Conditio Judaica 69 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Ott...
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Conditio Judaica 69 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing
Petra S. Fiero
Zwischen Enthllen und Verstecken Eine Analyse von Barbara Honigmanns Prosawerk
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Meinen Eltern in Dankbarkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65169-2
ISSN 0941-5866
+ Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul=ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf=ltigungen, >bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest=ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Einleitung ..............................................................................................
1
I
Kurzbiographie ......................................................................................
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II
Roman von einem Kinde ........................................................................ 1 Thematische Zusammenhänge zwischen den Geschichten ............ 2 Religiöse Elemente in Roman von einem Kinde ............................. 3 Alltagsleben in der DDR ................................................................ 4 Das Motiv der Geburt ..................................................................... 5 Das Motiv der Erlösung .................................................................. 6 Träume ............................................................................................ 7 Strukturelle Besonderheiten der Assoziationsprosa ........................
15 16 24 32 34 36 37 41
III Eine Liebe aus nichts ............................................................................. 1 Die Ausgangslage vor der Emigration ............................................ 2 Die Emigration über Frankfurt nach Paris ...................................... 3 Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater ................................ 4 Das Verhältnis zu Alfried ............................................................... 5 Die Beziehung zu Jean-Marc .......................................................... 6 Kommunikation durch Briefe ......................................................... 7 Die Welt als Theater .......................................................................
43 44 46 54 67 72 76 79
IV Soharas Reise ........................................................................................ 83 1 Die Exilerfahrung ........................................................................... 85 2 Die Darstellung verschiedener jüdischer Lebenswelten ................. 91 3 Soharas Selbstfindung .................................................................... 100 V Damals, dann und danach ..................................................................... 109 1 Fremdbestimmung durch den Anderen: »Ich bin nicht Anne!« ..... 110 2 Distanz und Nähe zu Deutschland: Schwierigkeiten des Doppellebens .................................................................................. 114 3 Legenden und Mythen der Kindheit ............................................... 121 4 Leerstellen ...................................................................................... 124 5 Familienrecherche .......................................................................... 128
VI
Inhalt
6 7
Die Ästhetik des Alltags ................................................................. 130 Der Schaffensprozess ..................................................................... 133
VI Alles, alles Liebe! .................................................................................. 139 1 Politischer Hintergrund ................................................................... 140 2 Diskriminierung .............................................................................. 142 3 Innerjüdische Beziehungen zwischen den Generationen ................ 143 4 Annas und Evas Beziehung zum Judentum .................................... 145 5 Beziehungen zwischen Juden und Deutschen ................................ 149 6 Kunst und Literatur in der DDR der siebziger Jahre ...................... 151 7 Das Genre des Briefromans ............................................................ 155 VII Ein Kapitel aus meinem Leben .............................................................. 159 1 Die Lebensstationen der Mutter ...................................................... 160 2 Parteielite, Kulturhierarchie, Privilegien ........................................ 162 3 Postmemory der Generation nach der Shoah .................................. 169 4 Die Aufbewahrung von Erinnerungs- und Erbstücken ................... 174 5 Die Verschlossenheit von Orten ..................................................... 175 6 Erzähltechnik, Stil und Rezeption .................................................. 178 VIII Die Poetologie der Erinnerung .............................................................. 183 1 Autofiktion ..................................................................................... 183 2 Beziehung zwischen Autor und Leser ............................................ 184 3 Figurenkonstellation ....................................................................... 188 4 Erinnerungstechniken der Schriftsteller nach der Shoah ................ 188 5 Verhältnis zur deutschen Sprache ................................................... 190 6 »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« ........................... 194 Literaturverzeichnis ............................................................................... 201 Literatur von Barbara Honigmann .................................................. 201 Literatur über Barbara Honigmann ................................................. 202 Sonstige Literatur ........................................................................... 207 Danksagung ........................................................................................... 213 Personenregister .................................................................................... 215
Einleitung
Barbara Honigmanns Roman von einem Kinde1 war im Jahre seines Erscheinungsdatums 1986 eines der ersten Werke einer neuen Literatur, die Thomas Nolden in seiner bahnbrechenden Studie als »Junge jüdische Literatur« bezeichnete.2 Ende der achtziger Jahre begannen Vertreter der »Generation nach der Shoah«, also Kinder von Überlebenden der Judenverfolgung, die kurz vor oder nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, sich literarisch zu Wort zu melden.3 Das Adjektiv «jung« bezieht sich hier also nicht auf das Alter der Schriftsteller – die meisten dieser Autoren haben die Fünfzig längst überschritten –, sondern soll zum Ausdruck bringen, dass die Shoah ein zwar nicht am eigenen Leib erfahrenes Ereignis in ihrem Leben ist, aber doch eines, das nichtsdestoweniger einen großen Schatten auf ihre Weltanschauung wirft. »Jüdisch« bezeichnet nicht allein die Herkunft des Autors, da jemand zwar jüdischer Herkunft sein kann, aber nie jüdische Themen in seinen Werken artikulieren mag. Alle nachfolgend genannten Autoren jedoch befassen sich auf die eine oder andere Weise mit ihrem Judentum und nähern sich der Shoah in konzentrischen Kreisen, ohne das Zentrum je zu erreichen, was Nolden in Anlehnung an David Roussets Bericht L’univers concentrationnaire über seine 1 2 3
Barbara Honigmann: Roman von einem Kinde. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001 (dtv; 12893). Im folgenden zitiert als RK. Thomas Nolden: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Diesen Begriff entlehne ich Hartmut Steineckes Einführung zu dem Band Deutschjüdische Literatur der neunziger Jahre. Steinecke weist darauf hin, dass es in der Forschung immer noch keine einheitliche Benennung dieser Generationen gibt, und spricht deswegen nicht von zweiter oder dritter Generation, da mit diesen Bezeichnungen teilweise die gleichen Autoren gemeint sind. Hartmut Steinecke: »Deutschjüdische« Literatur heute. Die Generation nach der Shoah. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie; 11), S. 9–10. Siehe Karen Remmler: The »Third Generation« of Jewish-German writers after the Shoah emerges in Germany and Austria. In: Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. Ed. by Sander L. Gilman and Jack Zipes. New Haven, London: Yale University Press 1997, S. 796–804 oder Helene Schruff: Wechselwirkungen. Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa der »Zweiten Generation«. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 2000 (Haskala; 20).
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Einleitung
Erfahrung als Lagerhäftling in Buchenwald von »konzentrischem Schreiben« sprechen lässt. Damit ist weniger eine Anspielung auf die Konzentrationslager gemeint, sondern »das Spannungsverhältnis zwischen den Positionen der jungen Generationen und den von der Tradition verbürgten kulturellen, religiösen und geschichtlichen Mittelpunkten des Judentums«.4 Es handelt sich bei dieser Generation um Schriftsteller wie Katja Behrens, Esther Dischereit, Lea Fleischmann, Chaim Noll, Maxim Biller, Rafael Seligmann, Robert Schindel, Robert Menasse, Doron Rabinovici und Daniel Ganzfried. Nolden betont in seiner Studie die mannigfachen Einstellungen gegenüber dem Judentum unter diesen Vertretern, die Vielfalt der literarischen Produktion, und warnt davor, sie als homogene Gruppe aufzufassen.5 Unter diesen Autoren nimmt Barbara Honigmann eine wichtige und außergewöhnliche Stelle ein, da sie eine der wenigen ist, die ihre Religion praktiziert und der es um die heiligen Texte und die Tora, den Mittelpunkt des Judentums, geht, wenn sie sich als Jüdin definiert. Sie distanziert sich insofern von Juden, die sich nur zu einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühlen, in der Judesein mit Opferdasein gleichgesetzt wird. Auch mit Juden, die sich rein kulturell als solche fühlen und den religiösen Bereich ausklammern, kann sie sich nur bis zu einem gewissen Grad identifizieren.6 Bis dato hat sich vor allem die amerikanische Literaturkritik mit den Werken der deutsch-jüdischen Autoren beschäftigt.7 Der von Sander L. Gilman und Karen Remmler 1994 herausgegebene Band Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature Since 1989 fasste zum ersten Mal die Forschungsergebnisse eines interdisziplinären
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Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Anm. 2), S. 10. »Keinesfalls wird hier von einer in sich geschlossenen oder homogenen Gruppe von Autoren ausgegangen oder die Vorherrschaft eines gewissen stilistischen Verfahrens behauptet. ›Konzentrisches Schreiben‹ stellt weder ein normatives Konzept dar noch verbirgt sich dahinter eine singuläre literarische Technik oder Strategie. Die hier betrachteten Autoren arbeiten mit höchst verschiedenen ästhetischen Konzeptionen und verstehen sich nicht als eine wie auch immer definierte Gruppe oder literarische Bewegung; doch wird ihre literarische Arbeit von Vektoren beeinflusst, die von verschiedenen Positionen ausgehen, aber auf gemeinsame Bezugspunkte ausgerichtet sind« (Ebd., S. 12). Siehe hierzu vor allem das Interview mit Andrea Kuschel: »Es gibt wieder ein paar, die Piep sagen«. In: Grauzone 13 (1997), S. 22–23. Hartmut Steinecke zitiert Barbara Honigmanns Aussage in Bezug auf den Term »deutsch-jüdisch«, mit dem sie sich früher schwer getan hätte: »Heute nehme ich die Bezeichnung ›deutsch-jüdische Schriftstellerin‹ ohne Komplexe an, und ich verbinde damit sogar einen gewissen Stolz, und sei es nur, um der Formulierung Scholems von der Illusion eines Deutsch-Judentums entgegenzutreten, hoffend allerdings, meine Lektion gelernt zu haben. Nie wieder Selbstverleugnung, nie wieder Selbstaufgabe!« Barbara Honigmann, zitiert in Steinecke, »Deutsch-Jüdische« Literatur heute (wie Anm. 3), S. 12.
Einleitung
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Symposiums, das im Mai 1993 an Cornell stattfand, zusammen.8 Gilmans im Jahre 1995 erschienenes Buch Jews in Today’s German Culture9 ist so essentiell für ein Verständnis dieser Vertreter einer neuen Literatur wie Thomas Noldens bereits erwähnte Studie Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart (1995).10 Helene Schruff befasst sich in ihrer Dissertation Wechselwirkungen. Deutsch-Jüdische Identität in erzählender Prosa der »Zweiten Generation« mit der Identitätskonstruktion bedeutender Vertreter der Post-Shoah-Generation.11 Im Jahre 2000 schließlich fand unter der Leitung von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke erstmals ein internationales Symposium zu dieser Literatur auf deutschem Boden statt (BerlinWannsee), dessen Beiträge auf Deutsch in dem Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah 2002 vom Erich Schmidt Verlag veröffentlicht wurden.12 Bislang erschienen einige wichtige Aufsätze zu dem Werk Barbara Honigmanns und auch etliche längere unveröffentlichte akademische Arbeiten, die im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg einzusehen sind.13 Es ist an der Zeit, dem Prosawerk dieser mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Autorin eine umfassendere Studie zu widmen, um Entwicklungslinien innerhalb ihres epischen Werkes aufzeigen zu können. Barbara Honigmanns Texte oszillieren »zwischen Enthüllen und Verstecken«, wie sie es selber in ihrem Aufsatz »Eine ›ganz kleine‹ Literatur des Anvertrauens« beschreibt.14 Dieses Leitmotiv zieht sich als roter Faden durch 8
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Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature Since 1989. Ed. by Sander L. Gilman and Karen Remmler. New York: New York University Press 1994. Sander L. Gilman: Jews in Today’s German Culture. Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press 1995 (The Helen and Martin Schwartz Lectures in Jewish Studies 1993). Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Anm. 2). Schruff, Wechselwirkungen (wie Anm. 3). Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre (wie Anm. 3). Zu den Aufsätzen seien vor allem die von Michael Braun, Amir Eshel, Marilyn Sibley Fries, Christina Guenther, Todd Herzog, Hans Otto Horch, Dagmar C. G. Lorenz, Jeffrey Peck, Karin Remmler, Petra Renneke und Guy Stern hervorgehoben. Bei den unveröffentlichten Arbeiten handelt es sich um Ellen Papaceks Studie »Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive. Barbara Honigmanns Prosawerk im Rahmen der jungen jüdischen Literatur« (Mainz 1996, Zentralarchiv Heidelberg, B 2/6), um Ruth Wolfs Magisterarbeit »Die Protagonistin des Romans ›Soharas Reise‹ von Barbara Honigmann. Soharas Selbstfindung« (Freiburg i. Br. 1997/98, Zentralarchiv Heidelberg, B 2/6) und Korinna Scheidts »Barbara Honigmann. Beiträge zur Rezeption ihrer Prosa« (Bonn 2003, Zentralarchiv B 2/6 Heidelberg). Dieser Aufsatz wurde zweimal veröffentlicht, einmal in der Zeitschrift Sinn und Form, und zum zweiten Mal in leicht gekürzter Fassung in Das Gesicht wiederfinden. Im folgenden zitiere ich aus der ersten Quelle. Barbara Honigmann: Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens. In: Sinn und Form 52 (2000), H. 6, S. 830–844,
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Einleitung
ihr gesamtes Prosawerk und manifestiert sich in der Genrewahl und Struktur ihrer Werke, der Sprache, in der Zeichnung der Charaktere – insbesondere des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden – und in ihrem Doppelleben als deutschsprachige Schriftstellerin und Künstlerin, die in Straßburg ein Leben nach den Regeln ihrer Religion führt, so gut es ihr möglich ist. Barbara Honigmann bevorzugt – mit der Ausnahme von Soharas Reise – das Genre der Autofiktion. Diese Gattung zeichnet sich durch eine Vermischung von autobiographischen und fiktiven Elementen aus; die Autorin entscheidet selbst, was und wie viel sie von ihrem eigenen Leben preisgeben will und was sie lieber verborgen hält. Die Briefform, die einen wichtigen Platz in ihrem Werk einnimmt, ist einerseits ein Genre, in dem die Verfasserin Intimes enthüllen kann, aber gleichzeitig bewahrt der Brief die Distanz zum Gegenüber und ist nie so persönlich wie ein Gespräch unter vier Augen, das eher selten in ihren Prosawerken geschildert wird. In ihrer Sprache versucht Barbara Honigmann verschüttete Wortbedeutungen auszugraben und freizulegen, den Wörtern ihren ursprünglichen Sinn wiederzugeben, und weist ihre Leser durch zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf versteckte, nicht immer sofort evidente andere Quellen hin, durch deren Schichten sie wie Archäologen vorstoßen müssen, um das reiche Beziehungsgeflecht, das vor ihnen liegt, zu entwirren. Auf der anderen Seite bedient sich die Erzählerin in Soharas Reise beispielsweise des verhüllenden da-Kompositums »davon« oder des persönlichen Fürwortes »es«, wenn sie berichtet, wie Frau Kahn von der Shoah spricht; die Leser wissen allerdings genau, was mit diesem Code-Wort gemeint ist, ohne dass die Autorin es ausbuchstabieren muss. Nach Frau Kahn können manche Überlebende dieses »es« in eine Geschichte verwandeln, die man erzählen kann, ihr selber sei das aber noch nie gelungen (SR 73f.).15
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hier S. 843 oder »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens. Glückel von Hameln, Rahel von Varnhagen, Anne Frank.« In: Dies.: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München, Wien: Carl Hanser 2006. S. 7–29. Im folgenden zitiert als DGW. Auch Amir Eshel nimmt diesen Gedanken auf und schreibt: »Mehrere Bücher Barbara Honigmanns lassen sich somit als höchst literarische Formen von ›Selbstgespräch‹, ›Selbstbefragung‹ und Schreiben zwischen ›Enthüllen und Verstecken‹ im Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur deuten.« Amir Eshel: Die Grammatik des Verlusts. Verlorene Kinder, verlorene Zeit in Barbara Honigmanns ›Soharas Reise‹ und in Hans-Ulrich Treichels ›Der Verlorene‹. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; 11), S. 59–74, hier S. 68. Amir Eshel sieht die weitreichendere Bedeutung dieser Wortwahl: »Daß sich das ›es‹ nicht in Form einer aufklärenden und aufklärerischen Narration, also als ›Die Geschichte‹, sondern höchstens als ›eine Geschichte‹ erzählen läßt, verweist nämlich auf die unabschließbare Suche von Autoren wie Honigmann, Treichel und anderen Angehörigen ihrer Generation nach poetischen Ausdrucksformen, die diesem ›es‹ – jenseits der Tradition der Aufklärung und ihren modernen teils ›mörderischen
Einleitung
5
Barbara Honigmanns jüngster biographischer Roman Ein Kapitel aus meinem Leben (2004) ist ein Paradebeispiel für unsere These, dass neben Genrewahl, Struktur und Sprache sich auch manche Charaktere Honigmanns zwischen Enthüllen und Verbergen bewegen. Die einstige Spionin des KGB Lizzy Philby entpuppt sich hier als Meisterin des Versteckspiels, da sie nicht einmal die Mitglieder ihrer Familie völlig in ihre Geheimnisse einweihte, und ihr ganzes Leben lang darauf bedacht war, »Contenance zu bewahren«.16 Aber nicht nur Lizzy Honigmann verhüllte gewisse Aspekte ihres Leben; auch die Tochter entschied sich erst spät, diesen Mutter-Roman zu veröffentlichen, denn Anspielungen auf die Ehe mit Kim Philby hatte sie schon in früheren Prosatexten, beispielsweise in »Der Untergang von Wien« eingeflochten, ohne jedoch den Namen des Meisterspions zu nennen.17 Das Verbergen der Charaktere voreinander beginnt allerdings bereits in früheren Werken; man denke an das gestörte Verhältnis zwischen Josef und Babu in der Erzählung »Roman von einem Kinde«,18 Alfried und der Erzählerin in Eine Liebe aus nichts, und an die Vaterfigur im gleichen Roman, die sich in Weimar im Schloß Belvedere verschanzt und die Tochter nie an ihren innersten Kern heran lässt. Das Thema Schein/Sein ist dem des Enthüllens und Versteckens sehr ähnlich und hängt unmittelbar mit der Theaterwelt zusammen, deren Vokabular Barbara Honigmann mit Vorliebe benutzt, um das Rollenspiel, die Maskerade und die Scheinwelt des Theaters zu entlarven, in dem die Charaktere ihre selbst gewählten und ihnen zum Teil aufgezwungenen Rollen spielen.19 In dem Briefroman Alles, alles Liebe! ist Leon viel zu sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt als dass er sich Anna völlig hingeben kann; er entzieht sich ihr durch seinen Selbstmordversuch, der die gescheiterte Dramaturgin aus der Prenzlauer Provinz und Ost-Berlin entsetzt nach Moskau fliehen lässt.20 Die Briefe der Korrespondenten müssen im wahrsten Sinne des Wortes versteckt werden, um nicht von der Stasi gefunden zu werden; immer wieder suchen die jungen Künstler in Alles, alles Liebe! nach sicheren Wegen, Briefe gefahrlos zu übermitteln. In Soharas Reise wird im Laufe der Novelle der Rabbiner als Schlawiner entlarvt und ihm von Rabbi Hagenau im übertragenen
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Formen‹ – gerecht werden können.« Eshel, Die Grammatik des Verlusts (wie Anm. 14), S. 72f. Barbara Honigmann: Ein Kapitel aus meinem Leben. München, Wien: Carl Hanser 2004, S. 25. Im folgenden zitiert als KL. Barbara Honigmann: Der Untergang von Wien. In: Damals, dann und danach. München, Wien: Carl Hanser 1999, S. 89–120. Barbara Honigmann: Roman von einem Kinde. In: Roman von einem Kinde (wie Anm. 1), S. 7–41. Barbara Honigmann: Eine Liebe aus nichts. Berlin: Rowohlt 1991 (rororo; 13245). Im folgenden zitiert als LN. Barbara Honigmann: Alles, alles Liebe! München, Wien: Carl Hanser 2000. Im folgenden zitiert als AL.
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Einleitung
Sinne die Maske vom Gesicht gerissen.21 Schließlich symbolisiert das Enthüllen der Haare der streng gläubigen Sohara einen freieren Umgang mit den Gesetzen ihrer Religion, ohne dass sie an deren Wertigkeit zweifelt. Durch das Offenlegen des jüdischen Alltags in dieser Novelle wird dieser entmystifiziert und nichtjüdischen Lesern näher gebracht. Genealogie spielt eine zentrale Rolle in Barbara Honigmanns Œuvre; die Geschichte der Eltern und Großeltern wird zur Antriebskraft des Schreibens. In einem Gespräch mit Andrea Kuschel meint die Autorin, sie befinde sich nicht auf der Suche nach ihrer »jüdischen Identität«, denn dieser sei sie sich schon immer sicher gewesen: Nur, daß nicht viel Sinn dahinter war; da war sehr viel Verborgenes. Daß man sich auf die Suche nach diesem Verborgenen macht: das ist die Geschichte. Ich habe das Gefühl, was am meisten daran verborgen war, war das Religiöse. Das ist das einzige, was für mich genuin jüdisch ist. Das andere ist Herkunft oder Biographie oder von außen aufgedrängte Andersartigkeit und das von außen herbeigeführte Schicksal.22
Die Autorin wohnte bereits in ihrer Wahlheimat Frankreich, als ihr 1986 literarisch der Durchbruch gelang; insofern hatte sie sich einem Leben in Deutschland bereits willentlich entzogen, ging dann aber durch das Suchen des Dialogs mit dem Anderen durch die Literatur gleichzeitig wieder auf das deutsche Lesepublikum zu. Sie wählt also einerseits die Distanz zu dem Land, das ihre Eltern nach dem Krieg wieder aufbauen wollten, sucht andererseits aber die Nähe zu ihm, indem sie weiterhin auf Deutsch schreibt und sich nur ein paar Straßen hinter der Grenze angesiedelt hat; das Thema des Enthüllen und Versteckens ist also auch in ihrer Biographie zu beobachten. Im folgenden wird neben einer genauen inhaltlichen Analyse des Prosawerks, dessen Hauptthemen die Familienrecherche, das Exil, die Erinnerung, das Leben in der ehemaligen DDR und in Straßburg sind, auch ihre narrative Struktur untersucht und erkundet, welchen Platz Barbara Honigmann innerhalb der jungen jüdischen Literatur einnimmt.
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Barbara Honigmann: Soharas Reise. Berlin: Rowohlt 1996. Im folgenden zitiert als SR. Kuschel, »Es gibt wieder ein paar, die Piep sagen« (wie Anm. 6), S. 22.
I
Kurzbiographie
Barbara Honigmann Geboren 1949 in Berlin (Ost). Emigrantenkind. Hat Theaterwissenschaft studiert. Ein paar Dramen und Inszenierungen. Einen Sohn bekommen. Geheiratet. Einen zweiten Sohn bekommen. Ausgereist aus Berlin (Ost). Vit à Strasbourg. Drei Bücher (Rowohlt). Drei Ausstellungen (Hasenclever).
So lakonisch fasst Barbara Honigmann selbst ihr Leben in dem 1997 erschienenen Kunstkatalog Barbara Honigmann. Dreizehn Bilder und ein Tag zusammen.1 Das Gedicht steht unter einem mit farbigen Kreiden in schnellen, aber genauen Zügen gemalten Selbstporträt. Bild und Text befruchten sich, die eine Tätigkeit ergänzt die andere, wie die Autorin einmal in einem Interview meinte.2 Barbara Honigmann wurde am 12. Februar 1949 in Berlin geboren. Ihre Eltern, Georg Honigmann (1903–1984) und Alice Kollmann (1910– 1991), die die nationalsozialistische Judenverfolgung im Exil in England überlebt hatten, wurden von der Kommunistischen Partei beauftragt, 1946 in den östlichen Teil Deutschlands zurückzukehren, um am Wiederaufbau mitzuwirken. Der 1903 in Rheinhessen geborene Vater war Anfang der dreißiger Jahre von der Vossischen Zeitung als Auslandskorrespondent nach London geschickt worden und nach der Machtergreifung Hitlers einfach geblieben. Dort lernte er Alice (»Lizzy«) Kollmann kennen, eine Wienerin ungarischer Abstammung, die während des Krieges als Werkzeugmeisterin in einem Rüstungsbetrieb arbeitete. Nach seiner Internierung in Kanada wurde Georg Honigmann bei seiner Rückkehr in London Reuters Chef vom European Service. In der Sowje1 2
Barbara Honigmann: Dreizehn Bilder und ein Tag. 28. Oktober bis 25. November 1997. München: Michael Hasenclever Galerie 1997, unpaginiert. Susanne Reichlin: Ich bin durchs Bild zum Wort durchgebrochen. Ein Porträt Barbara Honigmanns – Autorin der diesjährigen Poetikvorlesungen. In: Denkbilder. Das Germanistikmagazin der Universität Zürich 13 (2002), S. 28–29, hier S. 29.
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I Kurzbiographie
tischen Zone half er nach dem Krieg entscheidend mit beim Aufbau des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN). Wie Braun bemerkt, gehörte er als Chefredakteur der Berliner Zeitung, Autor einer satirischen Kurzfilmreihe der DEFA und als zeitweiliger Chef des Ostberliner Kabaretts Die Distel (bis 1968) zu den einflussreichsten Kulturfunktionären der DDR.3 Nach der Scheidung der Eltern lebte Barbara Honigmann bei der Mutter. Sie besuchte die als »Graues Kloster« bekannte ehemalige berühmte Klosterschule, in die Persönlichkeiten wie Johann Gottfried Schadow, Karl Friedrich Schinkel und Otto von Bismarck gegangen waren. 1958 verbot Ulbricht den Namen »Graues Kloster«; die Schule wurde in der Folge zur »2. Erweiterten Oberschule Berlin-Mitte«, die einzige Oberschule in Ostberlin, in der man neben dem neusprachlichen auch den altsprachlichen Zweig mit Griechisch und Latein wählen konnte, Sprachen, die Barbara Honigmann auch gelernt hat.4 Nach dem Abitur studierte Honigmann von 1967 bis 1972 Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität. Das Theater war ihr von ihrer Stiefmutter, der berühmten Schauspielerin und Brecht-Weill-Interpretin Gisela May vertraut, die sie oft dahin mitnahm. Das Studium beendete sie mit einer Examensarbeit über den deutschrussischen Regisseur Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, einen Vorläufer des epischen Theaters. Das vorgegebene Thema wäre eigentlich »Das Antlitz der sozialistischen Schauspielerpersönlichkeit« gewesen, doch sie weigerte sich, über so ein linientreues Thema zu schreiben, wie sie dem Journalisten Richard Chaim Schneider verriet.5 Von 1972 bis 1975 arbeitete sie als Dramaturgin und Regisseurin in Brandenburg und Ost-Berlin. In der Hauptstadt arbeitete sie mit Fritz Marquardt an der Volksbühne und Adolf Dresen am Deutschen Theater zusammen. Seit 1975 ist Barbara Honigmann freischaffende Autorin und Malerin. Ihre ersten schriftstellerischen Versuche, kleine Theaterstücke, deren geringer Erfolg sie erkennen lassen, dass das Theater nicht ihre Welt ist, deutet die Autorin im Nachhinein als eine Art des Abschiednehmens vom Theater: Als ich noch in Berlin lebte, da hatte ich ein paar Theaterstücke geschrieben, und ich hatte sie verfaßt, nachdem ich vom Theater endgültig abgegangen war, weil ich begriffen hatte, daß mein Beruf niemals am Theater und die Welt des Theaters einfach nicht meine Welt sein könnte. Ich schrieb diese Theaterstücke sozusagen als Abschied, damit trotzdem noch irgend etwas zwischen uns bliebe, zwischen dem Theater und mir, damit nicht alle Brücken abgebrochen wären.6
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Michael Braun: Barbara Honigmanns Weg »Nach Hause in die Fremde«. In: »Hinauf und Zurück/ in die herzhelle Zukunft.« Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Birgit Lermen. Hg. von Michael Braun, Peter J. Brenner, Hans Meselken und Gisela Wilkending. Bonn: Bouvier 2001, S. 471–86, hier S. 472. Dies teilte mir die Autorin in einem Gespräch am 30.10.2003 mit. Richard Chaim Schneider: Rezension von »Eine Liebe aus nichts«. In: Arbeiterzeitung, Unabhängige Tageszeitung, Ausgabe für Wien, Nr 109, 11. Mai 1991, S. 36. Barbara Honigmann: Damals, dann und danach. München, Wien: Carl Hanser 1999, S. 46. Im folgenden mit DDD abgekürzt.
I Kurzbiographie
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Das Märchenstück Das singende springende Löweneckerchen, eine Umarbeitung des Grimm-Märchens mit demselben Titel, wurde am 23. November 1980 unter der Regie von Klaus Thews an den Bühnen der Stadt Zwickau uraufgeführt.7 Die Premiere des Doppelstücks Don Juan und Der Schneider von Ulm fand am 22. März 1984 unter der Regie von Wolf Vogel im Theater am Turm in Frankfurt am Main statt.8 Die Schöpfung,9 von der Autorin als »Theatermonolog« konzipiert, wäre fast Teil von ihrem ersten erfolgreichen Prosaband Roman von einem Kinde geworden, wurde dann aber doch nicht mit aufgenommen, »weil es nun so gar nicht autobiographisch ist wie die anderen Texte, die ich alle in der Ich-Form geschrieben habe«.10 Andere Theaterstücke sind Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären,11 eine szenische Montage zu Heinrich von Kleists Leben, das als Hörspiel am 29. Mai 1987 vom »Studio Wien« ausgestrahlt wurde, und das Hörspiel Letztes Jahr in Jerusalem, das am 22. Januar 1995 sowohl vom Westdeutschen Rundfunk als auch vom Südwestfunk gesendet wurde.12 Es handelt sich um die letzten Monate von Else Lasker-Schüler in Jerusalem, wo sich die wortgewaltige Dichterin abmüht, hebräische Vokabeln zu lernen, und als eine im israelischen Exil völlig unbekannte Autorin ein leidvolles Dasein fristet. 7
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Barbara Honigmann: Das singende springende Löweneckerchen. In: Spielplatz 3: Fünf Theaterstücke für Kinder. Hg. von Marion Victor. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1990, S. 125–160. Barbara Honigmann: Don Juan. In: Theater der Zeit 12 (1981), S. 71–72. Dies.: Der Schneider von Ulm. In: Theater der Zeit 12 (1981), S. 69–71. Barbara Honigmann: Die Schöpfung. In: Literatur im Kreienhoop. Bericht aus einer Schriftstellerwerkstatt. Hg. von Manfred Dierks und Alfred Mensak. München, Hamburg: Knaus 1986, S. 52–58. Die einzige Ausnahme bildet die Erzählung »Marina Roža«, wo die Erzählerin in der 3. Person wiedergibt, was ihr Peter von den Geschehnissen in der Synagoge mitteilt. Ariane Thomalla: Von Ost-Berlin nach Straßburg. Gespräch mit der deutschjüdischen Schriftstellerin Barbara Honigmann. In: Deutschland Archiv 11 (1986), S. 1204–1208, hier S. 1206. Bei diesem Titel, wie auch bei dem ganzen Stück, das ausschließlich aus einer Montage von Zitaten aus Kleists Werken und Zitaten seiner Zeitgenossen besteht, handelt es sich um folgende Aussage. Er meinte bei der Betrachtung des Bildes Mönch am Meer von Caspar David Friedrich: »Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahmen im Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.« Alte Nationalgalerie Berlin. München, London, New York: Prestel 2002, S. 20. Barbara Honigmann: Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären. Eine Stereopartitur mit Variationen zu Heinrich von Kleists Leben. In: Zentralarchiv Heidelberg, B 2/6. Dies.: Letztes Jahr in Jerusalem. Hörspiel. SWF und WDR. 22. Januar 1995. 19 Seiten. In: Zentralarchiv Heidelberg, B 2/6.
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I Kurzbiographie
Mitte der siebziger Jahre spitzte sich die kulturelle Situation in der DDR zu und gipfelte in der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976. Zu der Zeit war Barbara Honigmann vollauf mit ihrem sechs Wochen alten Baby beschäftigt, wurde aber von ihrer Freundin Tatjana schnellstens über den Verlauf der Dinge aufgeklärt, wie sie sich in einer knappen Skizze mit dem bezeichnenden Titel »An einem späten Abend im November 1976« erinnert.13 Biermann, dessen Frau vor einigen Wochen auch gerade ein Kind bekommen hatte, hatte Honigmann derzeit versprochen, dass sie »nach der Entbindung die ausgewachsenen Strampelanzüge seines Sohnes erben würde«, was dann auch tatsächlich geschah, da Biermanns damalige Frau inmitten der Aufregung trotzdem noch die Zeit fand, sie ihr zu hinterlegen.14 Neben diesen sehr persönlichen Erinnerungen vermittelt Honigmann allerdings auch einen Eindruck der allgemeinen Stimmung im Lande unter den Intellektuellen: Schon wenige Wochen nach Biermanns Ausbürgerung begann die Ausreisewelle, der Exodus und der Zustand einer depressiven Dauerabschiedsstimmung, die in dem Bonmot »der Letzte macht das Licht aus« ihren Ausdruck fand. Eine Kluft brach auf zwischen denen, die beschlossen, wegzugehen, weil sie es nun wirklich satt hatten – dieses entwürdigende, lügenhafte Leben in einem System, das sie endgültig nicht mehr mittragen wollten, und denen, die, aus welchen Gründen auch immer, dazubleiben gewillt waren. Jede der beiden Gruppen machte der anderen Vorwürfe, sei es des Verrats oder der Kollaboration.15
Schon während des Studiums begann Barbara Honigmann ihr langjähriges Hobby, die Malerei, ernsthaft zu betreiben. In ihrer Züricher Poetikvorlesung »Des Büchermachens ist kein Ende« legt sie dar, wie sie durch das Bild zum Wort vorgedrungen ist und dass die Hinwendung zum Bild auch eine gewisse Rebellion gegen das logozentrierte jüdische Elternhaus darstellte. Sicher suchte ich mich mit der Malerei auch von meinen Eltern abzugrenzen, die da im wörtlichen Sinne nicht mitreden konnten. Das sage ich nicht, um ihre ästhetische Urteilskraft herabzusetzen oder meine eigene bildnerische Kunstanstrengung aufzuwerten, sondern weil ich behaupte, daß man über Bilder eigentlich gar nicht reden kann, weil die Übersetzung der Bildsprache in die allgemeine Sprache, in der jeder alles ausdrücken zu können glaubt, ihr ja das Eigentliche nimmt. (DGW 79)
Die Geburt ihres Sohnes Johannes veranlasste sie, sich mit dem Judentum näher auseinanderzusetzen. Sie trat 1976 in die völlig überalterte jüdische Gemeinde Ostberlins ein, aus der ihre Eltern Mitte der fünfziger Jahre ausgetreten waren und die zu dem Zeitpunkt aus nur 200–300 Mitgliedern bestand.16 13
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Barbara Honigmann: An einem späten Abend im November 1976. In: Wolf Biermann und andere Autoren. Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Hg. von Fritz Pleitgen. Berlin: Ullstein 2001, S. 152–154. Ebd., S. 152ff. Ebd., S. 153f. Peter Honigmann antwortete in einem Gespräch mit Paul Assall im Jahre 1987 auf die Frage, wie viele Juden es in der DDR gab und was ihre Situation dort war, so:
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Barbara Honigmann und auch ihr späterer Mann, der Physiker Peter Obermann, waren Teil eines kleinen Zirkels von Leuten um die Dreißig, die Ende der siebziger Jahre in der DDR nach ihren jüdischen Wurzeln suchten: »Es gab dort schon eine kleine Gruppe von mehr oder weniger jungen Leuten, aus ähnlichen Elternhäusern kommend, die ›zurückkehren‹ wollten, und erst viel später erfuhren wir, daß wir Teil einer weltweiten Rückkehrbewegung zum Judentum waren« (DDD 14). Peter Obermann, den sie an Jom Kippur zu der Jahreswende 1979/80 kennen lernte, hatte sich zunächst mit dem Neuen Testament befasst, nachdem er angefangen hatte, sich von der kommunistischen Bewegung zu lösen. Von da stieß er auf das Alte Testament, und begann, sich näher mit seiner jüdischen Abstammung zu befassen: »Der nächste Schritt war, daß ich eines Tages zur Synagoge ging, in der Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Ostberlin zu lesen anfing und Gleichgesinnte suchte. Dort sind wir beide uns auch begegnet. Barbara war damals unabhängig von mir auf einem ähnlichen Weg«.17 Die Hochzeit 1981, bei der Peter Obermann den Namen seiner Frau annahm, war eine der wenigen traditionellen jüdischen Hochzeiten, die in der DDR gefeiert wurden.18 Das immer unerträglicher werdende Klima in Ostdeutschland, »die Suche nach einem Minimum jüdischer Identität« in ihrem Leben, »nach einem selbstverständlichen Ablauf des Jahres nicht nach dem christlichen, sondern nach dem jüdischen Kalender und einem Gespräch über Judentum jenseits eines immerwährenden AntisemitismusDiskurses« ließen die Honigmanns, inzwischen eine Familie mit zwei Kindern, Johannes und Rubens, 1984 der DDR den Rücken kehren (DDD 15). Dies ist auch das Todesjahr des Vaters und das Jahr der Ausreise der Mutter nach Wien, die dort die letzten sieben Jahre ihres Lebens verbrachte. Barbara und Peter Honigmann stellten einen Ausreiseantrag und nach einem zweieinhalbmonatigen Kurzaufenthalt in Frankfurt am Main zog die Familie weiter nach Straßburg, dem »Jerusalem des Westens«. Frankreich hat heute die größte jüdische Gemeinde in Europa mit 650 000 Juden, gefolgt von Großbritannien mit 315 000 und Deutschland mit zirka 105 000.19 Die Zahl der Gemeindemit-
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»Genaue Zahlen sind immer schwer zu bekommen. Wenn man von der Geburt ausgeht, dann gibt es in Ostberlin vielleicht zwei- bis dreitausend Juden. Das sind wie unsere Eltern zumeist Leute, die während des Krieges emigriert waren und aufgrund ihrer kommunistischen Einstellung zurückgekehrt sind. Viel weniger gehören zu denen, die das Lager überlebt oder in der Illegalität überlebt haben. Und eben die Kinder dieser Juden. Von diesen zwei- bis dreitausend Menschen sind höchstens zweihundert Mitglieder der Gemeinde, und vielleicht ist auch diese Zahl noch zu hoch gegriffen.« Paul Assall: »Aus der Assimilation mitten hinein ins Thorajudentum«. Barbara und Peter Honigmann im Gespräch mit Paul Assall. In: Frankfurter Jüdische Nachrichten, September 1987 (Rosch-Haschanah-Ausgabe), S. 25–27, hier S. 26. Ebd., S. 25. Hans Otto Horch: »Rückkehr zur Tradition als Revolte«. Barbara Honigmann als deutsch-jüdische Schriftstellerin. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 53 (2004), S. 63–80, hier S. 67. Die Zahlen für Frankreich und Großbritannien entstammen dem Vorwort der Antho-
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glieder in Straßburg liegt bei zirka 20 000 und bietet »eine wirklich jüdische Infrastruktur« mit jüdischen Kindergärten, Schulen, und einem Gemeindeleben, das Barbara Honigmann an ein Schtetl erinnert: Wir haben einen Ort gesucht auf der Welt, der bestimmte Bedingungen erfüllt, und sind dann irgendwie draufgekommen, daß wir uns doch nicht weit weg von Deutschland begeben wollten. Straßburg war da der ideale Ort, eben auch mit seiner Art jüdischen Lebens. Also: Amerika ist mir zu weit. Israel ist mir auch zu weit und zu fremd. Na ja, England ist mir zu sehr einfach der Ort, wo meine Eltern gelebt haben, und das wollte ich dann nicht einfach nur kopieren.20
In Straßburg begann Barbara Honigmann Geschichten zu schreiben und wurde mit der Kompilation von sechs Prosastücken, die 1986 unter dem Titel Roman von einem Kinde veröffentlicht wurden, mit einem Schlag als eine der ersten Stimmen der neuen deutsch-jüdischen Literatur bekannt. Diese steckte zu der Zeit noch in den Kinderschuhen; in den folgenden Jahren kam es allerdings zu einem Boom und Autoren wie Katja Behrens, Esther Dischereit, Rafael Seligmann, Maxim Biller, Richard Chaim Schneider, Robert Schindel, Robert Menasse, Doron Rabinovici und Daniel Ganzfried beleben seitdem durch ihre fiktionalen und sehr oft autobiographisch orientierten Werke die deutsche und österreichische Literaturszene. Durch die zahlreichen Ehrungen und Preise für ihr Debütwerk, durch die fast ausschließlich positiven Kritiken ließ sich die Autorin aber nicht unter Druck setzen, jetzt gleich ein zweites Buch folgen zu lassen.21 Es dauerte fünf Jahre, bis 1991 der zweite schmale Band Eine Liebe aus nichts folgte, eine Schilderung des schwierigen Verhältnisses der Protagonistin zu ihrem Vater und ihrem Liebhaber Alfried. Während diese ersten beiden erfolgreichen Bücher stark autobiographisch orientiert sind, handelt es sich bei Honigmanns drittem Band Soharas Reise, 1996 veröffentlicht, um Rollenprosa. Es geht um die Selbstfindung einer sephardischen Jüdin, die ihrem Mann, dem selbsternannten »Rabbiner von Singapur«, in Wirklichkeit aber einem Betrüger und Kidnapper, auf den Leim gegangen war. Diesem Roman folgte 1998 unter dem Titel Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball eine Reihe von Glossen, die Barbara Honigmann 1991 bis 1996 für die Basler Zeitung in der Beilage »3« geschrieben hat: »Sie sind ein bißchen eine Chronik unseres Lebens hier, aus der Zeit, als meine Söhne sich von Jungen in junge Männer verwandelten« schreibt sie im ersten Beitrag »Straßburg, 24. Dezember«.22 1999 erschien eine
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logie Voices of the Diaspora. Jewish Women Writing in Contemporary Europe. Ed. by Thomas Nolden and Frances Malino. Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2005, x, die für Deutschland der Webseite des Zentralrates der Juden in Deutschland: http://www.zentralratdjuden.de/de/article/764.html, 15. September 2006. Thomalla, Von Ost-Berlin nach Straßburg (wie Anm. 10), S. 1205. Ebd., S. 1208. Diesen Glossen wird in der nachfolgenden Analyse der Prosawerke Honigmanns kein Extra-Kapitel gewidmet, aber sie werden herangezogen, wenn sie zum Ver-
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Sammlung von zum Teil schon anderswo veröffentlichten autobiographischen Texten, die die Autorin in dem Band Damals, dann und danach zusammenfasste.23 Der Briefroman Alles, alles Liebe! (2000), für den die Autorin im Oktober 2000 mit dem Kleistpreis ausgezeichnet wurde, spielt im Jahre 1975 und hat die Marginalisierung einer Gruppe von Künstlern in der DDR zum Thema, während ihr vorläufig letzter Prosatext, der biographische Roman Ein Kapitel aus meinem Leben (2004) sich von der Vorkriegszeit bis zur Ära des Kalten Krieges spannt und von der Ehe Lizzy Honigmanns mit dem berühmten Doppelspion Kim Philby handelt. Neben diesen längeren Prosawerken existieren auch einige bedeutende Essays von ihr, die zunächst als Vorlesungen gehalten und dann veröffentlicht wurden. Zu diesen zählt »Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige«, eine Rede, die sie zur Verleihung des Kleist-Preises gehalten hat.24 »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« nimmt als Ausgangspunkt den Begriff der »kleinen Literatur«, der von Kafka geprägt und von Deleuze und Guattari weiterentwickelt wurde, und engt ihn ein auf Literatur, die von jüdischen Frauen verfasst wurde.25 Sowohl die drei Züricher Poetikvorlesungen im Herbst 2002 als auch eine Rede über den französischen, in Deutschland kaum bekannten Schriftsteller Albert Cohen wurden neben anderen Aufsätzen und Preisreden in ihrem jüngst erschienenen Essayband Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum veröffentlicht.26 Barbara Honigmann hat außerdem des öfteren Kommentare in ver-
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ständnis bestimmter Themen dienen. Barbara Honigmann: Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball. Kleine Prosa. Heidelberg: Wunderhorn 1998 (Edition Künstlerhaus), S. 6, im folgenden abgekürzt mit SRF. »Selbstporträt als Jüdin« und »Selbstporträt als Mutter« wurden in dem Kunstkatalog zu Barbara Honigmanns erster Ausstellung in der Galerie Michael Hasenclever in München, die vom 28. April bis 6. Juni 1992 stattfand, veröffentlicht (Barbara Honigmann: Bilder. 28. April – 6. Juni 1992. München: Michael Hasenclever Galerie 1992). »Selbstporträt als Jüdin« findet sich ebenfalls in etwas abgewandelter Form unter dem Titel »Von den Legenden der Kindheit, dem Weggehen und der Wiederkehr« in dem Band Nach der Shoa geboren. Jüdische Frauen in Deutschland. (Hg. von Jessica Jacoby, Claudia Schoppmann und Wendy Zena-Henry. Berlin: Elefanten Press 1994 [EP; 529], S. 35–40). »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« wurde am 16. Sept. 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erstmals gedruckt, »Hinter der Grande Schul« erschien bereits 1993 unter dem Titel »Juden in Straßburg« 1993 in Allmende, und »Ein seltener Tag« beschließt den zweiten Kunstkatalog Barbara Honigmann. Dreizehn Bilder und ein Tag (wie Anm. 1). Barbara Honigmann: Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises. In: Sinn und Form 53 (2001), H. 1, S. 31–40, auch veröffentlicht in ihrer neuesten Sammlung von Essays Das Gesicht wiederfinden, S. 151–165. Im folgenden zitiere ich aus dem letzteren Band. Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14). Es handelt sich um »›Wenn mir die Leute vorwerfen, daß ich zuviel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, daß sie überhaupt nicht über sich selber nachdenken‹.
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schiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern abgegeben zu so verschiedenen Themen wie der Lage der Juden in Frankreich oder Urlaub in der Normandie. Sie hat sich auch zu Wort gemeldet, als ihr guter Bekannter und Schriftstellerkollege Thomas Brasch27 starb, oder um Werke anderer Schriftsteller (z. B. Robert Menasse,28 Einar Schleef)29 kurz zu kommentieren. Barbara Honigmanns Werk wird durch ihre zahlreichen Lesereisen einem immer breiteren Publikum bekannt; die Literaturkritik nimmt Kenntnis von jedem ihrer neuen Bücher und äußert sich in überwiegend positiven Kritiken zu ihren Texten.30 Die Autorin wurde bisher mit elf Preisen31 ausgezeichnet, bei denen ihr gewandter Stil, ihre poetische Sprache, ihr lakonischer und unsentimentaler Ton und ihr Beitrag zur Thematik Judentum, jüdische Identität, Exil und Heimatlosigkeit gelobt wurden.
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Zürcher Poetikvorlesung (I): Über autobiographisches Schreiben«. In: DGW, S. 31– 60, »Des vielen Büchermachens ist kein Ende. Zürcher Poetikvorlesung (II): Über Schöpfung und Schreiben«. In: DGW, S. 61–88 und »Ein Buch, das ich nicht geschrieben habe. Zürcher Poetikvorlesung (III): Über biographisches Schreiben«. In: DGW, S. 89–111. »Albert Cohen. Eine Hommage« befindet sich ebenfalls in diesem Sammelband, S. 113–131. Barbara Honigmann: Wie viele sind wir eigentlich noch? In: neue literarische pfalz. Zeitschrift des Literarischen Vereins der Pfalz 31/32 (2002), S. 14–18, auch in dies.: Wie viele sind wir eigentlich noch. Zum Tod von Thomas Brasch. In: DGW, S. 141– 150. Barbara Honigmann: Zwei von uns. In: Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung. Hg. von Dieter Stolz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp-Taschenbuch; 2776), S. 111–113. Barbara Honigmann: Alles oder nichts. In: Einar Schleef. Arbeitsbuch. Hg. von Gabriele Gerecke, Harald Müller und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Berlin: Theater der Zeit 2002, S. 71. Korinna Scheidt hat sich in ihrer Hausarbeit Barbara Honigmann. Beiträge zur Rezeption ihrer Prosa (2003), die im Zentralarchiv einsehbar ist, mit diesem Thema befasst und bestätigt dieses Urteil. Es handelt sich um folgende Preise: aspekte-Literaturpreis (1986), Preis der Autorenstiftung (1986), Stefan-Andres-Preis (1992), Nicolas-Born-Preis (1994), KesterHaeusler-Ehrengabe der Schiller-Stiftung (1996), Kleist-Preis (2000), JeanetteSchocken-Preis (2001), Toblacher Prosapreis (2001), Koret Jewish Book Award (2004 zusammen mit Ahron Megged), Solothurner Literaturpreis (2004) und den Spycher Literaturpreis (2005).
II
Roman von einem Kinde
Der eigentliche Durchbruch in der literarischen Welt gelang Barbara Honigmann 1986 mit ihrem ersten Prosaband Roman von einem Kinde. Das Umschlagbild der ersten Auflage zeigt ein Selbstbildnis vom 20. Juni 1976, das sie als nackte schwangere Frau im Profil darstellt. Der blaue Bademantel, den sie trägt, verschmilzt mit dem dunkelroten Vorhang des Hintergrunds. Der Gesichtsausdruck ist kontemplativ, ernst und dem Betrachter zugewandt. Heide Soltau meint: »Es scheint, als sei die Frau im Begriffe zu gehen und wende sich noch einmal, nachdenklich und voller Trauer, zurück, bevor sie hinaus ins Freie tritt«. Für sie gleicht das Selbstbildnis einer »gemalten Einleitung. Es ist der erste Akt zu den folgenden sechs Erzählungen und führt den Leser mitten hinein in eine Welt der Träume und Erinnerungen: in den Roman von einem Kinde.«1 Nach Heribert Vogt unterstreicht das Bild ein grundlegendes Thema des Buches, das Unterwegssein, denn die Frau ist »im Übergang zwischen linker und rechter Bildhälfte«.2 Der ursprüngliche Titel der sechs Erzählungen war »Verzeichnete Selbstbildnisse und Landschaften«, ebenso zweideutig wie der eigentliche Titel, den der Luchterhand Verlag der Autorin nahe gelegt hat. »Verzeichnen« hat die Bedeutung von »etwas registrieren«; hier werden Erinnerungen, Träume, Fragmente, Bilder, Klänge, Impressionen verzeichnet. Gleichzeitig aber deutet das Wort »Misslingen« an, wie Elsbeth Pulver bemerkt: »ein zugleich kindlich ungeschicktes und bewusstes Abweichen von der Perfektion«.3 Dieses Buch ist ein Herantasten, eine Suche, ein Ausprobieren, eine Reflektion über Altgewordenes und neue Ufer, die vielversprechende Alternativen zum bisherigen Leben anbieten. Die Titelgeschichte, der Brief an Josef, ist in dem Ton eines Kindes geschrieben, aber man hat es, wie Marcel ReichRanicki treffend formuliert hat, mit einer »Naivität höherer Art« zu tun, »mit einer Treuherzigkeit, die auf eine stille, eine verhaltene oder zurückgenomme-
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Heide Soltau: Sprung ohne Netz. Barbara Honigmann: Erzählungen von einem Kinde: Roman aus Autobiographie und Fiktion. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (Hamburg), 26. Oktober 1986. Heribert Vogt: Unterwegs in fremder Menschenwelt. Barbara Honigmann las im Hack-Museum Ludwigshafen. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 8./9. April 1989, S. 9. Elsbeth Pulver: Selbstbildnisse und Landschaften. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Berner Zeitung, 8. November 1986.
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II ›Roman von einem Kinde‹
ne Souveränität schließen lässt«.4 Der Titel spielt, wie die Autorin in einem Interview mit Guy Stern bemerkt, auch auf Bettina von Arnims Goethes Briefwechsel mit einem Kinde an und beschwört mit dem Genre des Briefes die Zeit der Romantik herauf, als die epistolare Form eine Blütezeit erlebte.5 In dem Essay »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« erinnert sich Honigmann, dass er »aus einer reinen Intuition« kam, von der sie wusste, sie sei die richtige. »Der Titel bezieht sich eigentlich in keiner Weise auf den Inhalt des Buches, das ja auch kein Roman, sondern eine Sammlung von Prosatexten ist. Er bezieht sich nur auf diese Haltung, noch einmal ganz von vorne anzufangen, wie ein Kind eben« (DDD 51). In der ersten Erzählung geht es um ein Kind; es ist also auch ein »Roman« über ein Kind. Die Erzählerin namens Babu schreibt Josef, dem mutmaßlichen Vater des Kindes, einen Brief, in dem sie unter anderem auszudrücken versucht, welche Gefühle die Geburt des Sohnes Johannes bei ihr auslösten. Die Verbindung zu diesem Mann ist abgebrochen und der Brief besteht aus einer Assoziationskette mit Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse in Russland, der Beschreibung eines Sederabends, den Babu in der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße mit anderen Gemeindemitgliedern gefeiert hat und ihren Gedanken über Ereignisse in ihrem Leben, die sie Josef mitzuteilen wünscht.
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Thematische Zusammenhänge zwischen den Geschichten
Zunächst soll die thematische Struktur des Erzählbandes unter folgenden Gesichtspunkten untersucht werden: Welche Entwicklung, wenn überhaupt eine, macht die Erzählerin, durch? Findet Babu den für sie richtigen Weg? Inwiefern hängen die Geschichten zusammen? Was sind die Hauptthemen, die sich durch 4
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Marcel Reich-Ranicki: Es ist so schön, sich zu fügen. Hinwendung zum Mystizismus – ein Generationssymptom? Die Prosa der Barbara Honigmann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Oktober 1986. Guy Stern: Barbara Honigmann: A Preliminary Assessment. In: Insiders and Outsiders. Jewish and Gentile Culture in Germany and Austria. Ed. by Dagmar C. G. Lorenz and Gabriele Weinberger. Detroit: Wayne State University Press 1994, S. 329–346. Lorenz stimmt Stern zu, indem die kindgleiche Pose tatsächlich an Bettina von Arnims Werke erinnert; jedoch erreicht Honigmann diesen Ton »nach der Shoa«. Sie fährt fort: »Her work comments on the genocide and proclaims that Jewish life continues in spite of it. An identity conflict such as Honigmann’s is unknown to the Gentile women of the Romantic era. Rather than confirming Honigmann’s many allusions to classicism and Romanticism, Roman von einem Kinde undermines and foils them. Ultimately, Honigmann places her work not into the tradition of von Arnim but rather into that of Rahel Varnhagen and Heinrich Heine.« Dagmar C. G. Lorenz: Keepers of the Motherland. German Texts by Jewish Women Writers. Lincoln, London: University of Nebraska Press 1997 (Texts and Contexts), S. 215. Diese These wird von Honigmann selber in ihrem Essay »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« bestätigt.
1 Thematische Zusammenhänge zwischen den Geschichten
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den gesamten Erzählband ziehen? In der ersten Erzählung begegnet uns eine hilflose, ratlose, kindlich wirkende Person, die großen Gemütsschwankungen unterworfen ist. An einem Extrem ist der Wunsch, sich zu fügen, einem Mann zu folgen – auch im Sinne von gehorchen –, weil er ihr Entscheidungen abnehmen würde, am anderen Extrem fasst sie als alleinstehende Mutter, die auf die Solidarität von Frauen angewiesen ist – ihre Mutter und Freundinnen sind die einzigen, die ihr bei der Geburt ihres Sohnes beistehen –, doch immer wieder Mut und hofft, dem Leben allein Herr zu werden. Die Gemütsschwankungen manifestieren sich in psychosomatischen Krankheiten, die die Erzählerin, immer wenn sie verzweifelt, mutlos, traurig und unentschlossen ist, passiv im Bett verharren lassen.6 Dieser Weltschmerz, diese Traurigkeit und dieser Jammer kommen von der Sehnsucht nach Josef, der allgemeinen Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Isoliertheit Babus, die eng verbunden sind mit Identitätsproblemen und dem schwierigen alltäglichen Leben in der DDR. Ihr Schwanken, das sie mit dem Geradesein und der Zielstrebigkeit von Männern kontrastiert, überträgt sie auf eine höhere Ebene im folgenden Zitat, wo bereits auf die letzte Erzählung, in der sich Babu in Frankreich befindet, vorausgedeutet wird: Aber natürlich, das Schwanken ist in Wirklichkeit ein viel größeres Schwanken, es ist ein Schwanken zwischen immer zu Hause bleiben und im Bett bleiben oder aufstehen und von zu Hause losgehen und eine große Reise machen und nie mehr wiederkommen und in einem anderen Land bleiben und eine andere Sprache sprechen und seine Muttersprache nur noch heimlich mit sich herumtragen und nicht so ausgeben jeden Tag wie Allerweltsware. (RK 38)
Dieser mangelnden Bewegungsfreiheit und der eingeschränkten Reisefreiheit in der DDR kann sie im Brief an Josef nur mit einem Traum begegnen, in dem sie von einer alten Frau die »Himmelsleiter umgekehrt« in einem südlichen Land in Richtung Meer geführt wird (RK 40). Als Illustration ihres Schwankens dient die Geschichte, in der sie aus dem starken Wunsch, sich zu fügen, fast einen Freund geheiratet hätte, den sie im Endeffekt nicht so liebt, wie es für ein dauerhaftes Leben zusammen nötig gewesen wäre. Als er ihr einen Heiratsantrag macht, weiß sie nicht, was sie sagen soll, und läuft stattdessen zu ihrer Mutter, um Rat zu holen. Sie ist sogar in solchen intimen Entscheidungen fremdbestimmt, wenn ihr Instinkt ihr sagen sollte, was die richtige Antwort ist. Erst nachdem sie längere Zeit mit diesem Mann zusammen ist, merkt sie, wie 6
Gleich auf der ersten Seite des Briefes schreibt sie: »Siehst du, ich liege krank im Bett, und ich liege schon so lange im Bett, daß es mir manchmal scheint, als ob ich gar nicht mehr aufstehen kann und nie mehr gesund werde« (RK 10). Nach dem Debakel des Absagens ihrer Hochzeit heißt es: »Danach war ich sehr erschöpft und bin wieder krank geworden und habe drei Wochen im Bett gelegen« (RK 38). Die Sehnsucht nach fremden Ländern macht sie ebenfalls krank: »Ich kann es gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach fremden Städten und fremden Ländern sehne. Ich kann Dir nicht sagen, wie. Manchmal, wenn ich krank im Bett liege, dann ist es, glaube ich, oft nur von dem Schmerz, daß ich davon so abgeschnitten bin« (RK 39).
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II ›Roman von einem Kinde‹
eigennützig er ist, und wie die Existenz ihres Sohnes ihm lästig ist. Nach einer Periode des Starrseins verspürt sie genau den gegenteiligen Wunsch von früher, nämlich sich nicht mehr zu fügen und Nein zu sagen.7 Diese Weigerung, Wünsche anderer zu erfüllen oder ihren Ansprüchen zu genügen, zieht sich als Leitmotiv durch alle Erzählungen des Bandes. Den Auftakt dazu findet man gegen Ende des Briefes an Josef: Aber das Stillhalten hat mir auch bald Angst gemacht, und dann wollte ich es entscheiden, und so wie ich am Anfang den großen Wunsch hatte, mich zu fügen, wollte ich mich nun überhaupt nicht mehr fügen und wollte Nein sagen und mich nicht mehr versöhnen und nicht mehr vertragen. Ich wollte endgültig Nein sagen, ich wollte sagen: Nein, ich will dich nicht mehr haben, und ich will dich nicht heiraten, denn ich finde dich unterdessen furchtbar, ich finde dich und uns beide und das alles zusammen einfach lächerlich. Ich habe dich nicht mehr lieb, ich kann dich nicht einmal mehr gut leiden. (RK 37)
Ein zweites Leitmotiv, das des Fremdseins, findet hier seinen Ausdruck im zwiespältigen Verhältnis der Erzählerin zu ihren beiden männlichen Bezugspartnern. Beide Beziehungen sind in die Brüche gegangen und konnten sie nur kurzfristig von ihrem Alleinsein befreien. Fremd fühlt sie sich nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch, als sie das Pessachfest in der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße feiert. Da sie das erste Mal dort ist, kennt sie zwar niemanden, aber durch die Religionsgemeinschaft fühlt sie sich unter ihren Glaubensgenossen diesen einen Abend lang doch geborgen und entkommt kurzfristig der sozialen Isolation. Babu beginnt in der ersten Geschichte eine Entwicklung in mehrerer Hinsicht. Sie hat gelernt, dass es zwar leichter scheinen mag, sich immer nur zu fügen, aber dass ihr am Ende damit nicht geholfen ist. Mit dem Nein-Sagen zu dem Partner, den sie gar nicht liebt und dem Bekenntnis zu der jüdischen Religionsgemeinschaft ist ein Lern- und Bewusstwerdungsprozess ins Rollen gekommen, der sie letztendlich die DDR verlassen lässt. Die Wünsche, die Babu am Ende der ersten Geschichte hegt, sind eine Partnerschaft, in der sie sich geborgen fühlt, ein Ausbrechen aus den engen Schranken des sozialistischen Staates und eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrem Judentum. Die zweite Geschichte »Eine Postkarte für Herrn Altenkirch« kontrastiert die Kälte des DDR-Staates mit der Wärme, die die Erzählerin so verzweifelt sucht und vorübergehend im gemieteten Zimmer von Herrn Altenkirch findet, der ihr viel mehr als ein warmes Zimmer gibt. Dieser pensionierte Herr sucht Gesellschaft mit der jungen Dramaturgin und lädt sie zu Unterhaltungen beim Frühstück und Kaffeetrinken ein, wo sie zusammen alte Illustrierte und sein Fotoalbum durchblättern. Er ist es gewohnt, Untermieter bei sich zu haben, die ihm gelegentlich nach ihrem Fortgehen Postkarten aus einer anderen Stadt 7
Marcel Reich-Ranicki betitelt seine Rezension mit dem Zitat »Es ist so schön, sich zu fügen« (wie Anm. 4), geht aber überhaupt nicht darauf ein, dass die Erzählerin eine Entwicklung durchmacht und das Sich-Nicht-Fügen zu einem Leitmotiv im Erzählband wird, wie ich im folgenden illustriere.
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schicken. Auch die Erzählerin stellt sich vor, ihm so eine Karte zu schreiben, tut es aber nie, und entschuldigt sich mit dieser Geschichte dafür: »Herr Altenkirch wird jetzt bestimmt schon tot sein, und ich habe diese Postkarte nie geschrieben, ich weiß nicht warum. Einfach weil...weil...und weil...« (RK 49). Vor ihrem Auszug aus der Wohnung erfährt man jedoch mehr über die Arbeit der Dramaturgin und ihrer Gruppe. Hier klingt wieder das Thema der Weigerung an, dieses Mal keine persönliche Weigerung wie in der ersten Geschichte, sondern eine Absage auf gesellschaftlicher Ebene an die Ideale des sozialistischen Realismus. Die Theatergruppe wollte etwas Anderes, für den Sozialismus mit seinen strengen Kulturvorschriften Inakzeptables machen mit den Folgen, dass der Staat gegen die Künstler agierte, und am Ende jeder alleine dasteht ohne Arbeit. Diese Geschichte illustriert, dass Künstler, die ihren eigenen, von den Normen abweichenden Weg in der DDR gehen wollten, entweder ganz aus der Gesellschaft ausstiegen (»Der Anführer der Gruppe zog sich ganz zurück und lebt, soviel ich weiß, heute als Holzfäller im Walde« [RK 48]) oder dankbar sein mussten, überhaupt noch irgendwo ein Engagement zu bekommen. Jack Zipes erkennt den Zusammenhang dieser Geschichte mit Honigmanns Umzug nach Straßburg, indem er auf den Mangel an Gemeinschaft, die die Erzählerin dringend braucht, hinweist, und dies mit ihrem Wunsch, als Jüdin bewusster leben zu wollen, verbindet. There is an incident, the second in her book, entitled »A Postcard for Mr. Altenkirch,« which has nothing to do with her Jewishness and yet everything to do with her reaching out for a Jewish community that best describes what led to her need to develop a Jewish identity and leave East Germany. [...] It is the destruction of community and culture that apparently causes Honigmann’s paralysis and the abandonment of Herr Altenkirch. The effect to establish a sense of community in which ideas can be exchanged and developed is continually undermined by political conditions that sap people’s energies.8
Die Entfremdung der DDR-Bürger voneinander, bedingt durch die Machenschaften des Staates, lässt keine dauerhaften Beziehungen zu; die Theatergruppe wird gezwungen, sich aufzulösen und man nimmt an, der Erzählerin blieb bei der Suche nach einer neuen Arbeit wenig Zeit, Herrn Altenkirch eine Postkarte zu schreiben. Der Ausübung eines Berufes, in dem man sich verwirklichen kann, werden Hindernisse entgegen gestellt, und die Erzählerin entfremdet sich durch die erwähnten untragbaren Arbeitsverhältnisse, gepaart mit den Alltagsproblemen des Lebens in der DDR, immer mehr von dieser Gesellschaft. Die Konflikte in dieser Geschichte präfigurieren die des Briefromans Alles, alles Liebe!, in der die Protagonistin Anna als Dramaturgin in der DDRProvinz scheitert. In der Erzählung »Wanderung« geht es um konkrete Wege, Wanderpfade, die zu keinem Ziel führen, Metapher für die Sackgasse, in der sich die Bezie8
Jack Zipes: Jewish Consciousness in Germany Today. In: Telos 93 (1992), S. 159– 172, hier S. 168.
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II ›Roman von einem Kinde‹
hungen der Freunde befinden. Der Titel verweist auch, wie schon anderswo bemerkt wurde, auf den wandernden Juden Ahasverus, auf Joseph Roths Juden auf Wanderschaft, aber auch auf die deutsche Romantik mit ihrer Sehnsucht nach fremden Ländern und in diesem Sinne auch auf die neoromantische Bewegung des Wandervogels zu Beginn des 20. Jahrhunderts.9 Eine der alljährlichen Wanderungen einer Freundesclique in der damaligen Tschechoslowakei wird beschrieben. Der Wunsch, aus der DDR wegzufahren und aus dem rigiden Gesellschaftssystem auszubrechen, ist so groß, dass die Freunde bis in die entlegensten Gegenden der Slowakei fahren – eines der von der DDR akzeptierten Urlaubsländer –, um dort ein paar Tage Beisammensein zu genießen.10 Allerdings kommt keine Idylle auf, da sich die Wanderer heftige Wortgefechte liefern. Dies ist das Leitmotiv der Geschichte; unfähig, in Harmonie zu wandern, schleppen die jungen Leute die Altlasten der Vergangenheit mit sich herum und streiten über alles: »über Hitler über Stalin über die Deutschen über die Russen über die Juden über den Krieg über den Osten über den Westen und über unsere Eltern, vor allem über unsere Eltern« (RK 55).11 Die Erzählerin wird davon physisch und psychisch so schwach, krank und fiebrig, dass sie sich von den Gefährten absetzt und ihren Weg alleine sucht.12 Durch ihre Absonderung von der Gruppe, durch ihre Weigerung, in den Sog der Auseinandersetzungen weiter mit hinein gezogen zu werden, setzt sie ein Zeichen, dass sie sich auch in Zukunft von der Mehrheit ablösen wird. Die psychosomatischen Krankheitserscheinungen der ersten Erzählung, das Motiv der Weigerung und die zunehmende Entfremdung von den Freunden werden hier erneut artikuliert. Am Anfang, gleich nach der Trennung von der Wandergruppe, beschleichen Babu Gefühle der Angst und sie verspürt den starken Wunsch, sich wieder in die Gruppe einzugliedern; jedoch lassen die anderen sie schneller allein als sie wahrhaben möchte, was sie sehr kränkt. Sie erkennt, dass sie nun ihren Weg alleine gehen muss. Tatsächlich findet sie eine Frau, die sie mit in das Dorf bringt, in dem sie sich später wieder mit der Clique vereint. Dort wird sie gesund gepflegt und als Ehrengast des Dorfes sowohl von den einfachen Bau9
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Siehe Petra Fachinger: Rewriting Home: The Border Writing of Barbara Honigmann and Renan Demirkan. In: Dies.: Rewriting Germany from the Margins. »Other« German Literature of the 1980s and 1990s. Montreal & Kingston: McGill-Queen’s University Press 2001, S. 57–69, hier S. 59. Siehe auch Marilyn Sibley Fries: Text as Locus, Inscription as Identity: On Barbara Honigmann’s »Roman von einem Kinde«. In: Studies in 20th Century Literature 14 (1990), H. 2, S. 175–193, hier S. 191. Im Text heißt es: »Und wir waren so begierig, noch weiter von zu Hause wegzukommen, daß wir uns in den erstbesten Zug gesetzt haben und bis zur Endstation ins allerletzte Dorf gefahren sind« (RK 53). Durch die kommalose Reihung drückt Honigmann stilistisch hervorragend die endlosen Streitereien aus. »Eines Morgens wachte ich auf und war krank davon. Ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr, ich hatte Fieber, und ich sagte zu den anderen: Wißt ihr, ich muß mich irgendwo ausruhen, ich suche mir einen Platz, wo ich ein paar Tage bleiben kann, ihr wandert weiter und ich komme dann mit dem Zug oder Bus hinterher« (RK 77).
