, ist Abschaum. Wir hätten damit rechnen müssen.« Sullivan drehte sich um. »Das stimmt nicht ganz, was du sagst, Hornblow. Auch der Seewolf ist ein Killigrew, und auf seine Mannschaft treffen deine Worte weiß Gott nicht zu.« Der blonde Hüne senkte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich meine doch nur diesen alten Halunken und seinen widerwärtigen Sproß.« Sullivan nickte, doch ein Lächeln brachte er nicht zustande. Er und die anderen beobachteten erbittert, was sich an Deck der Schaluppe abspielte. Stopforth und seine Männer befreiten Simon Llewellyn Killigrew von seinen Fesseln. Sie mußten den Ferkelgesichtigen stützen, nachdem sie ihm auf die Beine geholfen hatten. Er war noch nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft aufrecht zu halten. Und er brachte es ebenfalls noch nicht fertig, seinen Mund aufzureißen und das gewohnte Geschrei anzustimmen. Die Crew der Schaluppe führte ihn zum Backbordschanzkleid, damit Sir John ihn sehen konnte. »Simon Llewellyn!« brüllte der alte Killigrew. »Bist du so weit bei Verstand, daß du mich hören kannst?« »Zum Teufel, ja«, antwortete sein Sohn krächzend. »Diese Dreckskerle haben meine Befehle mißachtet. Sie werden wegen Meuterei ...« »Nichts werden sie! Halt endlich den Rand! Sieh dich um, vielleicht kapierst du dann, was hier los ist! Du tust ab sofort nur noch das, was ich dir sage. Ist das klar?«
»Ja«, sagte Simon Llewellyn mit dümmlichen Gesichtsausdruck. Sullivan und die anderen hatten genug gehört. Für den Bootsmann gab es keine Illusionen darüber, was die geänderte Lage an Konsequenzen bringen konnte. Aber er war fest entschlossen, diesen Killigrew-Bastarden einen harten Kampf zu liefern. Und Sullivan wußte, daß seine Crew wie ein einziger Mann hinter ihm stand. Denn für sie alle ging es jetzt nur noch um Leben oder Tod. Die Meute des alten Killigrew hatte das Deck der Kuhl abgeriegelt. Soweit Sullivan es überblicken konnte, verfügten sie über drei Musketen und etwa die gleich Anzahl von Pistolen, außerdem über Entermesser, Spaken und Belegnägel. Die beiden Drehbassen auf dem Vordeck mußten natürlich ebenfalls in die Rechnung mit ein bezogen werden. Aber es gab einen unschätzbaren Vorteil, den die Stammcrew der ›War Song‹ auf ihrer Seite hatte. Sullivan drehte sich zu den Männern um, behielt jedoch gleichzeitig die Killigrew-Mannschaft und auch die Schaluppe im Auge. »Wir haben die Pulverkammer«, sagte der Bootsmann leise, »und wir haben die Waffenkammer. Das ist jetzt verdammt wichtig für uns. Mahoney!« »Sir?« Der Rudergänger trat vor. »Deine Aufgabe ist es, für Nachschub aus der Pulverkammer zu sorgen. Ich will kein Pulverfaß hier auf Deck haben, damit wir womöglich alle in Fetzen gerissen werden. Deshalb sorgst du dafür, daß wir ständig genügend gefüllte Pulverflaschen für die Handfeuerwaffen und fertige Pulvermaße für die Drehbassen haben. Kugeln und gehacktes Blei werden vorher heraufgeschafft. Rufus und Hornblow, ihr unterstützt Mahoney bei den Vorbereitungen. Viel Zeit haben wir wahrscheinlich nicht mehr. Wenn ihr fertig sei, meldet ihr euch sofort wieder bei mir. Mahoney, du bleibst selbstverständlich in der
Pulverkammer.« »Aye, aye, Sir«, antworteten die Männer wie aus einem Mund und hasteten den Niedergang hinunter. Mit schmalen Augen blickte Sullivan zum Vorschiff, wo der alte Killigrew breitbeinig in Herrscherpose stand und halblaute Anweisungen an seine Leute gab. Sullivan war sich darüber im klaren, daß die Lage festgefahren war. Aber wenn die Schaluppe nicht zum Zug kam, standen die Chancen immer noch fünfzig zu fünfzig.
8. Mit schriller Befehlsstimme hatte Simon Llewellyn Killigrew abdrehen lassen. Die Schaluppe gewann mäßige Fahrt und glitt in etwa dreißig Yards Abstand um das Vorschiff der Karavelle herum. Die Männer, die sich nun wieder dem Kommando des jungen Killigrew unterstellt hatten, legten eine übertriebene Diensteifrigkeit an den Tag. Sir John gestikulierte auf dem Vordeck der ›War Song‹ und erteilte seinen Untergebenen offensichtlich Anweisungen. Hilfesuchend blickte Simon Llewellyn vom Backbordschanzkleid der Schaluppe zur Karavelle hinaus. »Ruder hart Backbord!« schrie er, ohne sich umzudrehen. »Aye, aye, Sir, hart Backbord«, antwortete der Mann am Kolderstock und legte Ruder. Die Schaluppe fiel ab und beschrieb einen engen Bogen um den Bug der ›War Song‹. »Vater!« rief Simon Llewellyn. »Verdammt noch mal, hoffentlich sagst du mir bald, was jetzt passieren soll!« Sir John wirbelte herum und beugte sich über die Balustrade des Vordecks. Seine Gesichtshaut überzog sich mit wütender Röte. »Was gibt es da zu fragen, du Nichtsnutz! Bist du ein
Killigrew, oder bist du ein gottverdammter Strohkopf?« »Aber ich kann doch nicht wissen, was du vorhast!« Sir Johns Stimme überschlug sich. »Hölle und Teufel, was gibt es da zu überlegen? Soll ich dir vielleicht auch noch sagen, wann du aus der Hose mußt?« Simon Llewellyn ballte die Hände und stampfte trotzig mit dem rechten Fuß auf. »Verdammt, ich habe keine Lust zu diesem dauernden Zirkus! Entweder du sagst mir, was du vorhast, oder du kannst deinen Kram alleine machen!« »Einfaltspinsel!« brüllte Sir John, außer sich vor Erregung. »Glaubst du, ich werde diesen Bastarden auf dem Achterkastell auf die Nase binden, was ich vorhabe? Dann können wir ja gleich die Waffen strecken, oder?« Simon Llewellyn heulte fast vor Ärger. »Das ist mir scheißegal! Wenn ich keine genauen Anweisungen kriege, reicht es mir. Sonst tue ich irgendwas und kriege hinterher wieder zu hören, daß ich totalen Mist gebaut habe.« Sir John schickte einen flehentlichen Blick zum Himmel. Dann hämmerte er mit beiden Fäusten auf die Balustrade. »Greif endlich an, du gottverdammter Narr! Angreifen, hast du kapiert? Von achtern angreifen und entern! Ist das jetzt langsam klar? Oder muß ich dir noch erklären, wo achtern und vorn ist?« »N - nein, j - ja, natürlich«, stotterte Simon Llewellyn. »Wir wir werden diesen Hundesöhnen einheizen, daß ihnen der Hintern raucht.« »Hoffentlich«, entgegnete Sir John knurrend. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie die Schaluppe abermals wendete, sich in einem weiten Bogen von der ›War Song‹ entfernte und dann im Direktkurs auf das Heck der Karavelle zusegelte. Sullivan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»In Ordnung«, sagte er gedämpft. »Damit wissen wir wenigstens, woran wir sind.