Nr. 384
Duell der vertauschten Seelen In der Gewalt der Piraten vom Regenfluss von H. G. Francis
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Nr. 384
Duell der vertauschten Seelen In der Gewalt der Piraten vom Regenfluss von H. G. Francis
Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen wor den. Der Kontinent, der unbeeinflußbar auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Korsallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischen Trümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen hat. Die Zukunft sieht also nicht gerade rosig aus für Atlan und seine Mitstreiter. Alles, was sie gegenwärtig tun können, ist, die Lage auf Pthor zu stabilisieren und eine ge wisse Einigkeit unter den verschiedenartigen Clans, Stämmen und Völkern herbeizu führen. Die angestrebte Einigkeit der Pthorer ist auch bitter nötig, denn Pthor bekommt es mit den Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus. Während anhaltende krolocische Spähertätigkeit auf Pthor Atlan dazu bewegt, Vorbereitungen gegen eine drohende Invasion zu treffen, spitzt sich für zwei unter den Pthorern weilende Männer, deren Körper vertauscht sind, die persönliche Situati on dramatisch zu. Wir meinen Kennon, den Terraner, und Grizzard, den ehemaligen Schläfer. Haß- und Rachegefühle kennzeichnen das Verhältnis der beiden zueinander. Kein Wunder daher, daß es zwischen den Männern zum Kampf kommt – zum DUELL DER VERTAUSCHTEN SEELEN …
Duell der vertauschten Seelen
3
Die Hautpersonen des Romans:
Kennon und Grizzard - Die Vertauschten im Duell.
Thalia - Die Odinstochter in Gefangenschaft.
Atlan - Der König von Pthor begegnet einem alten Freund.
Athephet, Treall und Astrak - Piraten vom Regenfluß.
1. Überlistet Dorguet, der Anführer der Bewohner von Goris, stieß mit dem Fuß gegen das stähler ne Bein der Porquetor-Rüstung und blickte Thalia an. Die Tochter Odins hatte den Zugor verlassen, mit dem sie gekommen war. »Das war Rettung in letzter Sekunde«, sagte er, deutete auf Kennon, der kaum zwei Schritte entfernt von der Rüstung im Sand lag. Kennon war vor Grizzard-Porquetor ge flüchtet. Als dieser ihn fast eingeholt hatte, war Thalia erschienen und hatte beide mit einem Waggu paralysiert. Damit war der Kampf der beiden zu Ende gewesen. Der Halbroboter aber bewegte sich noch immer. Grizzard, der in ihm steckte, war bewußtlos. Er konnte ihn nicht abschalten. Daher stieß Porquetor die Beine abwechselnd nach oben, ohne dabei auch nur einen Zentimeter weit voranzukommen. »Wenn der da drinnen nicht bald zu sich kommt, gräbt sich die Rüstung in den Sand ein und verschwindet für alle Zeiten«, fügte Dorguet hinzu, als Thalia nicht auf seine Worte einging. »Was ist hier los?« herrschte sie ihn an. »Warum hast du mich belogen? Warum hast du behauptet, der Stählerne sei nach Moon drag weitergezogen, während er tatsächlich im Lager war?« Dorguet fuhr sich mit beiden Händen durch das üppig sprießende rote Haar. »Das hatte verschiedene Gründe«, erwi derte er in einem Tonfall, der Thalia zeigte, daß ihr Zorn ihn nicht beeindruckte. »Vielleicht werde ich sie dir später nennen.« »Ich will es sofort wissen«, rief sie dro hend. »Sie fallen mir im Moment wahrhaftig
nicht ein«, behauptete er unter dem Geläch ter der Männer und Frauen, die ihn, Thalia, Grizzard-Porquetor und Kennon umgaben. »Ach, verschwinde«, sagte sie ärgerlich und stieß ihn zur Seite. Dorguet wich bis zu seinen Leuten zu rück, während die Tochter Odins sich neben Kennon niederkniete und ihm die Lider mit den Fingern zuschob, damit die Augäpfel während seiner Bewußtlosigkeit nicht aus trockneten. »Laß dir das nicht gefallen«, wisperte ei ner der Männer Dorguet zu. »Sie hat kein Recht dazu, dich so anzuschreien.« »Das denke ich auch«, erwiderte er. »Ich weiß auch schon, wie wir ihr zeigen, daß sie sich hier höflich zu benehmen hat.« Flüsternd erteilte er seine Anweisungen, und Sekunden später schloß sich der Ring der Neugierigen noch enger. Thalia bemühte sich, die Porquetor-Rü stung zu öffnen. Sie wollte sie abschalten, da sie sich tatsächlich immer tiefer in den Sand wühlte und somit die Gefahr bestand, daß der Kennon-Körper mit dem GrizzardBewußtsein darin erstickte. Da sie jedoch nicht wußte, wo die Verschlüsse waren und wie diese bedient werden mußten, erreichte sie praktisch nichts. Dorguet kniete neben ihr nieder. »Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte er, wobei er vorsichtig den rhythmisch nach oben stoßenden Armen auswich. »Wir müssen sie zur Seite ziehen«, ent gegnete sie, »bevor sie so tief im Sand steckt, daß wir sie nicht mehr bewegen kön nen.« »Kommt her, Leute«, befahl der Rothaari ge. »Helft, die Rüstung aus dem Sand zu ziehen.« Einer der Männer hatte ein Drahtseil da bei. Er warf es der Porquetor-Rüstung über
4 den Kopf. Einige Männer gesellten sich zu ihm. Gemeinsam zogen sie am Seil, und all mählich löste sich die schimmernde Rüstung aus dem Sand. Doch kaum hatte die unentwegt arbeiten de Rüstung einen anderen Platz erreicht, als sie sich erneut einzuwühlen begann. Während Thalia noch überlegte, was nun zu tun war, fielen Arme und Beine der Rü stung plötzlich auf den Boden herab und blieben ruhig liegen. »Laßt mich in Ruhe«, tönte es krächzend aus der Rüstung hervor. »Verschwindet.« »Grizzard«, rief Thalia und sank neben der Rüstung auf die Knie. »Hörst du mich?« »Ich höre dich«, antwortete Grizzard, des sen Bewußtsein in dem verwachsenen Kör per Kennons lebte. »Was willst du von mir?« »Ich soll dich zu Atlan in die FESTUNG bringen«, erwiderte sie, froh darüber, daß er sich endlich aus der Paralyse gelöst hatte. Sie blickte flüchtig zu dem Grizzard-Körper hinüber, in dem das Kennon-Bewußtsein lebte. Dort war die Lähmung noch voll wirk sam. »Laß mich in Ruhe«, forderte Grizzard er neut. »Ich will nichts von dir oder Atlan wissen.« Thalia erhob sich. Forschend blickte sie Dorguet an. »Was ist geschehen?« fragte sie. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« »Wir haben versucht, unsere Not zu lin dern, da man uns in der FESTUNG offenbar vergessen hat«, antwortete Dorguet. »Wir in der FESTUNG haben genug mit uns selbst zu tun«, erklärte Thalia. »Pthor ist von unbekannten Invasoren bedroht. Noch wissen wir nicht, wie wir einen Überfall ver hindern sollen. Unter diesen Umständen muß sich jeder selbst helfen, so gut es geht.« »Ich stimme völlig mit dir überein«, sagte Dorguet spöttisch. »Genau das haben wir getan, und so halten wir es auch jetzt.« Thalia wunderte sich, weshalb er so ei genartig grinste. »Wir haben ihn ein wenig für uns arbeiten
H. G. Francis lassen«, fuhr der Rothaarige fort und zeigte auf Porquetor-Grizzard, der noch immer auf dem Boden lag. »Das scheint ihn ermüdet zu haben.« Die Tochter Odins wandte sich um und wollte zum Zugor gehen. Sie wollte Griz zard und Kennon in die Flugmaschine legen lassen und dann beide zur FESTUNG flie gen. Doch der Zugor war nicht mehr da! Als die Bewohner von Goris vor Thalia zurückwichen, gaben sie den Blick auf die kümmerlichen Reste der Flugmaschine frei. Sie bestanden aus zwei Bodenblechen und einigen Stahlklammern. Das war alles, was von dem Zugor geblieben war. Thalia war so überrascht, daß sie keine Worte fand. Sie drehte sich um und blickte Dorguet an. Ihre Lippen zuckten. Der An führer der Lagerbewohner gab sich ahnungs los. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte er. Thalia schrie wütend auf. »Was habt ihr gemacht?« rief sie und fuhr auf Dorguet zu. »Seid ihr wahnsinnig? Was fällt euch ein, den Zugor zu stehlen?« »Oh – der Zugor«, sagte Dorguet und trat kopfschüttelnd an die Reste heran. Zwei Männer nahmen sie auf und eilten damit zum Lager. »Irgend jemand muß ihn ausein andergenommen haben, während wir hier plauderten. Das ist allerdings eine Überra schung.« Nur mühsam bewahrte Thalia die Fas sung. »Du hast gesagt, daß jeder sich so gut hel fen muß wie eben möglich«, versetzte er. »Einige meiner Leute müssen das etwas zu wörtlich genommen haben.« »Ich will den Zugor zurück«, sagte Tha lia. »Sofort. Deine Leute sollen sämtliche Teile zurückbringen, die sie gestohlen ha ben. Befehle es ihnen.« Dorguet hob bedauernd die Schultern. »Ich bin kein Diktator, nur ein Mann, den die Bewohner von Goris zum Anführer er nannt haben. Ich kann nicht befehlen, son
Duell der vertauschten Seelen dern nur Ratschläge erteilen. Das will ich natürlich tun.« Er wandte sich den Männern und Frauen zu. »Ihr habt es gehört, Leute«, sagte er freundlich. »Thalia möchte den Zugor wie der zusammenbauen. Bringt ihr, was dazu notwendig ist.« Grinsend blickten die Männer und Frauen die Tochter Odins an, die in hilfloser Wut vor ihnen stand. Thalia begriff nicht, wie es möglich gewesen war, den Zugor in so un glaublich kurzer Zeit auseinanderzubauen und abzutransportieren, ohne daß sie etwas gemerkt hatte. Sie ließ die erhobenen Arme sinken. »Gebt mir wenigstens ein Funkgerät«, bat sie, nachdem sie eingesehen hatte, daß man ihr nichts zurückgeben würde. »Ich will Hil fe von der FESTUNG rufen.« »Wir haben leider kein Funkgerät«, erwi derte Dorguet. »Wir hatten einmal eins. Da mit haben wir versucht, die FESTUNG zu erreichen und von dort Hilfe anzufordern. Die FESTUNG hat sich nicht gemeldet. Da nach haben wir das Gerät in den Brunnen geworfen.« »Holt es wieder heraus«, forderte Thalia. »Das geht nicht. Der Brunnen ist einige hundert Meter tief.« »Nehmt ihr uns für einige Stunden in Go ris auf?« fragte sie. »Sobald Grizzard und der Stumme soweit sind, werden wir Goris verlassen und zur FESTUNG gehen.« »Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt«, antwortete Dorguet, gab einigen Männern den Befehl, den noch immer bewußtlosen Kennon-Grizzard aufzunehmen, und ging zum Lager zurück. Weder er noch Thalia wußte, welche Be ziehungen zwischen dem verwachsenen Körper in der Porquetor-Rüstung und dem Besinnungslosen bestanden. Keiner von ih nen ahnte, daß die Bewußtseinsinhalte zwi schen den beiden Körpern ausgetauscht wor den waren. Einige Männer halfen Grizzard, die Por quetor-Rüstung auf die Beine zu bringen.
5 Danach marschierte diese ohne weitere Hilfe nach Goris. Thalia wachte darüber, daß sie sich dem paralysierten Stummen nicht näher te. Vergeblich grübelte sie darüber nach, weshalb zwischen den beiden eine tödliche Feindschaft bestand.
* Sinclair Marout Kennon-Axton hatte Mü he, in die Wirklichkeit zurückzufinden, als er wieder erwachte. Bohrende Schmerzen im Hinterkopf signalisierten, daß er bei seinem Sturz auf einen Stein gefallen war. Er erinnerte sich daran, daß er gestürzt war und daß Grizzard ihn mit Hilfe seiner übermächtigen Porquetor-Rüstung eingeholt hatte. Er hatte sich bereits verloren gegeben, als Thalia überraschend auf der Szene er schienen war und dem Zweikampf ein Ende gemacht hatte. Jetzt hörte Kennon die Stimmen vieler Menschen. Er fing einige Satzfetzen in ptho rischer Sprache auf. Es waren aber auch Männer und Frauen da, die eine ihm völlig fremde Sprache benutzten. Er öffnete die Augen zu einem winzigen Spalt und spähte durch die Wimpern hin durch. Niemand hatte bemerkt, daß die Wir kung des Lähmstrahlers bereits aufgehoben war. Man achtete nicht auf ihn. Belustigt vernahm er, daß die Bewohner der Siedlung am Rand der Senke der Verlorenen Seelen den Zugor Thalias gestohlen hatten. »Ihr habt schnell gelernt«, sagte er leise, als zwei Männer ihn aufhoben. »Ich hätte nicht gedacht, daß ihr einen Zugor auseinan dernehmen könnt.« Sie stellten ihn überrascht auf die Füße. Er sank in die Knie, kam dann aber aus eige ner Kraft wieder hoch, und es gelang ihm, die letzten Folgen der Paralyse abzuschüt teln. Er sah, daß Grizzard die Porquetor-Rü stung zum Lager steuerte. Thalia blieb mit mehreren Dellos dicht bei ihm. Vorläufig in teressierte sie sich nur für Grizzard, aber das würde sich bald ändern, wenn sie ihn nach dem Grund der Auseinandersetzung befrag
6 te. Kennon überlegte fieberhaft, während er zwischen den Männern zum Lager ging. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Viel leicht half ihm dabei, daß Dorguet Thalia überlistet hatte. Der Diebstahl des Zugors erzürnte sie derart, daß sie sich offensicht lich nicht auf andere Dinge konzentrieren konnte. Bot sich ihm dadurch eine Chance, an Grizzard heranzukommen und ihn zu tö ten? Grizzard war durstig und hungrig. Er hat te vor kurzem zwar ein wenig getrunken, aber sicherlich zu wenig. Also benötigte er bald etwas. Das war die vielleicht letzte Chance, ihn aus dem Weg zu räumen. Sinclair Marout Kennon war nach wie vor fest entschlossen, Grizzard zu töten, da er sich davor fürchtete, in den verwachsenen und schwachen Körper zurückzukehren, in dem Grizzard jetzt lebte. Er war sich darüber klar, daß Grizzard alles tun würde, den Kör pertausch rückgängig zu machen – doch die besseren Karten hatte er, Kennon. Er wartete ab, bis Dorguet, Thalia und Grizzard-Porquetor Goris erreicht hatten, dann pirschte er sich langsam an Dorguet heran, doch dieser wich nicht von der Seite des Stählernen. Daher wandte Kennon-Ax ton sich schließlich an einen anderen Lager bewohner in seiner Nähe. »Hör zu«, sagte er. »Ich muß Dorguet sprechen. Sofort. Thalia und der Stählerne dürfen es nicht bemerken. Geh zu ihm und sage ihm, daß er zu mir kommen soll.« Er kannte den Mann nicht, aber dieser kannte ihn. Kennon hatte in den letzten Stunden einige Berühmtheit erlangt. Er hatte nicht nur mit dem Stählernen gekämpft, son dern er hatte den Bewohnern von Goris auch wichtige Aggregate aus einem abgestürzten Zugor verschafft. Dabei hatte er sie so gut eingewiesen, daß sie in der Lage gewesen waren, innerhalb weniger Minuten einen ganzen Zugor auseinanderzunehmen und fortzuschleppen. Damit war das Energiepro blem für Goris endgültig gelöst. Dorguet schaffte es tatsächlich, sich un-
H. G. Francis auffällig von Thalia freizumachen und zu Kennon zu kommen. »Ich nehme an, du willst Hilfe von mir«, sagte Dorguet, bevor Kennon sich äußern konnte. »Ich vermute, du willst den Krüppel umbringen, der in der Rüstung steckt.« »Du weißt, daß es ein Krüppel ist?« »Ich habe ihn gesehen, als er die Rüstung verließ. Ich habe beobachtet, daß du ihn bei nahe getötet hast. Ich lag auf dem Boden und konnte mich nicht rühren, aber ich konnte sehen.« »Hilf mir«, bat Kennon. »Jetzt verbirgt er sich wieder in der Rüstung, so daß ich allein nichts gegen ihn ausrichten kann.« Dorguet schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Stummer«, erwiderte er. »Du hast uns geholfen, ohne daß wir etwas für dich tun konnten. In diesem Fall werde ich dir jedoch nicht helfen. Wenn du ihn tö ten willst, dann töte ihn, aber erwarte nicht, daß ich dir zur Hand gehe. Verlange etwas anderes von mir, und ich werde es dir ge ben.« Tief enttäuscht wandte sich Kennon von ihm ab. Er verstand nicht, weshalb Dorguet ihm eine Abfuhr erteilt hatte. Der Rothaarige folgte ihm. »Warum willst du den Krüppel töten?« fragte er. »Wenigstens das könntest du mir sagen.« Kennon schüttelte den Kopf. Wie hätte er Dorguet erklären sollen, daß es ihm einzig und allein darum ging, den verkrüppelten Körper zu vernichten und damit eine Rück kehr in diesen Körper unmöglich zu ma chen. Dorguet hätte ihm kein Wort geglaubt. »Das ist etwas, was ich nicht kann«, sagte Kennon. Er senkte den Kopf. »Ich danke dir, Dorguet, daß ich bei euch bleiben durfte.« »Für die paar Stunden! Das lohnt den Dank nicht. Du willst uns also verlassen?« »Ich werde mit Thalia und dem Stähler nen zur FESTUNG gehen, und ich hoffe, daß er nicht dort lebend ankommt.« »Du wirst deine Gründe haben. Ich akzep tiere sie.« Dorguet reichte ihm die Hand und verabschiedete sich von ihm. Kennon blickte
Duell der vertauschten Seelen ihm enttäuscht nach. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Kennon wurde sich der Ironie der Situati on bewußt. Im Grunde genommen hatte sich nichts geändert. Als er in dem schwachen, verwachsenen Körper gelebt hatte, war er al len Gegnern unterlegen gewesen. Daher hat te er eine besondere Kampfart entwickelt und sich vornehmlich auf seine geistigen Waffen verlassen. Jetzt hatte er zwar einen schönen, kräfti gen Körper, aber er war seinem Gegenspie ler wiederum klar unterlegen. Grizzard konnte ihn mit Hilfe der Porquetor-Rüstung jederzeit mühelos besiegen. Kennon zweifelte nicht daran, daß Griz zard nur darauf wartete, daß Thalia unauf merksam war oder sich zur Ruhe legte. Die Dellos, die sie begleiteten, waren wertlos. Sie würden es nicht wagen, in einen Kampf einzugreifen. Sie würden lamentieren und dumm dreinblicken, wenn alles vorbei war. Dorguet hatte ihm die Hilfe verweigert, also würde niemand aus Goris für ihn eintre ten, wenn Grizzard angriff. Kennon erwog den Rückzug. Zwischen der Senke der Verlorenen Seelen und der FESTUNG lagen verschiedenartige Land schaften mit teils üppiger und teils völlig fehlender Vegetation. Er dachte daran, in ei nem Wüstengebiet ein Treibsandloch zu su chen und Grizzard hineinzulocken. Dort, wo er selbst noch ungefährdet gehen konnte, würde Grizzard mit seiner schweren Rü stung versinken. Kennon verwarf den Plan so schnell wie der, wie er ihn aufgegriffen hatte, weil er nicht sicher sein konnte, daß Grizzard ihm folgen würde. Viel wahrscheinlicher war, daß Grizzard zur FESTUNG ging, Atlan in formierte und dann in aller Ruhe auf ihn wartete. Kennon-Axton sah ein, daß es ein Fehler gewesen wäre, sich von den Stählernen zu trennen. Er mußte einen anderen Plan ent wickeln. Zunächst einmal war es wichtig, sich in Thalias Nähe zu halten, weil sie einen offenen Kampf verhindern würde. Un
7 ter ihrem Schutz wollte er danach seine Ak tion gegen Grizzard aufbauen. Kennon fühlte sich besser, nachdem er sich über diese Dinge klargeworden war. Gelassen ging er in das Lager. Er brauchte sich nur nach dem Lärm zu richten, den die um Thalia und dem Stählernen versammel ten Menschen verursachten. Er wies ihm den Weg.