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ersfrauen als auch von dem Ingenieur, dem Dorfgelehrten, gut aufgenommen und besteht diese »Prüfung« des Alleinseins tapfer. Babu weigert sich nicht nur, sich die Streitereien ihrer Mitwanderer weiter anzuhören, sondern auch, bei den Beziehungswechseln zwischen den Freunden in Zukunft mitzuspielen. Als Lise, und später Heinz und Hans’ Schwester zu ihr kommen, um sich mit ihr wegen Eifersüchteleien, Betrug und Verrat zu beraten, heißt es im Text zweimal: »aber ich dachte an was anderes« (RK 70, 71). Damit kann nur der bevorstehende Umzug nach Straßburg gemeint sein: Ich war schon beim Kofferpacken, und dann fuhr ich ab, in eine andere Stadt, und bin nicht mehr zurückgekommen. Ich denke noch viel an das Haus, in dem wir alle zusammengelebt haben, zumindest in den Ferien. Aber ich schreibe nicht dahin, weil ich nicht weiß, ob sie noch dort sind und wer mit wem zusammen und auseinander ist, und weil ich nun nicht mehr mitspiele. (RK 71)13
Ironisch in Bezug auf diese Auseinandersetzungen ist der Schluss der Erzählung, als »der lange Peter« aus dem Wilhelm Meister vorliest: »›Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt, aber hier und da jemanden zu wissen, der mit uns übereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten‹« (RK 85). Diese Stelle ist ein Loblied auf die Harmonie zwischen Menschen und beschwört eine Welt herauf, die nicht von Flucht oder Rache geprägt ist, aber ironischerweise hört keiner darauf, weil alle schon schlafen. Gershom Scholem hilft den Honigmanns bei ihrer Suche nach einem alternativen Lebensweg in der dritten autobiographischen Geschichte durch den Bibelspruch: Wandere aus in ein Land der Thorakenntnis (...und sprich nicht, daß sie zu dir komme, denn nur, wenn du Gefährten hast, wird sie sich dir erhalten. Sprüche der Väter 4,18). Jerusalem wäre gut, New York wäre gut, London wäre gut, sonstwo wäre gut, aber Deutschland ist nicht mehr gut für Juden. Hier kann man nichts mehr lernen, also hat es keinen Sinn zu bleiben, es ist viel zu schwer. (RK 94)
Diese Mahnung kommt aus den Sprüchen der Väter und in gewisser Weise fungiert hier Scholem als »Vater«, Mentor oder »Wegweiser« für die Honigmanns. Er selber war in seiner Jugend überzeugter Zionist und ist 1923 von Deutschland nach Palästina ausgewandert. Scholem war schon damals skeptisch gegenüber der sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose, was sich nach der Shoah verständlicherweise noch verstärkt hat. In seiner Autobiographie 13
Dagmar C. G. Lorenz sieht diese Beziehungsschwierigkeiten als symptomatisch für eine ganze Generation von DDR-Bürgern an: »Moreover, the entire young generation of GDR citizens is portrayed as bewildered and disoriented. Their exasperating cross-country hikes are an expression of their dilemma. Their endless disputes and their failure to bond in a meaningful way are directly related to Babu’s illness, which, ironically, is cured in a stranger’s house.« Lorenz, Keepers of the Motherland (wie Anm. 5), S. 213.
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II ›Roman von einem Kinde‹
Von Berlin nach Jerusalem beschreibt er das Phänomen der Assimilation, wie er es in den zwanziger Jahren wahrgenommen hat, als »Prozeß fortschreitender geistiger Zerfaserung des Judentums«.14 Mit harten Worten verurteilt er den »Selbstbetrug« der Juden: Die Urteilslosigkeit der meisten Juden in allem, was sie selber anging, während sie doch, wenn es sich um andere Erscheinungen handelte, jene Fähigkeit zu Vernunft, Kritik und Weitblick aufbrachten, die man mit Recht bei ihnen oft bewundert oder auch kritisiert hat – diese Fähigkeit zum Selbstbetrug gehört zu den wichtigsten und trübseligsten Aspekten der deutsch-jüdischen Beziehungen.15
Honigmanns, die Anfang der achtziger Jahre ihren assimilierten Elternhäusern entfliehen und sich einem orthodoxeren Judentum verschreiben wollten, merkten, dass die Situation in der DDR dem »Lernen« der Tora und des Talmuds nicht förderlich war. Sie befolgten den Rat dieser von ihnen stark verehrten Persönlichkeit und zogen aus Deutschland weg, zwar nicht wie Scholem, in das richtige Jerusalem, dafür aber in das »Jerusalem des Westens«, Straßburg. In der letzten Geschichte haben sie den Umzug in diese Stadt bereits vollzogen und man sieht Babu auf ihrem Weg zum Torastudium zu Madame Benhamou radeln.16 Die Fremdheit, die die Erzählerin in der allerersten Geschichte fühlt, ist in der letzten immer noch da; immerhin ist sie in einem ihr unbekannten westlichen Land, dessen Sprache sie erst beginnt zu lernen und dessen Kulturkreis ihr ebenfalls völlig neu ist. Und doch stieg in diesem furchtbaren Unverstandensein auch eine Erkenntnis in mir auf: Nun weiß ich endlich, was es heißt, fremd zu sein. Dieses vage schon immer anwesende Gefühl hatte sich hier in eine Wirklichkeit verwandelt. Es war das deutlichste auf der Welt: Ich bin eine Fremde. Und so schwer, wie es war, brachte es mir auch die Erleichterung, die eine klare Erkenntnis eben bringt, aber nur an den guten Tagen, wenn ich stark war. (RK 114f.)
Barbara Honigmann hat den radikalen Wechsel von Babus Lebensweise mit den oft zitierten dramatischen Worten ausgedrückt: »Hier bin ich gelandet vom 14 15 16
Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Bibliothek Suhrkamp; 555), S. 38. Ebd., S. 39. Manche Kritiker sehen die strukturelle Verbundenheit der Erzählungen nicht. Norbert Schachtsiek-Freitag beispielsweise findet die Geschichte über Scholem etwas deplaziert. Norbert Schachtsiek-Freitag: Unterwegs zu sich selbst. Barbara Honigmanns Prosaband »Roman von einem Kinde«. In: Frankfurter Rundschau, Nr 227, 1. Oktober 1986, S. 15. Yizhak Ahren jedoch erkennt die Zusammenhänge zwischen »Doppeltes Grab« und »Bonsoir, Madame Benhamou« und weist auf die »Querverbindungen und Entwicklungen« des Bandes hin: »Ohne die Scholem-Skizze (›Doppeltes Grab‹) wäre das Buch nicht nur um ein Kabinettstück ärmer, sondern der Band würde tatsächlich in Einzelteile zerfallen.« Yizhak Ahren: Poetisch verzeichnete Gruppenbilder. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Allgemeine jüdische Wochenzeitung, 14. November 1986. Siehe auch Fries, Text as Locus, Inscription as Identity (wie Anm. 9), S. 181f.
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dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein« (RK 111). Wir sehen sie am Ende des Erzählbandes eigentlich am Anfang vieler neuer Abenteuer. Da ist zunächst die Entdeckung der heiligen Schriften durch das »Lernen«17 und zwar das gemeinsame Lernen im Kreise von anderen an derselben Materie interessierten Frauen; da gilt es, den Nachholbedarf an jüdischem Leben in einer lebendigen Gemeinschaft zu decken, und schließlich kommen sprachliche und kulturelle Herausforderungen auf sie zu. Am Ende des Erzählbandes teilt der Leser jedoch das euphorische Gefühl Babus, die sich freigeschwommen hat aus der Fremdbestimmtheit, die das Wagnis eines Ortswechsels eingegangen ist, um einen alternativen Lebensweg als den, der ihr in der DDR vorbestimmt war, zu erproben. In der Geschichte »Doppeltes Grab« klingt neben Scholems Rat, das Torastudium außerhalb Deutschlands aufzunehmen, wieder das Leitmotiv der Weigerung an. Auf dem Weg zu dem Scholem’schen Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee gelangen Honigmanns und Scholem mit seiner Frau Fania an eine Absperrung mit einem Schild »Achtung Baustelle«, obwohl gar nichts davon zu sehen ist. Fania beachtet weder Schild noch Absperrung, sondern sagt nach Ermahnung durch ihren Mann: »Ich lasse mich doch nicht von einem Strick abhalten, meinen Weg zu gehen!« (RK 90) Dies kann symbolisch sein für die Stricke, die die Honigmanns noch in der DDR halten, die aber bald zerrissen werden, als sie nach Frankreich übersiedeln. Ironischerweise handelt Gershom Scholem laut Horch und Fries sehr preußisch in dieser Szene, da er erstens Achtung vor dem Text hat – in diesem Falle der Inschrift auf dem Schild – und zweitens obrigkeitshörig agiert, da er das rebellische Verhalten seiner Frau rügt.18 Es ist jedoch das selbstbewusste Auftreten von Scholems Frau Fania, das Babu als Modell dient, als sie am Ende der Erzählung ganz allein das Grab aufsucht und ebenfalls über die Absperrung hinweggeht. 17
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Das Wort »Lernen« hat in diesem Zusammenhang noch eine andere als die herkömmliche Bedeutung, die Scholem in seiner Autobiographie erläutert. Er spricht von einem Schlüsselerlebnis seiner Jugend, als er mit Dr. Isaak Bleichrode im Frühjahr 1913 »die erste Seite des Talmud im Original lesen lernte und später, am gleichen Tag, die Erklärung Raschis, des größten aller jüdischen Kommentatoren, zu den ersten Versen der Genesis.« Für Scholem ist dies die erste Begegnung mit »jüdischer Substanz in der Tradition« und er wird von Bleichrode eingeladen, an einem Schiur (Lehrstunde), der zweimal wöchentlich stattfindet, teilzunehmen, wo sie »einen ganzen Talmudtraktat, wie das Stichwort hieß, ›lernten‹. Den Talmud studierte man nicht, man ›lernte‹ ihn.« Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 14), S. 65. Horch lobt an dieser Szene die Kunst der Autorin durch »scheinbar nebensächliche Beobachtungen den Charakter einer Situation oder eines Menschen besonders prägnant hervorzuheben.« Zu Scholems Verhaltensweise meint er: »Besser kann die preußische Prägung des großen jüdischen Gelehrten gar nicht apostrophiert werden, gegen die seine aus dem Osten stammende und hebräischsprachig aufgewachsene Ehefrau ein natürliches Gegengewicht bildet.« Horch, »Rückkehr zur Tradition als Revolte« (wie Kapitel I, Anm. 18), S. 72. Siehe auch Fries, Text as Locus, Inscription as Identity (wie Anm. 9), S. 186.
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II ›Roman von einem Kinde‹
Vor der letzten Geschichte »Bonsoir, Madame Benhamou« ist »Marina Roža« eingeschoben, in der aus der Perspektive Peter Honigmanns eine Sabbatfeier im Mai 1982 bei den Lubawitscher Rebjata in einer Moskauer Holzsynagoge beschrieben wird. Diese Geschichte ist als Zwischenstation zu Straßburg, wo die Honigmanns ein Leben inmitten des orthodoxen Judentums erwartet, zu bewerten, als ein Erproben, wie weit man eventuell bereit ist, die strengen Sabbatregeln einzuhalten.19 Peter macht bei allem mit, nur nicht bei dem Eintauchen in den eiskalten See, der als Mikwe dient. Man muss diese Geschichte aber auch im Hinblick auf die vorige sehen, da sich Gershom Scholem sein Leben lang mit dem jüdischen Mystizismus auseinandergesetzt hat, und der Chassidismus, wie die Lubawitscher Rebjata ihn praktizieren, eine Form davon ist. Außerdem wird in »Doppeltes Grab« kurz der Lubawitscher Rebbe erwähnt, dem Scholem die Fälschung eines angeblich historischen Briefes nachgewiesen hat (RK 92). Dies mag als subtiler Auftakt für die kommende Erzählung gelten, in der die Leser in diese den meisten fremde Welt eingeführt werden. Dass sich der Chassidismus, der Ende des 18. Jahrhunderts in Polen entstand, in der modernen Zeit immer noch gehalten hat, zeugt von der Unzerstörbarkeit des Judentums in seinen verschiedenen Formen. Allerdings darf man nicht übersehen, dass die Geschichte mit Urys Verschleppung nach Sibirien und damit der Auflösung dieser lokalen Glaubensgemeinschaft endet, was auf die prekäre Situation der Juden in der Diaspora hinweist, hier spezifisch auf den Antisemitismus der Sowjetunion. Bei genauem Lesen dieser scheinbar unzusammenhängenden Geschichten schälen sich sehr wohl Leitmotive heraus, die sich wie ein roter Faden durch den Erzählband ziehen: die Suche nach dem für Babu richtigen Weg, die Weigerung, sich in persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen an die Mehrheit anzupassen, und schließlich das Fremdsein, das sie als Frau, als Jüdin und als Künstlerin zur Randfigur in der DDR macht. Die Erzählerin macht eine positive Entwicklung durch, indem sie radikale Änderungen durchsetzt, die zu ihrer Selbstverwirklichung beitragen. Abgesehen von den genannten Leitmotiven, die in allen Geschichten vorhanden sind, finden sich aber noch weitere zentrale Themen, die im folgenden analysiert werden sollen.
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Religiöse Elemente in Roman von einem Kinde
In Roman von einem Kinde ist in allen Erzählungen außer »Eine Postkarte an Herrn Altenkirch« und »Wanderung« von religiösen Bräuchen die Rede. Der Sederabend in Ostberlin und der Schabbes in der Marina Roža bieten sich zu 19
Wie Honigmann in der Geschichte »Hinter der Grande Schul« schreibt, führt die Familie dort kein orthodoxes Leben, sondern eines zwischen »ganz orthodox und ganz assimiliert«, was als »traditionell« oder »praktizierend« eingestuft wird (DDD 61).
2 Religiöse Elemente in ›Roman von einem Kinde‹
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einer vergleichenden Analyse an. Im Anschluss daran werden weitere religiöse Elemente in »Doppeltes Grab« und »Bonsoir, Madame Benhamou« aufgedeckt. In beiden Erzählungen geht es um jüdische Rituale, die alljährlich im Falle des Pessachfestes, und wöchentlich, im Falle des Sabbats, gefeiert werden und dadurch dem Leben eines gläubigen Juden Struktur verleihen. Der Auslöser für den Besuch der Synagoge wird nicht explizit erwähnt, aber resultiert wohl aus der Frage, wie die Erzählerin ihren Sohn in religiöser Hinsicht erziehen will. Strukturell erfolgt das Aufsuchen des Gebetshauses sofort nach dem Besuch bei einer Freundin, wo sie zufällig ein Kriegsphoto sieht, auf dem ein deutscher Soldat mit dem Gewehr auf eine jüdische Mutter zielt, die einen Sohn auf dem Arm trägt, dessen Hosen heruntergerutscht sind.20 Die Identifikation mit den schwächsten Opfern der Judenermordung – Mütter und Kinder – macht ihr die Zugehörigkeit zu ihrer Religionsgemeinschaft bewusst und lässt sie aktiv die Synagoge der Oranienburger Strasse aufsuchen. Als Babu das Photo ihres Sohnes den älteren Gemeindemitgliedern zeigt, bewundern sie es. Der Sohn symbolisiert Nachwuchs für die verschwindend kleine Gemeinde und darum werden die Frauen »ganz fröhlich« (RK 27). »Und wieder traurig« heißt es im nächsten Satz, da die Trauer um eine Million ermordeter Kinder im kollektiven Bewusstsein präsent ist. Beide Geschichten haben trotz ironischer und humorvoller Elemente ernstere Hintergründe. Die Erinnerung an die Ermordung der Juden verdüstert den Sederabend in Ostberlin, die Unterdrückung der freien Religionsausübung in der Sowjetunion die Schabbesfeier in Moskau. Der polnische Kantor Abraham Süß, der in Westberlin wohnt und sein Essen heißhungrig hinunterschlingt, sollte »nach allem, was er erlebt hat, vielleicht lieber ›Bitter‹ heißen«, eine Andeutung darauf, dass wir es hier mit einem Holocaustüberlebenden zu tun haben (RK 27).21 Für Honigmann ist es nicht notwendig, diese Tatsache auszubuchstabieren; das Bild vom hastig essenden Kantor genügt, dass man zwischen den Zeilen liest und die nötigen Schlussfolgerungen zieht. Das Aussterben der Ostberliner Gemeinde erfährt sein Symbol in dem kleinen Lämpchen an der Feuerleiter, das die Erzählerin leuchten sieht, »einen schwachen Stern Davids an einer rostigen Himmelsleiter«, ein Symbol, das zweimal in kurzer Abfolge zur Verstärkung des Eindruckes gebraucht wird (RK 27, 28). Wie prekär die Lage der Juden in Russland ist, zeigt sich in den folgenden Szenen. In der Marina Roža mischt sich ein Spitzel in die Sabbatfeier ein, den die Rebjata nur durch ein inszeniertes scheinbares Nachhausegehen hinausmanövrieren können. Außerdem muss ein Schabbesgoi, der nur in Krisenzeiten 20
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Dieses bekannte Photo ist in Goldhagens Buch Hitler’s Willing Executioner abgebildet. Daniel Jonah Goldhagen: Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust. New York: Alfred Knopf 1996, S. 407. Eine der symbolischen Speisen, die man bei dieser Feier zu sich nimmt, ist das Bitterkraut als Zeichen der Bitterkeit der Knechtschaft in Ägypten, und Honigmann nimmt sicher auch darauf Bezug mit dieser Bemerkung.
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II ›Roman von einem Kinde‹
eingesetzt wird, zum Hissen der roten Fahne herangezogen werden, die am Vortag der Wahlen zum Obersten Sowjet bereits aus allen anderen Häusern weht, nur nicht aus der Holzsynagoge, was verdächtig werden könnte. Im letzten Absatz der Geschichte erfährt der Leser vom Ende der Marina Roža. Ury wird zuerst ins Gefängnis geworfen und dann nach Sibirien verschleppt. Der Kern des Judentums liegt neben den mitzwot, den 613 Geboten und Verboten, die der gläubige Jude einhalten soll, in der Tora, die aus den fünf Büchern Moses besteht. In diesen zwei Erzählungen wird die zentrale Bedeutung der heiligen Schrift, die alle räumlichen und materiellen Äußerlichkeiten zweitrangig erscheinen lässt, durch die Beschreibung des Raumes, in dem die Seder- und die Schabbesfeier stattfinden, verstärkt: »Aber wir saßen in einem ganz kleinen Raum, ich dachte, wie ein Klassenzimmer, und die paar Leute, die da waren, saßen zusammen, wie die Schüler einer Schulklasse, von der die meisten noch nicht aus den Sommerferien zurückgekehrt sind« (RK 23f., Hervorhebung v. Verf.). Später wird das Essen »wie in einer Betriebskantine« ausgeteilt (RK 27). Den Lubawitscher Rebjata ist der erbärmliche Zustand ihres Gotteshauses egal, da sie in ihrer festen Überzeugung, der Messias komme bald, glauben, es lohnt sich nicht, Reparaturen anzubringen. Die Marina Roža war ein baufälliger Holzschuppen und kurz vor dem Zusammenkrachen, die Wände hielten sich, so schien es, nur durch die an ihnen hochgestapelten Berge von kaputten oder ganzen Möbeln, Büchern und Betutensilien, aber doch war sie durch die Schabbesstimmung der Rebjata von heiliger Leidenschaft erfüllt. (RK 101)
Wichtiger als die Örtlichkeiten sind im Judentum schon immer Bücher, die Bibel und das Ritual gewesen. Beim Sederabend wird die Haggada vorgelesen, die vorgeschriebenen symbolträchtigen Speisen werden verzehrt und die vier Fragen gestellt. Die Tür wird traditionellerweise offen gelassen, damit Elias eintreten kann, der der Legende nach nie gestorben ist. Ein bitterer Kommentar von Seiten der Erzählerin verleiht aber der Überzeugung Ausdruck, dass jede Hoffnung auf eine Erneuerung jüdischen Lebens im Land der Mörder sich als zwecklos erweist: »Ich hatte es mir schon so oft überlegt, Elias oder Messias oder Gott – von denen kann sich keiner mehr hier blicken lassen« (RK 26). Außerdem artikuliert die Erzählerin hier den Gedanken der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt, in diesem Zusammenhang ganz konkret angesichts der Ermordung der Juden.22 22
Helene Schruff sieht wie auch ich trotz der hier ausgedrückten Skepsis den wichtigeren Aspekt der jüdischen Gemeinschaft, deren Zusammenhalt Babu in diesem gemeinsamen Zelebrieren des Pessachfestes erlebt: »Trotz ihrer ablehnenden Haltung zu Gott und seinem Propheten hinterlässt der Besuch des Gottesdienstes und der in der Gemeinde erlebte Festabend prägende Spuren bei ihr, sie haben beinahe den Charakter eines Initialerlebnisses.« Schruff, Wechselwirkungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 95.
2 Religiöse Elemente in ›Roman von einem Kinde‹
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Nach Yosef Hayim Yerushalmi gewinnen Rituale wie die des Pessachfestes besondere Bedeutung, da sie die Religionsgemeinde zur Identifikation mit den historischen Ereignissen einlädt: Here, in the course of a meal around the family table, ritual, liturgy, and even culinary elements are orchestrated to transmit a vital past from one generation to the next. The entire Seder is a symbolic enactment of an historical scenario where three great acts structure the Haggadah that is read out aloud: slavery – deliverance – ultimate redemption.23
Jeder Teilnehmer an so einem Fest, in dem symbolische Speisen gegessen werden, soll sich so fühlen, als wäre er selber gerade der Sklaverei in Ägypten entronnen. Trotz der kleinen Gemeinde, trotz der Tatsache, dass sich hier »die verstreutesten unter den Verstreuten, die Juden unter den Juden« zusammengefunden haben, nimmt für Babu das Überqueren des Alexanderplatzes nach dem Sedermahl in Gemeinschaft der anderen Juden mythische Proportionen an, Beweis dafür, dass die Feier den gewünschten Effekt auf sie hatte (RK 24). Der Regenschauer auf dem Platz gleicht dem Roten Meer, das über das Pharaonenheer hereinbraust, und dem das versprengte Häufchen in seinen klapprigen Autos entkommt. Hier wird bereits Babus kommender Auszug aus dem ›Land der Pharaonen‹, der DDR, nach Frankreich vorweggenommen. Wie ReichRanicki feststellt, wird das kümmerliche Gotteshaus der Realität der DDR genauso entgegengesetzt wie in der späteren Geschichte »Marina Roža« die Schilderung der erbärmlich aussehenden Holzsynagoge in Moskau, die mit der mächtigen Sowjetunion konterkariert wird.24 Für Nolden symbolisiert der Alexanderplatz der Nachkriegsperiode »in seiner abstrakten Monumentalität und architektonischen Repräsentationsfunktion den Bruch des DDR-Staates mit der Vergangenheit – auch mit der Vergangenheit jüdischen Lebens in Deutschland«.25 Die Gemeinde kompensiere die Erzählerin an diesem Abend für von den Eltern nicht weiter gegebene jüdische Traditionen und gebe ihr kurzzeitig ein Gefühl der Geborgenheit. »Auf der Fahrt der kleinen Gruppe durch den politischen Raum der Nachkriegszeit beginnt die Macht des Staates zu bröckeln, die Fahrt wird zu einer symbolischen Entdeckungsreise aus der Marginalität quer durch das Zentrum der Gesellschaft«.26 Bei der Schabbesfeier in Russland werden vom Fahr- und Trageverbot bis hin zum Unterscheidungsgebet die Rituale des Sabbats peinlichst genau eingehalten und die heiligen Schriften studiert. Neben den Gesängen wird der Wochenabschnitt der Tora vorgelesen und darüber diskutiert und gestritten. Peter wird eine Broschüre mit den Ehegesetzen in die Hand gedrückt, die auf 23 24 25 26
Yosef Hayim Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. New York: Schocken Books 1989, S. 44. Reich-Ranicki, Es ist so schön, sich zu fügen (wie Anm. 4). Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 39. Ebd., S. 40.
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II ›Roman von einem Kinde‹
abenteuerliche Weise nach Moskau gelangt ist; die Betonung liegt immer auf dem Lesen und Lernen von tradiertem Gut. Achtung in der Gemeinde erfahren nicht Leute mit Besitz, sondern die, die einen hohen Grad von Bildung erreicht haben, wie z. B. die einzige Frau unter den Lubawitscher Chassidim, die Gemore, einen auf Aramäisch geschriebenen Teil des Talmuds, lesen kann. Nicht nur die Tora und der Talmud sind bedeutungsvoll für die Juden, sondern auch säkulare Texte und Bücher, durch deren Studium ein hoher Wissensstand erreicht wird. Bücherwissen und Interesse an der Geschichte des jüdischen Volkes sind Eigenschaften, die im Judentum hochgeschätzt werden. Der Exilant Heinrich Heine bezeichnete Bücher als das »portative Vaterland«, da sie im Falle des konkreten Heimatverlustes das Vaterland ersetzen können. So nimmt es nicht wunder, dass nicht nur in diesen gerade besprochenen Erzählungen auf Texte, Inschriften, Bücher und das Studium der Schriften eingegangen wird, sondern auch in den zwei Erzählungen »Doppeltes Grab« und »Bonsoir, Madame Benhamou«. Der berühmte Gelehrte des Mystizismus und der Kabbala, Gershom Scholem, besucht die Honigmanns in Berlin. Der erste Gang der beiden Paare führt sie zu dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, auf dem der verstorbenen Familienmitglieder Scholems, die dort begraben sind, durch Gebete gedacht wird. Hier handelt es sich um einen der vielen »Friedhofstexte« in Honigmanns Œuvre, die die zentrale Stellung, die das Gedächtnis an die Toten einnimmt, hervorheben. Die Inschriften des Familiengrabes, die wortgetreu im Text wiedergegeben werden und allein schon durch das abgesetzte Schriftbild Aufmerksamkeit erregen, zeugen durch die kontrastierenden Geburts- und Sterbeorte von den Spuren, die der Nationalsozialismus in dieser und vielen anderen deutsch-jüdischen (und im weiteren Sinne europäisch-jüdischen) Familien hinterlassen hat. Die Familienmitglieder sind in Berlin geboren, aber nur der Vater Arthur, der noch vor dem Holocaust 1925 verstarb, ist auch in diesem Grab begraben. Mutter Betty starb 1946 im Exil in Sydney, Australien, wo auch ihr Sohn Erich seit 1965 begraben liegt. Werner Scholem, der andere Bruder von Gershom, der Kommunist geworden ist, wurde 1942 in Buchenwald erschossen. Die kreisförmige Struktur der Geschichte, die mit diesen Grabinschriften beginnt, endet mit der letzten Inschrift, die nach dem Tode Scholems, der wenige Wochen nach seinem Besuch in Deutschland am 21. Februar 1982 in Jerusalem erfolgte, in den Grabstein mit dem deutschen Vornamen »Gerhard« eingeritzt wird. Petra Günther stellt in ihrem kritischen Aufsatz, in dem sie die narrative Struktur dieser Geschichte genau untersucht, offene Fragen in Bezug auf den rätselhaften Titel der Erzählung: Was eigentlich ist unter einem doppelten Grab zu verstehen? Hat im Fall eines doppelten Grabes ein und derselbe Tote zwei Grabstellen? Und wenn ja: Ist dann die eine belegt, die andere aber leer? Bedeutet die mögliche Tatsache, zwei Gräber zu besitzen, ein besonderes Privileg (und eventuell eine erhöhte Garantie, erinnert zu
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werden) – angesichts von Toten, deren Gräber nicht mehr auffindbar sind, oder Millionen von Toten, denen eine Grabstelle niemals gewährt worden ist?27
Obwohl Honigmann am Ende der Geschichte schreibt: »Die meisten Menschen haben nur ein Grab. Gerschom Scholem hat zwei. Eines in Jerusalem und eines in Berlin«, was daraufhin deutet, dass nur Gershom ein doppeltes Grab hat, haben wohl alle Familienmitglieder mit der Ausnahme von dem Vater Arthur ein »doppeltes Grab«, es sei denn, die Leichname von Betty und Erich sind von Australien nach Berlin überführt worden und Werner hat ein tatsächliches Begräbnis bekommen, was in den Kriegsjahren schwer anzunehmen ist (RK 97). Die doppelte Grabstelle weist im übertragenen Sinne auch auf die doppelte Verbundenheit Scholems zu Deutschland und Israel hin. Trotz seiner überaus skeptischen Haltung seinem Ursprungsland gegenüber veröffentlichte Scholem – neben Hebräisch – auch weiterhin auf Deutsch und setzte sich sein Leben lang mit diesem Land auseinander. Dies ähnelt Barbara Honigmanns doppelter Bindung an Deutschland und Frankreich, auf die später noch näher eingegangen wird. Bei den Gesprächen zwischen Scholem und den Honigmanns geht es immer wieder um Bücher. Der Gelehrte hat gerade eines über die Frankisten geschrieben, das er den Honigmanns kurz vor seinem Tode noch zuschickt und das er der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße stiftet, wo sowohl er als auch seine jüngeren Gastgeber begonnen hatten, sich mit jüdischem Wissen vertraut zu machen.28 Das Schicksal dieser Bibliothek wird von Scholem mit dem der Menschen verglichen: »›Es ist den Büchern nicht besser ergangen als den Menschen‹« (RK 94).29 Der zentrale Ratschlag jedoch, der für die Honigmanns lebensverändernd wird, kommt, wie oben erwähnt, aus der Bibel und wird Scholem von der Autorin in den Mund gelegt.30 Honigmanns ziehen die Konsequenz daraus, verlassen die aussterbende deutsch-jüdische Gemeinde und tauschen sie gegen das vibrierende jüdische Leben in Straßburg ein. 27
Petra Günther: Einfaches Erzählen? Barbara Honigmanns ›Doppeltes Grab‹. In: German Monitor 53 (2000), S. 123–137, hier S. 126. 28 In Von Berlin nach Jerusalem kann man nachlesen, wie Dr. Moses Barol Gershom Scholem Die Geschichte der Juden von Heinrich Graetz zeigt und was dies bei ihm auslöste: »Als ich Dr. Barol fragte, wo man das lesen könne, verwies er mich an die sehr bedeutende Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße, wo sich auch so halbwüchsige Burschen wie ich einschreiben konnten, wenn sie nur einen Zettel von Vater und Mutter brachten (den mir meine Mutter ohne weiteres gab), in dem sie für ihren Sprößling garantierten. Jahrelang habe ich zu den eifrigsten Lesern dieser Bibliothek gehört.« Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (wie Anm. 14), S. 51f. 29 Sütterlin charakterisiert diese Bücher sehr treffend als »kleine Inseln von Heimat«. Sabine Sütterlin: Vom Fremdsein: Erzählungen von Barbara Honigmann. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Basler Zeitung, Nr 243, 17. Oktober 1986, S. 53. 30 Thomalla, Von Ost-Berlin nach Straßburg (wie Kapitel I, Anm. 10), S. 1204.
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II ›Roman von einem Kinde‹
In der letzten kurzen Geschichte, die sich laut Krättli wie ein »Tagebucheintrag« liest,31 fährt die Erzählerin mit dem Fahrrad32 zu den »Gefährten« des Bibelspruchs, konkret zum »Lernen« mit vier oder fünf anderen interessierten Frauen bei Madame Benhamou. Auch hier wird die Wichtigkeit des Textes über die Äußerlichkeiten der Umgebung hervorgehoben: Wir setzen uns in das unaufgeräumte Wohnzimmer, schieben den Berg Unordnung auf dem Tisch nach hinten, daß er noch höher wird, und dann schlägt jede ihr Buch auf und wir lesen die Thora mit Raschis Kommentar, Wort für Wort, Satz für Satz, und Madame Benhamou erläutert und kommentiert noch aus anderen Quellen, dann diskutieren wir, Wort für Wort und Satz für Satz, und wir streiten uns über Moses und Aron, als ob es heute in der Zeitung gestanden hätte. (RK 111f., Hervorhebung v. Verf.)33
Die Wiederholung von »Wort für Wort, Satz für Satz« lässt ahnen, wie langsam das Torastudium durch das Konsultieren vieler verschiedener Quellen vorangeht, aber auch wie gewinnbringend es für die Frauen ist. Das Streiten über Moses und Aron erinnert den Leser an die Streitereien der Wanderer über die Vergangenheit der Eltern; dieses »Streiten«, was ja ein genauestes Auseinandersetzen mit dem biblischen Text impliziert, steht allerdings in guter jüdischer Tradition und zeigt, dass die Aktualität der alten Geschichten in jeder Generation von Juden immer neue Fragen provoziert, auf die gemeinsam Antworten gesucht werden. Die Lektüre der Bibel im Original, das Bemühen um die richtige Interpretation und das laute Vorlesen aus der Heiligen Schrift werden schon in der ersten Geschichte, im Brief an Josef in der Szene in der Sagorsker Kapelle vorweggenommen. Profanes und Heiliges liegen hier nahe beieinander. »Das heilige Wasser floß aus einem Bierhahn, der in ein Kruzifix einmontiert war, und die Leute standen Schlange, um sich heiliges Wasser in Flaschen abzufüllen. Es waren meist Wodkaflaschen, um die eine ›Prawda‹ gewickelt war« (RK 12). Dann wird die Erzählerin von alten Frauen aufgefordert, die Offenbarung eines vergessenen Heiligen aus einem Heft auf Russisch vorzulesen, die sie allerdings nur schwer entziffern kann. So wie hier die Frau zum Lesen russischer 31 32
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Anton Krättli: Das Leben buchstabieren lernen. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr 222, 26. September 1986, S. 47. Dass sie mit dem Fahrrad fährt, hat wohl den einfachen Grund, dass Babu in der DDR das Autofahren nicht gelernt hat, weil man »erst drei Jahre auf die Zulassung zur Fahrschule und dann zehn Jahre auf ein Auto warten [musste]«, wie Barbara Honigmann in ihrer Glosse »Neue Sklaverei« schreibt, wo sie in der ihr eigenen humorvollen Art darauf eingeht, was für neue Verpflichtungen sie nun zu bewältigen hat, nachdem sie endlich den Führerschein in ihrer neuen Heimat bestanden hat (SRF 15). In dieser Beschreibung des Torastudiums unter interessierten Frauen liegt der Kern der späteren ausführlicheren Geschichte »Meine sefardischen Freundinnen«, die Barbara Honigmann in Damals, dann und danach veröffentlicht hat. Bildlich wurde das Studium von ihr in »Mes amies et moi I und II« dargestellt.
2 Religiöse Elemente in ›Roman von einem Kinde‹
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Schriftzeichen aufgerufen wird, so wird Peter später in der Synagoge zum lauten Vorlesen des wöchentlichen Toraabschnittes in hebräischen Schriftzeichen aufgerufen. (RK 12, 105) Das mühsame Entziffern der Offenbarung entspricht dem beschwerlichen Aufsuchen des Weges, der richtig scheint für die Erzählerin. Nietzsches Spruch »›Sich-gebunden-Fühlen in einem Sturm von Freiheitsgefühlen, das ist Offenbarung‹« (RK 17f.) wird, so meint Villon-Lechner, die »private Utopie« der Erzählerin, die »schwer zu verwirklichen« ist.34 Babu fühlt sich gebunden an ihr Kind und an die Gesetze ihrer Religion; da »der Sturm von Freiheitsgefühlen« in der DDR nicht möglich ist, sucht sie ihr Lebensziel in einem freieren Land zu verwirklichen, wo Religionsausübung nicht verpönt ist wie in der sozialistischen DDR, sondern wo rein zahlenmäßig ein viel vitaleres religiöses Leben möglich ist. In der letzten Geschichte empfinden die Leser durch die Hinweise auf die vielen jüdischen Kinder, die im Quartier Juif zu sehen sind, auf gesellschaftliche Einrichtungen wie den jüdischen Kindergarten oder die jüdische Schule, auf die sie ihre zwei Jungen schickt, und durch das Erwähnen von den vielen religiösen Festen wie Verlobungen, Beschneidungen und Hochzeiten, dass sie hier die so lang ersehnte Gemeinschaft gefunden hat. In seinen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität schreibt Jan Assmann, dass Religion eine »anachrone Struktur« ist, die der Bewahrung des Vergangenen dient: Innerhalb der Kultur, die das Heute gestaltet, hält sie das Gestern gegenwärtig, das nicht vergessen werden darf. Ihre ›Funktion ist es, durch Erinnern, Vergegenwärtigen und Wiederholen Ungleichzeitiges zu vermitteln‹ […]. Rück-Bindung, Erinnerung, bewahrendes Gedenken ist der Ur-Akt der Religion.35
Der Wunsch, selber zu lernen, wie man das Gedächtnis bewahrt, den Kindern diese Traditionen und Erinnerungen zu vermitteln, versteht sich hier auch als Auftrag, nicht zu vergessen. Zusammenfassend ist zu bemerken, dass Barbara Honigmann Büchern, Texten, der Tora und anderen religiösen und säkularen Schriften höchste Bedeutung in ihren Büchern zukommen lässt. Intertextuelle Bezüge, direkte Zitate, Kommentare auf solche Zitate, das Einfügen von Grabinschriften in den Text, um nur ein paar Beispiele zu nennen, erfordern durch ihren Beziehungsreichtum nicht nur genaues Lesen, sondern auch ein Sich-Einlassen auf einen Dialog mit der Gedankenwelt, die uns in Honigmanns Büchern kunstvoll präsentiert wird. Der soziokulturelle und religiöse Horizont der christlichen oder nicht-religiösen Leser, die die Mehrheit der Leserschaft dieser Autorin ausma34 35
Alice Villon-Lechner: Auf dem Weg jüdischer Selbstfindung. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 12. Dezember 2002. Jan Assmann: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt a. M.: FischerTaschenbuch-Verlag 1991 (Fischer-Taschenbücher; 10724), S. 337–354, hier S. 349.
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II ›Roman von einem Kinde‹
chen, wird anhand dieser Szenen durch Einblicke in ein Judentum in Ostdeutschland erweitert, das zu Beginn der achtziger Jahre auszusterben drohte und das mit der vibrierenden religiösen Gemeinde im »Jerusalem des Westens« kontrastiert wird.
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Alltagsleben in der DDR
Um den Fortgang der Erzählerin aus der DDR zu begreifen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, wie sie das Alltagsleben des Landes, das sie verlässt, porträtiert. Den verschlungenen Wegen der Bürokratie begegnet Babu, als sie einen Ausländer heiraten will. Um einen Antrag stellen zu dürfen, dessen Bearbeitung Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr dauert, braucht man jedoch erst einmal eine Genehmigung, die ihr nur mit Widerwillen erteilt wird (RK 32). Als sie die Hochzeit abbricht, muss sie erneut auf das Amt gehen und ihre Entscheidung bekannt geben, etwas was sie physisch und psychisch so mitnimmt, dass sie wieder krank wird. Bevor Babu zu Herrn Altenkirch zieht, bekommt sie vom Staat ein unmöbliertes »Leerzimmer« zugeteilt. Honigmann benutzt die ganze erste Seite dieser Erzählung, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie erbärmlich kalt diese Wohnung war. Kohlen sind unmöglich zu bekommen, was auf die defizitäre Planwirtschaft hinweist, und der Ofen, den sie mit all ihren persönlichen Briefen, die sie verbrennt, zu heizen versucht, ist kaputt und bleibt kalt. Sie greift zum letzten Mittel und schläft in all ihren Kleidern ein, »und in diesem starren Halbschlaf glaubte ich, auf der vereisten Straße zu liegen, nur mit einer Zeitung zugedeckt, und ich versuchte immer mehr, mich in mich hineinzuziehen, es half aber alles, alles nichts und nichts« (RK 45f.). Bei diesem Bild denkt der Leser unwillkürlich an Ghettoszenen aus dem 2. Weltkrieg, wo Bewohner dieser abgegrenzten Bereiche im Winter ebenfalls an unsäglicher Kälte, mangelnder Behausung oder nicht vorhandenem Brennmaterial haben leiden müssen. Honigmann setzt bei dieser Erzählung bewusst mit der Beschreibung der Eiseskälte ein, Symbol für die Kälte, die von Deutschland für sie ausgeht, um den Kontrast der warmen Wohnung, die sie bei Herrn Altenkirch findet, hervorzustreichen. Es werden nicht nur unfreundliche Leute der DDR porträtiert, sondern auch menschlich warme, wie Herr Altenkirch, der allerdings als sehr einsamer kontaktsuchender Rentner dargestellt wird, oder auch die alte Frau im Zug in »Wanderung«, der Babu ihren Sitzplatz überlässt und die daraufhin aus lauter Dankbarkeit ihr Essen mit der Jüngeren teilt. In dem überfüllten Zug ist kein Mensch außer Babu bereit, alten Menschen oder Kindern Platz zu machen. Der Sozialismus hat es nicht geschafft, freundliche Menschen heranzubilden, die auf einfache menschliche Umgangsformen bedacht sind. Die »Horden von Soldaten«, die »ihr verdammtes Bier« trinken, werden der Gemeinschaft der Lesenden gegenübergestellt und es ist keine
3 Alltagsleben in der DDR
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Frage, wer in diesem Duell gewinnt. Babu schämt sich für die überschwängliche Dankbarkeit der alten Frau und fühlt in diesem Augenblick nur noch Haß gegenüber ihren Mitbürgern: [...] daß ein furchtbarer Haß in mir aufstieg gegen alle, die da so unbeweglich und unbewegt auf ihren dicken Hintern saßen, mit ihren breiten Mäulern, aus denen ewig nur Sächsisch rauskam, in ihren Plasteanzügen und Plastehemden und Plasteblusen, ihre Kinder neben sich abgestellt wie ihre Koffer. [...] Wie kommt man denn von denen weg? Wie kann man vor diesen Horden fliehen? Und nein, nicht immer nur fliehen. Nicht Flucht, sondern Rache. Rache! (RK 62, Hervorhebung im Original) 36
Am Ende der Szene erreicht die Entfremdung der Erzählerin einen neuen Höhepunkt, als sie vor dem Blick der anderen zurückschreckt und sich nicht als Teil dieser Gemeinschaft erfährt: »Die haben mich alle so angesehen im Zug, auch die alte Frau und sogar die beiden Lesenden und die verschwitzten Kinder. Ich habe dann meinen Kopf ganz tief in die ›Bunten Steine‹ von Stifter gesteckt« (RK 62). Daher nimmt es nicht wunder, dass Babu aktiv nach einer Gemeinschaft sucht, in der sie sich als Jüdin heimisch fühlen kann, um der Kälte der zwischenmenschlichen Beziehungen, so wie sie in dieser Zugszene dargestellt werden, zu entfliehen. Auch in der Geschichte »Doppeltes Grab« wird Alltagsleben in der DDR geschildert. Man hört von einer Baustelle am Eingang des Friedhofes, bei der allerdings nicht erkennbar ist, was gebaut wird; es scheint einen undefinierbar langen Baustopp zu geben, da dasselbe Schild und dieselbe Absperrung auch noch zwei Monate später, als die Erzählerin nach Scholems Tod ihren Erinnerungsgang auf das Grab macht, den Weg blockieren. Wie Nolden schreibt, ist der zur Baustelle deklarierte Friedhof vor allem ein »profaner Ort lang vernachlässigter Pflege; der Weg zu den Gräbern ist ›abgesperrt‹, weshalb die Erinnerungshandlung selbst so zunächst ein Akt der Transgression gegen staatliche Vorschriften ist«.37 Er bemerkt auch, dass das Eingedenken nicht in einem Gebet besteht, so wie es der Religionsgelehrte wenige Wochen vorher über seine Angehörigen gesprochen hat. »In diesem Sinne bleibt auch der Friedhof eine Art Schwellenort, der der nachgeborenen Generation eher ein Raum des anästhetischen Gedenkens als des Gebetes ist«.38 36
37 38
Peter Sichrovsky, der eine vernichtende Kritik von Roman von einem Kinde im Spiegel veröffentlicht hat, scheint diese Stelle überlesen zu haben. Er schreibt: »Wie oft hatte man mir seit dem Erscheinen dieses Buches vorgehalten, daß nur diese hier zu findende ›sanfte‹ Art und Weise sich mit dem Thema Juden in Deutschland heute auseinanderzusetzen Aussicht hat, in Deutschland auch ernst genommen zu werden. Nicht Aggressivität, nicht ein Hinausschreien einer Wut, oder das Zeigen von Angst kann eine Verständigung zwischen Nachkriegsjuden und Nichtjuden ermöglichen. Zart und zurückhaltend, verlegen und schüchtern – so haben’s die Deutschen gern. Dieses Buch mußte Preise bekommen.« Peter Sichrovsky: Verzweifelte Suche. Rezension von »Roman von einem Kinde«. In: Der Spiegel, 5. Januar 1987. Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 151. Ebd., S. 152.
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II ›Roman von einem Kinde‹
Mehrere Male wird auf die Unfreundlichkeit des Ladenpersonals hingewiesen, das das alte Ehepaar aus Jerusalem ständig zurechtweist, weil es einmal das Geschäft durch die falsche Tür betritt und weil es versäumt, »an der bestimmten Stelle einen Einkaufskorb zu nehmen«. Die Verkäuferinnen zeigen Scholem nur »widerwillig« einige Taschen, worauf Fania »wütend über die Unfreundlichkeit und ständige Zurechtweisung« wird (RK 91). Im Interhotel trauen sich die Gäste nicht, Fleisch zu essen, weil sie mit Recht Angst haben, kein koscheres zu bekommen und müssen sich mit einem halb vertrockneten Eiersalat zufrieden geben. Auch bei diesem Zwischenfall im Restaurant, der an die gespannte Atmosphäre im Zugabteil erinnert, spürt die sensible Erzählerin die »mißbilligenden Blicke von allen Seiten auf dieses ungenierte alte Paar« (RK 95). All diese Szenen, wo das jüdische Ehepaar mit Deutschen in Kontakt kommt, verstärken den Eindruck, dass Verständigung tatsächlich unmöglich ist und beweisen damit Scholems These der nicht existenten deutsch-jüdischen Symbiose. Das letzte Mal, das man etwas von den Leuten in der DDR hört, ist in der letzten Geschichte, nachdem die Ausreise bereits vollzogen ist: »Post keine, Telefon still. Hier kannten wir noch niemand und von dort rührte sich keiner mehr. Aus der Ferne sogar spürte ich das Verletztsein und in dem Schweigen Strafe. Und wozu schreiben, wir werden uns sowieso nicht wiedersehen« (RK 113f., Hervorhebung im Original). Als Ausreisende aus der DDR werden sie als Dissidenten betrachtet und selbst von den Freunden, die vielleicht ähnlich systemkritisch denken, als nicht wert befunden, den Kontakt mit ihnen aufrecht zu erhalten. Das Neidgefühl, das die unzufrieden Zurückgebliebenen erfasst, wird noch genauer in Eine Liebe aus nichts beschrieben. In Frankreich bestätigt sich das Gefühl, das Babu in der DDR schon immer gehabt hatte, nämlich eine Fremde zu sein; es verschafft ihr aber Erleichterung, da sie endlich weiß, woran sie schon seit so langem leidet. Sie hat kein Heimweh, sondern »Herzweh« (RK 115), denn die Heimat ist für die Honigmanns der »Schreibtisch«, wie es Peter Honigmann einmal ausgedrückt hat (DDD 39).
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Das Motiv der Geburt
Die Geburt des Sohnes Johannes, durch das Umschlagbild der Erstausgabe antizipiert, ist ein zentrales Ereignis für die Erzählerin. Erstens gewährleistet der Sohn die Generationenfolge eines dezimierten Judentums, zweitens löst sein Eintritt in die Welt Fragen der Identität aus – nicht umsonst sucht Babu nach der Entbindung die Synagoge auf, um diesem Aspekt ihrer Persönlichkeit stärker nachzugehen, und drittens bewirkt die Geburt eine starke Mutter-Kind Symbiose, die im folgenden Zitat besonders deutlich hervortritt: Es fing auch damals eine neue Art Schlaf an, das war nie mehr so ein ganz Versunkensein, es war immer nur noch eine Art Halbschlaf, in dem ich das Gefühl für mei-
4 Das Motiv der Geburt
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ne Haltung und die Lage aller einzelnen Glieder meines Körpers behalten habe, so ein Dämmerzustand, in dem auch die Grenze zwischen meinem Körper und dem des Kindes verschmolz, und ich fühlte es oft so, als ob ich selbst im Körbchen liege, und wußte nicht mehr, ob ich die Mutter oder der Säugling war. (RK 18)
Die Sprache, die sie neu entdeckt, die Worte, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn lernt, zeugen von einem Vertrauen in die deutsche Sprache trotz der so belasteten Vergangenheit und erinnern an die »Geburt« der Schriftstellerin Barbara Honigmann, die nach der Entbindung von ihrem Sohn einen Kreativitätsschub erfuhr, der sich in der Malerei und dem Beginn des Schreibens manifestierte: »Es ist schön, daß man zuerst so lange stumm miteinander lebt und erst langsam zusammen ein Wort nach dem anderen findet und das ganze Leben buchstabieren lernt« (RK 19).39 Später in der Erzählung bezieht sich Babu erneut auf die Muttersprache, die sie in ihrem Traum von einem Leben in fremden Ländern »nur noch heimlich mit sich herumtragen« wird; sie will sie nicht »jeden Tag wie Allerweltsware« ausgeben (RK 38). Die Emigration lässt die Muttersprache in neuem Licht erscheinen; sie wird etwas Rares, da sie nicht mehr so leicht zugänglich ist, muss gepflegt werden und reizt durch den Vergleich mit der Landessprache zu Reflektionen an. Nolden bestätigt das Vertrauen der zweiten Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller in die deutsche Sprache, die dem Ereignis der Shoah mit den Mitteln »der humanistischen Sprachtradition beikommen möchte«.40 Während außerhalb des deutschen Sprachraumes mit Formen experimentiert wurde,41 so Nolden, die ein Misstrauen gegenüber der Tauglichkeit einer scheinbar unbeschädigten Spra39
40 41
Fachinger sieht ebenfalls einen wichtigen Zusammenhang zwischen der Geburt, der Symbiose von Mutter und Kind und dem gemeinsamen Erlernen der Sprache: »In the title story ›Roman von einem Kinde‹ Honigmann represents the symbiosis of mother and unborn child as one of the rare moments of perfect union, locating ›Heimat‹ within the narrator herself. During the weeks after her son’s birth, the boundaries between her body and that of her child merged, so the narrator explains, and she was unable to tell if she was giving birth or being born [hence the ambiguity of the title]. The narrator describes this liminal condition, in which she ›regresses‹ into a preverbal stage [Kristeva’s ›semiotic‹] only to (re)enter the symbolic stage together with her son by relearning language in the process of teaching him word by word and thereby making sense of her life.« Fachinger, Rewriting Home (wie Anm. 9), S. 61. Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 138. Er verweist hier auf den französischen Autor Georges Perec, der den Roman La Disparition ohne den Buchstaben »e« geschrieben hat, und auf den amerikanischen Verfasser von Comics Büchern Art Spiegelman, der in seiner zweibändigen Maus Serie das unkonventionelle Medium des Comic-Buches benutzt hat, um die Geschichte seines Vaters, eines Holocaust-Überlebenden, darzustellen. Georges Perec: La Disparition. Paris: Gallimard Denoël 1989. Art Spiegelman: Maus. A Survivor’s Tale. My Father Bleeds History. New York: Pantheon Books 1986, Vol. 1 und ders.: Maus. A Survivor’s Tale. And Here My Troubles Began. New York: Pantheon Books 1991, Vol. 2.
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II ›Roman von einem Kinde‹
che zeigten, fehle es an solchen Experimenten im Deutschen, »was die Verwendbarkeit des Sprachdenkens der humanistischen Provenienz beweist«.42 Das Motiv der Geburt findet sich im übertragenen Sinne auch in der Erzählung »Doppeltes Grab« durch das tatsächliche Erscheinen des berühmten Gelehrten Gershom Scholems, der bis dahin für die Honigmanns nur »Schrift« war: Er war 84 Jahre alt, als er starb. Aber für mich war er gerade auf die Welt gekommen. Jahre und Jahre war Gerschom Scholem nur Schrift gewesen. Schrift seines Namens auf Titeln von Büchern und über Zeitschriftenartikeln, Schrift in der Folge eines kleinen Sternchens im Text, beim Nachschlagen hinten im Buch, einer Anmerkung. Oder manchmal, wenn er von dem oder jenem erwähnt wurde, der Klang seines Namens, dieses seltsamen Namens. Dieser Name war nun als Mensch erschienen, als wahre Wirklichkeit, laut redend, berlinernd, ein langer Lulatsch mit abstehenden Ohren, die ganze Mystik in unserem Schaukelstuhl. (RK 96)
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Das Motiv der Erlösung
In einem Gespräch mit Andrea Köhler meint die Autorin, das Motiv der Erlösung, das in ihrem Werk prädominiert, hätte nicht direkt mit ihrer jüdischen Herkunft und mit ihrer Biographie als »Nachgeborene des Grauens« zu tun.43 Barbara Honigmann glaubt, es gehe allen Menschen um Erlösung, und zitiert Kleist, der schon lange vor der Ermordung der Juden folgendes in seinem Aufsatz »Über das Marionettentheater« geäußert hat: »Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«.44 In Roman von einem Kinde wird der Erlösungsgedanke bereits auf der ersten Seite artikuliert, wo das Bild einer von Gott verlassenen, entzauberten, verhexten Welt, in der Erlösung nicht greifbar ist, evoziert wird. Honigmann, die eine Vorliebe für Märchen besitzt, lässt die Briefeschreiberin sagen: »Einmal möchte ich eine Feder in der Hand halten oder eine goldene Kugel, mit der ich mich und Dich berühren muß, und dann würden wir erlöst sein. Oder ein Losungswort, aber keiner weiß das Wort. Einer vielleicht, aber man muß ihn erst finden, und muß den Weg erst finden und nein, keiner weiß es« (RK 10). Hier wird die Affinität Honigmanns zur deutschen Romantik spürbar. Die Dichter der Romantik suchten ebenfalls nach dem »Zauberwort«, oder jagten wie der Hauptcharakter von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen der »blauen Blume« nach, aber während in den Märchen der Brüder Grimm die Charaktere 42 43 44
Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 138f. Andrea Köhler: »Nich so hochjestochen…«. Die Schriftstellerin Barbara Honigmann in Freiburg. In: Badische Zeitung, Freiburg, 13. Januar 1987. Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Heinrich von Kleist. Novellen und Ästhetische Schriften. Hg. von Robert E. Helbing. New York: Oxford University Press 1967, S. 185.
6 Träume
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erfolgreich in ihrer Suche nach dem Losungswort sind, entzieht es sich Honigmanns Protagonistin. Nach Petra Renneke visualisiert Honigmann in diesen ersten Seiten ihrer Erzählung die Sehnsucht nach dem Ort, und dem Wort, das wir nicht kennen, in dem Bild des hellerleuchteten Hauses, das mehrere Male auftaucht und in das die Erzählerin voller Sehnsucht hineinsieht, weil dort Leute wohnen, die wissen, »wie alles gehen muss« (RK 10f.). Dies erinnert an Eichendorffs Gedicht »Weihnachten«, wo das lyrische Ich ebenfalls in ein erleuchtetes Haus hineinsieht, es aber vorzieht, die stille Zeit in der Natur zu verbringen und draußen, statt drinnen Gottes Welt zu zelebrieren. Bei Eichendorff wie bei Honigmann gibt es den Kontrast zwischen dem Innenraum und der äußeren Welt, aber nur bei Honigmann wird die Fremdheit, die die Erzählerin spürt, artikuliert. Während Eichendorffs Gedicht in dem hymnischen Ausruf »O du gnadenreiche Zeit!« endet, bleibt bei der Erzählerin das Gefühl der Entfremdung, das nicht aufgelöst wird. Roman von einem Kinde handelt von der Suche nach dem richtigen Weg im Wissen, dass die Erlösung uns vorenthalten wird.
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Träume
In der Titelgeschichte von Roman von einem Kinde allein gibt es sechs Träume. Der erste Traum handelt von der Symbiose zwischen Mutter und Kind. Vor seiner Beschreibung erwähnt Babu, dass sie oft vor dem Spiegel steht und in ihrem Mund nach dem Zahn, den der Sohn bekommen wird, sucht. Im Traum saugen sich Mutter und Sohn mit den Lippen so aneinander fest, dass sie beide keine Luft mehr bekommen. Dies könnte ein Symbol für die erstickende Mutterliebe sein, die dem Kind keinen Raum zum Atmen lässt.45 Auf der nächsten Seite wird viermal der Begriff »Angst« genannt im Zusammenhang mit den Gefühlen, die die junge Mutter in Anbetracht der Gefahren, denen ihr Kind ausgesetzt sein wird, hat. Der Schutzinstinkt der »Jiddischen Mamme« ist sprichwörtlich und Honigmann könnte sich hier mit dieser Tradition auseinandersetzen, allerdings auf subtilere Art als beispielsweise Rafael Seligmann in seinen Romanen, der grell überzeichnete jüdische Mutterfiguren in Rubinsteins Versteigerung und Die jiddische Mamme auftreten lässt.46 Die Funktion des nächsten Traumes ist, sich in die jüdische Schicksalsgemeinschaft einzureihen. Nach dem Seder schreibt sie: »Einmal hatte ich einen Traum. Da war ich mit all den anderen in Auschwitz. Und in dem Traum dachte ich: Endlich habe ich meinen Platz im Leben gefunden« (RK 28). Die Tatsa45 46
Das Motiv der überängstlichen Mutter gab es bereits in Honigmanns frühen Theaterstücken Die Schöpfung und Der Schneider von Ulm. Rafael Seligmann: Rubinsteins Versteigerung. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1997 (dtv; 11381). Ders.: Die jiddische Mamme. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1996 (dtv; 12172).
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II ›Roman von einem Kinde‹
che, dass es sich hier um einen Traum handelt, betont Honigmann in einem Interview mit Ina Boesch: Das Zitat von Auschwitz ist nicht umsonst in den Traum versetzt, weil ich mir natürlich darüber im klaren bin, daß ich mich nicht wirklich damit identifizieren kann, sondern daß es nur dieses Trauma gibt, das auf uns allen lastet und das auch noch auf meinen Kindern lastet, und das zum Schluß auch noch – leider – Zentrum unseres Lebens ist.47
Sie selber würde sich nicht als Opfer definieren, sondern versucht, zu einer positiveren Definition ihrer jüdischen Identität durch die Religion zu kommen. Nichtsdestoweniger ist die Judenermordung die Wand, die auf Generationen hin Deutsche und Juden trennt, und ein Ereignis, unter dessen Schatten beide Gruppen stehen. Der darauf folgende Traum könnte im weiteren Sinne auch mit der deutschjüdischen Vergangenheit zu tun haben. Auf der Oberfläche indiziert er, dass ihr alles zu viel wird. Das Klo ist durch meterlange Dreckwäsche verstopft und die Erzählerin sieht eine Wasserlache daneben, was sie völlig entmutigt. Als sie ihren Freund herbeiruft, um ihr beizustehen, kommt er endlich, aber er lässt sich gleich auf einem Eimer nieder, lehnt den Kopf an die Wand und fällt in Ohnmacht: »Und ich stehe dann da, zwischen dem verstopften Klo, der Schmutzwäsche und dem ohnmächtigen Menschen« (RK 30). Statt ihr zu Hilfe zu kommen, ist der Freund ihr noch eine Bürde mehr; sie wird – wie viele Frauen – mit den unangenehmen Hausarbeiten allein gelassen. Man könnte die Wäsche aber auch als die meterlange Schmutzwäsche der deutschen Vergangenheit interpretieren, mit der sich Babu ohne Hilfe von anderen auseinandersetzen muss. Der nächste Traum hat mit dem Leitmotiv der Suche nach Heimat zu tun: »Manchmal habe ich einen Traum im Wachen, daß ein Weg zu mir kommt und sich vor mich hinlegt und mit mir spricht und sagt: Komm, folge mir einfach, ich werde dich führen« (RK 31). Manche Kritiker betonen das christliche Element dieses Tagtraumes, da Jesus auf die Frage des ungläubigen Thomas »Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst; wie können wir den Weg wissen?« sagt: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich« (Johannes 14,6). Honigmann lässt im Allgemeinen christliche und jüdische Elemente in ihre Erzählungen einfließen: [T]he Christian references, whose usage appears almost inadvertent, seem to belong to the unmediated realm of appropriated cultural codes (even in the GDR), while the Jewish ones encode the narrator’s very personal process of self-redefinition, signaling the acquisition of her own Jewish consciousness. The two modes of discourses are not consciously juxtaposed or opposed by the narrator; indeed, the pervasive discourse of Christian thought and symbolism provides a point of orientation for the 47
Ina Boesch: Nur ein Platz in den hinteren Reihen. Zweiter Teil eines Interviews mit Barbara Honigmann. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 1. September 1989, S. 5.
6 Träume
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reader who may well be excluded by the increasingly frequent references to the mysterious world of Chasidism.48
Der folgende Traum handelt von der Utopie des harmonischen Zusammenlebens und wird im Kontext des idyllisch dargestellten Hartstockschen Hofes erwähnt. Herr und Frau Hartstock sind freundliche Leute, bei denen jeder willkommen ist. Herrn Hartstocks Lebensphilosophie besteht darin, dass der Weltfriede erst dann erreichbar ist, wenn der Umgang mit dem Nächsten harmonisch verläuft. Die Erzählerin, die sich zu der Zeit in einer unbefriedigenden Partnerschaft befindet, schämt sich, denn sie wollte mit dem Mann in Frieden leben, aber es gelang ihr nicht: Ich wollte, aber ich konnte nicht. Es war wie in dem Traum, als ich mit Mauricio Pollini in einem großen Konzert auftreten und mit ihm vierhändig spielen sollte, aber ich konnte ja nicht Klavier spielen, ich konnte nicht einmal Noten lesen. Doch Mauricio Pollini fing an, es mir zu erklären, und ich wollte es noch schnell lernen. Ich glaubte wirklich, ich könnte es während des Konzertes noch lernen, ich hoffte, ich könnte es schaffen, wenn ich mich anstrenge. Aber ich konnte es nicht mehr schaffen, obwohl ich es versuchte. (RK 35f.)
Das friedliche Zusammenleben unter den Menschen scheint nur durch schweres Üben, wie beim Klavierspielen, möglich zu sein. Jeden Tag muss es neu erkämpft werden, ist aber entscheidend von der Gewilltheit des Partners abhängig. Das gescheiterte Verhältnis zwischen Josef und Babu nimmt das Scheitern des Zusammenlebens der Erzählerin mit den anderen Bürgern in der für sie immer feindlicher werdenden DDR vorweg. Im letzten Traum des Briefes an Josef wird der Tristesse des DDR-Alltags ein idyllisches Bild eines südlichen Landes entgegengesetzt, wo Babu von einer alten Frau an der Hand genommen wird und sie gemeinsam eine Treppe hinunter in Richtung Meer laufen: Unten am Ende führte sie ganz bis ans Meer heran, das lag ruhig und schwarz da. Und dann faßte mich die alte Frau an und lief mit mir zusammen die Treppe hinunter. Es waren so viele Stufen und immer mehr und immer mehr, als ob sie nie ein Ende haben würden, wir liefen und liefen, die alte Frau und ich, hinunter und hinunter. Wie die Himmelsleiter umgekehrt. (RK 40)
Der Begriff »Himmelsleiter«, der hier zum dritten Mal in dem Brief an Josef auftaucht, nimmt auf die biblische Geschichte von Jakob Bezug (Gen 28). Jakob träumt auf seiner Reise zu seinem Onkel Laban von einer Leiter, die bis in den Himmel führt und auf der Engel auf und niedersteigen. Gott spricht im Traum zu ihm und verspricht ihm, ihn zu behüten überall dort, wohin er geht. Dieser Traum könnte als Symbol für die tiefe Sehnsucht des Menschen interpretiert werden, Gott zu begegnen und ihm nahe zu sein. Interessant an Honigmanns Erzählstruktur ist die Verschachtelung durch den Traum: Babu träumt vom Traum Jakobs. Bedeutet dies eine umso größere Distanz zu Gott? 48
Fries, Text as Locus, Inscription as Identity (wie Anm. 9), S. 190.
40
II ›Roman von einem Kinde‹
Vielleicht nicht, denn im Traum ist sie einer der Engel auf der Himmelsleiter und bezeichnenderweise in Begleitung einer Frau, Symbol der Solidarität, die Babu in der Gemeinschaft mit anderen Frauen sucht und die in der letzten Geschichte des Erzählbandes Wirklichkeit wird, wo sie auch von Madame Benhamou sozusagen »an der Hand geführt« wird und in das gemeinsame Bibelstudium initiiert wird. In »Wanderung« findet sich ein Fiebertraum, den Babu hat, als sie im Gitterbett zu Füßen des Ehebettes, das die slowakische Frau ihr zuweist, versucht zu gesunden. Im Traum liegt sie auch in einem Bett, ist aber noch das kleine Kind ihrer Eltern. Diese Regression in die Kindheit zeugt von dem Schutzbedürfnis, das hier durchbricht, da Babu sich gerade vor ihrem physischen und psychischen Zusammenbruch von den Freunden getrennt hatte. Im Traum will sie zu ihrem Vater, der sich auf ödipale Weise in den Freund verwandelt: »Als ich bei ihm anlangte, war ich erwachsen, und der, der da lag und schlief, war mein Freund. Ich streichelte ihn und weckte ihn und sagte: ›Komm doch zu mir.‹ Er zeigte aber auf die Frau neben sich und auf das Gitterbett« (RK 83). Die Bezugsperson, sei es der Vater oder der Freund, die sich hier vermischen, hat bereits eine Partnerin und wehrt das Zusammensein mit ihr ab. In der Folge nimmt sie einen kleinen Zettel und schreibt mit dem Bleistift ihre Vorstellung einer heilen Welt darauf: Wir würden einmal durch die Welt wandern. Manchmal liefen wir oben auf den Bergen und manchmal unten durch ein Tal. Wenn die Sonne zu heiß schiene, fänden wir schnell einen Schatten, und hätten wir Durst, fänden wir schnell eine Quelle, und hätten wir Hunger, würde da alles wachsen, was wir brauchten. Wir besichtigten alte Schlösser und alte Burgen, und während wir uns das ansähen, schwiegen wir, aber wenn wir weiterliefen, redeten wir. Wir erzählten uns von unseren Leben. Wir stritten uns nicht. Es könnte sein, daß mal eine Gefahr auftauchte, wir besiegten sie aber. Abends legten wir uns zusammen in ein Bett in einem fremden Haus in einem fremden Ort. In der Nacht wachten wir manchmal auf, und wir würden uns gegenseitig fragen, ob wir träumen. So hab ich es auf den Zettel geschrieben. (RK 83f.)
Was hier im Konjunktiv beschrieben wird, ist eine Utopie vom friedlichen menschlichen Zusammenleben, die sich leider nur als Traum manifestiert. Die Wirklichkeit ist voller Streitereien, Unfrieden, in der die Natur, die im Traum als Nahrungsquelle dient, eher bedrohlich wirkt. Das fremde Haus am fremden Ort ist ein Topos der Ruhelosigkeit, der Wanderschaft, des Nomadentums, der in der jungen jüdischen Literatur einen Mittelpunkt einnimmt und hier fast am Ende der Erzählung mit dem bezeichnenden Titel »Wanderung« steht.49 49
Siehe zu diesem Thema Anat Feinbergs Diskussion über die verschiedenen Definitionen von »Heimat« der post-Shoah-Generation in ihrem Artikel »Abiding in a Haunted Land: The Issue of Heimat in Contemporary German-Jewish Writing«. In: New German Critique 70 (1997), S. 161–181.
7 Strukturelle Besonderheiten der Assoziationsprosa
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Zusammenfassend ist zu sagen, dass sich das Vorherrschen der Träume in der ersten Erzählung mit Babus Identitätssuche verbinden lässt. Die Träume verdeutlichen ihr die Mutterrolle, ihre Identität als Jüdin im Täterland, die Schwierigkeit des harmonischen Zusammenlebens, und die Sehnsucht, die Schranken der DDR zu durchbrechen und in einem anderen Land einen neuen Anfang zu machen. Je mehr sich Babu in der Realität diesen Wünschen nähert, umso weniger Träume erscheinen in den Erzählungen. Am Ende des Bandes wandelt sich der Konjunktiv des Traumes in den Indikativ der Wirklichkeit.
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Strukturelle Besonderheiten der Assoziationsprosa
Bei Roman von einem Kinde handelt es sich strukturell um »Assoziationsprosa«; die Gedanken und Reflektionen der Erzählerin scheinen zwar in unwillkürlicher Reihenfolge durch ihren Kopf zu schießen, werden aber in Wirklichkeit von der Autorin in einer genau von ihr bestimmten Ordnung zu Papier gebracht. Dies soll exemplarisch durch die Analyse der Aneinanderreihung folgender Episoden der ersten Geschichte aufgezeigt werden.50 Die Erzählerin ist eine Nachgeborene, die in Ost-Berlin lebt und dort von starken Gefühlen der Fremdheit heimgesucht wird. Das Bewusstsein, als Jüdin im Land der Massenmörder zu leben, wird von Zeit zu Zeit erfrischt durch Bilder der Judenverfolgung, die oft ganz unerwartet in ihr Leben treten. Babu beschreibt Josef in ihrem Brief eine bezeichnende Episode in dieser Hinsicht. An einem ungewöhnlich heißen Maitag sitzt sie nackt in einem Liegestuhl bei einer Freundin, die sie mit ihrem kleinen Sohn Johannes besucht, und blättert eine Illustrierte durch. Dort sieht sie auf einem Kriegsphoto, wie ein deutscher Soldat sein Gewehr auf eine junge Mutter, die ihren fünf- oder sechsjährigen Jungen auf dem Arm trägt, anlegt. Sie findet es besonders schlimm, dass dem Kind aus einem unerklärlichen Grund die Hosen bis auf die Füße heruntergerutscht waren. Vielleicht trägt ihre eigene Nacktheit, die ja im Kontext der Shoah Ausgesetztsein, Verletzlichkeit, Erniedrigtsein bedeutet, dazu bei, ihr Augenmerk auf dieses Detail zu richten. Sie versucht, die Zeitung vor ihrer Freundin zu verstecken, die auch ein Baby hat, damit sie das Bild nicht sieht. »Vielleicht, weil ich sie schonen wollte oder weil uns das gemeinsame Ansehen so hilflos gemacht und uns so getrennt hätte, oder ich weiß nicht warum« (RK 21). Am Nachmittag gehen die Freundinnen spazieren und bewundern in einem Gespräch die Erzählweise Prousts; erst am Abend drängt sich das Photo wieder in Babus Bewusstsein. Die Mordszene löst zunächst Identifikationsgefühle mit der verfolgten Mutter aus, dann Angst vor einer Konfrontation mit der Freundin, schließlich den Wunsch, »zu allen Menschen freundlich zu sein 50
Die nächsten zwei Seiten sind folgendem Artikel entnommen: Petra S. Fiero: Identitätsfindung und Verhältnis zur deutschen Sprache bei Chaim Noll und Barbara Honigmann. In: GDR Bulletin 24 (1997), S. 59–66, hier S. 62f.