« Seine Männer nickten. Ihre Mienen drückten eiserne Entschlossenheit aus. Und der stämmige Bootsmann wußte, daß er sich auf jeden einzelnen von ihnen verlassen konnte. Alle würden sie bis zum Umfallen kämpfen, um es dem alten Schlitzohr Killigrew zu zeigen. Und das, obwohl sie wußten, daß die Chancen keineswegs besonders gut für sie standen. Sullivan war einen Blick auf das Deck der Kühl. Die Front der Killigrew-Meute stand in unverändert drohender Haltung, hatte das Deck abgeriegelt und verharrte jedoch zunächst abwartend. In der Nähe des Fockmastes packten zwei Mann den toten Flanagan und wuchteten ihn über Bord. Mit klatschendem Aufschlag versank der leblose Körper in den graugrünen Fluten. Für Sullivan war die Taktik des alten Killigrew offenkundig. Sir John hatte vor, das Angriffsmanöver seines Sohnes abzuwarten, um dann loszuschlagen, wenn die Stammcrew auf dem Deck des Achterkastells voll damit beschäftigt war, diesen Angriff abzuwehren. Aber Sullivan dachte nicht daran, sich auf diese Weise in die Zange nehmen zu lassen. Von achtern nahte die Schaluppe mit zunehmender Fahrt. Noch betrug die Entfernung etwa hundert-fünfzig Yards. »Canter«, sagte Sullivan leise. Der riesenhafte Schiffszimmermann hob den Kopf. »Ja?« »Lade die beiden Drehbassen mit der doppelten Pulvermenge. Ich will, daß das Söhnchen und seine Leute gar nicht erst zur Besinnung kommen.« »Aye, aye, Sir.« Ein breites Grinsen kerbte sich in Ganters bärtiges Gesicht. Dann schnappte er sich die Pulvermaße, die Mahoney aus der Pulverkammer heraufreichte. Für das Laden der Drehbassen brauchte Canter weniger als
zwei Minuten. Sullivan vergewisserte sich, daß die Lage unverändert war. Sir John riskierte es vorläufig nicht, die eigenen Drehbassen auf dem Vordeck einzusetzen. Das alte Schlitzohr wußte haargenau, daß er sich ins eigene Fleisch schneiden würde, wenn er das Achterkastell in Stücke schoß und dabei womöglich die Pulverkammer mit hochgehen ließ. Er brauchte die ›War Song‹, wenn er seine Absichten in die Tat umsetzen wollte. Denn ohne das Schiff war er nicht in der Lage, die Suche nach der ›Isabella‹ fortzusetzen. Außer den beiden Drehbassen auf dem Deck des Achterkastells verfügten die Männer der Stammcrew über fünf Musketen, zwei Arkebusen und sechs Steinschloßpistolen - Sullivans wertvolles deutsches Beutestück nicht mitgerechnet. Alle Waffen waren bereits sorgfältig geladen worden. Die Schaluppe hatte sich bis auf hundert Yards genähert. Deutlich sahen Sullivan und die anderen, daß auf dem Vordeck des Einmasters eifrig Vorbereitungen getroffen wurden. Sie waren dabei, die Bug-Culverine zu laden. Reichlich spät, für Sullivans Empfinden. Aber es sollte ihm recht sein. Simon Llewellyn hatte sich gemäßigt und schrie nicht mehr wie ein angestochener Stier herum. Möglich, daß er jetzt durch gedämpfte Befehle das wieder gutmachen wollte, was er zuvor durch sein lautstarkes Tönen vermasselt hatte. Doch für Sullivan ließen sich die Absichten des jungen Killigrew nun beim besten Willen nicht mehr verheimlichen. »Hornblow, Rufus«, sagte der Bootsmann. »Baut euch mit den beiden Arkebusen auf.« Die beiden Männer packten die schweren Waffen und postierten sich mit den Stützgabeln an der Heckbalustrade. Sullivan ließ fünf weitere Männer mit den Musketen ebenfalls an der Heckbalustrade in Stellung gehen. »Lunten zünden!« befahl er. »Laßt sie bis auf achtzig Yards heran, und dann gebt ihnen Zunder! Sie sollen ihre verdammt
Kanone vergessen.« Die Männer setzten die Lunten in Brand, hoben die schußbereiten Waffen und visierten an. »Ihr anderen nehmt euch die Pistolen und haltet die Kerle auf der Kuhl in Schach«, ordnete Sullivan an. »Ich glaube nicht, daß sie jetzt schon angreifen werden. Aber wenn sie es dennoch tun sollten, dann zögert nicht, ihnen das Blei durch den Schädel zu jagen.« Die Männer gingen mit den geladenen Pistolen an der vorderen Balustrade des Achterkastells in Position. Sullivan hatte keine Zeit, die Reaktion der Killigrew-Meute zu beobachten. Aber da es ruhig blieb, wußte er, daß Sir John an seiner Taktik festhielt. »Canter, wir beide nehmen die Drehbassen. Klar?« »Klar«, sagte Canter und nickte. »Wann knallen wir ihnen eins vor den Latz?« »Auf mein Zeichen«, erwiderte Sullivan und baute sich hinter der Drehbasse an Backbord auf. Canter folgte seinem Beispiel an Steuerbord. Auf dem Vordeck der Schaluppe hatten sie die Ladearbeiten fast zum Abschluß gebracht. Sullivan schätzte die Entfernung und überlegte nicht lange. »Feuer!« Lunten zündeten zischend. Wummernd entluden sich zuerst die beiden Arkebusen, sofort gefolgt vom ohrenbetäubenden Krachen der fünf Musketen. Grelles Mündungsfeuer stach der Schaluppe entgegen, und eine mächtige Wolke von Pulverdampf schwebte über das Heck der Karavelle hinaus. Entsetzensschreie gellten auf der Schaluppe. Während sich der Pulverdampf langsam verflüchtigte, war der Einmaster bereits auf siebzig Yards herangesegelt. An Bord herrschte Panikstimmung. Zweifellos hatten sie sich ihrer Sache zu sicher gefühlt, denn der Kugelhagel der Arkebusen und Musketen hatte eine verheerende Wirkung erzielt. Drei Männer wälzten sich schreiend auf dem Vordeck neben
der Culverine. Die anderen, die beim Laden des Geschützes dabeigewesen waren, flohen wie von Furien gehetzt zum Achterdeck. Simon Llewellyn brüllte sich die Kehle aus dem Hals, doch seine Befehle gingen im Lärm unter. Sullivan und Canter hatte die Drehbassen in Zielrichtung gebracht. Die Entfernung zur Schaluppe schmolz auf sechzig Yards zusammen, und noch immer schaffte Simon Llewllyn es nicht, seine Crew unter Kontrolle zu bringen und den Kurs zu ändern. »Feuer!« rief Sullivan. Beinahe gleichzeitig donnerten die beiden Drehbassen und spien der Schaluppe Feuer und Blei entgegen. Im Nachhall der Schüsse waren überdeutlich die prasselnden Einschläge zu hören. Eine Bö trieb die Schwaden des Pulverrauchs rasch nach Steuerbord. Holzsplitter wurden wie Fontänen aus dem Vordeck der Schaluppe gerissen. Zerfetztes Tauwerk wirbelte durch die Luft. Die drei Verwundeten schrien nicht mehr. Eine der Bleiladungen hatte sie voll erwischt. Die zweite Ladung hatte die Culverine aus ihrer Verankerung gerissen. Die hölzerne Lafette war an der linken Seite zerschmettert worden, das Geschützrohr hing schief und hatte nur noch Halt durch den rechten Schildzapfen. Erst jetzt gelang es Simon Llewellyn Killigrew, mit seiner schrillen Befehlsstimme durchzudringen. Der Rudergänger erwachte aus seinem Schock, und auch die übrigen Männer der Crew begriffen schlagartig, welchem Höllenfeuer sie geradezu in den Schlund gesegelt waren. Eilends drehte die Schaluppe nach Steuerbord ab und rauschte mit vollem Zeug davon, um sicheren Abstand zu gewinnen. Auf dem Deck des Achterkastells brach die Strammcrew der ›War Song‹ in Triumphgebrüll aus.