2. Plünderer Zwischen ihm und Grizzard standen we nigstens zweihundert Männer und Frauen. Sie bildeten einen dichten Gürtel, den er nicht durchbrechen konnte. Doch nun löste sich die Menge langsam auf, nachdem die meisten Bewohner von Goris ihre erste Neu gierde gestillt hatten. Ein blonder Mann ging an Kennon vorbei und lächelte ihm zu. Der Terraner wußte, daß er zu jenen gehört hatte, die den Zugor demontiert hatten. Kennon schloß sich ihm an. »Das war eine phantastische Leistung«, sagte er. »Ich habe mich über euch gefreut. Und Thalia gönne ich diese Schlappe.« »Danke«, antwortete der Blonde. »Wo habt ihr die Teile so schnell ver steckt?« »Ein Teil ist in meiner Hütte da drüben. Alles andere haben wir über ganz Goris ver streut.« Er schien es als selbstverständlich anzusehen, daß Kennon bei ihm blieb, und er erhob auch keinen Einspruch, als dieser ihm in die Hütte folgte. Stolz zeigte er ihm einige Zugorteile. Der Terraner untersuchte sie zunächst mit nur mäßigem Interesse. Dann aber entdeckte er eine handlange Stahlflasche, die mit einem Druckventil ver sehen war. Er hob sie auf und betrachtete sie. Eine Schrift warnte vor unvorsichtiger Handhabung. Die Flasche war mit einer gif tigen Chlormethan-Verbindung gefüllt. Sie war gasförmig und stand unter hohem Druck. Kennon wußte nicht, welche Funkti on Flasche und Gas im Zugor gehabt hatten,
8 ihm war jedoch klar, daß er eine für Griz zard-Porquetor tödliche Waffe in der Hand hielt. »Weißt du, was das ist?« fragte er den Blonden. Dieser schüttelte den Kopf. »Ein äußerst gefährliches Gift in hoher Konzentration«, fuhr Kennon fort. Das ent sprach nicht ganz der Wahrheit, kam ihr je doch ziemlich nahe. Der Terraner war sich dessen jedoch sicher, daß sein Gegenüber diese Aussage nicht nachprüfen konnte. »Damit kannst du ganz Goris vergiften, wenn du unvorsichtig damit umgehst.« Der Blonde fuhr erschrocken zurück. »Ich wollte die Flasche bereits öffnen«, gestand er. »Dann wärest du jetzt schön tot, und mit dir wären viele Bewohner dieser Siedlung gestorben.« Kennon tat, als wolle er die Fla sche zurücklegen, schob sie sich dann je doch in die Tasche. »Ich werde sie mitneh men und draußen irgendwo in der Wüste vergraben. Du hast doch nichts dagegen?« »Dorguet hat uns verboten, irgend etwas abzugeben«, erwiderte der Blonde. »Du hast viel für uns getan, und ich weiß nicht, wozu ich das Gift verwenden soll, dennoch mußt du es zurücklegen.« Sinclair Marout Kennon lächelte bedau ernd und reichte dem Blonden die Flasche. Damit gab er keineswegs auf. Er wußte je doch, daß er unnötig Aufsehen erregen wür de, wenn er allzu hartnäckig darauf beharrte, die Flasche zu behalten. Er sagte sich, daß sich später eine andere Gelegenheit ergeben würde, sie sich zu beschaffen. Sie erschien ihm als ideale Waffe, da er damit das Gas durch einen Schlitz in die Porquetor-Rü stung leiten konnte, wo es seine Wirkung augenblicklich entfalten würde. Grizzard würde innerhalb von ein oder zwei Sekun den bewußtlos werden, so daß er sich nicht mehr wehren konnte. Stieg danach die Kon zentration des Gases innerhalb der Rüstung weiter an, würde er nie mehr aus dieser Nar kose erwachen. Kennon nickte dem Blonden freundlich
H. G. Francis zu und verließ die Hütte. Mittlerweile hatte sich die Menge fast völlig zerstreut. Nur noch etwa zwanzig Männer standen um Thalia, Dorguet und, Grizzard herum. Fünf Dellos schirmten Grizzard ab, so daß niemand näher als auf zwei Schritte an ihn herankommen konnte. Thalia blickte zu Kennon hinüber. Er sah, wie sie die Lippen zusammen preßte und die Augen verengte. Dorguet senkte den Kopf und tat so, als betrachte er seine Füße. Es war eine Geste der Verlegen heit, und sie verriet Kennon, daß Dorguet Thalia vor ihm gewarnt hatte. Einem ersten Impuls folgend, wollte er zu ihm gehen und ihn zur Rede stellen, doch dann beruhigte er sich. Er sagte sich, daß er damit nichts erreichte. Thalia hatte gesehen, daß er vor Grizzard-Porquetor geflohen war. Sie hatte eingegriffen und ihm dadurch das Leben gerettet. Also wußte sie auch ohne Dorguet, daß eine tödliche Feindschaft zwi schen ihm und Grizzard bestand. Ein heller Ton hallte durch Goris. Kennon blieb unwillkürlich stehen. Er fuhr herum, als er Dorguet schreien hörte. Aus Hütten und Zelten stürzten Männer und Frauen her vor. Alle waren bewaffnet. Der Blonde, bei dem Kennon die Gasflasche gefunden hatte, hielt eine selbstgefertigte Streitaxt in den Händen. »Was ist los?« rief Kennon. »Überfall«, antwortete er. Kennon sah, daß Dorguet, Thalia und Grizzard in nördlicher Richtung davoneilten. Im Norden aber lag das Zentrum der Senke der Verlorenen Seelen. Er griff nach dem Arm des Blonden. »Moment«, sagte er. »Wer sollte uns an greifen?« Der Blonde lachte verbittert. »Glaube doch nicht, daß alle in der Senke sich so ver halten wie wir«, erwiderte er. »Wir versu chen, uns zu organisieren und uns in ge meinsamer Arbeit zu retten. Aber bei ande ren sieht es anders aus. Sie berauben die, die sich etwas geschaffen haben.« Er schüttelte die Hand Kennons ab und
Duell der vertauschten Seelen eilte mit den anderen Bewohnern von Goris davon. Aus dem Norden hallte Kampflärm zu dem Terraner hinüber. Dieser wandte sich der Hütte des Blonden zu, wo er die Gasflasche wußte. Vor der Hütte standen zwei Dellos und bewachten sie. Sie waren mit Lanzen be waffnet. Kennon ging einige Schritte nach Norden. Zwischen zwei Zelten blieb er nachdenklich stehen. Die Dellos konnten ihn nicht mehr sehen, doch an sie dachte er in diesen Se kunden nicht. Er wurde sich der Gefahr be wußt, in der er sich befand. Grizzard würde zweifellos zunächst auf der Seite der Goriser gegen die Angreifer kämpfen und dabei mit Hilfe der PorquetorRüstung Gewaltiges leisten. Früher oder später aber würde er sich aus dem Schlacht getümmel zurückziehen und sich auf die Su che nach ihm machen. Kennon wandte sich um und lief zwischen den Zelten hindurch nach Westen. Kurz dar auf tauchte er hinter der Hütte des Blonden auf. Die beiden Dellos standen noch vor der Hütte. Sie unterhielten sich miteinander und konzentrierten sich nicht im geringsten auf die Aufgabe, die ihnen übertragen worden war. Kennon lächelte verächtlich. In seinen Augen waren die Androiden wertlos. Er schätzte sie noch geringer ein als Roboter, war andererseits jedoch froh, daß er es nur mit Dellos zu tun hatte. Er schob sich vorsichtig an sie heran und stürzte sich von hinten auf sie. Er warf sie zu Boden und betäubte sie mit gezielten Schlä gen gegen den Kopf. Kennon lief in die Hütte und prallte hier mit einem weiteren Dello zusammen, der sich darin versteckt hatte. Das verdickte En de einer Holzkeule traf ihn im Nacken. Er fiel auf die Knie und verlor für einen kurzen Moment die Orientierung. Dann sah er, daß der Dello zu einem zweiten Hieb ausholte, und ließ sich zur Seite fallen. Die Keule streifte seine Schulter. Kennon stöhnte auf. Vergeblich versuchte er, den rechten Arm zu
9 heben. Die Keule hatte den Oberarmmuskel so unglücklich getroffen, daß die Nerven bahnen blockiert wurden. Kennon richtete sich auf und überrumpel te den Dello mit einer Dagorattacke der lin ken Hand. Als sich dem Androiden die an gewinkelten Finger in die Herzgrube bohr ten, brach er bewußtlos zusammen. Der Ter raner schleppte sich mühsam zu den Zugor teilen. Er nahm die Gasflasche auf und steckte sie ein. Dann wollte er die Hütte ver lassen. Erschrocken fuhr er zurück, als er zwei riesige Gestalten an Dorguets Hütte bemerk te. Die Fremden sahen aus, als seien sie mit Fischschuppen bedeckt. Ihre Körper glitzer ten silberfarben. Ihre Köpfe waren vogel ähnlich. Sie hatten vier Arme mit krallenbe wehrten Tatzen, mit denen sie die Tür von Dorguets Hütte aufbrachen. Ihre Beine wa ren kurz und stämmig. Kennon schätzte, daß die Fremden etwa zwei Meter groß waren. Er zog sich zurück und fand an der Rück seite der Hütte einige nachlässig befestigte Bretter. Er zog sie heraus und schlüpfte durch die entstandene Öffnung nach drau ßen. Dann spähte er um die Ecke der Hütte. Mittlerweile befanden sich sieben Ge schuppte bei Dorguets Hütte. Das Klirren der Waffen und die Schreie der Kämpfenden zeigten an, daß die Einwohner des Lagers erbitterten Widerstand leisteten. Sie hatten noch nicht gemerkt, daß sie auf eine Finte hereingefallen waren. Während sie meinten, Goris und seine bescheidenen Schätze zu verteidigen, hatte ein Teil der Angreifer das Lager umrundet und griff von Süden her an. Hier aber gab es keine Abwehrkräfte. Dor guet hatte alle Männer und Frauen nach Norden geführt. Sinclair Marout Kennon schlich sich von der Hütte fort und schlug einen Bogen. In südwestlicher Richtung drang er weiter vor. Er wußte, daß in diesem Teil von Goris die bescheidenen Schätze der Lagerbewohner untergebracht waren. Als er sich den fünf Hütten näherte, die als Lagerhäuser dienten, sah er, daß die Ge
10 schuppten alle Wachen niedergemacht hat ten. Jetzt waren sie dabei, die Hütten zu plündern. Sie schleppten die Lagerbestände heraus und stapelten sie vor den Hütten auf. Ihr Verhalten zeigte, daß sie sich absolut si cher fühlten und sich völlig auf ihre Helfer verließen, die am Rand der Siedlung die Schlacht inszenierten. Sie ließen sich Zeit, so als bestünde nicht der geringste Grund, sich zu beeilen. Kennon zögerte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Lief er zur Kampfstätte, dann war vielleicht schon alles vorbei, wenn er end lich mit einigen Männern hier eintraf, um die Vorräte zu retten. Blieb er, dann konnte er nur zusehen, wie die Plünderer mit ihrer Beute abzogen. Während er noch überlegte, stürmte einer von Dorguets Leuten herbei. Er lief den Ge schuppten direkt in die Arme. Sie streckten ihn nieder und fesselten ihn. Unmittelbar darauf traten zwanzig Fremde zwischen den Hütten hervor und machten sich über die aufgestapelten Vorräte her. Sie warfen sich die Säcke und Ballen über die Schultern. Kennon blickte auf die Gasflasche in sei ner Hand. Er befeuchtete einen Finger und hielt ihn in die Luft. Dann wich er etwa fünfzehn Meter zur Seite aus und öffnete das Ventil der Flasche, die er weit von sich hielt. Zischend trat das Gas aus. Es war farblos. Der Wind wehte es von Kennon weg und verteilte es zu einer großen Wolke, die un sichtbar zu den Plünderern hinübertrieb. Dort erzielte das Gas eine verblüffende Wir kung. Kennon hatte erwartet, daß die frem den Wesen betäubt zu Boden fallen würden. Das war jedoch nicht der Fall. Sie gerieten in einen Zustand von Raserei. Brüllend und kreischend griffen sie einan der an und machten dabei einen ohrenbetäu benden Lärm. Kennon beobachtete sie verblüfft. Er selbst spürte, daß die Umgebung von ihm abrückte. Er begriff, daß der Wind nicht al les Gas von ihm wegtrieb und daß er etwas davon eingeatmet hatte. Unter Aufbietung aller Willenskraft, die ihm noch verblieb,
H. G. Francis schloß er das Ventil. Die Beine gaben unter ihm nach, und er rutschte an der Wand der Hütte auf den Boden. Hier kauerte er mit ge öffneten Augen und verfolgte halb betäubt, was sich bei den geschuppten Wesen tat. Diese tobten, als hätten sie den Verstand verloren, konzentrierten sich aber glückli cherweise dabei nur auf die Angehörigen der eigenen Gruppe. Sie verschonten den Gefes selten, der mitten zwischen ihnen auf dem Boden lag und der ebenso angestrengt wie ergebnislos versuchte, sich von ihnen zu ent fernen. Kennon atmete tief durch, um frische Luft in die Lungen zu pumpen und die Wirkung des Gases möglichst schnell zu überwinden. Die tobenden Fremden kamen ihm immer näher, bis sie schließlich so dicht bei ihm waren, daß sie ihm auf die Füße traten. Im mer wieder versuchte Kennon, auf die Beine zu kommen, aber kraftlos sank er stets wie der zu Boden. Als er sich auf allen vieren in Sicherheit bringen wollte, packte ihn einer der Ge schuppten am Kragen und schleuderte ihn zur Seite. Kennon flog mehrere Meter weit durch die Luft und landete krachend auf ei nem Zelt. Es brach unter ihm zusammen, und die herabfallenden Zeltplanen begruben ihn unter sich. Fluchend arbeitete Kennon sich wieder nach oben. Allmählich ließ die Wirkung des narkotisierenden Gases nach. Das war bei den Fremden jedoch nicht der Fall. Wie von Sinnen setzten sie ihren Kampf fort. Kennon schleppte sich zu einer Hütte, vor der eine Schüssel mit Wasser stand. Er tauchte das Gesicht hinein und rieb sich den Kopf mit Wasser ab. Danach fühlte er sich wohler. Er wunderte sich, daß noch immer keiner von Dorguets Leuten erschien. Die tobenden Plünderer veranstalteten einen der artigen Lärm, daß er meinte, er müsse über all in Goris zu hören sein. Einige Geschuppte flüchteten aus dem Lager. Sie bewegten sich langsam und schwerfällig voran. Doch jetzt kam Dorguet mit seinen Leu
Duell der vertauschten Seelen ten. Kennon sah, daß die meisten von ihnen verwundet waren. Die Spuren eines harten Kampfes waren deutlich. Die Männer stürzten sich wütend auf die Geschuppten und streckten sie mit ihren Waffen nieder. Kennon lief auf sie zu. »Hört auf«, rief er. »Laßt sie in Ruhe.« Dorguet stellte sich ihm in den Weg. Sein Gesicht war bleich. Blut lief ihm über die rechte Wange. »Was willst du?« fragte er zornig. »Sie haben keine Gnade verdient. Weißt du über haupt, wie viele Tote und Verwundete wir haben? Wir haben mit ihnen gekämpft, wäh rend du dich feige verkrochen hast.« Er hieb Kennon die Faust gegen das Kinn. Der Schlag kam so überraschend, daß der Terraner ihn nicht abwehrte. Betäubt fiel er auf den Boden. Als er wieder zu sich kam, war es still um ihn herum. Er lag allein auf dem Platz zwi schen den Hütten. Unsicher richtete er sich auf. Für einige Sekunden wußte er nicht, ob er alles nur geträumt hatte oder ob wirklich geschehen war, was er gesehen hatte. Er stand auf und sah sich um. Die Säcke und Ballen mit den Vorräten lagen überall zwischen den Hütten verstreut. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wieder zu verstauen. Weder von Dorguets Leuten, noch von den Fremden war irgend etwas zu sehen. Das wäre eine gute Gelegenheit für den Stählernen, mich umzubringen, fuhr es Ken non durch den Kopf. Er klopfte die Taschen ab, aber die Stahlflasche mit dem Gas war verschwunden. Da sie für ihn eine Waffe von unschätzbarem Wert darstellte, machte er sich auf die Suche nach ihr, fand sie je doch nicht mehr. Von fern klangen Schreie zu ihm. Kennon sagte sich, daß er unter den gegebenen Um ständen nur in der Nähe Thalias vor An schlägen des Stählernen sicher war. Er muß te sich in der Menge verbergen. Daher eilte er auf die Stelle zu, von der der Lärm kam. Als er etwa hundert Meter weit gelaufen
11 war, sah er die Männer und Frauen von Go ris vor sich. Sie standen dichtgedrängt zu sammen und beobachteten irgend etwas, was sich zwischen zwei großen Hütten ereignete. Da Kennon sich nicht entgehen lassen wollte, was dort geschah, kletterte er auf ei ne der Hütten in seiner Nähe. Vom Dach der Hütte aus konnte er über die Köpfe der Zu schauer hinwegsehen. Dorguet und der Stählerne standen an ei nem Brunnen. Neben ihnen lagen fünf ge fesselte Fremde. Einige Schritte von ihnen entfernt lehnte Thalia an einem Baum. Sie betrachtete das Geschehen, griff jedoch nicht ein. Dorguet zeigte auf einen der Gefangenen, sprach einige Worte, die Kennon nicht ver stand, und deutete dann auf den Brunnen. Der Stählerne beugte sich nach vorn, packte den Gefangenen, riß ihn hoch und warf ihn in den Brunnen. Wild schreiend stürzte der Geschuppte in die Tiefe. Kennon begriff. Dorguet ließ alle Plünderer hinrichten. Von diesem Brunnen hatte der Stumme ge hört. Niemand in Goris wußte, wie tief er war. Wer in ihn stürzte, war rettungslos ver loren. »Schluß damit«, brüllte Kennon über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Die Männer und Frauen unter ihm drehten sich um und blickten überrascht zu ihm her auf. »Sei still«, sagte Dorguet schneidend scharf. »Sei still, wenn dir dein Leben lieb ist.« »Der Kampf ist vorbei«, erwiderte Ken non. »Es war schlimm genug. Jetzt reicht es.« »Die Lampras haben viele unserer Män ner und Frauen ermordet«, rief Dorguet em pört. »Sie haben gehaust wie die Barbaren.« »Deshalb müßt ihr euch nicht auch wie die Barbaren benehmen.« »Sei still«, befahl Dorguet. »Du hast kein Recht, dich einzumischen. Feige hast du dich versteckt, während der Stählerne mit uns in den Kampf ging. Ohne ihn wären wir
12 verloren gewesen. Er hat Dutzende von Lampras in die Flucht geschlagen und we nigstens vier von ihnen getötet.« Mit wütendem Geschrei übertönte die Menge die weiteren Worte des Lagerführers. Dorguet streckte die rechte Hand in die Höhe. Darin hielt er die Gasflasche, die Kennon vergeblich gesucht hat. »Seht her«, rief er. »Während der Stähler ne heldenhaft für uns kämpfte, hat der Stum me sich wie eine Ratte in einem sicheren Winkel verkrochen und abgewartet, bis der Kampf vorbei war. Er hat uns diese Flasche gestohlen. Sie enthält ein tödliches Gift. Der Stumme wollte es dem Stählernen in die Rü stung blasen und ihn damit ermorden.« Wiederum übertönte das Geschrei der Menge seine weiteren Worte. Dorguet schlug ein Signaleisen. Allmäh lich wurde es ruhiger, so daß Kennon seine Worte verstehen konnte. »Der Stählerne hat sich als unser Freund erwiesen«, sagte der Rothaarige. »Er wird uns immer willkommen sein. Wann auch immer er zu uns kommt, wir werden ihm stets alles geben, was er benötigt.« Beifall brandete auf. Dankend hob Griz zard den rechten Stahlarm. »Der Stumme aber wird Goris auf ganz andere Art verlassen, als er erwartet hat. Er wird nicht nach Norden, Osten, Westen oder Süden davonziehen. Für ihn ist der Weg senkrecht nach unten vorgesehen.« Unter dem Jubel der Menge zeigte Dor guet auf den Brunnen. Unbemerkt von Kennon gelang es einigen Männern, hinter seinem Rücken auf das Dach der Hütte zu klettern. Sie warfen sich auf ihn und stürzten zusammen mit ihm her unter. Augenblicklich eilten ihnen einige an dere Männer zur Hilfe. Obwohl Kennon sich verzweifelt wehrte, schleppten sie ihn zum Brunnen. Es wurde still. »Werft ihn in den Brunnen«, befahl der Rothaarige. Die Männer schoben Kennon über den Brunnenrand. Verzweifelt klammerte er sich
H. G. Francis an sie. Sie schlugen auf ihn ein, um ihn ab zudrängen. Plötzlich aber erschien Thalia neben ih nen. »Zurück«, befahl sie. Die Männer blickten sie fassungslos an. Kennon kroch zitternd über den Brunnen rand. Erschöpft sank er auf den Boden. »Ich werde beide zur FESTUNG bringen – den Stählernen und den Stummen«, erklär te die Tochter Odins. »Beide werden lebend dort ankommen. Ich hoffe, ihr habt verstan den.« Die Menge protestierte wütend, doch jetzt stellte sich Dorguet vor Kennon. Abwehrend hob er die Arme, bis es still wurde. »Wir werden Thalias Wunsch respektie ren«, rief er. »Der Stumme soll mit ihr zie hen. Doch er soll wissen, daß ihn nichts mehr vor dem Brunnen rettet, wenn er sich noch einmal hier sehen läßt. Er wird dann den gleichen Weg gehen, auf den wir jetzt die letzten Lampras schicken.« Kennon wandte sich entsetzt ab, als Dor guets Leute die geschuppten Gefangenen packten und in den Brunnen warfen. Er war sich dessen bewußt, daß sein Leben an ei nem seidenen Faden gehangen hatte. Und er war sich darüber klar, daß er nichts für die Verurteilten tun konnte. Als der letzte Lampra in den Brunnen ge stürzt war, wandte sich der Rothaarige an Kennon, der sich mittlerweile einige Schritte vom Brunnen entfernt hatte. »Das ist die einzige Methode, Plünderer von uns abzuhalten«, erklärte er. »Wenn kei ner von ihnen zurückkehrt, wissen die ande ren, daß es aussichtslos ist, uns anzugreifen. Lassen wir jedoch Gnade walten, haben sie keinen Grund, uns zu fürchten, und sie wer den immer wieder kommen, bis wir nichts mehr haben.« Er drehte sich um, streckte Thalia die Hand entgegen und sagte: »Geht jetzt. Wir müssen arbeiten. Es gibt viel zu tun.« Kennon setzte zu einer Antwort auf die Anklagen an, die Dorguet gegen ihn erhoben hatte, doch Thalia schüttelte den Kopf.