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II ›Roman von einem Kinde‹
und dankbar irgendwie« (RK 21), da sie glaubt, sie selbst hätte gerade »etwas Schreckliches und Schweres« überstanden und schließlich am Abend, kurz vor dem Einschlafen, als ihr Sohn Johannes neben ihr in seinem Bettchen schläft, Fassungslosigkeit: »Die können doch nicht alle Kinder töten, damit keiner mehr erwachsen wird. Wer mordet denn dafür, daß keiner mehr wächst und keiner mehr erwachsen werden kann. Die. Die, wer die sind?« (RK 23) Bei Honigmanns Texten ist es, wie oben bemerkt, bezeichnend, welche Episoden sie aneinanderreiht. Dieses Anschauen des Photos ist eingebettet zwischen ein Zitat aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, das Gespräch über Proust und einem Besuch in der Berliner Synagoge, wo sie zum ersten Mal das Pessachfest mitfeiert. Von Wilhelm Meister zitiert sie eine längere Passage, wo dieser beim Anblick des schlafenden Felix ausruft, dass er sich entweder umbringen oder den Wahnsinn herbeisehnen würde, wenn sein Sohn vor ihm stürbe. Die Reihenfolge Goethe, Kriegsphoto, Proust, Kriegsphoto, Pessachfest in der Berliner Synagoge drückt symbolisch Babus Identifikationsmuster und vielfältigen Identitäten aus. Goethe steht repräsentativ für die Liebe der Protagonistin zur deutschen Sprache und Literatur; außerdem identifiziert sie sich mit der Elternrolle Wilhelm Meisters. Das Kriegsphoto kontrastiert den Höhepunkt der deutschen Kultur mit ihrem Tiefpunkt und erinnert sie an die Ermordung der Juden (man denke auch an die Nähe von Weimar und Buchenwald). Proust, der wie sie jüdischer Herkunft ist, repräsentiert das Land, in das sie schließlich übersiedelt, und den Beruf, den sie aufnimmt. Das Pessachfest nimmt ihren eigenen bevorstehenden Auszug aus dem »Land der Pharaonen« nach Straßburg vorweg und das Aufspüren ihrer Identität als praktizierende Jüdin, die zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland lebt. Petra Fachinger sieht einen Zusammenhang zwischen dem Vielvölkergemisch der Grenzstadt Strassburg, in der sich Honigmann ansiedelt und der Genrevermischung und Erzählstruktur von Roman von einem Kinde: The narrator’s/author’s affinity to the borderlands is also reflected in the narrative strategies of Roman von einem Kinde. The text crosses not only the boundaries of fiction and autobiography, but also those of other genres. Epistolary passages, quotations from novels, poems, and songs, the text of a postcard and the inscription on the tombstone of the family Scholem, as well as allusions to numerous writers like Walter Benjamin, Gottfried Benn, Johann Wolfgang von Goethe, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist and Marcel Proust, contribute to the text’s dialogic nature.51
Wie im folgenden zu bemerken ist, finden wir nicht nur in Roman von einem Kinde, sondern in all ihren anderen Prosatexten ähnliche narrative Strukturen, die das reflektierende und assoziative Element betonen, die den unverwechselbaren Honigmann-Ton ausmachen.
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Fachinger, Rewriting Home (wie Anm. 9), S. 60.
III
Eine Liebe aus nichts
Fünf Jahre nach dem Erfolg von Roman von einem Kinde trat Barbara Honigmann 1991 mit Eine Liebe aus nichts wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Wie bei ihrem ersten Prosawerk ziert ein selbstgemaltes Bild den Buchdeckel. Es handelt sich um eine Frau, die dem Betrachter den Rücken zukehrt und aus einem Fenster auf eine Stadt schaut. Diese Konstellation erinnert an Bilder der Romantik, in denen der Blick von drinnen nach draußen die Sehnsucht und die Wanderlust dieser Zeitepoche widerspiegelt, wie beispielsweise Caspar David Friedrichs 1822 gemaltes Bild Frau am Fenster. Im Buch findet das Visuelle seine Entsprechung in folgender Textstelle: [...] und vor dem Fenster erstreckte sich der Straßenbahnhof, die ersten Bahnen krochen gerade aus den Schuppen, dahinter lag der Zentralviehhof, von dem immer ein beißender, ekelerregender Gestank vom Tod der Tiere herüberwehte, neben dem SBahnhof Leninallee kündigte die Werner-Seelenbinder-Halle irgendeinen Parteitag an, dahinter zogen sich bis zum Horizont Fabrikhallen und Schlote und dazwischen ragte ein kleiner, blaßblauer Kirchturm. (LN 40f.)
Anders als in den Bildern der Romantik, wo der Betrachter oder die Betrachterin in eine Naturlandschaft hinausblickt, wirkt hier die urbane Landschaft Berlins bedrohlich. Der Begriff Bahnhof mag zwar die Sehnsucht nach anderen Ländern und Orten evozieren, doch handelt es sich hier um einen Straßenbahnhof, dessen Züge nur innerhalb der geteilten Stadt fahren und die Enge von Ost-Berlin versinnbildlichen. Im Kontext der Judenermordung muss man die Beschreibung des Zentralviehhofs mit seinem Gestank nach abgeschlachteten Tieren lesen, in den »das quiekende Schlachtvieh« angekarrt wird. Die Wörter Leninallee und der Parteitag, der angekündigt wird, machen überdeutlich, dass sich die Erzählerin in einem ideologisch befrachteten Ostblockstaat befindet und der Kirchturm dient als Erinnerung, dass sich die jüdische Protagonistin als Außenseiterin innerhalb der christlichen Mehrheitskultur vorkommen muss. Diese Landschaft, über der die Sonne aufgeht, wirkt wie ein »unruhiges und bedrohliches Meer«, dem die im Bild mit einem Mantel und einer Baskenmütze angezogene Betrachterin entfliehen will (LN 41). Die Struktur des Romans ist kreisförmig; sie beginnt mit dem Begräbnis des Vaters in Weimar in der DDR, also dem Land, von dem die Erzählerin weg wollte und endet mit der Rückreise nach Paris, zu dem Ort, wo sie jetzt lebt. Im Mittelstück werden ihre Erfahrungen als Neuankömmling in der französi-
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
schen Hauptstadt geschildert vermischt mit Kindheitserinnerungen, Reflexionen über die Eltern, über das Verhältnis zu den Freunden Jean-Marc und Alfried und Vignetten ihres früheren Lebens am Deutschen Theater in Ostberlin. Es handelt sich hier, wie bei Roman von einem Kinde, um Assoziationsprosa, die aber bei genauem Lesen durch zyklische Wiederholungen und den Einsatz von Leitmotiven als sorgfältig strukturiert erkennbar ist. Dieser Roman ist wie Honigmanns Prosa-Debüt autobiographisch orientiert, aber mit wichtigen Unterschieden. Die namenlose Ich-Erzählerin arbeitet zwar, wie die Autorin selber seinerzeit, am Berliner Theater als Dramaturgin, doch emigriert sie ohne Mann und Kinder nach Paris.1 Die Mutter in diesem Roman, die hier nur eine Nebenrolle einnimmt, stammt aus Bulgarien, während die Vorfahren von Honigmanns wirklicher Mutter in Ungarn zu Hause waren. Dagegen decken sich Details des Vaters mit dem Leben und der Karriere Georg Honigmanns, wie vor allem in dem Essayband Damals, dann und danach nachzuprüfen ist.
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Die Ausgangslage vor der Emigration
Warum will die junge Dramaturgin das Berliner Theater verlassen und aus der DDR ausreisen? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich die Ausgangslage vor der Emigration nach Paris vor Augen halten. In der Szene in dem Zitat oben wirft die Erzählerin, die nach einer Premiere gegen Morgengrauen nach Hause gekommen ist und die Sonne über der Landschaft aufgehen sieht, einen getrockneten Blumenstrauß nach dem anderen aus dem Fenster. Diese Sträuße, die sie für ihre Arbeit am Theater bekommen hat, symbolisieren aber das Abgestorbene, das Tote und Starre ihrer Tätigkeit am Theater, wo sie immer nur Gehilfin war, die Artikel für Programmhefte schrieb oder Anmerkungen zu den Proben verfasste (LN 39). Sie sucht nach neuen Herausforderungen, nach anderen Facetten ihrer Identität, die ihr nur an einem fremden Ort zu entwickeln möglich erscheinen. Durch das Roden des »verstaubte[n] Blumenurwald[es] oder Blumenfriedhof[es]« beginnt die Abnabelung von den Freunden am Theater, von der »Faulheit des Lebens« und dem Überdruss, der sich aus der immer gleichen Routine ergeben hat (LN 41, 40). Die Redewendung »bis zum Überdruß« und das verwandte Adjektiv »überdrüssig« finden 1
Jäger schreibt in seiner Rezension: »Die Autorin hat [...] diejenigen eigenen Erfahrungen ausgeblendet, die in dieser Geschichte nur hätten stören können. Barbara Honigmann, 1949 geboren, verließ 1984 die DDR mit Familie, mit kleinen Kindern. Sie ging ins eher idyllische Straßburg. Die Erzählerin des Romans jedoch wird allein in die Riesenstadt Paris verweht, wo sie kaum etwas versteht und die Gefühle des Ausgesetztseins sich leichter zelebrieren lassen.« Manfred Jäger: Aus Rache fliehen: Die Angst vor dem Erwachsenwerden. Barbara Honigmann erzählt von einer Hassliebe zwischen Vater und Tochter. Rezension von »Eine Liebe aus nichts«. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 26. April 1991.
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sich dreimal auf zwei Seiten und verdeutlichen durch diese Wiederholung den Wunsch nach einer radikalen Änderung im Leben der Protagonistin. Sie vergleicht sich mit einer Schlange, die die alte Haut abstreift, um in der neuen frischer weiterzuleben (LN 48). Die Erzählerin ist Jüdin in der DDR und fühlt sich deswegen als Außenseiterin. Die Aussicht aus ihrem Fenster ist, wie oben im Zusammenhang mit dem Titelbild besprochen, eine konstante Erinnerung daran, dass sie in dem Land lebt, in dem die Ermordung der Juden stattfand und fungiert als Auslöser für die Emigration nach Frankreich. Die Tochter identifiziert sich mit den Erfahrungen der Eltern, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden und findet es existentiell immer untragbarer, in dem Land der ehemaligen Verfolger zu leben. Die Neugierde auf ein neues Leben in der französischen Hauptstadt, die von undeutlichen Vorstellungen geschürt wird, wie das Leben »draußen« in den Westblockländern sei, lässt die Erzählerin schließlich den Ausreiseantrag stellen (LN 39). Am Berliner Theater grassierte unter ihren Mitarbeitern die Idee, man müsse immer wieder in ein neues Land aufbrechen, ansonsten führe man ein kindisches Leben; dass die Freunde aber eigentlich nur scherzen, macht folgende Bemerkung deutlich: »es war halb ernst und halb nur so dahingesagt und hörte meist damit auf, daß einer rief, ach, laßt doch!« (LN 42) Emigriert aber tatsächlich jemand, und lässt den Traum von einem freieren Leben im Westen Wirklichkeit werden, so ist gleich von Verrat die Rede. Der erste, der das alte Leben hinter sich lässt, ist der Vorgesetzte und zugleich Geliebte der Erzählerin, Alfried. Die Reaktion auf seinen Weggang ist klischeehaft, indem die Freunde ihm »Leichtfertigkeit« vorwerfen »und meinen, er wisse wohl nicht, welchen Preis er dafür noch zahlen würde« (LN 43). Dahinter verbergen sich sowohl die Feigheit, nicht selber den Mut zu haben auszusteigen als auch Neid auf das neue, interessantere Leben in der Fremde. Die Erzählerin weiß, dass alle, die nach Alfried gingen, »so angeklagt« wurden, »und ich hörte zu und wußte, eines Tages würde ich auch dran sein« (LN 43). Wie Papacek feststellt, ist diese Aussage doppeldeutig, da sie einerseits besagt, dass auch sie eines Tages auswandern wird; andererseits enthält die Redewendung, dass sie »dran sein« würde, etwas Bedrohliches.2 In den Rilkeversen, die ein Schauspieler aus dem Gedicht »Der Auszug des verlorenen Sohnes« zitiert, ist die Rede vom Fortgehen in ein »unverwandtes warmes Land«; für die Erzählerin ist Frankreich dieses Land, das in geographischer Nähe zu Deutschland liegt, dem sie sich kulturell und sprachlich nahe fühlt (LN 42). Wichtig ist, dass es nicht England ist, das Land, in dem die Eltern die meisten Jahre ihrer Exilzeit verbracht hatten. Obwohl beide Elternteile zu Beginn ihres Exils in Paris gelebt hatten, will sie nicht deren Leben imitieren, sondern ihren ganz eigenen Weg finden.3 Für Rilkes lyrisches Ich 2 3
Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 56. Parallel dazu muss die Geschichte von ihrer Freundin Blanca gesehen werden, deren Vater vor Francos Diktatur nach Deutschland geflohen war. Er selber kehrt nach Francos Tod nach Spanien zurück; die Tochter aber zieht ihm nicht nach, sondern
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
und auch für die Erzählerin stellt die Ausreise, die »aus Drang, aus Artung,/ aus Ungeduld, aus dunkeler Erwartung,/ aus Unverständlichkeit und Unverstand« geschieht, einen Neuanfang dar, der sie von Situationen wegführt, in denen sie sich unverstanden fühlt und die ihr unverständlich erscheinen (LN 42).4 Nichtsdestoweniger fällt der Dramaturgin der Abschied nicht leicht; der Schmerz, den die Ausreise bedingt, wird mit Wörtern wie »Abschneiden und Abreißen«, »Schnitt«, »losreißen« und »abgesondert« beschrieben, die alle an physisches Leiden, an Amputation erinnern (LN 49, 71, 48, 58). Die Gründe für die Emigration sind mehrschichtig: der Wunsch nach beruflicher Veränderung, nach einem Leben außerhalb Deutschlands, das die Erzählerin immer wieder an die Judenverfolgung und das von ihren Eltern erfahrene Leid erinnert und damit einhergehend der Wunsch nach Selbstfindung und Identitätsfestigung, die weg vom Vater und den Freunden und eingefahrenen Verhaltensmustern stattfinden muss.
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Die Emigration über Frankfurt nach Paris
Die erste Station ihrer Ausreise ist Frankfurt am Main, wo sie vorhat, einer Aufführung eines ihrer Schauspiele beizuwohnen und ihren Vater zu treffen, der sich zufällig auch gerade dort aufhält. Weder das eine noch das andere Ziel erreicht sie, da der Vater, der tief verletzt wegen des endgültigen Aufbruchs der Tochter bereits wieder in einem Zug nach Weimar sitzt, es bei einem im Theater abgegebenen Abschiedsbrief belässt. Correll, die Hauptdarstellerin in ihrem Stück, verweigert ihr wortwörtlich die Hand zum Gruß, beklagt sich lauthals, welch ein publikumsunwirksames Drama sie geschrieben hätte mit der Folge, dass der Autorin jegliche Lust vergeht, ihr eigenes Drama gespielt zu sehen. Dies könnte im Zusammenhang mit ihrem Judentum gesehen werden. Das Schauspiel, das die jüdische Schriftstellerin schreibt, ist ein Misserfolg; d. h. die Angehörigen der Mehrheitskultur interessieren sich nicht für die Belange von Randgruppen in ihrer Gesellschaft. Allerdings wird mit keinem Wort der Inhalt des Stückes erwähnt. Für die nicht-jüdische Hauptdarstellerin ist es so schmerzhaft, die Rolle einer marginalisierten Person zu spielen, dass sie, die »vom Erfolg verwöhnt ist«, eine Krise durchlebt und sich für das »Stück, das nichts taugt« schämt (LN 62, 61). Jeden Tag müsse sie »in dieses
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wählt England als neuen Wohnsitz: »Das Exil war zu Ende, aber sie hatte Spanien, außer in den Legenden, die ihre Eltern erzählten, nie kennengelernt, und sie fürchtete, daß man sie dort fälschlicherweise eine Deutsche nennen würde, wie man sie in Deutschland schon jahrelang fälschlicherweise eine Spanierin genannt hatte, und da sie nun endlich wählen konnte, wählte sie lieber ein anderes, ein drittes, ein neutrales Land zum Leben« (LN 53). Für das gesamte Gedicht, siehe Rainer Maria Rilke: »Der Auszug des verlorenen Sohnes«. In: Neue Gedichte. Der neuen Gedichte anderer Teil. Frankfurt a. M.: Insel 1981, S. 21f.
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verfluchte Theater« kommen, »das keiner kennt und für das sich überhaupt niemand interessiert« (LN 61). Man könnte diesen Misserfolg aber auch als autobiographische selbstironische Anspielung interpretieren, da Barbara Honigmanns frühe Theaterstücke tatsächlich wenig Erfolg hatten. An diesem ersten Tag ihrer Ausreise muss sie sich vom Regisseur ihres Dramas sagen lassen, ihr Vater habe während seines Aufenthaltes eine Liebesaffäre mit Correll angefangen und er hätte sich sein Debüt auch anders vorgestellt, eine weitere Kritik an ihrem Theaterstück. Damit nicht genug; er versucht ihre Illusion von einem Neuanfang in fremden Ländern zunichte zu machen und meint »man könnte sehr einsam werden und noch alles verlieren, und deshalb bleibe man meistens, wo man eben ist« (LN 60). Zu der Erkenntnis, dass ihr Unternehmen nicht leicht ist, kommt die Erzählerin im Laufe ihres Aufenthaltes in Paris selber; jedoch beweist sie durch die Richtungsänderung in ihrem Leben, dass man sich entgegen seiner Skepsis und der der Theaterfreunde in der DDR nicht notwendigerweise mit dem alten Trott zufrieden geben muss. Mit der Ankunft in Paris beginnt für die Ausgereiste eine Phase der Orientierungslosigkeit, der Entfremdung, der Reflexion über ihr vergangenes Leben und der langsamen Eingewöhnung in das neue Land mit seiner fremden Sprache und seinen kulturellen Unterschieden. Die Orientierungslosigkeit beginnt im wörtlichen und übertragenen Sinne am Ostbahnhof, der, von Baustellen umrahmt, ihr den leichten Zugang zur Stadt und einem Leben in der Fremde verwehrt.5 Ihr erstes Zuhause ist eine winzige Souterrainwohnung, von der aus sie aus der Froschperspektive das Leben, das sich oben abspielt, an sich vorbeilaufen lassen kann.6 »Die Höhle« fungiert als Ruhepunkt der Emigrantin, die sich dort von den vielen neuen Eindrücken, die auf sie zukommen, erholen kann. Sie fühlt sich in dem Zimmer wie in einer »Sternwarte«, von der aus sie mit einem Fernrohr Dinge näher ziehen oder auch ausblenden kann (LN 11). 5
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Man erinnert sich bei dieser Szene an die Baustelle am Friedhof in Weißensee aus »Doppeltes Grab«, wo eine Absperrung den Grabbesuchern den Zugang zu Scholems Familiengrab verwehren will. In Eine Liebe aus nichts symbolisiert diese Szene die Schwierigkeit eines Neuanfangs in einer unbekannten Stadt und die Unsicherheit der Erzählerin angesichts der auf sie zukommenden Herausforderungen. Für Remmler dringt reale Zeit in die der mythischen Zeit der Erinnerung in Honigmanns Œuvre häufig in Bahnhofsszenen ein: »The scenes of railroad stations in Honigmann’s work imply that the fragile vase of perpetual anticipation has cracked open completely to reveal the broken pieces of dreams that remain forever unfulfilled.« Karen Remmler: En-gendering Bodies of Memory. Tracing the Genealogy of Identity in the Work of Esther Dischereit, Barbara Honigmann, and Irene Dische. In: Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature Since 1989. Ed. by Sander L. Gilman and Karen Remmler. New York, London: New York University Press 1994, S. 184–209, hier S. 197. Das Höhlendasein erinnert an die Abkapselung der schwangeren Erzählerin in Honigmanns Theatermonolog Die Schöpfung.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Perspektive dieses Standorts und der Erzählweise: Das Höhlendasein verschränkt Rollen, die sich weiter oben eher fremd sind. Der Eremit ist auch Reporter; versunken, unbehelligt, unbeteiligt und doch hautnah am Geschehen – soviel er eben gerade davon hört und sieht. Eingeigelt und doch mitten unter Passanten fällt es ihm leichter als anderswo, eine Zeitmaschine zu bedienen. Das Souterrain ist ein guter Ort für rückblendendes Erzählen, dem die Absicht zugrunde liegt, Vorgeschichte als Teil der Gegenwart zu etablieren.7
Der Verwandlungswunsch der Neuangekommenen lässt sich in der SouterrainWohnung, die durch ihr Halbdunkel »einem Kokon, der eine Raupe bis zu ihrer Verwandlung in sich birgt« gleicht, leichter verwirklichen. Die Reflexionsarbeit der Erzählerin könnte man als »mentale Verpuppung« bezeichnen und die Wohnung als »Durchgangsstation einer zunächst noch orientierungslosen Einwanderin [...], die nach ihrer Stabilisierung wieder ›in das Leben‹ eintreten möchte«, ausgedrückt in dem späteren Wunsch, Jean-Marcs Mansardenwohnung zu mieten.8 Die Erzählperspektive spiegelt sich in der räumlichen Erzähldimension wider: Von ihren langen Streifzügen durch die Metropole Paris kehrt die Erzählerin in ihr Souterrain zurück, um von hier aus – schreibend – in die Vergangenheit zu reisen. Somit erweist sich die Kellerwohnung als Untergeschoß der Gegenwart und die Stadt, ähnlich wie in Benjamins »Städtebildern«, als Sinnbild für die Erinnerung. Denn so, wie die Stadt im Raum wirkt, erlebt die Erzählerin die Erinnerung in der Zeit: als unverläßliches, unüberschaubares, verschlungenes Labyrinth.9
Bei ihren Reflexionen über andere historische Auswanderungserfahrungen, mit denen sie sich identifizieren könnte, kommt der Erzählerin immer wieder Amerika und damit verbunden Ellis Island in den Sinn. Obwohl sie nur nach Paris und nicht nach Übersee ausgewandert ist, wird für sie dieser Ort zum Symbol für die Emigration schlechthin. Ellis Island ist die Quarantäne-Insel vor Manhattan, von der aus zwischen den Jahren 1892 und 1924 sechzehn Millionen Auswanderer zu Einwanderern nach Amerika wurden. Dort wurde man aus bürokratischen Gründen noch eine Zeitlang festgehalten und musste sich medizinischen Untersuchungen unterziehen, bevor man endgültig in die USA einreisen durfte. Manche Leute wurden auch wegen mangelnder Gesundheit zurückgeschickt. Die Erzählerin identifiziert sich mit den Gefühlen dieser Menschen:
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Ursula März: Rezension von »Eine Liebe aus nichts«. In: Buchzeit. Sender Freies Berlin, 15. April 1991, S. 1–4, hier S. 1. Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 43. Michael Braun und Ulrike Pohl-Braun: Barbara Honigmann. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 48. Aufl. München 1994, Bd 4, S. 1–4, hier S. 4.
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Nun sitzt er auf Ellis Island, der verdammten Insel, hat sein ganzes Leben hinter sich abgebrochen und Amerika noch nicht mal mit einem Fuß betreten, aber er ahnt schon die grausamen Wahrheiten der neuen Welt und muß sich manchmal fragen, ob er nicht zuviel für zuwenig hergegeben hat. Ein Zurück in sein russisches, polnisches, ungarisches, litauisches oder sonstein Dorf aber gibt es nicht mehr, ganz im Gegenteil, die Geschwister, Onkel, Tanten und Freunde wollen auch bald nachkommen, und dann soll er, der jetzt noch so erstarrt auf Ellis Island sitzt, doch etwas aufgebaut haben – ein neues Leben. (LN 14)
Der Druck, dem jene Einwanderer ausgesetzt waren, erschreckt sie, die ebenfalls noch keine geregelte Arbeit in der neuen Umgebung hat, und sich erst langsam zurechtfinden muss. Ellis Island ist ein Schwellenort wie der Bahnhof in Honigmanns Œuvre und wird zum Symbol für die Heimatlosigkeit der Emigrantin. Als es ein zweites Mal im Text auftaucht, sagt sie zu ihrem Freund Jean-Marc, der ein Jude aus New York ist, dorthin zurückkehren will und ihr anbietet, sie zu heiraten, um ihr die Einreise in die USA zu erleichtern: »[...] nein, nein, wenn ich einmal auf Ellis Island bin, werde ich nicht wieder von dort herunterkommen. Ellis Island ist meine Heimat. Ach, sagte Jean-Marc, Ellis Island gibt es doch schon lange nicht mehr« (LN 57). Dass es diesen Platz nicht mehr gibt, die Erzählerin sich aber dort ihre Heimat vorstellt, bedeutet im Endeffekt, dass nirgendwo ihre Heimat ist, die Suche nach einem Zuhause ewig andauern und sie sich nur zeitweilig irgendwo zugehörig fühlen wird. Todd Herzog bestreitet die Möglichkeit einer positiven jüdischen Hybridität für die Erzählerin; für sie gibt es »keine Heimat in der Fremde, keine Kontinuität aus Fragmenten«.10 Postkoloniale Theoretiker wie Homi Bhabha haben versucht, den Begriff des »ewigen Juden« positiv umzuwerten und ihn als »die kosmopolitische Figur schlechthin« zu sehen. Nach Herzog zeugen die Referenzen auf Ellis Island genau vom Gegenteil: Die Erzählerin in »Eine Liebe aus nichts« versucht, deutsche und jüdische Identitäten in einem neutralen Raum zusammenzubringen, kann das aber nicht schaffen. Der »Hybride« […] findet sich in einer unmöglichen Position, auf einem unbewohnbaren Platz, auf einer »verdammten Insel«, die weder die alte noch die neue Heimat ist, und die sowieso nicht mehr existiert. Honigmanns Hybride [...] erreicht nie die Heimat in der Fremde, die die kosmopolitische Theorie verspricht; sondern sie bleibt, wie der Vater der Erzählerin in »Eine Liebe aus nichts« sagt, »immer und überall ein alien enemy«. Die kosmopolitische Position beweist sich immer wieder als eine unmögliche Position.11
Anat Feinberg sieht Ellis Island auch als Metapher, die die Erzählerin aber fruchtbringend für sich nutzt: 10
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Todd Herzog: »New York is more fun«. Amerika in der zeitgenössischen deutschjüdischen Literatur – Die zeitgenössische deutsch-jüdische Literatur in Amerika. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie; 11), S. 204–213, hier S. 211. Ebd., S. 211.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹ It stands for the conscious renunciation of a settled way of life. It suggests an ideal living between two places, as advocated by Broder. It implies a fruitful tension between pleasure in the foreign [Wohlgefühl der Fremde] and homesickness [Heimweh], to use two crucial elements of the Honigmann ductus.12
Es besteht kein Zweifel, dass Honigmann fasziniert ist von dieser Insel vor Manhattan, die auch in ihren anderen Werken auftaucht. Am Ende der Erzählung »Meine sefardischen Freundinnnen« liest sie dieser bunt gemischten Gruppe von Frauen aus aller Welt, die sich zum Torastudium zusammengefunden haben, den letzten Satz von Georges Perecs Essay über Ellis Island vor. »… einige von den Worten, die für mich mit dem Wort Jude unauflöslich verbunden sind: die Reise, die Erwartung, die Hoffnung, die Unsicherheit, der Unterschied, die Erinnerung, und diese beiden schwer zu fassenden, unsteten und flüchtigen Begriffe, die sich unaufhörlich gegenseitig in ihrem flackernden Licht spiegeln, und die heißen, Land der Geburt und Gelobtes Land.« (DDD 80f.)
Hier wird jüdische Identität mit der Insel vor Manhattan verbunden, einmal, weil viele Juden, die in ihrer Heimat verfolgt wurden, in Amerika ein besseres Leben suchten und weil es nicht nur einen der vielen Orte der Diaspora der Juden verkörpert, sondern den, an dem die größte jüdische Gemeinde außerhalb Israels lebt. Der französische Autor Georges Perec ist mit dem Filmemacher und Schriftsteller Robert Bober 1979 nach Ellis Island gereist, um dort Material für seine Dokumentation zu sammeln, die er in einem Aufsatz und Film der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Er schreibt im Vorspann, er habe sich überraschen lassen von dem, was er dort wohl vorfinden würde. In lyrischer Prosa gibt er seine Eindrücke wieder, gefolgt von einer Reihe von Interviews mit Einwanderern, deren Geschichten er nachgeht. In den folgenden Zeilen drückt Perec aus, warum Ellis Island für ihn als Juden eine besondere Bedeutung hat: ce que moi, Georges Perec, je suis venu questionner ici, c’est l’errance, la dispersion, la diaspora. Ellis Island est pour moi le lieu même de l’exil, c’est-à-dire le lieu de l’absence de lieu, le non-lieu, le nulle part.13
Diesen Worten würde Barbara Honigmann, deren Eltern und damit sie selbst stark von der Exilerfahrung geprägt wurden, sicherlich zustimmen. In »Gruß aus New York« aus dem Band Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball gibt sie die Emotionen wieder, die sie überkommen, als sie zum ersten Mal das Museum auf Ellis Island besucht:
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Feinberg, Abiding in a Haunted Land (wie Kapitel II, Anm. 49), S. 180. Georges Perec: Ellis Island. Paris: P. O. L. éditeur 1995, S. 57.
2 Die Emigration über Frankfurt nach Paris
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Die große Empfangshalle ist leergeräumt, aber in den Nebenräumen und in zwei Kinosälen werden die Geschichten der Einwanderer erzählt, und da liegen, nun in Vitrinen, ihre Pässe, ihre Fotos, ihre Schiffskarten, Zeitungen, Tagebücher und Gebetbücher, ihre Koffer, Körbe und Kleider und sonstiger Klimbim, und es ist, als ob etwas von der Sehnsucht und den Hoffnungen der ehemaligen Besitzer dieses Klimbims im Raum schwebe, und ich muß ein bißchen heulen und weiß nicht, warum. Jetzt fährt schon die letzte Fähre zurück, und plötzlich stehe ich selber an Deck, Wind im Gesicht und Möwen kreischen, Ellis Island hinter mir und vor mir die Silhouette von Manhattan. Und ich sage Dir, lieber Leser, wenn Du es nicht schon gesehen hast, das ist eine Reise wert. (SRF 51)
Mrs. Rose Schwartz, die von Georges Perec interviewt wurde, erzählt von ihrer Enttäuschung, als sie von Bessarabien zusammen mit ihrem Mann nach Amerika auswanderte: It took us twenty-one days to come to America – you can imagine the conditions! Well, when we landed we expected to find a different world, but all we found was Ellis Island – a large room with steel bars on the windows, a prison. It was a terrible disappointment for us – this was the beautiful America. There weren’t even chairs or benches to sit on, everyone sat on the floor, in the filth! After such a hard trip, we thought we had left behind the old Russia of the tsars and the Romania of the fascists; we were hoping to find someplace warm, someplace clean. But instead, we had bars on the windows and were forced to sit on the floor.14
Eine ähnliche Enttäuschung mag die Erzählerin in Eine Liebe aus nichts gefühlt haben, die zunächst unter Alpträumen von Kälte und Verbannung leidet und sich, wie Frau Schwartz auf Ellis Island, in ihrer Kellerwohnung wie im Gefängnis fühlt (LN 12). Sie versucht, die Stadt auf langen Streifzügen kennen zu lernen. Was sie bei diesem Flanieren erfährt, ist zum einen die neue Freiheit, sich überallhin bewegen zu können, was in der DDR nicht möglich war. Sie schreibt, sie unternehme Ausflüge außerhalb der Stadt »mit einer Art Elan, der wie eine Wut war, als ob ich das Land überrennen und es mir unterwerfen könnte« (LN 14). Als zweites sucht sie Erfahrungen ohne Erinnerung; sie träumt von einem »wurzellosen Leben«, weg von den Eltern und Deutschland (LN 31). Auf einem ihrer Spaziergänge landet sie in einem alten Haus und sieht in einen heimlichen Garten hinaus, »und plötzlich berührte mich ein ganz unbekannter Geruch, ein fremder, ohne Vergleich und ohne Erinnerung, als ob es vielleicht doch noch eine ganz andere Welt gäbe, in der nicht alles an alles erinnert« (LN 15). Sie hat die Illusion, die, wie so viele andere im Laufe ihres neuen Lebens in Paris zerstört wird, von ihrer Vergangenheit weglaufen und auch der schwierigen Geschichte ihrer Eltern entkommen zu können, der sie, wie später noch genauer analysiert werden wird, nicht ausweichen kann. Die Erzählerin befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle, die zwischen dem 14
Georges Perec with Robert Bober: Ellis Island. Translated by Harry Matthews. New York: The New York Press 1995, S. 136.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
»Wohlgefühl der Fremde« und der Orientierungslosigkeit und Angst vor dem Untergehen in der fremden Stadt schwanken (LN 19). Die Neuangekommene verspürt zum Beispiel den dringenden Wunsch bei einem ihrer Streifzüge, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören, dem »Wachtelbergvolk«, das sie in dem Stadtteil »butte aux cailles« zu finden glaubt. Doch dort wird sie, nachdem die Bewohner ihre Anwesenheit bemerkt haben, fragend angesehen. Dies deutet sie, die in diesem Anfangsstadium der Emigration die Sprache noch nicht kennt und Gesten nicht richtig einschätzen kann, als Aufforderung, sich zu entfernen. Sie ist unfähig, sich mit dem »Wachtelbergvolk« zu verständigen. Das französische »Salut« traut sie sich noch nicht zu sagen, und das deutsche »Auf Wiedersehen« ist auch unangebracht, obwohl sie es wörtlich meinen würde. Die Illusion, Teil der Gemeinschaft zu sein und eine Rolle zu spielen, wird in dieser Szene durch Begriffe aus der Theatersprache verstärkt. Wie in einer Theatervorstellung saß ich da in der ersten Reihe, ganz dicht an der Bühne, sah dem Schauspiel ihrer Volksversammlung zu und erkannte auch schon die Dramaturgie und die Verteilung der Rollen. Die Hauptpersonen blieben nämlich die ganze Zeit sitzen, und nur die Nebenrollen und Statisten hatten wechselnde Auftritte. (LN 16f.)
Die Zuschauerrolle, die sie spielt, zwingt sie, der Dramaturgie gemäß, früher oder später aufzustehen und sich diskret zu entfernen. Ach, es ist ja schön, herumzulaufen auf fremdem Pflaster, eine Spaziergängerin, dahin, dorthin, irgendwo herum. Aber es ist schwer, zu kommen, ein bißchen zu bleiben und wieder zu gehen. Und daß ich ganz kurz zu ihnen gehört habe, das haben sie wohl gar nicht bemerkt. (LN 17)15
Barbara Honigmann benutzt Wassermetaphorik, um die Ängste ihrer IchErzählerin vor dem Scheitern wiederzugeben: »In den ersten Wochen in Paris habe ich oft Angst gehabt unterzugehen« (LN 51). Als sie nach Spuren der Pariser Vergangenheit ihrer Eltern sucht, findet sie zwar die Straße, den Quai d’Orsay, hat aber keine Ahnung, in welchem Haus ihre Mutter gewohnt hat. Sie sucht sich irgendeins aus und stellt sich vor, die Mutter hätte darin ihre Pariser Exilzeit verbracht: »Natürlich gibt es dort gar nichts zu sehen, und es ist vielmehr, als sei eine Welle über ihre Anwesenheit zusammengeschlagen, und alles ist einfach untergegangen« (LN 32).16 Den Tod des Vaters sieht sie in 15
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Die Szene mit dem Wachtelbergvolk erinnert an ähnliche Augenblicke in Roman von einem Kinde, in dem die Erzählerin voller Sehnsucht von außen in hell erleuchtete Häuser sieht, wo sie Menschen vermutet, die wissen, »wie alles gehen muss« (RK 10). Vergleiche dazu Petra Renneke: Kryptogramme der Schrift: Barbara Honigmanns »Roman von einem Kinde«. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 3 (2004), S. 1–27, hier S. 11f. In der Geschichte »Der Untergang von Wien« aus Damals, dann und danach, wo die letzten Wochen im Leben von Barbara Honigmanns Mutter geschildert werden, ist ebenfalls, wie der Titel bereits anzeigt, die Wassermetaphorik präsent.
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einem Alptraum voraus, in dem er im Belvedere Park ertrinkt. Diesen negativen Bildern vom Ertrinken setzt die Erzählerin aber auch positive entgegen. Sie will sich beruflich verändern und hört schließlich auf, bei Theatern, Verlagen und Buchhandlungen um Arbeit zu suchen. Statt dessen schlägt sie einen ganz anderen Weg ein, bewirbt sich bei der École des Beaux Arts für ein Stipendium und schreibt sich sogleich in Kurse ein: »Statt die Welle von neuem Leben einfach nur über mich hinwegrollen und mich von ihr erschöpfen oder gar zu Boden werfen zu lassen, wollte ich ihre Bewegung nutzen und selbst meinen Platz wechseln« (LN 52). Der Ortswechsel erleichtert die Richtungsänderung in ihrem beruflichen Leben, wodurch sie zu einer neuen Selbstständigkeit gelangt, in der sie nicht mehr die Rolle »Gehilfin am Theater« spielt, sondern aktiv ihr Maltalent, von Fachkräften begleitet, fördern will. In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutungsvoll, was sie in der DDR gemalt hat und wie sich das in Paris ändert: [...] Selbstporträts, wie um mich zu vergewissern, daß ich noch da wäre, Porträts von Alfried, um ihm näher zu sein, weil er sich immer verbarg, den Blick aus meinem Fenster auf Straßenbahn, Zentralviehhof und den kleinen gräulichen Kirchturm am Horizont und Porträts von den Dichtern der Bücher, die ich liebte, als eine Hommage und um ihnen zu antworten. Das Malen war eine Art Festhalten der Dinge, deren Nähe schwankend und ohne Sicherheit war, so wie die Staffelei selber, an der ich die Bilder malte. (LN 52f.)17
Das Malen als ein Versuch, Dinge zu fixieren, kann mit ihrem Schreiben verglichen werden. In beiden Medien versucht sie, die Umwelt zu erfassen und ihr Herr zu werden. Dabei ist die Malerei viel konkreter, aber auch beschränkter als das Erzählen. Beide Ausdrucksweisen belegen die Kreativität der Erzählerin, vor allem aber auch die Notwendigkeit, »die Dinge« sowohl in der DDR als auch in ihrer neuen Umgebung festzuhalten, weil sie »schwankend und ohne Sicherheit« sind.18 Sie wirken so durch die subjektive Wahrnehmungs17
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Das Malen von Selbstporträts erinnert an die mexikanische Malerin Frida Kahlo, die durch einen schweren Unfall mit der Straßenbahn ihr Leben lang Operationen über sich ergehen lassen musste. Außerdem fiel es ihr schwer, die Enttäuschung über mehrere Missgeburten und das ständige Fremdgehen ihres Mannes Diego Rivera zu verkraften. Auch sie, die Krisen gewohnt war, malte obsessiv Selbstporträts, die ihr, wie der Erzählerin in Eine Liebe aus nichts, die Vergewisserung gaben, dass es sie noch gäbe. Die Autorin selber malte Bilder von Kleist, Else Lasker-Schüler und Goethes Gartenhaus mit dem Ginkgo-Biloba-Gedicht neben vielen Selbstporträts, die in dem Band »Bilder. 28. April – 6. Juni 1992« (wie Kapitel I, Anm. 23) zu sehen sind, und bei einer Vernissage in der Galerie Hasenclever in München ausgestellt waren. Das Gefühl des Schwankens, der Unsicherheit, des Gefühls, den Boden unter den Füßen zu verlieren, von dem die Erzählerin in Bezug auf ihre Entfremdung in der DDR und später ihre Entwurzelung in Paris spricht, hat im übrigen Daniel Libeskind bei der Konstruktion des Gartens des Exils und der Emigration, der ein Bestandteil des Jüdischen Museums in Berlin ist, mit einbezogen. Geht man unsicheren Schrittes in diesem Garten, der aus 7*7 Säulen besteht, herum, hat man durch die unebene
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
weise der Erzählerin, die sich als Jüdin fremd in der Heimat fühlt und erst im selbst gewählten Exil ein »Wohlgefühl der Fremde« verspürt. Die leichte Feldstaffelei ist ein starkes Symbol für die Emigration und das Exil. Sie ist ein Geschenk ihrer Freundin Blanca, die sie von ihrem spanischen Vater geerbt hatte, der dieses Utensil mit ins Exil nach Deutschland genommen hatte, es aber, nach Francos Tod, bei seiner überstürzten Rückkehr nach Spanien zurückgelassen hatte. Die Staffelei ist leicht und zusammenklappbar, also geeignet für das Malen draußen in der Natur, etwas, was die Erzählerin in Paris anfängt. Jedoch ist sie nicht sehr stabil, genauso wie die unsichere Anfangssituation im Exil oder der Emigration. Das Überwältigtsein von den tausenden von neuen Eindrücken, die die Erzählerin gar nicht alle verkraften kann, findet seine Entsprechung in ihrem Unvermögen, eine Ansicht der Stadt zu malen, weil sie »keinen Ausschnitt, keine Begrenzung« finden kann (LN 53). Die Emigration in die Kunsthauptstadt und die zwiespältigen Gefühle der Angst, Neugierde, des Abenteuers und des Stolzes, den Mut gehabt zu haben, sich von einem alten festgefahrenen Leben zu lösen, sind Hauptthemen in Eine Liebe aus nichts. Eng verknüpft damit ist das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater, der ebenfalls für kurze Zeit in dieser Stadt im Exil war und an den sie in den ersten Wochen nach der Ausreise fortwährend denkt.
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Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater
Der Roman ist in die so genannte Väter-Literatur einzuordnen, d. h. Bücher von Autoren, die sich mit dem Leben des Vaters auseinandersetzen in der Hoffnung, Hinweise auf das eigene Ich zu finden. Gerade der Konflikt mit dem Vater oder die Frage nach dem Vater ist von Anfang an in diesen menschlichen Urerzählungen als Frage nach dem eigenen Ursprung vor allem die Frage nach der eigenen Identität und Existenz; habe ich – so die psychologische Binnenlogik dieser Erzählungen – den Vater gefunden, verstanden, durchschaut, dann klärt sich auch mein eigenes Leben, mein Selbstverständnis, mein Geschick. Oder, vorsichtiger formuliert: Um mich selbst finden zu können, muß ich zunächst wissen, wer mein Vater ist.19
Langenhorst bemerkte bei seiner Untersuchung dieser Bücher, dass für die Gegenwartsautoren, die er ins Blickfeld nimmt, die Vatersuche erst nach dem
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Fläche, auf der man sich befindet, und den Blick nach oben in die einen überragenden Säulen das Gefühl, man befinde sich auf einem schwankenden Schiff, das bald an Ellis Island oder einem ähnlichen Hafen anlegt. Die Unsicherheit der Exilanten des Nationalsozialismus wollte Libeskind durch das körperliche Gefühl des Schwankens, das die Besucher dieses Gartens überfällt, demonstrieren. Georg Langenhorst: »Vatersuche« in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre. Zur Renaissance eines literarischen Urmotivs. In: Literatur für Leser 1 (1994), S. 23–35, hier S. 23.
3 Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater
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Tod des Vaters möglich wird. Barbara Honigmanns Text, der zwar nicht völlig autobiographisch ist, wie schon erklärt, aber trotzdem in Hinsicht auf die Vaterfigur starke Ähnlichkeiten mit Georg Honigmann aufweist, teilt dieses Kriterium mit Paul Kersten, Peter Härtling, Peter Henisch, Ruth Rehmann, Christoph Meckel und anderen. Bei diesen Autoren handelt es sich um nichtjüdische, was ein äußerst wichtiger Unterschied in Bezug auf die Vätergeneration ist. Denn während diese Söhne und Töchter sich mit der Mittäterschaft (»Der Vater als Nazi«), dem passiven Mitläufertum oder der leisen Rebellion ihrer Väter (Härtling) auseinandersetzen müssen, sind die Väter von jüdischen Autoren Opfer genau dieser Generation von Eltern geworden. Die Rebellion gegen den Lebensstil und die Lebensauffassung der Eltern ist aber bei nichtjüdischen wie bei jüdischen Autoren vorhanden, und wird bei diesen dadurch verstärkt, dass es den Kindern oft unverständlich ist, warum die Eltern nach dem Holocaust ausgerechnet Deutschland als ihre Heimat gewählt haben.20 Trotz der diametralen Gegensätze gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Vatersuche von nicht-jüdischen und jüdischen Autoren. Langenhorst spricht von der »generelle[n] Entfremdung der Generationen, die eine Auseinandersetzung zu Lebzeiten gerade nicht möglich macht« und von dem »Teufelskreis der Kommunikationsstörung«, dem die Autoren entkommen möchten: Gegen derartige, nachteiligst selbsterfahrene Sprachlosigkeit hilft aber nur SprachPrägung, und das heißt für diese Autorinnen und Autoren: Literatur. Gerade weil es darum geht, um Sprachprägung, um Überwindung der Sprachohnmacht, ist die Literatur das vorrangige Medium dieser Vatersuche.21
Es muss betont werden, dass das Schweigen über die Vergangenheit bei beiden Elterngruppen vorrangig ist; bei den Nichtjuden allerdings liegt der Grund in einem Unterdrücken der eigenen Schuld, während es bei den Juden oft genährt ist aus Scham über das Erlebte und dem Wunsch, die Kinder vor den schrecklichen Erlebnissen der Demütigung zu schützen: »Die junge jüdische Literatur der Gegenwart stellt das Schweigen ihrer Vorfahren dem ›Stillschweigen‹ (Katja Behrens) der Täter gegenüber, um so diese Asymmetrie von Schweigen und Verschweigen zur Sprache und so ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen«.22 Der Roman beginnt mit der Schilderung des Begräbnisses auf dem Jüdischen Friedhof außerhalb Weimars, auf dem schon seit Jahrzehnten niemand mehr beerdigt worden war. Das Außergewöhnliche ist, dass der Vater, der sein Leben lang nur wenig Interesse am Judentum gezeigt hat, den Wunsch, nach den jüdischen Ritualen begraben zu werden, dennoch auf einem kleinen Zettel kundtat und die Tochter ihm diese letzte Bitte erfüllt. Das Begräbnis entbehrt 20 21 22
Dies wird beispielsweise in Rafael Seligmanns Roman Rubinsteins Versteigerung problematisiert. Langenhorst, »Vatersuche« in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre (wie Anm. 19), S. 25f. (Hervorhebung im Original). Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 116.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
nicht seiner grotesken Momente, da der Kantor aus Saloniki statt des hebräischen Namens den deutschen Vornamen und auch noch den Doktortitel einsetzt und so immer wieder von neuem den Namen des Vaters im Laufe der Trauerfeier entstellt. Dies muss im Zusammenhang mit einem Witz gesehen werden, den Barbara Honigmann an anderer Stelle über die Generation ihres Vaters erzählt, der mit vollem Namen Georg Friedrich Wolfgang hieß. Ihr Kommentar: »Man sieht schon an diesen Vornamen, daß vom Judentum nichts mehr übrig war, nicht mal ein zweiter oder dritter Vorname. Er promovierte auch, frei nach dem bekannten Witz: Welches ist der häufigste jüdische Vorname in Deutschland? – Doktor!« (DDD 43). Der Vater, der aus dem Deutschland der Hitlerjahre vertrieben worden ist, nie im neuen sozialistischen Staat heimisch geworden ist und sich dort entfremdet gefühlt hat, ist auch ein Fremder in seiner Religion geblieben. In seinem ganzen Leben konnte sich dieser Mann weder mit den Juden noch mit den Deutschen vollständig identifizieren, was folgende Textstelle aus dem Essay »Selbstporträt als Jüdin« illustriert: »Vielleicht kam diese Kühle und Leere nicht nur davon, daß aus dem Sozialismus, den meine Eltern aufbauen wollten, nichts wurde, sondern auch davon, daß sie vollkommen zwischen den Stühlen saßen, nicht mehr zu den Juden gehörten und keine Deutschen geworden waren« (DDD 14).23 Die Leser können im Laufe des Romans viel über den Vater, seine Vorfahren, sein Leben im Exil, seine Rückkehr aus London nach Ostberlin und seine letzten Jahrzehnte in der DDR zusammenstückeln, dennoch bleiben weite Teile seiner Biographie für seine Tochter verschlossen. In Bezug auf die Ahnen väterlicherseits erfahren wir, dass sie einst mit den Römern das Rheintal heraufgezogen sind und es sich deswegen um eine alteingesessene Familie handelt. Spätere Generationen wurden Bankiers der Großherzöge von HessenDarmstadt; aus dieser Linie entstanden die Bankhäuser der Sander, die – wie der Vater in einem Brief an seine Tochter schreibt – nun Deutsche Bank heißen, ein Hinweis auf die Enteignung der Juden während des Nationalsozialismus. Der Großvater der Erzählerin war Leiter eines Sanatoriums und konnte seinen Sohn auf die berühmte Odenwaldschule schicken, wo er unter dem legendären Paul Geheeb lernte.24 23
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Remmler betont bei ihrer Analyse dieser Szene ebenfalls die Entfremdung der Juden in Deutschland und die Diskontinuität eines Lebens der Erzählerin in diesem Land: »Her father’s corpse is present at his funeral: he has a proper burial, although the cantor conducting the services is a stranger to him. The estrangement of the Jews from the German environment continues even after death. And one proper burial does not reconstitute normalcy in a place where so many were sent to their death and left unmourned.« Remmler, En-gendering Bodies of Memory (wie Anm. 5), S. 198. Paul Geheeb (1870–1961) gehörte zu den Pionieren der deutschen Reformpädagogik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit seiner zweiten Frau Edith Geheeb-Cassirer gründete er 1910 die Odenwaldschule, die wegen ihrer fortschrittlichen Erziehungsmethoden weit über Deutschland hinaus bekannt wurde. Weitere Informationen bei http://www.ecole.ch/educat/histbio.htm, 21. April 2004.
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Angesichts dieser großbürgerlichen Herkunft der Familie und des Status, zu dem es die Sanders und Weils im Laufe der Jahrhunderte in Deutschland gebracht haben, muss es den Vater, wie so viele andere Juden in seiner Situation, um so mehr geschmerzt haben, aus der Heimat vertrieben worden zu sein. Er selber war Journalist bei der Vossischen Zeitung gewesen, bevor er als Flüchtling zuerst nach Paris und dann nach London gehen musste. Er konnte jedoch weiter den Beruf eines Reporters ausüben und kam bei Reuters unter. In einem Brief an die Tochter über das Exil in London erfahren wir aber auch, er sei – ohne sich von seiner damaligen Frau, der Mutter der Erzählerin verabschieden zu können – zwei Jahre nach Kanada deportiert worden (LN 63). Obwohl er also Verfolgter des Naziregimes war, wurde er von den Engländern als »alien enemy« behandelt, ein Phänomen, von dem auch andere Exilanten, wie z. B. Hilde Domin sprechen.25 Dies erklärt wohl auch seinen Entschluss, nach dem Krieg »zu den Russen nach Ost-Berlin überzulaufen«, eine ironische Formulierung, da normalerweise das Überlaufen in der anderen Richtung geschah (LN 33). Die Vorstellung, ein neues Deutschland aufzubauen und dort mit offenen Armen empfangen zu werden, erwies sich aber schnell als Illusion. Der Völkermord an den Juden wurde totgeschwiegen und die Verantwortung allein dem Westen zugeschoben. Im folgenden Zitat hört man heraus, dass jüdische Remigranten sich schuldig fühlten, »nur« im Exil gewesen zu sein und nicht in den Lagern: Meine Eltern konnten sogar sagen, daß sie noch Glück gehabt hatten, aber sie mußten für den Rest ihres Lebens mit den Bildern und Berichten derer leben, die kein Glück gehabt hatten, und das muß eine schwere Last gewesen sein, so schwer, daß sie immer so taten, als hätten sie damit gar nichts zu tun gehabt und als hätte niemand jemals zu ihnen gehört, der in einem Getto verreckt oder in Auschwitz vergast worden ist; mein Vater sprach viel lieber nur von seinen Vorfahren an der hessischen Bergstraße, die Hofärzte und Hofbankiers der Großherzöge von HessenDarmstadt gewesen waren. Und schließlich waren sie nach Berlin gekommen, um ein neues Deutschland aufzubauen, es sollte ja ganz anders werden als das alte, deshalb wollte man von den Juden besser gar nicht mehr sprechen. (LN 34)
Das Schweigen der Rückkehrer aus dem Exil ist durch folgende Faktoren bedingt: zum einen wollten die Deutschen nichts hören von den Exilerfahrungen, Konzentrations- und Vernichtungslagern, zum anderen löste das eigene Davonkommen die »Scham des Überlebens« aus, wie es Primo Levi ausdrückt.26 25
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Die Dichterin sagt in dem Video »Hilde Domin. Heimkehr ins Wort« im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: »Wenn das Gastland mit dem Heimatland alliiert ist, ist man ein alien enemy im Gastland. Wenn das Gastland im Kriege ist mit dem Heimatland, wird man als Spion angesehen.« In Anbetracht der Tatsache, dass England mit Deutschland im Kriege lag, hätte Georg Honigmann laut Domins Aussage also auch als Spion gelten können. Hilde Domin. Heimkehr ins Wort. Video. Bonn: Internationes 1985. Siehe dazu Primo Levi: »Die Scham«. In: Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Wien: Carl Hanser 1986, S. 69–87.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
Für das neue Regime der DDR war es von großer Wichtigkeit, wo die Remigranten die Jahre des Nationalsozialismus verbracht hatten; sie wurden mit Misstrauen betrachtet, wenn es ein westliches Land war und nicht die Sowjetunion (LN 34). Those Communists who had spent the war years in Western emigration fell under a cloud of suspicion. The German Communists returning from Stalin’s wartime Moscow had little difficulty mobilizing their version of wartime antifascism in the service of the Cold War. Those returning from the West, Jews, or simply anyone who could not or would not make such a dramatic and sudden shift of allegiance and memory were in an especially precarious position. The marginalization of the Jewish catastrophe was inseparable from the forgetting of the Soviet Union’s wartime allegiance with the West.27
Diese Desillusion, in dem neuen sozialistischen Deutschland so einem Misstrauen zu begegnen, trug zu der Entfremdung des Vaters in Eine Liebe aus nichts entscheidend bei.28 Was er der Tochter vererbt, ist das Gefühl der Heimatlosigkeit, unter dem er sein Leben lang litt, und das sich als Leitmotiv durch das ganze Buch zieht: »Zu allen möglichen Zeiten und Anlässen habe ich ihn sagen gehört, eigentlich weiß ich nicht, wo ich herstamme, weiß auch nicht, wo ich jetzt hingehöre«, erinnert sich die Tochter (LN 35). In seinem letzten Brief gibt es eine Textstelle, die bildhaft macht, wie sich der Vater sein Leben lang gefühlt hat. Als er mit Correll die Orte seiner Kindheit in Hessen besucht, schreibt er: »Es sickerte alles tief in mein Gemüt, und auf einmal hatte ich das Gefühl, daß ich, seitdem ich von dort weggegangen bin, mein ganzes Leben nur immer in rauhem Wetter und kaltem Wind gestanden habe« (LN 65). Diesen Brief, in dem der Vater der Tochter wünscht, dass sie es in Paris besser trifft als er, beschließt er mit dem bezeichnenden Satz: »Ich jedenfalls war sowieso und habe mich immer heimatlos gefühlt« (LN 65). Diese Entfremdung begann mit dem Exil und dauerte nach dem Krieg an, wie man in den Notizen, die die Erzählerin als eines der zwei Erbstücke mit nach Paris nimmt, nachlesen kann. Da heißt es in dem Eintrag zum 10. Juni 1946, nachdem der Zurückgekehrte eine Zirkusvorstellung besucht hat: »Gehe traurig nach Hause, weiß so ganz genau nicht, wo ich bin. Ein bißchen so wie der Italiener eben im Zirkus, der eigentlich aus Rußland kommt. Genauso ein Italiener wie ich« (LN 99). Diese Stelle bezieht sich auf eine Episode, in der er mit seinem russischen Freund Jefim in den Fürstenhof zum Essen geht und die Freunde angesprochen werden, ob sie Italiener seien, was den Kommentar bedingt: »Sie erinnern sich nicht mehr, wie Juden aussehen« (LN 98). Karin Hartewig bezeichnet die Repatriierten als »Ethnographen der deutschen Nachkriegsgesellschaft«, die sich sehr oft als Außenseiter fühlten: 27 28
Jeffrey Herf: Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge/Mass. and London/England: Harvard University Press 1997, S. 106. Wie sich dies auf die Mutter auswirkt, wird in der Analyse von Ein Kapitel aus meinem Leben thematisiert.
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Unmittelbar nach ihrer Ankunft beschrieben sie, was sie sahen und hörten. Aber sie gerieten auch häufig in missverständliche Situationen, die allen Beteiligten ihre lange Abwesenheit und die mangelnde Vertrautheit mit den deutschen Verhältnissen deutlich vor Augen führten.29
Der Vater hat in Ostdeutschland nie mehr den gesellschaftlichen Anschluss gefunden, und lebte schließlich völlig zurückgezogen im Schloß Belvedere zusammen mit seiner vierten Frau. Er ging am Ende weder auf Parteiversammlungen noch auf Zusammenkünfte der »Verfolgten des Naziregimes«.30 Wenn jemand an der Tür klingelt, leugnet er, dass jemand da sei, denn er fühlt sich tatsächlich im übertragenen Sinne nicht zu Hause in dem Land. Die defekte Sprechanlage symbolisiert die fehlende Kommunikation des Juden mit der Außenwelt.31 Sein Tod durch Verhungern und Verdursten erinnert an Kafkas Hungerkünstler, der nicht die Speise bekam, nach der ihm verlangte. Der Vater in Honigmanns Roman hungerte nach Anerkennung, nach einem Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit, hat diese nach der Katastrophe des Völkermordes aber weder im neuen sozialistischen Deutschland noch im Judentum, dem er als gläubiger Marxist entfremdet war, gefunden. Barbara Honigmann konstruiert die Geschichte des Vaters so, dass gewisse Parallelen zu Goethe entstehen.32 Diesem Gedanken soll hier nachgegangen werden. Der Vater wohnt zusammen mit seiner vierten Frau in der Goethestadt Weimar auf dem Schloss Belvedere unter dem Dach, »gleich neben dem Tischleindeckdich, einem Speiseaufzug, den der Dichterfürst für Karl August hatte installieren lassen, damit sie oben auf der Dachterrasse picknicken konn29 30
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Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000, S. 94. In der DDR wurde ein Unterschied zwischen dieser Gruppe gemacht, die die Juden umfasste und den »Kämpfern gegen den Faschismus«, die schon dem Namen nach aktiver klingt und aus Kommunisten bestand. Dass es jüdische Kommunisten gab, die gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben, passte in dieses Schema nicht hinein. Siehe Frank Stern: The Return to the Disowned Home – German Jews and the Other Germany. In: New German Critique 67 (1996), S. 57–72, hier S. 65. Hartewig fast diese Situation so zusammen: »Die lange Zeit Marginalisierten und Verfolgten entfalteten eine beträchtliche Kreativität, um die eigene biographische Entscheidung der unbedingten Assimilation zeit ihres Lebens zu befestigen. Dennoch waren die realen biographischen Erfahrungen nicht bruchlos in den Selbstentwurf integrierbar. In bestimmten sozialen und politischen Konstellationen drängten die Lebensgeschichten jüdischer Kommunisten und die Verfolgungsgeschichten ihrer Familien an die Oberfläche und verstießen gegen politisch-ideologische Sprachregelungen und Tabus.« Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR (wie Anm. 29), S. 106. Der dänische Kritiker Steen Klitgård Povlsen meint sogar, dass es sich bei dem Vater in letzter Instanz um »eine Parodie auf den Meister« handelt, was m. E. übertrieben ist. Steen Klitgård Povlsen: Damals in der DDR. Die Elegie als Theater in Barbara Honigmanns Buch. Rezension von »Eine Liebe aus nichts«. Übersetzt von Verena Stössinger. In: STANDart 6 (1992), H. 4, S. 12.
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ten« (LN 8). Sowohl das Schloss als auch der Begriff »Tischleindeckdich« evozieren Märchenhaftes, aber hier geht es nicht mehr so märchenhaft zu. Das Belvedere befindet sich in einem permanenten Zustand der Restaurierung, die keinerlei Fortschritte macht und schon vor Jahren zu einem Stillstand gekommen ist. Wie in Roman von einem Kinde sind die Bauarbeiten am Friedhof Symbol für die nicht funktionierende DDR, in Bezug auf das Schloss aber auch Sinnbild deutsch-jüdischen Zusammenlebens: »ein leeres Schloss, dessen Renovierung längst abgebrochen worden ist, und das deshalb wie eine hergerichtete Ruine an Vergangenes mahnt, das so als Ruine noch ungefüg in die Gegenwart hineinragt«.33 Goethe hat sich sein Leben lang immer wieder in schöne, junge Frauen verliebt; es sei an Friederike Brion, Charlotte Buff, Marianne von Willemer und seine letzte Liebe zu der neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow, zu deren Angedenken er als Vierundsiebzigjähriger die Marienbader Elegie verfasst hat, erinnert. Auch der Vater in dieser Erzählung ist von jungen Frauen angetan und scheint voller Unrast von einer zur anderen zu wandern auf der Suche nach Liebe, Zugehörigkeit oder Geborgenheit, die er aber nie zufriedenstellend bei ihnen findet. Vor dem Krieg war er mit Ruth verheiratet, mit der er sich nach vierzig Jahren in Frankfurt wiedertrifft, der Stadt, aus der sie gemeinsam ausgewandert sind. Wegen einer konservativen Zeitung, die sie bei dem ersten Zusammentreffen nach all diesen Jahren unter dem Arm hält, stuft er sie sofort als politisch rechts stehend ein, bricht einen Streit vom Zaun und verweigert ihr ein weiteres Zusammensein mit ihm. Die zweite Frau, Mutter der Erzählerin, ist eine Wienerin mit Vorfahren aus Bulgarien, die er in London kennen lernt und heiratet. Sie zögert, ihm nach dem Krieg nach Berlin zu folgen und wird auch nie heimisch in der Metropole. Nachdem ihre Tochter in studierfähigem Alter ist, kehrt sie aufatmend in ihr Heimatland zurück und vergisst so schnell wie möglich die Sprachen ihrer Exilländer. Dies hat zur Folge, dass die Tochter, die die Mutter-Sprache nie gelernt hat, sich am Ende nicht mehr mit ihr verständigen kann, ein starkes Symbol für die Kommunikationsschwierigkeiten und das Schweigen zwischen den Generationen, das die Schriftsteller der neuen jüdischen Literatur immer wieder in ihren Werken herausstellen. Die dritte Frau ist eine Schauspielerin und übt durch diesen Beruf so eine Faszination auf die Tochter aus, dass diese am selben Deutschen Theater, an dem sie wirkte, später Dramaturgin wird. Die vierte Frau schließlich ist Direktorin des Schlossmuseums in Weimar, was allerdings ein Beruf ist, in dem es nichts zu tun gibt, da die Restaurierungsarbeiten, wie schon erwähnt, nicht vorankommen. Mit diesen vier Frauen nicht genug, verliebt sich der Vater in den letzten Monaten seines Lebens noch in die Hauptdarstellerin in dem Stück seiner Tochter, das gerade in Frankfurt uraufgeführt wird. 33
Willi Goetschel: Eine Liebe aus nichts. Rezension von »Eine Liebe aus nichts«. In: Aufbau, 20. Dezember 1991.
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Neben dieser Parallele, den Don Juan zu spielen, gibt es weitere. Goethe ist der Nationaldichter schlechthin, der am Ende seines Lebens noch seine Autobiographie Dichtung und Wahrheit veröffentlichte. Der Vater der Erzählerin allerdings begnügt sich »[a]nstelle seiner eigenen Lebenserinnerungen« mit dem Schreiben von »Biografien von Leuten, die ihm möglichst unähnlich waren und die ihn überhaupt nicht interessierten, und veröffentlichte sie in einem Verlag, den er wegen seiner sonstigen Publikationen verachtete« (LN 93). Er ist also in dieser Hinsicht ein klägliches Abbild des großen Meisters. Der Ginkgo Biloba-Baum, den Goethe im Park von Weimar gepflanzt hat, ist ein Leitmotiv in diesem Roman. Der Vater beklagt, wenn er zusammen mit seiner Tochter die Orangerie besucht mit ihren seltsamen und fremden Bäumen, »immer wieder von neuem den mickrigen Zustand des Ginkgo Biloba und der anderen Bäume aus den fernen Ländern, die nie Früchte trugen« (LN 93). Man könnte diesen Baum, dessen zweigeteiltes Blatt von Goethe in einem seiner berühmtesten Gedichte besungen worden ist, als Metapher für die negative Symbiose zwischen Juden und Deutschen sehen.34 Das Blatt ist im Kern verbunden, teilt sich dann aber in zwei Hälften; seit dem Völkermord sind Juden und Deutsche untrennbar miteinander verbunden und kommen durch ihre gemeinsame Geschichte nicht voneinander los. Was diesen Vergleich hervorruft, ist der mickrige Zustand dieses Baumes und der anderen fremden; es scheint so, als würden sie auf deutschem Boden nicht gut gedeihen. In Paris gibt es ganze Ginkgobaum-Alleen, wie die Erzählerin später mit Alfried entdeckt, die anscheinend sehr gut wachsen. Der Vater nennt sogar seinen Hund nach der verballhornten Form »Bilbo«. Dies alles weist auf die gründliche Vertrautheit des Vaters mit deutschem Bildungsgut hin, und darin zeigt sich die Tragik der jüdischen Vätergeneration; es handelt sich bei dem Vater der Erzählerin um ein Mitglied des Bildungsbürgertums, das fest an eine Integrati34
Für eine vertiefende Darstellung der Geschichte des Gedichtes »Ginkgo Biloba« siehe Siegfried Unseld: Goethe und der Ginkgo. Ein Baum und ein Gedicht. Frankfurt a. M.: Insel 2003. Wenn ich hier von Juden und Deutschen spreche, so ist mir sehr wohl bewusst, dass es deutsche Juden gibt und ein Terminus den anderen nicht ausschließt. Ich benutze diese Unterscheidung im Sinne von dem nachfolgenden Zitat von Peter Honigmann: »Die Menschen haben eine ausgeprägte Berührungsangst bei der Begegnung mit Juden. In der Regel versuchen sie, darüber hinwegzukommen, indem sie das Problematische leugnen und dem Juden sagen, er sei in ihren Augen jetzt ein Deutscher wie alle anderen auch. Unbewußt ist das der Versuch, ihn in den Bannkreis der Schuld mit hineinzuziehen. Es ist zu schwer, die Spannung zwischen Juden und Deutschen auszuhalten. Für den Juden ist das eine ebensolche Zumutung wie der entgegengesetzte Versuch einer philosemitischen Annäherung, wie er besonders in christlichen Kreisen verbreitet ist.« Peter Honigmann: Über den Umgang mit Juden und jüdischer Geschichte in der DDR. In: Juden in der DDR. Geschichte – Probleme – Perspektiven. Hg. von Siegfried Theodor Arndt, Helmut Eschwege, Peter Honigmann und Lothar Mertens. Köln: Brill 1988 (Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte; 4), S. 101–123, hier S. 111.
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on in Deutschland geglaubt hatte. Barbara Honigmann fasst die Assimilationsbemühungen in ihrem Aufsatz über ihre männliche Ahnenreihe so zusammen: Mein Urgroßvater, mein Großvater und mein Vater haben davon geträumt, in der deutschen Kultur »zu Hause« zu sein, sie haben sich nach ihr gesehnt, sich ihr entgegengestreckt und gereckt und unglaublich verrenkt, um sich mit ihr vereinigen zu können. Statt Vereinigung haben sie meistens Ablehnung und Abstoßung erfahren, und meinem Vater ist es dann vergönnt gewesen, den endgültigen Untergang der deutsch-jüdischen Geschichte mit eigenen Augen anzusehen. (DDD 45)
Eine der wichtigsten Episoden in Bezug auf den Vater ist die MarthaGeschichte, die zum Sinnbild wird für das Vergessen des Wichtigsten, für das Sich-Verlieren-in-Details mit der Folge eines äußerst peinlichen öffentlichen Auftritts. Der Vater hatte, wie Goethe, als Junge begeistert Theater gespielt und einmal der Familie angekündigt, dass er ein Theaterstück mit dem Titel »Martha« schreiben wollte, woraufhin sein Vater Familie und Kollegen in die Wohnung einlädt. Der Sprössling schneidet Kostüme zurecht, dekoriert den Salon, verfasst ein Personenverzeichnis, vergisst aber in der Aufregung, das Stück selber zu schreiben. »›Martha‹ war nur mein Traum von einem Theaterstück gewesen, der Traum von einem großen Abend, der nur mein Abend, mein Erfolg und Ruhm gewesen wäre, aber das Stück existierte gar nicht, ich hatte ganz vergessen es zu schreiben« (LN 37). Die Grundidee ist, wie noch von keinem Kritiker bemerkt, aus Wilhelm Meisters Lehrjahre entlehnt.35 Im 1. Buch 7. Kapitel erzählt Wilhelm Meister Mariane von seiner Jugend und seiner Begeisterung für das Theater. Er wollte zusammen mit seinen Freunden Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso aufführen. Er ist so begeistert davon, dass er selber die Rollen von Tankred und Reinaldo spielen will und es gelingt ihm, seine Spielkameraden davon zu überzeugen, bei dem Unternehmen mitzumachen. Der Leutnant, ein Mentor des jungen Theatermannes, hilft ihm bei den Bühnenarbeiten und nun soll das Stück anfangen. Indessen war es Abend geworden, man hatte die Lichter angezündet, die Mägde und Kinder saßen auf ihren Plätzen, das Stück sollte angehn, die ganze Heldenschar war angezogen; nun spürte aber jeder zum erstenmal, daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung, da ich ganz von meinem Gegenstande durchdrungen war, hatte ich vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er es zu sagen habe; und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war es den übrigen auch nicht beigefallen: sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in deren Welt ich sie versetzt hatte. Sie standen alle erstaunt, fragten sich einander, was zuerst kommen sollte? und ich, der ich mich als Tankred vornean gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse aus dem Heldengedichte herzusagen an. Weil aber die Stelle gar zu bald ins Erzählende überging und ich in meiner eignen Rede endlich als dritte Person vorkam, auch der Gottfried, von dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte, so mußte ich unter 35
Als ich Barbara Honigmann in meinem Interview darüber befragte, meinte sie, dass ihr das selber noch nicht aufgefallen wäre.