Aber Sullivan wußte nur zu gut, daß sie noch lange keinen Grund hatten, Atem zu holen. Der erfolgreiche Schlag gegen die Schaluppe bedeutete möglicherweise nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein. Denn die Reaktion des alten Killigrew würde mit Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen. »Ruhe!« rief Sullivan. »Ruhe, verdammt noch mal! Sofort die Waffen nachladen! Los, los, beeilt euch!« Die Männer erwachten aus ihrer Siegestimmung. Sie besaßen hinreichende Erfahrung und waren kampferprobt genug, um rechtzeitig in die harte Wirklichkeit zurückzufinden. Sie schnappten sich die Pulverflaschen und beeilten sich, die Musketen und Arkebusen wieder schußbereit zu machen. Ein Blick zum Vorderkastell genügte Sullivan, um zu wissen, was bevorstand. Der alte Killigrew war schneeweiß vor Wut wie ein Pulverfaß mit brennender Lunte, das jeden Moment explodieren konnte. * Es waren Sir Johns Stimmbänder, die förmlich explodierten. Drohend, in ohnmächtigem Zorn, schüttelte er seine Fäuste zum Achterkastell hin. »Du verdammter dreckiger Bastard! Arschloch von einem Bootsmann! Dir werde ich die Därme eigenhändig aus dem Leib reißen! Dir werde ich zeigen, was es heißt, sich mit John Killigrew anzulegen!« Sullivan trat an die vordere Balustrade des Achterkastells. Die schwere Radschloßpistole hielt er bereits in der Rechten. »Auf was wartest du noch, du alter Hurenbock!« brüllte er zurück. »Komm her, wir erwarten dich! Und dir persönlich werde ich einen besonders freundlichen Empfang bereiten, du mistige Kakerlake!« Sir John kochte über vor Wut. Seine Stimme überschlug sich
und wurde mit jeder Silbe, die er hinausschrei, heiserer. »Du verrechnest dich, Bootsmann! Fang an, deine letzten Minuten zu zählen! Das ist nämlich das einzige, was du noch tun kannst! Oder schrei nach deiner verehrten königlichen Lissy! Schrei nach ihr, daß du ihr noch ein letztes Mal in den Hintern kriechen möchtest, wie du es Zeit deines nichtsnutzigen Lebens getan hast! Für mich bist du nichts weiter als ein Speichellecker dieses verdammten Weibsbilds einer Königin!« In Sullivan brannte die Lunte durch. Ruckartig riß er die Pistole hoch. Anvisieren und abdrücken gingen ineinander über. Im Krachen des Schusses, buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil, sprang der alte Killigrew zur Seite. Haarscharf sirrte das Projektil an seinem Schädel vorbei und bohrte sich weit hinter seinem Rücken klatschend in den Bugspriet. Sir John fing sein Gleichgewicht und stieß einen Wutschrei aus, der kaum noch menschlich klang. Sullivan ging hinter der Balustrade in Deckung, zog die Pulverflasche vom Gurt und lud seine Pistole nach. Währenddessen formierten sich zu beiden Seiten von ihm die Männer seiner Crew. Die Musketen- und Arkebusen-Schützen warfen sich flach auf die Planken und schoben die Läufe ihrer Waffen durch die Holzstäbe der Balustrade. Die Männer mit den Pistolen kauerten geduckt neben ihnen. »Angreifen!« brüllte Sir John, sprang mit einem Satz vom Vordeck und baute sich gestikulierend hinter dem Fockmast auf. »Bewegt euch, ihr Bastarde! Schießt sie in Stücke! Stürmt das Achterkastell! Ich will keinen von diesen Drecksäcken mehr lebend sehen!« Zögernd setzte sich die Killigrew-Mannschaft in Bewegung. Krampfhaft versuchten die Männer, jede Deckung auf der Kuhl auszunutzen. Sie wußten zwar, daß sie zahlenmäßig überlegen
waren, doch der Feuerkraft der bewaffneten Sullivan-Crew waren sie keinesfalls ebenbürtig. »Vorwärts!« schrie der alte Killigrew, hinter dem Fockmast geschützt. »Verdammt noch mal, ich trete euch in den Arsch, wenn ihr nicht angreift! Feuer! Blast ihnen das Hirn aus den Schädeln!« Reflexartig, vermutlich aus gewohnter Angst vor der selbstherrlichen Befehlsgewalt des alten Killigrew, riß einer der Männer den Abzug seiner Pistole durch. Die Kugel zischte viel zu hoch über das Achterkastell weg. Doch das Krachen dieses Schusses war es, wodurch das Inferno ausgelöst wurde. Die Killigrew-Meute konnte nicht mehr zurück. Mit wildem Gebrüll versuchten sie, sich gegenseitig Mut zu machen, während sie gegen das Achterkastell anrannten. Weitere Schüsse krachten. Kugeln bohrten sich in das Holz der Balustrade. Sullivan und seine Gefährten bewahrten eiserne Nerven. Sie ließen die Angreifer bis auf fünf Yards heran. Dann erst gab der Bootsmann das Kommando. »Feuer!« Musketen, Arkebusen und Steinschloßpistolen entluden sich in mörderischem Stakkato. Markerschütternde Schrei hallten über das Schiff. Eine dichte Wolke von beißendem Pulverdampf breitete sich aus und verwehrte den Blick auf das Knäuel der Männer unterhalb des Achterkastells. Aus dem Hintergrund war wieder Sir John geifernde Stimme zu hören. »Zweite Angriffswelle! Nicht locker lassen! Macht sie fertig! Jetzt erwischt ihr sie, bevor sie nachladen können! Vorwärts, ihr Lahmärsche!« Sullivan und seine Männer packten ihre Waffen bei den Läufen, richteten sich hinter der Balustrade auf - bereit, den zu
erwartenden Ansturm mit verbissener Entschlossenheit abzuwehren. Im verfliegenden Pulverdampf wurde das Chaos auf dem Deck der Kuhl erkennbar. Verwundete, die haltsuchend um sich griffen, behinderten jene, die noch einsatzfähig waren und verzweifelt versuchten, sich aus dem wirren Knäuel menschlicher Leiber zu befreien, um den wütenden Befehlen Sir Johns doch noch Folge zu leisten. Blutlachen breiteten sich auf den Decksplanken aus. In dem Gewühl waren mehrere leblose, verzerrte Körper zu sehen. Etwa zehn Männer schafften es schließlich, sich zu einer halbwegs intakten Front zu formieren und den geforderten Sturm gegen das Achterkastell zu riskieren. Ein wütender Hagel von Kolbenhieben empfing sie, bevor sie auch nur daran denken konnten, zur Balustrade aufzuentern und auf dem Deck des Achterkastells den Kampf von Mann zu Mann aufzunehmen. Vergeblich hieben sie mit ihren Spaken und Belegnägeln gegen die Gewehr- und Pistolenschäfte der Sullivan-Crew an. Als sich die ersten beiden Männer herumwarfen und die Flucht ergriffen, blieb die demoralisierende Wirkung auf die anderen nicht aus. Hastig zogen sie sich zurück, stolperten über die blutüberströmten Körper und erreichten schließlich keuchend den Decksraum zwischen Fockmast und Großmast. »Verdammt Feiglinge!« schrie Sir John und sprang mit hoch erhobenen Fäusten hinter dem Fockmast hervor. »Ihr wagt es, meine Befehle zu mißachten? Verdammt, ihr sollt das Achterkastell stürmen und euch nicht wie jämmerliche Waschlappen zurückziehen!« Die Männer zogen die Köpfe zwischen die Schultern. Im nächsten Moment warfen sie sich blitzartig auf die Planken.