Duell der vertauschten Seelen »Sei still«, bat sie. »Ich will nichts mehr hören. Jeder kann einmal versagen. Deshalb braucht man aber nicht zu reden.« Kennon zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte er. »Wie du willst.« Er sprach Interkosmo. Sie verstand ihn nicht, stellte je doch keine Fragen. Die Menge verstreute sich. »Bleib bei mir«, riet Thalia dem Stummen. »Wir verlassen das Lager.« Sie richtete ihren Lähmstrahler auf Ken non. »Solltest du etwas gegen den Stählernen, oder sollte dieser etwas gegen dich unter nehmen, greife ich ein. Ich habe den Auf trag, den Stählernen zur FESTUNG zu brin gen. Von dir hat Atlan nichts gesagt. Laß Grizzard also in Ruhe, oder ich paralysiere dich und lasse dich in der Wildnis liegen. Das dürfte kaum angenehmer sein, als in den Brunnen geworfen zu werden.« »Besten Dank«, erwiderte Kennon spöt tisch. »Nun weiß ich wenigstens, was mir bevorsteht.«
3. Verschleppt Als Thalia die drei Dellos versorgt hatte, die ihr nach dem Kampf noch verblieben waren, war es dunkel geworden. Dorguet riet ihr davon ab, jetzt noch zur FESTUNG aufzubrechen, von der sie fast einhundert fünfzig Kilometer entfernt waren. »Ich werde den Taamberg weiträumig umgehen«, erwiderte sie. »Das bringt dich näher an das Wache Au ge heran und damit an eine weitere Gefah renzone.« »Davor werde ich mich zu hüten wissen«, sagte sie ungeduldig. »Durch den Umweg steigt die Entfernung noch an«, wandte er ein. »Das weiß ich. Es ist aber auch eine Tat sache, daß uns die Dunkelheit schützt. Da durch kommen wir gut voran, ohne daß uns jemand sieht.« »Dann ist da draußen noch dieses mon
13 ströse Wesen, das Metall frißt. Es wird eurer Spur folgen und über den Stählernen herfal len, sobald sich eine Chance dazu ergibt.« »Ich habe gesehen, daß es nach Westen abgezogen ist«, erklärte einer der Männer Dorguets. »Von diesem Biest brauchen sie sich nicht mehr zu fürchten.« »Also – dann ist ja alles klar«, versetzte Thalia zufrieden lächelnd. »Wir haben kei nen Grund, euch noch länger zur Last zu fal len. Wir brechen auf.« »Wie du willst«, sagte Dorguet, der sicht lich enttäuscht war. Er trat zur Seite und ließ Thalia vorbei. Diese gab Grizzard und Ken non ein Zeichen und ging los. Kennon blieb hinter dem Stählernen, um zu verhindern, daß dieser unversehens über ihn herfiel und tötete, bevor Thalia eingrei fen konnte. Sie blieb nach einiger Zeit stehen und drehte sich zu ihm um. »Was ist los mit dir?« fragte sie. »Nichts weiter«, entgegnete er. »Ich frage mich nur, was passiert, wenn sich Grizzard dazu entschließen sollte, dich zu entwaff nen.« Thalia lachte dunkel. »Dann hat einer der Dellos noch einen Waggu«, erwiderte sie. »Damit würde er den Kampf entscheiden, bevor er begonnen hat. Bedauerlicherweise werde ich nicht verra ten, welcher Dello es ist.« Sie lachte erneut und marschierte weiter. Kennon überlegte, ob er sich von ihr und Grizzard trennen sollte. Auch allein konnte er zur FESTUNG zurückkehren. Vielleicht waren seine Chancen dann sogar besser. An dererseits mußte er dann den Nachteil hin nehmen, daß er Grizzard nicht mehr kontrol lierte. Sein Gegenspieler konnte Intrigen einleiten, denen er später machtlos ausge setzt war, wenn er die FESTUNG erreichte. Er beschloß, bei Thalia und Grizzard zu bleiben. Zwischen der Senke der Verlorenen See len und dem Wachen Auge lag ein savan nenartiges Land mit wüstenähnlichen Ab schnitten. Es lag durchaus im Bereich des
14 Möglichen, daß sich irgendwo ein Treib sandloch befand. Kennon nahm sich vor, be sonders aufmerksam auf solche Stellen zu achten, die sich als Fallen für Grizzard-Por quetor eigneten. Er zweifelte nicht daran, daß Grizzard sich ebenfalls mit Mordplänen befaßte. Deutlich genug erinnerte er sich daran, wie dieser versucht hatte, ihn zu töten. Und er glaubte nicht daran, daß Thalia ein Grund für Grizzard war, auf einen Mordanschlag zu verzichten. Er ließ sich weiter zurückfallen. Jetzt sah er Thalia, Grizzard und die Dellos nur noch als dunkle Umrisse, die hin und wieder völ lig in der Dunkelheit verschwanden. Kon zentriert achtete er auf das Geräusch ihrer Schritte, und hin und wieder ließ er sich in die Hocke sinken, weil er die anderen aus dieser Perspektive gegen den helleren Hin tergrund des Wölbmantels besser sehen konnte. Plötzlich hörte er etwas rauschen, und dann spürte er deutlich, daß irgend etwas über ihn hinwegglitt. Im ersten Moment glaubte er, daß es wiederum eine jener ge heimnisvollen Flugscheiben gewesen war, die den Wölbmantel offenbar mühelos durchdrangen und Pthor erkundeten, ohne behindert zu werden. Doch dann glaubte er, einen gedämpften Schrei gehört zu haben. »Thalia«, flüsterte er. »Da ist etwas.« Sie blieb stehen. »Feigling«, antwortete sie verächtlich. »Da war überhaupt nichts. Du hast das Schlottern deiner eigenen Knie gehört.« Er steckte die Demütigung gleichmütig ein. Er wußte, daß er sich nicht geirrt hatte. »Wie du meinst«, sagte er und wartete, bis sie, Grizzard und die Dellos weitergin gen. Jetzt lauschte er mit allen Sinnen. Er glaubte, die Gefahr fühlen zu können, die sich ihnen näherte. Sie schien lautlos wie ein Schatten über den Boden zu gleiten. Einige Minuten verstrichen, dann hörte er es erneut rauschen. Er ließ sich auf die Knie
H. G. Francis sinken und blickte nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde bemerkte er etwas Dunkles über sich, machte jedoch keine Ein zelheiten aus. Thalia, die Dellos und Grizzard mar schierten weiter. Ihre Füße knirschten im Sand. Hin und wieder knackte ein zerbre chendes Stück Holz unter ihren Sohlen. Kennon schüttelte den Kopf. Sie bemühten sich nicht im geringsten, Geräusche zu ver meiden. Wenn irgendwo ein Feind auf sie lauerte, dann konnte er sie deutlich hören. Kennon preßte die Lippen zusammen. Er wollte Thalia erneut warnen, sah jedoch ein, daß er damit keinen Erfolg haben würde. Sie hielt ihn aufgrund der ungerechtfertigten Anschuldigungen Dorguets für einen Feig ling. Sie würde nicht auf seine Worte ach ten. Als sie und ihre Begleiter so weit von ihm entfernt waren, daß sie in der Dunkelheit verschwanden, wich Kennon zur Seite aus. Er schlug einen weiten Bogen. Hin und wie der blieb er stehen und lauschte. Die Dellos wechselten einige Worte miteinander. Sie hallten deutlich hörbar durch die Nacht. Ein verhaltenes Rauschen näherte sich Kennon. Er ließ sich vornüber fallen und preßte sich an den Boden. Spitze Krallen streiften seinen Hinterkopf. Mächtige Flügel klatschten gegen seine Schultern. Er warf sich herum und schlug nach dem Wesen, das über ihm war. Er traf es, als es sich bereits wieder von ihm entfernte. Im gleichen Augenblick begriff er. Piraten vom Regenfluß näherten sich ih nen. Sie schickten die weißköpfigen Geier als Späher aus und ließen den eigentlichen Angriff durch sie vorbereiten. Kennon sprang auf. »Thalia«, schrie er. »Piraten vom Regen fluß!« Sein Ruf hallte durch die Nacht. Die Schritte Thalias und ihrer Begleiter ver stummten. Metall schlug klirrend gegenein ander. »Dieser Narr«, sagte die Tochter Odins. Sie sprach nicht laut, dennoch war ihre
Duell der vertauschten Seelen Stimme gut zu verstehen. Kennon rannte auf Thalia zu. Er hörte, daß etwas hinter ihm zu Boden fiel, und er warf sich in den Sand. Als er sich herum wälzte, sah er, daß sich eine dunkle Gestalt nur etwa zwei Meter von ihm entfernt auf richtete. Er glaubte, die helle Klinge eines Dolches erkennen zu können. Dann schrie einer der Dellos auf. Deutlich vernahm Kennon, daß er zusammenbrach. Er rollte sich einige Schritte weit zur Sei te, ohne das geringste Geräusch zu verursa chen, richtete sich auf und schnellte sich auf den Piraten. Dieser stand vornübergebeugt und starrte in die Dunkelheit. Er bemerkte ihn erst, als Kennon über ihm war. Ge schickt riß der Terraner ihm den Arm her um. Der Pirat stöhnte vor Schmerz. Er ließ das Messer fallen. Kennon streckte ihn mit einer Schlagkom bination gegen den Hals zu Boden. Er nahm das Messer an sich und steckte es sich in den Gürtel. Jetzt endlich gaben die Piraten ihre Tar nung auf. Sie brüllten wie die Berserker, während sie sich auf Thalia, Grizzard und die Dellos warfen. Kennon hörte das Klirren der Waffen, und er vernahm das Stöhnen der Sterbenden. Grizzard schlug wild um sich. Es krachte dumpf, wenn er traf, doch das schien die Piraten nicht zu beeindrucken. Kennon rannte geduckt auf den Kampf platz zu. In der Dunkelheit war nur Grizzard in seiner Porquetor-Rüstung deutlich zu er kennen, da er die anderen weit überragte. Die Piraten hatten ihm seine Lanze entwun den, so daß er sich nur mit seinen Fäusten wehren konnte. Daneben befand sich ein dunkles Knäuel, bei dem keine Einzelheiten zu unterscheiden waren. Kennon stürzte sich mit bloßen Händen in den Kampf. Er verzichtete darauf, das Mes ser einzusetzen, weil er Thalia auf keinen Fall gefährden wollte. Thalia schlug wild um sich. Zwei Piraten stürzten neben Kennon zu Boden, getroffen von der Vars-Kugel, Thalias mächtigster Waffe. Doch die Zahl der Angreifer war so
15 groß, daß der Tochter Odins auch diese Waffe kaum etwas nützte. Kennon setzte seine ganze Kampftechnik ein, wobei er sich bemühte, mit all jenen Tricks zu kämpfen, die er im Lauf seiner langjährigen Tätigkeit als USO-Spezialist gelernt hatte. Doch schon bald mußte er er kennen, daß er gegen diese Gegner nur we nig ausrichtete. Schließlich schlug ihm je mand etwas über den Kopf. Der Stumme glaubte, explodierende Sterne zu sehen. Er stürzte zu Boden, und es wurde dunkel um ihn. Als Kennon wieder zu sich kam, war es still geworden. Wind kam auf und trieb ihm den Sand ins Gesicht. Er richtete sich auf und horchte. Die Piraten entfernten sich von ihm. Sie waren noch nicht weit gekommen. Aufgrund der Geräusche, die sie verursachten, schloß er, daß ihn kaum mehr als hundert Meter von ihnen trennten. Er stand auf und lief ihnen nach. In der Dunkelheit konnte er so gut wie nichts se hen. Er richtete sich nur nach den Ge räuschen. Ihre Füße knirschten im Sand. Ihre Waffen klirrten. Lederzeug knarrte, und ihre Stimmen klangen weit durch die Nacht. Sie waren sich ihres Sieges bewußt und gaben sich nicht die geringste Mühe, leise zu sein. Kennon bereute, daß er sich am Kampf platz nicht umgesehen hatte. Jetzt wußte er nicht einmal, ob Thalia noch lebte oder ob sie gefangengenommen worden war. Hatten die Piraten Grizzard-Porquetor überwunden und getötet? Oder war er geflohen? Eine der dunklen Gestalten tauchte vor Kennon auf. Er schlich sich vorsichtig an sie heran. Lautlos zog er das Messer aus dem Gürtel. Vor ihm blitzte es auf. Einer der Piraten entzündete ein Streichholz, um sich eine Ta bakspfeife damit anzustecken. Kennon duckte sich. Er sah, daß die Piraten die Por quetor-Rüstung mit sich schleppten. Sie war geschlossen, so daß für Kennon sicher war, daß sich Grizzard noch darin befand. Lebte er noch? Oder hatten die Piraten
16 sein Problem für ihn erledigt? Kennon glaubte, Blut an der Rüstung ge sehen zu haben. Er war sich jedoch nicht si cher, weil das Streichholz nur für einige Se kunden gebrannt und dabei ein spärliches Licht verbreitet hatte. Auch hatte er nicht ausmachen können, ob Thalia bei den Pira ten war. Er wartete einige Sekunden ab, bis sich seine Augen wieder an die Dunkelheit ge wöhnt hatten. Dann pirschte er sich erneut an einen der Piraten heran. Er schob das Messer in den Gürtel zurück, weil er seinen Plan geändert hatte. Er wollte den Mann nicht mehr töten, sondern nur betäuben, um später von ihm zu erfahren, ob die Piraten auch Thalia entführt hatten, und wohin sie zogen. Als er bis auf einen Meter an den Mann herangekommen war, den er als Opfer aus gewählt hatte, richtete er sich auf und hob beide Arme. Energisch schlug er zu. Seine Handkanten fuhren dem Piraten in die Hals beuge und fällten ihn. Kennon fing ihn auf, so daß er beim Sturz in den Sand kein Ge räusch verursachte. In diesem Moment kreischte über ihm ein Geier. Kennon vernahm das Rauschen der Flügel und fühlte, wie ein scharfer Schnabel nach ihm schlug. Er hörte die erregten Schreie der Piraten, und wieder fuhr etwas auf seinen Kopf herab. Vergeblich versuchte er, zur Seite auszuweichen. Betäubt stürzte er in den Sand. Als er erwachte, war es hell. Ein steifer Wind strich über die Savanne und die Sand dünen. Kennon entfernte sich den Sand aus den Augen und aus dem Mund. Sein Kopf schmerzte. Er tastete ihn ab und fühlte, daß er eine große Beule am Hinterkopf hatte. Sie war blutverkrustet. Geronnenes Blut bedeck te auch seine linke Brust. Verwundert unter suchte er seine Jacke, die aus einem lederar tigen Stoff bestand. Er sah, daß ein breiter Riß darin klaffte, der zweifellos von einer Messerklinge stammte. Eine Schnalle war verbogen.
H. G. Francis Kennon zog den Riß auseinander und stellte fest, daß er eine Fleischwunde an der Seite hatte. Das Messer hatte die Schnalle getroffen, war daran abgeglitten und ihm in die Seite gefahren. Wäre die Schnalle nicht gewesen, hätte es sein Herz durchbohrt. Mühsam richtete Kennon sich auf. Er drehte sich um und zuckte zusammen. Etwa zweihundert Meter von ihm entfernt stand Thalia. Sie befand sich an der Stelle, an der in der Nacht der Kampf stattgefunden hatte. Sie blickte zu ihm herüber. Aufatmend ging Kennon auf sie zu. Er war froh, daß sie den Kampf überlebt hatte. Schon von weitem sah er, daß die Dellos tot waren. Sie lagen auf dem Boden, und der Wind hatte bereits soviel Sand über sie ge trieben, daß sie teilweise darunter begraben waren. »Ich hatte schon befürchtet, daß es dich auch erwischt hat«, rief Kennon der Tochter Odins zu. »Bist du verletzt?« Sie blickte ihn abweisend an. »Was ist los?« fragte er bestürzt, als er vor ihr stand. »Was hast du?« »Feigling«, sagte sie verächtlich. Sie drehte sich um und ging nach Osten. Er eilte ihr nach, packte ihren Arm und riß sie her um. »Was ist los?« schrie er. Sie schüttelte seine Hand ab. »Wage es nicht noch einmal, mich zu berühren«, sagte sie drohend. »Oder ich erschlage dich.« »Ist es nicht langsam an der Zeit, mir zu erklären, was los ist?« fragte er zornig. Sie schürzte die Lippen. »Das ist wohl nicht nötig«, entgegnete sie. »Während die Dellos, Grizzard und ich um unser Leben gekämpft haben, hast du dich weitab von uns im Sand verkrochen. Du warst zu feige, mit uns zu kämpfen. Ver schwinde. Ich will dich nicht mehr sehen.« Sie wandte sich ab und setzte ihren Mar sch nach Osten fort. Kennon blickte ihr ver blüfft nach. Er wußte nicht, was er auf diese Anschuldigungen sagen sollte. Schließlich lief er erneut hinter ihr her.
Duell der vertauschten Seelen »Ich erinnere dich daran, daß du von At lan den Auftrag erhalten hast, Grizzard zur FESTUNG zu bringen«, sagte er, als er sie erreicht hatte. Sie ging weiter, ohne ihn zu beachten. »Nun gut, dann solltest du wissen, daß er in dieser Richtung nicht zu finden ist. Geh ruhig zur FESTUNG zurück und be richte Atlan, daß die Piraten dir Grizzard ab genommen haben.« Er blieb stehen und blickte ihr nach. Tha lia tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie er reichte ein kleines Wäldchen und schritt hin ein. Kennon fluchte. Er drehte sich um und ging auf seiner Spur zurück. Der Wind ver wehte sie, so wie er es mit den Spuren der Piraten getan hatte. Kennon sah ein, daß es schwer für Thalia gewesen war, sich ein richtiges Bild vom Verlauf des Kampfes zu machen. Mit ein wenig Mühe hätte sie jedoch herausfinden können, was tatsächlich geschehen war. Es war aber einfacher für sie gewesen, auf ih rem einmal gefaßten Vorurteil zu beharren und die Schlüsse zu ziehen, die dazu paßten. Der Stumme verharrte einige Zeit bei den toten Dellos, bis er die Stelle ausgemacht hatte, an der er bis zum Anbruch des Tages gelegen hatte. Blickte er über sie hinaus, dann sah er in einer Entfernung von etwa fünfzehn Kilometern ein dichtes Waldgebiet im Süden. Kennon war sich sicher, daß in diesem Wald der Regenfluß verborgen war, von dem die Entführer Grizzards gekommen waren. Er wunderte sich darüber, daß Thalia nicht die gleichen Schlüsse gezogen hatte wie er. Dabei boten sie sich an. Ihn schmerzte, daß sie es sich so einfach machte. Die Erinnerung an viele ähnliche Erlebnisse wurden in ihm wach. Oft genug war er ähnlich beurteilt worden, dann war jedoch stets sein Äußeres der Grund dafür gewesen. Man hatte in ihm den Krüppel ge sehen und von seinem äußeren Erschei nungsbild auf den Charakter geschlossen. Während seiner Zeit im altarkonidischen Imperium hatte Kennon-Axton solche Fehl urteile hin und wieder sogar provoziert, weil
17 sie dazu geführt hatten, daß ihn seine Geg ner unterschätzten. Dadurch war sein Kampf für Atlan leichter geworden. Jetzt aber war alles anders. Thalia galt es nicht zu bekämpfen. Er stand an ihrer Seite und an der Atlans. Sie aber würde dem Ar koniden berichten, was geschehen war, und ihm ein völlig falsches Bild vermitteln. Kennon spürte, daß er in eine Sackgasse getrieben wurde, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Es wurde Zeit, daß er sich wehrte und deutlich machte, wie er wirklich war. Er lief los. Dabei schlug er jedoch einen Bogen ein. Er wollte sich dem Wald am Re genfluß nicht aus der gleichen Richtung nä hern, die die Piraten eingeschlagen hatten, da er damit rechnete, daß sie Beobachtungs posten am Waldrand aufgestellt hatten. Es genügte bereits, wenn sich dort einige Weiß kopfgeier aufhielten. Diese Tiere würden ihn von weitem sehen und Alarm schlagen. Kennon bemühte sich, die wenigen Bäu me und Büsche, die in der Savanne wuch sen, als Deckung auszunutzen. Hin und wie der kroch er auf allen vieren durch Gras und Sand. Auf diese Weise kam er nur langsam voran. Ihm war jedoch wichtig, daß die Pira ten ihn nicht bemerkten. Sie hielten ihn für tot. Das war sein Vorteil. Kennon war sich nicht völlig klar darüber, was er tun würde, wenn er die Piraten er reichte. Zunächst wollte er sie beobachten und belauschen. Dann wollte er sich davon überzeugen, ob Grizzard noch lebte. Den Gedanken aber, was zu geschehen hatte, wenn Grizzard nicht tot war, verdrängte er. Ihm kam es darauf an, Thalia zu bewei sen, daß er sich nicht feige zurückgezogen hatte und daß er kämpfen konnte. Er hoffte, daß sie doch noch zur Vernunft kommen und umkehren würde. Als Kennon noch etwa hundert Meter vom Waldrand entfernt war, bemerkte er ei nige Geier, die in den Bäumen hockten und die Ebene vor dem Wald beobachteten.
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18 Thalia verschwendete keinen Gedanken mehr an den Stummen. Sie war davon über zeugt, daß er ein Feigling war, der sich da vongestohlen hatte, als Grizzard und sie überfallen worden waren. Sie glaubte, daß er aus sicherer Distanz abgewartet hatte, bis die Gefahr vorbei war. Sie hatte das Blut an seiner Jacke gesehen, nahm jedoch an, daß er sich selbst eine leichte Verletzung zuge fügt hatte, um sie zu täuschen. Sie machte sich Sorgen um Grizzard, der an ihrer Seite gekämpft und ihr Leben geret tet hatte. Dabei hatte er mehrere Angreifer niedergestreckt. Thalia glaubte, daß die nächtlichen Wegelagerer ihre Toten mitge nommen hatten, um ihre Identität zu wahren. Doch damit konnten sie sie nicht täuschen. Die Art, wie sie gekämpft hatten, hatte sie verraten. Es waren Piraten vom Regenfluß. Die Tochter Odins vermutete, daß diese den Überfall der Lampras auf Goris beobachtet hatten und nun gewisse Schätze bei ihnen vermuteten. Tatsächlich war ihnen etwas von fast unersetzlichem Wert in die Hände gefallen – die Porquetor-Rüstung. Gelang es ihnen, diese zu öffnen und Grizzard daraus hervorzuholen, dann verfügten sie über eine absolut überlegene Waffe, mit deren Hilfe sie ihren Machtbereich ausdehnen konnten. Thalia zweifelte nicht daran, daß sie das auch tun würden. Sie ging nach Osten, bis die ersten Anhö hen des Taambergs südlich von ihr lagen. Dann wandte sie sich nach Süden. Am Fuß des Taambergs entsprang der Regenfluß. Dort hausten die Piraten. Sie waren Nach kommen der Familie Knyr und hatten alle eine gewisse Ähnlichkeit mit Razamon. Mit ihm hatten sie auch die Art zu kämpfen ge mein. Je näher sie dem Fluß kam, desto dichter bewaldet war das Gebiet, durch das sie schritt. Sie beeilte sich nicht sonderlich, da sie die Piraten erst mit Anbruch der Dunkel heit erreichen wollte. Bis dahin aber hatte sie noch viel Zeit. Der Boden war teils fest, teils morastig. Immer wieder wurde sie zu Umwegen ge-
H. G. Francis zwungen, weil sich der Untergrund als zu tückisch erwies. Schließlich stieß sie auf einen schmalen Pfad. Er schwankte unter ih ren Füßen und zeigte dadurch an, daß er auf dem Morast schwamm. Da er jedoch festge treten war, fühlte Thalia sich auf ihm sicher. Vor ihr hatten schon viele diesen Pfad be schritten. Links und rechts von ihm schim merte Wasser durch das Sumpfgras, so daß sie sich hütete, den Pfad zu verlassen. Je weiter sie kam, desto langsamer ging sie. Immer wieder blieb sie stehen und sah sich suchend um. Das Laubwerk der Bäume war dicht. Lianen hingen von den Asten her ab. Sie waren teilweise mit Blumen besetzt, die einen betäubenden Geruch verbreiteten. Thalia wunderte sich, daß sie keine Tiere sah. Nur Insekten tauchten hin und wieder auf. Während sie gerade überlegte, daß dieser Pfad jeden Angreifer in eine Falle der Pira ten führen konnte, knackte etwas hinter ihr. Sie fuhr herum. Die Vars-Kugel wirbelte hoch. Doch hinter ihr war niemand. Ein Netz fiel auf sie herab und hüllte sie vom Kopf bis zu den Füßen ein. Sie ver suchte sofort, sich daraus zu befreien, doch die Seile, aus dem es geknüpft war, erwiesen sich als zu fest. Zwischen den Bäumen tauchten einige Piraten auf. Sie hielten Taue in den Händen, die mit dem Netz verbunden waren. Als sie daran zogen, rissen sie Thalia von den Beinen. Sie stürzte auf den Boden. Einer der Piraten beugte sich über sie und hieb ihr die Faust an den Kopf. Damit be täubte er sie. »Bringt sie weg«, befahl der Pirat. »Ich bleibe hier. Vielleicht kommt noch jemand, der uns besuchen will.« »Das ist Thalia«, bemerkte ein anderer. Er hatte eine Narbe auf der Stirn. »Ich weiß. Gerade weil es Thalia ist, neh men wir sie mit.« Der Pirat schob beide Hände in die Hosentaschen. »Wenn wir ge wußt hätten, daß es die Tochter Odins ist, dann hätten wir sie schon in der Nacht mit genommen.«
Duell der vertauschten Seelen
4. Gefangen Sinclair Marout Kennon war kein Mann, der sich in der Wildnis auskannte. Dennoch wußte er, was er zu tun hatte. Er wich noch weiter nach Westen aus als bisher und drang erst in den Wald ein, als er keine Geier mehr entdeckte. Erst jetzt war er sicher, sich den Piraten unbemerkt nähern zu können. Er arbeitete sich durch dichtes Unterholz bis an den Regenfluß heran, der hier in der Nähe des Taambergs erst wenige Meter breit war. Das Ufer war steinig, aber flach, so daß er im Wasser gehen konnte. Dennoch kam er nur langsam voran, da er den Windungen des Flusses folgen mußte. Stunde um Stunde verstrich, ohne daß er etwas von den Piraten sah. Dann endlich be merkte er eine aus dem Grün der Bäume aufsteigende Rauchsäule. Er ließ sich in das träge dahingleitende Wasser gleiten, tauchte unter und stieß sich von den Felsen auf dem Grund ab. Mühelos erreichte er das gegen überliegende Ufer, wo es ihm gelang, unter einige überhängende Zweige zu kriechen. Unmittelbar darauf beobachtete er eine Frau, die nur wenige Schritte von der Stelle entfernt angelte, von der aus er getaucht war. Sie hatte nichts bemerkt. Lautlos zog er sich ins Unterholz zurück und arbeitete sich langsam voran, bis er eine kleine Halbinsel erreichte, von der aus er die Ruinen einiger Häuser sah. Er hatte die Piraten gefunden. Zwischen den Trümmern bewegten sich zahlreiche Männer, Frauen und Kinder. Sie schienen völlig sorglos zu sein. Als Kennon etwa eine halbe Stunde lang in seinem Versteck gelegen hatte, schleppten mehrere Männer die gefesselte Thalia her bei. Sie war bewußtlos. Einer der Männer schlug ein Signaleisen, und überall in der verfallenen Stadt erhob sich wildes Geschrei. Zu Kennons Bedauern trugen die Piraten Thalia in eine der Ruinen, wo er sie nicht mehr sehen konnte. Er wunderte sich darüber, daß Grizzard
19 sich bisher nicht gezeigt hatte, und er fragte sich, ob dieser den Piraten entkommen war. Geduldig verharrte er in seinem Versteck. Er streifte sich die Kleider ab und legte sie flach über einige tief hängende Zweige, so daß sie trocknen konnten. Dann legte er sich wieder ins Gras und wartete ab. Erst wenn es dunkel geworden war, wollte er den Fluß wieder überqueren.
* Athephet ließ halten, als seine Gruppe ei ne Buschinsel in der Savanne erreicht hatte. Ohne die geringsten Schwierigkeiten hatte er seine Männer hierhergeführt. Ein frischer Wind wehte. Der Anführer der Piraten grin ste zufrieden. Der Wind würde die Spuren beseitigen, die sie zurückgelassen hatten. »Begrabt die Toten«, befahl er mit schril ler Stimme. »Und macht ein Feuer an. Ich möchte mir ansehen, ob wir wirklich Por quetor erwischt haben.« Die Männer gehorchten widerspruchslos. Athephet war der kleinste von ihnen. Er war kaum 1,60 m groß. Die anderen überragten ihn teilweise um mehr als dreißig Zentime ter. Dennoch respektierten sie ihn vorbehalt los als ihren Anführer. Athephet hatte nicht nur eine besondere Art zu kämpfen, wobei er es verstand, die Hebelwirkung seiner Ar me und Beine auszunützen. Damit hatte er bisher jeden anderen Piraten besiegt. Doch nicht nur dadurch hatte er sich zu ihrem An führer aufgeschwungen. Athephet kannte sich in den Wäldern am Regenfluß wie kein anderer aus. Er hatte weite Ausflüge ins freie Land unternommen. Von ihm hieß es, daß er sogar schon in Moondrag im Nord westen und in den Parks der FESTUNG im Osten gewesen sei. Doch auch das war noch nicht alles. Athe phet schien förmlich zu riechen, wo gute Beute zu machen war. Den Piraten war es noch nie so gut gegangen wie unter seiner Führung. Alle paar Wochen ein Überfall ge nügte, sie ausreichend mit allem zu versor gen, was sie benötigten.