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großem Gelächter meiner Zuschauer eben wieder abziehen; ein Unfall, der mich tief in der Seele kränkte.36
Er verliert sein Gesicht nicht vollends, indem er umdisponiert und mit seinen Kameraden David und Goliath aufführt. Die Lehre, die er aus diesem Vorfall zieht, ist folgende: »Doch schwur ich mir, wenn ich nur einmal aus dieser Verlegenheit gerettet wäre, mich nie, als mit der größten Überlegung, an die Vorstellung eines Stücks zu wagen«.37 »Martha« steht im Roman für hochfliegende Pläne, die platzen, weil man in der Aufregung das Wichtigste vergisst; die Frage stellt sich dann aber, was das Wichtigste ist. Eine der grundlegendsten Komponenten der Persönlichkeit des Vaters war sicher sein Judentum, wegen dessen er während des Nationalsozialismus verfolgt wurde. Der Sozialismus hingegen gab vor, Unterschiede ethnischer und religiöser Art einzuebnen, weswegen der Vater als gläubiger Marxist sein Judesein in der DDR unterdrückte mit der Folge, dass die Tochter nur vage Vorstellungen von der Familiengeschichte hat. Diese muss sie sich erst in mühevoller Kleinarbeit zusammenstückeln. Der Name »Martha« steht auch für Desillusionierung, das Zerschellen einer Utopie und den Unterschied zwischen Schein und Sein, Hauptthemen in Eine Liebe aus nichts. Desillusioniert ist nicht nur der Vater von der fehlgeschlagenen deutsch-jüdischen Symbiose, von seinen zerstörten Hoffnungen, noch einmal in Deutschland Fuß fassen zu können, von den Ehen, die nicht gut gehen, sondern auch die Tochter, die sich das Leben in der Emigration vielleicht ebenfalls leichter vorgestellt hatte. Vater und Tochter sind voneinander enttäuscht und können den Ansprüchen aneinander nicht genügen. Der Vater kritisiert die kleine Gestalt der Tochter und macht »abfällige Bemerkungen« über ihr Äußeres (LN 23). Er versteht auch keinen Spaß, als sie sich als kleines Kind schminkt und verkleidet; fassungslos wischt er ihr alles gleich wieder ab, versteht also das spielerische Ausprobieren verschiedener Identitäten nicht (LN 25). Später wirft er ihr mangelnde Liebe, Kälte und Gleichgültigkeit vor. Da der Vater aber die Scheidung von ihrer Mutter initiierte, fühlt sich die Tochter von ihm im Stich gelassen. Sie wurde durch die Scheidung gezwungen, ihr Leben zwischen Vater und Mutter aufzuteilen und lebte bereits als Kind aus einem Karton, der Vorbote wird für den Container, in den sie ihre ganze Habe packen muss, bevor sie nach Paris umzieht. Das Leben aus dem Koffer oder hier Karton entbehrt jeder Kontinuität und die Tochter bezeichnet ihre Liebe zu dem beziehungsunfähigen Vater »wie eine Liebe von weither«, als ein »Einsammeln von Begegnungen und gemeinsamen Erlebnissen« und »nie ein Zusammensein« (LN 24). Als der Vater gar mit der Museumsdirektorin nach Weimar umzieht, fühlt sie sich in diesen Beziehungsgeflechten vollends an 36 37
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Stuttgart: Reclam 2003 (Universalbibliothek; 7826), S. 26. Ebd., S. 27.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
den Rand gedrängt, da sie nun auch noch die Reise in eine andere Stadt antreten muss, um den Vater zu sehen. »Das Warten auf gepacktem Koffer« ist Symbol für das provisorische Leben der Juden im Nachkriegsdeutschland. Viele Familien wollten eigentlich nach Kanada, in die USA oder nach Israel weiterziehen, eine Menge jedoch schaffte die Auswanderung nicht und blieb in West- oder Ostdeutschland, aber immer auf dem Sprung, immer bereit, abzureisen, falls die Lage zu brenzlig würde.38 Wie die Tochter unter der Trennung der Eltern leidet, verdeutlicht folgende Textstelle: In meiner ganzen Kindheit bin ich zwischen meinen Eltern hin und her gependelt, und es hat mir weh getan, zu kommen, zu gehen, wieder zu kommen und wieder zu gehen, und so hat es wohl zwischen uns nie etwas ganz Vertrautes gegeben, weil sich immer von neuem, bei jedem Wiedersehen, die Schalen der Fremdheit darüber gelegt haben. (LN 28)
Als sie sich entschließt, ein neues Leben in Paris anzufangen, und dies ihrem Vater mitteilt, kontert der prompt mit einem Brief, in dem er aus Hölderlins Gedicht »Der Abschied« die drei Anfangszeilen zitiert, in denen die Trennung als »Mord« bezeichnet wird. Er unterstreicht dieses Wort, um die Schuldgefühle der Tochter zu verstärken.39 Die Verletzungen gehen weiter auf beiden Seiten. Der Vater verweigert ein Zusammentreffen mit seiner Tochter in Frankfurt und zeigt Correll, der Schauspielerin, statt Ruth oder seiner Tochter die Orte seiner Kindheit, obwohl die Tochter schon so gespannt war, endlich etwas über die Ahnen zu erfahren. Die letzte Gelegenheit, zusammen die Orte der Erinnerung zu besuchen, ist verpasst und die Tochter wird permanent im Dunkeln bleiben was die Geschichte ihrer Vorfahren angeht. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als in einen Touristenbus einzusteigen, der vorgibt, die Bergstraße zu erkunden. Der Reiseführer erwähnt aber mit keinem einzigen Wort die Präsenz der Juden in der Gegend seit der Römerzeit und macht nur ständige Anspielungen auf die Nibelungensage, eine Legende, deren musikalische Umsetzung durch Hitlers Vorliebe für Wagner im Nationalsozialismus besonders populär wurde. Die Erzählerin wird also in Westdeutschland ebenfalls laufend daran erinnert, dass sie marginalisiert ist und
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Susan Stern schreibt: »As long as it was uncertain whether the Jews had a future in the country (and it was not until the 1980s that the Jews stopped sitting on packed suitcases and acknowledged that they were around to stay), there was no pressing need to make their history available to a wider audience.« Susan Stern: Speaking Out. Jewish Voices From United Germany. Chicago: edition q 1995, S. 24. Für das gesamte Gedicht siehe Friedrich Hölderlin: »Der Abschied«. Erste Fassung. In: Gedichte nach 1800. Hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart: W. Kohlhammer 1951, Bd 2, S. 24f.
3 Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater
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einer Minderheit angehört, deren Geschichte von der christlichen Mehrheit völlig unterschlagen wird.40 Bei einem Ausflug auf kleine Friedhöfe entlang der Bergstraße findet sie zwar viele Gräber mit den Familiennamen Weil und Sander, hat aber kein einziges genaues Datum zur Hand, das ihr hätte Hinweise geben können, welches Grab genau zu ihrer Familie gehörte. Das Schweigen des Vaters ist Schuld an dieser Unkenntnis; sie hat ihn immer nur in Bezug auf seine wechselnden Frauen gesehen, nie aber in einem größeren Zusammenhang der Generationen. Ein Leitmotiv, das in Barbara Honigmanns Texten über ihre Ahnen immer wieder vorkommt, ist, dass sie nie etwas Konkretes findet; die Vergangenheit entzieht sich ihr und Orte, die der Mutter oder dem Vater etwas bedeutet haben, bleiben stumm und lösen keinerlei Erkennen oder Heimatgefühl in ihr aus. Sie fragt sich, warum sie diese Suche im Touristenbus überhaupt angetreten hat: Wollte ich mich etwa, bevor ich in die so ersehnte Fremde fuhr, noch einer Herkunft oder Heimat versichern? Aber ich habe nichts entdeckt, außer der Affäre meines Vaters mit der Hauptdarstellerin. Meine Herkunft von dort war ganz unsichtbar geworden. Ich habe nichts finden können, keine Erinnerung, kein Zeichen, kein Andenken und keine Spur. (LN 69)
Es scheint so, als würden sich Vater und Tochter in einem Kampf der Machtverhältnisse befinden und sich gegen einander Punkte auf ihr Schuldenkonto aufrechnen. Von der Perspektive der Tochter aus gesehen hat der Vater Schuld an ihrem unsteten Leben aus dem Karton, Schuld, dass sie sich in Frankfurt kein letztes Mal mehr treffen, und durch sein Schweigen Schuld an ihrem Unwissen über die Vorfahren der Familie. Der Vater versteht nicht, dass die Tochter eigene Wege gehen und ihr eigenes Leben führen muss und wirft ihr Kälte und Gleichgültigkeit vor. Durch ihre Ausreise hätte sie ihn endgültig im Stich gelassen; er »zwingt« sie gleichermaßen durch seinen Tod zu einer letzten Rückreise in die DDR. Die Tochter wiederum nötigt ihn in dem letzten Telefongespräch zuzugeben, dass er sterbenskrank und nicht mehr fähig ist zu reisen, als seine ersten Gedanken der Schauspielerin gelten und nicht der Tochter. Sie kommt sich durch ihre Rückreise in die DDR wie in einem Spiel vor, in dem es heißt: »Der Spieler setzt wieder aufs Anfangsfeld zurück, und das Spiel fängt noch einmal von vorne an«, ausgedrückt in der kreisförmigen Struktur des Romans (LN 90). Sie hat den Eindruck, als hätte ein anderer Vater, nämlich ›Vater Staat‹ Einwände gegen ihre permanente Ausreise: »Es 40
In Soharas Reise findet sich ein ähnliches Verwischen der Spuren jüdischer Geschichte im Geburtsort des großen Gelehrten Raschi, Troyes: »Dort ist Raschi, der größte Gelehrte unseres Volkes, geboren und gestorben, und es ist dort ein Wunder geschehen. In der Stadt gibt es allerdings keinen Hinweis darauf, nicht auf Raschi und nicht auf das Wunder, obwohl sonst fast an jedem Haus eine Tafel für irgendeinen unbekannten General angeschlagen ist. Die Eingeweihten wissen natürlich, wo sich der Ort des Raschi-Wunders befindet« (SR 34).
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
schien mir, als ob man mich dort nicht loslassen wollte, als ob ich alles noch einmal anschauen sollte, mit einem Blick, der vielleicht schon versöhnt wäre, und mich fragen, warum ich denn überhaupt weggefahren war« (LN 91). In einer Variation auf das Rilkegedicht vom Auszug des verlorenen Sohnes, kehrt hier die verlorene Tochter wieder zurück, aber nur, um endgültig vom leiblichen Vater und Vater Staat Abschied zu nehmen. Trotz des Machtkampfes zwischen den Generationen gibt es auch Momente der Trauer und Empathie. Als die Tochter hört, dass sich der Vater kaum noch rühren kann, versucht sie, ebenfalls starr in ihrem Bett zu liegen, bis sie es vor Schmerzen nicht mehr aushält. In ihrer Trauer über den Tod des Vaters ist sie völlig allein in der Millionenstadt und hat niemanden, mit dem sie diese Gefühle teilen könnte. Zurück in Weimar nimmt sie sich zwei Erinnerungsstücke an den Vater mit, den englischen Taschenkalender und die russische Uhr. Beide Stücke symbolisieren Zeit. Die Uhr bleibt stehen und muss repariert werden, Zeichen dafür, dass die Lebenszeit des Vaters abgelaufen ist. Den Taschenkalender aus dem Jahre 1944, den der Vater bereits auf 1946 im Jahr seiner Emigration umdatiert hat, benutzt die Tochter nun für ihre eigenen Beobachtungen und datiert ihn deshalb ein zweites Mal um: Ich trug den Todestag meines Vaters und den Tag seines Begräbnisses ein und den Tag, an dem wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und dann habe ich angefangen, die leeren Seiten vollzuschreiben, so daß unsere Aufzeichnungen ineinander verliefen in dem englischen Kalender, der sowieso schon längst abgelaufen war. (LN 100)
Das In-Einander-Verlaufen der Aufzeichnungen ist ein starkes Symbol für das Miteinander-Verknüpft-Sein von Vater und Tochter. Die Tochter lebt nun, wie der Vater im Exil, weg von Deutschland; sie steigt in gewisser Weise in seine Fußstapfen, lebt zwar ihr eigenes Leben, kann aber seine Geschichte, die in ihr weiterlebt, nicht leugnen. Sie ist die nächste in der Generationenfolge, die das Nomadenleben des Vaters im freiwilligen Exil fortlebt.41 Die Liebe zu dem Vater glich einer Liebe aus nichts, wie der Titel des Buches angibt; die Textstelle jedoch bezieht sich konkret auf das Verhältnis zwischen der Dramaturgin und ihrem Liebhaber Alfried. Es gibt zwischen der 41
Nolden schreibt dazu: »Diese narrative Kontinuitätslinie wird die Tochter aber nicht auf den Weg in die Assimilation führen, den der Vater auch noch nach Kriegsende gegangen war. Die Möglichkeit, sich in die Geschichte des Vaters ›einzuschreiben‹, besteht nur, weil das Kalenderheft ›sowieso schon längst abgelaufen war‹. Diskontinuitäten scheinen zu den Voraussetzungen von Kontinuität in der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich zu gehören.« Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 112. Auch Jack Zipes sieht dieses Souvenir eher skpetisch: »It would appear that the diary might signify a hopeful end of the narrative, but Honigmann’s lapidary images and stoic style are more suggestive of capsulation.« Jack Zipes: The Contemporary Fascination for Things Jewish. In: Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature Since 1989. Ed. by Sander L. Gilman and Karen Remmler. New York: New York University Press 1994, S. 15–45, hier S. 33.
4 Das Verhältnis zu Alfried
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Liebe zu ihm und der zum Vater noch weitere Parallelen. So wie ihr Geliebter sich vor der Erzählerin verbirgt, so entzieht sich der Vater seiner Tochter, symbolisiert in den Versteckspielen des Vaters mit seinem Hund Bilbo im Park des Belvederer Schlosses: Vor allem ging er im Park spazieren und spielte ein kindisches Spiel mit seinem Hund, der wegen des Ginkgo Biloba hieß. Er kletterte in einen riesigen alten Baum hinein, der innen ganz ausgehöhlt war und dessen starke Äste sich nah am Boden verbreiteten, so daß er wie eine Burg mit äußeren Höfen war; darin verschanzte sich mein Vater und ließ sich von dem Hund suchen. (LN 93)
Der Vater will nach Papacek von dem Hund »gefunden, erkannt und damit wohl erlöst werden«. Die Verbundenheit zu dem Tier stellt für ihn eine »Ersatz-Beziehung« für diejenige zu seiner Tochter dar, die gerne den emotionalen Platz, den der Vater für den Hund übrig hat, einnehmen will.42 Dass sich die Erzählerin mit dem Hund des Vaters identifiziert, beweist ein Traum von ihm nach seinem Tod. Sie meint den Vater etwas Wichtiges sagen zu hören und stellt sich die verschiedenen Schauplätze vor, die sie gemeinsam besucht hatten. Unter anderem sieht sie sich mit ihm in der Orangerie spazieren gehen, wo er den Hund ruft: »Der Name des Hundes verwandelte sich in meinen eigenen, und ich hörte meinen Vater meinen Namen rufen, so lange, bis ich aufwachte« (LN 88). Der abwesende Hund spielt auch eine Rolle in dem Traum, in dem die Tochter den Tod ihres Vaters durch Ertrinken oder sich Ertränken vorhersieht. Es ist nicht klar, ob der Vater im Traum Selbstmord begeht; entscheidend ist ihr Glauben, die vier Frauen des Vaters hätten alles gewusst, während sie von seinem bevorstehenden Tod nichts geahnt hat. Sie meinte, Bilbo hätte sicher Hilfe geholt und ihn gerettet, wenn er noch gelebt hätte: »Aber Bilbo war schon lange tot« (LN 80). Die Tochter, die durch ihren Auszug dem Vater sozusagen den Todesstoß gegeben hat, ist nicht mehr da, um ihn zu erlösen.
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Das Verhältnis zu Alfried
Das Verhältnis zwischen der Jüdin und dem Nichtjuden Alfried ist vom Völkermord an den Juden überschattet. Sie hasst Alfrieds Namen, weil er zu germanisch klingt und ersetzt ihn mit »Liebster« oder »Geliebter«, um ihn nicht aussprechen zu müssen. Sie will keinen nichtjüdischen Deutschen lieben, »denn ich konnte, wollte und durfte den Germanen nicht verzeihen, was sie den Juden angetan hatten« (LN 46). Hier ist evident, dass die Erzählerin Alfried nicht als Individuum wahrnimmt, sondern als Repräsentanten einer ganzen Gruppe. Obwohl sich das Paar voneinander angezogen fühlt, verbietet die deutsche Vergangenheit ein ungezwungenes Miteinandersein.43 Weder er noch 42 43
Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 69. Dasselbe gilt für die Liebe zwischen Anna und Leon und Eva und Klaus in Alles, alles Liebe!
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
sie finden je zu einer natürlichen Umgangsform, Indiz für die fehlende Normalität des Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden. Die Beziehung zwischen Alfried und der Erzählerin ist paradigmatisch für die These dieses Buches, dass Honigmann ihre Charaktere so zeichnet, dass sie zwischen Enthüllen und Verbergen oszillieren. Alles, was Alfried betrifft, hat den Hauch des Verborgenen an sich. Er war Regisseur am Deutschen Theater in Berlin und hatte ein heimliches Verhältnis mit der Dramaturgin. Er besuchte seine Freundin immer nur für ein paar Stunden in der Stille der Nacht und verließ sie vor dem Morgengrauen. Alfried wollte das Verhältnis vor der Öffentlichkeit verbergen. Aber nicht nur nach außen hin, sondern auch innerhalb der Beziehung versteckten sich die Partner voreinander. Sie sprachen nicht direkt miteinander, sondern verständigten sich durch Pantomime, missverständliche Gesten und Zettel, die sie sich gegenseitig unter die Tür schoben, wenn beide im Hause waren, »denn so verbargen wir uns voreinander. Wir sagten nie, ich liebe dich, und nie, ich liebe dich auch. Wir gestikulierten nur, und die Gesten konnte man immer auch anders verstehen. Vor allem eben: kein Wort. Eine schwerverständliche Pantomime« (LN 44). Alfried ließ seine Freundin beispielsweise nie in seine Wohnung; sie war dort nicht willkommen. Dieses seltsame Verhalten ließ sie einen Plan finden, doch einmal, als Alfried sich auf einer Reise befand, hineinzukommen. Dort fand sie nichts Außergewöhnliches außer schmutzigem Geschirr, eventuell wie die Dreckwäsche in Roman von einem Kinde Symbol für die schmutzige Vergangenheit der Deutschen. Statt selbstbewusst und triumphierend einen Zettel mit den Worten »Ich war da« zu hinterlassen, wie sie es sich ausgemalt hatte, schlich sie sich davon und rührte nichts an. Wie in der Szene im Zug von »Wanderung« aus Roman von einem Kinde, wo die Erzählerin Rache an den selbstzufriedenen biertrinkenden Deutschen nehmen will, geschieht nichts Aggressives; in beiden Fällen verlässt sie das Land, in dem es ihr unerträglich wird zu wohnen. Für Alfried sind bestimmte Themen Tabu: Er vermied jedes Gespräch über unser Herkommen, unsere Gleichheit oder Ungleichheit, er wollte diese Wirklichkeit meines Lebens nicht sehen, die ich nicht gewählt hatte, aber die doch schwer wog und deren innere Wahrheit offensichtlich und verborgen zugleich war, auch für mich selbst. (LN 46f.)
Sie spricht hier von der Trennwand zwischen der Zugehörigkeit zu der Gruppe der Täter und der der Opfer. Dass ihr Herkommen, wie sie im Zitat oben sagt, auch für sie selbst verborgen und schwierig war, bezieht sich auf das Schweigen des Vaters über die weiteren jüdischen Familienmitglieder, die vielleicht in Lagern umgekommen sind oder anderweitig Opfer des Völkermordes an den Juden geworden sind. Dies alles bewirkt in ihr Unsicherheit und lässt sie auf Spurensuche gehen, von der sie jedes Mal frustriert zurückkehrt. Das Verbergen voreinander nimmt noch andere Formen an. Die Partner weichen dem Blick voneinander aus: »Dabei haben wir uns nie richtig angese-
4 Das Verhältnis zu Alfried
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hen, nur verstohlen und verschämt von der Seite und von weitem, nie wirklich ins Gesicht, wie aus Angst nach einer schrecklichen Nacht, einer Bluthochzeit, am hellichten Tag danach« (LN 47). Das Wort »Bluthochzeit« ist ein intertextueller Verweis Honigmanns auf Lorcas Drama Bodas de sangre, in dem die Braut von ihrem früheren Liebhaber Leonardo am Tag der Hochzeit dem Bräutigam weggestohlen wird. Nachdem sie beide von der Hochzeitsgesellschaft verfolgt werden, kommt es zu einer Messerstecherei zwischen den Rivalen, in der beide sterben. Bluthochzeit bedeutet also in diesem Zusammenhang etwas Verpöntes, ein Verhältnis, das Empörung hervorruft und das Leben aller Beteiligten zerstört.44 Die Beziehung zwischen Alfried und der Erzählerin muss man im Zusammenhang mit der These der negativen Symbiose Dan Diners sehen, die seit Auschwitz zwischen Deutschen und Juden besteht. Diner schreibt: Seit Auschwitz – welch traurige List – kann tatsächlich von einer »deutsch-jüdischen Symbiose« gesprochen werden – freilich einer negativen: für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht. Denn Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis aufeinander bezogen worden. Solch negative Symbiose, von den Nazis konstituiert, wird auf Generationen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen.45
Die Erzählerin empfindet, wie die Deutschen zu den Juden oder umgekehrt, eine Art Hassliebe zu Alfried: Denn wie gegen meinen Willen liebte ich ihn ja, und diese Liebe ist mir oft wie ein Zusammenhang oder gar Zusammenhalt vorgekommen, aus dem wir nicht heraus könnten. Manchmal wünschte oder fürchtete ich, daß wir ein Kind hätten. Ich sah das Kind aber in Alpträumen, wie es nur lose aus einzelnen Teilen gefügt war, die nicht zusammenhielten, und wie es dann auseinanderfiel und zerbrach und nicht aufrecht bleiben konnte. (LN 46)
Das Kind der Alpträume ist also nicht lebensfähig, fällt auseinander wie Humpty Dumpty in Alice in Wonderland und kann nicht existieren.46 Alfried 44
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In Alles, alles Liebe! spielt Barbara Honigmann ebenfalls, in größerem Maße als hier, auf das Werk des spanischen Autors an. In dem Briefroman versuchen die Freunde eine private Aufführung des Dramas Das Haus der Bernarda Alba zu inszenieren. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Babylon 1 (1986), S. 9–20, hier S. 9. Humpty Dumpty wird bei anderen jüdischen Schriftstellerinnen der Generation nach der Shoah Symbol für die Zerrissenheit der Identität. Siehe dazu die Erzählung »Juliette« in Katja Behrens’ Band Salomo und die anderen, vor allem S. 29. Katja Behrens: Juliette. In: Salomo und die anderen. Jüdische Geschichten. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993, S. 19–42. Esther Dischereits Merryn schließt mit den Reimen über
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
erfährt von diesen Träumen nichts, wie er überhaupt jegliches Gespräch über ihr gegenseitiges Herkommen, wie schon bemerkt, vermeidet: »wir schwiegen über alles, als ob da nichts wäre; eine Anspielung war schon zuviel und jede Frage eine Zumutung« (LN 47). Das Verdrängen und Beiseiteschieben von Themen, die unbedingt ausgesprochen werden müssten, verhindern eine echte Beziehung. Nach dem Wegzug Alfrieds aus der DDR, womit das intime Verhältnis abbricht, ist es bezeichnend, dass ihm die Erzählerin lange Briefe schreibt über ihre Liebe zu ihm, die aber alle, da sie seine Adresse nicht weiß, im Müllschlucker landen, »wo alles, was man hineinwirft, so tief fällt, daß man es nicht wiederfinden oder wiederholen kann« (LN 43). Diese in einer Aporie endende Beziehung erinnert an Gershom Scholems These der einseitigen Liebesbeziehung zwischen Deutschen und Juden, die besagt, dass zwar viele Juden in Deutschland die Integration oder Assimilation anstrebten, sie ihnen aber nicht gewährt wurde, da das Werben einseitig war und von der anderen Seite kein Zeichen kam. Die Juden wurden, wie die Erzählerin aus der Wohnung Alfrieds, aus Deutschland ausgesperrt.47 Das Verhältnis wird noch dadurch verkompliziert, dass es eine Rivalität zwischen den Partnern gibt, wobei sie nicht um den Sieg, sondern um die Niederlage wetteifern (LN 47). Wer ist das größere Opfer, scheint die Frage zu sein, die ein normales Verhältnis zwischen beiden unterminiert. Der Mann, der noch dazu aus der Gruppe der Täter stammt, fühlt sich gezwungen, sich im Geschlechterkampf als Verlierer zu sehen, während die Frau, aus der Gruppe der Opfer kommend, historischen Anspruch auf die Opferrolle hat. Peter Honigmann schreibt in seinem aufschlussreichen Essay »Über den Umgang mit Juden und jüdischer Geschichte in der DDR«, wie schwierig das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen in der DDR war, das seine Frau exemplarisch mit der scheiternden Partnerschaft zwischen Alfried und der Erzählerin porträtiert: Es scheint, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird für ebenso schädlich gehalten wie diese Vergangenheit selbst. In einer solchen Atmosphäre des Tabus und der parteioffiziellen Lesart von Geschichte kann zwar die physische Existenz von Juden gesichert werden, ihre seelische Existenz wird aber durchaus komplizierter. Die Menschen haben eine ausgeprägte Berührungsangst bei der Begegnung mit Juden. In der Regel versuchen sie, darüber hinwegzukommen, indem sie das Problematische leugnen und dem Juden sagen, er sei in ihren Augen jetzt ein Deutscher wie alle anderen auch. Unbewußt ist das der Versuch, ihn in den Bannkreis der Schuld mit hineinzuziehen. Es ist zu schwer, die Spannung zwischen Juden und Deutschen auszuhalten. Für den Juden ist das eine ebensolche Zumutung wie der entgegengesetzte Versuch einer philosemitischen Annäherung, wie er besonders in christlichen Kreisen verbreitet ist. Der historische Konflikt wird nicht dadurch bewältigt, daß sich Deutsche nachträglich auf die Seite der Opfer stellen. Es muß ge-
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Humpty Dumpty ab. Esther Dischereit: Merryn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 118. Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In: Judaica 2. Hg. von Rudolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Bibliothek Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp; 263), S. 20–46.
4 Das Verhältnis zu Alfried
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lingen, das gegenseitige Verhältnis zu reflektieren, ohne die Fronten zu wechseln. Diese Reflektion wird in der DDR aber verhindert oder in historischen Klischees aufgelöst.48
Alfried scheint die Emanzipationsbemühungen seiner Ex-Freundin, die er in Paris wiedertrifft, eher zu belächeln. Seine Aussagen zu dem Thema Neuanfang erinnern an die des Frankfurter Regisseurs: Aber Alfried sagte, es gäbe kein neues Leben, nur den Traum von einem neuen Leben, den Traum, daß man noch einmal ganz von vorne anfangen könne, als ein anderer mit einem anderen Namen, in einer anderen Gestalt, an einem ganz anderen Ort; daß man nicht noch einmal mit A anfangen müsse, sondern könne beginnen mit B. Aber das sei eine Illusion. (LN 75)
Bevor sie sich in Paris treffen, schreibt er ihr, sie solle zu ihm nach München ziehen und er könne ihr helfen, eine Stelle zu finden, worauf sie ihm in einem Antwortbrief mitteilt, dass sie endlich keine Gehilfin mehr sein will. Sie argumentiert: »Wir sind ja nicht in ein Exil gegangen, um zurückzukehren, sondern sind doch ausgewandert, um etwas ganz Neues anzufangen, ist es nicht so?« (LN 72) Alfried begreift auch nicht, dass es für seine jüdische Ex-Partnerin untragbar ist, wieder in Deutschland, auch wenn es nun das westliche ist, zu wohnen. In Paris geht das Verstecken voreinander weiter. Trotz eines Gastspiels des Münchner Theaters in Paris, verschweigt ihr Alfried dies in dem Brief. Nur durch Zufall liest sie die Annonce in einem öffentlichen Anschlag und besucht die Proben. Dort skizziert sie, im Dunkeln des Theaterraumes verborgen, ihren einstigen Geliebten, aber immer nur »in einem Viertelprofil«, nie von vorne, ein weiteres Indiz dafür, dass sie sich noch nicht ins Gesicht sehen können (LN 74). Nachdem sie ihm die Orte ihres neuen Lebens gezeigt hat, schlendern sie eine Allee von Ginkgobäumen entlang. Damals in Weimar hatten sich beide Liebhaber ein Blatt von dem Baum in die Tasche gesteckt; weder sie, die ihren Blumenurwald kurz vor ihrem Entschluss auszuwandern gerodet hat, noch er besitzen dieses Zeichen an eine gemeinsame Vergangenheit, was auch symbolisch eine gemeinsame Zukunft unterbindet. Das Sinnbild des Ginkgobaumes verbindet Goethe, seine im Sande verlaufene Liebe zu Marianne von Willemer, die »Liebe aus nichts« zwischen der Erzählerin und Alfried und damit das schwierige Verhältnis zwischen Juden und Deutschen; schließlich fungiert der Baum auch als Verbindung zwischen Vater und Tochter und ihrer Herkunft aus dem Bildungsbürgertum. Auf ihrem Erinnerungsgang49 im Park von Belvedere, auf dem sie nach dem Begräbnis im Geiste Abschied nimmt von ihrem 48
Honigmann, Über den Umgang mit Juden und jüdischer Geschichte in der DDR (wie Anm. 34), S. 111. 49 Diese Szene erinnert an den Gang zum Friedhof in »Doppeltes Grab«, nachdem Gershom Scholem gestorben ist und Barbara Honigmann das Bedürfnis hatte, den gleichen Gang, den sie alle vier zusammen gemacht hatten, noch einmal alleine anzutreten.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
Vater, steckt sich die Erzählerin wieder ein paar Blätter in ihre Manteltasche im Wissen, dass sie zerfallen werden und sich »mit dem Dreck und den Krümeln auf dem Boden der Tasche vermischen« werden. Sie will »den Mantel dann nicht zur Reinigung bringen, damit der Blätterstaub auf dem Grund der Tasche bleibt« (LN 105). Diese berührbaren Memorabilien sind einerseits wichtig auf der »recherche du temps perdu« der Erzählerin, obwohl sie andererseits zugibt, dass sich Erinnerungen nicht in den Dingen halten. Nach dem Begräbnis steht sie im Zimmer im Schloss und überlegt, was sie als Erbstücke mitnehmen soll und kommt zu folgender Erkenntnis: »Aber ich begriff, daß die Erinnerung aus den Gegenständen herausgefallen war; jetzt würden sie weggeworfen werden oder weggeschenkt, und andere Leute können ihre Geschichte wieder neu hineinlegen, aber die Geschichte meines Vaters war darin zu Ende, in den Dingen hielt sie sich nicht mehr« (LN 9f.). Wie in Frankfurt bei ihrem eigenen Drama, wartet die frühere Dramaturgin das Ende des Schauspiels unter der Leitung von Alfried in Paris nicht ab, sondern geht traurig nach Hause, heftet die Zeichnung seines Viertelprofils neben den Stadtplan von der Metropole und nimmt Abschied von ihrer Liebe: »eine Liebe aus nichts, in der nichts passiert und die sich endlos im Nichts verliert« (LN 78).
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Die Beziehung zu Jean-Marc
Als Gegenstück zu dem Verhältnis mit dem Nichtjuden Alfried konstruiert Honigmann eines, das die Erzählerin mit dem New Yorker Juden Jean-Marc, der in Paris sein Architekturstudium abschließt, eingeht. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Riga und man kann annehmen, dass sie vor der Judenverfolgung nach Amerika ins Exil geflohen sind, eine weitere Präsenz von Exilanten im Roman. Deren Abneigung gegen alles Deutsche, die im Buch zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber angenommen werden kann, überträgt sich auch auf ihren Sohn, der seiner neuen Freundin vorwirft, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Hier artikuliert Honigmann durch Jean-Marcs Ansicht die Auffassung vieler Juden in der Diaspora, die fassungslos erkennen müssen, dass es eine wachsende jüdische Gemeinde im Land der Täter gibt. Susan Stern schreibt in der Einleitung zu ihrem Buch Speaking Out. Jewish Voices from United Germany, dass sie zusammen mit dem damaligen Leiter des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, 1993 bei einer Konferenz in den USA über aktuelle Themen der jüdischen Gemeinde in Deutschland sprach, und sich auch ein lebhafter Meinungsaustausch bei einer Podiumsdiskussion ergab. Zu dieser Zeit hatte es in Deutschland gerade eine Reihe von ausländerfeindlichen Ereignissen gegeben (die Brandlegungen in Mölln z. B.); wachsende Xenophobie war zwar zu beobachten, jedoch sahen beide Referenten die Demokratie in Deutschland in keinster Weise gefährdet. Es gelang ihnen allerdings nicht, das Bild von Deutschland als einem Land von Ex- und
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potentiellen Mördern zurechtzurücken. Auf die unweigerliche Frage, warum sie als Jüdin in Deutschland lebe, gab Stern verschiedene Antworten, es blieb aber ein Gefühl der Frustration zurück, weil das Publikum, das aus gebildeten Amerikanern bestand, nicht gewillt war, ein anderes Deutschlandbild als das von den dreißiger Jahren zu akzeptieren. Auf ihrer Rundreise durch die USA, die sie von der Ostküste zur Westküste führte, hielt sie Vorträge zu dem Thema »Jews in Germany, who they are, how they see themselves and how others see them«. Die Leute reagierten gemischt: The older audiences in particular – the survivor generation – seemed happy to have some of their fears about the situation in Germany allayed, and on several occasions I was thanked emotionally for bringing a good-news message. I’m not so sure that I got through to some of the younger public, who seemed to regard me as a government emissary, paid to spread pro-German propaganda.50
Jean-Marc als Mitglied dieser skeptischen jungen amerikanischen Generation, von der Susan Stern spricht, lehnt den deutschen Teil der Identität seiner Freundin ab und weigert sich, mit ihr nach Deutschland zu fahren, wo sie ihm gerne die Orte zeigen würde, wo sie aufgewachsen ist (LN 80). Sie meint, es sei so etwas wie ein Bann, den er da über Deutschland verhänge. »Ja, sagte er, ein Bann, das ist es, was ich meine, ein Bann, wie er über Spanien verhängt wurde. Sie haben die Juden vertrieben, die nie wiederkamen, und so ist das Goldene Zeitalter in Spanien erloschen« (LN 56).51 Er bezieht sich auf die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492, die die größte Katastrophe des europäischen Judentums vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus war.52 50 51
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Stern, Speaking Out. Jewish Voices From United Germany (wie Anm. 38), S. 15. Über die Vertreibung der Juden aus Spanien diskutieren auch Eva und Anna in Alles, alles Liebe!, wobei Eva den Bannfluch der Rabbiner vernünftig findet, weil er »sozusagen das Gebot ist, du sollst dir keine Illusionen machen.« Sie ist der Meinung, dass beide, Juden und Nichtjuden, aus dieser gewaltsamen und irreparablen Trennung verstümmelt hervorgegangen sind; sie fasst die so unterbundene Symbiose in dem starken Bild zusammen: »Eine Verstümmelung mag nach fünfhundert Jahren etwas weniger schmerzen, aber heilen können Verstümmelungen nicht. Das abgehackte Bein wächst ja bekanntlich nicht nach« (AL 42). Monika Richarz schreibt dazu: »Die sephardischen Juden wurden über die ganze Welt verstreut und siedelten ebenso in Westeuropa und Nordafrika, wie in der Türkei und der Karibik. Es hat über 400 Jahre gedauert, bis wieder Juden in Spanien ansässig wurden. Als erst Anfang 1986 Israel die diplomatischen Beziehungen zu Spanien aufnahm, gab es keine jüdische Zeitung, die nicht an die Vertreibung von 1492 erinnerte. Die spanische Exilierung bildete ein Trauma der jüdischen Geschichte, und jüdische Fromme suchten jahrhundertelang den metaphysischen Sinn dieser Katastrophe zu deuten.« Monika Richarz: Juden in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945. In: Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Hg. von Micha Brumlik, Doron Kiesel, Cilly Kugelmann und Julius H. Schoeps. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, S. 13– 30, hier S. 14.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
Für die Erzählerin ist es ein Schock, mit Jean-Marc darüber zu diskutieren, wo man leben darf und nicht darüber, wo man leben will oder kann. Die Kommunikationssprache ist für die Freunde Französisch, damit keiner im Vorteil ist, aber dadurch verlieren sie auch beide an Persönlichkeit, weil die Muttersprache ein integraler Bestandteil der Identität ist. Die Erzählerin hätte sicher Englisch sprechen können, aber Jean-Marc nicht Deutsch. Man erfährt, dass er in der Schule in Amerika alles tat, um nur ja nicht Deutsch nehmen zu müssen, ebenfalls ein Charakteristikum von vielen Söhnen und Töchtern von Überlebenden, die entweder auf Wunsch ihrer Eltern oder aus eigenem Antrieb die deutsche Sprache ablehnen. Das Hauptthema bei ihren Gesprächen sind die Eltern, wie es bei Kindern von Holocaustüberlebenden oft der Fall ist: Meistens sprachen wir von unserer Herkunft, von unseren Eltern, woher sie kamen und wie sie vor den Nazis geflüchtet waren. Ihre Emigrationsrouten und Erlebnisse in den fremden Ländern waren wie Mythen unserer Kindheit und unseres Lebens überhaupt, wie die Irrfahrten des Odysseus; Legenden, tausendmal erzählt. Jetzt wiederholten wir sie uns gegenseitig, sangen sie fast im Chor, wie verschiedene Strophen ein und desselben Liedes. (LN 55)
Guy Stern hat darauf hingewiesen, wie der Mythos von Odysseus als Topos nicht nur bei der Exilliteratur auftaucht, sondern auch von Kindern von Exilanten, die schreiben, verwendet wird. Die Irrfahrten des Griechen bieten sich hervorragend an, um die verwirrenden Exilrouten der Eltern nachzuvollziehen. Wichtig ist im obigen Zitat auch der Begriff »Legende«, der immer wieder in Honigmanns Texten im Zusammenhang mit den Eltern vorkommt. Von Stern nach dem Grund für diese Legendenbildung gefragt, antwortete die Autorin: »Of course I connect up with my parents’ fate. There is so much that links me up with my father, particularly language. His letters to me left their mark on my style. Beyond that I consider exile as archetypal, as part of human impermanence – in short, the condition humaine«.53 Eva Hoffman, Kind von Eltern, die in einem Versteck im polnischen Teil der Ukraine überlebt haben, formuliert ähnliche Gedanken: Later, through literature and film, through memories and oral testimony, these components of horror became part of a whole generation’s store of imagery and narration, the icons and sagas of the post-Holocaust world. In retrospect, and as knowledge about the Holocaust has grown, we can see that every survivor has lived through a mythic trial, an epic, an odyssey.54
Hoffman beschreibt, wie die Katastrophe der Eltern mit den Augen eines Kindes zunächst als »a kind of fable« wahrgenommen wird. Während die Erwachsenenwelt zuerst wissen will, was genau passiert ist und aus diesen Fakten 53 54
Stern, Barbara Honigmann: A Preliminary Assessment (wie Kapitel II, Anm. 5), S. 339. Eva Hoffman: After Such Knowledge. Memory, History, and the Legacy of the Holocaust. New York: PublicAffairs 2004, S. 12.
5 Die Beziehung zu Jean-Marc
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versucht, zum Kern des Geschehens zu kommen, war es bei den Kindern von Überlebenden umgekehrt: »[...] those who are born after calamity sense its most inward meanings first and have to work their way outwards toward the facts and the worldly shape of events«.55 Sie gibt hier zu verstehen, dass die historischen Zusammenhänge für die Kinder oft erst viel später klar wurden, der emotionelle Effekt aber sofort da war, aus dem sich dann die Mythen, von denen auch Honigmann spricht, entwickeln: It was not that the mythical vision of the world I had put together from scraps of story and imagery was untrue. The mythology, after all, derived from reality. It was just that I knew it as mythology and had no way of grasping it as actuality. It would take me a long time to discover and put its real-world components together.56
Honigmann, wie Hoffman, ist nicht allein in ihren Versuchen, immer wieder das Leben ihrer Eltern in ihren Werken zu rekonstruieren und zu versuchen, die Fragmente, die ihr von ihnen hinterlassen wurden, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Viele Vertreter der Generation nach der Shoah unternehmen ähnliche Versuche, die Thomas Nolden als »konzentrisches Schreiben« kennzeichnet. Gezwungenermaßen bleibt das Zentrum dieses Kreises unbeschrieben, da die Söhne und Töchter der Überlebenden nur vermittelte Erfahrungen verarbeiten können. Vergleicht man das Verhältnis zu Jean-Marc mit dem zu Alfried, so ergibt sich, dass beide nicht zufriedenstellend für die Erzählerin verlaufen. Die deutsche Vergangenheit verhindert bei beiden Beziehungen ein ungezwungenes Beisammensein. Alfried weigert sich, mit seiner Freundin über ihr Jüdischsein und sein Herkommen aus einer nicht-jüdischen Familie zu sprechen; die Partner können durch dieses Tabuthema nie ein ausgewogenes Verhältnis miteinander eingehen und die Liebe bleibt eine »Liebe aus nichts«. Das Thema der deutschen Vergangenheit scheint hingegen das wichtigste zwischen den zwei Juden zu sein. Sie haben eine »reine« Vergangenheit ausgedrückt durch die Wäscherei, in der Jean-Marc arbeitet im Unterschied zu Alfrieds Herkommen, der schmutziges Geschirr in der Wohnung hatte. Allerdings hat Jean-Marc Scheuklappen vor den Augen in Bezug auf die Präsenz von Juden im Deutschland der Nachkriegszeit. Durch sein Ablehnen der deutschen Herkunft und der Muttersprache seiner Freundin würde er sie ebenfalls nie im Kern ihres Wesens akzeptieren und verstehen.57 Die Beziehungen lösen sich durch das Weg55 56 57
Ebd., S. 16. Ebd. Todd Herzog bemerkt zu diesen Verhältnissen: »In order to lead a Jewish existence with Jean-Marc, the narrator must rid herself of her German existence, just as she had to repress her Jewishness to be with Alfried. Both relationships, of course, end in failure, and in so doing suggest the impossibility of reconciling German and Jewish identities, either in Germany or elsewhere.« Todd Herzog: Hybrids and Mischlinge: Translating Anglo-American Cultural Theory into German. In: German Quarterly 70 (1997), H. 1, S. 1–17, hier S. 11.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
gehen von beiden Männern auf. Beide versuchen, die Frau an sich zu ziehen; sie aber widersteht der Kraft, folgt nicht blindlings einem Mann, sondern bleibt sich treu und versucht weiterhin, in Paris und nicht in München oder New York, ohne Mann Fuß zu fassen.
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Kommunikation durch Briefe
Briefe nehmen eine herausragende Stellung in Barbara Honigmanns Werk ein; Roman von einem Kinde beginnt mit dem Brief an Josef, in Eine Liebe aus nichts werden mehrere Briefe abgedruckt und Alles, alles Liebe! ist in dem romantischen Genre des Briefromans abgefasst. Durch die Briefform kann die Erzählerin einen intimen Ton anschlagen; der Leser fühlt sich wie ein Eingeweihter, so als ob er den Korrespondenten über die Schulter schaut. Kommunikation durch Briefe ist aber auch indirekter als ein Telefongespräch z. B. oder gar das direkte Gespräch von Auge zu Auge. Man kann sich in einem Brief sowohl verbergen als auch mehr offenbaren als man es in einem Gespräch gewillt ist zu tun. Außerdem kann man einen Brief immer wieder lesen; die Gedanken des Anderen in Form von Schrift auf Papier sind auf Wunsch des Lesers immer wieder abrufbar. Bereits in der ersten Zeile des Romans findet sich das Wort »Brief«; der Vater hatte in einem Brief oder vielmehr Zettel seinen letzten Wunsch nach einem jüdischen Begräbnis kundgetan. Zettel und Brief sind weniger anerkannte Formen, seinen letzten Wunsch publik zu machen als ein formales Testament abzufassen. Dies mag auf den schnellen und vielleicht sogar überstürzten Entschluss des Vaters hinweisen, sich in allerletzter Minute noch einmal dem Judentum zuzuwenden, nachdem er sein Leben lang mit Glaubensfragen gehadert hat, wie er in seinem letzten Brief an die Tochter zugibt (LN 63). Der Brief ist aber auch privater als ein formales Testament, das man bei einem Notar verfertigen muss. Der Vater wollte seinen letzten Wunsch keiner öffentlichen Instanz in der DDR anvertrauen, die das mit Misstrauen betrachtet hätte. Er vermeidet ein »letztes Wiedersehen« mit seiner Tochter in Frankfurt und hinterlässt ihr stattdessen einen Brief im Theater, der in dem Roman abgedruckt ist (LN 62ff.). Dort rekapituliert er noch einmal seine Zeit im Exil, seine Gründe, die Orte seiner Kindheit aufzusuchen, beschreibt sein misslungenes Treffen mit Ruth, der er diese Orte eigentlich zeigen wollte und gibt zu, dass er ein Verhältnis mit Correll angefangen hat, »[v]ielleicht nur deshalb, weil sie eine Frankfurterin, sogar eine Wiesbadenerin ist«, d. h. aus dubiosen Motiven, nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihn ihr Dialekt und ihr Herkommen an seine eigene Kindheit erinnern (LN 64). Nachdem er der Tochter eine Liste von Sehenswürdigkeiten gibt, die sie aufsuchen soll, weil sie für ihn bedeutend waren und ihn an seine Kindheit und Eltern erinnern, hofft er, sie könnten sich später im Jahr noch einmal sehen, was sich durch seinen Tod nicht erfüllt. Wie
6 Kommunikation durch Briefe
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bereits erwähnt, ist es bezeichnend, dass der letzte Satz im Brief von der Heimatlosigkeit des Vaters handelt und seinem Wunsch, dass es der Tochter in der Fremde besser als ihm ergeht. Vor dieser Korrespondenz hatte der Vater als Reaktion auf den Auszug seiner Tochter aus der DDR ihr einen kurzen Brief geschrieben, der ebenfalls ganz abgedruckt ist. Die Hölderlinverse, die ihre Trennung von ihm als »Mord« bezeichnen, zeigen, wie tief verletzt der Vater von der Abnabelung seiner einzigen Tochter ist. Die eingeschobenen Briefe des Vaters geben der Ich-Erzählerin Gelegenheit, den Vater selbst zu Wort kommen zu lassen. Interessant ist, wie die Tochter mit diesen persönlichen Dokumenten umgeht. In dem Container, der mit ihrer Habe in die Souterrainwohnung geliefert wird, liegt das Bündel all ihrer Briefe ganz unten; sie traut sich kaum, einen Blick auf diese »Schriften aus einer anderen Zeit« zu werfen, die ihr wie »Nachrichten aus der Unterwelt« erscheinen, die sie bei längerem Hinsehen ganz hinunterziehen könnten (LN 22). Sie schreibt hier den Briefen so etwas wie magische Kraft zu und weiß wohl, dass ihr neues Dasein in Paris noch nicht gefestigt genug ist, um sich alten Erinnerungen und Heimwehgefühlen hinzugeben, obwohl genau das passiert.58 Der Brief des Vaters liegt ganz obenauf und dient erzähltechnisch gesehen als Auslöser für Erinnerungen an die Kindheit und das problematische Verhältnis zu ihm. Remmler argumentiert, die Figuren in Honigmanns Texten lebten »in einem Schwebezustand«, der fast mythischen Charakter trägt. Sie illustriert dies mit Lots Frau, die die Zerstörung von Sodom und Gomorrha ansieht, weil sie nicht umhin kann sich umzuwenden oder Eurydike, »die immer wieder in die Unterwelt verbannt wird, da Orpheus nicht widerstehen kann, sie beim Weg zurück in die Oberwelt anzusehen, als sie zurückbleibt, geblendet vom Licht«.59 Die Erzählerin von Eine Liebe aus nichts befindet sich in einer ähnlichen Lage wie Eurydike; wenn sie die Briefe liest, wird sie unweigerlich in den Sog der Vergangenheit hineingezogen, wo sie die doch gerade hinter sich lassen will; liest sie sie nicht, riskiert sie ein unreflektiertes und un-bewusstes Leben in der Zukunft. Sie entscheidet sich für das Sich-Einlassen auf die Vergangenheit, denn nach 58
»Wenn ich in einem Café saß, stundenlang oder halbe Tage, und Briefe schrieb oder ein Buch las, das ich mitgebracht hatte, denn am Anfang las ich nur Bücher, die noch aus Berlin stammten, die ich also schon kannte, oder wenn ich Vokabeln für den Französischkurs an der Volkshochschule lernte und versuchte, die Formeln des täglichen Lebens um mich herum aufzuschnappen – merci – merci de même –, war ich oft hin und her gerissen zwischen einem Wohlgefühl der Fremde, dem Stolz, daß ich die Kraft gehabt hatte, mich von meinem alten Leben zu trennen, und einer Art Heimweh, das gar kein richtiger Schmerz war, sondern nur darin bestand, daß ich fast immer an eine andere Zeit dachte, eine frühere« (LN 18f.). 59 Karen Remmler: Orte des Eingedenkens in den Werken Barbara Honigmanns. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie; 11), S. 43–58, hier S. 51.
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
dem Tod des Vaters trauert sie um ihn, indem sie alle seine alten Briefe aus dem Pappkarton holt und sie so schichtet und aufeinander legt, dass sie sie »wie einen Roman« lesen kann (LN 86). Sie kreiert durch diese Kompilation ihr persönliches Lebensbuch des Vaters. Wie wichtig ihr seine Worte sind und wie sehr sie dadurch hofft, einen Einblick in seine Vergangenheit zu bekommen, zeigt das Erbstück des englischen Taschenkalenders, wo der Vater seine Eindrücke vom Leben in den Gründerjahren der DDR wiedergibt. Das Fortführen der Notizen im selben Kalender durch die Tochter, die ebenfalls ihre Beobachtungen über die DDR aufzeichnet, zeugt von parallelen Erlebnissen von Vater und Tochter, mit dem großen Unterschied, dass die Tochter eben dieses Land, in das der Vater voller Hoffnung zurückgekehrt war, desillusioniert verlässt. Der Vater spricht zwar zu seinem russischen Freund Jefim schon bald nach seiner Rückkehr von »verlorenen Illusionen«, ein Hauptthema in dem Roman, hat aber keine Energie mehr zu einem neuen Aufbruch.60 Die Erinnerungen der Tochter an ihre Kindheit werden durch das Straßenschild »Fürstenwalde« ausgelöst, das sie bei der Rückreise in die DDR wahrnimmt. Dort hatten ihre Eltern eine Wochenendvilla am Scharmützelsee gepachtet, bevor sie wieder an den »alten Nazi« zurückgegeben wurde. Das »neue« Deutschland war immer noch infiltriert mit Leuten, die der nazistischen Ideologie anhingen und erwies sich nicht als das, was sich die Generation, die es aufbaute, vorgestellt hatte. Die Unzufriedenen der Nachfolgegeneration verlassen das Land – Alfried und die Erzählerin sind zwei konkrete Beispiele davon – und suchen im Westen ein besseres Leben. Der Zettelaustausch zwischen Alfried und seiner jüdischen Freundin wurde schon besprochen; hier steht die indirekte Kommunikation im Vordergrund, das Verbergen voreinander. Alfried ist der erste aus der Theaterclique in Berlin, der in den Westen auswandert. Er schreibt seiner Ex-Freundin zwar immer noch Ansichtskarten, aber nie einen Brief mit Adresse (LN 47). Dies kann als weiteres Zeichen dafür bewertet werden, dass er allein bestimmen will, in welcher Richtung die Kommunikation vonstatten geht. Ihre meterlangen Antwortbriefe landen deshalb im Müllschlucker. In Paris angelangt, bekommt sie eines Tages einen richtigen Brief von Alfried mit Adresse und Telefonnummer; sie vermutet, er hätte ihre Anschrift durch Freunde erfahren. Seine Schrift wirkt »heimatlich« auf sie und erweckt alte Erinnerungen an eine Zeit, in der sie sich nicht so allein gefühlt hat: Ich ließ ihn auf dem Tisch liegen, die zwei Blätter offen neben dem Kuvert, so daß der Tisch fast ganz von Alfrieds Schrift bedeckt war; er füllte für ein paar Stunden 60
Das Schicksal Jefims erinnert an das von Ury in der Geschichte »Marina Roža«, eine Anklage gegen den Antisemitismus der Sowjetunion: »Als das Sowjetische Nachrichtenbüro aufgelöst und Jefim Fraenkel nach Moskau zurückgekehrt war, wurde er ins Lager und in die Verbannung geschickt, aber das erfuhr mein Vater erst zwanzig Jahre später, als sie sich zum erstenmal wiedertrafen« (LN 10). In Ein Kapitel aus meinem Leben erfährt man noch Näheres über Fraenkels Schicksal.
7 Die Welt als Theater
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den ganzen Raum. Später, am Abend, habe ich den Brief noch einmal gelesen und fühlte mich sehr allein und hatte Heimweh. Ich setzte mich hin und schrieb ihm eine Antwort, einen Brief, den ich diesmal auch abschicken wollte. (LN 71)
Ein handgeschriebener Brief kann allein durch das Schriftbild die Persönlichkeit des Schreibenden ausdrücken, seine scheinbare Präsenz heraufbeschwören und beim Empfänger Euphorie auslösen, weil sich jemand Zeit genommen hat, einem seine Gedanken mitzuteilen und seine Empfindungen zu enthüllen. Gleichzeitig aber wird dem Empfänger auch die räumliche Distanz zu der Person bewusst, was Gefühle des Alleinseins nach sich zieht.61 Ihr Antwortbrief an Alfried ist ganz abgedruckt; sie berichtet von ihren widersprüchlichen Gefühlen in der Fremde, dass manchmal sogar Zweifel aufkommen, ob sie das Richtige getan hätte, macht aber Alfried im letzten Absatz ihre emanzipatorischen Absichten klar, nämlich dass sie keine Gehilfin mehr sein will und nicht mehr in Deutschland wohnen möchte (LN 72). Sie bringt den Brief persönlich zur Post, nur um kurze Zeit später herauszufinden, dass Alfried gerade gar nicht in München ist, sondern sich in Paris aufhält. Sie kommt sich in gewissem Sinne betrogen vor oder zumindest nicht eingeweiht. Das Aneinander-Vorbeireden der Partner, ein wichtiges Charakteristikum ihres Verhältnisses in der DDR, ausgedrückt durch die Tatsache, dass ihr Brief ihn erst nach den Gesprächen in Paris erreicht, setzt sich in dieser Stadt fort und verstärkt das Gefühl der Entfremdung bei der ehemaligen Geliebten. Der letzte verbatim abgedruckte Brief ist an Jean-Marc gerichtet, der schon wieder in New York ist. Sie berichtet ihm vom Tod ihres Vaters und hält ihn auf dem Laufenden, wer nun in seiner Wohnung wohnt und in der Wäscherei arbeitet. Sie erkennt, wie wichtig es gewesen wäre, in der eigenen Sprache miteinander zu sprechen und nur die Worte, die sie beide zum Französischen dazu erfunden haben, scheinen ihr noch einen Sinn zu haben, womit sie die Bedeutung der Muttersprache bei der Entfaltung der Persönlichkeit erkannt hat (LN 104).
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Die Welt als Theater
Die Illusion und ihre Brechung sind Hauptthemen in diesem Roman und manifestieren sich durch die zahlreichen Anspielungen auf die Welt des Theaters. Dies beginnt mit der Martha-Episode, wo sich der Vater als Kind eingebildet hat, es zu großen Ehren zu bringen, aber das wichtigste, nämlich das Stück zu schreiben, vergessen hat. Martha wird Synonym für zerbrochene Träume, für die Wunschvorstellungen des Vaters, die an der Wirklichkeit zerschellen, für 61
In Alles, alles Liebe! schreibt die liebeskranke Anna an Leon: »Wenigstens muß ich deine Schrift bald wiedersehen, das einzige, was mir jetzt noch von Dir geblieben ist, Abdruck und Enthüllung deiner Seele, nach denen ich mich so sehr sehne, die ich will und liebe, obwohl ich sie noch so wenig kenne, aber eben ersehne« (AL 26).
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III ›Eine Liebe aus nichts‹
die Vergeblichkeit der Bemühungen, in Deutschland oder anderswo heimisch zu werden, und vor allem für seine Unterdrückung des Judentums. Er sagt zu seiner Tochter: »Das ist eine ganz alte Geschichte aus meiner Kinderzeit, aber sie hat wohl nie aufgehört. Alle meine Ideen, meine Berufe, meine Frauen und selbst alle die Orte, an denen ich in meinem Leben gelebt habe, alles war eigentlich immer nur Martha« (LN 35). Der Vater hat, wie Papacek schreibt, »das Zentrum seiner Existenz – den Text des Theaterstückes – in seinem Leben übergangen«. Dieser Text besteht aus seinem verdrängten Judentum, das ihn hinderte, sein Leben zu leben.62 Die Tochter, die versucht, ihr Theaterstück zu schreiben, also metaphorisch gesehen, als Jüdin in Deutschland zu leben, scheitert damit. Ihr Text interessiert keinen und zeigt ihr damit, dass es Zeit ist, woandershin auszuwandern, wo sie diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit freier ausleben kann. Der Vater heiratet in dritter Ehe eine Schauspielerin, die am Berliner Theater arbeitet und setzt so seinen Kontakt mit der Theaterwelt fort. Der Erzählerin gefällt es, sich als Kind an deren Schminktisch anzumalen und sich mit ihren Kostümen zu verkleiden; sie schlüpft auch in das rosaseidene Kleid, mit dem ihre Mutter in Paris Feste gefeiert hat und spielt »feine Dame«. Es begeistert sie also schon in jungen Jahren, in andere Rollen zu schlüpfen und verschiedene Identitäten auszuprobieren, was sich dann im Erwachsenenalter durch ihre Weigerung, nur eine untergeordnete Rolle am Theater und in der Beziehung mit Alfried zu spielen, fortsetzt (LN 25). Das Abschminken der Schauspielerin nach der Vorstellung, die sich damit wieder in die Frau ihres Vaters verwandelt und ihr eigenes Verkleiden faszinieren das Kind so, dass sie von der Veränderbarkeit der Welt überzeugt ist, in der man andere Rollen annehmen kann und nicht auf eine einzige festgelegt ist. Als Vater und Tochter ins Theater gehen und den Schauspielern zusehen, nehmen sie eine Zwischenstellung ein. Sie befinden sich weder im Zuschauerraum noch auf der Bühne, sondern stehen bei den Kulissen, von wo aus sie beide Räume gut beobachten können; sie stehen da, wo »die Illusion nicht so beherrschend« war (LN 26). Sie haben also Einblicke in beide Welten und sind sich bewusst, dass das, was auf der Bühne stattfindet, nur eine Scheinwelt ist. Aber auch die »richtige Welt« draußen scheint der Wirklichkeit zu entbehren. Wie Papacek schreibt, »entlarven Vater und Tochter ›das Spiel der Welt‹ als künstlich, menschengemacht und damit als manipulierbar. Sie durchschauen das Spiel als Spiel und sind dadurch seinen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr so unterworfen wie das ›reglose‹ Publikum [...]«.63 Überträgt man dies auf ihr Leben als Juden in der DDR, befinden sie sich ebenfalls in einer Zwischenstellung. Sie fühlen sich kulturell und linguistisch Deutschland zugehörig, aber leben mit dem undeutlichen Gefühl, von der Mehrheitskultur nicht richtig akzeptiert zu werden. Der Vater zieht sich, je älter und desillusionierter er 62 63
Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 75. Ebd., S. 52.
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wird, immer mehr auf sein Schloss in die Isolation zurück und die Tochter sieht als einzigen Ausweg die Emigration ins Ausland. Die Faszination mit dem Theater lässt die Erzählerin erst los, nachdem sie selber, wie die dritte Frau ihres Vaters, am Berliner Theater eine nicht zufriedenstellende Position einnimmt und ein Theaterstück verfasst, das publikumsunwirksam ist. Das hindert sie jedoch nicht daran, wie in der Barockzeit, die Welt als Spiel zu sehen. Sie sieht das Wachtelbergvolk in Paris mit den Augen einer Theaterkundigen, die die »Dramaturgie und die Verteilung der Rollen« durchschaut und erkennt auch Alfrieds ›Spiel‹, der sich weiterhin vor ihr verbergen will, indem er ihr nicht geschrieben hat, dass seine Truppe in Paris gastiert. Ihre Weigerung, sich Alfrieds Stück in Paris zu Ende anzuschauen, beweist, dass sie der Illusion nicht mehr glaubt, echte Freunde zu sein. Als sie auf der Rückreise in die DDR kurz in Berlin Station macht, geht sie am Berliner Theater vorbei, fühlt sich aber bereits so entfremdet von den Leuten dort, dass sie keinen Kontakt zu ihnen aufnimmt. Als sie Wanda, eine Bekannte vom Theater, trifft, merkt sie zu ihrem Erstaunen, dass der ihre Ausreise aus der DDR gar nicht aufgefallen war. Sie nimmt dies als Zeichen dafür, wie wenig ihr Abgang bemerkt worden ist und welch eine Nebenrolle sie in diesem Theater eingenommen hat. Ihre Vorstellung in Ostdeutschland ist vorbei, was der letzte Satz des Romans mit seinem symbolischen Hinweis auf den Schlussvorhang einer Theatervorstellung ausdrückt: »Habe einen Schlafwagen genommen und mich hingelegt und die Vorhänge zugezogen« (LN 106).
IV Soharas Reise
Barbara Honigmann veröffentlichte diese Erzählung 1996, fünf Jahre nach Eine Liebe aus nichts. Der Titel ist, wie bei den anderen zwei Prosawerken, zweideutig. Es handelt sich zum einen um Soharas große Reise von Oran nach Frankreich, von der sie nie mehr zurückkommen wird, da die sephardischen Juden am Ende des Kolonialkrieges 1962, wie die pieds noir und harkis1 Algerien verlassen mussten. Dieser ersten Reise folgen die jahrelangen Umzüge von einer Stadt in die andere, die ihr Ehemann Simon in die Wege leitet. Am Ende der Geschichte erfolgt der Kurzflug nach London, um die entführten Kinder zu retten. Diese innerhalb der Fiktion der Erzählung tatsächlich stattfindenden Reisen werden ergänzt von der inneren Entdeckungsreise Soharas. Sie findet sich selbst im Laufe der Erzählung und wird mithilfe von Frau Kahn auf einen behutsamen Emanzipationsweg geführt. Soharas Reise basiert auf einer wahren Geschichte, die sich so im Umfeld von der Autorin zugetragen hat.2 Anders als in Roman von einem Kinde und Eine Liebe aus nichts, die stark autobiographische Züge enthielten, handelt es sich hier um Rollenprosa.3 Barbara Honigmann schlüpft in die Rolle einer etwas naiven, gutgläubigen sephardischen Jüdin aus Oran, die jahrelang ihrem betrügerischen Mann auf den Leim 1
Die »Schwarzfüße« waren die französischen Siedler in Algerien, die manchmal seit Generationen dort gelebt hatten und die harkis waren profranzösische Algerier, arabische und berberische Verbündete im Kampf gegen die algerische Befreiungsbewegung FLN. 2 Frank Dietschreit: Leben und Schreiben am idealen Ort. Vom Vorteil einer gewissen Fremde. Über die Schriftstellerin Barbara Honigmann. In: SFB Buch am Sonntag 14. Juli 1996, S. 7. 3 Jeffrey Peck sieht jedoch in Soharas Reise Barbara Honigmanns eigene Lebensgeschichte und die ihrer Eltern versteckt hervorblitzen und argumentiert für eine autobiographisch angelehnte Interpretation: »Her [Sohara’s] experience is not unlike GDR Jews who had left prewar Germany to go into exile and upon returning had to assimilate and structure their experiences in order to construct a life narrative that would be sufficiently meaning-full, (›sinnvoll‹ in the literal sense) and coherent in personal as well as political terms. Honigmann, a child of both these worlds, the Jewish and the East German, uses ›Soharas Reise‹, as a metaphor for renewal and rebirth, both literally and figuratively, from Algeria to France and from naïve and obedient wife to independent woman.« Jeffrey M. Peck: Telling Tales of Exile, (Re)Writing Jewish Histories: Barbara Honigmann and Her Novel, »Soharas Reise«. In: German Studies Review 24 (2001), H. 3, S. 557–69, hier S. 561.
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IV ›Soharas Reise‹
geht, endlich die Wahrheit sieht, aber zu einem Zeitpunkt, als der selbsternannte Rabbiner von Singapur, der eher ein Schlawiner ist, ihre sechs Kinder bereits entführt hat. In einem Interview wurde die Autorin gefragt, warum sie die Erzählung nicht in der dritten Person geschrieben hat, »schon um autobiografische Fährtensucher abzuschrecken«, worauf sie antwortete, sie könne nicht aus der dritten Person erzählen, weil sie dann immer zu viel Distanz habe.4 Erich Hackl erkennt in dieser Erzählung eines der wenigen literarischen Werke in deutscher Sprache, die ein »Gespräch über Judentum jenseits eines immerwährenden Antisemitismus-Diskurses« ermöglichen.5 Die Autorin hatte in dem Aufsatz »Selbstporträt als Jüdin« als einen von mehreren Gründen angegeben, warum sie Deutschland verlassen wollte, dass es dieses Gespräch eben nicht gäbe (DDD 15). In Soharas Reise schildert sie, laut Hackl, »jüdisches Leben weder aus archäologischem Blickwinkel noch mit philosemitischer Befangenheit«, sondern man kommt als Leser/in zu dem Schluss: »Es gibt auch unter Juden gute und böse, kluge und dumme Vertreter der Spezies Mensch«.6 In einem Interview mit Gerwig Epkes betont Honigmann in ihrer Antwort auf die Frage, ob es diesen Rabbi, der sechs Kinder entführt hat, tatsächlich gegeben hat, diesen Aspekt: Es hat so was gegeben und ehrlich gesagt, warum auch nicht, weil alles, was überall passiert, passiert auch bei Juden und da diese Art von Kindesentführung durch einen Elternteil ziemlich häufig ist, bleibt es diesem Milieu auch nicht erspart, daß da eben solche Geschichten auch passieren, und daß es unter den Juden auch Betrüger und Aufschneider und Hochstapler gibt, also das ist einfach normal.7
Für Honigmann ist es wichtig, Juden weder als Exoten noch ausschließlich als Opfer darzustellen, wie es in der deutschen Literatur nach der Judenermordung fast ausnahmslos geschieht, sondern als normale Menschen, die ihren Alltag bewältigen müssen. Der Roman bewegt sich inmitten des Judentums in all seiner Vielfalt, ist nicht mehr, wie in Eine Liebe aus nichts auf vergebliche Annäherungsversuche angewiesen und hat sich weitgehend vom Antisemitismus- und Shoah-Diskurs befreit. Obwohl Honigmann in Soharas Reise von ihrer autobiographisch orientiertenen Schreibweise absieht, dreht sich das Buch um zentrale Themen, die Honigmann immer beschäftigen werden: die Exilerfahrung, die Auswirkungen der Shoah, das Unterwegssein und Nicht-Ankommen als jüdische Befindlichkeit schlechthin ausgedrückt im Motiv der Reise, die Bedeutung von jüdischen Ritualen, der Selbstfindungsprozess einer Frau, die Schwierigkeiten einer Partnerschaft und die Desillusionierung. Als neue Themen kommen hinzu der Unterschied zwischen aschkenasischen und sephardischen Juden, das Motiv 4 5 6 7
Dietschreit, Leben und Schreiben (wie Anm. 2), S. 8. Erich Hackl: Gang und Grazie. In: Die Presse (Wien), 27. April 1996, S. 21. Ebd. Soharas Reise. Hörspiel nach der gleichnamigen Erzählung von Barbara Honigmann. Hörspielbearbeitung Gerwig Epkes. Manuskript im Zentralarchiv B 2/6, Serie 3.
1 Die Exilerfahrung
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des religiösen Eiferers, der sich gleichzeitig als Betrüger entpuppt, die Solidarität zwischen Frauen und vor allem die Unterstützung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, auf die Sohara vertraut und mit deren Hilfe sie ihre Kinder zurückbekommt. Im folgenden konzentriere ich mich auf die Analyse von drei Themenkomplexen: die Exilerfahrung, die Darstellung verschiedener jüdischer Lebenswelten und Soharas Selbstfindung.