Sullivan hatte seine Pistole nachgeladen und jagte eine Kugel in den Fockmast. Das Krachen des Schusses ließ Sir John verstummen. Erschrocken brachte er sich mit einem Satz wieder hinter dem Mast in Deckung. Ein grimmiges Lächeln in den Mundwinkeln, ließ Sullivan die Pistole sinken. Seine Gefährten stimmten ein rauhes Lachen an. Sie alle empfanden nichts als Verachtung für diesen alten Halunken, der sich nicht scheute, die Königin zu verhöhnen und zu beleidigen, der seine Männer wie Leibeigene behandelte, sie in den Kampf schickte und sich selbst feige hinter den Fockmast verholte. Sullivan war dagegen ein aufrechter und ehrlicher Mann, dem jeder aus der Crew bedingungslos vertraute. Mit seiner sauberen und geradlinigen Art fand er nur Anerkennung und Respekt. Da er selbst stets in der vordersten Linie kämpfte, war es für jeden seiner Männer selbstverständlich, sich ihm unterzuordnen. Die unversehrten Männer aus dem Haufen Killigrews verharrten unschlüssig vor dem Fockmast. Einige von ihnen packten helfend zu, als sich die Verwundeten schutzsuchend heranschleppten. Sir John ließ sich vorerst nicht wieder blicken, und es kümmerte ihn offenbar einen Dreck, was aus jenen Gefolgsleuten wurde, die von den Kugeln der Stammcrew tödlich getroffen worden waren. Erbittert blickten Sullivan und seine Gefährten auf das Deck der Kuhl, wo die Toten in ihrem Blut lagen. Fünf Männer waren es, die beim Ansturm gegen das Achterkastell ihr Leben gelassen hatten. Unvermittelt sah Sullivan, daß sich einer dieser fünf noch schwach bewegte. Blut rann dem Mann in pulsierenden Strömen aus einer klaffenden Wunde in der Herzgegend. Auch die anderen, die neben dem Bootsmann standen, sahen
es jetzt. Keiner aus der Killigrew-Mannschaft rührte einen Finger. Sir John dachte offenbar am allerwenigsten daran, die notwendigen Befehle zu geben, damit die Verwundeten versorgt wurden. »Dieses widerwärtige Schwein«, flüsterte Thomas Canter tonlos. »Selbst seine eigenen Leute sind ihm nicht mehr wert als das Schwarze unter den Fingernägeln.« Sullivan brachte kein Wort hervor. Er konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Wenige Atemzüge später streckte sich der Mann, der sich eben noch bewegt hatte. Selbst auf die Entfernung von mehreren Yards war deutlich zu erkennen, daß der letzte Lebensfunke aus ihm gewichen war. Gewiß, wahrscheinlich hätte er es ohnehin nicht überlebt. Aber es blieb der Zweifel, ob er nicht noch eine Chance gehabt hätte, wenn der Blutfluß rechtzeitig abgebunden worden wäre. Der Zorn, den die Männer der Stammcrew auf den alten Killigrew und seine Strolche verspürten, steigerte sich ins Unerträgliche. Jedem von ihnen juckte es jetzt höllisch in den Fingern, dem ehrenwerten Sir John den Marsch zu blasen, daß ihm Hören und Sehen verging. Und die Aussichten, daß sich das Blatt allmählich doch zugunsten der Sullivan-Crew wendete, standen allem Anschein nach nicht schlecht. Die Kampfmoral der Killigrew-Meute war auf ein Minimum herabgesunken. Deutlich war den niedergeschmetterten Mienen der unverwundeten Männer abzulesen, daß sich alles in ihnen dagegen sträubte, weitere irrsinnige Angriffsbefehle ihres Dienstherrn zu befolgen. Sullivan hatte bislang keine Verluste, nicht einmal Verwundete zu beklagen. Damit war das Kräfteverhältnis rein zahlenmäßig ungefähr ausgeglichen. Doch was die Bewaffnung betraf, war die Stammcrew ihren Gegnern inzwischen weit überlegen. Mit seinem Sohn konnte Sir John nach dem Stand der Dinge
kaum noch rechnen. Simon Llewellyn umkreiste die ›War Song‹ mit seiner Schaluppe unschlüssig und in respektvollem Abstand von gut hundert Yards. Offenbar war der ferkelgesichtige Sproß des alten Killigrew hoffnungslos in Unsicherheit geraten, und es verwunderte niemanden aus Sullivans Crew, daß Simon Llewellyn sich zu keinem Entschluß durchringen konnte, abermals in das Kampfgeschehen einzugreifen. Alles in allem saß der ehrenwerte Sir John Killigrew erheblich in der Patsche. Zwar hatte er nach wie vor mehr als die Hälfte des Schiffes besetzt. Aber das nützte ihm herzlich wenig. Achtern war nun einmal das Ruder, und solange er sich nicht die Gewalt über das Ruder verschaffen konnte, war seine Vormachtstellung weniger als die Hälfte wert. Sullivan und seine Männer hielten den strategisch entscheidenden Punkt an Bord besetzt - und das galt neben dem Ruder insbesondere auch für die Pulverkammer und die Waffen, die sie zur Verfügung hatten. Eine unnatürliche Ruhe war auf der Karavelle entstanden. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe körperlich zu spüren. Gebannt blickten der Bootsmann und seine Gefährten zum Vorschiff. Schweigend warteten sie darauf, daß der alte Killigrew wieder aus der Versenkung auftauchte. Eine böse Vorahnung veranlaßte Sullivan, die Zeit zu nutzen. »Nachladen!« befahl er halblaut. »Die Drehbassen wieder mit doppelter Ladung.« Thomas Canter, Hornblow, Rufus und die anderen, beeilten sich, der Anordnung Folge zu leisten. Sie wußten, daß Sullivan ein sicheres Gespür dafür hatte, wie sich die Dinge entwickeln konnten. Wenn er noch nicht daran glaubte, daß der alte Killigrew aufgab, dann hatte er mit Sicherheit seine Gründe dafür - selbst wenn es sich nur um einen untrüglichen Instinkt handelte, aus dem heraus Sullivan seine Entscheidungen traf.