20 Äußersten Unwillen hatte Athephet aller dings bei ihnen hervorgerufen, als er ihnen befohlen hatte, Gräben vom Fluß in den Wald zu ziehen und damit Wasser in einige Niederungen zu leiten. Zunächst hatte nie mand eingesehen, wozu das gut sein sollte, und Athephet hatte mit äußerster Härte durchgreifen müssen. Dann aber war das Sy stem fertig gewesen, und die Piraten hatten plötzlich festgestellt, daß ihr Unterschlupf im Regenwald nur über wenige schmale Pfa de zu erreichen war. Sie fühlten sich seitdem wie auf einer Insel, und es erschien ihnen geradezu lächerlich einfach, den Unter schlupf zu bewachen. Es schien, als habe niemand eine Chance, ihn unbemerkt zu er reichen. Das führte jedoch dazu, daß die Piraten von Tag zu Tag sorgloser wurden. Athephet dachte über dieses Problem nach, während seine Männer die Toten be gruben, die der Überfall gekostet hatte. Es waren fünf junge Männer, die die Aktion nicht überlebt hatten. Keiner der anderen machte dem Anführer einen Vorwurf, da niemand damit hatte rechnen können, auf einen derart erbitterten Widerstand zu tref fen. Feuer flackerte auf. Athephet trat an die stählerne Gestalt her an, die gefesselt auf dem Boden lag. »Es ist Porquetor«, sagte er. »Tatsächlich.« »Dann ist Porquetor also doch nicht tot«, bemerkte Treall, sein Stellvertreter. Er war ein hochgewachsener, bärtiger Mann. Das ungepflegte Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. »Wie ist das möglich? Es heißt doch, Porquetor sei von dem neuen Herrn Pthors besiegt worden. Von Atlan. Seitdem hat man von Porquetor nichts mehr gehört.« »Caidon-Rov von der Feste Grool hat mir gesagt, daß Porquetor nicht mehr existiert«, erwiderte Athephet kopfschüttelnd. »Du warst auch in der Feste Grool?« »In der Feste nicht«, antwortete Athephet. »Caidon-Rov läßt niemanden hinein. Ich war vor der Feste und habe mit ihm gespro-
H. G. Francis chen.« »Vielleicht ist es gar nicht Porquetor?« fragte Treall. Athephet versetzte der Rüstung einen Fußtritt. »Er ist es. Ein zweites Ding dieser Art gibt es nicht auf Pthor. Jedenfalls habe ich nie davon gehört.« Er nahm einen brennenden Ast und beug te sich über die Rüstung. Voller Genugtuung stellte er fest, daß der Stählerne sich vergeb lich gegen die Fesseln stemmte. Er strich mit der Flamme dicht über die Gesichtsmaske hinweg, um sie sich genau anzusehen. Dabei drückte der Wind den beißenden Rauch in die Rüstung. Während Athephet den Roboter noch fas ziniert betrachtete, ertönte aus seinem Innern ein ersticktes Husten. Der Anführer der Pira ten fuhr erschrocken zurück. »Er hat gehustet«, stellte Treall verstört fest. »Das habe ich auch gehört«, sagte Athe phet. »Aber – das kann doch gar nicht sein.« Er beugte sich erneut über Porquetor und legte diesem den brennenden Zweig kurzer hand auf die Gesichtsmaske. Wieder drückte der Wind den Rauch durch einige Ritzen hinein, und Sekunden darauf ertönte deutlich ein Husten. Während die anderen Piraten sich zur Flucht wandten, bewies Athephet seine be sonderen Qualitäten. »Ihr bleibt hier«, herrschte er seine Be gleiter an. »Los. Dreht ihn um. Er soll auf dem Bauch liegen.« Zögernd und ängstlich kamen die Piraten heran. Diese sonst so furchtlosen Männer er innerten sich an die zahllosen Berichte über Porquetor und dessen überragenden Fähig keiten. Bisher hatten sie sie als übertrieben zurückgewiesen. Jetzt aber dachten sie an ei nige unheimliche Dinge, die man Porquetor nachsagte. Athephet fuhr sie energisch an, und end lich beugten sie sich seinem Willen. Sie drehten Porquetor herum, bis ihr Anführer ihnen Halt gebot.
Duell der vertauschten Seelen »Was ist los?« fragte Treall. Er war ner vös und bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr zu fliehen. »Siehst du es denn nicht?« herrschte Athephet ihn an. Er deutete auf die Rüstung. »Hier und hier. Das sind Verschlüsse. Man kann das Ding öffnen.« Treall murmelte etwas in seinen Bart. »Du Trottel«, fauchte Athephet ihn an. »Da ist nichts Geheimnisvolles dabei. Das ganze Rätsel von Porquetor ist, daß jemand in dieser Metallhülle steckt.« Er hantierte an den Verschlüssen, bis die se sich plötzlich öffneten. Dann griff er mit beiden Händen in die Rüstung hinein und zerrte die verwachsene Gestalt heraus, die darin lag. Die Männer drängten sich um ihn. Fassungslos blickten sie auf die verkrüppelte Kreatur, die halb bewußtlos in den Händen ihres Anführers hing. Athephet lachte schallend. »Seht ihr das?« schrie er vergnügt. »Das ist das ganze Geheimnis Porquetors. Ein armseliger Wicht, den jeder von uns mit ei nem Finger umstoßen kann.« Er stellte Grizzard auf die Beine und stieß ihm einen Finger vor die Brust. Der Ver wachsene stürzte unter dem Gelächter der Piraten zu Boden. »Wir nehmen ihn mit«, entschied Athe phet. »Ihn und die Rüstung. Ich werde sie untersuchen, und dann wird sich zeigen, ob wir etwas damit anfangen können.« »Willst du in sie hineinkriechen?« fragte Treall. »Wer weiß?« Der Anführer der Piraten lä chelte. Er blickte auf den Verwachsenen, der sich unsicher vom Boden erhob. Er fuhr fort: »Wir brechen auf. Nehmt die Rüstung. Tre all ist mir für den Krüppel verantwortlich. Löscht das Feuer.«
* Kennon schreckte auf, als aus der Stadt der Piraten wildes Gelächter ertönte. Er war gerade dabei, die getrockneten Kleider wie der anzuziehen. Eilig kroch er durch das Ge
21 büsch, bis er über den Fluß hinweg die Pira ten sehen konnte. Der Atem stockte ihm. Etwa fünfzig Männer und Frauen trieben einen häßlichen Zwerg durch die Gassen zwischen den Ruinen. Das verwachsene We sen war nur wenig größer als 1,50 m, hatte eine vorgewölbte Brust und einen mächtigen Schädel mit hervorquellenden Augen, einem spitzen Kinn und strohgelbem Haar. Es schleppte sich auf viel zu dünnen Beinen vorwärts und hatte offensichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Kennon stöhnte gequält auf. Er sah – sich selbst. Er sah seinen Körper, in dem das Bewußtsein Grizzards lebte. Er preßte die Stirn ins Gras und schloß die Augen, aber das Bild, das er gesehen hatte, wich nicht von ihm. Er hörte das Gelächter, und er glaubte, den röchelnden Atem des ge quälten Wesens zu vernehmen. Er wußte genau, wie Grizzard zumute war, welche Anstrengungen er unternehmen mußte, nicht zu stürzen, wie seine Lungen jetzt schmerzten und daß er meinte, vor Atemnot ersticken zu müssen. Sein linkes Lid begann zu zucken. Er drückte die Finger dagegen, um es zu beruhigen. Voller Unruhe fragte er sich, ob er einen Teil der negativen Eigenschaften seines verwachsenen Körpers in den Griz zard-Körper übertragen hatte. Er sträubte sich mit aller Macht gegen diesen Gedan ken, der ihn nicht weniger entsetzte als die Vorstellung, erneut in dem verwachsenen Körper leben zu müssen. Doch er ließ sich nicht verdrängen. Während er das Lachen der Piraten hörte, drängte sich ihm das Bild eines sich ständig veränderten Grizzard-Körpers auf. Es be gann mit dem Zucken des Lides und setzte sich damit fort, daß er kleiner wurde, und seine Brust sich verformte und immer weiter vorwölbte. Kennon glaubte, ein schmerzhaftes Zie hen in den Gliedern zu fühlen, wie es Kinder häufig als Wachstumsschmerzen haben. Stöhnend warf er sich herum. Er riß den
22 Kopf hoch und blickte mit tränenden Augen zum anderen Ufer hinüber. Für einige Se kunden glaubte er, einen sich aufrichtenden Grizzard wahrzunehmen, der zur athleti schen Gestalt anwuchs. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und merkte da nach, daß ein Schatten ihn getäuscht hatte. Er preßte die Lippen zusammen. Du mußt ruhig bleiben, durchfuhr es ihn. Verliere nicht die Nerven. Das wäre das Ende. Das könnte dich deinen Verstand kosten. Er dachte an Espher, die – wie er meinte – in der FESTUNG auf ihn wartete. Für sie lohnte es sich, alle Belastungen und alle Qualen auf sich zu nehmen. Für sie wollte er kämpfen. Für sie mußte er einen Mord begehen. Der verwachsene Körper dort drüben zwischen den Trümmern mußte sterben. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Kennon wünschte, daß er jetzt eine Waffe hätte. Mit Pfeil und Bogen hätte er Grizzard mühelos töten können. Ein Energiestrahler wäre wesentlich besser gewesen. Aber er hatte keine Waffe. Er besaß noch nicht ein mal mehr das Messer, das er bei dem nächt lichen Kampf an sich gebracht hatte. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, daß er Grizzard mit bloßen Händen angreifen mußte. Als ob das ein Unterschied wäre, dachte er dann, und Zorn über sich selbst kam in ihm auf. Ändert es etwas an der Tat, wenn du aus sicherer Entfernung tötest und nicht unter deinen Händen fühlst, was geschieht? Kennon verfluchte die Tatsache, daß die bisherigen Gelegenheiten, Grizzard zu töten, verstrichen waren. Alles wäre viel leichter gewesen, wenn er das Notwendige in der Senke der Verlorenen Seelen getan hätte. Dorguet hat dich zu Recht beschimpft, dachte er. Es war falsch von dir, nicht dort zu kämpfen, wo Grizzard gekämpft hat. In dem Durcheinander hättest du eine Chance gehabt, die Rüstung zu öffnen und Grizzard zu töten. Du hättest ihn mit dem Gas ver nichten können. Er schüttelte die lästigen Gedanken ab.
Es war sinnlos, verpaßten Gelegenheiten
H. G. Francis nachzutrauern. Er mußte nach vorn blicken. Allmählich wurde es dunkel. In einer Stunde würde es völlig dunkel sein. Bis dahin woll te er warten, dann aber wollte er zuschlagen.
* Athephet betrachtete die Rüstung mit ei ner gewissen Scheu. Er hatte sich dazu ent schlossen, in sie hineinzusteigen und sie zu steuern. Jetzt aber merkte er, daß es ein Un terschied war, ob man einen solchen Plan nur erwog, oder ob man ihn verwirklichte. All die rätselhaften Geschichten kamen ihm wieder in den Sinn, die er von Porquetor ge hört hatte. Er blickte sich um. Er befand sich mitten in der Ruinenstadt am Regenfluß. Seine Freunde standen und saßen auf den Trümmern und sahen ihm zu. Der Verkrüppelte stand unter einem Torbo gen. Er zitterte am ganzen Leib und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Immer wieder versuchte er, sich auf den Boden sinken zu lassen, doch jedesmal trieb Treall ihn wieder hoch. Athephet räusperte sich. Er suchte nach einer Ausrede, mit der er begründen konnte, daß er die Rüstung jetzt doch noch nicht ausprobieren wollte. Sie stand vor ihm und wurde von zwei Männer gehalten, damit sie nicht umkippte, wenn er hineinkletterte. Wenn auch nur ein wenig von dem wahr war, was er gehört hatte, ging es dem An führer der Piraten durch den Kopf, dann war dies nicht nur eine Konstruktion aus hoch wertigem Stahl und anderen Materialien, sondern dann war irgend etwas in ihr, das ihr ein geheimnisvolles Leben verlieh – ob jemand darin steckte oder nicht. »Nun, Athephet?« fragte Astrak spöttisch. »Hat dich dein Mut verlassen?« Astrak war sein schärfster Konkurrent. Er wäre nur zu gern Anführer der Piraten ge worden. Ihm fehlte jedoch die Qualifikation. Ihm ging es bei seinen Ansprüchen auch nicht darum, Verantwortung zu übernehmen und die Piraten mit neuen Ideen besser zu
Duell der vertauschten Seelen versorgen und reichlichere Beute zu ver schaffen. Für ihn war wichtig, daß ein An führer ein bequemes Leben führte, da ihm viele derbe Arbeiten erspart blieben. Ärgerlich preßte Athephet die Lippen zu sammen. Vor Astrak durfte er sich keine Blöße geben. Er legte die Hände auf die Schultern der Rüstung und stieg vorsichtig in die Öffnung hinein. Er drehte und wendete sich, während die beiden Männer die Rüstung hielten, bis er im Innenraum war. Hier blieb ihm gerade genug Platz. Er füllte die Rüstung bis in den kleinsten Winkel hinein aus. »Schließt sie«, befahl er. »Und dann bleibt in der Nähe. Es wird nicht leicht sein, das Ding zu steuern. Sicherlich mache ich zu Anfang viele Fehler. Falls ich umstürzen sollte, stellt mich wieder auf die Beine.« »Wir passen auf dich auf«, versprach Tre all. »Keine Sorge.« Vorsichtig berührte Athephet einen der Hebel und drückte ihn herunter. Der rechte Arm winkelte sich an und fuhr ruckartig zu rück. Der stählerne Ellenbogen bohrte sich einem der Männer in die Seite und schleu derte ihn mehrere Meter weit weg. Die Zuschauer lachten. Einige klatschten dem Anführer Beifall. Athephet lächelte. Der Anfang war ge macht, und er hatte den Männern und Frauen imponiert. Jetzt berührte er gleich zwei Hebel auf einmal. Die Wirkung war verblüffend. Die Porquetor-Rüstung rannte los. Bevor Athe phet sie aufhalten konnte, hatte sie eine Mauer erreicht. Sie raste dagegen und zer schmetterte sie. Trümmerstücke flogen nach allen Seiten. Die Mauerreste, die dann noch blieben, kippten um. Die Rüstung aber be wegte sich noch einige Meter weiter, bis es Athephet endlich gelang, sie anzuhalten. Begeistert brüllten die Piraten Beifall. Sie glaubten, daß ihr Anführer diese Aktion ab sichtlich durchgeführt hatte. Sie sahen nicht, daß Athephet vor Schreck am ganzen Kör per zitterte und nicht wagte, erneut Hebel oder Tasten zu berühren.
23 Doch er hörte den Beifall, und als dieser verebbte, wurde ihm klar, daß er irgend et was tun mußte. Behutsam berührte er einen Hebel. Die Rüstung drehte sich. Athephet atmete er leichtert auf. Durch die Sehschlitze beobach tete er die Zuschauer, die seine Experimente gebannt verfolgten. Auch als er den näch sten Hebel berührte, hatte der Anführer der Piraten Erfolg. Die Rüstung marschierte zwischen zwei Trümmersäulen hindurch auf das Flußufer zu. Athephet drückte den Hebel weiter herun ter. Die Piraten schrien auf. Die Rüstung stürmte im Laufschritt auf den Fluß zu und rannte hinein. Bevor Athephet recht begriff, was geschah, hatte er die Flußmitte erreicht, und das Wasser schlug über ihm zusammen. Panik überfiel ihn, als das Wasser in die Rüstung strömte. Er riß den Hebel wieder hoch. Die Rüstung blieb stehen. Doch jetzt befand er sich mitten im Fluß. Athephet hielt den Atem an. Er begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er drück te den Hebel wieder herunter, und die Rü stung rannte quer durch den Fluß ans andere Ufer. Das Wasser strömte gurgelnd aus ihr heraus. Athephet konnte wieder atmen. Er war so erleichtert, daß er vergaß, die Rüstung anzuhalten. Sie eilte über das Ufer hinaus und drang in den Wald ein. Athephet glaubte, einen Schatten gesehen zu haben, der zur Seite flüchtete. Oder war es die Ge stalt eines Mannes gewesen? Bevor er die Rüstung anhalten konnte, um sich umzudrehen, war er bereits etwa zwan zig Meter weit in den Wald gelaufen. Hier endete das Experiment krachend an einem Baum. Athephets Kopf flog nach vorn. Er prallte mit dem Gesicht gegen die Stahlplat ten im Innern des Helms. Doch jetzt stand die Rüstung wenigstens still. Der Pirat war froh, daß niemand gesehen hatte, wo er gelandet war. Vorsichtig lenkte er die Rüstung herum und führte sie wieder an das Ufer. Das ging nicht so ohne weite res. Mal kam er zu weit nach links ab und drohte im Kreis zu gehen, mal nach rechts,
24 wo er fast in ein Sumpfloch geraten wäre. Er konnte sich gerade noch zurückziehen, als die Beine bereits im Morast versanken. Als er endlich die Stelle wieder erreicht hatte, an der er etwas Verdächtiges gesehen zu haben glaubte, trampelte er so mit der Rüstung herum, daß er unfreiwillig alle Spu ren zerstörte. Schließlich beruhigte er sich selbst damit, daß er sich sagte, er habe ein Tier verscheucht, das hier im Unterholz ge legen hatte. Die Piraten am anderen Ufer des Flusses jubelten begeistert, als sie ihn wieder aus dem Laubwerk auftauchen sahen. Athephet schaffte es gar, ihnen zuzuwinken. Damit löste er einen weiteren Beifallssturm aus. Er genoß ihn, da er sicher war, daß ihm nun niemand mehr seine Führerschaft streitig machen würde. Zudem ging ihm auf, daß er ein Machtin strument gewonnen hatte, mit dem er jeden Raubzug risikolos durchführen konnte. Er war überzeugt davon, daß er wesentlich ge schickter und klüger war als der Verwachse ne. Daher glaubte er auch, daß ihn niemand besiegen würde, wenn er in der Rüstung steckte. Furchtlos führte er die Rüstung erneut durch den Fluß, und dieses Mal blieb er ru hig und gelassen, als das Wasser über sei nem Kopf zusammenschlug. Erst als er wieder am Ufer stand, fragte er sich beunruhigt, was wohl geschehen wäre, wenn er mitten im Fluß über einen Felsen gestolpert wäre. Du wärst jämmerlich ertrunken, dachte er und schwor sich, nicht noch einmal freiwil lig ins Wasser zu gehen. Er marschierte bis zu der Stelle, von der aus er gestartet war. Hier blieb er stehen. Treall öffnete die Rüstung und half ihm her aus. Lachend umringten ihn die anderen Piraten. »Damit schlagen wir alles in die Flucht, was uns in die Quere kommt«, rief Astrak. »Das ist die beste Waffe, die wir jemals hat ten.« »Wir haben noch eine andere«, sagte
H. G. Francis Athephet, als sich der Beifall gelegt hatte. »Wir haben Thalia.« Er winkte Treall zu und ging zusammen mit ihm über eine verfallene Treppe in einen großräumigen Keller, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Der Rauch zog durch ein Loch in der Decke ab. Der Raum war mit Gegenständen eingerichtet, die die Piraten bei ihren Beutezügen gestohlen hatten. Tha lia lag auf einem mit Fellen bedeckten Bett in einer Wandnische. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Eine Schlinge schnürte sich um ihren Hals, so daß sie sich kaum be wegen konnte. Athephet trat vor sie hin. »Nun, Thalia, wie geht's?« fragte er. Sie hielt die Augen geschlossen und tat, als habe sie ihn nicht bemerkt. »Es muß demütigend für dich sein, daß wir dich besiegt haben«, fuhr der Anführer der Piraten fort. »Nun, das kann jedem ein mal passieren. Laß uns nun darüber nach denken, was wir aus dieser Situation ma chen. Du hast niemanden, der dir hilft. Nie mand weiß, wo du bist. Also, sei vernünftig. Dir bleibt nur noch, mit uns zu verhandeln.« Sie schlug die Augen auf. Ebenso wie er war auch sie davon über zeugt, daß ihr niemand helfen würde. Sie wußte, daß auch Grizzard mit seiner Porque tor-Rüstung in die Hände der Piraten gefal len war. Also konnte keine Hilfe von ihm kommen. An den Stummen dachte sie nicht. Sie schätzte ihn nach den Vorkommnissen der beiden letzten Tage so gering ein, daß sie es nicht für nötig hielt, sich mit ihm zu befassen. Außerdem hatte sie sich von ihm getrennt, so daß er nicht wissen konnte, wo sie war. »Was wollt ihr von mir?« fragte sie. »Du hast gute Verbindungen und wohlha bende Freunde«, erwiderte Athephet. »Sie können viel für dich tun.« Er tippte gegen die Vars-Kugel, die neben ihr lag. »Was glaubst du, was sie tun werden, wenn ein Bote ihnen diese Kugel bringt, die dein Wahrzeichen ist? Werden sie ihm alles
Duell der vertauschten Seelen geben, was er verlangt, wenn er ihnen dafür verspricht, daß du unversehrt in die FE STUNG zurückkehrst?« »Das ist es also«, sagte Thalia verächtlich. »Ihr wollt meine Freunde erpressen. Glaubt nur nicht, daß auch nur einer etwas für mich geben wird. Sie werden deinen Boten aus quetschen, bis sie wissen, wo ich bin. Und dann werden sie hierher kommen und das Nest ausräuchern, so wie es längst schon hätte geschehen müssen.« »Das könnte schon sein«, entgegnete Athephet gelassen. »Für dich aber wäre es auf alle Fälle zu spät. Sollten deine Freunde das nicht wissen?«
5. Im Lager der Piraten Grizzard beobachtete verbittert, wie der Anführer der Piraten mit der Rüstung expe rimentierte. Jeder gelungene Versuch Athe phets entlockte ihm einen Fluch. Hoffnung kam in ihm auf, als der Pirat mit der Rü stung im Wasser verschwand. Er glaubte nicht daran, daß er sich daraus befreien wür de. Um so enttäuschter war er, als Athephet wieder auftauchte. Grizzard kauerte zu Füßen der Piraten zwischen den Trümmern. Er war froh dar über, daß man ihn in Ruhe ließ, so hatte er Gelegenheit, sich ein wenig zu erholen. Er brauchte diese Pause dringend, nachdem die Piraten ihn zuvor zu ihrem Vergnügen kreuz und quer durch das Lager gehetzt hatten. Voller Sehnsucht blickte er auf die Rü stung, als Athephet mit ihr zurückkehrte und aus ihr hervorkletterte. Einer der Piraten stieß ihn mit dem Fuß an. »He, Krüppel«, sagte er lachend. »Reiß die Augen nicht so weit auf. Ich kann mir auch so gut vorstellen, daß du am liebsten wieder in die Rüstung kriechen würdest.« Seine Worte lösten schallendes Gelächter aus. Für jeden der Piraten stand außer Frage, daß Grizzard nichts lieber tun würde als das. Als Athephet und Treall in den Trümmern
25 verschwanden, packte Astrak ihn am Kragen und zog ihn hoch. »Tanze, Kleiner«, befahl er. »Ich will dich tanzen sehen.« Grizzard blickte ihn starr an. Seine Hände zitterten. »Du sollst tanzen«, rief Astrak. »Worauf wartest du?« Er stieß dem Verwachsenen den Fuß vor die Brust und warf ihn um. Die Piraten johl ten, als er zu Boden stürzte. Sie klatschten rhythmisch in die Hände, bis er sich wieder erhob und zu tanzen begann. Doch schon nach wenigen Sekunden war er so erschöpft, daß er die Füße nicht mehr heben konnte. Astrak setzte ihm ein Messer an die Keh le. »Tanze, wenn dir dein Leben lieb ist«, rief er. Grizzard gehorchte. Er sah die lachenden Gesichter um sich herum, und er hörte die höhnischen Rufe der Piraten. Voller Haß dachte er an den Mann, dem er die ganze Schuld für diese Demütigungen gab, den Mann, der ihm seinen Körper gestohlen hat te. Er schwor sich, ihn zu töten, da er mehr und mehr die Hoffnung verlor, in seinen ei genen Körper zurückkehren zu können. Mit jedem Tanzschritt stieg der Haß gegen Ken non, und als Grizzard schließlich erschöpft zusammenbrach, lebte nichts anderes mehr in ihm als der Gedanke an Rache. Die Piraten erkannten, daß er sich wirk lich nicht mehr erheben konnte. Sie ließen ihn liegen, wo er war. Grizzard brauchte fast eine Stunde, bis er sich wieder erholt hatte. Mittlerweile war es dunkel geworden, und überall zwischen den Trümmern flammten Lagerfeuer auf. Grizzard schleppte sich zum Wasser, tauchte das Gesicht hinein und trank. Da nach fühlte er sich etwas wohler. Er kehrte zu den Trümmern zurück. Astrak, der an einem der Feuer saß und einen gegrillten Fisch verzehrte, machte eine derbe Bemerkung über ihn. Sie trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht und rief bei den an
26 deren Piraten ein wildes Gelächter hervor. Astrak winkte Grizzard zu sich heran, als das Gelächter verebbt war. Ernst blickte er ihn an. »Du solltest ebenfalls lachen, Krüppel«, riet er ihm. »Verstehst du? Wir wollen einen Hofnarren. Also strenge dich an, damit wir über dich lachen können.« »Und wenn ich es nicht tue?« fragte Griz zard ärgerlich. Astrak versetzte ihm eine Ohrfeige. Der Verwachsene stürzte zu Boden. Tränen stie gen ihm in die Augen. »Wenn du es nicht tust, dann verwandelst du dich in eine Leiche«, erklärte Astrak dro hend, und jetzt endlich begriff Grizzard, wie gefährlich seine Situation war. Er konnte es sich nicht leisten, sich gegen die Piraten auf zulehnen. Er mußte sich anpassen und ihnen den Gefallen tun, sich wie ein Narr zu be nehmen. Nur dann hatte er eine Überleben schance. Er stand auf und hüpfte von einem Bein aufs andere. Dann verneigte er sich linkisch vor Astrak. »Ich habe verstanden, Euer Gnaden«, rief er mit schriller Stimme. »Gebt mir einen Fußtritt, ich habe ihn verdient.« Er drehte sich um und bückte sich. Astrak nahm das Angebot lachend an. Er trat aller dings nur leicht zu. Grizzard sprang nach vorn und überschlug sich. Das geschah aller dings absichtlich. Die Piraten lohnten es ihm mit läutern Gelächter. Danach hatte Grizzard Ruhe. Er zog sich allmählich zurück, machte hier und da ein paar witzige Bemerkungen und stieg schließlich die Treppe zu dem Keller hinab, in dem er Thalia wußte. Sie war allein. Erregt blickte sie zu ihm hinüber, als er den Keller betrat. Sie hatte ihn noch nie zu vor in dieser Gestalt gesehen, ahnte aber, wer er war. Er eilte mit schleifenden Füßen zu ihr hin. »Ich bin es, Grizzard«, sagte er flüsternd. »Sie haben mich aus der Rüstung geholt.« »Sie quälen dich«, erwiderte sie. »Ich ha-
H. G. Francis be ihr Lachen gehört.« »Es ist nicht so schlimm«, beteuerte er. »Ich überstehe es. Früher oder später werde ich wieder in die Rüstung steigen, und dann räche ich mich.« »Tapferer Grizzard«, sagte sie bewun dernd. Sie blickte ihn mitfühlend an. »Du hast es schwer.« »Ich hoffe, daß sich das bald ändern wird.« »Wenn du die Rüstung wieder hast.« Er schüttelte den Kopf, während er sich nach einem Messer umsah, mit dem er die Fesseln durchschneiden konnte. »Davon spreche ich nicht. Ich meine mei nen Körper.« Ihre Augen weiteten sich. »Armer Grizzard«, sagte sie leise. »Das war zuviel für dich.« Er lächelte. Es sollte eine freundliche Ge ste werden, doch er verzerrte sein Gesicht zu einer häßlichen Grimasse. »Du glaubst, daß ich verrückt geworden bin«, sagte er mit schriller Stimme. »Aber das ist es nicht. Ich weiß, wovon ich rede. Ich sprach von meinem Körper, und das meine ich auch.« »Ich begreife überhaupt nichts.« Er fand ein Messer. Es lag auf einer Bank. Er nahm es auf. Dann kehrte er zu Thalia zu rück und versuchte, die Stricke durchzu schneiden. Das Messer war jedoch so stumpf, daß er nichts damit ausrichtete. »Es hängt mit dem Stummen zusammen«, erläuterte er. »Der Stumme ist ein Dieb, ein widerlicher Verbrecher. Er hat mir meinen Körper gestohlen. Verstehst du? Eigentlich sollte ich in dem schönen und athletischen Körper des Stummen leben. Dieser Körper gehört mir. Der Stumme hat mich daraus vertrieben und mich in diesen Körper ge zwungen.« Thalias Gesicht verdunkelte sich. Traurig betrachtete sie Grizzard, der zunächst gar nicht merkte, was sie über ihn dachte. Als es ihm klar wurde, daß er die Tatsachen viel zu wirr und bruchstückhaft geschildert hatte, setzte er zu einer erneuten Erklärung an. Er
Duell der vertauschten Seelen schilderte, was geschehen war, und als Tha lia auch dann noch nicht begriffen hatte, wiederholte er alles noch einmal. Aber auch das genügte nicht. Thalia stellte eine Reihe von Fragen, die er so gut beantwortete, wie es ihm möglich war. Dabei versuchte er, sie von ihren Fesseln zu befreien, aber das gelang ihm nicht. Seine Bemühungen scheiterten, was auch immer er anstellte. Das Messer war zu stumpf, und die Knoten waren so fest, daß er sie mit seinen schwachen Händen nicht lösen konnte. »Dann ist der Stumme also nicht nur ein Feigling, sondern auch ein Dieb«, stellte Thalia fest. Sie zeigte nicht, wie enttäuscht sie darüber war, daß Grizzard ihr nicht hel fen konnte. »Er hat das scheußlichste Ver brechen begangen, das ich mir vorstellen kann. Ich verachte ihn.« Thalia zerrte an ihren Fesseln, richtete aber auch damit nichts aus. Die Schlinge zog sich so fest um ihren Hals, daß sie nur noch mühsam atmen konnte. Grizzard löste sie wieder und ermahnte sie, etwas vorsichtiger zu sein. »Ich wollte, ich könnte dir helfen«, sagte die Tochter Odins. »Ich würde den Stummen sofort aus deinem Körper vertreiben, wenn ich wüßte, wie ich es machen muß.« Tränen stiegen ihm in die Augen. Er woll te antworten, doch die Stimme versagte ihm. »Vielleicht weiß Atlan einen Ausweg«, fuhr sie fort. »Bestimmt weiß er einen, Griz zard. Du mußt versuchen, zu ihm zu kom men.« »Wie sollte ich das?« fragte er hilflos. »Die Piraten hätten mich schon nach weni gen hundert Metern eingeholt.« »Das ist wahr«, gab sie zu, »aber Atlan wird uns hier bald herausholen.« »Bist du sicher? Glaubst du, daß er sich erpressen läßt?« »Atlan hat Sorgen«, erklärte sie seufzend. »Du weißt, daß in letzter Zeit zahlreiche Flugscheiben durch den Wölbmantel ge drungen sind, ohne daß wir etwas dagegen tun konnten. Ich bin sicher, daß Atlan keine Zeit hat, sich um etwas anderes zu kümmern
27 als um diese Flugscheiben. Er befürchtet ei ne Invasion. Diese könnte unser aller Ende bedeuten. Wenn daher ein Bote von den Piraten zu ihm kommt und ihm eine Forderung überbringt, wird er schnell darauf einge hen.« »Meinst du wirklich? Irrst du dich auch nicht in Atlan?« »Unter normalen Umständen würde er sich auf keinen Fall erpressen lassen. Jetzt aber hat er gar keine Zeit, sich lange mit den Piraten auseinanderzusetzen. Und was sie verlangen, ist im Grunde genommen so we nig, daß es sich für Atlan nicht lohnt, für diese Dinge Zeit zu opfern. Ich bin sicher, in ein oder zwei Tagen sind wir frei.« »Hoffentlich«, sagte Grizzard. Er legte das Messer auf die Bank zurück. »Ich werde ein scharfes Messer besorgen, mit dem ich deine Fesseln durchschneiden kann. Dann brauchen wir gar nicht erst abzuwarten, bis Atlan uns befreit.« »Versuche es, Grizzard. Ich bewundere dich.« Dankbar nickte er ihr zu. Dann drehte er sich um und eilte mit schleifenden Füßen hinaus. Keuchend schleppte er sich die Treppe hoch. Auf ihrer höchsten Stufe kau erte Treall. Grinsend erwartete er ihn. »Nun?« fragte er, als Grizzard vor ihm stand. »War das Messer zu stumpf?« Der Verwachsene begriff, daß die Piraten ihn mit voller Absicht zu Thalia gelassen und ihm sogar ein Messer hingelegt hatten, weil sie wußten, daß er damit doch nichts anfangen konnte. Er stürzte sich auf den Stellvertreter Athephets und schlug mit sei nen Fäusten auf ihn ein, ohne allerdings eine Wirkung damit zu erzielen. Treall lachte schallend und ließ es sich gefallen.