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Die Exilerfahrung
Exil und Heimatlosigkeit sind zentrale Themen von Barbara Honigmann, die sie selber durch die Erfahrung ihrer Eltern aus nächster Nähe miterlebt hat und die sie nicht erst seit ihrem Umzug nach Straßburg am eigenen Leibe verspürte. Denn Heimat war die DDR ihr wohl nie geworden und Heimat wird ihr Straßburg wohl auch nie werden. Schon das Wort ist ihr zu groß; in einem Interview mit Stefan Tolksdorf antwortet sie auf die Frage, ob sie in Frankreich heimisch geworden sei, sie habe dort »einen guten Platz zum Leben. Nicht mehr« gefunden.8 Straßburg ist eine Stadt, in der die verschiedensten ethnischen Gruppen zusammenkommen; durch ihre geographische Nähe zu Deutschland wird die Grenzstadt Symbol für einen Ort, wo Außenseiter, marginale Existenzen und Exilanten wie Sohara leben. Das Geschehen in Soharas Reise spielt sich hauptsächlich in Straßburg ab, obwohl es häufige Rückblenden zu der Zeit in Oran und Amiens gibt. Sohara musste, zusammen mit den anderen sephardischen Juden, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester 1962 ihre Heimatstadt Oran im Zuge des Kolonialkrieges der Franzosen gegen die Algerier verlassen: »Ein einziges Mal habe ich eine große Reise gemacht. Von Algerien nach Frankreich. Von dieser Reise bin ich nie wieder zurückgekehrt« (SR 39). Sie beschreibt, wie sich während des Krieges die Schulklassen allmählich leerten, weil die Familien bereits abgereist waren, und dass diejenigen, die Algerien verlassen wollten, von der OAS bedroht wurden.9 Nach dem Krieg mussten die Ausgewiesenen in Notunterkünften auf Schiffsplätze warten. Nur zwei Koffer durften sie mitnehmen. Die Mutter entschließt sich, diese 8 9
Stefan Tolksdorf: Nie Kalkül, nie Pose. In: Badische Zeitung, Nr 117, 22. Mai 1996, S. 6. Die OAS (Organisation armée secrète – geheime Armeeorganisation) wurde von französischen Generälen gegründet und führte zahlreiche Attentate gegen die Zivilbevölkerung in Algerien und auch in Frankreich durch. Marianne Arens und Françoise Tull schreiben in ihrem Artikel »Folter im Algerienkrieg (1954–62)«: »Dank der allgemeinen Amnestie, die bei der Unabhängigkeitserklärung von Evian vom Juli 1962 verkündet wurde, sowie einer weiteren Amnestie Ende der sechziger Jahre, wurden diese Generäle später weder für den Putschversuch, noch für die systematische Anwendung der Folter strafrechtlich verfolgt.« Marianne Arens und Françoise Thull: Folter im Algerienkrieg (1954–62). Die Rolle der französischen Armee – damals und heute. In: World Socialist Website, 28. März 2001, http://www.wsws.org/de/ 2001/mar2001/alge-m28_prn.html, 2. Oktober 2003.
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IV ›Soharas Reise‹
nicht etwa nur mit Kleidung vollzustopfen, sondern versucht in weiser Voraussicht, die Gerüche und den Geschmack von Oran in Form von in Tüten und Dosen verpackten Gewürzen ins Exil mitzunehmen. Als letzte Geste der Erinnerung versammeln sich die Juden auf dem Friedhof – einem zentralen Gedächtnisort in Honigmanns Œuvre – und nehmen Abschied von ihren Vorfahren. Seit 60 Generationen hatte es Juden in Algerien gegeben und das Ende ihrer Präsenz wird von ihnen mit Fassungslosigkeit zur Kenntnis genommen. Wie wichtig das Gedächtnis an die Vorfahren ist, zeigt sich darin, dass die Ehemaligen aus Oran noch lange Geld gesammelt und in die Heimat geschickt haben zur Pflege des Friedhofes »und tatsächlich soll er, so heißt es, noch in einem halbwegs passablen Zustand sein und nicht umgepflügt wie in anderen Ländern, gottseidank« (SR 40).10 Nach einem tränenreichen Abschied und einer Trauerperiode von drei Tagen, in der alle Leute auf dem Schiff schweigen und sehr still sind, landen die Exilanten in Frankreich. Dort werden sie wiederum in Lager verfrachtet, bevor Soharas Familie nach Amiens geschickt wird, wo sie zunächst im engen Quartier einer Schokoladenfabrik untergebracht wird. Die Mutter zerbricht an der Exilerfahrung; drei Jahre lang weint sie ununterbrochen und ist untröstlich (SR 43). Sie gewöhnt sich nie an Frankreich, hat Schwierigkeiten mit der Sprache und stirbt schließlich wortwörtlich an Herzweh. Dieser Schmerz ist vor allem bedingt durch den Verlust der Gemeinschaft: »Das Schlimmste war, daß sie nicht wußte, was sie den ganzen Tag tun sollte, es war niemand da zum Besuchen und Reden und Kochen, Backen, Feste-Vorbereiten, die ganze Familie war auseinandergerissen und zerstoben in alle möglichen Städte, manche waren sogar in Kanada gelandet« (SR 43). Gleich nach dieser Textstelle folgt eine Beschreibung des Schabbats in Oran, der jede Woche eine große Feier war, an der die ganzen Verwandten teilnahmen. All dies ist in Frankreich verloren gegangen; was bleibt ist eine die Mutter vernichtende Sehnsucht nach der Heimat: Seit sie nach Europa herübergekommen ist, hat ihr Herz immer weniger und immer leiser geschlagen, und eigentlich hat sie gar nicht mehr richtig leben können, hat den Rest ihres Lebens nur noch abgewartet und die Jahresringe des Alters angelegt wie ein Baum, bewegungslos. Sie sah in sich hinein oder starrte aus dem Fenster, als könnte sie die verlorene, betrauerte Heimat in ihrem Innern oder draußen vor dem Fenster wiederfinden. Ihre Herzattacken kamen wie Wutanfälle gegen die Araber, die sie bestohlen, betrogen und vertrieben hatten, obwohl man doch befreundet gewesen war. (SR 45f.)
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Papacek führt dieses Zitat an, um zu zeigen, dass Honigmann nicht alle Konzepte, die nicht-jüdischen Lesern unbekannt sein könnten, erklärt: »Der Umstand, daß die aus Algerien geflüchteten Sephardim dafür sorgten, daß der Friedhof in Oran weiterhin gepflegt werden würde, wird nicht damit in Zusammenhang gebracht, daß nach jüdischem Glauben im Falle einer Umpflügung die – als körperlich gedachte – Auferstehung der Toten nicht mehr möglich ist.« Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), Fußnote 300.
1 Die Exilerfahrung
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Die Mutter, die alles wegwirft, was älter als drei Jahre ist aus Angst vor Erinnerungsstücken, »die man dann doch bloß wieder über Bord werfen müsse« (SR 45), ist Honigmanns wirklicher Mutter nachgebildet, die sehr extrem war in dieser Hinsicht, nichts aufhob und z. B. jeden Brief nach dem Lesen aus Selbstschutz nach ein paar Tagen zerstörte, um nicht zu sehr an alte Zeiten erinnert zu werden (DDD 101). Als Soharas Mutter schließlich stirbt, rücken die Töchter in der Generationenfolge an die erste Stelle, ein beängstigender Gedanke für die Ich-Erzählerin, die hier mit Barbara Honigmann zusammenfällt. Der autobiographische Aufsatz »Selbstporträt als Jüdin« beginnt mit folgenden Sätzen: »Mein Vater und meine Mutter sind tot. Die Rolle ›Kind meiner Eltern‹ ist ausgespielt, ich muß selber in die vordere Reihe in der Kette der Generationen treten, wo zwischen dem Tod und mir niemand mehr steht« (DDD 11). In Soharas Reise heißt es: Manche Leute begegnen ihm [dem Trauernden] nun auf eine andere Weise, mit einem Blick des Einverständnisses, einer Zusammengehörigkeit, als sei er in einen Geheimbund aufgenommen, derjenigen, die keine Eltern mehr haben und in der Folge der Generationen in die erste Linie vorgerückt sind, wo es keinen Schutz mehr gibt. (SR 48f.)
Noch beängstigender als dieser Gedanke ist jedoch die Verwandlung der Tochter in die Mutter, die Sohara bemerkt, wenn sie zufällig auf der Straße in ein Spiegelbild sieht und ihr das Bild der Mutter entgegenstarrt: »Denn ich spüre diese Verwandlung, in meinem Gang, in meinen Bewegungen, meinem Blick, ich höre mich mit der Stimme meiner Mutter sprechen und sehe mich mit ihren Händen gestikulieren, o nein, o je, o Gott behüte« (SR 49). Die letzten drei Ausrufe sind bewusst zweideutig gehalten; sie könnten bedeuten, dass die Mutter dies ausgerufen hat, als sie mit den Händen gestikulierte oder dass die Tochter mit diesen drei Ausrufen auf ihre zu große Ähnlichkeit mit der Mutter entsetzt reagiert. Die Töchter, Sohara und ihre Schwester, entschließen sich, in Frankreich ein neues Leben anzufangen und sich zu integrieren. Diese Versuche werden jedoch von der Mutter sabotiert. Sie duldet weder nichtjüdische Freunde noch die harmlose Sammelleidenschaft der Schwestern, die Schauspielerpostkarten in Hoffnung auf ein Autogramm verschicken. Dieser Konflikt zwischen erster und zweiter Generation von Auswanderern ist typisch und findet sich beispielsweise auch in der türkisch-deutschen Literatur von Schriftstellerinnen wie Alev Tekinay. Die Eltern wollen, dass die Kinder so wie in der Heimat leben, verstehen aber nicht, dass das soziale Umfeld im neuen freieren westlichen Land diese Lebensweise erschwert. Die Kinder sehen in der Schule andere Sitten und Bräuche des Landes und wollen dazugehören; die Eltern aber unterminieren aus Angst vor einer zu freizügigen Lebensweise diese Tendenzen, was die Kinder wiederum nicht verstehen. Das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, bleibt.
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IV ›Soharas Reise‹
Zu dem äußeren Exil Soharas kommt das innere. Sie entfremdet sich immer mehr von ihrem Mann Simon, mit dem sie am Ende nichts mehr verbindet. Der Mangel an Liebe zwischen ihnen fällt ihr sehr schnell auf, aber sie hofft immer noch auf »eine Art Aneinander-Gefallen-Finden, ein Zusammenhalten und Zusammentun«, merkt aber, dass Simons Leben um etwas anderes kreist als sie und die Kinder (SR 65). Sie drückt ihre Desillusionierung über ihre eheliche Situation bildlich so aus, dass sie bei den ewigen Umzügen immer mehr Gepäckstücke verloren hätte, laut Simon »Stücke ohne Wert«, die sie doch als Partner gemeinsam tragen wollten: Und so ist mir mit der Zeit alles abhanden gekommen, zuerst die Bewunderung und der Respekt, dann die Zärtlichkeit und der Wunsch, einen Schutz bei Simon zu finden, und später die Freundschaft, diese Art Vertrauen und Vertrautheit, die sich einstellt, wenn man unter einem Dach zusammenlebt, bis er schließlich sogar eher so etwas wie mein Feind wurde. Als habe sich tatsächlich dieser schreckliche Spruch bewahrheitet, den ich in Oran gehört hatte: »Denk daran, du heiratest nicht deinen Vater, und du heiratest nicht deinen Bruder, sondern du heiratest deinen Feind.« (SR 65f.)11
In dieser Ehe, die aus Torschlusspanik geschlossen wurde, da sie Angst hatte, mit 20 Jahren sitzen zu bleiben, kann Sohara keine »Heimat« finden. Sie muss schon seit Jahren ohne Hilfe des Mannes auskommen, der die Familie weder finanziell noch emotional unterstützt, sondern sie tyrannisiert, wenn er zwischenzeitlich einmal auftaucht. Sohara ist so gezwungen, von der staatlichen Fürsorge zu leben und die Kinder alleine groß zu ziehen. Ihre Entfremdung von der Außenwelt geht so weit, dass sie sich zunächst niemandem anvertraut, als Simon die Kinder entführt. Die Erzählung beginnt mit folgender Beschreibung von Soharas innerem Seelenzustand: »Drei Tage und drei Nächte habe ich geweint und niemandem etwas gesagt, sondern alles für mich behalten; ich bin den ganzen Tag in unserem Schlafzimmer sitzen geblieben, habe auf die leeren Betten der Kinder gestarrt und mich gefragt, was ist bloß geschehen?« (SR 7) Die Erzählung geht unter anderem um Soharas Verlassen dieses inneren Exils und darum, zu lernen, sich anderen Menschen zu öffnen, die ihrer Situation mit Einfühlsamkeit begegnen. Sowohl die Nachbarin Frau Kahn als auch Rabbi Hagenau und die Chassidim stehen ihr tatkräftig zur Seite und lehren sie, dass sie Hilfe bekommen wird, wenn sie sich der jüdischen Gemeinschaft öffnet, während sie von der französischen Polizei und einem Rechtsanwalt mit Befremden behandelt wird (SR 89). 11
Das Motiv, dass der Mann, mit dem man zusammenlebt, sich zum Feind verkehrt, taucht schon bei der Erzählung »Roman von einem Kinde« auf: »Ich hatte den Mann auf viele, verschiedene Weise wirklich lieb, aber doch war er mir oft fremd und fern, und manchmal wurde er mir plötzlich ganz gleichgültig, und manchmal erschien es mir sogar, als ob er gar nicht mein Freund, sondern als ob er mein Feind wäre und als ob wir nicht miteinander leben, sondern gegeneinander kämpfen wollten« (RK 33).
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Nicht nur Sohara lebt im Exil, sondern auch ihre Nachbarin. Frau Kahn ist Überlebende der Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus, stammt ursprünglich aus Mannheim und wurde von Belgien aus, dem Land, in das sie geflüchtet war, in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Ihr Mann, den Mönche in Italien im Priesterseminar versteckt hatten, wurde von den Nazis aufgegriffen und umgebracht. Ihre Eltern hatten in Mannheim ein Wäschegeschäft, das auch am Samstag offen war, Zeichen für die Assimilationsbemühungen der deutschen Juden an die christliche Gesellschaft, was Frau Kahn so kommentiert: »Es war wirklich nicht mehr viel von Gott und seinem Gesetz übrig« (SR 73). Am hellichten Tag wurden die Juden in Mannheim zusammengetrieben und deportiert, Beweis der These Soharas, dass Katastrophen nicht mit Blitz und Donner erscheinen, »das Schreckliche kommt nämlich ganz harmlos heran, verborgen im Alltäglichen, so daß man es gar nicht gleich erkennen kann« (SR 86). Frau Kahn, durch ihre Jugend damals noch mobiler als ihre Eltern, konnte sich zunächst nach Belgien retten. Dort geschieht etwas, was für sie Soharas jetzige Situation begreiflich macht. Kurz bevor sie von den Nazis abgeholt wurde, warf sie ihren Sohn Raffael, der zu der Zeit ein ganz kleines Baby war, über den Balkon zu einer Nachbarin, die ihn rettete. Beide Frauen haben den Verlust ihrer Kinder am eigenen Leib gespürt und empfinden vor allem aus diesem Grund Solidarität miteinander. Auslöser für die Geschichte von Frau Kahns Baby war ein Film im Fernsehen, den sich die zwei Frauen gemeinsam ansahen; es handelt sich wahrscheinlich, obwohl es nicht ausdrücklich erwähnt wird, um den Film »Au Revoir les Enfants«, in dem jüdische in einem Internat versteckte Kinder schließlich entdeckt und deportiert wurden. Visuelles dient hier als starker Emotionsauslöser; die Bilder im Film, mit denen sich Frau Kahn identifiziert, bedingen bei ihr einen Tränenfluß und das Anvertrauen der persönlichen Geschichte an die Leidensgenossin. Bezeichnend ist auch, was nach dem Film in einer Werbung gezeigt wird: »eine Blondine lief und hopste über den Strand, warf ihre blonden Haare von einer Seite zur anderen und trällerte« (SR 22). Da ist zum einen die Diskrepanz zwischen dem ernsten Inhalt des Filmes und der trivialen, fröhlichen Werbung, aber auch eine sinistre Erinnerung an den von den Nationalsozialisten propagierten »arischen« Menschentypus in dem doppelten Hinweis auf die Blondheit der Schauspielerin. Für Frau Kahn haben sich »die modernen Deutschen« durch den Völkermord an den Juden als primitivste »Kannibalen« entpuppt (SR 73); sie lehnt jegliche Verbindung zu ihrem Ursprungsland ab und geht z. B. nicht nach Kehl zum Aldi zum Einkaufen wie viele Straßburger, obwohl es da billiger wäre: »›Ich höre jetzt immer von den guten Deutschen‹, sagt sie. ›Mir sind sie jedenfalls nicht begegnet. Ich brauche nichts mehr von denen, auch nicht billiger bei Aldi. Kannibalen!‹« (SR 22). Frau Kahn macht keinen Unterschied zwischen den Generationen, sondern ist so traumatisiert von den Erfahrungen mit den Deutschen in Belgien und im Lager, dass sie kategorisch alles »Deutsche«
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IV ›Soharas Reise‹
ablehnt.12 Sie weigert sich, ihre Muttersprache zu sprechen und hat sie 50 Jahre lang nicht mehr gesprochen (SR 20).13 Erst Soharas Notfall veranlasst sie, diesen Schwur zu brechen und sie telefoniert zum ersten Mal wieder in deutscher Sprache mit einem Radiosender, ironischerweise um eine Durchsage an Simon zu veranlassen, der kein Deutsch versteht. Dass sie und Sohara in Straßburg Tür an Tür wohnen, erklärt sie so: Wir wohnen auf ein und derselben Etage, und die eine kommt aus Mannheim und die andere kommt aus Oran. Weiter können doch Orte gar nicht voneinander entfernt sein, sagte Frau Kahn. Jetzt leben wir hier, nicht etwa, weil wir uns diese Stadt oder das Land ausgesucht haben, sondern weil sie uns von den Orten, wo wir herkommen, vertrieben haben, und wir können beide nicht mehr zurück. Sie nicht und ich nicht, nach Mannheim nicht und nicht nach Oran. (SR 71f.)
Beide Frauen sind sich bewusst, dass sie theoretisch in ihre Heimatländer zurückreisen könnten, damit aber nichts gewonnen wäre. Sie würden heimlich nach ihren Straßen, Wohnungen und Namen von Bekannten suchen und sich völlig entfremdet vorkommen, ungewünscht an einem Ort, an dem sich die Spuren der Vergangenheit »verflüchtigt« haben, ein Topos in Barbara Honigmanns Werk.14 Diesem Schmerz wollen sich beide nicht aussetzen. Diese zwei ganz und gar verschiedenen Frauen verbindet ihr Judentum, das Exil, der temporäre Verlust ihrer Kinder und die Erfahrung der Diaspora. 12
13 14
Amir Eshel weist in seinem Aufsatz »Die Grammatik des Verlustes« darauf hin, dass für Frau Kahn die Chiffre ›Kannibalen‹ »das Unverständliche, Nicht-Intelligible an dem geschichtlichen Augenblick, da der Glaube an Deutschland als einen menschlichen Ort, als einer Heimat zerbrach« darstellt. »Alle Deutschen als Kannibalen zu bezeichnen, markiert somit die Erkenntnis, daß keine abbildende Beschreibung stets entrückender historischer Gegebenheiten, kein erklärendes Narrativ diesem Bruch, dieser zivilisatorischen Überschreitung gerecht werden kann. Frau Kahns ›Kannibalen‹ deuten darauf hin, daß die Sprache eben keine Worte hergibt für das, was geschah, daß sich also das Geschehene nur in Form einer anderen Sprache, einer anderen Grammatik und Semantik niederschlagen kann.« Eshel, Die Grammatik des Verlusts (wie Einleitung, Anm. 14), S. 72. Daniel Mendelsohn, ein amerikanischer Repräsentant der dritten Generation, der in seinem Buch The Lost. A Search for Six of Six Million seine Reisen in alle Welt auf der Suche nach Informationen über die Familie seines im Holocaust umgekommenen Großonkels dokumentiert, zitiert eine Überlebende in Sydney, Australien, die das gleiche Wort wie Frau Kahn, allerdings für die mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Ukrainer benutzt: »Cannibals, a woman in Sydney would spit. I call them cannibals. We lived next door to them for years – and then this.« (New York: HarperCollins Publishers 2006, S. 130). Dies erinnert an Jean-Marcs Haltung und die seiner Eltern gegenüber allem Deutschen in Eine Liebe aus nichts. Erinnert sei an die Spurensuche der Ich-Erzählerin in Eine Liebe aus nichts, die in der hessischen Bergstraße vergebens nach konkreten Anhaltspunkten sucht, die ihr das Leben ihrer Vorfahren väterlicherseits näher bringen würden. Auf diese vergebliche Spurensuche als Topos in Honigmanns Werk wird bei der Analyse von Ein Kapitel aus meinem Leben noch näher eingegangen.
2 Die Darstellung verschiedener jüdischer Lebenswelten
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Die Darstellung verschiedener jüdischer Lebenswelten
Barbara Honigmann versucht in diesem Roman, die Vielfalt der jüdischen Lebenswelten darzustellen. Die Leser erfahren zwar von Reibungsflächen mit der christlichen und arabischen Umgebung, der eigentliche Konflikt des Romans, die Kindesentführung, findet jedoch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft statt. Wir bekommen Einblicke in ein bestimmtes Milieu der Sephardim, wobei Honigmann betont, Soharas Familie dürfe auf gar keinen Fall stellvertretend für alle nordafrikanischen Juden gesehen werden.15 Das Stereotyp will, dass die Sephardim als nicht so intellektuell wie die Aschkenasim gelten; Honigmann führt in einem Interview als Gegenbeispiele den Starphilosophen von Frankreich, den aus Tunesien stammenden Bernhard Henry Levi und den Herausgeber des Nouvel Observateur Jean Danielle an, der wie Sohara aus Algerien kommt: »Mit dem Mißverständnis muß man unbedingt aufräumen, daß das Bild, was ich dort beschreibe, das Bild der nordafrikanischen Juden ist. Das ist überhaupt nicht so./ Das ist die Geschichte dieser Familie, dieser Schicht«.16 Innerhalb dieser zwei Großgruppen gibt es viele Abstufungen; Frau Kahn ist aschkenasische atheistische Jüdin, Rabbi Hagenau ein aschkenasischer tatkräftiger, in einem modernen Büro wirkender Gemeinderichter, Sohara eine gläubige sephardische Jüdin, Simon ein religiöser Eiferer und falscher Rabbiner, der sich wie Tartuffe in Molières Stück als gemeiner Verbrecher entpuppt und schließlich bekommen die Leser am Ende des Romans einen kurzen Einblick in das chassidische Milieu in London. Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie Honigmann diese Gruppen porträtiert, welche Stereotypen die Aschkenasim von den Sephardim haben und umgekehrt. Sohara und Frau Kahn unterscheiden sich in ihrem Judentum bezüglich der Gruppe, der sie angehören. Sohara ist sephardische Jüdin und Frau Kahn aschkenasische. Der Begriff »Sephardim« kommt von dem Hebräischen »Sepharad«, der Name des Gebietes, wohin die Juden nach der Zerstörung des ersten Tempels gebracht wurden. Er wurde zuerst im Mittelalter für die Juden aus Spanien benutzt. Nach deren Vertreibung im Jahre 1492 siedelten sich die Sephardim in Nordafrika, Italien, Ägypten, Palästina, Syrien, den Balkanstaaten und dem Türkischen Reich an. Später wurden diese Gemeinschaften durch portugiesische Juden verstärkt. Weitere Ansiedlungen sephardischer Juden gab es in Amsterdam, London, Hamburg, Bordeaux, Bayonne, Westeuropa, den Westindischen Inseln und Nordamerika. In den Mittelmeerländern sprachen die Sephardim Judeo-Spanisch (Ladino). Der Begriff »Aschkenasim« kommt aus dem Hebräischen und bedeutet »Volk des Nordens«. Ursprünglich wurde er für die deutschen Juden ge15 16
Marcus Simon: Die Geschichte von Sohara und Simon. In: Saarbrücker Zeitung, 12. Juni 1996, S. 9. Dietschreit, Leben und Schreiben (wie Anm. 2), S. 10.
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braucht, aber später bezeichnete das Wort auch Juden aus Nordfrankreich, Polen, Russland und Skandinavien. Die Sprache der Aschkenasen war bis zum 20. Jahrhundert Jiddisch. Was die beiden Gruppen außer der geographischen Lage in der Diaspora unterscheidet, sind bestimmte Aspekte des Gottesdienstes und die Aussprache des Hebräischen.17 Honigmann porträtiert in diesem Buch die zwei Gruppen, so wie sie sich gegenseitig sehen mit all ihren Vorurteilen und Stereotypen. Dabei steht die Frage, wer angeblich mehr gelitten hat, im Vordergrund: Bei euch in Afrika war alles nicht so schlimm, haben uns die Aschkenasim gesagt, als wir hierherkamen, und sie wußten wenig von dem, wie es wirklich in Afrika gewesen war. Die Aschkenasim waren in jedem Fall die Elite des Leidens, die Weltmeister des Martyriums, wir waren dagegen reine Anfänger, in den hintersten Rängen plaziert, darüber hinaus sowieso halbe Araber, und wir mußten erst einmal alles, aber auch alles von ihnen lernen. (SR 24)
Eine weitere Bemerkung, die in diese Richtung geht, macht Sohara, als Frau Kahn ihr vorschlägt, den Schabbat gemeinsam zu feiern: »Sie hatte so eine Art gefillte Fisch zubereitet, das zweite Heiligtum der Aschkenasim nach den KZs, man kann schwer mit ihnen darüber reden« (SR 72). In dieser ›Hierarchie des Leidens‹ schneiden die Sephardim schlecht ab, da sie den Holocaust nicht erlebt haben, mit dem die Aschkenasim sozusagen alles in den Schatten stellen können, was das Leiden betrifft. Diese zynische Bemerkung Soharas ist sicher geprägt durch das negative Bild, das Simon von den Aschkenasim hat und das Sohara womöglich gedankenlos übernimmt. Die Annahme, dass es eine Meßlatte des Leidens gibt, diskreditiert die persönliche leidvolle Erfahrung, aus Algerien ausgewiesen worden zu sein.18 Simon ist der Meinung, die Sephardim sollten stolz auf ihre Kultur sein und nicht immer nur versuchen, die andere Gruppe der Juden nachzuahmen. Er findet es ironisch, dass die Aschkenasim die Sephardim zwar abergläubisch und ungebildet nennen, selber aber durch ihre ganze Bildung den Glauben verloren hätten (SR 37). Als Beispiel dafür könnten Frau Kahns Eltern gelten, die immerhin, wie schon erwähnt, am Schabbat ihr Wäschegeschäft aufhatten als Zugeständnis an die christliche Gesellschaft. Frau Kahn selber ist ein Beispiel für eine atheistische Jüdin. Sie sagt von ihrem Glauben: In die Synagoge gehe ich, wenn man mich einlädt, zu einer der unzähligen BarMizwas, Verlobungen, Hochzeiten, an denen es ja in dieser Stadt wirklich nicht mangelt, und das ist schon genug für mich, mehr kann ich an religiösem Eifer nicht aufbringen, denn auf wessen Seite Gott steht, das weiß ich schon lange nicht mehr. Seit ich in diesen Lagern war, muß ich an seiner großen Güte jedenfalls zweifeln. 17 18
Siehe zu den Definitionen Dan Cohn-Sherbok: The Blackwell Dictionary of Judaica. Padstow/Cornwall: T. J. Press 1992, S. 489 und S. 29. Diese Wettkampfsituation bezüglich, wer mehr gelitten hat, erinnert an eine ähnliche Frage im Verhältnis zwischen der Erzählerin und Alfried in Eine Liebe aus nichts. Dort ging es darum, wer der größere Verlierer war.
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Allerdings habe ich ›es‹ ja überlebt, und ich kann nicht einfach abtun, daß mir da vielleicht ein Wunder geschehen ist, wie ich den Kannibalen entkommen bin. Wissen Sie, ich kann nicht mehr an Gott und sein Gesetz glauben, aber, sagen wir, ich will ihn auch nicht ganz vergessen. (SR 74f.)
Hier artikuliert Honigmann durch Frau Kahns Worte den großen Problemkomplex der Theodizee. Frau Kahn ist sich einerseits bewusst, dass sie Gott dankbar sein muss wegen des »Wunders« ihres Überlebens, kann aber andererseits angesichts des Völkermordes an ein transzendentes Wesen, das dies geschehen ließ, nicht mehr glauben. Frau Kahn ist Mitglied des »Cercle Wladimir Rabi«, einer atheistischen Vereinigung von Juden, die sich treffen, um miteinander zu diskutieren, sich zu erinnern, zu forschen, sich Vorträge anzuhören und »Pilgerfahrten« in die ehemaligen KZs zu unternehmen. Allerdings ist sie wegen der für sie traumatischen Folgen nur einmal mit zu so einem Treffen gefahren, wo sich Überlebende eines KZs in einem Hotel getroffen haben: Stellen Sie sich mal ein ganzes Hotel, in irgendeiner Provinz, voll ehemaliger KZHäftlinge vor, die sich nach Jahren wiedersehen und natürlich durcheinander rufen, rennen, schreien, heulen und sogar ohnmächtig werden! Das Hotelpersonal hat mehr oder weniger die Flucht ergriffen und uns alles überlassen. Als wir dann ›unser‹ KZ wieder betraten, haben einige epileptische und andere Anfälle bekommen. Diese Reise hat mich zwanzig Jahre zurückgeworfen, und Raffael mußte mich danach für ein paar Wochen ins Krankenhaus bringen. (SR 74)
William Donahue hat in einem aufschlussreichen Artikel festgestellt, dass diese Szene vor einer Beschreibung der Reaktion Frau Kahns kommt, als Sohara sie einmal mit in ihre Synagoge einlädt. Da es gerade Simchat Tora ist, der Tag, an dem die jährliche Vollendung der Toralesungen gefeiert wird, tanzen die Männer »wie verrückt«, schreien aus vollem Halse auf arabisch und stapfen mit den Füßen auf. Sie werden von den Frauen jenseits der Trennwand durch Johlen, Bonbonwerfen und Kreischen in ihrem religiösen Eifer angefeuert.19 Frau Kahn reagiert entsetzt und will nie wieder so ein Erlebnis mitmachen; es ist ihr zu fremd. Donahue argumentiert, dass sich in der Gegenüberstellung dieser Szenen zeigt, was die jeweiligen Gruppen »anbeten«. Zugespitzt formuliert ist für die Aschkenasim der Holocaust Religionsersatz; sie 19
Dieser Tag ist der letzte des Laubhüttenfestes (Sukkot). »An diesem Tag [...] wird der letzte Abschnitt der Tora vom ›Bräutigam der Tora‹ [...] gelesen (Dtn 34) und der neue Zyklus (Gen 1) durch den ›Bräutigam des ersten Toraabschnitts‹ [...] begonnen. Dieser Brauch ist Sinnbild fortwährender Freude an der Tora. In festlicher Prozession [...] werden sämtliche Torarollen siebenmal um das Lesepult getragen. Der Abschnitt Dtn 33 wird so oft wie nötig wiederholt, um möglichst alle an diesem Tag an der Toralesung zu beteiligen [...]. Singend und um die Torarollen tanzend, feiern die Gläubigen diesen Tag in ausgelassener Freude in der Synagoge; es finden Sammlungen für die Synagoge und Festmähler zu Ehren der Tora statt.« Neues Lexikon des Judentums. Hg. von Julius H. Schoeps. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag 1998, S. 764.
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pilgern nicht zur Synagoge, sondern zu den KZs, wo sie sich ähnlich erregen wie die arabischen Juden in der Synagoge.20 Honigmann gibt nicht vor, dass die Aschkenasim und Sephardim monolithische homogene Gruppen sind, sondern weist auf die ideologischen Unterschiede innerhalb dieser großen Gruppen hin. Eine Bemerkung von Frau Kahn zeugt von ihrer Abneigung gegenüber Rabbinern, vor allem, »wenn sie aus entlegenen polnischen Orten stammen und versuchen, eine gemäßigte westeuropäische Gemeinde nach den beschränkten Vorstellungen ihres Schtetl umzuwandeln« (SR 91). Hier werden tiefgreifende Unterschiede zwischen Ostund Westjudentum, wie sie schon vor der Shoah existierten, wieder aufgegriffen; es steht hier die Orthodoxie des Ostjudentums dem liberaleren Reformjudentum, wie es sich in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhundert herausgebildet hat, gegenüber. In Sohara begegnen wir einer Jüdin, die versucht, die Regeln und Gesetze der Religion einzuhalten und unerschütterlich in ihrem Gottvertrauen ist. Ihr sprechender Name geht auf den »Sohar« zurück, ein mystischer Kommentar auf den Pentateuch. Er wurde im 2. Jahrhundert von Simon bar Jochai, seinen Kollegen und Anhängern verfasst, aber erst Ende des 13. Jahrhundert von Moses de Leon in Spanien publiziert. Das Werk, in dem längere homiletische Passagen mit kürzeren Diskursen und Parabeln abwechseln, ist auf Hebräisch und Aramäisch geschrieben. Der Sohar ist eines der kabbalistischen Hauptwerke und alle nachfolgenden Schriften, die sich mit der Kabbala befassen, basieren darauf.21 Jeffrey Peck bemerkt die Ironie in Simons Behauptung, ihre Namen würden gut zueinander passen. »Simon kommt ja von schama, also ›hören‹, und Sohara, wie ›sehen‹, von ›Licht‹, ›Glanz‹, nämlich ›Glanz des Himmels‹; wie es im Buch Daniel heißt. . . « (SR 37). Simon gibt vor, er hätte nächtelang nicht schlafen können, als er den Sohar studiert habe, so aufgeregt wäre er gewesen und genauso ginge es ihm jetzt mit Sohara. Peck meint dazu: Now knowing Simon for what he is, a liar and confidence man, his sweet words ring hollow and his reference to interpreting holy books empty as well. His interpretation of Sohara’s name is fateful since she could not ›see‹ through him and know how insincere he actually was. However, freed of Simon and the life he represented, Sohara can now achieve what the S(Z)ohar offers.22
Sie trägt ihre Haare unter einem Kopftuch verborgen, hält den Schabbat und die Speisegesetze ein, ist bibelfest – sie nennt ihre Kinder nach bestimmten Bibelfiguren – und kennt Gebete für jeden Anlass. Als kleines Kind haben sie und ihre Schwester jeden Samstagnachmittag mit ihrem Onkel, der Vaterersatz 20
21 22
William Collins Donahue: The real »Tora Connection« in Barbara Honigmann’s »Soharas Reise«. In: Literatur und Identität. Deutsch-deutsche Befindlichkeiten und die multikulturelle Gesellschaft. Hg. von Ursula E. Beitter. New York: Peter Lang 2000, S. 69–80, hier S. 73f. Cohn-Sherbok, The Blackwell Dictionary of Judaica (wie Anm. 17), S. 595. Peck, Telling Tales of Exile (wie Anm. 3), S. 569.
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war, den Wochenabschnitt gelernt (SR 28). Auch im Exil versucht sie weiterzulernen und schreibt sich in eine Lerngruppe von Frauen ein, denen Rabbi Hagenau die Gebete erklärt. Er will, dass die Frauen auch verstehen, was sie sagen »und nicht nur etwas herunterleiern« (SR 92). Laut Sohara war in Oran die Angst vor Gott größer als in Mannheim; für sie ist es wichtig, die Schabbatvorschriften einzuhalten, während sie von Frau Kahn als »Formalitäten« abgetan werden (SR 75). Sohara wuchs in einem Umfeld auf, wo man z. B. an magische Zahlen glaubte und die Leute versuchten, immer den Zahlenwert 5 im Gespräch unterzubringen, weil er Glück und Gesundheit brachte (SR 75). Die Pilgerfahrten der Sephardim gehen nicht in die KZs, sondern zu den Gräbern der heiligen Rabbiner oder auch im Falle Soharas, die zunächst Schwierigkeiten hatte, schwanger zu werden, zum Geburtsort Raschis, nach Troyes, wo dessen Mutter ein Wunder geschehen ist (SR 34ff.). Sohara glaubt, diesem Ausflug ihre Kinderschar zu verdanken. Sohara ist auch abergläubisch in Hinsicht auf Unglück. Sie freut sich z. B., wenn ihr kleinere Missgeschicke widerfahren, denn damit meint sie, größere abzuwenden. Diese Rechnung geht nicht auf, da die Familie erstens aus Oran vertrieben wurde, was der größte Einschnitt in ihrem Leben ist und zweitens kidnappt ihr Mann ihre Kinder. Trotzdem wankt sie nicht in ihrem Gottvertrauen; sie hofft, dass »Gott es nicht mit mir übertreiben würde, ich wüßte schließlich nicht warum, denn ich liebe ihn, ich fürchte ihn, und ich lehne mich nicht gegen ihn auf« (SR 78). Anton Thuswaldner fasst zusammen, welche Entwicklung diese Frau in Bezug auf Religion durchmacht: »Sohara Serfaty verliert nicht den Glauben, aber die Hörigkeit, die jeden Glauben korrumpiert. Sie ist eine Jüdin, die sich allmählich vor ihren eigenen Gefühlen und Gedanken nicht mehr fürchtet«.23 Der andere sephardische Jude in der Erzählung ist Simon. Er wird von Kritikern als moderner »Tartuffe« bezeichnet, eine Anspielung auf Molières Komödie, in der ein religiöser Eiferer sich in eine Familie einschleicht, sexuelle Avancen gegenüber der verheirateten Dame des Hauses macht, ihren Mann mit seinem falschen Eifer so bezirzt, dass der ihm sein ganzes Vermögen überschreibt, im letzten Akt jedoch als Verbrecher entlarvt wird.24 Simons Religionsgebaren ist nicht ernst zu nehmen. Er beeindruckt Sohara zunächst mit seinem Äußeren, dem weißen Bart und dem schweren Körper, aber auch mit seinen religiösen Sprüchen, Erklärungen und Schmeicheleien (SR 36f.). Die naive Sohara freut sich, noch unter die Haube zu kommen und heiratet den vermeintlichen Rabbiner in Amiens. Hier spielt Honigmann auch mit dem 23 24
Anton Thuswaldner: Die Farben des Judentums. Rezension von »Soharas Reise«. In: Salzburger Nachrichten, 31. Dezember 1996. So bezeichnet Stefan Tolksdorf Simon als »sephardische[n] Tartuffe« und Michael Braun ihn als »moderne[n] Tartuffe«. Tolksdorf, Nie Kalkül, nie Pose (wie Kapitel IV, Anm. 8), S. 6. Michael Braun: Dreifacher Todessprung ohne Netz. Rezension von »Soharas Reise«. In: General-Anzeiger, 16./17. August 1997.
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Topos des falschen Messias; nach Rabbi Hagenau ist Simon ein »kleiner falscher Messias, der sich nun unsichtbar gemacht hat« (SR 90). Die Entlarvung des sich versteckenden falschen Rabbis ist wiederum eine Variation von Honigmanns Thema des Enthüllens und Verbergens. In Bezug auf seine Religion ist Simon eifrig darauf bedacht, niemanden daran teilhaben zu lassen. Soharas Vorstellung eines häuslichen Zusammenlebens, bei dem der Vater die Kinder in der Tora unterrichtet, so wie sie vom Onkel in Oran unterrichtet wurde, erweist sich als Luftschloss: »Aber das Wissen, das er aus diesen Büchern bezog, behielt er für sich, mit den Jungen lernte er nicht Talmud und mit den Mädchen nicht Tora, er schnauzte nur mit ihnen herum, denn nichts, was in unserem Hause geschah, war ihm recht« (SR 61). Auch ihr gegenüber ist er schroff und weist jede Frage ab. Durch das Vorenthalten von Wissen gängelt er seine Frau und Kinder, hält sie bewusst ignorant und macht sie sich gefügig. Simon glänzt schon seit Jahren durch Abwesenheit und lässt seine Frau mit ihren sechs Kindern daheim, während er angeblich für die Juden in Russland und für die Jeschiwot in Israel Geld sammelt, dies aber veruntreut, so dass er sich in Frankreich schon nicht mehr blicken lassen kann. Bei den Besuchen am Bahnhof in Kehl hält er Hof »wie der Sonnenkönig« und belehrt die Familie von oben herab »in weltlichen und natürlich besonders in religiösen Dingen«, bevor er wieder spurlos verschwindet (SR 10). Durch den Vergleich von Simon mit dem Sonnenkönig zieht Sohara sein Verhalten allerdings ins Lächerliche und es wird klar, dass sich die Familie schon lange nicht mehr an seine Anweisungen hält, sondern gut ohne ihn funktioniert. Am Anfang bewundert ihn Sohara; dieser Mann weiß alle passenden Segenssprüche und kennt viele Geschichten von den großen Rabbinern, die er ihr am Anfang ihres Kennenlernens erzählt. Vom Messias weiß er, dass er bald kommen wird; ironischerweise ist seine Begründung dafür, dass sich vor seiner Ankunft »erst das Böse ansammele und aufhäufe zu Gebirgen von Schlechtigkeit und Bösartigkeit« und man sich nur umsehen brauche, wie übel die Welt sei. Sein eigener Beitrag zu dieser Schlechtigkeit ist ihm anscheinend gar nicht bewusst (SR 33). Für Simon ist es wichtiger, den Buchstaben der Tora einzuhalten als menschlich zu handeln. Er schlägt in seinem religiösen Eifer völlig über die Strenge und verstört damit Frau und Kinder. In den Schulbüchern müssen die Kinder verbotene Abbildungen von nackten Menschen zukleben, Puppen oder Tiere werden nicht im Haushalt geduldet, »weil sie an Götzen erinnerten« und die Lehrer beschimpft er am Telefon wegen des unpassenden Unterrichtsmaterials (SR 61). Ein Höhepunkt der seelischen Grausamkeit seiner Frau gegenüber kommt, als er den Küchentisch, ein Möbelstück, das sich das Paar gemeinsam ausgesucht hatte, mit der Axt kurz und klein schlägt, weil sich Sohara erdreistet hat, ein Kind darauf zu wickeln und ihn deswegen entehrt hat (SR 62). Durch seine Kälte und Schroffheit ihren Fragen gegenüber beginnt Sohara an der Echtheit der Aussagen ihres Ehemanns zu zweifeln, bis sie ihm schließlich ins Gesicht sagt, was sie von ihm hält. Frau Kahn weiß schon viel früher als
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die dupierte Sohara, dass dieser »Rabbiner aus Singapur« nicht echt ist, weshalb Simon die Nachbarin aus der Wohnung verweist, als diese wegen seines Rabbinats in lautes Lachen ausbricht (SR 15). Für Rabbi Hagenau ist Simon ein »Wahnsinniger Gottes, den man nur schwer bremsen kann. Einer, der glaubt, das Böse auf die Spitze treiben zu müssen, um die Welt zu erlösen« (SR 90). Hagenau ist derjenige, der alles in die Wege leitet, um den Pseudo-Rabbiner schließlich zu überführen. Er ist ein klar denkender, rationalistisch eingestellter Mann, der in einem modern ausgestatteten Büro arbeitet und sich in vielen verschiedenen Sprachen verständigen kann. Er, wie auch Frau Kahn, finden Simons Behauptung, der »Rabbiner von Singapur« zu sein, lachhaft und sind durch ihre Skepsis Gegenspieler Simons. Hagenaus Vorbehalte gegenüber Soharas Mann werden erhöht, als sie ihm erzählt, dass er den Sohar und das Buch Daniel so intensiv studiert. »›Ausgerechnet die Bücher, die keiner versteht‹«, ist seine Reaktion (SR 94). Wie Kleists Michael Kohlhaas hat Sohara hohe Ideale und will »Recht und Gerechtigkeit«; der pragmatische Rabbi Hagenau jedoch will sich mit Geringerem, dafür aber Machbarem zufrieden geben (SR 88). Er sucht nach einer praktischen Lösung, die vor allem die Kinder wieder zur Mutter zurückbringen wird; erst dann will er sein Augenmerk auf die gerechte Bestrafung des Heuchlers richten (SR 95).25 Seine Handlungsweise basiert im Gegensatz zu der des falschen Rabbiners auf Mitmenschlichkeit und nicht auf Menschenverachtung, wie sie Simon so oft seiner Frau und seinen Kindern gegenüber demonstriert hat. Der Plan, den Hagenau ausheckt, bringt ihn selber zum Lachen, da er die »Tora Connection« einschalten will, um dem Verbrecher das Handwerk zu legen. Es handelt sich um ein Netzwerk von Rabbinern in der ganzen Welt, das durch die Mittel der modernen Kommunikation, durch Rabbinerkonferenzen und religiöse Feiern, auf denen man sich trifft, verbunden ist. Hier ironisiert Honigmann sicher auch die antisemitische Idee der ›jüdischen Weltverschwörung‹, die durch Pamphlete wie »Die Weisen von Zion« leider auch heutzutage noch propagiert wird. Tatsächlich gelingt es Hagenau durch seine weltweiten Kontakte, den falschen Propheten ins Netz zu locken und ein Happy End herbeizuführen. Die Chassidim in London schließlich sind noch eine Gruppe von Juden, die im Buch kurz vorgestellt werden. Der Chassidismus ist eine religiöse und soziale Bewegung, die vom Baal Schem Tow in Südostpolen Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet wurde. Alle Leute sind seiner Lehre nach gleich; das Gebet und die Erfüllung der Gebote Gottes sind von fundamentaler Bedeutung. Die Chassidim, deren Lehre sich in ganz Osteuropa und noch weiter verbreitete, waren eine Gegenbewegung zu den Talmudisten, was sich vor allem darin zeigt, dass ihrem Glauben nach die Reinheit des Herzens wichtiger 25
Honigmann legt in diesem Zusammenhang Sohara Émile Zolas berühmt gewordene Worte »Ich klage an!« in den Mund, mit denen dieser 1898 in einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik für den verleumdeten französisch-jüdischen Kapitän Dreyfus eintrat.
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ist als das Lernen. Obwohl die großen Zentren des Chassidismus während des 2. Weltkrieges zerstört wurden, emigrierten mehrere Dynastien in die USA, unter ihnen die Lubawitscher und die Satmar, die ihre eigenen Colleges und Schulen errichteten und so weiterhin großen Einfluss auf Juden in aller Welt ausüben.26 In Soharas Reise ist es eine chassidische Frau in Londons jüdischem Viertel Stamford Hill, die Verdacht geschöpft und ihren Mann alarmiert hat, der die Sache an den lokalen Rabbiner weitergeleitet hat. Dieser informierte schließlich Hagenau in Straßburg. Bei der Begegnung zwischen Sohara und dem Chassid Mordechai, der sie am Londoner Flughafen in Empfang nimmt, hat sie das Gefühl, als ob er ein naher Verwandter sei; sie weiß, es ist nicht üblich, sich die Hand zu geben, da die Frau unrein sein könnte, und versteht instinktiv diese Rituale (SR 113). Sie verständigen sich auf Hebräisch, von dem Sohara wegen der vielen Gebete und Segenssprüche zumindest eine Ahnung hat, während sie weder Englisch noch Jiddisch beherrscht und er »Gott behüte« auf hebräisch schreit, als sie ihn fragt, ob er arabisch könne. Das Milieu in Stamford Hill ist orthodox und wird mit kurzen Strichen gekennzeichnet. Honigmann schildert durch Soharas Augen das Straßenbild: »schwarz angezogene Männer mit Schläfenlocken, manchmal diskret hinter die Ohren geklemmt, und Frauen mit Perücken und einem Haufen Kindern, die in mehrsitzigen Kinderwagen saßen oder daran hingen oder darum herum liefen« (SR 114). Die Frau, bei der sich die Kinder aufhalten, trägt eine Perücke, wie es in orthodoxen Haushalten üblich ist und Mordechai hält das Auto an, um in einem Haus Mincha, das Nachmittagsgebet, zu beten. Als Unterhaltung legt er eine Kassette ein mit einem Lied über das baldige Kommen des »Moschiach«, also des Messias. Für Sohara ist aber in dem Moment die Ankunft ihrer Kinder unmittelbarer und konkreter und sie drückt »Pause«, als Mordechai für kurze Zeit aus dem Auto verschwindet. Nachdem die Kinder glücklich mit Sohara vereint im Auto sitzen, rast Mordechai davon, »als ob uns tatsächlich Pharao mit seinem Heer verfolgte« (SR 115f.). Sohara vergleicht die Flucht aus London mit dem Auszug aus Ägypten genauso wie die Erzählerin von Roman von einem Kinde das Überqueren des Alexanderplatzes am Pessachabend als Flucht vor Pharaos Heer gedeutet hat und die Erzählerin in Eine Liebe aus nichts Angst hat, in den Fluten der Großstadt Paris zu versinken. Mit dieser letzten Beobachtung sei festgestellt, dass Sohara die Welt im Allgemeinen durch die Brille der Bibel oder im Hinblick auf die Gesetze und Gebote ihrer Religion sieht. Die Bibel ist ihr Referenzpunkt, von dem aus sie ihre eigene Welt interpretiert, was einerseits für deren Aktualität spricht, andererseits aber auch Soharas eingeschränkte Perspektive erklärt. Sie vergleicht ihre umworbene Schwester beispielsweise mit Rachel und sich selbst mit Lea, zum einen wegen des Aussehens, zum anderen aber wegen derselben Anzahl der Kinder, die die biblischen Frauen beziehungsweise ihre Schwester und sie 26
Cohn-Sherbok, The Blackwell Dictionary of Judaica (wie Anm. 17), S. 210.
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bekommen (SR 28f.). Als ihre jüngere Schwester vor ihr heiratet, kommentiert sie das so: »Meine Mutter hat zu Elias [der Verlobte ihrer Schwester] nicht, wie Laban zu Jakob, gesagt, es ist bei uns nicht Brauch, die Jüngere vor der Älteren zu verheiraten, und so zog meine Schwester weg und ich blieb da« (SR 29). Neben der Tora sind die jüdischen Gebete und Rituale, nach denen sie ihr Leben strukturiert, Sohara wichtig. Im Flugzeug z. B. spricht sie das Reisegebet und bekommt ihr von Rabbi Hagenau überprüftes, mit Stempel versehenes koscheres Essen. Das wichtigste Ritual für Sohara aber ist die Einhaltung des Schabbats. Um diesen Tag kreiste früher in Oran die ganze Woche; man begann mit den Vorbereitungen bereits am Montag, um für Freitagabend alles bereit zu haben. Niemand in der Familie oder im Verwandtenkreis blieb alleine, sondern man feierte diesen Tag der Ruhe gemeinsam. Erst durch das Gemeinschaftserlebnis bekam er einen Sinn. Demgemäß ist für Sohara ein Schabbat ohne ihre sechs Kinder undenkbar und sie sieht ihm mit Bangen entgegen. Frau Kahn spürt, dass dieser Tag für Sohara etwas Besonderes darstellt und trotz ihrer Skepsis den Geboten ihrer Religion gegenüber, lädt sie ihre Nachbarin ein, den Festtag zusammen zu begehen. Dieses gemeinsame Erlebnis der aschkenasischen und sephardischen Jüdin entbehrt nicht der komischen Elemente. Das Essen steht im Mittelpunkt dieses Ruhetages; Sohara bereitet wie jeden Freitag eine Dafina vor während Frau Kahns kulinarischer Beitrag aus Gefillten Fischen besteht. Beide Frauen beäugen das für sie ungewohnte und unbekannte Essen argwöhnisch mit dem Resultat, dass sie nicht allzu viel an diesem Schabbat essen (SR 78). Trotz dieser verschiedenen Speisegewohnheiten ist festzuhalten, dass die Frauen ihre Unterschiede überwunden haben und die Solidarität zwischen ihnen, die auf dem Verlust der Kinder, ihrem Judentum, und ihrer Einsamkeit basiert, den Sieg davon trägt. Sohara sagt an einer Stelle über die klischeehaften Vorstellungen, die Aschkenasim von den Sephardim haben und umgekehrt: »Zwischen Frau Kahn und mir hat das aber keine Rolle gespielt, daß sie aschkenasisch und ich aus Nordafrika bin. Sie ist nicht stolz, und ich bin es auch nicht. Wir sind zwei Frauen, die ziemlich allein dastehen, und deshalb haben wir uns ein bißchen zusammengetan« (SR 24). Das religiös wichtigere Element des Schabbat ist das Ruhen der Arbeit. Sohara beschreibt, wie hektisch und wirbelsturmartig es bei den Vorbereitungen zugeht, dass dann aber ihre »zweite Seele« in sie eintritt, sie endlich aufatmen kann und »die sechs Tage der Woche« von ihr abfallen. Sie benutzt die Gelegenheit auch, um den Kindern beizubringen, »daß man nicht immer alles sofort erledigen muss, denn dafür ist doch morgen auch noch Zeit« (SR 69). Meist schläft Sohara auf dem Sofa ein und ihre Kinder beordern sie gegen elf ins Bett. Als Sohara sich wieder mit ihren Kindern vereint, wird dieser Tag wie ein Schabbat gefeiert. Rabbi Hagenau, Soharas Schwester, deren Mann und der Hund sind anwesend wie auch Frau Kahn und ihr Sohn Raffael. Wie am Samstag schläft die Mutter am Ende des Abends vor Erschöpfung ein und der kleine Jonathan fordert sie mit dem rituellen »Mama, ins Bett!« auf, ins Schlafzim-
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IV ›Soharas Reise‹
mer zu wandern.27 Wie Donahue feststellt, ist der Schabbat in diesem Roman die eigentliche Tora Connection: »Without a doubt, Shabbat is the event that brings diverse parties together throughout the novella«.28 Über die Feier der Wiedervereinigung der Mutter mit ihren Kindern schreibt er: It is a diverse group bound together by love, friendship and, in a broad sense, by the Torah. Though on the surface a festivity to rejoice in the reunion of mother and children, this final ›Shabbat‹ really celebrates the reunion of the novella’s principle characters, Sohara and Frau Kahn, as well as the deepening of their unlikely friendship.29
Als Sohara vor ihrer Heirat regelmäßig von Simon besucht wird und sich eine eventuelle engere Beziehung mit ihm anbahnt, bieten Soharas Mutter und sie ihm das »erweiterte Menü« an; das Schabbatmahl ist also nicht nur eine Familienangelegenheit, sondern wird als Gelegenheit benutzt, eheliche Anwärter mit kulinarischen Leckerbissen zu beeindrucken nach dem Motto ›Liebe geht durch den Magen‹. Dies ist zumindest die Ansicht von Simons zukünftiger Schwiegermutter, die sich an ihre eigene Verlobungszeit erinnert; »es gab da geheimnisvolle Zutaten und kleine Tricks, um in der Heiratsangelegenheit weiterzukommen« (SR 38). Sohara steht dem eher skeptisch gegenüber und meint, dass es auch so gut gehen müsse, wenn man sich nur liebt. Leider handelt sie sich mit Simon einen Mann ein, der weder ihr Essen schätzt – er ist nie zu Hause – noch sie liebt, sondern an seiner Familie seinen religiösen Fanatismus auslebt und Sohara mitsamt den Kindern tyrannisiert.
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Soharas Selbstfindung
Ein wichtiges Thema in Soharas Reise ist die Selbstfindung der Protagonistin, die eine Reise zu sich selbst unternimmt. Ohne ein gefestigtes Selbst heiratet Sohara Simon, den sie am Anfang rückhaltlos bewundert. Erst langsam beginnt sie an seiner Redlichkeit zu zweifeln, und es dauert unendlich lange, bevor sie sich zur Aktion entschließt. Bald nach der Eheschließung bekommt sie ein Kind nach dem anderen und diese Kinderschar wird für sie der Mittelpunkt ihres Lebens. Der Alltag mit den Kindern verdrängt die so nötige Auseinandersetzung mit ihrer immer schlimmer werdenden ehelichen Situation und 27
28 29
Papacek interpretiert diese Textstelle im Hinblick auf Soharas Selbstfindung so: »An einem gewöhnlichen Wochentag erlaubt sie sich eine Zeit der Entspannung und des Alleinseins. Wenn sie dieses neue Verhalten zur Gewohnheit werden ließe, entwickelte sich ihr Leben zu einem ›ewigen‹ Schabbat – ein Synonym für das Goldene Zeitalter mit der Ankunft des Messias.« Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 111. Donahue, The real »Tora Connection« in Barbara Honigmann’s »Soharas Reise« (wie Anm. 20), S. 74. Ebd., S. 76.
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verdrängt auch eine Konfrontation mit dem Ich. Die Kinder stehen zu sehr im Zentrum von Soharas Leben; als sie entführt werden, hat diese Mutter das Gefühl, als hätte sie kein Zuhause mehr und hat Angst, sich allein in den leeren Zimmern ihrer Wohnung aufzuhalten (SR 14). Sie sieht sich am Anfang ihrer Selbstfindung als Objekt, als Dienerin ihres Mannes, als Stütze ihrer Kinder und muss lernen, sich auch als Subjekt mit eigenen Wünschen und Ansprüchen anzunehmen. Trotz der häufigen Umzüge von Stadt zu Stadt bewegt sich ihr Leben im kleinsten Radius, der von ihren Tätigkeiten als Hausfrau und Mutter bestimmt wird. Sie dreht ihre Runden »vom Haus zum Kindergarten, zur Schule, zu den Läden, zu Ärzten, Synagogen, die Kinder bringen, die Kinder holen, wieder bringen, wieder holen, Elternversammlung, Ausflug, Ferienspiele, und immer die Kleinen mitschleifen, solange ich sie noch nicht allein lassen konnte« (SR 17). Nie hat sie sich eine Sehenswürdigkeit angesehen oder den Stadtkern und die Umgebung erforscht. Sie resümiert: »In all diesen Jahren habe ich nur für meine Kinder gelebt, mein Leben hat sich eigentlich ganz in das Leben meiner Kinder verwandelt, und ohne die Kinder war ich nichts, einfach nichts mehr« (SR 18). Das unterschiedliche Klima in den verschiedenen Städten erkennt sie nicht etwa daran, ob sie sich zum Ausruhen in die Sonne legen kann, sondern daran, wie schnell die Wäsche auf der Terrasse trocknet, wieder anhand einer Hausfrauentätigkeit (SR 60). Dass sie sich wie der mechanische Spielzeughund, mit dem die Kinder sich manchmal amüsieren, bis die Batterien leer sind, vorkommt, summiert ihre roboterähnliche Existenz, in der sie nie an sich selbst denkt, sondern sich selbstlos für die Kinder und Simon aufopfert (SR 60f.). Nach der Kindesentführung meint sie auf einem »Planeten, der in einem stummen Universum ohne Leben kreist« zu sein und hat Schwierigkeiten, mit der Leere und Stille in der Wohnung zurechtzukommen (SR 50). Der Schock des Alleinseins löst bei ihr eine psychosomatische Krankheit aus, ein Motiv, das auch in anderen Werken Barbara Honigmanns vorkommt.30 Dr. Schwab stellt keine körperlichen Symptome fest, rät ihr aber, sich auszuruhen, ein Rat, den Sohara nicht befolgt. Sie betäubt sich drei Tage lang mit einer groß angelegten Putzaktion, in der sie alles in der Wohnung wäscht, säubert, bügelt und ordnet, ein verzweifelter Versuch, sich durch Haushaltstätigkeiten so zu beschäftigen, dass sie sich nicht mit ihrem wirklichen Problem auseinandersetzen muss. Es ist auch als Versuch zu bewerten, ihre Welt, die aus den Fugen bricht, durch äußere Ordnung zusammenzuhalten. Sie traut sich nicht, aus dem Haus zu gehen, um keinen Anruf zu versäumen, der ihr von dem Schicksal ihrer Kinder berichten könnte und geht sogar so weit, am Samstag das Telefon angesteckt zu lassen, obwohl die Sabbatregeln das verbieten. Aus Scham lässt sie sich auch nicht am Marktplatz blicken, sondern verigelt sich in der Wohnung, wo sie aus den Legosteinen der Kinder zunächst ein Haus baut, dann aber die Arche Noahs, Symbol für ihre Situation. Sie fühlt 30
Siehe dazu vor allem die Besprechung von Roman von einem Kinde.
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IV ›Soharas Reise‹
sich so, als sei eine Sintflut über sie hereingebrochen und dieses biblische Bild hilft ihr, ihre Situation zumindest ansatzweise zu veräußern: »Auch ich mußte mich ja nun verschanzen und darauf warten, daß diese Unglücksflut, die über mich hereingebrochen war, zu Ende ging, […]« (SR 57). Allerdings ist hier noch nicht die Rede von Handlungsbereitschaft, sondern das Verb »warten« indiziert, dass sie sich noch in einer passiven Phase befindet. Als keine Nachricht von den Kindern eintrifft, kommt sie sich vor »wie ein liegengebliebenes Stück Fleisch, das verfault«, ein starkes Bild für die Verwesung von Soharas Seele, die hier an einem Tiefpunkt angelangt ist (SR 57). Endlich findet sie Zeit, über ihr Verhältnis zu Simon nachzudenken. Das Ergebnis ist traurig, da sie merkt, dass sie eigentlich fast nichts von ihm weiß und ihm blind seine »Legenden von Heiligen und Gelehrten und Geschichten von dem einfachen und wunderbaren Leben in Marokko« geglaubt hatte ohne ihn je zu hinterfragen (SR 58). Es dämmert ihr langsam, dass sie einem Betrüger auf den Leim gegangen ist. Nichts an dem Mann ist echt; sogar sein Name ist erfunden, denn er heißt nicht Simon, sondern Abraham, wie sie in seinem Pass liest. Ihre Mutter ist nicht ganz unschuldig an der unkritischen Haltung Soharas. Neben dem bereits erwähnten erweiterten Sabbatmenu, findet sie, ihre Tochter sollte sich in der Ehe unterordnen, sich ihrem Mann beugen, nicht viel fragen, ihn nicht mit ihren Problemen belästigen, ihn bewundern und ruhig ein bisschen Theater spielen. Obwohl Sohara das unter ihrer Würde findet, folgt sie ihrer Mutter aufs Wort und macht genau das, wovon ihr eigener Instinkt sie abhalten will; am Anfang ihrer Ehe ist sie noch völlig fremdbestimmt (SR 59). Symbol für ihr gestörtes Verhältnis zu Simon ist das Schlafzimmer, das sich mehr und mehr in eine Rumpelkammer verwandelt, »ein Spiegelkabinett« ihrer schlechten Erinnerungen, das schon lange nicht mehr seinen eigentlichen Zweck erfüllt, nämlich Ort der Intimität zwischen den Ehepartnern zu sein (SR 16). Langsam lernt Sohara, auf sich selbst zu bauen und beratschlagt nach dem Tode der Mutter wichtige Entscheidungen mit ihrer Schwester und ihrem Schwager (SR 64). An die Stelle, wo vormals Simons heilige Bücher standen, platziert sie den Fernseher und richtet so langsam die Wohnung nach ihren praktischen Bedürfnissen um: »Mit den heiligen Büchern, mit deren Zitate Simon stets seine Ansichten untermauerte, wird auch seine Autorität beiseite geräumt«.31 Aber es bedarf Frau Kahns Ermutigung, das Kopftuch mit einer Baskenmütze zu ersetzen, als die beiden Frauen an den Feiern zum 14. Juli teilnehmen. Durch die Hitze nimmt sie schließlich sogar die Baskenmütze ab (SR 80). Das bedeutet aber nicht, dass Sohara weniger religiös wird, sondern nur, dass sie sich nicht mehr von Simon drangsalieren lässt, die Regeln der Religion bis auf den Buchstaben genau einzuhalten. Für ihn war es ein besonderes Zeichen von Frömmigkeit, wenn man bei den Frauen kein einziges Haar 31
Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 110.
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sah. Er erzählt Sohara die Geschichte von einer Frau, deren Söhne alle große Gelehrte und Heilige geworden sind, was in seiner Interpretation der Lohn dafür gewesen war, »daß nicht einmal die Wände ihres Hauses jemals ihr Haar gesehen hatten« (SR 100). Er will seine Frau dazu anhalten, genau wie diese Gläubige ihre Haare zu verbergen. Honigmann setzt das Motiv des anfänglichen Verbergens und späteren Enthüllens der Haare hier ein, um den Emanzipationsprozess einer arabischen Jüdin darzustellen, die sich durch dieses äußere Zeichen von dem gehorsamen Befolgen der Regeln, die ihr ihr Mann vorschreibt, endgültig lossagt. In dem Cercle Wladimir Rabi, mit deren Mitgliedern die Frauen am französischen Nationalfeiertag noch ein Glas Wein trinken, kommt sich Sohara allerdings überflüssig vor und zieht sich innerlich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Sie ist sich bewusst, dass diese Leute »Orthodoxe nicht ausstehen« können und bemüht sich, an diesem Tag zumindest äußerlich den Vorstellungen von Frau Kahn zu entsprechen, um ihr eine Freude zu machen.32 Sie ist also immer noch fremdbestimmt; erst langsam wagt sie selber, die Grenzen ihrer Welt zu erweitern, wozu ihr Frau Kahn durch den Vorschlag, auf das Kopftuch zu verzichten, den Anstoß gegeben hat. Sohara genießt es, an diesem Abend draußen zu sitzen, da sie dies an Oran erinnert, wo sich das Leben viel mehr im Freien abspielte als in Frankreich. Für die Familien war es üblich, zwischen der Stadt und dem Meer zu campen und ein großes Picknick zu veranstalten. In Frankreich kommt sie sich gefangen vor, ausgedrückt in einem Traum, in dem sie nur in den Nächten für ein paar Stunden frei ist. Sie weiß aber nichts anzufangen mit ihrer Freiheit und muss erst lernen, ihre Unabhängigkeit zu nützen: »Die Gefangenschaft ist sinnlos, und die nächtliche Freiheit ist es auch. Manchmal ist sie sogar noch schlimmer, ist Qual und Ekel« (SR 84). Ihre Träume hat ihr früher ihr Onkel in Oran gedeutet und später auch Simon. Als sie aber einen Alptraum hat von einem Tier, halb Katze halb Kaninchen, das sich in ihren Fuß eingefressen hatte – ein klarer Hinweis auf Simons rechthaberisches, tyrannisches Benehmen, mit dem er sich wie eine Zecke in ihr Leben eingenistet hat – weigert er sich verständlicherweise, ihr diesen Traum zu erläutern. Andere Leute versuchen ihr im Traum zu helfen, sich von dem Tier zu lösen, aber ohne Erfolg, ein Hinweis darauf, dass Sohara alleine den Willen und die Bereitschaft aufbringen muss, sich von ihm zu trennen. 32
Obwohl sich Sohara starke Sorgen um ihre Kinder macht, lässt sie sich an diesem Tag nichts davon anmerken und tut so, als ob sie das Feuerwerk genauso wie die anderen Leute begeistert. In Wirklichkeit ist es für sie nur eine Pflichtübung, wie der Ton der folgenden Zeilen verrät: »Die Leute riefen ›ah‹ und ›oh‹ und klatschten und waren aufgeregt oder wenigstens nicht gleichgültig, und Frau Kahn sah mich von der Seite an, nach jedem Feuerregen und nach jeder Feuerblume, ob ich auch ›ah‹ und ›oh‹ rufe und ob es mir auch Spaß macht, und ja, ich rief ›ah‹ und ›oh‹ wie alle anderen und klatschte, wie sie es von mir erwartete« (SR 80).
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IV ›Soharas Reise‹
Ihre Angstträume drehen sich um ihre Kinder, die mit ihr in einem nördlichen Land, wo es immer kalt ist, leben müssen und ungeschützt der Kälte ausgesetzt sind. Sie stellt sich auch vor, dass sie wie Marranen unter Christen leben und ihre Mutter äußerlich verleugnen müssen, dass aber die Größeren heimlich den Kleineren von der Mutter erzählten, »um die Erinnerung aufrechtzuerhalten, und diese verborgene, verbotene Erinnerung würde ihnen Hoffnung auf Rückkehr und einen Zusammenhalt untereinander geben« (SR 82). Auch hier flicht Honigmann wieder das Thema des Verhüllens und Verbergens der Identität ein zum Schutze vor einer feindlich gestimmten Außenwelt. Simon zieht Soharas Bedürfnis, ihre Träume aufzuschreiben und sie zu deuten ins Lächerliche und zitiert den Prediger Salomon, um ihr diese Idee auszureden: »Des vielen Büchermachens ist kein Ende, viel Arbeit mit dem Kopf ermüdet den Leib« (SR 85). Er will sie davon abhalten, sich geistig zu beschäftigen und vor allem, sich mit ihrem Unterbewusstsein näher auseinanderzusetzen. Er nötigt sie, sich lieber in der Küche zu betätigen und will sie um jeden Preis ignorant halten, da sie ihm so gefügiger ist und er sie leichter in Schach halten kann. Ihr Plan, »Soharas Traumbuch« zu verfassen, ist vielversprechend, aber dass sie dazu ein altes aus Versehen gekauftes Schulheft benutzt, bezeugt erneut ihre Selbstaufgabe (SR 85). »Träume ernster zu nehmen, hieße damit auch sich selbst und die eigene Situation ernster zu nehmen« meint Papacek im Hinblick auf Jonathans Alpträume, die er in den letzten Wochen vor der Entführung hatte. Für Sohara sind sie erst im Nachhinein Zeichen für die Sensibilität ihres Sohnes und auch Anlass, sich selber Vorwürfe zu machen, die Situation verkannt zu haben.33 Der Moment, wo Sohara sich endlich zur Aktion entschließt, kommt, als die Postkarte Simons bei Frau Kahn eintrifft. Endlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie einem Betrüger aufgesessen ist und wird wütend und tatbereit. Da weder die Polizei noch ein Rechtsanwalt ihr Anliegen ernst nehmen, ist ihre nächste Anlaufstation Rabbi Hagenau, der, nachdem er sich Soharas Leidensweg ruhig anhört, sofort alle Hebel in Bewegung setzt, um die Kinder zurückzubekommen. Sohara wird durch diesen Schritt, endlich etwas gegen Simon zu unternehmen, selbstbewusster, und traut sich jetzt auch in der Stadt zu flanieren: Meine Angst und die Scham hatte ich abgelegt und das Kopftuch auch. Ich ging jetzt meistens so um zehn Uhr aus dem Haus, und eine Viertelstunde später überschritt ich schon die Grenzen meines Territoriums und betrat fremdes Gebiet, obgleich ich dort nichts zu holen oder zu erledigen hatte. Ich lief einfach so herum, ohne Grund und ohne Ziel, in die Stadt hinein, den Straßen nach, wohin sie mich eben führten, stellte mich vor die Schaufenster und betrachtete ausgiebig die Auslagen, an denen ich jahrelang nur vorbeigehetzt bin, und fühlte, wenn ich so ziellos hinschlenderte und mir Zeit für lauter unnütze Sachen ließ, so etwas wie Mut in mir aufsteigen, eine Erleichterung wenigstens, und ich fürchtete mich nicht. (SR 97) 33
Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), Anmerkung 327.