9. »Sherrard und Morse!« brüllte Sir John unvermittelt, ohne sich jedoch hinter dem Fockmast hervorzuwagen. Die beiden Männer, noch unverwundet, zuckten zusammen. Unwillig drehten sie sich um. Die Tatsache, daß der alte Killigrew sein Augenmerk ausgerechnet auf sie lenkte, bereitete ihnen Unbehagen. Denn garantiert war es alles andere als eine angenehme Aufgabe, die er für sie auf Lager hatte. »Sir?« sagte Sherrard kleinlaut. Killigrews heisere Stimm scholl hinter dem Fockmast hervor. »An die Drehbassen mit euch beiden! Und zwar plötzlich! Schießt die verdammten Arschlöcher auf dem Achterkastell zusammen! Es ist mir egal, was dabei herauskommt. Ich habe die Schnauze endgültig voll. Schießt sie zusammen, daß nur noch Kleingehacktes von ihnen übrigbleibt!« Sherrard und Morse zögerten. Ihre Blicke wanderten zu den drohenden Musketen, Arkebusen und Pistolen, die vom Achterkastell her praktisch jeden Winkel des Schiffes bestreichen konnten. Der Weg zu den beiden Drehbassen auf dem Vorderkastell bot nur sehr wenige Deckungsmöglichkeiten. Sir John schob vorsichtig sein zorngerötetes Gesicht hinter dem Fockmast hervor. »Wollt ihr meutern?« schrie er, außer sich vor Wut. »An die Drehbassen! Zum letztenmal! Wenn ihr nicht sofort gehorcht ...« Er zog hastig den Kopf zurück, als er sah, daß Sullivan erneut seine Radschloßpistole hob. Obwohl Sir Johns Sturheit alle anderen Eigenschaften in ihm überwog, hatte ihm der Bootsmann mit seiner gefährlichen Waffe inzwischen doch erheblichen Respekt eingeflößt.
Sherrard und Morse sahen keinen anderen Ausweg, als dem Befehl Folge zu leisten. Immerhin mußten sie damit rechnen, daß Sir Johns Autorität trotz allem ungebrochen blieb. Die Angst, wegen Meuterei zur Rechenschaft gezogen zu werden, war stärker als ihre Angst, auf dem Weg zu den Drehbassen von einer Kugel erwischt zu werden. Geduckt hasteten die beiden Männer zum Deck des Vorderkastell hinauf. »Brennen wir ihnen eins auf den Pelz?« stieß Hornblow hervor, wobei er seinen angeschwollenen Schädel betastete. »Nein«, antwortete Sullivan rauh. Mehr nicht. Es genügte. Die Männer begriffen sofort, daß es der innersten Einstellung ihres Bootsmann widersprach, Wehrlosen in den Rücken zu schießen. Dabei spielte es keine Rolle, daß aus der erneuten Besetzung der beiden vorderen Drehbassen böse Konsequenzen entstehen konnten. Sullivan reagierte auf eine völlig andere, wirkungsvollere Weise. »Killigrew!« rief er mit Donnerstimme. »Hör jetzt gut zu! Wenn du tatsächlich die Drehbassen einsetzt, passiert etwas, womit du nicht rechnest!« Sherrard und Morse, die die mit gehacktem Blei geladenen Waffen schon fast erreicht hatten, prallten zurück. Geduckt verharrten sie, spähten erst zu Sir John und dann zu den Männern auf dem Deck des Achterkastells. »Laßt euch von dem Bastard nicht irremachen!« schrie der alte Killigrew wild. »Los, los, an die Drehbassen!« Sherrard und Morse zögerten noch immer. »Killigrew, ich warne dich!« rief Sullivan. Die Blicke seiner Gefährten hingen voller Spannung an seinen Lippen. Noch ahnten die Männer nicht, womit er das alte Schlitzohr packen wollte. »Schenk dir dein Gewäsch, du Hurensohn!« brüllte Sir John zurück.