* Sinclair Marout Kennon lag noch immer am Ufer des Regenflusses gegenüber der Stadt der Piraten. Er war vorsichtig, da er nicht sicher war,
28 ob der Anführer der Piraten ihn bemerkt hat te. Kennon hatte beobachtet, wie Athephet in die Rüstung gestiegen war und wie er er ste Experimente gemacht hatte. Für einen Moment war er durch ein Geräusch abge lenkt worden, das ein Tier verursacht hatte, und unmittelbar darauf war Athephet in der Rüstung vor ihm aufgetaucht. Da Kennon davon überzeugt war, daß kei ne unmittelbare Lebensgefahr für Thalia und Grizzard bestand, glaubte er, in Ruhe abwar ten zu können. Je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher wurde, daß die Piraten keinen Verdacht geschöpft hatten. Sie hockten an den Feuern und unterhielten sich. Dabei kreisten Kürbisflaschen, die ein berauschen des Getränk enthielten, wie sich bald zeigte. Kennon ging ein Stück weiter flußauf wärts, glitt hier ins Wasser, nachdem er sich die Kleider ausgezogen hatte, und überquer te den Fluß. Dieser war an dieser Stelle nur so tief, daß ihm das Wasser bis an die Brust reichte. Am anderen Ufer streifte er sich die Klei der wieder über. Dann näherte er sich dem Lager. Vorläufig interessierte ihn nur Thalia. Er hatte beobachtet, wohin man sie gebracht hatte. Zu ihr wollte er. Wenn es ihm gelang, sie zu befreien, so konnte sie ihm helfen, die Rüstung zu holen und zusammen mit Griz zard aus dem Unterschlupf der Piraten zu fliehen. An Grizzard dachte Kennon allerdings nur wenig. Er hoffte, daß sich eine Gelegen heit ergeben würde, ihn zu beseitigen. Die Rüstung allerdings wollte er auf keinen Fall den Piraten überlassen, weil sie eine zu wertvolle Waffe darstellte. Kennon schob sich langsam durch das Unterholz. Er war sich dessen bewußt, daß er viel Zeit hatte. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen und dabei unvorsichtig zu sein. Daher tastete er den Boden vor sich erst sorgfältig ab, bevor er sich weiterschob. Nach etwa einer Stunde bemerkte er die Silhouette eines Wächters, der nahezu bewe gungslos auf einem umgestürzten Baum kauerte. Er befand sich seitlich von ihm.
H. G. Francis Jetzt bewegte Kennon sich noch vorsichti ger voran. Es gelang ihm schließlich, an der Wache vorbeizukommen, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Als Kennon die Ruine eines Hauses er reichte, erschien plötzlich eine dunkle Ge stalt dicht neben ihm. »Alles in Ordnung?« fragte der Mann den Wächter. Kennon identifizierte ihn als Stell vertreter des Anführers. »Alles in Ordnung«, antwortete der Wächter. »Alles ist ruhig.« »Bleib wachsam«, riet ihm Treall. »Du weißt, daß Athephet mit einem Überfall der Leute aus Goris rechnet. Die Fischer von Goris sind uns verdammt nahe gekommen. Sie könnten entdeckt haben, wo wir sind.« »Wenn sie kommen, werde ich sie se hen«, erwiderte die Wache. »Du weißt, daß ich selbst bei völliger Dunkelheit noch so gut sehen kann wie andere am Tag.« »Das weiß ich«, sagte der Stellvertreter Athephets, drehte sich um und ging davon. Kennon lächelte. Der Wächter hatte gelo gen. Er sah bestimmt nicht so gut in der Dunkelheit, wie er behauptete, denn ihn hat te er nicht bemerkt. Der Terraner war froh, daß er den Mann nicht ausgeschaltet hatte, so wie er es zunächst geplant hatte. Hätte er es getan, wäre jetzt schon alles vorbei gewe sen. Er schlich sich weiter voran, wobei ihm der Lichtschimmer der Lagerfeuer den Weg wies. Er sah Treall vor sich, der zu seinem Platz am Feuer zurückkehrte und dabei so laut war, daß Kennon nicht mehr ganz so vorsichtig zu sein brauchte wie zu Anfang. Als Treall sich setzte, blieb Kennon zu nächst einmal im Gras liegen und wartete ab. Unmittelbar darauf zeigte sich, daß er sich richtig verhielt, denn in seiner Nähe er hob sich ein Mann aus dem Gras, der hier für einige Zeit geschlafen hatte. Er war leicht berauscht und ging taumelnd zu einem der Feuer. Auch bei den anderen Piraten zeigte sich die Wirkung des Getränks. Sie wurden lau ter und unvorsichtiger. Im Schutz des
Duell der vertauschten Seelen Lärms, den sie veranstalteten, kam Kennon schnell voran. Die Treppe zu dem Keller, in dem Thalia sich befand, war unbewacht. Keiner der Piraten schien damit zu rechnen, daß sie sich befreien könnte oder daß ihr irgend jemand zu Hilfe kommen würde. Grizzard befand sich an einem der Feuer. Er drehte einen Braten über den Flammen. Lautlos glitt Kennon die Stufen hinab und verschwand im Schatten am Fuß des Kel lers. Als er gerade in den Kellerraum über wechseln wollte, sah er einen bärtigen Mann, der sich ihm näherte. Er hatte die Fesseln Thalias kontrolliert. Kennon ließ sich auf eine der Stufen sin ken und vergrub das Gesicht in den Händen. Der Pirat blieb vor ihm stehen und stieß ihn an. »He, du«, sagte er. »Was willst du hier?« »Mir ist schlecht«, antwortete Kennon lal lend. »Mir ist so schlecht.« Der Pirat lachte leise, ging an ihm vorbei und stieg die Treppe hoch. Kennon wartete einige Minuten, bis er sicher war, daß er nicht mehr beobachtet wurde. Dann erhob er sich und betrat den Keller. Er eilte sofort zu Thalia, die mit geschlossenen Augen auf den Fellen lag. »Thalia«, wisperte er. Sie schlug die Augen auf und blickte ihn überrascht an. »Was willst du hier?« fragte sie dann. »Dumme Frage«, erwiderte er und be gann, ihre Fesseln zu lösen. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie heftig. »Bist du verrückt geworden? Ich will dich befreien, und das paßt dir nicht? Was ist los?« »Wie kommst du hierher?« »Ich habe mich an den Wachen vorbeige schlichen.« »Das glaube ich nicht. Du gehörst zu ih nen. Laß mich in Ruhe, Verräter. Ich warte lieber, bis Atlan mich hier herausholt.« Kennon schüttelte den Kopf. Er ließ die Hände sinken. »Ich sollte dir das Fell versohlen«, sagte
29 er ärgerlich. »Glaubst du, ich riskiere Kopf und Kragen, um mich von dir beschimpfen zu lassen?« »Du bist ein Dieb«, sagte sie und schürzte verächtlich die Lippen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn du zu den Piraten gehörst.« »Ich bin mir nicht bewußt, irgendwann ir gend etwas gestohlen zu haben.« »Und was ist mit dem Körper Grizzards?« fauchte sie ihn an. »Jetzt begreife ich endlich«, sagte er und knüpfte die Fesseln Thalias auf. »Du bildest dir tatsächlich ein, ich hätte das mit voller Absicht getan?« »Allerdings.« »Du hast keine Ahnung. Ich wollte, ich könnte so etwas machen, aber ich kann es nicht. Ich bin ebenso wie Grizzard ein Opfer dieses Geschehens. Zugegeben – ich habe einen besseren Tausch gemacht, weil ich einen gesunden, starken und schönen Körper erhalten habe. Aber dazu habe ich nicht das geringste getan. Ich wachte auf wie aus ei nem Traum und war in diesem Körper. Das ist alles. Mir daraus einen Vorwurf zu ma chen, ist grotesk.« »Du bist ein Feigling.« »Wenn es dir gefällt, das zu glauben, dann glaube es. Mir ist das egal.« Er ver stummte, weil er Schritte hörte, die sich ih nen näherten. Als Thalia etwas sagen wollte, legte er ihr rasch die Hand auf den Mund. Dann eilte er lautlos davon und stellte sich neben den Eingang. Bis hierhin reichte das Licht des Feuers nicht mehr. Thalia sah ihn im Dunkel verschwinden. Unmittelbar darauf betrat Athephet den Keller. Er bemerkte Kennon nicht, als er an diesem vorbeiging. Er sah jedoch schon von weitem, daß Thalia nur noch teilweise gefes selt war. Er wirbelte herum. Kennon schoß auf ihn zu und versuchte, ihn mit einer Dagor-Kombination auszu schalten. Der Terraner erwartete keine ernst zunehmende Gegenwehr, da diese Kampfart auf Pthor völlig unbekannt war. Doch er hat te sich geirrt. Athephet war zwar kein Da
30 gor-Kämpfer, dafür aber beherrschte er eine andere Kampfart, bei der ebenfalls Hände, Füße und Knie die Hauptwaffen bildeten. Er durchbrach den Angriff Kennons und wir belte ihn mit einer geschickt angesetzten Beinschere herum. Kennon rollte über den Boden, und während er sich noch von seiner Überraschung zu erholen suchte, griff der Pirat an. Er setzte eine Nackenklammer an, deren tödliche Wirkung Kennon augenblick lich erkannte. Der Terraner hebelte sich aus der Klam mer. Athephet griff ins Leere und stürzte zu Boden. Kennon war keineswegs überrascht, daß der Pirat lautlos kämpfte. Athephet konnte es sich nicht leisten, um Hilfe zu ru fen. Er herrschte mit den Mitteln der Gewalt über die Piraten. Sie respektierten ihn, weil er mit seiner besonderen Kampftechnik alle besiegen konnte. Er war es gewohnt, jeden Gegner allein und ohne jede Unterstützung zu schlagen. Jetzt sah er sich einem Feind gegenüber, der ihm zumindest gleichwertig war. Daher fürchtete Athephet um sein An sehen und seine Macht. Er wollte den Kampf allein durchstehen und erfolgreich abschließen. Dabei merkte er nicht, daß er allmählich ins Hintertreffen geriet. Kennon, der zu nächst davon ausgegangen war, daß er den anderen mühelos ausschalten würde, kämpf te mit voller Konzentration. Er setzte seine ganze Intelligenz und Erfahrung ein, und es gelang ihm, Athephet einige Fallen zu stel len. Der Pirat ging hinein, konnte sich noch einige Male daraus befreien, lief dann aber doch in eine Schlagkombination hinein, die ihn fällte. Bewußtlos stürzte er zu Boden. Kennon eilte zu Thalia, die den Kampf verfolgt hatte, nahm einen der Stricke und fesselte Athephet damit. Dann knebelte er ihn, damit der Pirat nicht um Hilfe rufen konnte. Er zog ihm das Messer aus dem Gürtel und schnitt Thalias Fesseln durch. Die Tochter Odins war völlig verwirrt. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. »So einen Kampf habe ich noch nie gese-
H. G. Francis hen«, sagte sie. »Bist du wirklich der Stum me, oder ist ein anderer in diesem Körper? Ich meine, hat der Stumme ihn schon wieder verlassen, um einem anderen Platz zu ma chen?« »Wie kommst du darauf?« fragte Kennon. »Natürlich nicht.« »Aber warum warst du dann in Goris so feige? Warum hast du dich so erbärmlich benommen, wenn du so kämpfen kannst?« Kennon schüttelte den Kopf. »Es hat wohl keinen Sinn, dir das zu er klären«, erwiderte er. »Du begreifst es doch nicht.« »Versuche es wenigstens«, forderte sie hitzig. »Ich habe gekämpft. Auf meine Art. Mit dem Kopf. Die Lampras haben eine einfache Finte angewendet. Sie haben das Lager auf der einen Seite angegriffen und alle Ab wehrkräfte dorthin gelockt, damit hinter dem Rücken der Kämpfenden andere Gruppen die Vorräte plündern können. Ich habe die Finte erkannt und die Plünderer daran gehin dert, die Vorräte wegzuschleppen. Das ist al les.« »Ich verstehe das nicht«, versetzte Thalia. »Wieso hast du …?« »Jetzt ist weder Zeit noch Gelegenheit, darüber zu diskutieren«, erwiderte er ärger lich. »Wenn die Piraten merken, was pas siert ist, kommen wir nicht mehr aus diesem Keller heraus. Also sei still und nimm deine Vars-Kugel. Wir verschwinden.« »Und Grizzard?« Kennon zuckte zusammen. Eine abwei sende Antwort lag ihm auf der Zunge, doch er hielt sie zurück. Er wußte, daß er Thalia nicht sagen durfte, was er über Grizzard dachte. »Wir dürfen den Piraten die Rüstung nicht überlassen«, sagte er ausweichend. »Eben. Und nur Grizzard kann sie richtig steuern. Also müssen wir dafür sorgen, daß er sie wieder übernehmen kann.« »Damit bin ich nicht einverstanden.« »Dann nicht.« Sie drehte sich um und kehrte zu dem Lager zurück, auf das die Pi
Duell der vertauschten Seelen raten sie gefesselt hatten. »Was hast du vor?« fragte er. »Ich bleibe hier«, erklärte sie. »Mir tun die Piraten nichts. Sie wissen, daß sie Atlan erpressen können, solange ich lebe. Also bin ich nicht in Gefahr. Bei dir ist das etwas an deres. Für dich gibt Atlan nichts.« »Das ist nicht gerade freundlich von dir«, sagte er. »Wenn du Grizzard nicht helfen willst, dann habe ich keinen Grund, dir zu helfen. Ich lasse Grizzard auf keinen Fall hier. Ent weder sorgst du dafür, daß er in die Rüstung steigt, oder du mußt allein gehen.« Kennon überlegte kurz. Dann nickte er. Das Problem Grizzard mußte nicht unbe dingt hier im Unterschlupf der Piraten erle digt werden.
6. In der Falle Astrak gab die Hoffnung nicht auf, sich eines Tages doch noch zum Anführer der Piraten aufschwingen zu können. Voller Neid beobachtete er Athephet, dem so viele unbe queme Arbeiten abgenommen wurden, der sich nach jedem Beutezug das beste Stück aussuchte und der sich aus jedem Braten das schmackhafteste Fleisch herausschnitt. Ständig wartete Astrak darauf, daß Athe phet sich eine Schwäche leisten würde. Er war entschlossen, sofort zu kämpfen, sobald er sich eine Gewinnchance ausrechnen konnte. Voller Argwohn verfolgte er die Pläne Athephets mit Thalia. Er befürchtete, daß Athephet von Atlan eine Waffe erpressen würde, die seine Macht noch ausweitete. Daher beobachtete er den Anführer auf Schritt und Tritt. Als er sah, daß Athephet mitten in der Nacht allein in den Keller ging, in dem Thalia gefangengehalten wurde, sch lich er ihm nach. Keiner von den anderen Piraten achtete auf ihn. Im Eingang zum Keller blieb Astrak ste hen. Verblüfft blickte er auf die beiden kämpfenden Gestalten, die sich so weit von
31 ihm entfernt in einer dunklen Ecke des Kel lers befanden, daß er sie nicht voneinander unterscheiden konnte. Erst als sie näher an das Feuer herankamen, sah er, daß Athephet mit einem Mann rang, den er nie zuvor gese hen hatte. Ihm war augenblicklich klar, daß Athe phet den anderen dabei überrascht hatte, wie dieser versuchte, Thalia zu befreien. Doch das erregte ihn nicht. Ihm war ziemlich egal, was mit der Tochter Odins geschah. Wie ge bannt beobachtete er den Kampf. Er hatte nicht gewußt, daß Athephet so kämpfen konnte. Einige Male hatte er ihn schon kämpfen gesehen, aber niemals mit einem solchen Gegner. Die beiden Männer wirbel ten herum, sprangen in die Luft, rammten sich die Füße an den Körper, überschlugen sich und waren ständig in Bewegung. Dabei schien jeder schon vorher zu wissen, was der andere tun würde, so daß er dem Angriff rechtzeitig mit einem Gegenangriff begeg nen konnte. Astrak erkannte schon nach wenigen Se kunden, daß beide Männer ihn mühelos be siegen würden. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, als er daran dachte, daß er oft ge nug versucht gewesen war, einen Kampf mit Athephet zu beginnen, bei dem es nicht nur darauf ankam, den anderen zu betäuben, sondern zu töten. Jetzt wußte er, daß er längst tot gewesen wäre, wenn er es getan hätte. Athephet war ein so gewaltiger Kämpfer, daß kein anderer Pirat ihn besiegen konnte. Der Fremde aber war noch besser als Athephet. Er kannte mehr Tricks, hatte mehr Phantasie und überraschte immer wieder mit seinen Angriffen, so daß Athephet mehr und mehr in die Defensive geriet. Je mehr der Fremde aber die Angriffswut Athephets erstickte, desto begeisterter ver folgte Astrak den Kampf. Er wunderte sich darüber, daß die beiden Männer so still da bei waren. Zugleich freute es ihn, denn er wollte nicht, daß andere aus dem Lager Zeu gen dieses Duells wurden.
32 Er lächelte, als Athephet schließlich be wußtlos zu Boden stürzte. Das war genau das Ende, das er erhofft hatte. Lautlos trat er zur Seite und zog sich in einen dunklen Winkel des Kellers zurück. Von hier aus verfolgte er, wie der Fremde Athephet fes selte und danach Thalia befreite. Er hörte, was die beiden miteinander besprachen, ver stand aber nur wenig davon. Doch das inter essierte ihn auch nicht. Er war sich darüber klar, daß die beiden aus dem Lager fliehen und dabei den Verwachsenen und die Rü stung nach Möglichkeit mitnehmen würden. Er dachte nicht daran, die Flucht zu verhin dern, denn er wollte, daß sie verschwanden, damit er in Ruhe seine eigenen Pläne ver wirklichen konnte. Daher wartete er in seinem Versteck ab, bis Thalia und Kennon den Keller verlassen hatten. Dann ging er zu Athephet hinüber und beugte sich über ihn. Der Anführer der Piraten schlug die Augen auf und blickte ihn an. Astrak drehte ihn auf den Bauch herum, zog das Messer aus dem Gürtel und tötete ihn. Dann löste er seine Fesseln und warf sie auf das Lager Thalias. Lautlos kehrte er zum Ausgang zurück. Die Lagerfeuer verbreiteten soviel Licht, daß er die ganze Treppe übersehen konnte. Thalia und ihr Befreier waren nicht mehr da. Astrak stieg die Stufen hoch und glitt in die Dunkelheit. Nach einiger Zeit kehrte er an eines der Feuer zurück, ließ sich einen Flaschenkürbis reichen und trank ihn leer. Danach schnitt er sich mit dem Messer, das er inzwischen gesäubert hatte, ein Stück Fleisch ab und verzehrte es. Er war mit sich zufrieden. Früher oder später würde man Athephet finden und Thalia die Schuld an seinem Tod geben. Die ganze Wut der Piraten würde sich auf sie richten, und er konnte in aller Ruhe die Machtübernahme vorbereiten. Als er den Braten verzehrt hatte, war es noch immer ruhig. Niemand vermißte Athe phet. Astrak erhob sich und ging zu dem Verwachsenen hinüber, der an einem der Feuer kauerte und einige Männer bediente.