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Sie kauft sich bei einem christlichen Bäcker ein Stück Kuchen, etwas noch vor kurzer Zeit Undenkbares, und schlendert Richtung Altstadt. Als sie den Klang von Teller- und Besteckklappern hört, denkt sie, entgegen ihres früheren Angsttraumes, die anderen und nicht sie sind Gefangene in ihren Gewohnheiten, während sie frei herumlaufen kann. Dies zeigt ihre Fortschritte in Bezug auf ihre Emanzipation von den allzu starr eingehaltenen Regeln ihrer Religion und den selbst oder von Simon auferlegten Grenzen ihrer Welt. Wie eine Forschungsreisende kommt sie sich vor, die Urlaub in der eigenen Stadt macht: »es war mir, als entdeckte ich sozusagen einen neuen Kontinent, noch ein Amerika, und diese Leute liefen wie Eingeborene halbnackt und geschmückt mit Hüten, Tüchern, Fotoapparaten vor mir her, ich beobachtete sie und lachte über sie« (SR 99). Diese Textstelle zeigt ihre neue Perspektive und die Entfremdung, die sie spürt; es scheint, als hätte sie noch nie diese alltäglichen Straßenszenen bewusst wahrgenommen. Ihr Entschluss, zum ersten Mal in ihrem Leben einen Friseursalon aufzusuchen und sich einen neuen, wenn auch unauffälligen Haarschnitt zuzulegen, zieht es nach sich, dass sie eine geraume Zeit mit ihrem Spiegelbild, also ihrem Ich, konfrontiert ist: »Ich sah mich an und fragte mich, was bloß aus mir geworden war. Mir schien, ich war nicht mehr zur Besinnung gekommen, seit ich damals zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester auf dem Schiff gestanden und nach Oran zurückgeschaut hatte« (SR 100f.). Nachdem sie sich dem Rabbiner anvertraut, der ihren Fall publik macht, bekommt sie Solidaritätsbezeichnungen von allen Seiten. Die jüdische Gemeinde kümmert sich um die Frau in Not und lädt sie ein oder besucht Sohara, um ihr Mut zuzusprechen und plötzlich fühlt sie sich nicht mehr so allein. Sohara lernt, dass sie Unterstützung braucht und auch findet, wenn sie sich nur an die richtigen Leute wendet, dass aber der Antrieb dazu von ihr ausgehen muss. Zum ersten Mal in ihrem Leben dreht sich alles um sie, was für diese marginalisierte Frau ein ungewohntes Gefühl ist, »aber es tat mir trotzdem gut, mich im Mittelpunkt zu fühlen, statt immer nur jenseits aller Ränder« (SR 102). In Bezug auf das Kidnapping schöpft sie neue Hoffnung: »Seit ich mich von der Scham und meinem unwürdigen Leben befreit hatte, spürte ich immer mehr die Gewißheit, daß nun auch die Befreiung meiner Kinder, mit Gottes Hilfe, nicht mehr weit sein konnte« (SR 104). Der Tapetenwechsel, den sie noch vor ihrer Reise nach London in Angriff nimmt, ist Ausdruck ihres Willens, einen neuen Anfang ohne Illusionen zu versuchen. Als sie ins Flugzeug steigt, ist sie guten Mutes, dass ihr Abenteuer zu einem erfolgreichen Ende kommen wird. Aus der idealistischen, gutgläubigen, naiven Sohara wird eine realistische, kritischere Frau, die sich nicht mehr so leicht hinters Licht führen lässt. Das Alleinsein hat ihr geholfen, über ihre Lage nachzudenken, sich über ihre eheliche Situation klar zu werden und ihre Geschichte aufzuschreiben. Außerdem hat sie nun die Gelegenheit, die Exilerfahrung, die ihre Mutter ins Grab gebracht hat, zu analysieren, was ihr hilft, diesen tiefen Einschnitt in ihrem Leben zu verkraften. Das Schreiben, von dem
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Simon sie um jeden Preis abhalten wollte, ermöglicht ihr, den Selbstfindungsprozess in die Wege zu leiten, sich über ihre Situation Klarheit zu verschaffen und zu versuchen, ihr Leben fortan ohne Fremdbestimmung zu gestalten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Soharas Reise eine Reise innerhalb des Judentums schildert, die Simons starr eingehaltene Regeln der Orthodoxie mit Soharas spiritueller Interpretation der Tora kontrastiert und somit einen Kommentar zu Disputen innerhalb der jüdischen Gemeinde abgibt, die in Deutschland mit der Trennung zwischen Reformjudentum und Orthodoxie im 19. Jahrhundert begannen.34 Nicht nur Simons und Soharas Religiosität werden einander gegenübergestellt, sondern auch Frau Kahns und Soharas Verständnis ihres Judentums. Während die Holocaustüberlebende sich ausschließlich als Opfer definiert und mit der Religion nichts anfangen kann, zeigt die algerische Exilantin Möglichkeiten eines gelebten Judentums auf. Andere junge jüdische deutschsprachige Schriftsteller wie Esther Dischereit, Katja Behrens, Maxim Biller, Robert Schindel und Robert Menasse befassen sich in ihren Werken hauptsächlich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in der deutschen bzw. österreichischen Gesellschaft. Durch Honigmanns Soharas Reise wird die deutsche Literatur, die durch das Werk dieser genannten Schriftsteller bereits um entscheidende interkulturelle Komponenten erweitert wurde, noch einen Schritt vorangetrieben: die Schilderung der Vielfalt jüdischer Lebenswelten außerhalb von Deutschland, eine Darstellung gelebten jüdischen Alltags und vor allem eine Selbstdefinition als Jude, die sich nicht darauf beschränkt, sich als Opfer zu sehen, sondern bei der die Einhaltung der Gesetze der Tora im Mittelpunkt steht. Honigmann gibt so indirekt einen Kommentar auf ihren eigenen Alltag im Straßburger Schmelztiegel ab, den sie im Gespräch mit Dietschreit mit der fehlenden religiösen Welt in Deutschland und Österreich kontrastiert: Jüdische Religion gibt es in Deutschland und Österreich praktisch nicht, auch kein Gespräch und fast keine Verbindung. Ich bin da eine Ausnahme, weil ich in dieser religiösen Welt lebe und mich dafür viel mehr interessiere als für alles andere. Wenn ich schreibe, bringe ich einen Teil davon zurück.35
Der Alltag von Soharas Welt wird in dieser Erzählung so selbstverständlich geschildert, dass sie nicht als Exotin wahrgenommen wird, sondern als religiös bewusst lebende Person. »Die Mehrheitskultur muss sich hier auf die Minderheitenkultur einlassen«.36 Honigmann gewährt den Lesern in Deutschland zum 34
35 36
Siehe Donahue für eine genauere Diskussion dieser Rivalitäten. Donahue, The real »Tora Connection« in Barbara Honigmann’s »Soharas Reise« (wie Anm. 20), S. 71f. Frank Dietschreit: Die Fremde als Heimat. Barbara Honigmann über ihr Leben in Deutschland und Frankreich. In: Wochenpost, 18. Juli 1996, S. 36–37, hier S. 37. Papacek, Wahrnehmung aus jüdischer Perspektive (wie Einleitung, Anm. 13), S. 93. Honigmann erklärt schon so manchen jüdischen Brauch oder ein Gericht wie die Dafina, aber diese Innenansicht der jüdischen Welt ist in den Erzählfluss integriert und erfolgt durch subtile Hinweise.
3 Soharas Selbstfindung
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einen Einblicke in historische Gegebenheiten wie den Effekt des Algerienkrieges auf die jüdische Minderheit, und zum anderen in Milieus, wie das der algerischen Exilgemeinde in Frankreich oder der Chassidim in London. Den meisten Lesern mögen diese Welten am Anfang fremd erscheinen; durch Honigmanns spannungsgeladene Schilderung jedoch gelingt es ihr, den Charakteren die Exotik zu nehmen, das Fremde näher zu holen und uns mit ihm vertrauter zu machen.
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Damals, dann und danach
In diesem Band mit neun stark autobiographisch orientierten Prosatexten geht es der Autorin darum, Geschichten des »Damals«, »Dann« und »Danach« zu erzählen, die zeigen, wie Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verschränkt sind. Beim »Damals« handelt es sich um die Zeit der Assimilationsbemühungen der Vorväter im 19. Jahrhundert, »dann« bezeichnet die Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges, und »danach« umschreibt die Zeit nach der Judenverfolgung. Einige der Texte geben näher Auskunft darüber, wie sich die Autorin in Straßburg eingerichtet hat und versuchen, mit Missverständnissen, die in Bezug auf ihre Religion in der Presse verbreitet wurden, aufzuräumen. Die erste Geschichte, die noch in der DDR spielt, handelt von der irrigen Zuschreibung einer Identität durch die Anderen, der Aufdeckung von alltäglichem Antisemitismus und der Ausgrenzung der Erzählerin. Diesem fremdbestimmten Bild werden zwei affirmative Selbstporträts – als Jüdin und Mutter – entgegengestellt, in denen sich Barbara Honigmann in diesen Rollen definiert. Eng damit verbunden ist die letzte Geschichte »Ein seltener Tag«, die sie als Malerin zeigt und einen einzigartigen Einblick in den Schaffensprozess einer Künstlerin gewährt. In den Geschichten »Gräber in London« und »Der Untergang von Wien« erfahren wir mehr über die Vorfahren mütterlicherseits und in dem Aufsatz »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« geht sie der Genealogie väterlicherseits nach. Das elsässische Judentum wird anhand der Familiengeschichte einer Freundin in »Hinter der Grande Schul« porträtiert, das gemeinsame Lernen der Tora in Straßburg in »Meine sefardischen Freundinnen«. Das Titelbild besteht aus dem Gemälde »Mes amies et moi« der Autorin, das sich auf dieses Lernen bezieht und als Illustration zu dieser Geschichte dient. Straßburg wird in diesem Band als Grenzstadt zwischen der deutschen und der französischen Kultur, aber auch als Sammelpunkt von jüdischen Exilanten und Migranten, die aus mehreren Kontinenten aus dahin gewandert sind, porträtiert. Schon in Roman von einem Kinde bekam man einen lebhaften Eindruck dieser multikulturellen Stadt: Es ist ein billiges Viertel hier, wo wir wohnen. Alles Zugereiste, Fremde wie wir. Schwarze, Maghrebins, Türken und viele andere, von ihrem Aussehen mir so unbekannt, daß ich ihre Herkunft nicht erraten kann. In dem Waschsalon über der Straße
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V ›Damals, dann und danach‹
unterhalten wir uns manchmal, und sie freuen sich, wenn ich mich für ihr Land interessiere, und erzählen mir von der Cǒte d’Ivoire oder der Stadt Fez. (RK 115)
In Soharas Reise war Straßburg der Schauplatz einer spannenden Entführungsgeschichte, die eine sephardische und eine aschkenasische Jüdin aufeinandertreffen ließ. Hier nun erfahren wir anhand weiterer Lebensgeschichten von Honigmanns neu gewonnenen Freundinnen und durch ihre Selbstporträts, wie sich das Zusammenleben in dieser Grenzstadt gestaltet und wie es sich auf ihre Identitätsbildung auswirkt.1 Nach Renneke bezieht Honigmann »im topographischen Niemands- und Grenzland zwischen Deutschland und Frankreich« eine einzigartige Position »zwischen jüdischer Tradition und ästhetischer Moderne« wie kein anderer der Schriftsteller nach der Shoah. Für diese Literaturwissenschaftlerin verweist der vielzitierte »Todessprung« nicht nur auf die drastischen Änderungen in der Biographie der Autorin, sondern »auf diese Position der Grenze, der Grenzgängerin«.2 Im folgenden wird dargestellt, wie die Autorin mit ihrem Doppelleben als in Frankreich lebende auf Deutsch schreibende Jüdin zurechtkommt, welche Konflikte sich durch diese Lage ergeben und wie sie sie löst. Als Vertreterin der post-Shoah-Generation jüdischer Schriftsteller wurde sie stark von den Legenden und Mythen ihrer Kindheit geprägt wie auch Eva Hoffman, auf deren Überlegungen zu diesem Thema in der Analyse zu Eine Liebe aus nichts bereits eingegangen wurde. Sie, wie viele andere Kinder von Überlebenden muss lernen, mit den Leerstellen umzugehen, die sich gezwungenermaßen im Leben ihrer Vorfahren durch Verfolgung, Exil und der damit einhergehenden Fragmentierung der Existenz ergaben. Die Familienrecherche, die Honigmanns Hauptanliegen ist, wird ihr durch das Schweigen der Eltern und die Tabuisierung bestimmter Themen erschwert. Am Ende gehe ich den Überlegungen der Autorin zum Schaffensprozess nach und ziehe auch Aufsätze, die in Das Gesicht wiederfinden veröffentlicht wurden, heran.
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Fremdbestimmung durch den Anderen: »Ich bin nicht Anne!«
Die erste Geschichte »Ich bin nicht Anne!« wehrt sich durch die emphatische Negation im Titel gegen die Fremdbestimmung der Identität. In einem Mietshaus wohnen die Erzählerin, Frau Schulze – eine verrückte Alkoholikerin – und andere Hausbewohner. Frau Schulze hatte im Nationalsozialismus ein 1
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»In this convergence of Jewish and national cultures the narrator’s gaze shifts from the past to the present and future and can construct, or restructure a Jewish Diasporic identity that is open and flexible, an alternative dynamic model of identity.« Christina Guenther: Exile and the Construction of Identity in Barbara Honigmann’s Trilogy of Diaspora. In: Comparative Literature Studies 40 (2003), H. 2, S. 215–231, hier S. 224. Renneke, Kryptogramme der Schrift (wie Kapitel III, Anm. 15), S. 2.
1 Fremdbestimmung durch den Anderen: »Ich bin nicht Anne!«
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jüdisches Kind namens Anne bei sich versteckt, das von der Mutter nach dem Krieg abgeholt worden ist mit den Worten »bloß schnell weg von hier«. Dass weder Mutter noch Tochter je wieder etwas von sich hören ließen, kreidet diese Frau ihnen an und findet dieses Verhalten »Undankbar!« und »Unverschämt!« (DDD 7). Im Lichte dessen, was während der Judenverfolgung passiert ist, ist das Benehmen der Trinkerin als äußerst egoistisch einzustufen; hier wird den Opfern die Schuld an den gekränkten Gefühlen der deutschen Frau gegeben, die, auch wenn sie menschlich gehandelt hat, verstehen müsste, warum diese Mutter mit ihrer Tochter von dem Ort des Grauens so schnell wie möglich fliehen will. Außerdem zeigt sich hier, wie sich Philosemitismus sehr schnell in Antisemitismus umgewandelt hat. In ihrem Wahn »verwechselt« nämlich Frau Schulze nun die Erzählerin mit dieser Anne und bezeichnet sie in dramatischen Szenen, die sich im Hausflur und in Schulzes Wohnung abspielen, als »undankbarste[s] Geschöpf auf der Erde« (DDD 6), woraufhin sich die Erzählerin genauso vehement gegen diese Angriffe wehrt. Die übrigen Hausbewohner sind unfreundlich zu der Erzählerin, weil sie einen anderen Tagesablauf als sie hat; d. h. sie kommt erst spätabends heim und empfängt Besucher. Ohne zu fragen, nehmen sie an, sie sei eine Prostituierte, nennen sie »Schlampe« und »Hure« und lassen die Polizei kommen, die natürlich nichts bei ihr findet (DDD 8). Um den Störenfried Frau Schulze zu bestrafen, die auch ansonsten durch Grölen, Brüllen und Toben auffällt, wird diese zu einer Schiedskommission beordert; der Hauptanklagepunkt geht darum, dass Frau Schulze die Erzählerin »Dreckjüdin« genannt haben soll (DDD 9). Die Heuchelei der antisemitischen Hausbewohner zeigt sich in dem Ausspruch, dass dieser Ausdruck »ja schließlich heute verboten sei«, was darauf hinweist, dass nicht das Wort selber sie stört, sondern nur seine Illegalität (DDD 9). Sie versuchen, die Erzählerin mit in die Sache hineinzuziehen, indem sie sie fragen, ob Frau Schulze sie wirklich mit diesem Ausdruck belegt habe. Die Erzählerin sagt, sie wisse nicht, was Frau Schulze sie hinter ihrem Rücken nannte, aber bekennt sich zu ihrer jüdischen Identität: »Schließlich wollte ich ja eine stolze Jüdin sein« (DDD 9). Diese Aussage bekräftigt das neue Selbstbewusstsein der Juden, das in den achtziger Jahren begann, als viele Vertreter der zweiten und dritten Generation offen zu ihrer jüdischen Identität standen anders als die Überlebenden der Konzentrationslager, die durch ihre Erfahrung der Diskriminierung oft verzweifelt versuchten, ihr Judentum zu verstecken. Nach dieser Enthüllung aber wird sie völlig ignoriert; die anderen tun so, als sei sie Luft. Diese unausstehliche Situation der sozialen Ausgrenzung ändert sich erst, als die Erzählerin aus dem Haus auszieht, Symbol für die Flucht vieler Juden aus Deutschland, die die andauernde Spannung des Lebens in diesem Lande nicht aushielten. Diese Geschichte kann als Parabel auf das Leben der Juden in Deutschland verstanden werden. Frau Schulze könnte hier für die vielen Deutschen stehen, die – um ihr Gewissen zu erleichtern – nach dem Krieg alle behaupteten, sie
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selber hätten die Juden gut behandelt und viele jüdische Freunde gehabt, denen sie halfen.3 Es ist nämlich nicht ganz klar, ob Frau Schulze wirklich ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt hatte, aber so reimt es sich die Erzählerin aus deren Aussagen und den Fotos, die sie ihr von sich und Anne zeigt, zusammen. Diese Geschichte könnte genauso gut erfunden sein. Der Titel bezieht sich höchstwahrscheinlich auf Anne Frank, die Jüdin, die den größten Bekanntheitsgrad hat und hier stellvertretend für das versteckte jüdische Kind steht. In dem Aufsatz »Meine sefardischen Freundinnen« schreibt Honigmann, wie oft sie in ihrer Kindheit wegen ihrer ähnlichen Physiognomie mit Anne Frank verglichen wurde und dass dieser Vergleich nicht gerade ein Kompliment gewesen sei, da Anne Frank ja umgebracht worden war (DDD 75).4 Wenn diese Geschichte autobiographisch orientiert ist, wäre das Ausziehen der Erzählerin mit Barbara Honigmanns Auszug aus der DDR nach Straßburg gleichzusetzen. Das »normale« Zusammenleben zwischen Nichtjuden und Juden gestaltet sich als äußerst schwierig – starke Emotionen brechen auf beiden Seiten auf, Symptom dafür, dass man noch weit von der Normalität entfernt ist, die sich der deutsche Staat seit Kriegsende so sehr wünscht. Das Gegeneinander-Ausspielen der Erzählerin und Frau Schulze, das durch die übrigen Hausbewohner initiiert wird, spricht ebenfalls Bände dafür, wie sie versuchen, beide störenden Hausbewohner loszuwerden – mit Erfolg! Die 3
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Stern schreibt über den neuen Philosemitismus, der sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit breit machte: »It became common practice, for instance, to refer to former Jewish friends and neighbors. Millions of Germans, it now appeared, had ›helped‹ the Jewish victims. In fact, there were more ›Jewish friends‹ reported as ›helped‹ than the number of Jews who had ever lived in the German Reich.« Frank Stern: From the Liberation of the Jews to the Unification of the Germans: The Discourse of Antagonistic Memories in Germany. In: Brücken über dem Abgrund. Auseinandersetzungen mit jüdischer Leidenserfahrung, Antisemitismus und Exil. Festschrift für Harry Zohn. Hg. von Amy Colin und Elisabeth Strenger. München: Wilhelm Fink 1994, S. 43–61, hier S. 49. Dagmar C. G. Lorenz schreibt in Bezug auf diese Geschichte: »[…] die Assoziation mit Anne Frank, die in der Alltagskultur sentimentalisiert und zum Symbol des unschuldigen Opfers stilisiert wird, scheint durchaus beabsichtigt.« Dagmar C. G. Lorenz: Erinnerung um die Jahrtausendwende. Vergangenheit und Identität bei jüdischen Autoren der Nachkriegsgeneration. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; 11), S. 147–161, hier S. 153. In Damals, dann und danach gibt es eine weitere versteckte Referenz zu Anne Frank; im Essay über die Mutter »Der Untergang von Wien« wird die Prinsengracht erwähnt, da dort ein früherer Geliebter der Mutter wohnt, den die Tochter nach dem Tod der Mutter aufsucht. Pieter weist mit der Hand auf ein Haus und meint: »Das dort ist übrigens das Achterhuys« (DDD 110). Der Name Anne Frank braucht nicht ausgesprochen zu werden, da es sich hier um das ikonographische Opfer der Nazis handelt. Honigmanns Anspielung auf Anne Franks Versteck zeigt, wie anwesend überall in Europa die Spuren des Holocausts sind.
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Trinkerin wird von der Kommission verurteilt und die Jüdin zieht aus. Ein unbeschwertes tolerantes Zusammenleben in diesem Haus erweist sich als Utopie, da jeder der Hausbewohner von der Vergangenheit eingeholt wird. Honigmann beginnt diesen Band mit einer Negation – Ich bin nicht Anne! – und stellt dar, mit wem sie nicht identifiziert werden möchte. Anne Frank als verstecktes und dann ermordetes Kind gehörte erstens einer anderen Generation an und zweitens steht sie nicht für alle Juden. In der Geschichte wird die Erzählerin mit einem Kind verwechselt, das angeblich mit Hilfe von Frau Schulze überlebt hat; wegen ihrer »Undankbarkeit« wird die Erzählerin von ihr physisch und psychisch angegriffen. Man achte im folgenden Zitat auf die Ausdrücke der körperlichen Gewalt und verbalen Attacken: An einem Abend aber riß sie tatsächlich, wie ich es schon immer befürchtet hatte, als ich vorbeischlich, die Tür auf, zerrte mich in ihre Wohnung hinein, mit Gewalt zog sie an mir und schubste und stieß mich, daß ich mich nicht wehren konnte, und brüllte auf mich ein, komm, Anne, komm rein, jetzt kommst du endlich rein, Anne, und dann drückte sie mich auf einen Stuhl in ihrer Küche, und da sah ich und roch den Alkohol, weil Frau Schulze mich gar nicht mehr losließ und heulte und grölte, bis ich endlich sagte: »Was haben Sie denn, was ist denn los?« (DDD 5f., Hervorhebungen v. Verf.)
Die Juden dieser zweiten Generation lassen sich so wenig wie die der Überlebenden der Konzentrationslager und des Exils auf leicht erkennbare Ikonen reduzieren. Als Individuum anerkannt zu werden und nicht als Repräsentant für alle anderen Personen der Minderheit, der man angehört, zu gelten, ist eines der Hauptthemen dieser kurzen Geschichte. Für Honigmann ist es außerdem wichtig, dass Judesein nicht mit Opferstatus gleichgestellt wird; sie selber definiert sich als Jüdin der Generation nach der Shoah eben nicht über die Judenermordung, sondern über die Tora. Jean-Paul Sartres These, dass jüdische Identität allein auf der Projektion von Antisemiten beruht, wird hier durch das neue Selbstbewusstsein einer Jüdin der zweiten Generation in Frage gestellt. Die Sprache, der sich die Autorin hier bedient, ist wie im Zitat oben aus dem Bereich der Gewalt und, wie in der folgenden Textstelle klar wird, aus dem Wortfeld des Theaters entlehnt. Verschiedene Rollen werden den Insassen des Hauses zugeschrieben; der Erzählerin werden zwei klischeehafte Rollen aufgedrängt, die der Anne Frank, des jüdischen Opfers schlechthin, das aber Frau Schulze als durch ihr Zutun ›gerettet‹ hinstellt und die der ›schönen Jüdin‹ mit anrüchigem Ruf wegen ihrer verführerischen Sexualität.5 Frau Schulze lässt sich nicht von ihrer Rolle der schutzgewährenden Frau hinausdrängen: 5
Zu dem Topos der schönen Jüdin siehe den Beitrag von Dagmar C. G. Lorenz: Jewish Woman, Beautiful. In: The Feminist Encyclopedia of German Literature. Ed. by Friederike Eigler and Susanne Kord. Westport, Connecticut: Greenwood Press 1997, S. 264–266 oder Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen: Max Niemeyer 1993 (Conditio Judaica; 4).
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Diese Szene hat sich im Laufe der Jahre viele Male wiederholt, obwohl ich jeden Tag versucht habe, lautlos, oder im Gegenteil in deutlicher Begleitung, an ihrer Tür vorbeizugehen. Immer wieder hat sie mich erwischt, hineingezerrt, ihr Drama von Anne vorgespielt und vorgejammert, inzwischen kannte ich auch schon die Höheund Wendepunkte der Vorstellung und auch den Moment, an dem sich ihre Gefühle erschöpfen würden und ich entfliehen konnte. Bald spielten wir unsere Rollen wie alte Komödianten, routiniert, ohne uns allzusehr zu verausgaben, und, schon an der Tür, kurz vor dem Abgang bevor ich die Tür zuknallte, war meine Schlußreplik immer dieselbe: »Sie sind verrückt und besoffen, ich habe mit Ihrer Geschichte nichts zu tun, ich kann Ihnen auch nicht helfen, ich bin es nicht, ich bin es nicht, Frau Schulze, ich bin nicht Anne!« (DDD 8, Hervorhebungen v. Verf.)
Das Rollenspiel verhindert ein authentisches Begegnen der zwei Gruppen und macht das Zusammenleben schwierig, wenn nicht unmöglich. »In Straßburg wird Barbara Honigmann nicht ständig mit einer schimärenhaften Schattenperson aus alten Tagen verwechselt«, meint Beate Mazenauer, die diese Geschichte autobiographisch versteht.6 Das Buch beginnt mit einer »programmatischen Verneinung« und einem »Abstreifen von Rollen, die der Erzählerin von außen zugeschrieben werden«, wird aber in den folgenden Beiträgen affirmativer und stellt positive Identifikationsmuster her.7
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Distanz und Nähe zu Deutschland: Schwierigkeiten des Doppellebens
In »Selbstporträt als Jüdin«, das bereits 1992 in leicht abgewandelter Form8 zusammen mit »Selbstporträt als Mutter« in einem Bildband für Michael Hasenclevers Galerie in München veröffentlicht wurde, und den Aufsätzen »Hinter der Grande Schul«, »Meine sefardischen Freundinnen« und ihrer Rede zur Verleihung des Kleist-Preises geht Honigmann näher auf die Gründe ein, die sie bewogen haben, Deutschland zu verlassen und sich am Rande der orthodoxen Gemeinde in Straßburg anzusiedeln. Nach der Publikation von Roman von 6 7
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Beate Mazenauer: Fremd und als Gast in der eigenen Kultur. Rezension von »Damals, dann und danach«. In: Luzern heute, 18. März 1999. Andreas Schäfer: »Weiß doch so gar nicht, wo ich bin.« Barbara Honigmann betreibt Familienrecherche als Standortsuche: »Damals, dann und danach«. In: Berliner Zeitung, 31. Juli /1. August 1999. Die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Text im Bildband und dem später veröffentlichten sind, dass sie sich im Bildband als 42 Jährige identifiziert, die gerade erst – vor ein paar Monaten – ihre Mutter verloren hat und dass das Gedicht über die Orte und Begebenheiten der Eltern, die der Tochter als Mythen erscheinen, um zwei Strophen verlängert wurde, die Honigmann in der späteren Veröffentlichung in Prosa umwandelt. Der Text des Bildbandes erscheint auch in der 1994 veröffentlichten Anthologie Nach der Shoa geboren. Jüdische Frauen in Deutschland unter dem Titel »Von den Legenden der Kindheit, dem Weggehen und der Wiederkehr« (wie Kapitel I, Anm. 23), S. 35–40.
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einem Kinde kam es in der Öffentlichkeit zu verschiedenen Missverständnissen über die religiöse Orientierung der Autorin, die sie versucht, hier zu klären.9 Nach ihrem Umzug nach Straßburg wurde Barbara Honigmann automatisch als streng orthodoxe Jüdin eingestuft, »aber wie überall befindet sich auch hier die Mehrheit der Leute in der Mitte, und ich befinde mich eher am Rande dieser Mitte« (DDD 61). Sie und ihre Freundinnen praktizieren ein Judentum, das sie humorvoll als »koscher light« bezeichnet; sie grenzen sich von denen ab, »die eine Pilgerfahrt nach Jerusalem oder nach Auschwitz unternehmen müssen, um sich als Juden fühlen zu können« (DDD 68). Nach der Geburt des ersten Sohnes, die noch in der DDR stattfand, verspürte Honigmann den Wunsch, ein gemeinsames jüdisches Leben zu führen mit allen Feiertagen des jüdischen Kalenders, was in der verschwindend kleinen Gemeinde Ost-Deutschlands nicht möglich war, in der Straßburger Gemeinde aber zum Alltag gehört. So ist z. B. auf dem Bild »Ahorn, Gingko [sic] und Agenda«, das zwischen den Jahren 1997 und 2002 entstanden sein muss, ein Taschenkalender zu sehen, auf dem unter anderem die jüdischen Feiertage »Schmini Azeret« (der achte Tag von Sukkot) und »Simchat Torah« eingetragen sind, wobei das Wort »Torah« von dem Ginkgoblatt verdeckt wird und der Betrachter sich den Rest der Schrift hinzudenken muss; das Prinzip des Verbergens und Enthüllens wird hier Gestalt.10 Peter Honigmann schildert in einem Artikel, der noch vor der Auflösung der DDR veröffentlicht wurde, das demographische und assimilatorische Schicksal der Juden in Ostdeutschland, wie es sich Anfang der 80er Jahre gestaltete: Der Grund für den Auswanderungswunsch mancher ihrer aktiven Mitglieder ist weniger der Antisemitismus oder der Antizionismus als vielmehr das jüdische Vakuum in der DDR, die verschwindend geringe Gesamtzahl von Juden. Diese numerische Bedeutungslosigkeit macht es den Regierenden andererseits leicht, der Jüdischen Gemeinde im Innern einen recht großen Handlungsspielraum zu belassen. Eine Beeinflussung größerer gesellschaftlicher Gruppen ist von vornherein ausgeschlossen.11
Andere wichtige Gründe des Umzugs haben mit dem Verlangen zu tun, »jenseits eines immerwährenden Antisemitismus-Diskurses« zu leben (DDD 15). Tatsächlich treten in Deutschland in Wellen immer wieder neue Skandale an das Licht der Öffentlichkeit, die mit der Vergangenheit, der Shoah und der Behandlung der Juden oder gehässigen und unangebrachten Bemerkungen 9
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Siehe den ersten Teil meines Artikels »›Manchmal fühle ich mich ein wenig enteignet‹: Barbara Honigmanns Auseinandersetzung mit der Rezeption ihrer Werke«, der auf dieses Thema näher eingeht (In: Germanic Notes and Reviews 36 [2005], H. 1, S. 25–33). Barbara Honigmann: Von Namen und Sammlungen. München: Michael Hasenclever Galerie 2002. Honigmann, Über den Umgang mit Juden und jüdischer Geschichte in der DDR (wie Kapitel III, Anm. 34), S. 121.
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über sie zu tun haben.12 Es seien der Historikerstreit, der sich 1985 um Ernst Nolte entfachte,13 der Skandal um die Aufführung des Fassbinder-Stückes Die Stadt, der Müll und der Tod,14 die Martin-Walser-Rede in der Frankfurter Paulskirche, und die Holocaust-Mahnmal-Debatte,15 die sich über 15 Jahre hinstreckte, stellvertretend für viele andere, die früher oder später stattfanden, genannt.16 Honigmann spricht von einer »Überempfindlichkeit« auf beiden Seiten, bedingt durch die Shoah und auch durch die Ignoranz der Deutschen, die gar nicht mehr wissen, was Juden sind, sondern sich nur bewusst sind, »daß da eine schreckliche Geschichte zwischen ihnen liegt, und jeder Jude, der auftauchte, erinnerte sie an diese Geschichte« (DDD 15). Sie empfindet ein Gespräch über Jüdisches als Aggressionsakt und Indiskretion, obwohl es paradoxerweise genau ihr Thema ist und reagiert »gereizt, die Reaktionen auf beiden Seiten scheinen mir überstark und jedes Wort, jede Geste falsch« (DDD 16). Aus diesen Gründen trat sie die Flucht nach vorne an und floh vor der »Übergespanntheit« der deutsch-jüdischen Beziehungen nach Frankreich, wo sie sich als »Gast« und »Fremde« fühlen kann und wo sie »von der unerträglichen Nähe zu Deutschland« befreit ist (DDD 16f.). Melanie Ottenbreit kommentiert: »Als Zaungast hat sie nun zwar Blickkontakt mit ›drüben‹, aber nicht die Nähe zum Konflikt«.17 In der DDR war es schwierig, seine jüdische Identität zu behaupten, da es offiziell gar kein jüdisches Volk gab; schon deshalb gewinnt die Religion für sie an Bedeutung: 12
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Siehe den Artikel »From the Liberation of the Jews to the Unification of the Germans: The Discourse of Antagonistic Memories in Germany« von Frank Stern dazu, der in diesem Zusammenhang von »antagonistic memories« spricht: »Toward the end of the twentieth century, German and Jewish collective memories fall away from one another more than ever before. The Jewish-German discourse is inherently antagonistic« (wie Anm. 3), S. 58. Der folgende Band gibt weitere Aufschlüsse über das Thema: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung. München, Zürich: Piper 1989 (Serie Piper; 816). Eine persönliche Perspektive von diesem Skandal findet sich in dem Kapitel »Fassbinder« in Richard Chaim Schneiders Memoiren Zwischenwelten. Ein jüdisches Leben im heutigen Deutschland (München: Knaur 1994). Siehe: Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte. Hg. von Michael Cullen. Zürich, München: Pendo 1999. Diese Ausbrüche und Konflikte, die in regelmäßigen Abständen in der deutschen Öffentlichkeit ausgetragen werden, erinnern in der ersten Geschichte »Ich bin nicht Anne!« an die Wiederholung der Vorwürfe von Frau Schulze an die Erzählerin: »Diese Szene hat sich im Laufe der Jahre viele Male wiederholt, obwohl ich jeden Tag versucht habe, lautlos, oder im Gegenteil in deutlicher Begleitung, an ihrer Tür vorbeizugehen« (DDD 8). Melanie Ottenbreit: Inseln der Erinnerung. Barbara Honigmann über das »Damals, dann und danach« eines jüdischen Lebens. In: literaturkritik.de 7 (Juli 1999), 17. August 2000.
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Mein Judentum ist eine wichtige Dimension meines Lebens, jedenfalls etwas, aus dem ich nicht heraus kann, selbst wenn ich es wollte; etwas, das mehr wie Liebe ist, die einen reich macht und trotzdem weh tut und außerdem das Denken darauf verengt, die Welt immer nur unter einem Aspekt zu betrachten, in diesem Falle ob sie nun gut für die Juden ist oder schlecht. (DDD 17)
Ein weiterer DDR-Schriftsteller, der wie Honigmann Ostdeutschland verlassen hatte, nach Rom übersiedelte und jetzt in Israel wohnt, ist Chaim Noll. Sohn des Schriftstellers und linientreuen Parteifunktionärs Dieter Noll und einer Mutter, die im Krieg in einem Kloster versteckt wurde und so überlebte, wuchs der 1954 in Ostberlin Geborene wie Honigmann in einer privilegierten Stellung auf. Auch er versuchte, wegen der ablehnenden Haltung seiner Eltern dem Judentum gegenüber die religiöse Dimension stärker in sein Leben einzubeziehen.18 Essentiell für ein Studium der Tora ist das Erlernen von Hebräisch, da Honigmann und Noll erkannten, dass die Lutherbibel wichtige Stellen unterschlug, die sie nun im Original studieren wollten. Wie schwierig es jedoch war, einen Hebräischlehrer zu finden, erfahren wir von Peter Honigmann. Als er an der Universität am Institut für semitische Sprachen einen Antrag auf Gasthörer stellte, wurde dieser – ironischerweise von jüdischen Professoren – abgelehnt mit der Begründung, er wäre nicht von seiner Arbeitsstelle zu einem Zusatzstudium delegiert worden, sondern hätte nur angegeben, er wolle sich als Jude diese Sprache aneignen. Die Ängstlichkeit, mit der diese Professoren auf so ein Unternehmen reagiert haben, illustriert nach Meinung Peter Honigmanns deren Bewusstsein, dass das Erlernen des Hebräischen der erste Schritt zur Auswanderung aus der DDR war. Von der Kirche bekam er schließlich die notwenige Unterstützung.19 Der jüdische Teil von Honigmanns Existenz in Straßburg ist ganz stark mit ihren sephardischen Freundinnen dort verbunden, mit denen sie sich seit ihrem Umzug nach Straßburg einmal pro Woche trifft, um einen Tora-Abschnitt zu lernen. Zunächst fühlt sie sich schon rein durch deren physisches Aussehen, das dem ihren ähnlich ist, viel wohler als in Deutschland. Es gibt eine Verbundenheit zwischen uns, die ich schwer erklären kann, gerade weil sie so offensichtlich ist. Sie kommt aus der physischen Ähnlichkeit, die ich unter meinen Freundinnen gefunden habe und die mir eine Art Entspannung und sogar so etwas wie eine Befreiung gebracht hat, die Befreiung nämlich von einem körperlichen Gefühl der Fremdheit zwischen anderen, mir unähnlichen Körpern und Gesichtern, zwischen denen ich mein ganzes Leben vorher verbracht hatte und in denen ich mich nicht spiegeln konnte. (DDD 75) 18
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Nolden bemerkt in Bezug auf ihn, Honigmann und den ostdeutschen Lyriker Matthias Hermann: »Die staatlich diktierte Ablehnung alles Religiösen scheint bei der jungen Generation von Juden in der DDR geradezu den gegenteiligen Effekt bewirkt zu haben.« Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 42. Honigmann, Über den Umgang mit Juden und jüdischer Geschichte in der DDR (wie Kapitel III, Anm. 34), S. 122.
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Weitere Gemeinsamkeiten dieser Frauen sind neben der Tatsache, dass sie alle Mütter sind, dass sie oder ihre Eltern aus ihren Ländern gewaltsam vertrieben wurden. Das Leben im Exil und der schmerzliche Verlust der Heimat sind existentielle Erfahrungen, die diese Jüdinnen neben ihrem Hauptinteresse, das der Tora gilt, als Gruppe zusammenhalten. Mit deren Lebensgeschichten kann sich Honigmann verständlicherweise mehr als mit denen ihrer deutschen Klassenkameraden identifizieren. Lilianas Großvater beispielsweise ist bald nach der Flucht aus Libyen in Rom »an gebrochenem Herzen« gestorben genauso wie Honigmanns Großvater, der nach dem »Anschluss« nur noch kurze Zeit im Exil in London lebte und bald danach, im Mai 1939, starb (DDD 73). In »Meine sefardischen Freundinnen«, der als »update« der letzten Geschichte von Roman von einem Kinde »Bonsoir Madame Benhamou« betrachtet werden kann, liegt die Betonung auf der religiösen Gemeinschaft, die Honigmann in Straßburg gefunden hat. Für sie und ihre vier Freundinnen ist die Begegnung mit dem heiligen Text so wichtig, dass sie sich seit über zehn Jahren einmal pro Woche treffen; ein Abbild davon sieht man auf der Titelseite des Buches.20 Im Gegensatz zu anderen Buchtiteln mit Gemälden Honigmanns ist hier keine einzelne Figur abgebildet, wie in der schwangeren Frau der Erstausgabe von Roman von einem Kinde (die allerdings die symbiotische Verbindung mit ihrem Kind spiegelt) oder der auf den Zentralbahnhof hinausblickenden einsamen Frau von Eine Liebe aus nichts, sondern eine Gemeinschaft von Frauen, die sich nicht nur gegenseitig unterstützen, sondern deren Interesse vor allem der Tora gilt. Revolutionär daran ist, dass es traditionellerweise den Männern im Judentum vorbehalten war, Talmud oder Textstudien zu betreiben. Aber die Zeiten haben sich geändert; Rabbinerinnen sind heutzutage keine Seltenheit mehr. In anderen Texten Honigmanns wird auf den Wunsch von Frauen nach Berührung mit dem heiligen Text ebenfalls eingegangen. In Soharas Reise beispielsweise besucht die Protagonistin jeden Dienstag einen Kurs nur für Frauen, der von Rabbi Hagenau geleitet wird und Honigmanns Züricher Poetikvorlesung »Des vielen Büchermachens ist kein Ende« beginnt mit einer Beschreibung von Jean-Claude, einem Talmid Chacham, einem Lehrer, »der ein hohes Maß an talmudischer und rabbinischer Gelehrsamkeit und Bildung mit eigenem Denken verbindet«, der jüdischen Studentinnen und anderen Frauen aus der Stadt beim Studium von biblischen, talmudischen und rabbinischen Büchern hilft (DGW 61). Honigmann schätzt das Gefühl, das Jean20
Es gibt ein weiteres Gemälde Honigmanns mit dem Titel »Mes amies et moi II«, abgebildet in dem Michael-Hasenclever-Katalog aus dem Jahre 2002, in dem ihre Freundinnen etwas heiterer aussehen und Barbara Honigmanns Gesicht im Profil erscheint, das auf dem ersten Bild weggedreht war. Die marokkanischen Kringel, Kaffeekanne und Tassen sind zwar nicht mehr auf dem Tisch, da die Freundinnen hier woanders versammelt sind als in dem ersten Bild; wichtig aber ist, dass im Mittelpunkt trotz veränderter Requisiten immer noch der hebräische Text der Tora gemalt ist. Ein früher Entwurf des Gemäldes der lernenden Frauen befindet sich an einer Wand im Zentralarchiv in Heidelberg.
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Claude ihnen von diesen Schriften übermittelt, nämlich »daß die Gegenwart dieser Texte nie aufgehört hat, da sie ununterbrochen weitergedacht, weiterkommentiert und weitergelernt wurden« (DGW 63). Wir erinnern uns, wie schon bei Madame Benhamous Lernzirkel der Tisch mit Kommentaren und anderen Quellen überhäuft war und über Moses und Aron gestritten wurde, »als ob es heute in der Zeitung gestanden hätte« (RK 112). Für Barbara Honigmann ist dieses jüdisch-jüdische Gespräch, in dem Texte aus verschiedenen Jahrhunderten und einer Vielfalt von geographischen Orten in einen Dialog miteinander treten und sich gegenseitig kommentieren, sich widersprechen, einander antworten und aufeinander eingehen, viel wichtiger als jegliches deutsch-jüdische Gespräch. In ihrer Rede zur Anerkennung des Kleist-Preises betont sie die Vorrangigkeit der Auseinandersetzung innerhalb des Judentums über jede deutsch-jüdische Annäherung, da die nichtjüdische Welt vom Judentum »wie vom Mond, die ihr zugewandte Seite wahrnimmt, daß sie ihm ihre eigenen Raster und Deutungen aufprägt und es mit Begriffen und Maßstäben mißt, die dem Judentum selbst ganz fremd sind«.21 Trotz des engen Zusammenhalts innerhalb der Toragruppe hat sie aber den Eindruck, dass diese Freundinnen, die aus erklärlichen Gründen stark voreingenommen gegen Deutschland sind, und von denen jede »irgendein grauenhaftes Erlebnis von einem ungewollten, unvermeidlichen Transit durch Deutschland oder Österreich zu erzählen« hat, sie in ihrer Eigenschaft als deutsche Jüdin und auf Deutsch schreibende Schriftstellerin nicht wahrhaben, was damit zu tun hat, dass zu dem Zeitpunkt der Publikation dieses Essays Honigmanns Werke noch nicht in französischer Übersetzung erhältlich waren (DDD 71).22 Außerdem wissen diese Freundinnen nicht genau, ob sie nun aus Wien oder Berlin stammt und haben keine Ahnung, welche Erschütterung das Lesen der Stasi-Akten bei ihrer ostdeutschen Freundin auslöste, als sie ihnen davon erzählt (DDD 70, 80).23 In diesem Text werden nicht nur ihre sephardischen Freundinnen porträtiert, sondern auch ihre deutschen, die mit dem jüdischen Teil ihrer Existenz wenig anfangen können, da sie ihr Studium der Tora nicht nachvollziehen können. Honigmann beschreibt diese ältesten Freundinnen von ihr als enge Verbindung zu Deutschland und die regelmäßigen Telefonate mit ihnen und deren Besuche 21 22 23
Barbara Honigmann: Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige (wie Kapitel I, Anm. 24), S. 160. Inzwischen sind Un amour fait de rien, Très affectueusement, Le dimanche, le rabbin joue au foot und Les îles du passé auf Französisch erhältlich. Sie schreibt, dass jede der Freundinnen schon einmal den Kurs »gesprengt« habe, indem sie Sachen vorgebracht hätten, die ihnen nahe gegangen wären: »Bei mir war es soweit, als ich nach der Lektüre meiner Stasi-Akte aus Berlin zurückkam und meinen sefardischen Freundinnen alles erzählte, ausgerechnet ihnen, die überhaupt keine Vorstellungen haben von diesem mißgeborenen Land, aus dem ich gekommen war, das sie sowieso nicht betreten, ob Ost oder West, ist ihnen ganz gleich, und das Wort Stasi hatten sie noch nicht einmal gehört« (DDD 80).
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als für sie äußerst wichtigen lebendigen Austausch durch das gesprochene Wort. Bei dem Vergleich zwischen den zwei Freundesgruppen kommt sie zu folgendem Schluss: Meine sefardischen Freundinnen sind, ich höre nicht auf zu vergleichen, immer nur ein Schatten meiner Berliner Freundinnen geblieben, und meine ganze Existenz hat nie aufgehört, ein Leben zwischen hier und dort zu sein, eine Art Doppelleben, oder ein Zwiespalt zwischen meinem Jüdischsein hier und meiner Arbeit dort, in beidem fühle ich mich an beiden Orten jeweils nicht verstanden oder nicht einmal wahrgenommen und eigentlich ist es sogar ein dreifaches Leben, wenigstens am Rande berühre ich ja drei Kulturen, die französische, die deutsche und die jüdische nämlich, und wenn es ein guter Tag ist, fühle ich mich bereichert und denke, daß ich Glück habe, an drei Kulturen teilhaben zu können, und wenn es ein schlechter Tag ist, fühle ich mich zwischen allen Stühlen sitzend und verstehe gar nichts. (DDD 72)
Für sie, als praktizierende Jüdin und deutschsprachige Schriftstellerin, ergeben sich durch diese Art von Doppelleben immer wieder schwierige Situationen, die sie nur durch Kompromisse meistern kann. Die Übergabe des KleistPreises, der ihr für ihren Briefroman Alles, alles Liebe! zuerkannt wurde, fand ausgerechnet an einem Sabbat statt, dem 14. Oktober 2000, der noch dazu im jüdischen Kalender jenes Jahres der erste Tag des Laubhüttenfestes war. In ihrer Rede spricht sie über das schwierige Leben einer Grenzgängerin, die sowohl ihrem Schriftstellerdasein Genüge tun möchte als auch die Regeln der Religion einhalten will und dass dieser Balanceakt sie bisweilen an den Rand ihrer Kräfte treibt.24 Der Kompromiss bestand für die Autorin darin, zwar bei der Preisverleihung da zu sein, aber ohne Mikrofon zu sprechen und der Zuhörerschaft eine kurze Lektion über die Konfliktsituation, in der sie sich befindet, zu erteilen. Die existentielle Verbundenheit zum Judentum, das sie nur in der Diaspora in der Distanz zu Deutschland ausleben kann und die kulturelle und sprachliche Bindung zu ihrem Geburtsland, wegen der sie sich in der Grenzstadt Straßburg in nächster Nähe zu Deutschland angesiedelt hat, wird Barbara Honigmann ihr Leben lang begleiten. Chaim Noll schrieb zu einer Zeit, als er noch in Berlin lebte, nach einer vehementen Sprach- und Literaturkritik in dem letzten Kapitel seines Aufsatzbandes Nachtgedanken über Deutschland: «Was ich liebe, ist die deutsche Sprache. Vielleicht gerade deshalb, weil sie heute annähernd ruiniert ist. In den Büchern finde ich sie noch, eigentlich nur noch dort. Es ist eine glückliche Liebe, die manches Elend aufwiegt«.25 In Leben ohne Deutschland sieht er die deutsche Sprache als einen der Orte, wo er sich zu Hause fühlt.26 Barbara Honigmanns »Selbstporträt als Jüdin« endet mit der 24 25 26
Honigmann, Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige (wie Kapitel I, Anm. 24), S. 160. Chaim Noll: Nachtgedanken über Deutschland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992 (rororo; 13120), S. 147. Chaim Noll: Leben ohne Deutschland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995 (rororo; 13619), S. 91.
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Aussage, dass sie sich als deutsche Schriftstellerin sieht. Sowohl die Sprache als auch die Literatur dieses Landes haben sie entscheidend geprägt und sie publiziert weiterhin auf Deutsch: »Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache, kehre ich immer wieder zurück« (DDD 18). Die Wiedereroberung ihres Judentums gepaart mit ihrer Liebe zur deutschen Literatur machen zwei wichtige Komponenten ihrer Persönlichkeit aus. Die Heimat ist für sie weder in Deutschland noch in Frankreich, sondern an ihrem Schreibtisch (DDD 39). Von diesem »Ort der Exterritorialität«, den Hans Otto Horch als den »eigentlich jüdischen wie intellektuellen Ort« bezeichnet, sendet sie ihre Nachrichten nach Deutschland.27 Damit reiht sie sich in eine lange Tradition deutsch-jüdischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts ein, die mit Heinrich Heines »portativem Vaterland« begann und mit Hilde Domins Heimkehr ins Wort nach dem 2. Weltkrieg eine Fortsetzung fand.
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Legenden und Mythen der Kindheit
Honigmanns Aufsatz »Selbstporträt als Jüdin« beginnt mit den Sätzen »Mein Vater und meine Mutter sind tot. Die Rolle ›Kind meiner Eltern‹ ist ausgespielt, ich muß selber in die vordere Reihe in der Kette der Generationen treten, wo zwischen dem Tod und mir niemand mehr steht« (DDD 11). Sie beschreibt, wie sie und ihre Generation als Kinder von Exilanten andere Geschichten als ihre Klassenkameraden gehört haben, deren Stichworte »Stalingrad«, »Ostpreußen«, »Schlesien«, »Kriegsgefangenschaft« und »Bomben auf die deutschen Städte« gewesen seien. Mit diesen Ereignissen konnte sie sich nicht identifizieren; die Vergangenheit ihrer Eltern verwandelte sich in Mythen und Legenden, die von der Verfolgung der Juden erzählte. Sie vergleicht diese Geschichten mit Homers Gesängen, wenn sie sagt: »Die Legenden meiner Kindheit aber waren andere, und ich bin sehr lange in ihrem Bann geblieben. Im Bann der Gesänge von den mythischen Orten und Begebenheiten, tausendmal genannt und zugleich von viel Schweigen umgeben« (DDD 11). Es folgen zwei Strophen dieser »Gesänge« in Gedichtform, Teil eines modernen homerischen Epos’, das in Stichwortform das Schicksal der Eltern während des Zweiten Weltkrieges umreißt. Wie Ulrike Kather sagt, ist das Thema von Barbara Honigmann »das Gefangensein in Mythen, Geschichten und Legenden und der Versuch, diese Mythen durch Neuinterpretation für sich fruchtbar zu machen«.28 27 28
Horch, »Rückkehr zur Tradition als Revolte« (wie Kapitel I, Anm. 18), S. 67. Ulrike Kather: Zwischen Legosteinen und Arche Noah – Über Barbara Honigmann. Vortrag bei der VHS München, 13. November 1997. In: Zentralarchiv Heidelberg, B 2/6, Serie 3, S. 11.
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In Kurzform tippt Honigmann hier Themen an, die in späteren Aufsätzen und Büchern viel breiter ausgeführt werden, ein charakteristisches Stilmittel von ihr. Thomas Noldens Theorie des »konzentrischen Schreibens«, das die zweite Generation der deutsch-jüdischen Schriftsteller kennzeichnet, trifft hier unbedingt zu. Honigmanns Geschichten bewegen sich in immer konzentrischeren Kreisen auf den Mittelpunkt zu, ohne ihn je zu erreichen. Der Kern ihrer Essays und Romane oder Erzählungen ist die mühsame Rekonstruktion des Lebens ihrer Vorfahren.29 Aus vielen Mosaiksteinen entsteht ein brüchiges Ganzes; dieses Mosaik wird immer von Leerstellen, einem weiteren Charakteristikum des Schreibens dieser Generation, durchsetzt sein. Die Ellipsen entstehen durch das Schweigen der Eltern, deren Erzählungen von der Vergangenheit selektiv sind. An Tabuthemen traute sich die Erzählerin als Heranwachsende zunächst nicht heran, um die abweisende Reaktion der Eltern zu vermeiden und wenn diese doch etwas von der Vergangenheit erzählten, erschien es ihr wie ein Mythos. Die Frustration der nachgeborenen Tochter, die sich aus den vagen Andeutungen und dem Schweigen der Eltern über die Vergangenheit und ihre Motive, nach Ost-Deutschland zurückzukehren keinen Reim machen kann, äußert sich in Fragen, die nicht zufriedenstellend beantwortet werden: »Was ist eigentlich aus den anderen geworden, aus euren Familien in Ungarn, Österreich und Deutschland? Sind sie tot, leben sie noch, was für ein Leben, wo? Warum sprecht ihr nicht von den Gräbern eurer Eltern, warum sprecht ihr überhaupt so wenig von euren Eltern? Was wolltet ihr um Himmels willen in der DDR? War es mehr als der Parteiauftrag? War es nur der Parteiauftrag? Warum habt ihr Euch unterworfen?« (DDD 13)
Die knappe Antwort des Vaters beläuft sich darauf, dass er sich als Urenkel der Aufklärung gesehen hat, als jemand, der an »die Idee der Gleichheit und Brüderlichkeit« geglaubt hat (DDD 14). Er grenzt sich in seiner Begründung deutlich von den Schtetl-Juden ab, mit denen er wenig anfangen konnte; er war ein assimilierter Westjude, dem die Grundsätze des Kommunismus mehr einleuchteten als die Gesetze seiner Religion. Weiterhin gibt er an, es sei ihm eine 29
Dieser beschwerliche Prozess findet sein Bild in den kaum zugänglichen Gräbern des Friedhofes in Berlin Weißensee, die man zum ersten Mal in der Erzählung »Doppeltes Grab« findet, wo die Honigmanns und die Scholems erst den Efeu, das alte Laub, Zweige und Äste entfernen müssen, um sich einen Weg zum Familiengrab bahnen zu können. Scholem meint: »Da braucht man eine Axt, wenn man das Grab eines Vorfahren besuchen will, um sich einen Weg durch die angewachsene Zeit zu schlagen« (RK 89). Auch in dem Aufsatz »Gräber in London« ist es nicht so leicht, das Grab von Brunella Benjamin zu besuchen: »Das Grab war schwer zugänglich, in einer mittleren Reihe, an der Stelle des Friedhofs, der schon ganz zu Wald geworden war, verschlungen und verwachsen, aber nach einiger Mühe, wenn man genug gebogen, geschält und geschabt hatte, konnte man Buchstaben entziffern: Bru…a Ben…in 18…bis 19…« (DDD 31).
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Genugtuung gewesen, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren, um zu beweisen, dass es noch Juden gab, die Hitlers Mordpläne überlebt haben. Die Mutter schweigt zu allen Fragen, die die Vergangenheit betreffen und zuckt mit den Schultern. In »Gräber in London« wird deutlich, dass die Eltern nichts über die Judenermordung erklärt haben. Auschwitz wird beiläufig im Zusammenhang mit einer Freundin der Mutter erwähnt, die im Krankenhaus liegt: Meine Mutter sagte, daß die Toni, so war der Name der Freundin, sehr krank sei und sowieso nie mehr gesund werden würde, weil sie ja in Auschwitz gewesen sei. Sie erklärte nicht, was Auschwitz bedeutete, ich wußte es nicht, aber, sie ging wohl davon aus, daß es darüber ein Wissen von Anbeginn her gäbe. (DDD 23)
An dieser Stelle wundert man sich natürlich auch, wie viel über die Shoah in der Schule unterrichtet wurde und es ist schockierend, dass dem Mädchen das Wort Auschwitz mit all seinen Implikationen weder von den Eltern noch im Unterricht erklärt worden ist, was Bände über die Vergangenheitsbewältigung in der DDR spricht.30 Das fragmentarische und nebelige Wissen über die Vergangenheit der Eltern schweißte eine ganze Generation von Jugendlichen in der DDR zusammen. Sie waren alle auf der Suche nach mehr als Mythen und versuchten verzweifelt, sich durch etwas Eigenes, selbst Erarbeitetes zu definieren. Das Scheitern der Assimilationsbemühungen der Eltern, und das spannungsgeladene Zusammenleben mit der dominanten Kultur ließ in dieser Generation immer mehr den Entschluss reifen, sich sowohl von den Eltern als auch der Mehrheitskultur zu dissoziieren. Gemeinsamkeiten dieses Kreises waren die jüdische Herkunft, eine »vage Opposition gegen den Staat« und die Tatsache, dass sie alle Kinder von Exilanten oder Überlebenden waren. Mit Ironie schreibt Honigmann: »Emigration, KZ, Widerstand, Jude waren die Paßwörter, um in unseren erlauchten Kreis Eingang zu finden. Aus diesen Wörtern leiteten wir unser ganzes Selbstbewußtsein ab« (DDD 27). Dass diese mythische Herkunft den Jugendlichen im Endeffekt nicht genügen würde, liegt auf der Hand. Vor30
Mertens legt in seiner Studie Davidstern unter Hammer und Zirkel dar, wie die Auffassung der DDR von sich als antifaschistischem Staat eine eingehende Beschäftigung mit der Vergangenheit verhinderte: »Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen partiellen Schuld blieb jedoch in der DDR für die Millionen Mitläufer der NS-Zeit aus. Eine sachliche Diskussion wurde auch nie ernsthaft und repressionsfrei versucht; stattdessen wurde beharrlich die ›fortschrittliche Rolle‹ des ›ersten Arbeiter- und Bauern-Staates auf deutschem Boden‹ betont. Die Bevölkerung der jungen Republik wurde so durch den ›verordneten Antifaschismus‹ (Giordano) der roten Machthaber – an der Seite des großen Bruders, ›der ruhmreichen Sowjetmacht‹ – zum ›Mitsieger‹ der Geschichte uminterpretiert und ›postum zu einem Teil der Anti-Hitler-Koalition‹ erhoben«. Lothar Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat. 1945–1990. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 1997 (Haskala; 18), hier S. 314f. (Hervorhebungen im Original).
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erst aber machten sie ausgedehnte Spaziergänge auf dem jüdischen Friedhof von Weißensee, wo »diese Magie zelebriert wurde« (DDD 27). Beim Lesen der deutschen Inschriften und häufigen Namen wie Weil und Fürst – Namen ihrer eigenen Vorfahren – beginnt die Besucherin zu ahnen, dass sie Teil eines weitverzweigten Netzes ist, das sich über die ganze Welt erstreckt, was ihr Alleinsein etwas erleichtert und ihr das Bewusstsein gibt, in einen Gesamtzusammenhang eingewoben zu sein. Das Hebräische entzieht sich ihr zu diesem Zeitpunkt noch, da sie es erst nach dem offiziellen Eintritt in die Jüdische Gemeinde 1976 zu lernen begann (DDD 14): »Auf die hebräischen Buchstaben, die ich nicht lesen konnte, starrte ich, als ob sie vielleicht eine geheime, sehr wichtige Botschaft für mich enthielten, durch die sich das Rätsel meiner Herkunft offenbaren würde und das Schweigen meiner Eltern gebrochen werden könnte« (DDD 28). Nolden erkennt dieses Fragmentarische als bezeichnendes Charakteristikum der »zweiten Generation«: Die junge jüdische Literatur der Gegenwart setzt bei sich selbst ein, mit der Erfahrung des Aufwachsens in Gesellschaften, die sich der Überreste jüdischer Kultur weitgehend entledigt haben. Die jungen Autoren können in den Erzählungen ihrer Lebensläufe nicht auf eine familiäre Überlieferung von Traditionen zurückschauen, aus der heraus sie ihr eigenes Selbstverständnis als Juden narrativ ableiten könnten. Im Gegenteil, ihre Entwicklung läuft in vielen Fällen quer zu den Biographien ihrer Eltern: die jungen Autoren stehen so vor der Aufgabe, Lebensgeschichten zu schreiben, die selbst keine Geschichte haben.31
Genau dies ist der Grund, warum Honigmann von der »Wiedereroberung unseres Judentums aus dem Nichts« spricht (DDD 29). Das Vakuum, das durch die mythenhafte Herkunft der Eltern entstand, musste durch Inhalte gefüllt werden. Die Rebellion gegen die sozialistisch eingestellten Eltern und den DDRStaat, der alle ethnischen und religiösen Unterschiede zu nivellieren versuchte, ging logischerweise bei dieser Generation entweder über den Weg der Religion oder der Auflehnung gegen den Staat.32
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Leerstellen
Charakteristisch für die Literatur der Generation nach der Shoah sind die vielen Leerstellen, mit denen sich die Nachgeborenen auseinandersetzen müssen; James Young spricht von dem »void«, das das Schreiben der Kinder umkreist, und Hartmut Steinecke artikuliert die spezifischen Schwierigkeiten des Schrift31 32
Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 29. Chaim Noll schreibt dazu: »Nach den Theorien meiner Lehrer und meiner Eltern konnte es in meinem Land keine Juden mehr geben, da der Sozialismus auch den Wirrwarr der verschiedenen Religionen auf beglückende Weise gelöst, das heimatlose Wandervolk zur endgültigen Heimstatt im ›Fortschritt‹ geführt hatte. Also konnte auch ich kein Jude sein.« Noll, Nachtgedanken (wie Anm. 25), S. 31.
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stellers im Umgang mit der Shoah, wenn er sagt, ein Architekt könne sehr wohl in einem Museum das »void« umsetzen (eine Anspielung auf Daniel Libeskinds Konzeption des Jüdischen Museums in Berlin) und ein Maler auf der Leinwand unbemalte Flächen lassen: »Wenn er nicht die radikale Lösung wählt – das Schweigen oder das unbeschriebene Papier33 –, muss er sprachliche Formen der Annäherung versuchen: indirektes Sprechen, Anspielungen, Chiffren, Zitat verfehlter Wege, Aufbrechen des erzählerischen Kontinuums, Fragmentarisierung, Reflexion«.34 In dem Aufsatz »Gräber in London«, der die Genealogie mütterlicherseits erforscht, gibt es zwei konkrete Leerstellen. Hier werden Ereignisse skizziert, die wegen ihres traumatischen Gehalts in dem späteren biographischen Roman über die Mutter Ein Kapitel aus meinem Leben wiederholt werden und damit deren Wichtigkeit hervorheben. Der Text beginnt mit einem am 1. November 1942 ursprünglich auf Ungarisch geschriebenen Brief der Großmutter Barbara Honigmanns an deren Tochter, also Lizzy Honigmann, den sie vom Exil in London aus weggeschickt hat. Er stellt die einzige Hinterlassenschaft ihrer Mutter dar zusammen mit zwei graugrünen Karten, die die Nummern der Grabstellen der Großeltern in London anzeigen. In dem Brief bittet die Großmutter, sie neben ihrem Mann begraben zu lassen und äußert Wünsche, wie die Grabplatte beschaffen sein soll. Außerdem schickt sie ihr als Erbstücke einen Ring und eine Halskette mit schwarzem Stein, die noch ein Andenken ihrer Mutter gewesen waren. Eines dieser Schmuckstücke, die Goldkette mit der Perle, verliert die Erzählerin später, ein Symbol für den Traditionsverlust, der in dieser Familie herrscht. Die kryptische Botschaft beginnt damit, dass die Enkelin den Brief nicht versteht, da er in einer ihr fremden Sprache geschrieben wurde; in einer Anmerkung erfährt der Leser, dass der Schriftsteller Peter Nádás ihr beim Übersetzen geholfen hatte. Aber dies ist nicht das einzige Hindernis, das Geheimnis um die Gräber zu lüften. Als am Ende der Geschichte die Erzählerin und ihre Kinder 50 Jahre nach dem Begräbnis versuchen, die Grabstellen in London 33
34
In diesem Zusammenhang ist das Zeugnis des französischen Autors Georges Perec W, ou Le souvenir d’enfance interessant, da eine der bedeutendsten Stellen seiner Kindheitserinnerungen eine Seite ist, auf der nichts steht als (...). Diese Ellipsen veranschaulichen, dass die Erinnerung an seine Mutter, die nach Auschwitz deportiert wurde, zu schmerzlich ist, als dass er sie in Worte fassen könnte. Georges Perec: W, ou, Le souvenir d’enfance. Paris: Denoël 1975. Siehe dazu den Artikel von Susan Rubin Suleiman: The 1.5 Generation: Georges Perec’s »W or the Memory of Childhood« In: Teaching the Representation of the Holocaust. Ed. by Marianne Hirsch and Irene Kacandes. New York: The Modern Language Association of America 2004, S. 372–385. James E. Young: At Memory’s Edge. After-Images of the Holocaust in Contemporary Art and Architecture. New Haven, London: Yale University Press 2000. Hartmut Steinecke: Schreiben von der Shoah in der deutsch-jüdischen Literatur der »Zweiten Generation«. In: Zeitschrift für Philologie 123 (2004), S. 246–59, hier S. 258.
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aufzusuchen, merken sie, dass Lizzy Honigmann den Wunsch ihrer Mutter nicht erfüllt hat und weder eine Grabplatte anbringen noch anordnen ließ, dass das Ehepaar beieinander liegen soll. Was sie finden, sind zwei grasige Stellen. [...] aber den Grabstein von Gisella Kollman, geb. Fürst finden wir nicht. Da, wo er sein müßte, ist nur ein leerer Platz, eine Lücke zwischen den anderen Gräbern, nur Sand, Kies auf einem flachen Hügel, kein großer oder kleiner Stein, gar kein Stein, nur Erde mit einem bißchen Unkraut. »Da ist ja nichts!« ruft mein Sohn, wie bei des Kaisers neuen Kleidern. Ich sage ihm, doch, das Grab das wir suchen ist hier. Hier ist der Platz, wo die Großeltern begraben sind, da unter der nackten Erde liegen sie, da gibt es gar keinen Zweifel, liegen begraben wie Hunde, ohne Grabstein und ohne Namen. (DDD 37)
Folgende Fragen werden diesbezüglich in Ein Kapitel aus meinem Leben, aufgeworfen, die nun nie mehr beantwortet werden können: Warum hat sie das nicht vor ihrer Abreise aus England in Ordnung gebracht? Warum hat sie das ihren Eltern angetan? Warum hat sie mir nie etwas davon gesagt? Wenn ihr Friedhöfe, Begräbnisorte und Grabsteine nichts bedeuteten, warum hat sie sie dann nicht verbrennen lassen und ihre Asche in den Wind gestreut, wie manche Menschen das tun. (KL 110)
Karen Remmler interpretiert die Leere der Grabplätze in London als »Abwesenheit der Zeichen des Eingedenkens« und versteht sie als »die Sehnsucht nach einem symbolischen Ort«, um der Opfer der Shoah zu gedenken.35 Dies stimmt sicher, doch hier kommt noch die Anklage der Tochter an die Mutter hinzu, deren Handeln ihr leichtfertig und unverantwortlich erscheint. Wittstock sieht die Gründe für diese Unachtsamkeit in deren politischer Überzeugung: »Für die Materialistin Lizzy Kohlmann war jener Wunsch offenbar eine überflüssige Sentimentalität. Für ihre Tochter, die hingebungsvoll ihren jüdischen Stammbaum erforscht, ist es eine unverzeihliche Sünde und Kulturlosigkeit«.36 Und, könnte man hinzufügen, eine Vernachlässigung gerade der Generation, die der Enkelin noch etwas von dem Glauben der Urväter hätte vermitteln können. Man darf nicht vergessen, wie wichtig Friedhöfe, Gräber und Gedächtnisorte in Honigmanns Texten sind und muss von daher ihre fassungslose Reaktion auf die leeren Grabstellen in London verstehen. Vom ersten Werk an gibt es immer wieder Exkurse zu Friedhöfen; sei es zum Jüdischen Friedhof in Weißensee in Ostberlin, wo sie mit ihren Freunden in den 70er Jahren versucht, die Inschriften auf den Gräbern zu entziffern, oder wo sie mit Gershom Scholem dessen Familiengrab freilegt, sei es ein Besuch zum Grab der Mutter in Wien oder sei es, wie in Soharas Reise, ein letzter Weg der algerischen Juden zum Friedhof, um vor dem langen Exil Abschied zu nehmen von den Verstorbenen. 35 36
Remmler, Orte des Eingedenkens in den Werken Barbara Honigmanns (wie Kapitel III, Anm. 59), S. 53. Uwe Wittstock: Schön, souverän, eindringlich. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Die Welt, 4. September 2004.