»Es sollte dich aber interessieren«, entgegnete Sullivan unbeirrt. »Wenn du nämlich deine beiden Drehbassen wirklich einsetzt, lasse ich auf der Stelle die Schaluppe mit deinem sauberen Söhnchen in Fetzen schießen!« Die Mienen von Sullivans Männern entspannten sich, und sie nickten anerkennend. Das war in der Tat eine Drohung, die es in sich hatte - etwas, womit der alte Killigrew buchstäblich an der Gurgel gepackt wurde. Es bestätigte sich dadurch, daß Sir John nicht sofort in der Lage war, zu antworten. Daß die Drohung des Bootsmanns ernstgemeint war, ließ sich nicht bezweifeln. Es raubte dem alten Killigrew fast den Atem. Die Gedanken rasten hinter seiner Stirn. Wenn es wichtige Gefühle für ihn gab, dann war es sein Familiensinn. Seine Sippe bedeutete ihm alles, was ihm hoch und heilig ausgenommen natürlich der Bastard Hasard, der letzten Endes auch noch die Wurzel allen Übels war. Sir Johns Innerstes geriet in Aufruhr. Schweiß perlte über seine Stirn. Hölle und Teufel, er hatte bereits seinen Erbfolger verloren. Wenn jetzt auch noch Simon Llewllyn daran glauben sollte, war der Fortbestand des Namens der Herren von Arwenack ernsthaft gefährdet. Sir John hatte das Gefühl, daß das Blut in seinen Adern zu kochen begann. Er wußte, daß er mit jeder verstreichenden Sekunde quälender zu einer Entscheidung gedrängt wurde. Verdammt noch mal, die Familie bedeutete ihm alles. Einerseits. Aber es gab noch eine andere Seite, und über die konnte Sir John bei allem Familiensinn nicht hinweg. Die zweite Seele, die in seiner Brust hauste, bestand aus seiner unbezwingbaren Gier nach Reichtum - jene Gier, die in ihm wühlte und nagte wie eine gefräßige Ratte. Und nur dieser lächerliche Popanz von einem Bootsmann versperrte ihm den Weg zu dem schon legendären Beuteschatz,
der Sir Johns Wohlstand ins Grenzenlose steigern sollte. Gold und Edelsteine! Unermeßliche Werte, die im Bauch der ›Isabella‹ ruhten! Sir Johns kreisende Gedanken konnten sich von diesen Kernpunkten nicht mehr lösen. Und so wurde seine Entscheidung ausschließlich von der Utopie des Goldes bestimmt, dem er nachjagte. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, was mit der Schaluppe passiert!« schrie er. »Sherrard und Morse, ihr besetzt auf der Stelle die Drehbassen und schießt das Achterkastell mitsamt den Hurensöhnen in Stücke. Dieser Befehl ist unwiderruflich. Ich rate euch, augenblicklich zu parieren. Wenn nicht...« Den Rest der Drohung ließ er unausgesprochen. Sherrard und Morse gehorchten. Mit zwei, drei Sätzen waren sie an den Schulterstücken der Drehbassen, rissen sie herum, richteten die mächtigen Läufe auf das Achterkastell. »Rufus, Hornblow!« sagte Sullivan kalt. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt.« Die beiden Männer stellte keine Fragen. Blitzschnell waren sie an den Drehbassen, die mit ihren doppelten Pulverladungen eine verheerende Feuerkraft besaßen. Wummernd spien die beiden Waffen Feuer. Im nächsten Atemzug krachte der erste Schuß aus der vorderen Backbord-Drehbasse. Sullivan und die anderen warfen sich hin. Doch zwei Männer aus der Stammcrew waren nicht schnell genug. Die Bleiladung packte sie und schleuderte sie wie leblose Spielzeugpuppen außenbords. Ihre Schreie gellten schmerzlich in Sullivans Ohren. Er spürte, wie der Zorn in ihm zu sieden begann. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Rufus und Hornblow bereits mit den beiden ersten Schüssen die an
Steuerbord segelnde Schaluppe knapp unterhalb der Wasserlinie getroffen hatten. Wildes Gebrüll wurde an Deck des Einmasters laut. Die Schaluppe neigte sich beängstigend rasch nach Backbord. Auf dem Vordeck der Karavelle zögerten Sherrard und Morse, weitere Schüsse abzufeuern. Die Tatsache, daß Sullivan seine Drohung wahrmachte, ließ sie unschlüssig werden. Doch sie warteten vergeblich auf eine Entscheidung von Sir John Killigrew. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der alte Killigrew zu der Schaluppe hinüber. Routiniert und zügig luden Hornblow und Rufus die Drehbassen nach. Abermals donnerten die Waffen, und das grelle Mündungsfeuer stieß weit nach Steuerbord über die Deckbalustrade hinaus. Sir Johns Unterkiefer sank haltlos nach unten. Fassungslosigkeit und Entsetzen lähmten ihn sekundenlang. Wieder hatten beide Schüsse getroffen. Der Mast der Schaluppe neigte sich splitternd nach achtern, und im nächsten Augenblick krachte er mitsamt Segel und Gaffelrute auf die Planken. Markerschütternde Schreie verkündeten, daß einige der Männer nicht rechtzeitig ausgewichen waren. Dem alten Killigrew krampfte sich das Herz zusammen. Die zweite Drehbasse hatte an Backbord ein weiteres Leck in den Rumpf der Schaluppe gerissen. Der Einmaster erhielt von Sekunde zu Sekunde mehr Schlagseite, und dann zog auch das neue Leck Wasser. Es war das Ende für die Schaluppe Simon Llewellyns. Männer sprangen schreiend über Bord. Gellende Hilferufe hallten weit über das Wasser Splitternd und berstend brach der Rumpf der Schaluppe in der Mitte auseinander, als die Wassermassen rasend schnell hineinfluteten und mit urgewaltigen Druck Spanten und
Planken zerrissen. Die Schaluppe sank. Und sehr rasch verstummten auch die Hilferufe. Sir John Killigrew erwachte aus seiner Fassungslosigkeit, als er aus den Augenwinkeln heraus eine hastige Bewegung auf dem Deck des Achterkastells wahrnahm. Sullivan hatte seine Wut nicht länger unterdrücken können. Da war einmal der Umstand, daß zwei seiner Männer getötet worden waren. Und dann war es die unglaubliche Kaltschnäuzigkeit des alten Killigrew, der für einen Schiffsbauch voller Gold das Leben seines leibhaftigen Sohnes eiskalt in die Waagschale warf. Hornblow und Rufus hatten nachgeladen, hatten jedoch nicht mehr gefeuert, weil die Schaluppe keinen Fangschuß mehr benötigte. Mit einem einzigen Satz war Sullivan an der BackbordDrehbasse. Rufus wich reaktionsschnell beiseite. Mit schmalen Augen, die Lippen aufeinandergepreßt, riß der Bootsmann die Waffe herum. Er brauchte nur einen winzigen Moment, um anzuvisieren und zu feuern. Er verstand sein seemännisches Handwerk in jeder Beziehung - auch was den zielsicheren Umgang mit Waffen betraf. Die Decksplanken erzitterten unter dem Donnern des Schusses. Es folgte ein Bersten, das allen Männern an Bord durch Mark und Bein ging. Der Fockmast neigte sich nach vorn. Ein auseinanderklaffendes Bündel faseriger Holzsplitter entstand etwa zwei Fuß hoch über den Decksplanken. Sir John stieß einen heiseren Laut des Entsetzens aus. Mit einem Sprung schnellte er hinter dem eben noch schützenden Mast hervor, stolperte, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen das Backbordschanzkleid. Benommen blieb er liegen.