H. G. Francis »Komm her«, befahl er ihm. Grizzard gehorchte widerspruchslos. Astrak zog ihn zu der Wand einer Ruine hin. »Paß auf«, sagte er zu ihm. »Ich werde dafür sorgen, daß du wieder in die Rüstung steigen kannst. Dann wirst du allerdings mir dienen.« »Ich wäre dir dankbar, Herr, wenn du das für mich tun würdest«, beteuerte der Ver wachsene. Astrak packte ihn am Hals und hob ihn hoch. Verzweifelt versuchte Griz zard, sich aus den Händen des Piraten zu be freien. Er lief rot an, weil ihm die Luft knapp wurde. »Ich werde aber auch dafür sorgen, daß du nicht übermütig wirst«, verkündete Astrak. »Du wirst mir dienen, ob es dir ge fällt oder nicht.« Er ließ Grizzard herunter und legte ihm eine Schlinge um den Hals. Sie bestand aus einem dünnen Kunststoffstreifen und war so fest wie Stahl. »Wenn du nicht tust, was ich dir befehle, werde ich die Schlinge zuziehen, und nie mand wird sie mehr öffnen«, kündigte Astrak an. »Also überlege dir gut, was du tust.« »Ich werde gehorchen«, beteuerte Griz zard, der um sein Leben fürchtete und in diesen Sekunden alles versprochen hätte, was man ihm abverlangte. Er war so schwach, daß er es sich nicht leisten konnte, mutig zu sein. »Also – dann«, sagte Astrak zufrieden. »Wir gehen jetzt zur Rüstung, und du steigst hinein. Danach wirst du jeden zu Boden schlagen, der sich mir in den Weg stellt. Ich bin der neue Anführer, und du bist meine Waffe. Wenn du gehorchst, werde ich dich reichlich belohnen. Du wirst keine Sorgen mehr kennen.« Grizzard erklärte noch einmal, daß er sich als Sklave ansah, der jeden Befehl ausführen würde. Tatsächlich war er bereit, Astrak zur Macht über die Piraten zu verhelfen, weil er hoffte, mit diesem grobschlächtigen Mann besser fertig werden zu können als mit dem intelligenten Athephet. Die Schlinge er
Duell der vertauschten Seelen schreckte ihn zwar, doch er war davon über zeugt, daß er sich, irgendwie von ihr befrei en würde, sobald er erst einmal in der Rü stung steckte. »Dann komm«, befahl Astrak. Er führte Grizzard durch die Ruinenstadt, wobei er es verstand, sich von allen anderen Piraten fernzuhalten und die dunkelsten Winkel zu nutzen. »Warte«, flüsterte er schließlich. »Wir sind da. Hier ist das Haus von Athephet. Da drinnen liegt die Rüstung.« Um Grizzard vor unbedachten Schritten zu warnen, zog er die Schlinge enger, bis der Verwachsene um Gnade bettelte. Astrak zog Grizzard hinter sich her und betrat die Ruine.
* Thalia und Kennon bemerkten nichts von dem hinterhältigen Mord im Kellerraum. Sie waren davon überzeugt, sich so zurückgezo gen zu haben, daß sie nicht die Rachegelüste der Piraten herausforderten. Einige der Piraten sangen mit lauter Stim me. Niemand protestierte dagegen. Alle schienen sich völlig sicher zu fühlen. »Wo ist die Rüstung?« fragte Thalia, nachdem sie sich etwa zwanzig Meter von der Kellertreppe entfernt hatten. Sie kauer ten in einer Senke. »Im Haus des Anführers«, antwortete Kennon. »Ich habe gesehen, daß man sie dorthin gebracht hat.« Er zeigte zu einem der größeren Gebäude hinüber. Es lag mitten in der Ruinenstadt. Aus den Trümmern ragte eine Antenne meh rere Meter in die Höhe. Daran erkannte der Terraner das Haus. Er glaubte nicht, daß die Antenne noch eine Funktion hatte, oder daß die Piraten überhaupt wußten, wozu sie da war. Plötzlich rauschte es über ihnen. Kennon und Thalia flüchteten in eine Mauernische. Im Lager wurde es schlagartig still. Einige Feuer flammten hell auf. Kennon blickte nach oben.
33 Über ihm schwebten drei Flugscheiben, die an ihrer Unterseite matt erhellt waren. Bewegungslos hingen sie über dem Unter schlupf der Piraten. Einige Sekunden verstrichen. Die Piraten erhoben sich furchtsam von ihren Plätzen und blickten in die Höhe. Ein Scheinwerfer leuchtete auf. Der Lichtstrahl fiel auf die Piratenstadt, fing eine Gruppe von vier Män nern ein und gab sie einige Sekunden lang nicht frei. Wie gebannt blickte Kennon nach oben. Er fürchtete, daß der Lichtstrahl sich auf ihn und Thalia richten und ihn verraten würde, doch plötzlich erlosch der Scheinwerfer, und leise zischend flogen die Flugscheiben wei ter. Die Piraten diskutierten hitzig miteinan der, beruhigten sich jedoch schon bald wie der. Der eine oder andere rief nach Athe phet, aber als dieser sich nicht sehen ließ, nahmen die Männer und Frauen ihre frühe ren Tätigkeiten wieder auf. Niemand machte sich die Mühe, nach dem Anführer zu suchen, der in diesen Se kunden ermordet wurde, ohne daß Astrak bemerkte, was sich draußen abspielte. »Wir haben Glück gehabt«, stellte Ken non erleichtert fest. »Wie lange noch?« fragte sie. »Wann werden sie landen? Bis jetzt haben wir ihnen nichts entgegenzusetzen.« »Atlan wird etwas einfallen«, sagte er zu versichtlich. »Woher weißt du das?« »Weil ich ihn kenne.« »Ich kenne ihn auch.« »Mag sein«, erwiderte er freundlich, »aber ich kenne ihn länger als du. Atlan und ich waren schon vor mehr als vierhundert Jahren Freunde.« »Du lügst.« »Atlan hat den anderen Körper gesehen, in dem jetzt Grizzard ist. Er hat ihn erkannt und war überrascht, mir nicht zu begegnen, sondern jemandem, der sich Grizzard nennt. Das ist der Grund dafür, daß er diesen Griz zard hat suchen lassen. Er will das Geheim
34 nis klären. Deshalb hat es mich auch so ver wirrt, daß Atlan ausgerechnet mich auf die Suche schicken wollte. Ich habe mich davor gefürchtet, weil ich glaubte, daß ich in die sen Körper zurückkehren muß, sobald ich ihm begegne.« »Es ist dein Körper. Du hast kein Recht, irgend jemanden zu zwingen, darin zu le ben.« »Wir wollen uns nicht streiten«, erwiderte er. »Ich habe diesen Tausch nicht herbeige führt, und ich kann ihn auch nicht rückgän gig machen. Du solltest jedoch Verständnis dafür haben, daß ich keine Lust habe, in die sen Körper zurückzukehren.« »Und Grizzard hat keine Lust, darin zu le ben.« »Ich weiß«, entgegnete er gelassen. »Ich weiß es sehr gut, denn ich weiß auch, was es bedeutet, so einen Körper zu haben.« »Lassen wir das«, sagte sie unwirsch. »Suchen wir lieber die Rüstung.« »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.« Geduckt eilten sie weiter zum Haus Athe phets. Kennon erreichte es als erster. Er gab Thalia ein Zeichen, ruhig zu sein. Über seine Schulter hinweg blickte er in das Haus, in dem ein kleines Feuer brannte. Daneben kauerte ein junges Mädchen auf dem Boden. Es bewachte die schimmernde Porquetor-Rüstung, war jedoch so müde, daß ihm die Augen immer wieder zufielen. In einer Ecke des Raumes lehnte die stähler ne Lanze an der Wand. »Fehlt nur noch Grizzard«, sagte Kennon. »Der kommt, wenn es soweit ist. Da bin ich ganz sicher.« Thalia erhob sich und betrat das Haus. Sie ging auf das Mädchen zu. Diese öffnete die Augen, als sie vor ihr stand. Entsetzt fuhr sie zurück. Sie wollte schreien. Thalia legte ihr jedoch rasch die Hand auf den Mund und hielt sie fest. »Dir geschieht überhaupt nichts, wenn du ruhig bist«, versprach sie. »Also – wirst du den Mund halten?« Das Mädchen nickte verschüchtert, wäh rend Kennon den Raum betrat, einige Leder-
H. G. Francis schnüre nahm und sie damit fesselte. Thalia drückte ihr einen Knebel zwischen die Lip pen, und er band ihn fest. Danach stellten sie die Porquetor-Rüstung aufrecht hin. »Wollen wir sie tragen?« fragte Thalia. »Sie ist zu schwer. Wir müssen versu chen, sie zu steuern.« Kennon hatte das Pro blem, die Rüstung zu transportieren, vor sich hergeschoben, weil ihm keine Lösung einge fallen war. Er dachte daran, wie schwer es für Athephet gewesen war, die Rüstung un ter Kontrolle zu bringen, hoffte aber den noch, es irgendwie schaffen zu können. »Das ist aussichtslos«, widersprach Tha lia. »Wir müssen Grizzard holen.« »Ich werde die Rüstung einschalten. Wenn sie erst einmal losmarschiert, dann ist sie durch nichts aufzuhalten. Laß sie doch quer durch den Wald bis aufs offene Land rennen. Wichtig ist doch nur, daß die Piraten sie nicht behalten.« Ein grobschlächtiger Mann betrat den Raum. Er hielt ein Messer in der Faust. Ihm folgte Grizzard, dem er eine Schlinge um den Hals gelegt hatte. »Die Rüstung bleibt hier«, sagte er. »Schert euch beide zum Teufel.« Kennon winkelte die Arme an und nahm eine Kampfhaltung an. Astrak schüttelte grinsend den Kopf. »Das würde ich nicht tun«, sagte er. »Athephet ist nämlich tot.« »Wer ist Athephet?« fragte Thalia. »Er war unser Anführer. Der Mann, mit dem der hier gekämpft hat.« »Ich habe ihn nur betäubt«, sagte Kennon. »Aber jetzt ist er tot. Und alle werden glauben, daß es Thalia war. Athephet war beliebt. Ein Wutschrei wird durch die Rui nen erschallen, wenn man ihn findet. Ich an eurer Stelle würde um mein Leben laufen. Wendet euch nach Norden. Dort seht ihr einen Baumstamm ohne Krone in die Höhe ragen. Er zeigt an, wo der Weg durch den Sumpf ist.« »Du Schuft hast ihn ermordet«, schrie Thalia und riß die Vars-Kugel hoch. Astrak
Duell der vertauschten Seelen wich erschrocken zurück. Er zerrte Grizzard mit sich. Dabei verengte sich die Schlinge um den Hals des Verwachsenen so sehr, daß dieser in seiner Atemnot zusammenbrach. Kennon stürzte sich auf den riesigen Pira ten. Er griff ihn mit einer Schlagkombinati on an, die Athephet abgewehrt hätte. Astrak hatte ihr nichts anderes entgegenzusetzen als wildes Alarmgebrüll. Kennons Schläge tra fen zu spät. Als Astrak bewußtlos zu Boden stürzte, hatten seine Schreie die anderen Piraten bereits aufmerksam gemacht. Thalia befreite Grizzard von der Schlinge, hob ihn hoch und schob ihn in die Porquetor-Rü stung hinein. Grizzard rang keuchend nach Luft. Er hielt die Augen geschlossen. »Er ist noch nicht soweit«, sagte Kennon. »Ich weiß«, erwiderte Thalia gelassen. »Da drinnen ist er jedoch sicher. Und wenn er zu sich kommt, wird er uns helfen.« Sie verschloß die Rüstung. Kennon eilte zum Ausgang. Er blickte in die Dunkelheit hinaus, konnte aber kaum et was erkennen. Thalia löschte das Feuer, in dem sie einen Eimer Wasser darüber goß. Jetzt sah der Terraner zahlreiche Gestalten, die sich ihnen näherten. »Was ist da los?« rief einer der Männer. Kennon glaubte, die Stimme des Unterfüh rers zu hören. »Nichts«, antwortete er. »Ich bin dem Grobian nur auf die Füße getreten.« In diesem Augenblick, in dem die Situati on entschärft zu sein schien, hallte ein Schrei durch die Ruinen. Die Piraten blieben stehen. Sie blickten zurück. Die Gestalt ei ner Frau erschien auf einer Mauer. Deutlich hob sie sich gegen eines der Feuer ab. »Athephet ist tot«, rief sie mit kreischender Stimme. »Sie haben ihn ermordet!« »Wir müssen weg«, sagte Kennon drän gend. »Schnell.« »Ich bleibe, solange Grizzard sich noch nicht selbst helfen kann«, erwiderte Thalia starrköpfig. »Ihm werden sie nichts tun.« »Dennoch bleibe ich.«
35 Die Piraten stürmten auf das Haus Athe phets zu. Kennon sah ein, daß es für eine Flucht bereits zu spät war. Er griff nach ei ner Lanze, die an der Wand lehnte. Im glei chen Moment flogen mehrere Speere durch die offene Tür herein. Sie prallten klirrend gegen die Rüstung Porquetors. Es schien, als werde Grizzard durch sie aufgerüttelt. Er trat zwei Schritte vor, drehte sich danach um sich selbst und eilte zur Lan ze. Er nahm sie auf und richtete sie auf Ken non, der neben der Tür stand und hinaus blickte. »Nein«, schrie Thalia. »Das darfst du nicht.« Kennon fuhr herum und sprang zur Seite. Die blau schimmernde Spitze der Lanze glitt an ihm vorbei. Grizzard rannte, von seinem eigenen Schwung getragen, durch die Tür hinaus. Hier prallte er mit mehreren Piraten zusammen. Er schleuderte sie zur Seite. »Denke daran, was sie mit dir gemacht haben«, schrie Kennon ihm zu. »Oder hast du schon vergessen, wie sie dich gequält und gedemütigt haben?« Grizzard-Porquetor begann zu toben. Er reagierte so, wie Kennon es erhofft hatte. Er streckte die Lanze nach vorn, entfernte sich noch zwei Schritte weiter vom Haus und drehte sich um die eigene Achse. Dabei schmetterte er alle zur Seite, die in den Be reich der rasend schnell herumwirbelnden Waffe gerieten. Der Angriff der Piraten brach zusammen. Jetzt stürzten Kennon und Thalia aus dem Haus. Sie griffen in den Kampf ein. Thalia schlug breite Breschen in die Front der zu rückweichenden Piraten. Kennon hörte es dumpf krachen, wenn die Vars-Kugel traf. Er selbst benutzte einen Speer, um damit die Piraten zurückzutreiben. Trealls Stimme übertönte den Lärm. Der Unterführer versuchte, die Kräfte der Piraten zu ordnen und einen Angriff auf die drei un gleichen Kämpfer zu organisieren. Doch es gelang ihm nicht. Die stärksten und besten Männer hatten in der vordersten Linie ge standen. Jetzt lagen sie betäubt oder kampf
36 unfähig auf dem Boden. Die anderen Piraten sahen, daß die besten Kämpfer versagt hatten, und ergriffen die Flucht. Jetzt bewies Treall, daß er ein würdiger Nachfolger Athephets war. Kennon hörte seine Stimme deutlich aus dem Lärm heraus. Treall befahl den Rückzug. Er schickte nur noch einige Männer mit der Aufgabe in die Schlacht. Thalia, Grizzard und Kennon auf zuhalten und an das Haus Athephets zu bin den. Es gelang ihnen. Immer wieder ver suchten die beiden Männer und die Tochter Odins, die Front zu durchbrechen oder einen entscheidenden Sieg zu erzielen, doch die Piraten wichen geschickt aus oder verbauten ihnen den Weg. Kennon beobachtete, daß die anderen Piraten den Unterschlupf flucht artig verließen. Dann plötzlich flohen auch die letzten Piraten. Grizzard stürmte hinter ihnen her, doch Thalia rief ihn zurück. »Du läufst in eine Falle«, schrie sie. Grizzard verharrte am Waldrand. In der Dunkelheit war er kaum noch auszumachen. Als Thalia ihm erneut befahl, umzukehren, gehorchte er. Mit geschulterter Lanze mar schierte er auf Kennon zu, der erschöpft vor dem Haus Athephets stand. Thalia erriet die Absicht Grizzards. Sie stellte sich vor Ken non. »Wir sitzen alle drei in der Falle«, sagte sie ärgerlich. »Die Piraten haben uns herein gelegt. Wir können es uns nicht leisten, mit einander zu streiten. Wir müssen zusammen halten, oder es ist aus mit uns.« Grizzard lachte zornig in seiner Rüstung. »Unsinn«, rief er. »Wir haben gewonnen. Wir haben sie in die Flucht geschlagen.« »So sieht es aus«, erwiderte Kennon, der sich vorsichtig noch zwei Schritte weiter von Grizzard entfernte. »Aber es sieht eben nur so aus. Die Piraten haben ihren Unter schlupf gut abgesichert. Nur ein oder zwei Pfade führen durch den Sumpf nach draußen – und der Weg am Ufer des Flusses entlang. Diese Wege können mühelos überwacht und verteidigt werden. Thalia hat recht. Die Pira-
H. G. Francis ten haben uns freiwillig ihr Lager überlas sen, damit sie uns in Ruhe erledigen können. Wir sitzen in der Falle.« Grizzard verharrte regungslos mit seiner Rüstung auf der Stelle. Weder Thalia noch Kennon konnten erkennen, was in ihm vor ging. Die Tochter Odins redete mit sanfter Stimme auf ihn ein. Sie wiederholte die Worte Kennons. »Die Piraten wissen natürlich, daß wir hier nicht bleiben wollen«, sagte sie. »Sie wissen, daß wir zur FESTUNG wollen. Also können sie sich ausrechnen, daß wir früher oder später versuchen werden, den Unter schlupf zu verlassen. Darauf warten sie.« Zunächst schien es, als habe Grizzard sie gar nicht gehört. Sie befürchtete bereits, daß er vor Schwäche ohnmächtig geworden war, doch dann seufzte er vernehmlich. »Mit anderen Worten«, sagte er, »je län ger wir warten, desto besser können sich die Piraten vorbereiten und desto schlechter sind unsere Aussichten.«
* Treall war so erschüttert über den Tod Athephets, daß er zunächst instinktiv han delte und sich dessen nicht bewußt wurde, was er tat. Erst als alle Piraten den Unter schlupf geräumt hatten, klärten sich seine Sinne. Er war froh, daß er befohlen hatte, auch die Verletzten und Bewußtlosen mitzuneh men. Keiner der Piraten war in der Ruinen stadt zurückgeblieben. Treall stellte es er leichtert fest. Jetzt konnte man ihn nicht un ter Druck setzen. Der Verwachsene, Thalia und jener Fremde, der unter rätselhaften Umständen mitten im Lager aufgetaucht war, hatten nichts in der Hand. Sie hatten nur die Wahl zwischen einem gewaltsamen Ausbruch und der Kapitulation. Das sagte Treall auch, als sich Astrak, der längst wieder bei vollem Bewußtsein war, vor ihm aufbaute und ihn fragte, weshalb er die allgemeine Flucht befohlen hatte. Zornig zeigte Astrak auf die Piratenstadt.
Duell der vertauschten Seelen »Wäre ich der Anführer gewesen, ich hät te einen so unsinnigen Befehl niemals gege ben«, sagte er. »Die drei können Monate dort leben und von unseren Vorräten zehren, und wenn wir Pech haben, entwischen sie uns am Ende doch. Aber wir sind draußen. Wir haben keinerlei Vorräte. Wir müssen hungern, und obendrein müssen wir nicht warten, bis die drei sich dazu entschließen, irgend etwas zu tun.« »Du bist nicht der Anführer«, erwiderte Treall. Sie befanden sich auf einer Lichtung, die etwa zwei Kilometer von der Ruinenstadt entfernt war und mitten im Wald lag. Ein schmaler Steg führte hierher. Ringsherum erstreckte sich das Sumpfgelände, das un passierbar für sie war. Eine Gruppe von zehn Männern wachte am Fluß, so daß die Eingeschlossenen nicht am Ufer entlang fliehen konnten. »Das kannte sich rasch ändern«, bemerkte Astrak und schob die Ärmel seiner Leder jacke hoch. »Athephet hat mich zu seinem Nachfolger bestimmt.« »Athephet ist tot. Der Fremde hat ihm ein Messer in den Rücken gejagt.« Treall horchte auf. Die anderen Piraten traten näher an die beiden Männer heran. »Der Fremde hat Athephet ein Messer in den Rücken gejagt«, wiederholte Treall. »Woher weißt du das, Astrak? Du warst doch bei Athephets Haus, als der Ermordete entdeckt wurde. Dort hast du Alarm geschla gen.« Astrak blickte sich nervös um. Die Män ner musterten ihn argwöhnisch. Er wußte, daß er sich versprochen hatte. »Ich habe es gehört«, antwortete er unwir sch. »Jemand hat es gesagt. Ich weiß es nicht, wer es war.« »Niemand hat bisher etwas über den Täter gesagt. Wir alle haben geglaubt, daß es Tha lia war. Von dem Fremden haben wir erst viel später erfahren.« Treall griff zum Mes ser. Astrak wich vor ihm zurück. Er er bleichte.
37 Doch jetzt trat ein weißhaariger Pirat zwi schen die beiden Männer. Mahnend hob er die Hände. »Hier wird nicht gekämpft«, rief er. »Treall ist der neue Anführer, bis die drei unsere Gefangenen sind. Danach entschei den wir neu. Astrak wird auf keinen Fall un ser Anführer, solange der Verdacht besteht, daß er Athephet ermordet hat.« Astrak wagte nicht, gegen die Entschei dung des Alten zu protestieren. Er wußte, daß er sich ihr in dieser Situation zu beugen hatte. »Athephet hat gewußt, weshalb er Treall zu seinem Nachfolger bestimmt hat«, fuhr der Alte fort. »Laß es uns wissen, Treall.« Treall wartete, bis es ruhig geworden war, so daß alle Männer und Frauen ihn verste hen konnten. »Wir sind geflohen, weil das die einzige Möglichkeit ist, den Krüppel, den Fremden und Thalia in die Hand zu bekommen, ohne ein Menschenleben zu riskieren. Athephet und ich haben uns längst auf eine solche Si tuation vorbereitet, wie sie auch entstanden wäre, wenn uns die erwachten Schläfer der Senke der Verlorenen Seelen überfallen hät ten. Wir haben es nicht nötig, uns auf einen blutigen und verlustreichen Kampf einzulas sen.« »Leere Worte«, bemerkte Astrak verächt lich. »Durchaus nicht.« Treall ging zu einem einzelnen Baum, der mitten auf der Lichtung wuchs. Er griff nach einem verdorrten Ast, der in Kopfhöhe aus dem Stamm ragte, und drehte dran. Knirschend schob sich eine bis dahin durch das Gras verborgene Steinplatte zur Seite, und eine von Lichtscheiben be leuchtete Treppe wurde sichtbar, die steil in die Tiefe führte. Staunend drängten sich die Männer, Frauen und Kinder um den Ab gang. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Astrak. »Was soll das?« »Athephet und ich haben hier unten eine Maschine aufgestellt, die wir vor langer Zeit in der Gegend des Wachen Auges erbeutet
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H. G. Francis
haben«, erklärte Treall. »Das war, als die alten Herren noch die Macht in der FE STUNG und über Pthor hatten. Ich werde die Maschine jetzt einschalten, und niemand wird aus unserer Stadt entkommen. Verlaßt euch darauf.« Treall stieg die Treppe hinunter. Astrak folgte ihm einige Stufen weit. Er sah, daß der neue Anführer bis zu einem kastenförmi gen Gerät ging, das am Fuß der Treppe stand. Als er dort angekommen war, drückte er einige Tasten, und mehrere grüne und gel be Lichter leuchteten auf der Oberseite des Kastens auf. Danach stieg Treall die Treppe wieder hoch und schloß die Platte. »Nichts hat sich geändert«, sagte Astrak höhnisch. »Überhaupt nichts.« Treall lächelte nur.