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Die Verschwiegenheit der Mutter erklärt sich durch ihre Geheimdiensttätigkeit und ihre Ehe zu dem berühmtesten Doppelspion des 20. Jahrhunderts, Kim Philby.37 Schon in »Gräber in London« jedoch gibt es Hinweise auf ein mysteriöses Doppelleben, das die Mutter geführt hat. Eigentlich kam es mir immer so vor, als ob sie etwas zu verbergen hätte, und als ob hinter unserem alltäglichen Zusammenleben es vielleicht noch ein ganzes Leben meiner Mutter gäbe, zu dem ich keinen Zugang hatte, wie zu der dritten oder zwölften Tür im Märchen, man würde bestraft, wenn man sie öffnete. (DDD 24)
Bei ihren Nachforschungen, die sie aus Neugier nicht unterlassen kann, stößt die Tochter auf die Handschrift ihrer Mutter mit einem anderen Familiennamen, was auf die Ehe mit Kim Philby verweist – der hier aber noch nicht namentlich genannt wird –, das Scheidungsurteil ihrer Eltern und schließlich die letzten Briefe ihrer Großmutter, mit denen der Aufsatz beginnt. Obwohl Honigmanns Eltern nach außen hin so taten, als wären sie vollständig angepasst, sprachen sie zu Hause ständig »davon«, womit tabuisierte Themen wie ihr Judentum und ihre Exilerfahrungen gemeint sind. Der Tochter fällt auf, dass diese Themen im nichtjüdischen Bekanntenkreis von Seiten der Eltern nie angeschlagen, sondern im Gegenteil totgeschwiegen werden: »Und wenn die anderen vom Krieg, von Schlesien, von Ostpreußen, vom Treck, von den Bombardierungen der deutschen Städte und den Greueltaten der Roten Armee erzählten, schwiegen sie« (DDD 48). Hartmut Steinecke gibt mögliche Gründe für dieses Schweigen an: Die Eltern stehen in vielen Fällen von vornherein unter einem doppelten Vorwurf: dass sie überlebt haben und dass sie in Deutschland geblieben bzw. dorthin zurückgegangen sind. Für viele aus der Elterngeneration folgte aus der eigenen Scham, allerdings auch aus der fortbestehenden antisemitischen Grundtendenz in ihrer deutschen Lebensumwelt, dass sie sich als Juden unsichtbar zu machen versuchten und ihr Judentum herunterspielten oder versteckten. Das traf sich mit der jahrzehntelangen Haltung der deutschen nichtjüdischen Umwelt, einen Juden nicht als solchen zu bezeichnen – oft aus der Unsicherheit heraus, ob das nicht als antisemitische Markierung aufgefasst werden könnte.38
Diese Tabuisierung des Wortes »Jude« findet sich in mehreren Texten Honigmanns, z. B. in Eine Liebe aus nichts, Alles, alles Liebe! und auch in Damals, dann und danach. Hier erzählt sie von den Erfahrungen ihres Vaters in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der auf der Straße immer wieder gefragt wurde, ob er Türke, Grieche oder Italiener sei, da keiner mehr wissen wollte, was Juden überhaupt seien (DDD 44). Zusammenfassend sei zum Thema »Leerstellen« gesagt, dass es einerseits typisch für die Elterngeneration ist, über zu schmerzvolle Erfahrungen zu schweigen und dass andererseits die nichtjüdische Umwelt dieses Schweigen noch gefördert hat. 37 38
Auf weitere Leerstellen in Bezug auf die Mutter wird in der Diskussion über Ein Kapitel aus meinem Leben noch näher eingegangen. Steinecke, Schreiben von der Shoah (wie Anm. 34), S. 247f.
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Familienrecherche
Eine Bibelstelle aus Genesis 5, 1–9, die sie in dem Aufsatz »Gräber in London« zitiert und die die Wichtigkeit der Generationenabfolge herausstellt, wird zur Antriebskraft für Barbara Honigmanns Schreiben, das vornehmlich um die eigene Familie und die Aufarbeitung der Vergangenheit kreist. Zunächst ist sie verärgert, als Peter ihr auf dem Jüdischen Friedhof von Weißensee zeigt, wer von all den Vorfahren mit ihm verwandt sei. Sie leugnet zu dem Zeitpunkt noch aufgebracht das Verwobensein in einen größeren Gesamtzusammenhang durch eben diese Generationenfolge und imitiert das schwache Geschichtsbewusstsein der Mutter: »Ich sagte, wie es meine Mutter immer gesagt hatte, das ist alles Quatsch, leer, hohl, ohne Bedeutung. Du kannst dir dein Leben doch nicht von deinen Vorfahren borgen, von Stammbäumen herunterpflücken« (DDD 31). Diese ablehnende Haltung war durch die Tabuisierung dieser Themen durch die Eltern bedingt, die wiederum ein genaueres Nachfragen von Seiten der Tochter verhinderte. Der Knoten löst sich erst, als Peter, Barbara und Georg Honigmann gemeinsam Urlaub machen und Peter seinem Schwiegervater die Fragen stellt, die die Tochter sich nie zu stellen getraut hätte. Peter dokumentiert alles in einem Heft und die Erzählerin erschrickt zu Tode, da der Bann gebrochen ist. Wie Parzival, der die Mitleidsfrage nicht stellte, blieb sie unwissend, bis ihr vordemonstriert wird, dass der Vater doch etwas über seine Vorfahren weiß und erzählt, wenn er nur gefragt wird (DDD 33). Nach dem Tod des Vaters half ihr die Veröffentlichung ihres Buches Eine Liebe aus nichts bei ihrer Familienrecherche, da sich plötzlich Verwandte meldeten und in Kontakt mit ihr traten, von deren Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte. Diese schickten ihr ganze Stammbäume und Memorabilien, die ihr bestätigten, dass auch ihre entfernten Vorfahren so berühmte Persönlichkeiten wie Heinrich Heine und Fanny Adler waren, was sie nun mit Stolz erfüllt.39 Wichtig sind diese Kontakte für sie auch, weil sie »den Zustand der völligen Unbehaustheit«, den ihr ihr Vater hinterlassen hat, milderten (DDD 34). Barbara Honigmann schreibt gegen das Diktum der Eltern an: »die Geschlechter sind tot, die Vergangenheit ist vorbei und die Gräber sind leere Orte« (DDD 31). Dass Barbara Honigmann das Buch über ihren Vater erst nach seinem Tod veröffentlicht hat, ist bezeichnend für Vertreter der jungen jüdischen Literatur; der Tod der Eltern befreite die Kinder von den Tabus und gewährte ihnen den nötigen Freiraum, sich intensiver mit ihrer Genealogie auseinanderzusetzen: Die Geschichten und Erzählungen inszenieren – mit verschiedenen Stimmen und Rollen – das Gespräch zwischen den jüdischen Generationen, das in der Wirklichkeit des Vernichtungstraumas so oft nicht stattfinden konnte. Die nachgeborenen 39
In ihrem Aufsatz »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« erfahren wir, dass sie auch mit Glückel von Hameln verwandt ist, die als erste jüdische Frau in Deutschland ihre Memoiren auf Jüdisch-Deutsch verfasst hat (wie Einleitung, Anm. 14), S. 843.
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Autoren stellen in diesem Erinnerungsraum der jungen jüdischen Literatur über das Schweigen hinweg eine Beziehung zur Vergangenheit ihrer Vorfahren her und begegnen darin denen, die die Shoah nicht überlebt haben und denen, die von ihr in Worten nicht berichten können.40
Der Text »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« gibt einen Überblick über Hoffnungen, Enttäuschungen und Schicksale der Vorfahren väterlicherseits. Anhand dieser Lebensläufe kann man ablesen, wie die Erwartungen, die sie an eine Integration in die deutsche Gesellschaft hatten, nur zum Teil erfüllt wurden, wie sie mehr und mehr ihr Judentum aufgaben in dem Versuch, sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen, bis der Vater schließlich aus Deutschland vertrieben wurde und im Exil, das ihn über Frankreich nach England, von dort nach Kanada und wieder zurück nach England führte, erkennen musste, dass Deutschland nicht seine Heimat und er selbst kein Deutscher war. Dass er trotzdem nach dem Krieg nach Ostdeutschland zurückgekehrt ist, begründet er mit seinem Glauben an den Kommunismus, der »die Judenfrage« abschaffen wollte und keine Rassen, sondern nur noch Klassen zu kennen vorgab (DDD 44). Dieter Noll, der Vater Chaim Nolls, leugnete ebenfalls jegliche Differenzen außer der Klassenzugehörigkeit: »›Ach, was heißt Jude‹, hörte ich, ›im Grunde genommen gibt es das gar nicht mehr‹«.41 Für den Sohn hat das Bekenntnis zum Judentum deshalb eine besondere Sprengkraft: »›Ich bin Jude‹ – diesen Satz schreiben hieß, mit allem zu brechen, was sich meine Erziehung nannte. Es war eine Erziehung zum Mitmachen, zum unauffälligen Leben inmitten einer ungeliebten, fremden, im Grunde judenfeindlichen Nation«.42 Allen männlichen Vorfahren Barbara Honigmanns ist gemein, dass sie geschrieben und veröffentlicht haben und so ist es für sie leichter, deren Lebensläufe als die der weiblichen Vorfahren nachzuzeichnen. Der Urgroßvater hatte noch den typisch jüdischen Vornamen »David«, war aber bereits auf dem besten Wege in die Assimilation. Er setzte sich sein ganzes Leben für die Emanzipation der Juden in Preußen ein und war Mitbegründer des Reformjudentums. Er schrieb Romane und Novellen »in einem eher konventionellen Stil«, und veröffentlichte in der Zeitschrift »Der Israelit« (DDD 41). Dessen Sohn Georg Gabriel begründete den Lehrstuhl für Medizingeschichte in Gießen, und »beschloß [...] ganz aus dem Judentum aus- und in die deutsche Kultur einzutreten, er assimilierte sich, bevor noch die vollständige Emanzipation erreicht war« (DDD 42). Es dauerte bis zur Weimarer Republik, bevor die 40 41
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Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 27f. Noll, Nachtgedanken (wie Anm. 25), S. 24. In Honigmanns Eine Liebe aus nichts heißt es: »Und schließlich waren sie nach Berlin gekommen, um ein neues Deutschland aufzubauen, es sollte ja ganz anders werden als das alte, deshalb wollte man von den Juden besser gar nicht mehr sprechen« (LN 34). Ebd., S. 21.
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deutschen Universitäten endlich jüdischen Professoren ihre Türen öffneten.43 Typisch für diese Generation ist auch, dass deren Söhne im 1. Weltkrieg fielen. Barbara Honigmanns Onkel Heinrich wurde Opfer dieses Krieges.44 Die Familie Honigmann bemerkt einige dieser unkonventionellen »Kriegsgräber« bei ihren Ausflügen in die Vogesen. Sie bestehen aus Felsbrocken von rotem Stein, auf dem die Zahl der Gefallenen mit ihren Regimentsnummern steht und sind so unauffällig in die Landschaft hineingestreut, dass die Familienmitglieder sich beim Picknick aus Versehen auf so einen Stein setzen ohne zu bemerken, dass es sich eigentlich um Grabsteine handelt. Auch hier ragt die Vergangenheit, das »Damals« überdeutlich in die Gegenwart hinein.45 Was sich in diesem Aufsatz über die Vorfahren väterlicherseits deutlich abzeichnet, ist, dass Barbara Honigmann aus diesen Familienrecherchen lernt, einen anderen Weg als den ihrer Ahnen einzuschlagen. Ganz bewusst wählt sie, sich auf die religiöse Komponente einzulassen, die auf dem Weg der Assimilation immer mehr verschüttet wurde.
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In Honigmanns Œuvre nimmt der Alltag einen großen Teil ihres Schreibens ein. Immer wieder erinnert sie in ihren Texten daran, sie sei eine Ehefrau, Mutter, Malerin und Schriftstellerin und befinde sich oft im Zweifel, ob sie diese Rollen alle befriedigend vereinigen könne. Wichtig ist für sie im Zusammenhang mit Glückel von Hameln, Rahel Varnhagen und Anne Frank, die sie in dem Aufsatz »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« als ihre literarischen Vorgängerinnen betrachtet, dass diese Frauen den Alltag schildern, »Bagatellen und Geschichten des Tages, von denen sich später herausstellen wird, dass sie die große Geschichte ausmachten«.46 Sie mo43
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»German universities also finally opened up their faculties at all levels, thus enormously enriching the world of learning. More than ever before, men and women of talent and drive were able to overcome ancient barriers of class, religion, and ethnicity.« Amos Elon: The Pity of It All. A History of Jews in Germany 1743–1933. New York: Metropolitan Books 2002, S. 358. Dass 12 000 jüdische Soldaten ihr Blut für das ›Vaterland‹ hergaben, ist insofern wichtig, als ein Zensus angesagt wurde, der gefordert wurde, um herauszufinden, ob auch genug Juden Militärdienst leisteten. Das Ergebnis, dass 80% dienten, wurde in der Öffentlichkeit unterdrückt; aber die Tatsache allein, dass es einen Zensus gab, löste bei den jüdischen Soldaten eine Krise aus: »The dream of community was gone. In one horrendous blow, the census reopened the deep chasm that could not be bridged by common language, work, civilization, and custom.« Ebd., S. 339. Das Entdecken dieser makabren Grabsteine wird noch ausführlicher in »Die toten Männer vom Donon« in dem Band Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball beschrieben (SRF 22f.). Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14), S. 833.
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kiert sich in einer Glosse aus dem Band Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball beispielsweise über das Image des Schriftstellers »Jean-Pierre Name Vergessen«, der angeblich den ganzen Tag nichts anderes tut als denken und schreiben. So liest sie in der Zeitung, Roland Barthes hätte einmal André Gide in einem Café gesehen, »ganz hinten, ganz versunken, eine Birne schälend und dabei ein Buch lesend, nachdenkend, und da habe er begriffen, daß dieser Mensch immer, unter allen Umständen des Lebens, von Wörtern und Sätzen durchdrungen sei – ein Dichter eben« (SRF 14). Sie kann sich damit nicht identifizieren und meint trocken und mit Understatement: »Und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, aber ich weiß nun wenigstens, daß ich keine Dichterin oder Schriftstellerin bin, habe es ja eigentlich schon lange gewußt, daß ich nur eine schreibende Hausfrau und malende Mutter bin« (SRF 14). Sie schlägt dem von einem Kritiker ähnlich wie André Gide gelobten Schriftsteller Jean-Pierre Name Vergessen vor, einen Tag mit ihr Rollen zu tauschen. In ihrer Beschreibung des Alltags einer Mutter und Ehefrau wird dem Leser bewusst, dass die Mystifizierung der Kunst, wie sie der Kritiker beschrieben hat, lächerlich klingt: Denken Sie daran, daß der Kleine nächste Woche Geburtstag hat, ganz bestimmte Weltraumlegos müssen Sie noch besorgen und auch die Einladungen und kleine Geschenke für die anderen Kinder nicht vergessen. Kirschkompott für die Kirschtorte muß gekauft werden. Eigentlich hat der Kleine auch ziemlichen Husten und Schnupfen, soll er morgen ins Schwimmbad gehen? Also schon um zwölf abholen, aber dann nicht den ganzen Nachmittag fernsehen! Mit dem Großen müssen Sie mal ein Wort über Mathematik reden, es ist schließlich noch ein bißchen früh, um nur Künstler sein zu wollen. Vielleicht mal den Lehrer anrufen? Die Geige wird jetzt verkauft, er spielt ja doch nicht mehr. Annonce aufgeben. (SRF 14f.)
Dieser Bewusstseinsstrom einer Mutter illustriert in humorvoller Weise, wie Schriftstellerinnen sich um die Familie kümmern müssen und nicht nur den ganzen Tag »von Wörtern und Sätzen durchdrungen sind«, die sie dann zu Papier bringen. Christa Wolf beschreibt ähnlich wie Barbara Honigmann den 27. September 1960, einen Tag, an dem sie unter anderem einen Kindergeburtstag vorbereiten, ihren kranken Mann pflegen und Aufsätze für einen Wettbewerb korrigieren muss und deswegen kaum Zeit zum Schreiben findet. Am Ende dieses für sie frustrierenden Tages bringt sie in ihrem Tagebucheintrag ihre Hoffnung zum Ausdruck, es möge ihr trotz der Mühen des Alltags gelingen, ihrem Leben schreibend Sinn zu verleihen: Vor dem Einschlafen denke ich, daß aus Tagen wie diesem das Leben besteht. Punkte, die am Ende, wenn man Glück gehabt hat, eine Linie verbindet. Daß sie auch auseinanderfallen können zu einer sinnlosen Häufung vergangener Zeit, daß nur eine fortdauernde Anstrengung den kleinen Zeiteinheiten, in denen wir leben, einen Sinn gibt […].47 47
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960–2000. München: Luchterhand Literaturverlag 2003, S. 23.
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V ›Damals, dann und danach‹
In »Selbstporträt als Mutter« schreibt Honigmann über »die Bataille des täglichen Lebens«, über die »Banalität des Alltags« und die Schwierigkeit, alle verschiedenen Rollen zufriedenstellend zu vereinigen: Mein Feind ist nicht die Familie, es ist vielmehr diese Art Leben, die auf das eine und auf das andere nicht verzichten will. Eigentlich führe ich einen Feldzug, um die Territorien eines möglichen Lebens zu erobern, die Kunst zu erbeuten und das Leben auch. Das mag größenwahnsinnig sein. Ich habe den Mann geheiratet, der mir einmal gesagt hat, daß er den Alltag und jede seiner Banalitäten liebt, und daß, wenn wir darin bestehen, wir schon Künstler und Helden sind. (DDD 86f.)
Wie auch in ihrem Judentum, zeigt sich Honigmann hier als nicht absolutistisch und extrem, sondern sehr menschlich als Frau, die nach dem Machbaren strebt und auf absolute Ansprüche in der Kunst und dem Leben, ein Gegensatz, der Thomas Manns großes Thema war, verzichtet, was aber nicht bedeuten soll, dass sie sich mit Mittelmäßigem zufrieden gibt. Das tröstende Zitat ihres Mannes zeigt die Unterstützung, die ihr vom Ehepartner bei diesem schwierigen Balanceakt zukommt. Über die Geschichtsauffassung der drei jüdischen Frauen, deren literarische Vorformen sie bewundert, schreibt sie: In ihren Aufzeichnungen sieht uns die Geschichte, anders als in den Beschreibungen und Untersuchungen von Historikern, direkt an. Direkt ins Gesicht. Sie mußten sich mit dieser Geschichte, in der sie lebten und aus der es keinen Rückzug gab, aus einer ungeschützten Position, vom Rande her herumschlagen. Sie erzählen fast ausschließlich von ihrem Leben und geben dem Erzählten damit Bedeutung und Deutung. Mangels der Möglichkeit, die Welt und die Wirklichkeit, an deren Rand sie lebten, ändern zu können, vermochten sie ihr wenigstens im Erzählen einen Sinn zu verleihen, sie umzudeuten. Dabei verbergen sie ihre Ängstlichkeit und Unsicherheit nicht, täuschen keine Gewissheiten und Wahrheiten vor.48
Dies erinnert an Honigmanns eigenes Bekenntnis, aus der Position einer ratlosen Nachgeborenen zu erzählen. Wenn Honigmann über die ›große‹ Geschichte erzählen will, macht sie es immer über die ›kleine‹, d. h. über Geschichten von Menschen, die ihr nahe stehen, seien es ihre Vorfahren, Eltern oder Freundinnen der Tora-Gruppe. In dem kleinen Essay »Hinter der Grande Schul« beispielsweise geht es um das elsässische Judentum. In einem Geschichtstext würde man Zahlen und trockene Statistiken erwarten, in Honigmanns Aufzeichnung jedoch wird diese Geschichte lebendig, indem sie am exemplarischen Beispiel der Lebensgeschichte von Yael Abramowicz und deren Vorfahren erzählt, wie es ihnen in dieser Diaspora gegangen ist. Hier und in »Meine sefardischen Freundinnen« informiert sie ihre Leser, dass »keine andere jüdische Gemeinschaft 48
Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14), S. 833.
7 Der Schaffensprozess
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[…] so lange in ein und derselben Landschaft gelebt« hat wie die elsässische und dass sie in religiöser Hinsicht eine Zwischenstellung zwischen dem polnisch orthodoxen und deutsch-liberalen Reformjudentum einnimmt (DDD 60, 77). Sie betont zweimal in diesem Text, dass die elsässischen Juden mehr schlecht als recht immer versuchten, sich »irgendwie durchmogeln« zu können und dass man auch heute noch versucht, »den jüdischen Teil seiner Existenz lebendig zu halten, ihm einen Sinn zu verleihen, und sich schließlich durchzuwursteln« (DDD 61). Hier, wie auch bei der Beschreibung von Glückels, Rahels und Anne Franks Werk, liegt die Betonung auf dem »Sinn geben« der jüdischen Existenz, was auch Antriebskraft ihres eigenen Schreibens ist. Durch die umgangssprachlichen Formulierungen »durchmogeln« und »durchwursteln« wird das religiöse Leben des Alltags, das Honigmann in Straßburg am Rande der orthodoxen Gemeinde führt, entmystifiziert.
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Der Schaffensprozess
Barbara Honigmann äußert sich hauptsächlich in dem Aufsatz »Ein seltener Tag«, der Züricher Poetikvorlesung »Des vielen Büchermachens ist kein Ende« und in der Preisrede zur Anerkennung des Jeanette-Schocken Literaturpreises zu dem kreativen Prozess. Bei dem »seltenen Tag« handelt es sich um den 31. Juli 1996, den Tag, an dem das Bildnis »Großer Akt am 31. 7.« entstand.49 Wir bekommen hier einen einmaligen Einblick in den Schaffensprozess eines Doppeltalentes, einer Schriftstellerin, die gleichzeitig Malerin ist und bei der sich beide Formen befruchten. Die Entscheidung zwischen diesen zwei Ausdrucksweisen führt an diesem Tage zu einem Konflikt: Bild oder Roman ist jetzt die Frage, und obwohl ich eben noch so voller Schwung war, resigniere ich wieder einmal vor dem Zwiespalt und sehe statt dessen Anwar und seinen Brüdern zu, warum sie jezt [sic] schon wieder so rumbrüllen, und dann krame ich weiter, lese weiter und schreibe manchmal etwas auf einen weißen Zettel, ein gelbes Blatt oder in das rote Heft. (DDD 127f.)
Obwohl sie sich für das Malen entscheidet, sieht man hier bereits die Vorarbeiten zu einem neuen Buch durch das Notieren von Ideen und Zitaten auf verschiedenfarbigen Blättern (weiβen Zettel, ein gelbes Blatt, das rote Heft), inspiriert durch die Lektüre. Es ist, als hätte sie auch hier eine Malerpalette in der Hand. Zunächst stellt sie heraus, wie selten es für sie als Mutter und Ehefrau ist, einmal eine Woche lang ganz alleine zu sein. Sie beginnt mit einer Liste von Hausfrauenarbeiten, die sie an diesem Tag nicht erledigen möchte. Dies hält 49
Dieser Akt ist in Barbara Honigmann. Dreizehn Bilder und ein Tag. 28. Oktober bis 25. November 1997 abgebildet zusammen mit dem Essay, der über die Entstehung dieses Bildes berichtet und dann drei Jahre später den letzten Beitrag zu Damals, dann und danach darstellt.
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V ›Damals, dann und danach‹
sie aber nicht ganz durch und wäscht aus pragmatischen Gründen trotzdem die Wäsche und kocht das Zwetschgenkompott – das Wetter ist zu schön und die Früchte würden sonst verfaulen. Sie gibt zu, Angst vor dem »leeren Tag« zu haben, vor dem Alleinsein, nach dem sie sich andererseits wieder so sehnt. In den Gefühlsbädern des Tages wechseln Mutlosigkeit und Verzagtheit ab mit Stolz über das, was sie schon geleistet und erreicht hat und diese Emotionen resultieren am Abend in dem explosiven Schaffensprozess, aus dem heraus das Bild entsteht. Vorher, im Café sitzend und Eiskaffee schlürfend, sinniert sie über ihre zwiespältigen Gefühle nach: Von Verzagtheit und Wehmut über Sehnsucht und Heimweh bis zur völligen Mutlosigkeit, und ich weiß nicht einmal genau, ob es ist, weil ich mich zu allein fühle oder zu gefangen, weil alles zu leer oder weil alles zu vollgestellt ist um mich herum, weil ich zu gebunden bin oder völlig ohne Halt, oder weil mir immer klarer wird, daß mein Leben mir nur endliche Erfahrungen bietet, obwohl ich mich doch so sehr nach dem Unendlichen sehne. Das ist die Stelle, wo der Wunsch in mir aufsteigt, mich noch einmal aus allem herauszureißen, und es ist halb eine Phantasie der Befreiung, und halb ist es eine Phantasie der Bestrafung. (DDD 129)
Diese Selbstzweifel vertreibt sie mit dem Gedanken an die richtige Balance, die im Leben nötig ist und die sie in dem wirkungsvollen Bild der Mischung aus Eis und heißem Kaffee, die zusammen auf ihrer Zunge zerschmelzen, einfängt. Was Barbara Honigmanns Schilderung dieses Tages so menschlich macht, ist das Hinausschieben der schwierigen Aufgabe, bevor sie sie doch in Angriff nimmt und erfolgreich beendet. Diese Ablenkungen beginnen mit ausgiebigem Kaffeetrinken und längerem Zeitungslesen als gewöhnlich, setzen sich fort mit dem Sortieren der Post, dem Lesen von Zwetajewa-Briefen und Agnons Roman Gestern, vorgestern, Telefongesprächen mit ihrem Galeristen Michael Hasenclever und ihrer Lektorin Ingrid Krüger, dem Schreiben eines seitenlangen Briefes, einem Telefonat mit ihrem Sohn, der die Ferien auf dem Land verbringt und einem Besuch des Cafés um die Ecke. Dazwischen und auch während dieser Tätigkeiten aber beginnt sich die Phantasie bereits zu regen und sie fängt an, die Dinge, die vor ihr liegen, zu zeichnen. Sie setzt diese Vorarbeiten fort, indem sie alle Requisiten zusammensucht, die sie im Endeffekt für den Akt braucht. Dazu gehören ganz konkret das Aussuchen einer geeigneten Leinwand und das Aufstellen der Staffelei. Was aber ebenso wichtig wenn nicht wichtiger ist, ist die mentale Vorbereitung, sprich Inspiration. Diese kommt aus mehreren Quellen. Da ist zum einen die Unterstützung von Hasenclever und Krüger, professionellen Leuten, die fest an ihr künstlerisches und schriftstellerisches Talent glauben, sie durch ihre sorgfältige Arbeit auf ihrem kreativen Weg begleiten, und mit denen sie an diesem Tag in Kontakt steht. Das zu jeglicher künstlerischer Arbeit nötige Selbstvertrauen kommt also auch durch das Vertrauen von außen, die Rezeption der Arbeit durch die Familie, Freunde und die Öffentlichkeit im Allgemeinen.
7 Der Schaffensprozess
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In Hinsicht auf die Inspiration, die von Freunden kommt, erinnert sie sich gerne an eine Szene, weil sie ihr Mut gibt. Es handelt sich um das Lob, das ihr ein marokkanischer Rabbiner spendet, nachdem er bei einer religiösen Feier in ihrer Wohnung ihre Bilder betrachtet hat.50 Ganz begeistert bemerkt er, dass sie sich beim Hinsehen verändern und diskutiert mit der Malerin über ihr Handwerk. Vor den anderen Gästen lobt er die Künstlerin und prophezeit ihr aufgrund ihres Malertalentes sogar eine brillante Karriere als Talmid Chacham, der »ganz oben auf der Stufenleiter der Juden« steht (DDD 131). In der Barbara Honigmann eigenen lakonischen Art beschreibt sie ihre Reaktion auf diese Vorsehung: »Und weil ich die Herren nicht weiter durch meine Größe beschämen wollte, bin ich zu meiner Vinaigrette in die Küche zurückgekehrt und habe sie ihr kleines, seltenes Fest zu Ende zelebrieren lassen« (DDD 131). Wie Eva Lezzi konstatiert, setzt Honigmann – anders als die meisten jüdischen Feministinnen »nicht bei einer Kritik männlich-religiöser Autorität in der alltäglichen Praxis oder der jüdischen Überlieferung ein, sondern bestätigt diese Autorität, indem sie sie für sich nutzbar macht, und sie bestätigt die ihr zugewiesene weibliche Rolle, indem sie sie ironisiert«.51 Allerdings stellt Lezzi auch folgende Fragen: »Ist die in der Erzählung erreichte Versöhnung zwischen künstlerischer Freiheit, traditionellen Geschlechterdichotomien und orthodoxer jüdischer Identität eine Utopie? Sind die Spannungen und Konflikte zwischen diesen drei Instanzen einfach aus der Erzählung ausgelagert und bleiben unbenannt?«52 Die Antwort auf diese Fragen stehen in der Geschichte »Selbstporträt als Mutter«, wo Honigmann detailliert über »die Bataille des täglichen Lebens« schreibt und die Beispiele der Künstlerinnen Paula Modersohn-Becker und Maria Uhden anführt, die beide gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes gestorben sind, weil sie Honigmanns Meinung nach die Spannungen nicht ausgehalten hätten, gleichzeitig Mutter und Künstlerin zu sein. Sie selber versucht es und zerbricht fast daran. Sie schreibt von den Schuldgefühlen, die sie heimsuchen, der Sehnsucht danach, sich als Künstlerin zu betätigen trotz der Mutterrolle und von dem »Hinundhergerissensein«, das durch 50
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Von einer ähnlichen Szene hören wir in ihrem »Selbstporträt als Mutter«. Sie erinnert sich an die Zeiten, als sie noch in Ostberlin wohnte und einmal ein Junge anklopfte, der bei ihr Altpapier und Flaschen sammeln wollte. Er sieht sich in ihrem Zimmer um und erstarrt plötzlich. Sie meint zunächst, es wäre wegen der Unordnung und schämt sich. Doch wenig später klingelt er noch einmal bei ihr und bittet sie, ihm die Bilder zu zeigen: »Er fragte, darf ick mir det mal allet ankieken? Da hoben wir beide endlich unseren Blick und sahen uns alle Bilder, die oben an der Wand hingen, an. Ich zeigte ihm die Porträts von meinen Freunden und den Dichtern und die Selbstporträts, die paar Landschaften, die vielen Akte. Ich war stolz« (DDD 84f.). Eva Lezzi: In den Körper verbrachte Erinnerung. Autobiographische Texte von deutsch-jüdischen Autorinnen der zweiten Generation. In: Zeitgenössische jüdische Autobiographie. Hg. von Christoph Miething. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Romania Judaica; 7), S. 147–177, hier S. 172. Ebd.
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V ›Damals, dann und danach‹
das »Alles-machen-wollen« entsteht (DDD 85). In einem Interview mit Ina Boesch aus dem Jahre 1989 antwortete Honigmann auf die Frage, warum sie sich aus den vorderen Reihen der Synagoge eher in die hinteren zurückgezogen hätte, dass sich ihr Künstlertum und ein tradionelles Judentum nicht so leicht verbinden lassen: Da ich weiter darauf bestehen will, bestehen muß, zu schreiben, zu malen, eine selbständige Frau zu sein, und da ich nun doch keine Lust habe, dreizehn Kinder zu kriegen, kann ich die Rolle der wirklich religiösen, traditionellen jüdischen Frau nicht übernehmen. Ich hab auch keine Lust, mit der Perücke herumzulaufen. Und damit kommen die ersten vier Reihen schon nicht mehr in Frage. Das ergibt sich eben auch aus der anderen Seite meines Lebens, der Künstlerin. So ein ganz normatives Leben entspricht nicht meinen Vorstellungen, und ich bin sogar physisch dazu nicht in der Lage.53
Eine leichte Lösung zu dem Problem der Rollenaufteilung existiert nicht und Honigmann gibt nicht vor, sie gefunden zu haben. Den Elan, den die Künstlerin zum Schaffen braucht, holt sie sich aus verschiedenen Quellen, zum einen aus dieser Erinnerung an das Lob des Rabbiners, zum anderen aus der Identifikation mit der Künstlerfigur aus einem Roman von Agnon, den sie gerade liest. Dort gibt es auch einen Maler, der »das Leben und den Tod« gestalten will und sich durch Geschichten, die ihm seine Frau vorgelesen hatte, zu neuen Gemälden inspirieren lässt (DDD 125). Nach dem Cafébesuch schließt sie die Tür, zieht sich aus, reflektiert über ihren alternden Körper und beginnt bei fortgeschrittener Tageszeit zu malen. Es ist nun schon neun Uhr abends, daß ich richtig zu arbeiten anfange, das heißt, ich betrachte, ich betrachte und ich betrachte, so bereitet sich die Schöpfung vor, im Kopf ist Tohu und Bohu und auf der Leinwand soll sich daraus Gestalt finden. Während ich den ersten Grund mit Gouache auftrage – endlich die Explosion, die Erregung und Aufregung des Anfangs. (DDD 133f.)
Mit dieser biblischen Sprache, die in dem Satz gipfelt: »…und sehe, daß alles gut werden wird« gibt sie der Überzeugung Ausdruck, dass der kreative Funke von Gott kommt und der Mensch als Ebenbild Gottes fähig ist zu eigenem Schaffen (DDD 135). Dies lässt sie in ihrem Aufsatz »Des vielen Büchermachens ist kein Ende« ebenfalls durchblicken: Die Sphären des Religiösen und des Künstlerischen liegen aber sehr nahe beieinander, nur wegen dieser Nähe wage ich, von beiden zu sprechen. Beider Zentrum ist ein Akt der Schöpfung, und hinter dem Entstehen der künstlerischen Schöpfung scheint ein ebensolches Geheimnis zu stecken wie hinter der Erschaffung der Welt. (DGW 67)
Für sie liegt das Mysteriöse des Kunstwerks in seiner Unvollkommenheit, in seinen offenen Stellen, in seinen nie ganz geschlossenen Rändern und sie stimmt ihrem Lehrer Daniel Epstein zu, dass zu den Attributen Gottes und 53
Boesch, Nur ein Platz in den hinteren Reihen (wie Kapitel II, Anm. 47), S. 5.
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eben auch den kreativen Schöpfungen der Menschen bezeichnenderweise nicht die Vollkommenheit gehört, da diese etwas »Verschlossenes« ausdrücken würde. Gerade diese mangelnde Vollkommenheit der Schöpfung aber befähige den Künstler, sie zu verändern: Nach dieser Betrachtungsweise setzt unsere eigene Unvollkommenheit und die der Natur uns überhaupt erst in Bewegung, sie ist der Motor, uns nicht nur mit dem Gegebenen und Allernötigsten zufriedenzugeben. Diese Sicht rückt die künstlerische Schöpfung der göttlichen Weltschöpfung erstaunlich nahe, denn auch sie holt ihre Energie aus der Unvollkommenheit, der Inkohärenz, den Dissonanzen und den schmerzlichen Widersprüchlichkeiten, denen alle Menschen ausgesetzt sind. Diese Energien aus den Rissen und Brüchen des Lebens bündelt der Künstler in seinem Werk. Und wenn es ihm gelingt, gibt diese verdichtete Energie Licht und Wärme ab. (DGW 75f.)
Sie fühlt sich beflügelt, wenn sie ein Chef d’œuvre sieht; aus den großen Meisterwerken der Kunst und Literatur nimmt sie den Elan, den sie selber zum Schaffen braucht. Der Literaturwissenschaftler George Steiner hat sich in seinem Buch Grammars of Creation auch mit dem Schöpfungsakt befasst und Honigmann zitiert seine Erkenntnisse; doch auch er steht letztendlich vor einem Rätsel und gibt zu, dass ihm »die gesamte Frage der Kreativität, der Schöpfung im Denken unbegreifbar« bleibt.54 Honigmann jedenfalls malte an jenem 31. Juli 1996 ihr Bild in einem Schaffensrausch zu Ende: »Nach ein paar Stunden bin ich erschöpft, aber nun höre ich nicht mehr auf, und wenn ich ohnmächtig würde« (DDD 135). Sie ist nach der Erregung des Anfangs und des Malprozesses plötzlich ganz ruhig, wie auch die Welt um sich. Die Geschichte und das Buch Damals, dann und danach schließt mit zwei bedeutenden Sätzen: »Ein seltener und seltsamer Tag. Dienstag, 31. Juli, meines einzigen Lebens« (DDD 135). Diese Sätze vermitteln dem Leser das starke Bewusstsein der Künstlerin, dass man die rasch vergehende Zeit nutzen soll, dass unser Leben einzigartig ist und jeder Tag ähnliche magische Momente in sich bergen könnte.
54
Zitiert in DGW, S. 75.
VI Alles, alles Liebe!1
Barbara Honigmanns im Jahre 2000 erschienener Roman Alles, alles Liebe!, für den sie im gleichen Jahr den Kleistpreis erhielt, besteht aus Briefen, die sich vom November 1975 bis Anfang Januar 1976 eine Reihe von Leuten – meist Freunde – schreiben. Die Mehrzahl der Korrespondenten lebt in Ostdeutschland, aber andere residieren in Wien, Moskau, oder Israel. Anna Herzfeld, eine Frau Mitte zwanzig, zieht von Berlin in das provinzielle Prenzlau, wo sie als Dramaturgin ihr erstes Stück am Stadttheater aufführen soll. Da die meisten ihrer Freunde in der Hauptstadt bleiben, ist diese Trennung von ihnen – und vor allem die von ihrem Geliebten Leon, der Anlass, miteinander zu korrespondieren. An den Wochenenden reist Anna zurück nach Berlin, wo sie an den Proben zu einer privaten Vorstellung von Das Haus von Bernarda Alba, einer Metapher für das Leben in der DDR, teilnimmt. Annas Freundeskreis besteht aus Möchtegern-Künstlern, die über Philosophie, Politik, Literatur und Kunst tage- und nächtelang diskutieren; sie träumen auch von künstlerischen Projekten, mit denen sie gegen die vorgeschriebenen Ideen des Sozialistischen Realismus rebellieren wollen. Randfiguren gibt es in Hülle und Fülle in diesem Roman. Da ist zum einen die Protagonistin Anna, die eine doppelte Außenseiterin als Jüdin und Dramaturgin mit eigenen von denen ihrer Kollegen abweichenden Ideen ist, und Freunde aus Riga, die nach Israel ausgewandert sind auf der Suche nach einem erfüllteren Leben. Sowohl die gespannte politische Lage Mitte der siebziger Jahre als auch das physische Aussehen der Charaktere und ihre ethnische/religiöse Herkunft sind Faktoren, die zu diesem Außenseitertum beitragen. Der Zusammenstoß zwischen der ersten und der zweiten Generation von Juden in der DDR, die Ambivalenz der jüngeren Generation, sich weder als Juden noch als Deutsche zu fühlen und die problematische Beziehung zwischen Angehörigen dieser Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft sind weitere Themen in dem Roman und dienen dazu, das Gefühl des Nicht-dazuGehörens von Anna und ihren Freunden zu erhöhen. 1
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine Übersetzung meines Artikels »Life at the Margins of East German Society: Barbara Honigmann’s Epistolary Novel Alles, alles Liebe!«, der in Gegenwartsliteratur veröffentlicht wurde. Paul Michael Lützeler, der Herausgeber dieser Zeitschrift gewährte mir die Bitte, den Artikel in diese Studie zu integrieren. Petra S. Fiero: Life at the Margins of East German Society: Barbara Honigmann’s Epistolary Novel Alles, alles Liebe! In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 2 (2003), S. 81–102.
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VI ›Alles, alles Liebe!‹
Alles, alles Liebe! ist ein Briefroman, ein Genre, das sich auf die Romantik bezieht. Honigmann reiht sich damit in eine literarische Tradition ein, die mit Christa Wolfs Wiederentdeckung der Autorinnen der Romantik in den späten siebziger Jahren begann. Diese Gattung evoziert gleichzeitig die Salonkultur um jüdische Salonières wie Henriette Herz, Rahel Varnhagen und Dorothea Veit, die Ende des 18. Jahrhunderts Unterhaltungen über Klassen-, Geschlechts- und Konfessionsunterschiede hinweg führten. Auf dem Umschlagbild des Buches ist Honigmanns Gemälde »Schiff auf hoher See« zu sehen, dessen Titel allerdings wenig mit dem Abgebildeten gemein hat. Was man sieht, sind Schreib- und Malutensilien, wie Pinsel, Federn, Blei- und Farbstifte und vier Notizbücher, Hefte oder Kalender, die in wildem Durcheinander auf dem Tisch liegen. Eine Papierschere und ein Wasserglas zum Eintunken der Pinsel vervollständigen das Bild, das die zwei kreativen Talente der Schriftstellerin und der Erzählerin Anna Herzfeld, das Malen und das (Briefe)-Schreiben veranschaulichen.2
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Politischer Hintergrund
Dieser Roman schildert zwei Monate, die politisch wichtig für Juden in der DDR waren. Zum einen entschloss sich die ostdeutsche Regierung, eine antiisraelische UNO-Resolution zu unterstützen, die am 10. November 1975 ratifiziert wurde und den Zionismus als eine Form des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung definierte.3 In einem Interview mit Lüpkes erinnert sich Honigmann daran, wie schockiert sie war und wie fremd sie sich fühlte, als sie
2
3
In ihrem kleinen Zimmer, in das bis zwei Uhr nachts der Lärm des Wirtshauses dringt, vertreibt sich Anna die Zeit mit Briefeschreiben, Zeichnen und Tuschen, was ihre Kreativität fördert: »und wenn ich tusche oder zeichne, tauchen plötzlich auch wieder Gedanken auf, die in der Geschäftigkeit und den Problemen des technischen Ablaufs schon untergegangen waren« (AL 34). Siehe Robert F. Gorman: Zionism as Racism (1975). In: Great Debates at the United Nations. An Encyclopedia of Fifty Key Issues 1945–2000. Westport: Greenwood Press 2001, S. 263–266. Angelika Timm schreibt dazu: »Die ostdeutsche Führungsriege folgte damit nicht nur politischen Vorgaben der UdSSR, sondern suchte in der Öffentlichkeit eigenverantwortlich den Eindruck zu vermitteln, dass die Einschätzung der Vereinten Nationen gerechtfertigt sei. Obwohl ihr bekannt war, dass das Mehrheitsergebnis durch die politische Lobbyarbeit der sozialistischen Staaten, den Druck der arabischen Erdölwaffe und das in erster Linie gegen Südafrika gerichtete Votum fast aller afrikanischen Staaten zustande gekommen war, wurde wiederholt darauf verwiesen, dass sich die DDR mit ihrem Abstimmungsverhalten in Einklang mit der ›Weltmeinung‹ befände.« Angelika Timm: Hammer Zirkel Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel. Bonn: Bouvier 1997, hier S. 252. Im Jahre 1992 wurde diese Resolution zurückgenommen.
1 Politischer Hintergrund
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die Nachrichten in der Provinz hörte, wo sie als Dramaturgin arbeitete.4 Ihr Roman fungiert unter anderem als Erinnerung an diese Marginalisierung der jüdischen Minderheit während dieser Monate. Außerdem verstärkte Erich Honecker die Beziehungen Ostdeutschlands zu den arabischen Staaten, der PLO und Arafat. 1975, dem Jahr, in dem die Handlung stattfindet, wurde die ostdeutsche Delegation bei der UNO ein Mitglied des »Committee for the Realization of the Inalienable Rights of the Palestinian People«. Herf schreibt: »East Germany was the only Communist government in the Soviet bloc which up to 1989 did not have diplomatic relations with the state of Israel«.5 Honigmann präsentiert verschiedene Strategien, anhand derer die Charaktere mit dieser antizionistischen UNO-Resolution umgehen. In einem Brief an ihre beste Freundin Eva schildert Anna ein offizielles Treffen in ihrer Theatertruppe, das einberufen wurde, um die Resolution zu besprechen. Bei dieser Zusammenkunft wurde Lenin zitiert, der gesagt hatte, der Zionismus sei eine »abscheuliche, unwiderruflich freiheitsfeindliche und reaktionäre Ideologie« (AL 74). Obwohl sie innerlich kocht, zieht sie den Kopf ein und gähnt statt ihrem Ärger Luft zu machen, was ihre Hilflosigkeit und ihren Wunsch, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zeigt. Dies ist ein Verhalten, das sie wahrscheinlich von ihren Eltern gelernt hat (AL 73). Trotz der antizionistischen Einstellung des DDR-Staates ermuntert Anna ihre Freundin Ilana, ihr direkt aus Israel und nicht über Wien, Briefe zu schicken. Indem sie ihre Korrespondenz mit einer Einwohnerin dieses Landes nicht verbirgt, rebelliert sie auf diesem Wege gegen die feindliche Einstellung zu Israel. Sie glaubt, die Ostdeutschen würden es nicht wagen, offen antisemitisch zu sein, denn der prominente Status der Elterngeneration und ihre antifaschistische Vergangenheit schützt die Kinder vor ungewollten Eingriffen (AL 127f.). Annas Mutter betrachtet die Resolution als »antisemitische Propaganda«, die durch die Mehrheit der arabischen Nationen in der UNO instigiert wurde (AL 70). Sie argumentiert, dass der Unterschied zwischen Antisemitismus – Hass und Diskriminierung gegen Juden im Allgemeinen – und Antizionismus – einer ideologischen und politischen Einstellung gegen die Politik des Staates Israel – verwischt ist. Einige Philosophen und Schriftsteller wie Alain Finkielkraut, Hans Mayer und Jean Améry haben auf die Verlagerung von Antisemitismus auf Antizionismus hingewiesen und argumentieren, wie Annas Mutter, dass hinter dem Antizionismus das alte Gespenst des Antisemitismus sein hässliches Haupt rührt.6 4 5 6
Claus Lüpkes: Rezension von »Alles, alles Liebe!« In: Deutsche Welle – Kultur und mehr, 14. November 2000. Herf, Divided Memory (wie Kapitel III, Anm. 27), S. 199f. Siehe Alain Finkielkraut: The Resurrection of the Octopus. In: The Imaginary Jew. Trans. by Kevin O’ Neill & David Suchoff. Lincoln: University of Nebraska Press 1994 (Texts and Contexts; 9), S. 147–169 oder Hans Mayer: Judenhaß nach Auschwitz. In: Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp Taschenbuch; 736), S. 449–458. Vgl. auch Jean Améry: Der ehrbare Antisemitismus. In: Ders.: Widersprüche. Stuttgart: Klett 1971, S. 242–249.
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VI ›Alles, alles Liebe!‹
Diskriminierung
Nicht genug, dass sich Anna und Eva politisch entfremdet fühlen; die Diskriminierung aufgrund ihres physischen Aussehens trifft sie ebenso schwer. Laut Nolden manifestierte sich der »Antisemitismus der Straße« im Deutschland der Nachkriegszeit oft in Bemerkungen über jüdische Physiognomie und Äußeres.7 Alles, alles Liebe! beginnt mit einem Vorfall, der dieses Phänomen anschaulich illustriert. Eine anonyme Person glaubt Annas Identität allein auf der Basis von stereotypen Merkmalen zu erkennen: »Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war ›Zigeuner‹. Jemand rief es mir nach, kaum daß ich ein paar Schritte aus dem Bahnhof getan hatte, auf der Suche nach meinem Hotel« (AL 5). Diese Etikettierung ist ein schlechtes Omen für Annas zukünftiges Leben in dieser Kleinstadt. Der Wirt in dem Gasthaus, in dem sie absteigt und sich einquartiert, versucht ihre Nationalität zu erraten und meint, sie wäre Türkin, Italienerin, Kolumbianerin oder – als ihm nichts mehr einfällt – Zigeunerin (AL 8). Interessanterweise nennt niemand sie »Jüdin« (dieses Wort ist, wie oben bemerkt, in seiner negativen Konnotation im Kollektivbewusstsein unterdrückt), aber die Prenzlauer verspüren den Drang, die Protagonistin zu kategorisieren, die anscheinend eine dunklere Haut- und Haarfarbe als es »normal« wäre, hat. Honigmanns Roman Eine Liebe aus nichts enthält eine ähnliche Szene: »Jemand spricht uns an, ob wir Italiener seien. Sie erinnern sich nicht mehr, wie Juden aussehen« (LN 98). Nolden interpretiert dieses linguistische Tabu, die Juden als solche zu bezeichnen als »Phänomen einer totalen gesellschaftlichen Amnesie«.8 Das Unbehagen, das Honigmann selber wegen der Reaktionen der Deutschen auf ihr Aussehen spürt, wurde erst aufgehoben, als sie nach Straßburg zog und sich in den Gesichtern ihrer sephardischen Freundinnen spiegeln konnte (DDD 75). In Alles, alles Liebe! wird auch Eva wegen ihres Aussehens diskriminiert, vor allem wegen ihrer ›jüdischen‹ Nase; einige Kollegen nennen sie wiederholt »Hexe« und besetzen sie mit dieser Rolle in ihrem Beruf als Schauspielerin. Um sich gegen so eine feindliche Umgebung zu schützen, benimmt sie sich hochmütig und stolz. 7
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Nolden, Junge jüdische Literatur (wie Einleitung, Anm. 2), S. 37f. Barbara Honigmann schreibt beim Betrachten eines Photos von ihr und ihrer Mutter, das in dem Band So einfach war das abgebildet ist, über die physiognomische Fremdheit, die sie in Ostdeutschland verspürte: »In dem Ostberlin, in dem wir lebten, waren meine Eltern und ich jedenfalls auch äußerlich ›auffällig‹, und das ging von ›hast dir wohl heute die Augen nicht gewaschen‹ bis ›Itzig‹, was darüber hinaus ging, trauten sich die Leute wohl nicht mehr laut zu sagen.« Barbara Honigmann: Fremdheit. In: So einfach war das. Jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland seit 1945. Hg. von Cilly Kugelmann und Hanno Loewy. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag 2002 (Zeitzeugnisse aus dem Jüdischen Museum Berlin), S. 56-57. Ebd., S. 38.
3 Innerjüdische Beziehungen zwischen den Generationen
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Annas Hautfarbe und die Form von Evas Nase erwecken negative Assoziationen bei ihren Mitbürgern. Laut Sander Gilman wurden diese zwei Charakteristika in der Medizin und populären Vorstellung verbunden. Im 18. und 19. Jahrhundert sah man Juden als schwarz oder zumindest als dunkelhäutig an.9 Diese Schwärze wurde mit Minderwertigkeit, Krankheit und Hässlichkeit assoziiert. Während die westeuropäischen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf Sprache, Kleidung, Beruf, Wohnplatz oder Haarschnitt praktisch nicht unterscheidbar von ihren christlichen Nachbarn waren, gab es doch immer noch ein anatomisches Merkmal, das nicht eliminiert werden konnte, und das war die jüdische Nase: »[T]he nose came to be the sign of the pathological Jewish character for Western Jews, replacing the pathognomic sign of the skin, though closely linked to it. For the shape of the nose and the color of the skin [...] are related signs«.10 Honigmann zeigt die Dauerhaftigkeit dieser Assoziation in der Vorstellungskraft der Leute auf, die dunkle Hautfarbe und Nasenform mit der Mitgliedschaft in einer verachteten ethnischen Gruppe (»Zigeuner«), und mit Hässlichkeit, Bösem und Dämonischem (»Hexe«) verbinden.
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Innerjüdische Beziehungen zwischen den Generationen
Honigmann charakterisiert die Beziehung zwischen Juden der ersten und der zweiten Generation als eine voller Konflikte und Brüche. Weil die Ideologen der DDR glaubten, dass der Sozialismus alle religiösen und ethnischen Unterschiede einebnen würde, haben die Juden der ersten Generation ihr Judentum unterdrückt und ihre Kinder in einer Art »militantem Atheismus« erzogen, wie es Annas Eltern taten (AL 128). Nach dem Krieg kamen sie in den östlichen sozialistischen Teil Deutschlands zurück, um beim Wiederaufbau einer in ihren Augen besseren Gesellschaft zu helfen. Die meisten Juden der älteren Generation in diesem Roman überlebten die Judenverfolgung im Exil. Anna versteht nicht, warum ihre Eltern ausgerechnet in das Land der Täter zurückgekehrt sind auf der Suche nach einem Glück, das sie im »Scherbenhaufen« des Nachkriegsdeutschlands nicht fanden (AL 33).11 Annas Vater ist völlig abwesend im Roman, während ihre Mutter, die in Ostberlin lebt, aber Reise9 10 11
Sander L. Gilman: The Jewish Nose. Are Jews White? Or, The History of the Nose Job. In: Ders.: The Jew’s Body. New York: Routledge 1991, S. 169–193, hier S. 171. Ebd., S. 180f. In diesem bedeutenden Brief von Anna an Eva, in dem es unter anderem um die Frage geht, warum die Eltern nach Deutschland zurückgekehrt sind, wird das Wort »Scherbenhaufen« zweimal kurz hintereinander gebraucht. Der Brief wurde am 9. November, also am Jahrestag der Reichspogromnacht geschrieben. Obwohl Anna nicht explizit darauf eingeht, wird durch dieses zweimalige Verwenden des Begriffes unwillkürlich diese Nacht, in der die tätlichen Übergriffe auf Juden, ihre Synagogen und Geschäfte ernsthaft begannen, hier heraufbeschworen.
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VI ›Alles, alles Liebe!‹
privilegien in den Westen genießt, eine wichtige Korrespondentin Annas ist. Frau Herzfeld verbringt größere Zeiträume mit ihrem eng zusammenhaltenden Kreis jüdischer Freunde in Wien, mit dem sie die Zeit der Verfolgung unter den Nationalsozialisten verbindet. Die eigenen Erfahrungen der Autorin beeinflussten ihre Darstellung dieser Generationskonflikte. Für ihre Eltern und andere jüdische Remigranten war der Antifaschismus viel wichtiger als ihr Judentum. Für alle Remigranten hatte insbesondere der Antifaschismus als Gründungsidee der DDR eine überragende Bedeutung. Der antifaschistische Diskurs markierte deutlich die Differenz des neuen Staates zum »Faschismus« und proklamierte, die DDR sei ein Staat ohne Antisemitismus und Diskriminierung. Der stalinistische Antisemitismus wurde dabei zum Tabuthema.12
Wie man jedoch aus der Reaktion von Annas Mutter auf die UNO-Resolution ablesen kann, glaubt selbst diese ansonsten überzeugte Sozialistin nicht an die selbst proklamierte Toleranz des DDR-Staates gegenüber ihren jüdischen Bürgern. Außerdem werden etliche andere fatale Auswirkungen, die Folge der Entwurzelung und Rückkehr der älteren Generation nach Ostdeutschland waren, artikuliert. Als Evas Mutter, deren Eltern vergast worden waren, nach dem Krieg zu ihrer Wohnung zurückkehrte, vertrieben sie die Deutschen, die sich in der Zwischenzeit ihre Wohnung angeeignet hatten. Das treibt sie im wahrsten Sinne des Wortes in den Wahnsinn und sie benimmt sich auf unkonventionelle Weise, indem sie Handstände in der Öffentlichkeit macht, was sie als Außenseiterin markiert und ihrer Tochter peinlich ist. Es ist jedoch klar, dass sie ein spätes Opfer des Nationalsozialismus ist. Trotz oder besser gesagt, wegen der Tatsache, dass sie dem schrecklichen Schicksal von Millionen von Juden entkommen ist, ist sie unfähig, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ihre Verrücktheit und ihre Handstände erlauben es ihr, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und scheinen die einzig richtige Reaktion auf eine Welt zu sein, deren Wertesystem auf dem Kopf steht.13 Eva Rothmann geht noch einen Schritt weiter als Evas Mutter und springt aus dem Krankenhausfenster in den Tod. Sie war Mitglied einer großbürgerlichen Berliner Familie in den dreißiger Jahren gewesen und war gerade noch nach England entkommen. Man könnte argumentieren, dass sie an den Spätfolgen des Nationalsozialismus und dem Trauma der Entwurzelung und Rück12
13
Bettina Völter: Juden im deutschen Postkommunismus. Eine biographische Ortsbestimmung. In: Der Ort des Judentums in der Gegenwart. 1989–2002. Hg. von Hiltrud Wallenborn, Michael Kümper und Anna Lipphardt. Berlin: Bebra Wissenschaft Verlag 2004, S. 63–78, hier S. 65. Das Motiv des verrückten Überlebenden findet sich auch in anderen Büchern. In Jurek Beckers Bronsteins Kinder (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988) wird Elle wegen ihrer traumatischen Erfahrungen in ihrem Versteck in eine geschlossene Anstalt eingeliefert. Lea Fleischmanns Vater wurde ebenfalls verrückt; ihn ereilte das gleiche Schicksal wie Elle, wie die Autorin in Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik (München: Wilhelm Heyne 1998) erzählt.
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kehr nach Deutschland litt. Wie Evas verrückte Mutter hat auch sie nie ein zufriedenstellendes Leben in der DDR gefunden. Juden wurde der Status von »Opfern des Faschismus« gegeben, aber die Besonderheit ihrer Lage wurde nie artikuliert.14 Frau Rothmann pflegte zu sagen »exile is no return«, womit sie meinte, man könne nie wieder zurückkommen und das alte Leben einfach wieder aufnehmen, als ob nichts geschehen sei, wenn man einmal mit Gewalt aus der Heimat vertrieben wurde (AL 41). Eva sinniert über diesen Spruch und seine Bedeutung für die zweite Generation nach. Sie kommt zu dem Schluss, ihre Eltern hätten sich betrogen über den Neuanfang im alten Vaterland und es wäre besser gewesen, wenn sie in ihren Exilländern geblieben wären, wo zumindest ihre Kinder Aussicht auf Erfolg gehabt hätten (AL 42). Denn nach einem kurzen »anti-fascist German-Jewish spring«, der von 1949 bis zur Slánský Aburteilung 1952 dauerte, wurde die Lage der Juden in der DDR immer ambivalenter wegen des Verdachts, dass sie Zionisten seien.15 Eva impliziert auch, dass die zweite Generation keine Chance hat, ein »normales« Leben in Ostdeutschland zu führen. Natürlich bekamen Juden bessere Renten und Reisebedingungen, aber diese Privilegien verschlimmerten ihren PariaStatus nur noch: »[S]ie wurden zu Objekten einer herablassenden Fürsorge, Almosenempfänger, die von der Mehrheit der Gesellschaft in einem sinnentleerten Ritual mit pflichtgemäßer Solidarität, Neugier und Distanz betrachtet wurden«.16 Wie Anna so klagt auch Eva ihre Eltern an, dass sie nach Deutschland zurückgekehrt seien; ihre Beziehung zu ihrem Vater verschlechtert sich immer mehr und das Benehmen ihrer Mutter ist ihr peinlich. Sie verachtet ihren Vater dafür, dass er zweimal geheiratet hat – jedes Mal eine »blonde goische Frau« – und sie hat es schon aufgegeben, über politische Themen mit ihm zu diskutieren (AL 43).
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Annas und Evas Beziehung zum Judentum
Wenn man die Reflektionen und die Aktionen der jüngeren Generation in Bezug auf ihr Judentum näher betrachtet, so ist es klar, dass Annas Suche nach der jüdischen Komponente in ihrem Leben gerade erst beginnt. Ihrer Meinung 14
15 16
Frank Stern schreibt: »Towards the end of the 1940s, during the time of the cold war, political changes could first be felt in this context when the difference between victims of fascism, synonym for Jews, and fighters against fascism, meaning the Communists, were publicly stressed. Beginning in 1951 with the shift to anti-Zionist positions in foreign policy, a change of political climate became obvious in the GDR.« Stern, The Return to the Disowned Home – German Jews and the Other Germany (wie Kapitel III, Anm. 30), S. 65. Ebd., S. 66. Wolfgang Pasche: Lektürehilfen. Bronsteins Kinder. Stuttgart: Ernst Klett 1997 (Klett LernTraining), S. 40.
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nach ist das Judentum in Deutschland ausschließlich zu einer Geschichte der Verfolgung degradiert worden und sie bemängelt diese Überbetonung, die andere Aspekte der Religion und Kultur in den Hintergrund drängt (AL 106). Anna gibt gegenüber ihrer Umwelt fast nie preis, dass sie Jüdin ist, denn die eigenartigen Reaktionen darauf sind ihr zuwider. Als Kratz, ihr Feind am Theater, von »Heimatgefühlen« spricht, ist sie drauf und dran, ihre jüdische Identität zu enthüllen, um ihm klarzumachen, wie schwierig es für sie ist, solche Gefühle Deutschland gegenüber zu entfalten, macht aber im letzten Moment einen Rückzieher und behält es für sich. Als sie Michi, einem guten Freund von ihr, verrät, sie sei Jüdin, werden ihre Ängste wahr, wie sich in seiner Reaktion auf eine lebende Jüdin zeigt. Er hatte in Bezug auf Juden immer nur Bilder von Leichenbergen im Kopf und ist wie vom Donner gerührt, als sie durch ihr bloßes Dasein diese Vorstellung in Frage stellt. Anna ist überwältigt davon, was das Wort »Jude« nun in ihm auslöst: Gleich fühlte ich mich wieder so schlecht und überfordert, weil ich dachte, daß ich nun alles gleichzeitig darstellen muß, Königin Esther und den kleinen Jungen aus dem Ghetto, der die Hände hebt, und den Staat Israel noch dazu. Dabei gelingt es mir doch noch nicht einmal, Anna zu sein [...]. (AL 67)
Da sie als Atheistin erzogen wurde, ist es schwer für Anna sich vorzustellen, ein religiöses Leben zu führen und nach Israel zu emigrieren, wie es ihre Freundin Ilana aus Riga gerade getan hat. Trotzdem ist sie bereit, einen Dialog über jüdische Themen mit dieser neuen israelischen Bürgerin zu führen und manchmal beneidet sie Ilana um ihre Verwurzelung im Glauben. Sie vertraut Eva ihre existentiellen Zweifel an: Eva, wir hängen in dieser deutschen Provinz rum, Männer und Kinder haben wir nicht, nur immer Zweifel und Fragen, lachen immer an der falschen Stelle, und alles, was wir haben, ist nur eine jüdische Nase und einen jüdischen Namen und eine Familiengeschichte, die zu Nase und Namen dazugehört, und das kommt mir so festgelegt und vage zugleich vor, so wie eine scharfe Kontur, die im Inneren leer bleibt. Vielleicht ist das eher der magische Kreis, von dem Börne spricht, man kommt nicht heraus, aber innen ist er hohl. (AL 137f.)
Dieses Zitat und das vorherige demonstrieren Annas Entfremdung vor sich selbst und den Mangel an Zugehörigkeitsgefühl, den die zweite Generation im Land der Täter fühlt. Es enthüllt auch, wie diese Entfremdung sich in ihrer Umwelt spiegelt, die Schwierigkeiten hatte, die jüdische Minderheit in ihrer Mitte zu akzeptieren. Ludwig Börnes Bemerkung vom magischen Judenkreis, die er in einem Brief vom 7. Februar 1832 machte, illustriert, dass Deutschland sich mit diesem Thema seit der Öffnung der Ghettos am Ende des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.17 Da es anstrengend ist, mit diesem konstan17
Börnes Brief wird in Mattenklott zitiert: »Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle
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ten Druck zu leben, äußert Anna in anderen Briefen ihre Sehnsucht nach einem Leben fern der Gesellschaft in der Abgeschiedenheit eines Klosters, wo sie ihre starken Gefühle in Schach halten könnte. Sie nennt Prenzlau ihr »Probekloster« und nimmt Bezug auf die mittelalterliche Geschichte von Heloise und Abelard, die sich nach einer stürmischen Beziehung im Kloster wiederfinden und ihr Leben Gott widmen (AL 13).18 Nach Abelards Kastrierung von Seiten Heloises Onkel, fällt es dieser schwer, absolute Abstinenz von körperlicher Liebe zu praktizieren. Abelard ermahnt sie, den Rest ihres Lebens im Kloster zu verbringen, und sie gibt endlich seinen Wünschen nach, obwohl sie sich als Heuchlerin vorkommt, da sie dort nicht wegen der Liebe zu Gott sitzt, sondern um Abelard einen Gefallen zu tun. Anna findet sich in einer ähnlich isolierten Lage; sie würde viel lieber bei Leon sein als in Prenzlau, aber ihr beruflicher Ehrgeiz und ihre Überzeugung, dass sie ihr Erwachsenenleben beginnen muss, indem sie auf eigenen Füßen steht, sind die Gründe für sie, in die verhasste Provinz zu ziehen (AL 5f.). Obwohl sie es genau so satt hat, am Rande der DDR Gesellschaft zu leben wie Anna, glaubt Eva, die Diaspora sei der richtige Ort für Juden und sie müssten ihr schwieriges Leben im Land der Täter führen, indem sie die nichtjüdische Bevölkerung zwingen, sich mit ihrer Anwesenheit auseinanderzusetzen. Sie geht so weit und meint, man müsse den Deutschen – nach so vielen misslungenen Versuchen – noch eine Chance geben, zu beweisen, dass sie friedlich mit den Juden nach der Katastrophe der Shoah zusammenleben können (AL 146). Eva hat eine Fragment gebliebene Geschichte geschrieben mit dem Titel »Die zwei Brüder«, die sie zum »Album der Freunde« beitragen möchte, das aus einer Collage von künstlerischen Arbeiten bestehen soll, die Anna und ihre Freunde veröffentlichen wollen. Diese Geschichte könnte als eine Parabel über verschiedene Arten, jüdisch zu sein, verstanden werden und variiert das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm. In Evas Geschichte verwechselt die Frau des einen Bruders ihren Mann mit dessen Zwillingsbruder, genau so wie im Märchen der Grimms. Dort aber wird dieses Missverständnis im Endeffekt aufgeklärt, während es in Evas Geschichte bei der Verwechslung bleibt. In ihrer Geschichte unterscheiden sich die Brüder von ihrer Umwelt durch ihre goldene Haut; dieses edelste Metall könnte ihr Judentum symbolisieren.19 Während der eine Bruder sich dieser Haut schämt, tut der andere so, als wäre alles normal. Beide gehen in die Welt hinaus, aber bald kehrt der eine, der sich
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denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.« Gert Mattenklott: Über Juden in Deutschland. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 68. Heloise and Abelard. Translated by Peter Wiles. Ed. by Régine Pernoud. New York: Stein and Day 1973. In meinem Interview mit der Autorin meinte sie allerdings, dass man sich hier nicht notwendigerweise darauf festlegen müsse, dass die Brüder Juden seien. Das Motiv der Brüder sei ein uraltes und insofern könnte die goldene Haut auch anderes bedeuten.
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schämt, nach Hause zurück. Mit dem Zuhause könnte hier Israel gemeint sein. Der andere wird von gewalttätigen Leuten angegriffen, die ihn töten wollen, dann aber von wilden Tieren verscheucht werden, die wiederum von Stürmen vertrieben werden. Diese Ereignisse verweisen auf den Antisemitismus, den die Juden oft in der Diaspora erdulden müssen. Er trifft ein Mädchen, das nicht die richtige Frage stellt, nämlich, wie es ihm geht und ihn stattdessen über seine Identität und Herkunft befragt. Er schreit sie zwar wegen ihrer Unsensibilität an, heiratet sie aber am Ende doch, weil sie sich um ihn kümmert. Als das Mädchen wissen möchte, warum er so eine goldene Haut hat, wird er aggressiv und meint, das solle ihr egal sein, da alle Menschen gleich seien. Sie trennen sich wegen dieser Sache. Nachdem er das Mädchen verlassen hat, führt er ein nomadenhaftes Leben, aber er lebt nicht in Frieden mit sich selbst. Eva illustriert damit die Schwierigkeit der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, die oft durch Missverständnisse, Übersensibilität und Trennungen gekennzeichnet sind. Der Bruder, der nach Hause zurückkehrt, schreibt alles über die Geschichte seines Volkes auf, woran der Vater sich erinnert. Dann bricht er zum zweiten Mal auf, um die Welt zu erforschen und trifft die Frau seines Bruders, die ihn mit ihm verwechselt. Sie kehren zum Haus des Vaters zurück, der in ihrer Abwesenheit gestorben ist und das Buch mit all den Aufzeichnungen seines Sohnes verbrannt hat. Er hinterlässt die Nachricht: »Nichts aufschreiben!« (AL 157). Der Bruder meint, der Vater hätte wohl recht daran getan, das Buch zu zerstören, wie Eva in dem kafkaesken Satz erklärt: »Wahrscheinlich hat er recht, dachte der zurückgekehrte Bruder, die Schrift sperrt die Geschichte nur ein« (AL 157). Er lebt mit dem Mädchen und sie gebärt ihm seine Kinder, aber er erzählt ihr niemals die Wahrheit – und sie fragt nie danach. Für Lützeler stehen die beiden Brüder »für entgegengesetzte Möglichkeiten, als Juden zu leben. Der eine besinnt sich auf die jüdische Religion und Tradition, der andere erprobt fremde Lebensmöglichkeiten«.20 Ilana, mit ihrer aliya (ihrem Aufstieg) von der Sowjetunion in den Staat Israel, hat die notwenige Freiheit gefunden, um ihr Leben in diesem Land nach der jüdischen Religion zu leben, einem Land, in dem alle Juden der Welt willkommen sind. Sie und ihr Mann wollten in ihrer alten Heimat ein Monument errichten, um der in Rumbula, einem Wald in der Nähe von Riga, ermordeten Juden zu gedenken, stießen aber auf Widerstand, was ihr Verlangen zu emigrieren, nur noch verstärkte. Ilana repräsentiert den Bruder, der nach Hause zurückgekehrt ist und dem das Anderssein lästig war. Der Bruder, der in die Welt geht, steht für die Diaspora und Versuche der Assimilation. Sein nomadisches Wandern ist wie das Annas, die »einer Nomadin gleich, noch auf der Suche nach einem emotionalen und intellektuellen Zuhause ist«.21 Wie der rastlose Bruder, ist auch sie 20 21
Paul Michael Lützeler: Album der Freunde aus der »Scheiß-DDR«. Ein Briefroman Barbara Honigmanns. In: Die Zeit, 16. Nov. 2000, S. 10. Ebd., S. 10.