Der Fockmast neigte sich schneller. Auch die übrigen Männer der Killigrew-Mannschaft spritzten erschrocken auseinander, obwohl ihnen weniger Gefahr drohte. Sherrard und Morse verließen fluchtartig die Drehbassen und brachten sich mit einem Sprung auf das Deck der Kuhl in Sicherheit. Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug der Fockmast im nächsten Moment auf das Vordeck. Ein Zittern lief durch den Schiffsrumpf. Einige der Killigrew-Männer wurden von der herabwirbelnden Takelage erfaßt und zu Boden geworfen. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich aus dem Gewirr der Taue zu befreien. Sullivan sah die entscheidende Chance, und er zögerte nicht einen Moment. »Stürmt das Vordeck!« brüllte er, und allen anderen voran flankte er mit einem gewaltigen Schwung über die Balustrade weg auf das Deck der Kuhl. Die übrigen Männer der Stammcrew folgten ihm sofort, stimmten ein Gebrüll an, mit dem sie sich gegenseitig anfeuerten und das auf die Gegner höllisch demoralisierend wirkte. So waren es nur zwei, drei klägliche Schüsse, die der Sullivan-Crew entgegenschlugen, ohne Schaden anzurichten. Bevor die Killigrew-Meute zur Besinnung gelangte, brach der Angriff wie ein heiliges Donnerwetter über sie herein. Sullivans Männer begnügten sich mit wenigen gezielten Schüssen. Dann packten sie ihre Waffen bei den Läufen und benutzten sie, um mit den Schäften auf die zurückweichenden Killigrew-Männer einzuprügeln. Sullivan wußte, daß er sich um das Kampfgeschehen nicht mehr sonderlich zu kümmern brauchte. Durch seinen immer noch nicht verrauchten Zorn hatte er nur noch ein Ziel vor Augen: Sir John Killigrew.
Blinzelnd und mit glasigen Augen rappelte sich der Alte am Schanzkleid auf, als der Bootsmann mit der Vehemenz eines gereizten Stiers auf ihn losstürmte. Sir John zuckte zusammen, wie vom Blitz getroffen. Zitternd griff er nach seiner Pistole und versuchte verzweifelt, sie rechtzeitig aus dem Gurt zu reißen. Er schaffte es noch, die Waffe freizubekommen. Aber schon im selben Moment war Sullivan zur Stelle und schmetterte ihm mit einem gnadenlosen Fußtritt die Pistole aus der Hand. In hohem Bogen wurde die Waffe nach außenbords geschleudert. Sir John schrie auf und hielt sich das schmerzende Handgelenk mit der unversehrten Linken. In panischer Angst wollte er zur Seite ausweichen. Aber Sullivan erkannte seine Reaktion rechtzeitig, stellte sich darauf ein und packte ihn am Kragen. Mit eisenhartem Griff zog er ihn zu sich heran. »Auf diesen Augenblick habe ich gewartet«, sagte Sullivan heiser. Sir John erbleichte. Seine Augen begannen zu flackern, der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. Aber der Bootsmann kannte kein Erbarmen mit diesem Mann, dem ein Menschenleben und selbst das Leben des eigenen Sohnes absolut nichts bedeuteten. Während die Männer der Stammcrew den rasch zusammenschmelzenden Widerstand der Killigrew-Meute zerschlugen, bezog Sir John die schlimmsten Prügel seines Lebens. Sullivan trieb ihn mit eisenharten Fausthieben vor sich her in Richtung Achterkastell. Bei jedem Schlag ging ein Ruck durch den massigen Körper des alten Killigrew. Aber er hielt sich erstaunlich lange aufrecht. Am Großmast nagelte Sullivan ihn buchstäblich mit seinen Fäusten fest. Und er zerschlug den letzten Rest von Stolz und Widerstandskraft, der in Sir John noch vorhanden gewesen
war. Sein Gesicht war von den gnadenlosen Hieben des bärenstarken Bootsmanns gezeichnet, als die Bewußtlosigkeit den alten Killigrew von den seelischen und körperlichen Schmerzen erlöste. In seinen Augen stand ein ungläubiger Ausdruck, als er in sich zusammensackte, und es hatte den Anschein, als begriffe er nicht einmal mehr, wer er war und wo er war. * Halbdunkel und muffig riechende Luft umgaben ihn, als er wieder zu sich kam. Sein Bewußtsein war zurückgekehrt, doch seine Sinne waren noch nicht klar genug, um die Wirklichkeit zu begreifen. Mühsam blinzelnd versuchte Sir John Killigrew, seine Umgebung zu erfassen. Er sah nichts weiter als verschwommene Schatten in diesem elenden Halbdunkel, Als er versuchte, sich zu bewegen, hörte er das Klirren von Ketten. »Was - was ist los?« fragte er heiser. Nichts war mehr von der gewohnten Arroganz und selbstherrlichkeit in seiner Stimme. »Wo bin ich? Ist denn hier keiner?« »Doch, Sir«, antwortete jemand, den er nicht sofort an der Stimme erkannte. Nur allmählich begriff Sir John mit seinen immer noch umnebelten Sinnen, daß es sich um jemanden aus seiner Mannschaft handelte. Er stöhnte. Die Schmerzen, die in seinem Schädel und in seinem Oberkörper tobten und brachten ihn fast an den Rand einer neuen Bewußtlosigkeit. »Ich - ich will wissen, was passiert ist«, sagte er mühsam. Der Mann, der zuvor schon geantwortet hatte, räusperte sich verlegen. Im Halbdunkel war sein Gesicht nicht zu erkennen. »Rede endlich!« forderte Sir John drängend, und es klang wie das flehentliche Bitten eines kleinen Kindes. Seine Verzweiflung rührte aus dem Unterbewußtsein her. Denn erst
jetzt dämmerte es ihm, was er durch sein Handeln hervorgerufen hatte. Den Tod seines Sohnes Simon Llewellyn! »Sie haben - uns - fertiggemacht«, sagte der Mann aus der Crew stockend. »Wir konnten beim besten Willen nichts mehr gegen sie ausrichten. Sie waren uns überlegen.« »Mein Gott«, sagte Sir John stöhnend. »Verdammt, wo sind wir jetzt?« »In der Vorpiek, Sir. Sie haben uns angekettet. Diesmal sind sie aufs Ganze gegangen. Wir haben keine Chance mehr.« »Wie viele seid ihr noch?« Sir John ächzte, denn die Schmerzen in seinem Schädel wallten erneut auf. »Zwölf Mann, Sir. Alle anderen sind tot.« Es traf den alten Killigrew wie ein imaginärer Fausthieb. Er war nicht mehr imstande, zu antworten. Seine Crew war nahezu auf die Hälfte zusammengeschmolzen, angekettet, hilflos wie Kinder. Und Simon Llewellyn tot. Sir John verfiel in einen Zustand dumpfen Vor-sich-hinBrütens. Seine Gedanken waren wie ausradiert. Düstere Leere erfüllte sein Gehirn. Er wußte nicht, wie lange dieser Zustand anhielt, wie lange er in sich selbst versunken gewesen war, von Schmerzen gepeinigt, ohne die Nähe seiner betreten schweigenden Männer wahrzunehmen. Jäh wurde Sir John aus seinem Dämmerzustand wachgerüttelt. Das Vorpiekschott flog auf. Grelles Licht flutete herein. Sir John und auch die anderen kniffen geblendet die Augen zusammen. Zwei Männer waren es, die mit harten Schritten hereinpolterten. In ihrer Mitte schleiften sie einen Dritten mit, der sich aus eigener Kraft nicht aufrecht halten konnte. Sir John riß die Augen weit auf. Grenzenlose Ungläubigkeit erschien auf seinen schmerzverzerrtem Gesicht. Diese Statur, dieser Körperbau - das war ... »Simon Llewllyn!« hauchte er tonlos.