7. Flucht »Ich bin durch den Fluß gekommen«, be richtete Kennon. »Wir könnten uns ein Floß bauen und uns damit den Fluß hinuntertrei ben lassen.« »Du hast Glück gehabt«, erwiderte Tha lia. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber es kann nur daran gelegen haben, daß die Piraten nicht aufmerksam waren. Der Fluß bietet sich allzu sehr an, so daß ich ihm nicht traue. Ich schlage vor, daß wir es über den Pfad versuchen, über den die Pira ten geflohen sind.« »Einverstanden«, sagte Kennon, nachdem er kurz überlegt hatte. »Ich habe keine Ein wände.« Er wollte noch eine Bemerkung über Grizzard machen und Bedingungen stellen, doch er schwieg, weil er wußte, daß er damit wenig Erfolg haben würde. Sie waren alle aufeinander angewiesen. Nur Grizzard in seiner Rüstung hatte eine Chance, ohne die Hilfe der anderen aus der Falle zu entkom men. »Dann sollten wir gehen«, sagte der Ver wachsene. Er zeigte auf Kennon. »Du zu-
erst. Ich will dich vor mir haben.« Der Terraner schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall«, erwiderte er. »Ich habe keine Lust, plötzlich eine Lanze durch den Leib zu bekommen.« »Davon hätte ich nichts«, erklärte Griz zard. »Das wäre ein zu leichter Tod für dich.« »Schluß jetzt«, rief Thalia energisch. »Der Stumme geht hinter dir. Ich werde vor dir gehen.« »Ich bin doch kein Narr«, entgegnete Grizzard erbittert. »Er könnte mich zur Seite in den Sumpf stoßen oder plötzlich die Rü stung öffnen, um mir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Ich gehe zuerst, aber Thalia bleibt hinter mir. Dann erst folgt die ser Lump.« »Laßt die Streitereien«, bat Thalia. »Sie schaden uns nur. Der Stumme hat mir die Si tuation erklärt. Er sagt, daß er den Körper tausch nicht herbeigeführt hat, sondern ebenso überrascht wurde wie du. Er kann den Tausch nicht von sich aus rückgängig machen.« »Nichts als Lügen«, gab der Verwachsene zornig zurück. »Ich bin überzeugt davon, daß er es kann, aber nicht will, denn jetzt hat er den besseren Körper.« »All das führt zu nichts und bringt nur den Piraten Vorteile«, sagte Kennon. »Ich schlage vor, wir verschieben die Auseinan dersetzung auf später. Falls wir hier lebend herauskommen sollten, haben wir dazu im mer noch Zeit.« Thalia nickte zustimmend. Grizzard schwieg, drehte sich jedoch um und betrat den Pfad, der durch den Wald führte. An sei ner Rüstung würde der erste Angriff der Piraten abprallen. Grizzard sah nicht, daß Thalia ihm nicht folgte, sondern sich plötzlich auf einen un sichtbaren Gegner stürzte. Sie riß die VarsKugel hoch und ließ sie kreisen. Kennon beobachtete sie verblüfft. Er wußte nicht, was sie damit bezweckte. Er konnte keinen Gegner sehen, der sie bedroh te. Jedenfalls nicht dort, wo sie kämpfte. Er
Duell der vertauschten Seelen sah zwei humanoide Wesen, die sich ihm näherten. Sie waren mit schimmernden Keu len bewaffnet, die sie drohend über den Kopf erhoben hatten. Noch aber waren sie so weit von ihm entfernt, daß er nicht zu kämpfen brauchte. Er lief zu Thalia hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie wir belte herum und blickte ihn mit funkelnden Augen an. »Was soll das?« fragte er. »Wozu hältst du dich hier auf? Komm mit auf den Pfad, dort sind wir sicher.« »Siehst du die Horden denn nicht, die uns angreifen?« schrie sie. Er sah sich um. Hinter den Trümmern ka men weitere Gestalten hervor. Auch sie wa ren mit Keulen bewaffnet, aber alle waren noch weit entfernt. »Ich sehe sie«, erwiderte er. »Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten.« Kennon argwöhnte, daß sie parapsychisch beeinflußt wurden, daß die Wirkung bei ihm jedoch geringer war als bei ihr. Warum das so war, konnte er sich vorläufig noch nicht erklären. Er blickte zu Grizzard hinüber und stellte fest, daß dieser schon einen großen Vorsprung gewonnen hatte und sich um nichts kümmerte. Er war mentalstabilisiert und bemerkte gar nicht, was geschah. Kennon ergriff die Hand Thalias und zerr te die Tochter Odins mit sich. Sie sträubte sich heftig und schlug mit der freien Hand nach Gegnern, die Kennon nicht sah. Er wähnte sich jedoch selbst von einem mas kierten Mann angegriffen, der versuchte, ihn mit einer Lanze zu durchbohren. Unwillkür lich wich er ihm aus, doch dann zuckte seine freie Hand nach vorn. Er hielt sie absichtlich in die Stoßbahn der Lanze. Als er sah, wie die Lanzenspitze die Hand berührte, fühlte er einen brennenden Schmerz, der bis zur Schulter hoch reichte. Die Lanze fuhr durch die Hand hindurch und schien sie zu spalten. Kennon riß die Hand instinktiv zurück, zwang sich aber, sie vor die Augen zu he ben, obwohl der Angreifer zu einem erneu ten Stoß ausholte. Die Hand war unverletzt.
39 Kennon lächelte. Die Lanze fuhr auf ihn zu und bohrte sich ihm in die Seite. Wieder fühlte er einen heftigen Schmerz, doch er wußte, daß das parapsychische Trugbild ihm nicht wirklich etwas anhaben konnte. Er zog Thalia mit sich und eilte weiter, ohne sich um die bedrohlichen Gestalten zu kümmern, die auf ihn eindrangen. Thalia schrie vor Entsetzen. Immer wieder schlug sie wild um sich, während sie versuchte, ihm klar zu machen, daß sie es mit gefährlichen Feinden zu tun hatten. Kennon konzentrierte sich immer wieder auf den Gedanken, daß alles nur Täuschung war, während Thalia von Minute zu Minute entsetzter reagierte. Die Zahl der Angreifer wuchs. Grizzard befand sich etwa fünfzig Meter vor Kennon und der Tochter Odins auf dem schmalen Pfad. Zu beiden Seiten erstreckte sich Sumpfgelände. Es wäre tödlich gewe sen, es zu betreten. Das wußte auch Thalia. Dennoch erfaßte sie in ihrem Schrecken die Wahrheit nicht, obwohl Kennon sich immer wieder bemühte, sie ihr zu erklären. Die An greifer stürmten über den Sumpf herbei, oh ne daß ihre Füße einsanken. Sie liefen über Wasserflächen hinweg, ohne daß sich das Wasser kräuselte. Doch das sah das Mäd chen nicht. Kennon gelang es, sich gegen die Ein drücke zu behaupten und sich das logische Denken zu erhalten. Er vermutete, daß sich das dadurch erklären ließ, daß er schon häu fig in seinem Leben mit parapsychischen Angriffen aller Art zu tun gehabt hatte, und daß er von den Mutanten der USO wußte, wie man sich dagegen wehren mußte. Er war sich allerdings auch der Gefahr be wußt, in der er schwebte. Während er Thalia näher und näher an Grizzard heranzerrte, bis er diesen schließlich erreichte, sah er sich jeden Angreifer genau an. Irgendwann, so ver mutete er, würde zwischen den parapsychi schen Trugbildern ein Pirat auftauchen, der sich vielleicht in seinem Aussehen kaum von diesen Bildern unterschied. Ihn galt es blitzschnell zu erkennen und abzuwehren.
40 Grizzard blieb stehen und drehte sich um. »Was ist los?« fragte er. »Hat sie den Verstand verloren?« »Siehst du denn nichts?« schrie sie er schöpft und völlig verwirrt. »Überall sind Angreifer.« »Die Piraten täuschen ihr Angreifer vor«, erklärte Kennon. »Sie setzen magische Kräf te gegen sie ein. Thalia sieht diese Angreifer wirklich, obwohl sie nicht da sind.« »Ich sehe nichts.« »Ich kann es nicht ändern«, erwiderte Kennon heftig. »Weiter. Der eigentliche Kampf kommt erst noch.« Grizzard richtete die Lanze auf Kennons Brust. »Magische Kräfte«, sagte er verächtlich. »Der einzige, der dafür in Frage kommt, bist du. Glaubst du, daß du mich täuschen kannst?« Kennon ließ Thalia los. Er wich vor Griz zard zurück. Vergeblich versuchte er, aus der Haltung des Stählernen oder an irgendei ner Reaktion herauszufinden, was der Ver wachsene wirklich beabsichtigte. Wollte er ihn unter Druck setzen? Bluffte er? Glaubte er, einen Wechsel der Bewußtseinsinhalte erzwingen zu können? Kennon war sich längst darüber klar, daß keiner von ihnen einen Wechsel bewußt herbeiführen konnte. Es lag außerhalb ihrer Macht, die natürli chen Verhältnisse wiederherzustellen. Oder war der verwachsene Körper doch parapsychisch zu beeinflussen? Handelte Grizzard jetzt nach dem Willen eines ande ren, der ihn lenkte? Ausgeschlossen, dachte Kennon, während er weiter und weiter zurückwich. Thalia kämpfte mit unsichtbaren Gestalten auf dem schmalen Pfad. Die Vars-Kugel wirbelte um ihren Kopf. Plötzlich sprang die Tochter Odins zur Seite, verlor das Gleichgewicht und wollte sich mit einem Ausfallschritt retten. Sie kam vom Pfad ab und versank sofort bis zu den Hüften im Morast. »Thalia«, schrie Kennon entsetzt. Für den Bruchteil einer Sekunde achtete er nicht auf Grizzard. Dieser stieß zu. Die Spitze der
H. G. Francis Lanze traf eine Schnalle auf der Brust des Stummen, spaltete sie und fuhr Kennon eini ge Millimeter tief in die Brust. Er stürzte zu Boden. Grizzard griff weiter an. Er setzte Kennon die Lanzenspitze an die Kehle und drückte so fest zu, daß Kennon sich nicht vom Boden erheben konnte. Verzweifelt legte der Stumme die Hände um die Lanze und stemmte sich dem tödlichen Druck ent gegen. »Thalia versinkt im Sumpf«, rief er äch zend. »Du mußt Thalia helfen.« »Du bluffst mich nicht«, erwiderte Griz zard und verstärkte den Druck, so daß Ken non nun nicht mehr daran zweifelte, daß er ihn töten wollte. Mit ganzer Kraft drückte er die Lanze zu rück. Die Spitze entfernte sich einige Zenti meter von seiner Kehle, und er warf sich rasch zur Seite. Gleichzeitig gab er dem Druck nach. Die Lanze fuhr tief in den Bo den. Sie verfehlte seinen Hals nur um Milli meter. Kennon schnellte sich hoch und sprang an Grizzard vorbei, bevor dieser reagieren konnte. Er rannte zu Thalia, die mittlerweile bis zu den Schultern im Sumpf versunken war. Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest. »Ganz ruhig«, sagte er. »Wir ziehen dich heraus.« Er verhinderte, daß sie noch tiefer sank, war jedoch nicht kräftig genug, sie heraus zuziehen. Er blickte zu Grizzard hinüber, der wie erstarrt auf dem Pfad stand und sich erst jetzt langsam umdrehte. Ein Ruck ging durch die Rüstung. »Komm schon her. Hilf mir«, rief Kennon ihm zu. Schwerfällig und zögernd setzte Grizzard sich in Bewegung, als könne er sich nicht dazu entschließen, Kennon zu helfen. Doch dann beschleunigte er die Rüstung und lief über den Pfad, der unter seinem Gewicht schwankte. In diesen Sekunden mochte ihm klargeworden sein, daß er rettungslos verlo ren gewesen war, wenn er in den Sumpf ge riet. Niemand wäre stark genug gewesen,
Duell der vertauschten Seelen ihn mit der Rüstung daraus hervorzuholen. »Geh weg«, befahl er, als er neben Ken non stand. »Wozu?« fragte dieser überrascht. »Ich will, daß du einige Meter weit weg bist, wenn ich sie herausziehe.« »Ach, jetzt verstehe ich«, sagte der Terra ner, ließ die Hände Thalias los, erhob sich und entfernte sich etwa zehn Meter weit. »Du hast Angst, daß ich dich in den Sumpf stoße.« »So ist es«, antwortete Grizzard. »Du solltest mal nachdenken«, entgegnete der Stumme. »Ich kann vorläufig auf deine Hilfe nicht verzichten. Ohne dich kommen wir nicht an den Piraten vorbei. Thalia und mich hätten sie schnell erledigt. An deiner Rüstung prallen ihre Waffen jedoch wir kungslos ab. Deshalb kann ich es mir gar nicht leisten, dich schon jetzt umzubringen.« »Du hast also vor, mich zu töten, damit dieser häßliche und verkrüppelte Körper verschwindet.« »So ist es«, gestand Kennon kühl, wäh rend Grizzard sich über Thalia beugte, ihr unter die Arme griff und sie mühelos aus dem Sumpf zog. »Wozu sollte ich es noch leugnen, nachdem du versucht hast, mich zu töten?« Die Tochter Odins brach erschöpft auf dem Pfad zusammen. »Ihr Verrückten«, sagte sie mühsam. »Wenn einer von euch stirbt, kann es passie ren, daß ihr beide in einem Körper leben müßt. Denkt mal darüber nach, wie ihr das durchstehen wollt.« Kennon hatte das Gefühl, daß sie ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. An eine solche Möglichkeit hatte er über haupt noch nicht gedacht. Er gestand sich je doch augenblicklich ein, daß er sie nicht ausschließen durfte, sondern als wahrschein lich einstufen mußte. Dabei mußte er die be sondere Situation Pthors berücksichtigen. Pthor bewegte sich zwischen den Dimensio nen. Daher herrschten hier andere energeti sche Bedingungen als anderswo. Kennon vermutete schon lange, daß stets
41 eine Restenergie bei Pthor blieb, die einen starken Einfluß auf alles ausübte, was sich zwischen den Dimensionen bewegte. Von ihr – so meinte er – war auch er eingefangen worden, als Ischtars Traummaschine ihn in die Dimensionen geschleudert hatte. Er blickte Thalia finster an. Er glaubte, daß sie recht hatte. Grauen überfiel ihn, als er daran dachte, was sein würde, wenn er mit dem verhaßten Grizzard in einem Kör per zusammen leben mußte. »Du hast es begriffen«, sagte Thalia. »Endlich.« Sie wandte sich an Grizzard und blickte zu ihm hoch. »Und was ist mit dir?« Aus der Rüstung ertönte ein Schluchzen. Grizzard war nicht in der Lage, auf ihre Fra ge zu antworten, doch auch so wußten Ken non und Thalia Bescheid. »Ich werde nicht mehr versuchen, ihn zu töten«, erklärte Kennon. »Ich verspreche es.« Grizzard hob die stählerne Rechte. »Ich werde herausfinden, ob der Tausch wirklich nur zufällig war oder ob du ihn be wußt herbeigeführt hast«, sagte er. »Ich las se mich nicht betrügen. Eines Tages werde ich wissen, was ich wissen muß. Sollte sich dann zeigen, daß du nicht die Wahrheit ge sagt hast, wirst du bereuen, gelogen zu ha ben.« Er drehte sich um und ging davon, und erst jetzt fiel Kennon auf, daß sie nicht mehr von parapsychischen Trugbildern angegrif fen wurden. Thalia erhob sich. »Der Tausch erfolgte wirklich zufällig«, sagte Kennon. »Ich habe ihn nicht herbeige führt.« Sie schürzte die Lippen. »Davon bin ich noch nicht überzeugt«, er widerte sie zurückhaltend. »Irgendwann aber werde ich es wissen, und dann erst wer de ich mir ein Urteil über dich bilden.« »Ich verstehe«, sagte Kennon enttäuscht. »Der Angeklagte ist schuldig, solange er das Gegenteil nicht bewiesen hat. Vielleicht wird es mir nie gelingen zu klären, wer oder
42 was für den Tausch verantwortlich ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Daran kann ich nichts ändern. Geh jetzt. Grizzard ist schon zu weit voraus.« Sie nickte und eilte hinter dem Stählernen her. Kennon folgte ihr etwas langsamer. Er blickte sich sorgfältig um. Sie befanden sich auf einem recht offenen Gelände. Der Pfad lief quer durch eine von zahllosen Inseln un terbrochene Wasserfläche, aus der Bäume und Büsche ragten. Sie zeigten Kennon, daß die Piraten das Gebiet unter Wasser gesetzt hatten, um es unzugänglich zu machen. Er vermutete, daß der ermordete Anführer da für verantwortlich war. Dieser Mann hatte ihn in gewisser Weise beeindruckt. Seine Art, die Piraten zu führen, die Entschlossen heit, mit der er die Porquetor-Rüstung gete stet hatte, und schließlich seine Kampftech nik hatten ihm gezeigt, daß er es hier mit ei ner besonderen Persönlichkeit zu tun gehabt hatte, die sich von den anderen abhob. Er war kein primitiver Barbar und Plünderer gewesen. Vieles deutete darauf hin, daß er erst seit kurzer Zeit Anführer der Piraten gewesen war. Mit ihm, so meinte Kennon, wäre eine positive Entwicklung möglich gewesen, die die Piraten irgendwann zu nützlichen Mit gliedern der Gesellschaft auf Pthor gemacht hätte. Doch jetzt war er tot, und ein anderer hatte die Macht übernommen. Damit schie nen alle Wege in eine bessere Zukunft für die Piraten versperrt zu sein. Oder zeigte sich, daß doch noch Hoffnung bestand? Hatten die Piraten verfolgt, wie der Kampf gegen die Trugbilder verlaufen war? Hatten sie die richtigen Schlüsse daraus ge zogen und den Kampf daher abgebrochen? Als Kennon etwa hundert Meter weit ge gangen war, entdeckte er eine Gestalt auf ei ner der Inseln. Der Mann war mit einem Speer bewaffnet und beobachtete ihn. Ken non hielt ihn für einen Piraten. Wenig später bemerkte er zwei weitere Männer, die schweigend zu ihm herüber blickten. Und dann sah er noch mehr. Sie waren etwa hundert Meter von ihm entfernt
H. G. Francis und verhielten sich ruhig. Nichts deutete darauf hin, daß sie angreifen wollten. Kennon schloß zu Thalia und Grizzard auf. Auch sie hatten mittlerweile gesehen, daß sie von überall her beobachtet wurden. Der Pfad verbreiterte sich. Er führte in einen Wald, in dem die Bäume dicht an dicht stan den. Hier boten sich den Piraten zahllose Verstecke. Ein hochgewachsener Mann stand mitten auf dem Pfad. Er war unbe waffnet. Kennon sah, daß es der Unterführer der Piraten war, und er vermutete, daß dieser Mann nun das Amt des ermordeten Anfüh rers übernommen hatte. Grizzard blieb stehen und spähte nach al len Seiten. Er schien mit einem Angriff der Piraten zu rechnen. »Geh weiter«, sagte Kennon zu ihm. »Der Mann will mit uns reden.« »Das ist eine Falle«, entgegnete Grizzard mit schriller Stimme. Kennon schob sich an ihm vorbei und ging zu dem Piraten. »Du scheinst vernünftig zu sein«, sagte er zu ihm. »Du hast erkannt, daß ein Kampf weder für euch noch für uns etwas ein bringt.« »Ich habe die Maschine eingeschaltet. Wir alle haben jene gesehen, die euch ange griffen haben, aber sie haben nichts erreicht. Ihr habt euch nicht täuschen lassen.« Er streckte zögernd die Hand aus. »Mein Name ist Treall. Ich bin der neue Anführer.« »Du willst uns passieren lassen?« »Ihr könnt gehen«, erwiderte Treall. »Wenn wir jetzt miteinander kämpfen, wird es auf beiden Seiten Tote und Verletzte ge ben. Wir wissen aber, daß Pthor von außen bedroht ist. Ihr habt die Flugscheiben ebenso gesehen wie wir. Was hätte ein Kampf unter diesen Umständen für einen Sinn? Schon morgen könnten wir die Gefangenen der Fremden sein. Blutvergießen würde uns nur selbst schwächen.« Kennon nickte. »Einer von uns dreien käme durch. Wahr scheinlich wäre es der Stählerne. Er würde die Botschaft vom Tod Thalias zur FE
Duell der vertauschten Seelen STUNG bringen, und der neue König von Pthor würde sie rächen. Es ist gut, daß ihr noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen seid.« »Geht«, bat Treall. »Geht schnell. Ich weiß nicht, wie lange ich Anführer bin. Es gibt Männer bei uns, die nicht einsehen wol len, daß wir diesen Weg beschreiten müssen. Sie könnten mich beseitigen, so wie es mit Athephet geschehen ist. Und dann ist es zu spät für euch.« »Kehrt in die Ruinenstadt zurück«, sagte Kennon. »Versucht, dort etwas aufzubau en.« Treall lächelte geheimnisvoll. »Warum dorthin? Der Wald ist groß.« Damit deutete er an, daß die Piraten mehr als einen Unter schlupf hatten. Kennon gab Thalia und Grizzard einen Wink. Die beiden waren voller Mißtrauen zurückgeblieben und hatten auf den überfall gewartet, der ihnen unvermeidlich schien. Auch jetzt kamen sie nur zögernd voran. Thalia lächelte spöttisch, als Kennon ihr sagte, daß die Piraten sie unbehelligt ziehen lassen wollten. Sie glaubte ihm nicht. Doch Treall trat zur Seite und gab den Weg frei. Jetzt ging Kennon voran. Immer wieder bemerkte er einige Piraten, die abseits hinter den Büschen und Baumstämmen standen und sie beobachteten. Keiner von ihnen griff an. Kennon konnte sich gut vorstellen, daß die Piraten zunächst gejubelt hatten, als sie gesehen hatten, wie die parapsychischen Trugbilder Thalia narrten. Wie enttäuscht sie jedoch waren, als sich die Bilder als wir kungslos erwiesen, zeigte ihre jetzige Reak tion. Kennon trieb Thalia und Grizzard zur Eile an. Er war sich dessen bewußt, daß die Hal tung Grizzards entscheidend gewesen war. Die Piraten konnten nicht wissen, daß er die Trugbilder gar nicht gesehen hatte.
8. In der FESTUNG
43 Als Sinclair Marout Kennon den Wald verlassen hatte, wurde er unruhig. Plötzlich glaubte er, daß es auf jede Minute für ihn ankam. Er schüttelte die Gedanken an die Piraten ab und dachte nur noch an Espher, für die er bereit gewesen war, Grizzard zu töten. War er jetzt sicher davor, plötzlich im verunstalteten Körper zu erwachen, in dem er bisher gelebt hatte? Konnte er sicher sein, daß er lange genug in diesem schönen Kör per leben würde, um Espher lieben zu kön nen? Immer wieder mußte er daran denken, was sie über häßliche Menschen gesagt hat te. Wie würde sie sich verhalten, wenn sie die Wahrheit über ihn und Grizzard erfuhr? Würde sie sich von ihm abwenden, obwohl er einen so ansehnlichen Körper besaß. Sie hatte gesagt, daß der Charakter eines Menschen ebenso war wie sein äußeres Er scheinungsbild. Er wußte, daß so etwas un sinnig war, und er glaubte, daß sie lediglich ein Vorurteil nachplapperte, das ihr irgend jemand vermittelt hatte. Als sie sich darüber geäußert hatte, war er zu feige gewesen, ihr zu widersprechen. Er hatte Angst gehabt, er klären zu müssen, woher er seine Überzeu gung hatte. Und er hatte sich davor gefürch tet, daß sie ihn gar nicht anhören, sondern sich von ihm abwenden würde. Während er mit Thalia und Grizzard zur FESTUNG eilte, dachte er darüber nach, wie er den beiden beibringen sollte, daß sie über sein Problem nicht sprechen sollten. Nur At lan durfte es erfahren. Am liebsten hätte Kennon ihm gegenüber auch weiterhin ge schwiegen, aber er wußte, daß Thalia und Grizzard das nicht zulassen würden. Je näher die FESTUNG kam, desto unge duldiger war er, und als er sie endlich betrat, wollte er sich von Thalia und Grizzard ver abschieden, um zu Espher zu eilen. Doch das ließ die Tochter Odins nicht zu. »Ich habe den Auftrag erhalten, Grizzard zu suchen und zur FESTUNG zu bringen«, sagte sie, während sie vor einer Fahrstuhltür warteten. »Ich bringe Grizzard zu Atlan.