»Ja, ich bin es«, sagte Simon mit heiserer, erstickter Stimme, die merkwürdig fremd klang. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. »Du hast es verdammt nicht verdient, Killigrew«, sagte Sullivan, der Simon Llewellyn gemeinsam mit Thomas Canter hereinschleppte. »Aber wir bringen dir deinen mißratenen Sprößling trotzdem. Wir haben ihn aus dem Wasser gefischt, weil wir es nicht fertigbringen, einen Menschen elend ersaufen zu sehen, wenn wir etwas dagegen tun können.« Ohne weitere Worte zu verschwenden, ketteten die beiden Männer den Sohn neben dem Vater an. Simon Llewellyn schnaufte, als sie sich aufrichteten. Zusammengesunken hockte er da. Er vermochte sich nicht mehr zu rühren, denn die körperliche Anstrengung und die Angst vor dem Ertrinken hatten seine Kräfte restlos aufgezehrt. Sullivan und Canter ließen die Gefangenen allein. Krachend fiel das Vorpiekschott zu, und es herrschte wieder das bedrückende Halbdunkel. »Mein Junge«, sagte Sir John nach langem Schweigen, und es bereitete ihm hörbare Mühe, diese Worte hervorzubringen. »Wie hast du es nur geschafft, zu überleben?« »Ich hatte Glück«, antwortete Simon Llewellyn schweratmend. »Einfach Glück. Das war alles. Ich bekam einen Teil vom Mast zu fassen und konnte mich über Wasser halten. Ich weiß nicht, wie lange das gedauert hat. Aber ich glaube, es waren Stunden, bis sie mich herausgeholt haben.« »Diese dreckigen Bastarde«, sagte Sir John zähneknirschend, und er brachte nicht einen Hauch von Dankbarkeit auf. Jetzt, da er seinen Sohn lebend bei sich hatte, kehrte ein Teil seiner alten Selbstherrlichkeit zurück. Nicht mehr sich selbst gab er die Schuld dafür, daß Simon Llewellyn in Lebensgefahr geraten war. Mühelos verdrängte er einen solchen Gesichtspunkt aus seinem Denken und schob alles diesem elenden Bootsmann zu, der in seinen Überlegungen nun wiederum für alles
verantwortlich war, was ihm, seinem Sohn und seiner Mannschaft zugestoßen war. »Alle anderen von der Schaluppe sind tot«, sagte Simon Llewellyn noch. Doch Sir John hörte schon nicht mehr hin. Diese Information war für ihn unerheblich. Sein Denken hatte sich längst auf einen anderen Punkt konzentriert: Sie lebten. Simon Llewellyn und er waren wieder vereint, und sie lebten. Das war alles, was im Augenblick zählte. Und darauf ließ sich aufbauen. Mit jeder Minute wurden Sir Johns Sinne klarer. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Er war kein Killigrew, wenn es ihm nicht gelingen sollte, einen rettenden Gedanken zu fassen. Solange sie am Leben waren, gab es immer noch Aussicht auf Besserung. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. Gewiß, in einer so schlimmen Lage wie jetzt hatte er sich noch nie befunden. Aber das mußte nicht unbedingt etwas bedeuten. Vielleicht nur so viel, daß er wesentlich mehr Zeit brauchen würde als sonst, um die Situation zuletzt doch noch zu seinen Gunsten zu wenden. Sein Blick war klarer geworden. Er sah sich um. Simon Llewellyn. Zwölf Mann. Und er selbst. Es mußte mit dem Teufel zugehen, wenn sich darauf nichts aufbauen ließ. Nicht unbedingt heute, nicht unbedingt morgen, vielleicht erst in Tagen oder Wochen. * Sullivan stand breitbeinig auf dem Deck des Achterkastells und überwachte das Geschehen an Bord. Jeder einzelne seiner Männer, insgesamt waren sie noch dreizehn, packte so kräftig zu, als hätte der Kampf mit den Killigrew-Strolchen überhaupt nicht stattgefunden.
Thomas Canter und sechs Mann arbeiteten fieberhaft daran, einen neuen Fockmast zu bauen. Die anderen hatten die Toten der See übergeben und waren nun damit beschäftigt, die Decksplanken zu reinigen und die kleineren Gefechtsschäden zu beseitigen. Sullivan lächelte ein hartes Lächeln. Verdammt, er war stolz auf diese Männer, die so bedingungslos hinter ihm standen. Hätte es sich anders verhalten, wäre es ihnen niemals gelungen, den alten Killigrew und seine Meute zu bezwingen. Darüber war sich der Bootsmann im klaren. Von Killigrew und den überlebenden Männern drohte keine Gefahr mehr. Was mit ihnen geschehen sollte, mußte später entschieden werden. Sullivan betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, zunächst die ›Isabella‹ zu finden und sich der Crew des Seewolfs mit der Karavelle als Begleitschutz zur Verfügung zu stellen. Wenn das geschafft war, konnte man darüber befinden, was aus den Gefangenen werden sollte. Während die Arbeiten an Deck zügig fortgesetzt wurden, kümmerte Sullivan sich um die Munitionsvorräte und die Waffen. Sie waren noch immer bestens gerüstet und damit hervorragend für einen wirkungsvollen Schutz der ›Isabella‹ geeignet. Noch bei Tageslicht gelang es Thomas Canter und den anderen, den neuen Fockmast aufzubauen und die Takelage wieder herzurichten. Sullivan verlor keine Zeit. Er ließ ankerauf gehen und volles Tuch setzen. Bis zu der Nordküste von Cornwall waren es nur wenige Seemeilen. Die Suche nach dem Beuteschiff des Seewolfs konnte schon in wenigen Stunden beginnen.
ENDE
Der einsame Küstenwolf von Burt Frederick
Mit Sir John wird abgerechnet. Dan O’Flynn ist es gelungen, Unruhe unter die Mannschaft des alten Killigrew zu tragen. Aber noch immer ist Sir John hinter der Schatzbeute des Seewolfs her, und sein Haß wird immer größer. Er setzt alles auf eine Karte, um aus seinem Gefängnis auszubrechen und kalte Rache für alles zu nehmen, was ihm die Männer des Seewolfs angetan haben. In einer finsteren Februarnacht bahnt sich die Entscheidung an ...