44 Und dich auch. Du gehörst für mich zu Griz zard. Und wenn du Atlan wirklich schon so lange kennst, dann weißt du, daß er nicht eher Ruhe geben wird, bis du bei ihm bist.« Kennon senkte den Kopf. Er nickte. »Ich weiß«, erwiderte er, während sich die Lifttür öffnete. »Also gut. Ich komme mit, aber ich werde nicht lange bleiben.« »Das ist mir egal«, sagte Thalia. Sie betrat den Fahrstuhlkorb, wartete, bis Kennon und Grizzard bei ihr waren, und fuhr dann zu sammen mit ihnen nach oben. Als sie aus stiegen, wurden sie von einigen Dellos er wartet. »Wo ist Atlan?« fragte Thalia. Einer der Dellos deutete auf einen Monitorschirm an der Wand. »Atlan weiß bereits, daß ihr kommt«, er widerte er. »Er wartet auf euch. Wenn ihr wollt, werde ich euch führen.« »Führe uns«, befahl Thalia. Kennon strich sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Er fühlte sich unbehaglich und fürchtete sich vor der Be gegnung mit dem Freund. In diesen Minuten, in denen er zusammen mit Thalia und Grizzard durch die FE STUNG ging, hatte er das Gefühl, Atlan seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen zu haben. Tatsächlich war er ihm erst vor wenigen Ta gen in der FESTUNG begegnet. Doch diese Begegnung hatte nicht den Eindruck bei ihm hinterlassen wie eine andere, die in der Tat nach objektiver Zeitrechnung um weit mehr als zehntausend Jahre in der Vergangenheit lag. Er erinnerte sich noch so genau an sie, als wäre alles erst vor ein paar Stunden ge wesen. Schauplatz dieses Zusammentreffens war der Kristallpalast auf Arkon I im altar konidischen Imperium gewesen. Atlan war im Herzen des Imperiums erschienen, und Kennon-Axton hatte ihm das Leben gerettet. Orbanaschol III war gestürzt worden. Da nach hatte die allmählich zerfallende Traum maschine Ischtars ihn in die terranische Ge genwart zurückgerissen, doch Kennon-Ax ton war nicht bereit gewesen, abermals in seinem Robotkörper zu leben. Er hatte sich
H. G. Francis erneut in die Traummaschine gelegt und war in den Strom der Dimensionen entglitten. Als er Atlan danach wiedergesehen hatte, war dieser nur wenig gealtert, obwohl er mehr als zehntausend Jahre älter war. Eine Tür öffnete sich. Kennon sah Atlan, den neuen König von Atlantis, bei einer Beratung im Kreis seiner Freunde und Mitarbeiter. Als der Arkonide Thalia und Grizzard in der Porquetor-Rü stung bemerkte, schickte er alle Konferenz teilnehmer hinaus und wandte sich den Be suchern zu. Er lächelte. Kennon beachtete er nicht. Dieser war für ihn der Stumme, der sich töricht benommen hatte und einen einfach erscheinenden Auf trag nicht erfüllt hatte. Grizzard schaltete den Halbroboter aus und kletterte daraus hervor. Als Atlan sah, welche Mühe es ihm machte, auf den Boden zu kommen, griff er ihm unter die Arme, bis der Verwachsene sicher auf seinen Füßen stand. Grizzards Gesicht zuckte vor Erre gung. Die Augen tränten. Er versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, aber es wurde eine häßliche Grimasse daraus. Griz zard wurde sich dessen bewußt, wie absto ßend er auf die anderen wirkte, wandte sich Kennon zu und blickte diesen haßerfüllt an. Atlan bemerkte es. Er musterte den Stum men. »Was führt dich hierher?« fragte er, ohne spüren zu lassen, was er empfand. »Er ist hier, um dich und mich zu verhöh nen«, erklärte Grizzard mit schriller Stimme. Er hob die kleinen Fäuste drohend gegen Kennon. Thalia trat vor. »Seid ruhig«, bat sie und deutete auf Griz zard. »Ich habe den Auftrag erfüllt, Atlan. Grizzard ist hier. Aber nicht nur er. Auch je ner …« Kennon unterbrach sie. »Laß es mich sagen, Thalia.« Er hob den Kopf. »Ich will dir erklären, warum ich so durcheinander war, Atlan. Mein Name ist Sinclair Marout Kennon.« Der Arkonide blickte ihn erstaunt an. Er
Duell der vertauschten Seelen schüttelte ungläubig lächelnd den Kopf. »Ich denke, für derartige Scherze ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, entgegnete er. »Pthor ist in Gefahr. Wir werden von Frem den bedroht, die den Wölbmantel nach Be lieben durchdringen. Unter diesen Umstän den finde ich solche Bemerkungen nicht an gebracht.« »Es ist die Wahrheit«, betonte Kennon und berichtete, wie er aus dem altarkonidi schen Imperium zurückgekehrt war auf den Planeten Meggion, wo die Traummaschinen Ischtars standen. Er schilderte, wie er eine der Maschinen notdürftig repariert hatte und von ihr in die Dimensionskorridore entführt worden war, wie er sich bemüht hatte, Atlan zu finden, und wie er sich dabei nach den Impulsen des Zellaktivators gerichtet hatte. Diese waren in jene Bereiche durchgeschla gen, in denen er sich befunden hatte. Kennon beschrieb seine verzweifelten Versuche, die Dimensionskorridore zu ver lassen und auf einer für ihn geeigneten Welt zu materialisieren. »Ich wurde in meinem verwachsenen Zwergenkörper materiell«, sagte er. »Und daraus schloß ich, daß dies in Zukunft und auf anderen Welten auch so sein würde. Das erwies sich als Irrtum. Als ich auf Pthor kör perlich wurde, befand ich mich in dem nack ten Körper Grizzards und lag in einem Fahr zeug. Wir näherten uns Taamberg und wur den von Piraten überfallen, die einer anderen Sippe angehörten als jene, denen wir dieses Mal in die Hände gerieten. Zunächst war ich entsetzt darüber, daß ich nun in einem ande ren Körper lebte, aber bald habe ich mich daran gewöhnt. Ich begann, diesen Körper zu lieben. Gleichzeitig war mir klar, daß mein anderer Körper irgendwo geblieben sein mußte, daß es zu einem Tausch der Be wußtseinsinhalte gekommen war. Ich wußte, daß Grizzard mit diesem Tausch nicht ein verstanden sein konnte. Doch was sollte ich tun? Ich hatte diesen Tausch nicht absicht lich herbeigeführt. Ich weiß noch nicht ein mal, wodurch er überhaupt verursacht wur de. Ich habe keine Ahnung, ob man ihn
45 rückgängig machen kann und bei einer Auf lösung und einer erneuten Materialisation der Körper tatsächlich alles wieder so wird wie zuvor oder ob sich der Tausch dann nicht auf weitere Personen ausdehnt.« Kennon hob hilflos die Schultern. Er hatte sich ein Wiedersehen mit dem Freund ganz anders vorgestellt. Er war davon überzeugt gewesen, daß der Arkonide und er in eine gewisse Hochstimmung geraten und Grund zu endlosen Gesprächen haben würden. Doch jetzt fühlte er sich wie ein Bittsteller. »Du bist ein kluger und erfahrener Mann«, sagte Thalia zu Atlan. »Du weißt mehr als wir alle. Vielleicht hast du so etwas schon einmal erlebt.« Atlan unterbrach sie, indem er mahnend die Hand hob. Dabei blickte er Kennon un verwandt an. »Wenn du glaubst, daß ich einen Ausweg weiß, dann irrst du dich«, sagte er. »Ich weiß keinen. Ich kann mir noch nicht einmal erklären, was wirklich geschehen ist, weil ich zu wenig Informationen über die Traum maschinen habe. Ich möchte jedoch wissen, ob dies wirklich Sinclair Marout Kennon ist.« »Ich bin es«, antwortete der Terraner. »Glaubst du, daß ich mich an Vorgänge erinnern kann, die mehr als zehntausend Jahre in der Vergangenheit liegen?« fragte Atlan. »Das weiß ich. Du hast ein fotografisches Gedächtnis.« »Dann könnte ich mich an das erinnern, was im Kristallpalast geschah, als Orbana schol starb?« »Du könntest es.« »Nun gut, wenn dein Bericht wahr ist, dann müßten diese Ereignisse auf der Kri stallwelt für dich nur einige Wochen zurück liegen. Ist das richtig?« »Das stimmt. Die Traummaschine Ischt ars hat mich in die Zeit des altarkonidischen Imperiums zurückversetzt. Sie wurde für mich zur Gegenwart. Für mich ist es, als wä re Orbanaschol III erst vor einigen Tagen in seine eigenen Fallen gelaufen. Ich hatte
46 einen anderen Namen. Ich nannte mich Lebo Axton.« »Und du hattest einen Freund, der dich ständig begleitete. Wie hieß er?« »Du sprichst von dem Roboter Gentleman Kelly.« Das Gesicht Atlans erhellte sich. Er lä chelte, und seine Augen wurden feucht vor Erregung. Er legte Kennon die Hände an die Schultern und blickte ihn forschend an. »Du bist es«, sagte er mit belegter Stim me. »Du bist Sinclair Marout Kennon alias Lebo Axton. Wer könnte sonst etwas von diesem verrückten Roboter wissen?« »Niemand«, entgegnete Kennon lächelnd. »Was für ein eigenartiger Name für einen Roboter«, sagte Thalia. »Genau das hat Tarts auch gesagt. Ein ho her arkonidischer Offizier.« »Und was hat Gentleman Kelly geantwor tet?« fragte der Arkonide. »Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich erinnere mich, daß es eine Bemerkung war, die mich überraschte.« »Kelly sagte: Eine verrückte Idee von Schätzchen. Dennoch entspricht er irgendwie meinem Charakter. Ich bin stets höflich, nett und zurückhaltend«, erwiderte Kennon und fügte zu Thalia gewandt erklärend hin zu: »Mit Schätzchen meinte er mich.« Thalia lachte. »Ich finde diese Bemerkungen weder wit zig noch besonders geistreich«, sagte Griz zard mit schriller Stimme. Seine Augen trän ten, und das linke Lid zuckte heftig. Er at mete keuchend. Die Erregung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Ich habe keinen Grund, mich über irgend etwas zu freuen. Dies ist nicht die Stunde des Triumphs für irgend jemand von uns.« Bestürzt blickte Kennon ihn an. Atlan und Thalia wurden schlagartig ernst. »Verzeih, Grizzard«, sagte der Arkonide leise. »Ich wollte dich nicht beleidigen oder demütigen. Ich wollte mich lediglich davon überzeugen, ob in diesem Körper tatsächlich jene Persönlichkeit lebt, die ich sehr gut kenne. Nur so konnte ich mich davon über zeugen, daß der Tausch der Bewußtseinsin-
H. G. Francis halte tatsächlich stattgefunden hat.« »Ich verstehe das«, erwiderte Grizzard ha ßerfüllt, »doch das ändert nichts an der Tat sache, daß ich mit dem größeren Problem zu kämpfen habe. Ich muß in einem Körper le ben, der mich ekelt, und ich mache keinen Hehl daraus, daß ich diesen Sinclair Marout Kennon abgrundtief hasse.« Er sprach in eigenartig abgehackter Weise und legte in jedes seiner Worte all seinen Haß hinein. Dabei hob er die geballten Fäu ste und trat immer näher an Kennon heran, bis er ihm schließlich wütende Schläge auf die Brust versetzte. Kennon nahm sie mit stoischer Ruhe hin. »Ich habe gesagt, daß der Tausch mich ebenso überrascht hat wie dich. Ich habe ihn nicht absichtlich herbeigeführt.« »O doch, das hast du«, schrie Grizzard. Seine Stimme überschlug sich. Er wandte Atlan sein tränenüberströmtes und von Ver zweiflung gezeichnetes Gesicht zu. »Ich glaube nicht daran, daß der Tausch zufällig erfolgte. Ich habe genau gehört, was dieser Schurke gesagt hat. Die Traummaschine Ischtars hat ihn in die Dimensionskorridore geführt. Hier hat er die Impulse des Zellakti vators geortet, und er ist ihnen gefolgt. Hast du das gesagt, Kennon?« »Das habe ich gesagt«, bestätigte der Ter raner. »Hörst du es, Atlan?« brüllte Grizzard. Er zeigte anklagend auf Kennon. »Er ist ihnen bewußt gefolgt, so wie ein Bluthund der Schweißspur eines angeschossenen Wildes folgt. Er war kein wesen- und willenloses Etwas in diesem entmaterialisierten Zustand, sondern ein bewußt denkender Intellekt. Er hat dich gesucht, stieß auf Pthor, und da kam ihm die teuflische Idee, nicht zusammen mit seinem verkrüppelten Körper zu materiali sieren, sondern seinen Gnomenkörper an an derer Stelle werden zu lassen und sich selbst in meinen erwachenden Körper zu stürzen. Er hat mir meinen Körper geraubt. Er hat es bewußt und gezielt getan. Mit voller Überle gung. Eiskalt und berechnend. Er hat das schlimmste Verbrechen begangen, zu dem
Duell der vertauschten Seelen ein Mensch fähig ist.« »Es ist nicht wahr«, antwortete Kennon stammelnd. Er wich vor Grizzard zurück. Die kleinen Fäuste trommelten weiter auf seine Brust, bis er sie festhielt und behutsam zurückdrückte, um Grizzard nicht weh zu tun. Er wußte, wie schwach und empfindlich der verwachsene Körper war. »Es ist nicht wahr. Ich habe nichts bewußt getan.« Atlan schob sich trennend zwischen die beiden Männer. »Schluß jetzt«, befahl er. »Ich glaube Kennon. Er ist ein Mann, der ein so scheuß liches Verbrechen niemals begehen würde. Ich weiß es, weil wohl kaum jemand ihn so gut beurteilen kann wie ich.« »Du weißt es«, rief Grizzard höhnisch und verbittert. »Du steckst mit ihm unter ei ner Decke. Du ergreifst seine Partei, weil das leichter ist, als gerecht zu sein.« Schluchzend eilte er aus dem Raum. Er hatte seine Fassung völlig verloren und kam in dieser Situation nicht einmal auf den Ge danken, in die Porquetor-Rüstung zu steigen und Kennon anzugreifen. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Bestürzt blickten Atlan, Thalia und Ken non ihm nach. »Ich kann ihn verstehen«, sagte der Terra ner schließlich mit leiser Stimme. »Ich weiß, was er fühlt. Die Situation ist ausweglos für uns. Ich würde den Tausch rückgängig ma chen, wenn ich könnte, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll.« Atlan spürte, daß Kennon nicht weniger verzweifelt war als Grizzard. Gern hätte er ihm gesagt, daß er ihm helfen wollte, aber er wußte nicht, ob ihm überhaupt zu helfen war. Kennon schien recht zu haben. Einen Ausweg gab es nicht. Irgend etwas aber mußte geschehen. Atlan war sich dessen bewußt, daß es für Kennon und Grizzard unerträglich war, auf so engem Raum zusammen leben zu müssen. Er glaubte Kennon, daß dieser den Tausch nicht bewußt herbeigeführt hatte. »Was soll nun geschehen?« fragte Thalia. »Ich weiß es nicht«, antwortete Kennon.
47 »Ich gebe zu, daß ich im Moment auch ratlos bin«, bemerkte der Arkonide. »Ich se he keinen Ausweg.«
* Grizzard war völlig verzweifelt. Der Bericht Kennons hatte ihm endgültig klargemacht, daß er keine Aussicht hatte, in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Er glaubte auch nicht, daß sich irgendwann in der Zukunft eine Gelegenheit dazu ergeben würde. Er zog sich in einen Raum zurück, in dem er allein sein konnte. Ein Dello hatte ihm diesen Raum zugewiesen, nachdem er ihn darum gebeten hatte. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sank Grizzard in sich zusammen. Er versuchte, seinen Haß zu überwinden, aber je mehr er sich darum bemühte, desto weniger gelang es ihm. Er war mehr denn je davon überzeugt, einem geplanten Verbre chen zum Opfer gefallen zu sein. Er glaubte nicht daran, daß Kennon unschuldig war. Schlimmer noch aber war für ihn, daß At lan Kennon vorbehaltlos glaubte. Damit schwand auch die letzte Hoffnung für ihn, daß alles wie ein böser Traum mit einem er lösenden Erwachen im eigenen Körper en den würde. Nun fürchtete er sogar, daß Atlan einen erneuten Tausch verhindern würde, um sei nem Freund Kennon einen Dienst zu erwei sen. Er argwöhnte, daß Kennon im neuen Körper Atlan nützlicher war als in dem ver krüppelten Körper und daß der Arkonide schon aus diesem Grund gegen einen erneu ten Tausch war. Er bereute, die Porquetor-Rüstung nicht mitgenommen zu haben. Darin hätte er sich ebenso wie in diesem Raum verkriechen und mit seinen Gedanken allein sein können. Er dachte daran, daß er von nun an wahr scheinlich täglich seinen schönen Körper se hen würde, den Kennon nun benutzte wie einen Anzug. Tag für Tag, so meinte er, würde er sich durch den Anblick verhöhnt
48 und gedemütigt fühlen. Ihm war klar, daß er diesen Zustand nicht ertragen konnte. Er überstieg seine Kräfte. Grizzard fühlte, daß er früher oder später über Grizzard herfallen und ihn töten würde. Zugleich war er sich darüber klar, daß er das nicht tun durfte. Atlan würde eine solche Tat augenblicklich bestrafen. Und dann half auch die Porquetor-Rüstung nichts mehr. Grizzard wußte, daß Atlan Porquetor besiegt hatte, und er fürchtete, daß er auch ihm trotz der Rüstung überlegen sein würde. Dennoch war für ihn völlig klar, daß Ken non sterben mußte. Vor wenigen Stunden noch war er anderer Meinung gewesen. Jetzt aber sah er keine andere Möglichkeit mehr. Vergeblich hatte er gehofft, daß Atlan ihn aus seiner Not ret ten würde. Wenn schon keine Möglichkeit bestand, den Tausch rückgängig zu machen, dann sollte der Körper, der ihm gehörte, auch nicht mehr leben. Er wollte ihm nicht tagtäg lich begegnen. Flüchtig dachte er daran, daß die beiden Bewußtseinsinhalte zusammenfallen konn ten, doch dann schob er diesen Gedanken weit von sich. Er glaubte nicht mehr daran, und wenn es doch so war, so glaubte er, das Kennon-Bewußtsein mit seinem Willen und seinem Haß vernichten zu können. Als Grizzard den Raum nach etwas mehr als zwei Stunden verließ, war er ruhig und gefaßt. Er kehrte zu Atlan zurück, fand die Porquetor-Rüstung von zwei Dellos bewacht und kletterte hinein. Der Arkonide erhob keinen Einspruch. Er blickte Grizzard nur fragend an, und dieser gab ihm zu verstehen, daß er den Schock überwunden hatte und daß alles in Ordnung war. »Du brauchst dir keine Sorgen zu ma chen«, sagte er, und es gelang ihm, Atlan zu täuschen. Kennon betrat den Raum. Er ging schwei gend an ihm vorbei. Er dachte nicht daran, ihn anzugreifen und zu töten. Dieser Weg war ihm zu einfach und barg einige Kompli kationen in sich, die er auf jeden Fall ver-
H. G. Francis meiden wollte. Er selbst wollte weit von Kennon entfernt sein, wenn dieser starb. Er hoffte, daß das Kennon-Bewußtsein dann nicht zu ihm überschlagen würde.
* Als Kennon Atlan und Thalia verließ, fühlte er sich kaum anders als Grizzard, wenngleich er nicht so verzweifelt war. Das Gefühl der Schuld erdrückte ihn jedoch na hezu, obwohl er keine Schuld hatte. Er hatte die Wahrheit gesagt. Der Tausch hatte sich ohne sein Zutun vollzogen. Als er allein war, verflogen die Gedanken an Grizzard jedoch, und Kennon dachte mehr und mehr an Espher, die er nun schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte. Ihm kam es vor, als sei seither eine Ewigkeit vergangen. Er eilte durch die FESTUNG und suchte sie überall, wo er sie sonst getroffen hatte. Wohin er jedoch kam, er fand sie nicht. Er scheute davor zurück, die Androiden, Dala zaaren, Technos oder andere Helfer zu fra gen, die sich in der FESTUNG aufhielten. Je mehr Zeit verstrich, ohne daß er Espher fand, desto unruhiger wurde er. Sie wußte nicht, daß er zurückgekehrt war. Daher konnte er ihr keinen Vorwurf machen. Den noch meinte er, sie hätte eine Nachricht für ihn hinterlassen müssen, damit er es leichter hatte, sie zu finden. Schließlich traf er einen Dalazaaren, den er in einem der Spielräume gesehen hatte und von dem er wußte, daß er Espher kann te. »Ich suche Espher«, sagte er. »Kannst du mir sagen, wo sie ist?« »Sie hat die FESTUNG verlassen, glaube ich«, antwortete er. »Wieso?« fragte Kennon verwirrt. »Wohin will sie?« »Nach Moondrag. Mit ihrem Mann.« Kennon hatte das Gefühl, der Boden unter ihm stürze ein. Er verlor die Beherrschung und schlug zu. Er traf den Dalazaaren am
Duell der vertauschten Seelen Kinn und schleuderte ihn zurück. Doch dann tat es ihm schon wieder leid, den Mann an gegriffen zu haben, da diesen keine Schuld traf. Er entschuldigte sich stammelnd bei ihm. »Ich dachte, du wolltest dich über mich lustig machen«, sagte er. »Es tut mir leid.« »Frage das nächste Mal einen anderen«, riet ihm der Dalazaare. »Ich sage dir nichts mehr.« »Ich habe die Nerven verloren«, erwiderte der Terraner. »Wo ist Espher jetzt?« »Wenn du dich beeilst, wirst du sie viel leicht noch vor der FESTUNG erwischen.« Kennon fuhr herum und rannte wie von Sinnen davon. Er stürmte durch die FE STUNG, in der er sich noch nicht so gut auskannte, daß er den Weg nach unten und zum wichtigsten Ausgang sogleich fand. Im mer wieder verlief er sich und mußte dann nach dem Weg fragen. Schließlich aber fand er den Ausgang. Er lief an einigen Dalazaaren vorbei, die sich mit Blumen geschmückt hatten. Warme Luft schlug ihm entgegen, und er hörte das helle Lachen einer Frau. Er blieb stehen. Espher stand unter einem Baum. Ihr Kopf war mit Blüten bedeckt. Sie lachte fröhlich. Bei ihr war ein dicker, unansehnlicher Dala zaare. Er legte die Hand um ihre Hüften. Et wa zwanzig Männer und Frauen umringten das Paar. Kennon stieß einige der Männer und Frauen zur Seite und packte den Dalazaaren neben Espher an den Schultern. Er wirbelte ihn herum und wollte ihn niederschlagen. »Was fällt dir ein?« fragte Espher mit so kühler Stimme, daß er glaubte, mit eiskaltem Wasser übergossen zu werden. Der Dicke stieß ihn mit beiden Händen zurück. Er schnaufte erregt. »Was will er von dir?« fragte er. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Espher«, sagte Kennon mit tonloser Stimme. »Ich verstehe nicht. Was hat das al les zu bedeuten?« Sie lachte ihm ins Gesicht.
49 »Dafür verstehe ich um so besser«, erwi derte sie. »Du hast dir was eingebildet. Als ob du der einzige Mann weit und breit wärst.« Sinclair Marout Kennon begriff. Ernüch tert und tief verletzt wandte er sich ab und kehrte in die FESTUNG zurück. Die höhni schen Bemerkungen einiger Männer und Frauen trafen ihn wie Messerstiche. Wieder einmal hatte ihn eine Frau enttäuscht, und dabei hatte sein Aussehen keine Rolle ge spielt. Er war bereit gewesen, für Espher sogar einen Mord zu begehen, aber sie hatte seine Bemühungen nicht ernst genommen. Kennon sah in diesen Sekunden nicht, daß er entscheidende Fehler gemacht hatte, weil er Espher völlig falsch eingeschätzt hatte. Gequält und innerlich wie erstarrt, machte er sich auf den Rückweg zu Atlan. Er beschloß, sich in die Arbeit zu stürzen, so wie er es stets gemacht hatte, wenn er in seinem an Enttäuschungen so reichen Leben eine Niederlage hatte einstecken müssen. Daraus würde sich, wie die Erfahrung ge zeigt hatte, dann früher oder später ein Sieg ergeben. Die Gedanken an Espher erloschen. Er gewann mehr und mehr Abstand von ihr, und während er zu Atlan zurückkehrte, wuchs die Erkenntnis in ihm, daß er sie nur ins Auge gefaßt hatte, weil es so leicht er schien, sie zu erobern. Dennoch schmerzte die Abfuhr. In einem Fahrstuhlkorb blickte er an sich herunter. Es kam nicht nur auf den Körper an. Er war kaum mehr als eine Ausgangsbasis, auf der er aufbauen konnte. Ohne diesen Körper aber fehlte die Basis. Er mußte den Körper behalten. Er mußte ihn mit allen Mitteln verteidigen, ganz gleich, was Grizzard unternahm. Er schloß die Augen. Ein einziger Gedan ke erfüllte ihn: Was würde Grizzard unter nehmen? Er glaubte, die Antwort zu kennen.
50
H. G. Francis ENDE ENDE