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nicht mit sich selbst in Frieden. Obwohl sie sich danach sehnt, wie Ilana ein Zuhause in der Religion zu finden, ist sie von ihren Eltern weder geistig noch traditionsmäßig darauf vorbereitet worden. Es ist wichtig zu erkennen, dass Honigmann hier – durch Eva – ein beliebtes Genre der Romantik benutzt, nämlich das Märchen, es aber umschreibt, um ihren Zweck zu erfüllen: die Geschichte der Juden zu reflektieren, eine Gruppe, die traditionell im Märchen in einem negativen Licht dargestellt wird.22
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Beziehungen zwischen Juden und Deutschen
Wenn Konflikte zwischen Honigmanns jüdischen Charakteren oft generationenbedingt sind, so werden Beziehungen zwischen Juden und Deutschen durch die Last der Shoah zusätzlich erschwert. Die zwei im Roman dargestellten Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden enden nicht erfolgreich. Sie reflektieren die schmerzhaften Gefühle zwischen diesen zwei Gruppen, die noch weit von einer Normalität entfernt sind. Dan Diner sagt voraus, dass dies auf Generationen hin der Fall sein wird.23 Eva sehnt sich nach einem festen Partner, aber sie urteilt über ihren nichtjüdischen Freund: »Klaus ist lieb, aber leider ist er blond« (AL 39). Evas Abneigung gegen ihre blonde Stiefmutter wurde schon hervorgehoben. Bei Klaus symbolisiert »blond« stereotype deutsche Eigenschaften so wie übertriebene Ordnung und Sauberkeit: »Wenn Klaus vorbeikommt, kocht er mir was Schönes, und hinterher wäscht er auch ab, manchmal räumt er mir sogar das ganze Zimmer auf, danach sieht es etwas blond aus. [...] und manchmal schlafen wir miteinander und bleiben uns trotzdem fremd« (AL 40). Am Ende wirft Eva ihren Freund aus der Wohnung, nachdem sie ihm mitteilt, wie lächerlich sie dieses »Ehepaarspielen« findet. Hier zeigt Honigmann die Unmöglichkeit einer harmonischen Partnerschaft zwischen der chaotischen, künstlerischen Eva und einem soliden, häuslichen Deutschen, der sie gut behandelt und mit dem sie ihre Liebe zu Bachs Musik teilt, aber der sie im Endeffekt zu sehr an die Disziplin erinnert, mit der deutsche Bürokraten ihre Großeltern in den Tod schickten. Eva macht sich hier allerdings des gleichen Stereotypisierens schuldig, dessen sie die Deutschen anklagt, wenn sie sie eine Hexe nennen. Sie muss lernen, dass es auch blonde Juden mit blauen Augen gibt. Honigmann 22 23
Siehe beispielsweise das Märchen »Der Jude im Dorn«. In: Die Märchen der Brüder Grimm. Berlin: Verlag Neues Leben 1984, S. 480–484. Diner, Negative Symbiose (wie Kapitel III, Anm. 45), hier S. 9. Katja Behrens kurze Geschichte »Alles normal« stellt diese so sehr gewünschte Normalität ebenfalls stark in Frage; sie häuft Beispiel auf Beispiel an, um den Blick darauf zu richten, dass selbst ihre gebildeten Freunde Bemerkungen machen, die ihren versteckten Antisemitismus und ihre Vorurteilsbeladenheit gegenüber anderen Minderheiten wie z. B. Homosexuellen belegen. Katja Behrens: »Alles normal« In: Dies.: Salomo und die anderen. Jüdische Geschichten. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993, S. 7–17.
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scheint zeigen zu wollen, dass die jüdischen Charaktere in ihrem Roman genauso wie ihre deutschen Pendants zu Stereotypen greifen, wenn es um die andere Gruppe geht und sie lädt ihr jüdisches Publikum ein, sich selber kritisch zu betrachten, obwohl Honigmanns Leserschaft vorwiegend aus nichtjüdischen Deutschen besteht. Annas Beziehung zu ihrem Geliebten Leon, auch er Nichtjude, endet ebenfalls in einer Katastrophe. Leon sieht aus wie Doryphoros, eine griechische Statue von Polykleitos, die Anna und Leon im Bode-Museum in Berlin gesehen haben. So wie die Griechen den menschlichen Körper in ihren Skulpturen verklärten, so idealisiert Anna Leon, der ihren hohen Vorstellungen von ihm nicht entspricht. Er selber verweist auf sein defektes Leben, als er Anna in einem seiner ersten Briefe schreibt, dass trotz Doryphoros’ Schönheit die Statue schwer zerstört ist (AL 35). Annas erhöhte Vorstellung von ihm scheint ihm nicht geheuer zu sein und er versucht ihre Wahrnehmung von ihm in realistischere Bahnen zu lenken. Leons Einbrechen in Annas Freundeskreis verursachte romantische Ekstase, Eifersucht und letzten Endes seinen zweiten Selbstmordversuch. Bevor er aus dem Fenster springt, schreibt er einen letzten Brief an Anna, in dem er sie und ihre jüdischen Freunde anklagt, sich überlegen zu fühlen: Ihr fühlt euch als irgendeine Art Elite, und ich habe bis heute nicht verstanden, woraufhin eigentlich. Werke habt ihr nicht vorzuweisen, und besondere Tapferkeit in irgendeiner Sache habt ihr auch nicht bewiesen. In Deinem »jüdischen Kreis« stellt ihr euer Jüdischsein heraus und kokettiert damit. Ihr seid aber bloß eingebildete Juden, denn ihr seid deutsch bis auf die Knochen, gerade darin, daß ihr euch so gerne als Anwohner von Jerusalem seht. (AL 159, Hervorhebung v. Verf.)
In diesem Zitat bezieht sich Honigmann in Leons Worten auf den französischen Philosophen Alain Finkielkraut, der in seinem Buch Le juif imaginaire (1980) gegen die Juden der zweiten Generation polemisiert, von denen er selber ein Mitglied ist. Er kritisiert an ihnen, dass sie ihre Identität allein aus einer Identifikation mit den Opfern der Shoah beziehen, trotz der Tatsache, dass sie in den Lagern nicht gelitten haben: Cowards in life, martyred in dream – they love historical self-deception, confusing the sheltered world in which they live with the cataclysm their parents endured. Among Jews they constitute a strange but widespread category, one that has not yet found a name. They are not religious, at least most of them; in vain they cherish Jewish culture, possessing only its sorry relics. They have not performed their apprenticeship to Judaism under the gaze of the Other. [...] They are unwavering Jews, but armchair Jews, since, after the Catastrophe, Judaism cannot offer them any content but suffering, and they themselves do not suffer.24
24
Alain Finkielkraut: The Imaginary Jew. Translated by Kevin O’ Neill & David Suchoff. Lincoln: University of Nebraska Press 1994, hier S. 15.
6 Kunst und Literatur in der DDR der siebziger Jahre
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Leons Vorwurf ist zum Teil ungerechtfertigt. Es ist verständlich, dass Anna und Eva es genießen, mit ihren jüdischen Freunden zusammen zu sein, und dass sie sich moralisch überlegen fühlen, ist wohl eine natürliche Reaktion auf das, was ihren Eltern passiert ist. Aber außerhalb ihres Kreises ist es für Anna nicht leicht, ihre jüdische Identität zu enthüllen; eigentlich versucht sie sie zu verheimlichen so lange sie kann. Eva fühlt sich sehr wohl überlegen und hochmütig, aber nicht wegen ihres vermeintlichen Leidens, sondern weil gegen sie in der Tat diskriminiert wurde aufgrund ihres Judentums oder ihres ›hexenähnlichen‹ Aussehens. Es ist auch schwierig, die Gefühle der Frustration und der Wut zwischen der jüngeren und älteren Generation in Schach zu halten, die durch Ereignisse ausgelöst wurden, die sich während und nach dem Krieg zugetragen haben. Eva ist wutentbrannt, wie die Deutschen ihre Mutter und sie, als deren Nachkomme, behandelt haben und fühlt sich um die Wohnung betrogen: »Und allein, um die widerlichen Schweine zu ärgern, die damals in der Wohnung meiner Mutter gesessen und behauptet haben, die Wohnung gehöre ihnen, bin ich noch stolzer und noch hochmütiger« (AL 146). Mit solchen Überreaktionen auf beiden Seiten ist es kein Wunder, dass »normale« Beziehungen zwischen Juden und Deutschen noch nicht möglich sind.
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Kunst und Literatur in der DDR der siebziger Jahre
In Alles, alles Liebe! schildert Honigmann die Schwierigkeiten des Lebens unter dem Sozialismus für progressive Künstler, die in einem heiklen Balanceakt zwischen ihren eigenen und den vom Staat vorgeschriebenen Zielen befangen sind. 1971 erklärte Erich Honecker, es würde keine Tabus mehr im Bereich der Literatur und der Kunst geben.25 Schriftsteller konnten nun Werke publizieren, die seit Jahren in ihren Schubläden lagen, so wie Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., das im März 1972 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form erschien.26 Das gleichnamige Stück wurde ab Sommer 1972 mit großem Erfolg an 14 Theatern in der DDR aufgeführt. Volker Brauns Unvollendete Geschichte jedoch konnte beispielsweise nur in Sinn und Form veröffentlicht werden und musste dreizehn Jahre auf seine Veröffentlichung als Buch warten.27 Emmerich kommentiert: »Als allzu wahr wurde offenbar
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Die folgenden Ausführungen basieren auf den Forschungsergebnissen Wolfgang Emmerichs in Kleine Literaturgeschichte der DDR. 1945–1988, besonders der Sektion »VIII. Parteitag, Biermann-Ausbürgerung und die Folgen« (Frankfurt a. M.: Luchterhand-Literaturverlag 1989, S. 242–258). Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (Suhrkamp Taschenbuch; 2013). Volker Braun: Unvollendete Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 (Suhrkamp-Taschenbuch; 1660).
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die nach dem Leben geschriebene, dokumentarische Erzählung taxiert«.28 Der bekannteste Skandal der siebziger Jahre war die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die am 17. November 1976 stattfand, ein Jahr nachdem sich die Ereignisse in Honigmanns Roman abspielen. Der Protestbrief, der von zwölf bekannten DDR Autoren am selben Tag unterzeichnet wurde, war ein mutiger Solidaritätsbeweis mit dem rebellischen Liedermacher und Poeten. Alles, alles Liebe! spielt inmitten dieser widersprüchlichen Zeiten, stellt aber eher die Unterdrückung durch den Staat dar und nicht eine Tendenz zu mehr Offenheit in der Kunst und Literatur. In Annas Vertrag steht, sie müsse ihre »Fähigkeiten als sozialistische Künstlerpersönlichkeit in enger Verbindung mit der Arbeiterklasse« einsetzen und sich auch ständig ideologisch weiterbilden (AL 6–7). Für sie versinnbildlicht das Theater in Prenzlau in keinster Weise ihre Vorstellungen von dem, wie richtiges Theater sein sollte. Es ist technisch und bürokratisch und die Truppe, die wie Funktionäre handelt, hat jeglichen Wunsch aufgegeben, richtige Kunst zu produzieren (AL 15). Es nimmt daher nicht wunder, dass sich Anna von Anfang an marginalisiert vorkommt. Ihre Ideen, wie man Philipp Hafners Wiener Volksstück Der Furchtsame aufführen könnte, unterscheiden sich deutlich von denen ihrer Schauspielerkollegen, deren Unterstützung sie zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen bräuchte. Anna würde es vorziehen, das Ende je nach Laune der Kinder auf verschiedene Art zu spielen. Jedoch kann sie diese innovativen Ideen nur der Bühnenbildnerin mitteilen, mit der sie auf vertrauterem Fuß ist; sie beide stoßen auf Widerstand im Rest der Theatergruppe. Der Dramaturg Jörg Kratz agiert gegen Anna und es gelingt ihm, die Theaterleitung davon zu überzeugen, Annas Vertrag zurückzuziehen. Er setzt sich während der Mittagspause mit seinem inneren Zirkel von Schauspielern an einen anderen Tisch als Anna und marginalisiert sie dadurch in räumlicher Hinsicht; außerdem schreibt er ihr einen herablassenden Brief mit Vorschlägen, wie sie ihr Verhalten ändern müsste, um Erfolg verbuchen zu können (AL 72). Dass Anna eine Frau ist, spielt hier sicher eine Rolle und sie reagiert auf seine Attacken, indem sie zurückschreibt: »Deine papahafte Zuwendung behalte doch bitte exklusiv Deinen Kindern vor« (AL 76). Am Ende bekommt Kratz Annas Arbeit und sie ist verpflichtet, ihm all ihre Unterlagen auszuhändigen, an denen sie während der Proben gearbeitet hat. Im Kündigungsbrief steht, sie hätte sich nicht in das »sozialistische Kollektiv« einordnen können und den Anforderungen, die an eine »sozialistische Leiterpersönlichkeit« gestellt werden, nicht genügt (AL 163f.). Ihre Freunde in Berlin versuchen eine private Aufführung von Federico García Lorcas Stück Das Haus der Bernarda Alba zu inszenieren. Sie interpretieren dieses äußerst kritische Drama über eine spanische Familie als Metapher 28
Emmerich, VIII. Parteitag, Biermann-Ausbürgerung und die Folgen (wie Anm. 25), S. 249.
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für das Leben unter einem repressiven Regime.29 Anna schreibt: »Wir nehmen uns diese Freiheiten, weil wir keine anderen haben, darin sind wir eine Art Spiegelwelt zu ›Bernarda Albas Haus‹, das haben wir übrigens oft genug auf den Proben gesagt, denn wir leben in einer ähnlichen Starre und ewigen Sehnsucht und Hoffnung nach ›draußen‹. Oder nicht?« (AL 37). In Lorcas Stück erhängt sich die einundzwanzigjährige Adela, nachdem ihr ihre Schwester Martirio sagte, dass Pepe, der Verlobte ihrer ältesten Schwester Angustias und Adelas Geliebter, erschossen wurde, was aber nicht stimmt. Ihr Selbstmord war genau so ein Tabu zu dieser Zeit wie er ein Tabu in der DDR Gesellschaft war. Bernarda, deren erste und letzte Worte in dem Stück »Silencio« sind, versucht verzweifelt, alle zum Schweigen zu bringen und verbietet ihnen, die Wahrheit über das Ende ihrer Tochter zu sagen. Durch das ganze Drama hindurch evoziert die bedrückende und geschlossene Atmosphäre von Bernardas Haus, das acht Jahre lang nicht gelüftet wurde, die Parallele zur DDR-Gesellschaft, die ebenfalls keine westlichen Einflüsse in das Land hineinließ.30 Diese Anordnung wird von der kürzlich verwitweten Mutter gegeben, die ihre Töchter zwingt, zu Hause zu bleiben und ihre Aussteuer zu besticken trotz der Tatsache, dass noch kein Mann, der je um die Hand ihrer Töchter angehalten hat, gut genug für die Mutter war. Nur Pepe interessiert sich für Angustias, aber auch das nur aus finanziellen Gründen, während er mit der viel jüngeren und attraktiveren Adela schläft. So wie die tyrannische Mutter in Lorcas Stück das Glück ihrer fünf Töchter verbaut, indem sie ihnen Beziehungen zu Männern, die ihnen gefallen, verbietet, so hinderte das repressive sozialistische Regime seine Bürger daran, Freundschaften mit Leuten zu schließen, die ideologisch suspekt und deswegen Außenseiter waren. Robin Ostow, die zwölf Juden aus Ostdeutschland vor dem Mauerfall interviewte, schreibt darüber, wie ausgeschlossen sich diese vom jüdischen Leben außerhalb der DDR fühlten: »This isolation impoverishes Jewish life, but it is not a particularly Jewish phenomenon. The entire population of the GDR is culturally isolated from Western Europe and North America, and this applies to most aspects of life«.31 Diese Bemerkung zeigt, 29
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Siehe zu einer umfassenderen Diskussion über die Sprengkraft dieses Stückes in der DDR Gabriele Eckart: Barbara Honigmanns Briefroman Alles, alles Liebe!: ein Beitrag zur García Lorca-Rezeption in der DDR. In: Glossen: Eine internationale zweisprachige Publikation zu Literatur, Film und Kunst in den deutschsprachigen Ländern nach 1945. 14 (2001), Online: http://www.dickinson.edu/glossen/heft14/ geckart.html, 7. Februar 2005. Corbin schreibt: »There are repeated references to walls and roof, to closing and limiting access through doors and windows. Bernarda is all for closure. She hopes the villagers will stay away, sets Poncia on beggers, keeps her daughters indoors in mourning, and imprisons her crazy mother. Seeing and being seen violate the ›casa‹ boundaries and need control.« John Corbin: Lorca’s »Casa«. In: Modern Language Review 95 (2000), S. 712–727, hier S. 720f. Robin Ostow: Jews in Contemporary East Germany. The Children of Moses in the Land of Marx. New York: St. Martin’s Press 1989, S. 142.
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VI ›Alles, alles Liebe!‹
dass Entfremdung nicht allein ein Phänomen war, das besonders die Juden spürten, sondern alle Bürger, vor allem aber auch progressive Künstler wie Christa Wolf und Ulrich Plenzdorf. Als Wolf über den Tod von Christa T. in ihrem Roman Nachdenken über Christa T. (1968) schrieb,32 und Ulrich Plenzdorf offen ließ, ob sein Protagonist in Die neuen Leiden des jungen W. (1972) Selbstmord beging oder als Folge eines Unfalls starb, brachen beide Schriftsteller (auch Uwe Johnson und Erwin Strittmatter) ein Tabu des Sozialistischen Realismus, das sich gegen den Tod als Thema in der Literatur wehrte. Christa T. und Edgar Wiebeau sind beide Außenseiter und benehmen sich auf unkonventionelle Art in einer Gesellschaft, in der es absolut notwendig war, konform zu sein. Christa passt nicht in die sozialistische Gesellschaft, weil sie zu sensibel dafür ist, und Edgar leidet unter der Starre und dem Mangel an Freiheit in der abgeschotteten DDR. »Der Tod als die Grundsituation menschlicher Ohnmacht, als Antagonismus schlechthin, musste von einer realsozialistischen Gesellschaft verdrängt werden, die alle antagonistischen Widersprüche für überlebt auf ihrem Territorium erklärte«.33 Honigmann reiht sich in diese literarische Tradition ein mit ihren Schilderungen von gescheiterten und erfolgreichen Selbstmordversuchen. Ihre zahlreichen Anspielungen auf den unglücklichen Heinrich von Kleist, der endlich in Henriette Vogel eine Partnerin für den Selbstmordpakt fand, deuten auf die Wiederentdeckung der Romantik durch DDR Autoren. Laut Gail Finney bestanden ostdeutsche Kritiker darauf, dass die Wurzeln des Faschismus in der Romantik lagen, aber in den frühen siebziger Jahren experimentierten Autoren wie Irmtraud Morgner, Sarah Kirsch, Günter de Bruyn und Stephan Hermlin »with the fantastic, the grotesque, the absurd and elements of dream and fairy tales«.34 Christa Wolfs Kein Ort, Nirgends (1979), das ein imaginäres Treffen zwischen den zwei Selbstmordkandidaten Karoline von Günderode und Kleist inszeniert, ist nur ein Werk von vielen, das sich auf diese Zeitperiode bezieht. Wie Sara Lennox schreibt, verstanden die DDR-Autoren diese Rückbesinnung auf die Romantik als eine »polemical opposition to an economistic and deterministic conception of Marxism which overemphasized technological progress and material wellbeing to the detriment of the human subject’s self-realization and fulfillment«.35 Themen, die beiden literarischen Epochen gemein sind, sind die Entfremdung des Künstlers von der Gesellschaft, die Zensur, politische und soziale Unterdrückung, und der Verlust der Autonomie, besonders der Redefreiheit.
32 33 34 35
Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Darmstadt: Luchterhand 1971. Emmerich, VIII. Parteitag, Biermann-Ausbürgerung und die Folgen (wie Anm. 25), S. 247. Gail Finney: Christa Wolf. New York: Twayne Publishers 1999 (Twayne World Authors Series; 877), S. 66. Sara Lennox: Christa Wolf and the Women Romantics. In: Studies in GDR Culture and Society II. Ed. by Margy Gerber. Washington: University Press of America 1982, S. 31–43, hier S. 32.
7 Das Genre des Briefromans
7
155
Das Genre des Briefromans
Es gibt mehrere Erklärungen für Honigmanns Wahl des Briefromans, einem Genre, das seinen Höhepunkt während der Romantik erreichte. Der Brief ist eine sehr persönliche Form der Kommunikation, die es dem Leser erlaubt, die Gedanken der Charaktere zu lesen. Die ersten Romane der Aufklärung wurden von berühmten englischen und französischen Briefromanen wie Samuel Richardsons Pamela; or, Virtue Rewarded (1740–42) und Rousseaus Julie; Ou, La Nouvelle Héloise (1761) beeinflusst.36 Einen intimen Einblick in die Gedanken eines Charakters zu gewähren ist wichtig in der Schilderung einer Gesellschaft wie der DDR, wo Verschwiegenheit an der Tagesordnung war und die Wahrheit oft nur hinter verschlossenen Türen gesagt oder geschrieben werden konnte; sogar da war die Gefahr des Lauschens oder Abhörens durch Wanzen und das Abfangen der Post durch die Stasi eine alltägliche Begebenheit. In Alles, alles Liebe! ist ein Leitmotiv das Erfinden sicherer Methoden für den Transport der Briefe mit subversivem Inhalt, die nicht von Spionen abgefangen werden durften. Der Roman ist ein komplexes Konstrukt von Briefen, die nicht nur von einem Korrespondenten an einen anderen geschickt werden (wie es beispielsweise in Goethes Die Leiden des jungen Werthers der Fall ist), sondern einer Vielfalt von Stimmen Ausdruck verleiht. Die Herausforderung an die Autorin ist nun, den Standpunkt, die idiosynkratischen Ausdrucksweisen, die individuellen Träume und Aspirationen der verschiedenen Briefeschreiber so herauszuschälen, dass jede Persönlichkeit einzigartig heraustritt. Honigmann war sich eines anderen Problems sehr wohl bewusst: der Lesende darf bei so vielen Korrespondenten nicht verwirrt werden und sollte keine Schwierigkeiten haben, dem Chor der Stimmen zu folgen. In einem Interview mit Lüpkes bewundert sie einen Briefroman Natalia Ginzburgs, wo ein halbes Dutzend Leute miteinander korrespondieren; obwohl ihr dieses Werk am Herzen liegt, warnte es sie doch auch vor den Fallen des Genres.37 Honigmann betrachtet Les Liaisons Dangereuses von Laclos als »chef d’œuvre« und strukturierte ihren Roman nach diesem epistolären Vorgänger.38 Während Honigmann sich auf diese Werke von anderen europäischen Literaturen als Modell bezieht, ist es ebenso wichtig zu bemerken, wie sehr ihr Roman auch die Verbindung dieses Genres zur deutschen Romantik zitiert. Die Briefkultur erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1790 und 1850 in dem Briefwechsel von Autorinnen wie Karoline Schlegel-Schelling, Bettine von Arnim, Karoline von Günderode, Dorothea Mendelssohn Veit und Rahel 36 37 38
Samuel Richardson: Pamela; or, Virtue Rewarded. New York: Norton 1958. JeanJacques Rousseau: Julie; Ou, La Nouvelle Héloise. Paris: Garnier frères 1960. Es ist nicht ganz klar, ob sie von Caro Michele oder La Città e la casa spricht. Lüpkes, Rezension von »Alles, alles Liebe!« (wie Anm. 4). Choderlos de Laclos: Les liaisons dangereuses. Paris: Garnier frères 1959.
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VI ›Alles, alles Liebe!‹
Varnhagen von Ense mit ihren Freunden und den Intellektuellen der Zeit.39 Honigmann identifiziert sich vielleicht auch mit diesen Frauen, weil sie Grenzgängerinnen ihrer Zeit waren, die Konversationen über Klassenunterschiede, Geschlechterschranken und religiöse Differenzen hinweg anstrebten.40 Das Leben in der »Einsiedelei« während des vorbeigegangenen Sommers, von dem die Korrespondenten in Alles, alles Liebe! schreiben, wird als experimentelles, utopisches, kommunales Zusammenleben geschildert, wo kreative Energien freigesetzt wurden in einer Atmosphäre von gegenseitiger Unterstützung unter den Künstlern.41 Gemeinsam mit der Aufführung von Lorcas Stück bildet dies einen Kontrapunkt zu den rigiden, geregelten Ansprüchen, sozialistische Kunst zu produzieren. In ihrem autobiographischen Essay »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« beschreibt Honigmann ihre Erfahrungen im Berlin der siebziger Jahre und die Rolle, die sie unter ihren Freunden spielte. Sie nannten sie zum Spaß »die Gertrude Stein vom Prenzlauer Berg«, womit sie meinten, dass sie – wie die jüdische Salonière Rahel – eine Art Salon hielt und eine Vermittlerin war, immer bereit, ihre Werke zu fördern und zu kommentieren, kurz gesagt, als ihre Muse zu fungieren (DDD 53f.). Mit ihrem ersten Prosawerk Roman von einem Kinde löste sich Honigmann von dieser Rolle und wurde selber eine Autorin. Wenn wir Alles, alles Liebe! als autobiographisch orientierten Roman lesen, stellt er ein Verarbeiten dieser Periode in Honigmanns Entwicklung als Schriftstellerin dar zusätzlich zu einem einzigartigen Porträt einer bestimmten Generation von jüdischen Künstlern, die im Jahre 1975 Mitte zwanzig waren, und die Gesellschaft, in der sie lebten, mit kritischen Augen betrachteten. Interessanterweise distanzierten sich die Salonières von den patriarchalen Familientraditionen und konvertierten oft zum Protestantismus oder Katholizismus, während die jungen Juden in der DDR-Gesellschaft auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln waren und die jüdische Kultur wieder beleben wollten, indem sie gegen das Verweigern der Elterngeneration protestierten, der Religion irgendeine Bedeutung beizumessen. In ihrem Briefroman enthüllt Barbara Honigmann die Schwierigkeiten und Frustrationen des Alltags in der DDR, insbesondere das öde Leben in der Provinz, deren Einwohner mehr zu Vorurteilen und Engstirnigkeit neigen.42 Der 39 40 41
42
Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1991 (Sammlung Metzler; 260), S. 44–59. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Übers. v. Gabriele NeumannKloth. Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft 2002, S. 17. Der Begriff »Einsiedelei« erinnert die Leser an die Zeitung für Einsiedler, die Achim von Arnim 1808 in Heidelberg publiziert hat. Mit Beiträgen von Brentano, Görres und Jacob Grimm war sie Sprachrohr für die frühe Heidelberger Romantik, so wie Athenäum als Forum für den frühen Jenaer Kreis diente. Um diese Langeweile zu illustrieren, lässt Honigmann Walter, einen guten Freund von Annas Mutter, Heinrich von Kleists Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge vom 20. August 1800 zitieren, während er durch die Provinz reiste: »Von
7 Das Genre des Briefromans
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konstante Eingriff der Politik in das Privatleben, die Rebellion eines kleinen Freundeskreises gegen das Regime durch ihre Kunst und die Marginalisierung dieser Künstler sowohl durch normale Bürger als auch durch Leute in Machtpositionen sind Hauptthemen dieses Romans. Während das Unzugehörigkeitsgefühl ein Thema von jüdischen und nichtjüdischen Schriftstellern ist, betont Honigmann die Besonderheit des Außenseitertums der jüdischen Minderheit in ihrem Roman. Ihre Wahl des komplexen Briefromans als Genre mit seiner Vielfalt von Korrespondenten evoziert die Romantik mit ihrem Freundschaftskult und ihren utopischen Konzepten einer besseren Gesellschaft. Es war auch eine Periode, in der Jüdinnen im intellektuellen Leben der Zeit als prominente Katalysatoren fungierten, künstlerische Energien freizusetzen.
meiner Reise läßt sich diesmal nichts sagen. Ich bin durch Oranienburg, Templin, Prenzlau gekommen, ohne daß sich von dieser Gegend etwas Interessantes sagen ließe, als dieses, daß sie ohne alles Interesse ist [...]« (AL 162). Honigmann verrät aber die Quelle nicht, die sich hier findet: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. München, Wien: Carl Hanser 1964, Bd 2, S. 523.
VII Ein Kapitel aus meinem Leben
Barbara Honigmanns gesamtes Werk ist gekennzeichnet durch eine subjektive Poetologie des Erinnerns, durch das ständige Umkreisen ihrer eigenen Biographie und der ihrer Eltern und Vorfahren. Nach dem Vaterbuch Eine Liebe aus nichts legte Honigmann im Sommer 2004 ihr Mutterbuch vor.1 Ein Kapitel aus meinem Leben schreibt die Geschichte von Alice Kohlmann fort, über die man schon einiges in den Beiträgen »Gräber in London« und »Der Untergang von Wien« aus dem Band Damals, dann und danach erfahren hatte. Dort ging es um die Suche nach den Gräbern der Großeltern, und um die letzte Zeit der Mutter in Wien, wo sie nach langen Jahren der Wanderung ihr Leben beschloss. In Alles, alles Liebe! korrespondiert eine Mutterfigur, die starke Ähnlichkeiten mit Alice Honigmann aufweist, mit der Erzählerin. Diese kurzen Porträts gewinnen jetzt an Tiefenschärfe mit diesem biographischen Roman, dessen Titel verspricht, ein Kapitel aus dem Leben der Mutter zu erhellen. Es handelt sich um Lizzy Friedmanns zweite Ehe mit dem berühmten Doppelagenten Kim Philby, der für den KGB spionierte, während er gleichzeitig für den British Intelligence Service arbeitete. Philby versorgte den KGB mit entscheidenden Militärgeheimnissen des Westens und trug so zur atomaren Aufrüstung der Sowjetunion bei. Obwohl es hier alle Zutaten eines Politthrillers gäbe, ist Honigmann wie immer in ihren Texten auf der Suche nach Alltagsgeschichten, hinter denen sich die Geschichte mit einem großen »G« verbirgt. Während auf den Buchdeckeln bisher fast immer – mit Ausnahme von Soharas Reise – eigene Gemälde der Künstlerin zu sehen waren, schmückt eine Nahphotographie von Alice Kohlmann das Cover dieses Werkes. Ulrike Frenkel meint, das Buch sei »vielleicht ein Akt der Befreiung von der übermächtigen Präsenz der dunklen Schönheit auf dem Umschlag«.2 Diese Vermutung stimmt nur zum Teil, denn die eigentliche Absicht der Autorin war, wie sie dem 1
2
Allerdings war Honigmanns Absicht eine andere, wie sie Christiane Baumann mitteilt: »Ich würde es nicht als Mutter-Tochter-Buch bezeichnen, und ich habe es nicht in der Intention geschrieben. Das ist wirklich eine Zeichnung dieser Frau, dieser Gruppe, dieses Mikrokosmos’ jüdischer Remigranten in der DDR.« Christiane Baumann: Barbara Honigmann: »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Stilbruch, 2. Dezember 2004. Ulrike Frenkel: Alles über ihre Mutter. Barbara Honigmann schreibt ihre Familiengeschichte fort. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Stuttgarter Zeitung, 10. September 2004.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
Guardian mitteilte, ein literarisches Porträt ihrer Mutter zu entwerfen und deren Version dieses »Kapitels aus ihrem Leben« aufzuschreiben, bei dem der Meisterspion im Hintergrund bleibt.3 Im folgenden werden zunächst in chronologischer Reihenfolge die zahlreichen Etappen des chaotischen, zersplitterten, geheimnisumhüllten Lebens der Alice Kollmann-Friedmann-Philby-Honigmann nachgezeichnet, bevor die Widersprüche der kulturellen Nomenklatura unter die Lupe genommen werden. Die Lebensgeschichte von Lizzy Honigmann ist exemplarisch für die Parteielite der sozialistischen Länder, deren Repräsentanten oft aus streng gläubigen jüdischen bürgerlichen Elternhäusern kamen, sich dem Kommunismus in ihrer Jugend verschrieben und sich dadurch von der Generation ihrer Eltern distanzierten. Die Repressalien, denen sich die jüdische Kulturelite nach dem Krieg in der DDR unterwarf, die Zugeständnisse, die ihnen von den Autoritäten abverlangt wurden, das Außenseitertum und das Gefühl der Entfremdung sind nur einige Faktoren, die am Beispiel der Mutter aufgezeigt werden. Sie vertritt hier eine bestimmte Art von mitteleuropäischer kommunistischer Jüdin, der Honigmann in diesem Werk ein Denkmal setzt. Anschließend wird anhand der Theorien von Marianne Hirsch und James Young eine Poetologie der Erinnerung herausgearbeitet, die es den Nachgeborenen von traumatischen Ereignissen ermöglicht, sich trotz lückenhafter und schmerzlicher Erinnerungen ihrer Eltern deren Lebensgeschichte anzunähern. Im Zusammenhang mit dem Themenkomplex »Erinnerung« wird der Frage nachgegangen, was die Funktion von Erbstücken und Memorabilien in Honigmanns Œuvre ist. Während Photos, Briefe und schriftliche Dokumente sehr wohl Erinnerungen auslösen, fällt in ihrem Werk die Vergeblichkeit von örtlicher Spurensuche auf. Das Besuchen oder Aufsuchen von Orten, an denen die Eltern einmal gelebt haben, deren Bedeutung sich aber den Erben der Erinnerung entzieht, wenn die Eltern stumm bleiben und nichts über die persönliche Beziehung zum Ort aussagen wollen, endet ausnahmslos in Frustration.
1
Die Lebensstationen der Mutter
Alice Kollmann (oder Kohlmann)4 war eine Lebenskünstlerin, die sich im Laufe ihres 81-jährigen Lebens immer wieder neu erfand. Sie wurde am 2. Mai 1910 in Wien als Tochter von Israel und Gisella Kollmann, gläubigen österreichisch-ungarischen Juden, geboren und wächst auf dem Gut der Großeltern in 3 4
Luke Harding: The Woman Who Kept Spy Secrets of »Third Man«. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Guardian Unlimited, 7. November 2004. Es gibt verschiedene Schreibweisen ihres Namens, die jeweils mit verschiedenen Lebensphasen und Freundeskreisen verbunden werden und die schillernde, ewig changierende Persönlichkeit der Mutter symbolisieren: Litzy, Lizy Lizzy, Lisa, Lisaweta und Jelisaweta (KL 43).
1 Die Lebensstationen der Mutter
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Kerkaszentmiklós in Südwestungarn auf, bis sie eingeschult wird. Danach verbringt sie weiterhin jedes Jahr die Sommermonate auf dem Gut, das aus Herrschaftshaus, Gesindetrakt, Stallungen und einem großen Getränkekeller besteht und wo sie mit den Dorfkindern, ihren Cousins und Kusinen spielt (KL 28f.). Als Jugendliche durchläuft sie eine kurze zionistische Phase, in der sie ihren ersten Mann im Jugendverband von Blau-Weiß trifft, der sich aber schon bald ohne sie nach Palästina absetzt. 1933 wird Lizzy Friedmann Mitglied der kommunistischen Partei, die Sitzungen in ihrer Wohnung abhält, was ihr Hausdurchsuchungen und ein paar Wochen Gefängnis einbringen. Kim Philby, der gerade sein Studium in Cambridge abgeschlossen hatte, und nach Wien geschickt wurde, um den Schutzbündlern Geld zu bringen, quartiert sich bei ihr ein, wo sie sich schon bald ineinander verlieben. Nach dem misslungenen Arbeiteraufstand im Februar 1934 flieht das frischgebackene Ehepaar nach London. Während des spanischen Bürgerkrieges erfüllt Philby Parteiaufträge in Spanien, während Mrs. Philby in Paris von dem Gehalt ihres Ehemannes bei der Times in Saus und Braus lebt. Drei glückliche Jahre, von 1936 bis 1939, verbringt die Mutter in einer feudalen Wohnung am Quai d’ Orsay in der französischen Hauptstadt, wo sie ausschweifende Feste feiert, und eigene Wege von denen Philbys in Sachen Liebe geht. Sie verliebt sich in einen holländischen Bildhauer namens Pieter, mit dem sie glücklich in Paris zusammenlebt, bevor die Wohnung nach dem Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich als Sammelpunkt für aus Wien kommende Flüchtlinge dient und die Beziehung darunter leidet (KL 91). Nach Kriegsbeginn kehrt der Künstler nach Holland zurück. Lizzy wird Pieter nie wieder sehen, korrespondiert dafür aber zeit ihres Lebens mit ihm und pflanzt seine per Post geschickten Tulpenzwiebeln jeden Herbst in die Karlhorster Erde als Andenken an ihn ein. Mit Philby trifft sie sich während der Pariser Zeit regelmäßig nahe der spanischen Grenze, um dessen Informationen an Verbindungsoffiziere in Paris weiterzuleiten. Es wird sogar behauptet, sie habe das Wort »Atomenergie« weitergegeben (KL 26). Am Kriegsanfang siedelt das Ehepaar nach England um, wo Philby vom sowjetischen Geheimdienst als einer der »Cambridge Apostles« zusammen mit Donald Maclean und Guy Burgess angeheuert wird. Um sich zu tarnen, wird von dem Ehepaar verlangt, sich in pro-deutschen Vereinen aufzuhalten, während es weiter für den KGB spioniert (KL 64). In England kommt es schließlich zur Trennung und zum Bruch der Ehe mit Philby, weil Lizzy »mit ihrer kommunistischen Vergangenheit auf Dauer einfach nicht in das Bild dieses Umschwungs passte« (KL 64). Lizzy erlangt daraufhin das Werkzeugmeisterdiplom und arbeitet in einem Rüstungsbetrieb (DDD 12). In diesem Land lernt sie ihren dritten Ehemann, Georg Honigmann, kennen und heiratet ihn im Jahre 1946. Beide entscheiden sich, nach dem Krieg beim Wiederaufbau in Ostdeutschland zu helfen, und ziehen nach Ostberlin. Während ihr Mann Tuchfühlung mit den Russen aufnimmt, unternimmt Lizzy ihre letzte Reise nach Paris und fährt dann über Prag und Dresden, wo sie von
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
einem russischen Oberkommandanten logiert wird – Zeichen der hohen Stellung, die sie bei den Russen innehatte – nach Berlin. 1949 wird dort die Tochter Barbara geboren. Bald nach ihrer Geburt lassen sich die Eltern scheiden und das Kind wächst bei der Mutter und ihrem Liebhaber Wito – die Tochter nennt ihn Onkel Wito – in der schönsten Etage einer Karlshorster Villa samt integrierten Zugehfrauen auf, wo die beiden alle Privilegien der kulturellen Nomenklatura genießen. Die Mutter wird jedoch nie heimisch in Berlin und lebt dort wie in fortdauernder Emigration. Nachdem Lizzy Wito nach ein paar Jahren wegen seiner Untreue den Laufpass gibt, leben Mutter und Tochter alleine zusammen. Nach dem Krieg arbeiten die Honigmanns zunächst beide im Sowjetischen Nachrichtenbüro, Georg als Chefredakteur und seine Frau als Zensorin (KL 119). Bei der neugegründeten staatlichen Filmproduktionsgesellschaft DEFA wird Lizzy später Pressechefin und lässt sich zur Synchronregisseurin ausbilden. Die Mutter genießt diese Arbeit durch »die imaginäre Verbindung« zu der englischen und französischen Kultur, die sie bewundert, sehr und verpflichtet die Tochter »auf alle Kinderrollen zwischen 2 und 14 Jahren« (KL 126). 1984, im Jahr der Ausreise von Barbara Honigmann aus der DDR, verlässt auch die Mutter das Land und zieht für die letzten sieben Jahre ihres Lebens in den 4. Bezirk nach Wien, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1991 wohnt. Sie verkehrt auch dort, wie in Berlin, nur in Emigrantenkreisen; ihre Wohnung und ihr Lebensunterhalt werden zum größten Teil von diesen Freunden finanziert, da die finanzielle Unterstützung des Staates nicht ausreicht (KL 132). Sie genießt das kulturelle Leben in der österreichischen Hauptstadt und arbeitet einmal in der Woche zusammen mit ihrer Freundin Lotti einen Vormittag im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (KL 134f.). 1991 zieht die Mutter in ein Seniorenheim in die Ziegelofengasse, wo sie in der Nacht vom 18. zum 19. Mai im Alter von 81 Jahren stirbt (KL 47). Sie liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Wien begraben; auf dem Stein steht »Lizzy Honigmann, 1910–1991, und die übliche hebräische Formel« (DDD 118).
2
Parteielite, Kulturhierarchie, Privilegien
Honigmann charakterisiert in diesem Werk auf einzigartige Weise das Leben der kommunistischen Parteielite, die Widersprüche, in die sie verstrickt war und das Verhältnis der Söhne und Töchter zu den Eltern, die hohe Positionen im Staat innehatten. Dieser Kreis, der sich aus zumeist jüdischen Emigranten zusammensetzte, blieb unter sich und sprach oft Englisch untereinander, um »sich der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts zu versichern und gegen die Ablehnung derer zu schützen, die sie als fremd und als privilegierte Parteielite ansahen« (KL 7). Ein anderer Grund war sicher der, dass die deutsche Sprache sich verändert hatte und mit Nazi-Ausdrücken durchsetzt schien,
2 Parteielite, Kulturhierarchie, Privilegien
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wie es der 1948 aus dem amerikanischen Exil zurückkehrende Hermann Budzislawski schilderte: Unbewusst waren wir häufig versucht, miteinander englisch zu sprechen, gleichsam in Abwehr gegen das von allen Seiten auf uns dringende Deutsch. Doch wäre es weniger fremd erschienen, hätte es berlinisch geklungen. Der Mischmasch der deutschen Dialekte, und die gereizte Art, in der sich viele das ohnehin schwere Leben noch häßlicher machten, erleichterte es uns nicht, uns als Glied des Volkes zu fühlen, in das wir zurückkehrten.5
Durch das Englische – Symbol für das westliche Ausland –, ihren Kosmopolitismus und ihr Judentum grenzten sich die Remigranten ab und machten sich den nichtjüdischen Autoritäten und den ›normalen‹ Bürgern verdächtig. Sie waren als Juden fremd geworden und waren mehr oder weniger privilegiert, weil sie zur Parteielite gehörten oder wenigstens eine höhere Stufe in der Kulturhierarchie einnahmen. Ihre Privilegien, ihr Kosmopolitismus und ihr Status als überlebende Juden und als Kommunisten waren ihre Stigmata. (KL 7)
Jeffrey Herf hat nachgewiesen, welch negative Konnotationen der Begriff »Kosmopolitismus« in den Ostblockländern hatte. Ernst Hoffmann schrieb 1949 in der Zeitschrift Einheit eine vierteilige Serie von Artikeln, in der er zwischen proletarischem Internationalismus, den er guthieß und bürgerlichem Kosmopolitismus, der schlecht war, unterschied. Kosmopoliten würden eine Bedrohung für das proletarische Bewusstsein darstellen, wären völlig gleichgültig ihrem Land gegenüber und wären darauf aus, die Arbeiter aller Völker zu töten oder sie in abstrakte schematische Objekte der Ausbeutung umzuwandeln: Although Hoffmann did not specifically refer to the Jews, his readers, politically experienced and educated Communist intellectuals knew that this description was a rather complete catalogue of traditional anti-Semitic stereotypes. [...] For German Communist eyes and ears in 1949, there was no doubt that these cosmopolitans were Jews, and that it was West German politicians such as Konrad Adenauer and Kurt Schumacher who had »betrayed« and »split« the nation by opposing the Communists.6
Stalin unternahm in den ersten Jahren des Kalten Krieges seine antikosmopolitischen Säuberungen, ohne auf Opposition und Kritik von Seiten Ostdeutschlands zu stoßen: »After all, the initiatives from Moscow struck familiar ideological chords in East Berlin, and constituted a powerful weapon with which the exiles returning from Moscow could destroy potential rivals returning from the West«.7 Über Georg Honigmann wurde beispielsweise sofort eine StasiAkte angelegt, in der an ihm und seiner Frau die »auffällig westliche Kleidung«, ihre »Arroganz« und ihr »renommiertes Auftreten« bemängelt wurden. 5 6 7
Zitiert nach Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR (wie Kapitel III, Anm. 29), S. 94. Herf, Divided Memory (wie Kapitel III, Anm. 27), S. 112. Ebd., S. 112.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
In einer weiteren Passage, die Honigmann aus den Spitzelberichten zitiert, wird klar, dass Georg Honigmanns Dienst bei Reuters ihn der Mitarbeit beim amerikanischen Geheimdienst verdächtig machte. Die IMs vermuten, dass er dort eine Agentenrolle gespielt und immer noch Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst hätte (KL 118). Hartewig betont die unterschiedlichen »Erlebnisgemeinschaften« der Westemigranten und der russischen Emigranten: Allein die Zugehörigkeit zur Moskauer Emigrantengruppe diente als Merkmal der Distinktion und öffnete den Zugang zum inneren Kreis der Macht. Schon die sprachliche Unterscheidung zwischen »Politemigranten« (»PE«) für die deutschen Kommunisten in der Sowjetunion und »Westemigranten« für alle anderen zeigt die starken Vorbehalte der Führungsriege gegen die vermeintlich Unpolitischen.8
Der enge Freundeskreis um die Mutter, den Honigmann mit Ironie den »antifaschistischen Adel« nennt, bestand aus Juden, Kommunisten, ehemaligen Flüchtlingen, Widerstandskämpfern, Partisanen und KZ-Überlebenden. Die Mutter hatte mehrere solche Zirkel, einen in Berlin, einen in Wien und einen in Ungarn. Die Gemeinsamkeiten bestanden darin, dass diese Freunde ausschließlich aus gutbürgerlichen Elternhäusern stammten und sich von diesem Milieu und auch der Religion der Eltern in ihrer Jugend losgesagt hatten.9 Hartewig beschreibt die starken gemeinsamen Erfahrungen der Politisierung jüdischer Kommunisten: In ihrer Jugend hatten sie mit ihrer Entscheidung, »unversöhnlicher Kommunist« zu werden, die Chance ergriffen, der eigenen Biographie, dem »Familienroman«, den groß- und kleinbürgerlichen Verhältnissen und eben auch der jüdischen Herkunft zu entkommen. Sie hatten sich von ihrer Klasse entfernt, indem sie einen ideologischen Bruch mit ihrer Familie inszenierten, der oftmals zur dauernden Trennung führte. Und sie hatten dabei zugleich fast immer die Rudimente religiöser Traditionen abgelegt.10
Das Herkommen aus dem bürgerlichen Milieu konnte dieser Freundeskreis jedoch nie ganz verleugnen. So lässt sich Lizzy Honigmann jeden Monat die Vogue11 und House and Garden aus London zuschicken, »um im ästhetischen Muff der DDR nicht zu ersticken«, fährt alljährlich nach Wien, »um sich im 8 9
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Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR (wie Kapitel III, Anm. 29), S. 101. Der Vater der Mutter, Israel Kollmann, war in Wien bei der Kultusgemeinde Beamter gewesen, Zeichen seiner Verbundenheit mit der jüdischen Religion, bevor er im März 1939, ein Jahr nach dem »Anschluss« nach London fliehen musste und dort wenige Wochen später, im Mai 1939, starb (DDD 104, 20). Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR (wie Kapitel III, Anm. 29), S. 104. In ihrer Glosse »En Vogue« schreibt Honigmann über die Gründe, aus denen die Mutter Vogue abonnierte und zwar nicht nur, weil sie sich über die neueste Mode informieren wollte, sondern weil es, wie die Tochter es viele Jahre später interpretiert, ein »Akt der Opposition oder wenigstens des Nonkonformismus« war (SRF 13).
2 Parteielite, Kulturhierarchie, Privilegien
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bürgerlichen Milieu ihrer Jugend zu baden«, und schickt die elfjährige Tochter zu Freunden in das geliebte (und verratene) England.12 Sie schufen nun mit ihrer im sozialistischen Staat fest etablierten Stellung ein ganz neues Genre bürgerlicher Existenz, etabliert, protegiert, ja privilegiert und doch gebrochen durch die vielfältigen Entwurzelungen, Ausgrenzungen und Verfolgungen als Juden und Kommunisten und abgelöst von den alten Bindungen ihrer Familien, von deren bildungsbürgerlichem Hintergrund sie doch immer geprägt blieben. (KL 35)
Nach einer Phase der Rebellion kehrten diese verkappten Bürger, deren Lebensart sich durch klassische Bildung, korrekte Umgangsformen und Stilsicherheit auszeichnete, im Alter wieder zu ihren Ursprüngen zurück: »Inzwischen war sehr viel geschehen, aber die Lebensart auch dieser ehemaligen Kommunisten ähnelte nun verblüffend der ihrer Eltern, von denen sie sich einstmals mit soviel Schwung losgesagt hatten« (KL 51). So schrieb sich Lizzy Honigmann, die im Alter in ihre Geburtsstadt Wien zurückkehrte, sogar wieder in die Israelitische Kultusgemeinde ein, aus der sie 1951 ausgetreten war, was die Tochter als eine der »zahlreichen Unterwerfungsgesten« interpretiert, die der sozialistische Staat den Genossen, die aus dem westlichen Exil zurückkamen, abverlangte. Die Tochter ist verwundert, dass sich die Mutter überhaupt nach dem Krieg in die jüdische Gemeinde in Ostberlin eingeschrieben hatte, und sie vergleicht dieses Verhalten mit dem des Vaters, dem das nie eingefallen wäre. Honigmann beschreibt in diesem Zusammenhang weitere Repressalien gegen die aus dem westlichen Exil kommenden Remigranten, deren Schicksal beispielsweise von Herf anhand von Paul Merkers Geschichte genauestens dokumentiert wird.13 Sie erwähnt namentlich Merker, Schrecker und Siegbert Kahn14, mit denen ihre Eltern verkehrten, die in Ungnade fielen und von den 12 13 14
Wittstock, Schön, souverän, eindringlich (wie Kapitel V, Anm. 36). Siehe vor allem Kapitel 5: »Purging ›Cosmopolitanism‹: The Jewish Question in East Germany, 1949–1956.« Herf, Divided Memory (wie Kapitel III, Anm. 27). Siegbert Kahn war ein Wirtschaftswissenschaftler, der aus dem britischen Exil zurückgekehrt war. Seine Schrift Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland (Berlin, 1948) verwies auf die soziale Funktion von Rassismus und Antisemitismus. Außerdem verlangte er Restitution von erraubtem jüdischem Eigentum als kollektive Pflicht der Deutschen und kritisierte das Verhalten der Sozialdemokraten hinsichtlich des Antisemitismus: »Anstatt unverzüglich einen energischen Kampf gegen ihn aufzunehmen, betrachtete die Sozialdemokratie den Antisemitismus nur als einen ›Froschmäusekrieg‹ zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie und bezog ihre Stellung über den Parteien […]. Das Verhalten in der deutschen Sozialdemokratie in der Frage des Antisemitismus war also nicht dazu angetan, ein wahrhaft politisches Bewusstsein in der deutschen Arbeiterschaft herzustellen.« Kahn, zitiert nach Mario Keßler: Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967. Berlin: Akademie Verlag 1995 (Zeithistorische Studien; 6), S. 36. Siehe mehr über Kahn in Keßlers zweitem Kapitel »Schuld und Verantwortung. KPD, SED und die Juden in der Sowjetischen Besatzungszone 1945–1949« desselben Buches.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
Behörden bestraft wurden. Die Eltern sprachen von ihnen in einem Ton, der der Tochter verriet, wie unglücklich ihr Schicksal gewesen sein musste. Sie selber entkamen einer ähnlichen Behandlung, die aus Manipulationen, Herabwürdigungen, dauernden Verdächtigungen wegen ihrer jüdischen Herkunft und des westlichen Exils, ununterbrochenen Kontrollverfahren und Säuberungen bestand, nur durch »alle nur möglichen Anpassungsmanöver« (KL 124).15 Die Eltern interpretierten diese Aktionen der Partei als »irdische Prüfungen für eine kommende Erlösung«; mit diesem religiösen Vokabular macht Honigmann klar, wie ein Glaube den anderen ersetzte und der Kommunismus nun den ›alten‹ Glauben an ein transzendentes Wesen ablöste (KL 124). Die Eltern sahen sich als heroische Kämpfer für eine gute Sache und nahmen bereitwillig alle Mühen auf sich in der Hoffnung, eines Tages dafür belohnt zu werden. Bei dieser ›Religion‹ gab es natürlich auch Opfer wie Ethel und Julius Rosenberg, die sich »zwei Plätze als Märtyrer in der kommunistischen Heilsgeschichte« sicherten, während zur gleichen Zeit verdächtige Parteigenossen wie Slánský in Prag hingerichtet wurden (KL 124).16 Honigmann stellt auch die klare Differenzierung von Seiten der Partei zwischen »Verfolgten des Naziregimes« und »Kämpfern gegen das Naziregime« heraus und die Blindheit der Eltern gegenüber solchen diskriminierenden und sie beleidigenden Unterschieden, die die Kämpfer über die Verfolgten stellte und diesen dementsprechend höhere Renten verlieh. Die Blindheit geht soweit, dass die Eltern weder von Auschwitz noch von den sowjetischen Lagern sprechen hören wollten, was zu Auseinandersetzungen mit der regimekritischeren Tochter führte. Barbara Honigmann, die über den deutsch-russischen Regisseur Meyerhold in Moskau forschen wollte, aber nur auf geschlossene Türen in Bezug auf dieses Forschungsprojekt stieß, hielt sich dort in Dissidentenkreisen 15
16
Herf schreibt: »There were Jews in leading roles in the SED regime. Yet, as Alexander Abusch insisted in his 1950s exchanges with the Control Commission, out of conviction as well as an instinct for political survival they displayed a distinct lack of interest in the Jewish question. To have done otherwise would have meant political failure, public disgrace, imprisonment, or emigration. For Jewish Communists, terms of assimilation and reentry were as strict as, if not more strict than, in preHitler Germany. The purge of cosmopolitanism and the suppression of the Jewish question was one of the first consequences of the consolidation of the East German dictatorship.« Herf, Divided Memory (wie Kapitel III, Anm. 27), S.158. Zu der Aburteilung Slánskýs schreibt Thomas Fox: »The general situation of East bloc Jews worsened perceptibly in late 1951. In September Rudolf Slánský, a man of Jewish descent, lost his position as Secretary General of the Czech Communist Party, and a month later he was imprisoned. In November 1952 the state charged Slánský and thirteen other former Party officials with crimes including Zionism; in a show trial the prosecution as well as the East bloc press emphasized the Jewishness of eleven defendants. In December 1952 the Czech government hanged eleven of the accused, including Slánský, while three received life sentences.« Thomas C. Fox: Stated Memory. East Germany and the Holocaust. Rochester, New York: Camden House 1999 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 82.
2 Parteielite, Kulturhierarchie, Privilegien
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auf. Sie wird Zeugin einer Reihe von Schicksalen, die ihr die Härte der Bestrafung von vermeintlichen Gegnern des Regimes vor Augen führen. Anhand der Reaktionen der Eltern auf diese Erzählungen wird ihr das Ausmaß von deren Verblendung bewusst. Schon in Eine Liebe aus nichts hörte man vom Schicksal des russischjüdischen Vorgesetzten des Vaters in den ersten Tagen seiner Remigration. Jefim Fraenkel war im Sowjetischen Nachrichtenbüro in Ostberlin tätig und hatte dem Vater eine Uhr geschenkt, die neben dem Notizbuch seine einzige Hinterlassenschaft an die Tochter war. Nach der Auflösung des Nachrichtenbüros kehrte Jefim Fraenkel nach Moskau zurück, wurde dann aber ins Lager und in die Verbannung geschickt, was Georg Honigmann allerdings erst zwanzig Jahre später erfuhr, als sie sich zum ersten Mal wiedertrafen (LN 10). In Ein Kapitel aus meinem Leben erzählt Honigmann diese Geschichte noch einmal, aber nun geht sie stärker auf die Reaktionen der Eltern und ihre eigenen auf dessen Schicksal ein. Die Tochter hatte in Moskau die Witwe Fraenkels getroffen, die ihr mitgeteilt hatte, ihr Mann sei kurz nach seiner Lagerhaft im Gulag gestorben. Sie demonstriert anhand dieser tragischen Lebensgeschichte, wie die Eltern den Kopf in den Sand steckten, wenn es um derartige schreckliche Vergehen der Sowjetunion ging: Wenn ich mich nach den Moskau-Reisen mit meinen Eltern stritt und sie immer bloß »Na, na, na« sagten, dann schleuderte ich ihnen seinen Namen und sein Schicksal entgegen, um sie an der Stelle zu treffen, von der ich annahm, daß es ihnen dort wirklich weh tat, da sie doch immer mit solcher Bewunderung und voller Freundschaft von diesem Mann gesprochen hatten. (KL 119f.)
Die Mutter der Dissidenten ist »Tante Mischka«, eine Freundin Lizzy Honigmanns, die insgesamt zwanzig Jahre lang im Gulag gelitten hat und deren Eltern und Verwandte entweder im Rigaer Wald Rumbula erschossen oder in Auschwitz umgebracht wurden (SRF 45, KL 67). Von dieser durch beide Diktaturen geschädigten Frau lernt Honigmann Russisch und bekommt durch die Leute, die in der Wohnung der Dissidentin verkehren, einen Eindruck von den Repressalien, die die Unbeliebten des Regimes und die Frühpensionierten erleiden mussten. Zum Todestag Stalins veranstaltet Mischka jedes Jahr ein Freudenfest, wo Barbara Honigmann Schura Buturlin, einen ehemaligen hohen Offizier der Roten Armee, trifft, der öffentlich gegen den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei protestiert hatte und aus der Armee entlassen worden war. Wer sich noch bei der Dissidentin einfindet, ist Alexander Nekritsch, dessen kritisches Buch 22. Juni 1941 die Niederlage von 1941 thematisiert, die dem Sieg von 1945 vorausgegangen war. Er dokumentiert darin das große Leiden, das die russische Bevölkerung durch die fahrlässige Kriegsvorbereitung Stalins erfuhr. Als Folge dieser Veröffentlichung war er aus der Partei ausgeschlossen und in der Akademie der Wissenschaften kaltgestellt worden. Der dritte Mann, den sie dort kennen lernt, ist Donald Maclean, der erste der Cambridge Apostel, der sich vom Sowjetischen Geheimdienst hatte
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
rekrutieren lassen, um danach Philby und Burgess anzuwerben. Für Honigmann, die Philby nie zu Gesicht bekam, mag die Begegnung mit diesem Ex-Spion, der engstens mit dem zweiten Mann ihrer Mutter zusammen gearbeitet hatte, eine eigenartige Verbindung zur streng gehüteten Vergangenheit Lizzy Honigmanns und zu ihren Geheimnissen dargestellt haben. Maclean hielt sich seit 1951 in der Sowjetunion auf, wo der triste Alltag im Sozialismus ihn rasch von seiner jugendlichen Begeisterung für den Kommunismus geheilt hatte (KL 72). Die Tochter erfährt auch von Oppositionellen, die in psychiatrischen Kliniken gefoltert wurden und scheut sich nicht, den Eltern dieses Wissen mitzuteilen. Sie ist entsetzt über die Verharmlosung, die sie in der Reaktion des »Na, na, na« heraushört und erkennt, dass sie nicht bereit waren, so weit wie Sascha Nekritsch zu denken, der merkte, wie die Gesellschaft »auf einem Kult der Gewalttätigkeit« beruht (KL 74). Das Resultat der Moskaureisen sind Spannungen zwischen der Tochter und den Eltern; die Tochter, die an die sozialistischen Glücksversprechen nicht mehr glauben kann, bleibt ihnen nach den Ausflügen in den Sowjetalltag eine Zeitlang fern, um es nicht zum Eklat kommen zu lassen. Wito, der langjährige Freund der Mutter, ist Nichtjude und war höchstwahrscheinlich im Nationalsozialismus ein Wehrmachtssoldat, dann Anhänger des Marxismus-Leninismus und nahm schließlich eine Funktion in der Parteileitung des Betriebes ein.17 Die gemeinsame Parteizugehörigkeit ist das verbindende Element zwischen Lizzy und Wito, der als Nichtjude allerdings keinen Zutritt zu dem Emigrantenkreis der Mutter hatte und sie und ihre Tochter nie auf den jährlichen Sommerreisen nach Budapest begleitete, was die Exklusivität des Zirkels betont. Wenn man schon Nichtjude war, musste man zumindest Partisane gewesen sein, wie Honigmann an dem Beispiel von Gyurys Frau mit Ironie herausstellt: »Seine Frau, die er nach dem Krieg geheiratet hatte, war keine Jüdin, dieser Mangel wurde dadurch ausgeglichen, daß sie Partisanin, noch dazu, wie es hieß, die jüngste aller Partisanen und von außerordentlicher Tapferkeit gewesen war« (KL 34f., Hervorhebung v. Verf.). Durch Honigmanns Wortwahl »dieser Mangel« wird die strikte Trennung in der Nachkriegszeit zwischen jüdischen Verfolgten und nichtjüdischen Verfolgern hervorgehoben, die natürlich in dieser Vereinfachung ohnehin nicht existierte; diese Gruppen blieben weiterhin unter sich und nur politische Übereinstimmung – wie die zwischen Wito und Lizzy Honigmann – vermochte den Graben kurzzeitig zu überwinden. Ansonsten betrachtete man sich mit Misstrauen 17
»Wo er eigentlich herstammte, habe ich nie erfahren, er erzählte nicht wie Lomi oder Brauni von Ostpreußen oder vom Treck, er rollte das R nicht, und er sprach auch nicht wie die Väter meiner Freundinnen von der Front in Rußland oder Dänemark, nicht mal von Bomben sprach er, und war doch sicher Wehrmachtssoldat gewesen, das konnte wohl kaum anders gewesen sein, es waren ja seine besten Mannesjahre, aber das wurde mit keinem Wort berührt, jedenfalls habe ich es nie gehört, obwohl ich natürlich nicht weiß, was sie sich beide, Onkel Wito und meine Mutter, gegenseitig erzählten oder verschwiegen« (KL 19f.).
3 Postmemory der Generation nach der Shoah
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und verkehrte in seinen eigenen Kreisen. Auf den Stolz, die Hochmütigkeit, und moralische Überlegenheit, die mit dem Opferstatus einhergehen, wird immer wieder von Honigmann in ihren Werken auf subtile Weise hingewiesen genauso wie sie auf den kontinuierlichen Antisemitismus, das Nicht-Anerkennen der Schuld und die Ausgrenzung von Randgruppen durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft aufmerksam macht, die ein »normales« Zusammenleben behindert.
3
Postmemory der Generation nach der Shoah
Barbara Honigmanns Versuch, sich der Geschichte ihrer Eltern als Vertreterin der post-Shoah-Generation von deutsch-jüdischen Schriftstellern in immer konzentrischeren Kreisen anzunähern, muss im Zusammenhang mit dem von Marianne Hirsch geprägten Begriff des »postmemory« gesehen werden, da er genau auf ihr Schreiben zutrifft. Sie definiert ihn so: In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. This is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past. Postmemory characterizes the experience of those who grew up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood nor recreated.18
Hirsch hat diesen Begriff in Bezug auf Kinder von Holocaust-Überlebenden geprägt, aber meint, er könnte auch auf Kinder von anderen kulturellen oder kollektiven traumatischen Ereignissen und Erfahrungen angewendet werden. Die Frage, ob Honigmanns Eltern als Holocaustüberlebende bezeichnet werden können, erübrigt sich somit, da es außer Frage steht, dass sie von der Shoah betroffen waren und ihr persönliches Leben wegen der Verfolgung der Juden und Kommunisten in Deutschland und Österreich in seinen Grundfesten erschüttert wurde und einen sehr anderen Verlauf genommen hätte, wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre.19 Hirsch untersucht in ihrer Forschung anhand von Familienphotographien den Effekt, den diese Überbleibsel aus einer anderen Zeit auf die zweite Generation haben. Was interessant in Bezug auf Honigmann ist, ist genau dieses Entziehen der Vergangenheit der Eltern für die Tochter, das Schweigen, das Auslassen, das Nichterwähnen, das nur 18 19
Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1997, S. 22. Man darf auch nicht vergessen, dass Georg Honigmann im Exil in England als »alien enemy« betrachtet wurde und zwei Jahre nach Kanada in ein Internierungslager gebracht wurde.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
Angedeutete, aber nie richtig von den Eltern Erklärte, das ihr Gesamtwerk durchzieht und das bei der Tochter wie beim Leser ein Gefühl der Frustration zurücklässt. Fragen bleiben offen und werden nicht vollständig beantwortet, z. B. die, warum sich Lizzy Honigmann nicht um die Grabpflege ihrer Eltern gekümmert hat. Der französische Autor Henri Raczymow spricht von »la mémoire trouée«, dem durchlöcherten Gedächtnis. In dieser Metapher fängt er ein, was ihm seine Eltern vermittelt und was sie ausgespart haben: What I name the »pre-past« or prehistory, along with the Holocaust, was handed down to me precisely as something not handed down to me. That was my case, but I believe it was quite common. Writing was and still is the only way I could deal with the past – even if it is, by definition, a recreated past. It is a question of filling gaps, of putting scraps together.20
In Barbara Honigmanns neuestem Roman, wie auch in ihren übrigen, ist es ihr gelungen, die Ratlosigkeit der Nachgeborenen, deren unbeantwortete Fragen und Reflektionen über die Elterngeneration zu schildern im vollen Bewusstsein, dass es sich bei ihrem Werk um ein literarisches Konstrukt handelt, das zwischen Dichtung und Wahrheit angesiedelt ist. James E. Youngs Beobachtungen über Künstler, deren Eltern Überlebende der Shoah waren, und oft mit ihren Fragen allein gelassen werden, treffen ebenfalls auf Ein Kapitel aus meinem Leben zu: »[…] by calling attention to their vicarious relationship to events, the next generation ensures that their ›post-memory‹ of events remains an unfinished, ephemeral process, not a means toward definitive answers to impossible questions«.21 Eine lückenlose Biographie der Mutter zu schreiben, ist der Tochter aus diesen Gründen nicht möglich und auch gar nicht ihr Wunsch. Gerade die Leerstellen in ihrer Lebensgeschichte, ihre Verschwiegenheit, das Ungefähre ihrer Aussagen bis hin zu den Lügen kennzeichnen dieses Werk als Reflektion über eine ewig changierende Person, deren Lebensbruchstücke »alle scharfe Kanten hatten« (KL 18). Der Tochter ist bewusst, dass die Wahrheit über das Leben ihrer Mutter und spezifisch ihre Ehe mit dem Meisterspion nie ganz ans Licht kommen wird. Immer, wenn meine Mutter mit mir über »dieses Kapitel aus meinem Leben« sprach, tat sie es in einer Mischung aus andeutungsvollem Erzählen und vielem Verschweigen, mit der sie mich gleichzeitig zur Mitwisserin machte und aus der Geschichte ausschloß. Ich reimte mir die Welt der Vorspiegelungen, Täuschungen und des doppelten Spiels in diesem Kapitel aus ihrem Leben mehr zusammen, als daß ich wirklich etwas wußte oder verstand. (KL 75)
20
21
Henri Raczymow: Memory Shot Through With Holes. In: Yale French Studies. Discourses of Jewish Identity in Twentieth-Century France 85 (1994), S. 98–105, hier S. 103. Young: At Memory’s Edge (wie Kapitel V, Anm. 34), S. 2.
3 Postmemory der Generation nach der Shoah
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Als die Journalisten nach Philbys Enttarnung 1963 an die Tür von Lizzy Honigmann in Ostberlin klopfen und um Aussagen bitten, weiß die Tochter von gar nichts. Sie hatte erst aus dem Fernsehen und eben nicht von der Mutter erfahren, was für ein Skandal ihre unmittelbare Familie betrifft. Den Namen Philby hatte sie aber schon auf ihren Erkundungen in die Bibliothek des Hauses in einer zweibändigen Shelley-Ausgabe gelesen. In anderen Büchern fand sie ihn in Kombination mit dem Vornamen ihrer Mutter wieder: Litzy Philby. Das war ihr Name, jedenfalls teilweise war es ihr Name, Litzy war einer der Namen, mit denen sie genannt wurde, den anderen Teil des Namens aber kannte ich nicht und wußte nichts mit ihm anzufangen, und deshalb betrachtete ich den Schriftzug immer wieder, als könnte er vielleicht eines Tages zu sprechen anfangen und mir sein Geheimnis preisgeben. (KL 12)22
Die Ratlosigkeit, in die die Tochter durch das Schweigen der Mutter geworfen wird, zwingt sie zu eigenen Schlüssen über die Geheimdienstphase in deren Leben. Sie wird zur kritischen und skeptischen Rezipientin der Aussagen der Mutter und scheut sich nicht, dem Leser ihre Zweifel und Unsicherheiten, was die Wahrhaftigkeit des Gehörten betrifft, mitzuteilen. So ist es ihr unbegreiflich, warum der KGB Lizzy Honigmann nach ihrer Trennung von dem Spion und nach ihrer Heirat mit Georg Honigmann frei herumlaufen ließ, da Philby ja noch zwanzig Jahre als sowjetischer Spion tätig war. »Sie muß doch ein dauerndes Risiko gewesen sein. Sie hätte nur nach West-Berlin zur britischen Botschaft hinüberzufahren brauchen und zu sagen, ich habe für Ihre Majestät eine Information zu überbringen, die sie rasend interessieren wird« (KL 63). Die Tochter vermutet, dass auch die Mutter den Lebenspakt, dem sich die »alten Genossen« unterwarfen, bis zum Schluss durchhielt und genau so einen Verrat nie gemacht hätte, also in den Augen der Russen absolut verlässlich und linientreu war. Die Künstler der post-Shoah-Generation erkennen laut James E. Young, dass die Geschichten der Eltern in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort überliefert wurden. Dieser Überlieferungsprozess wird Teil des Erzählprozesses, wie man es so gut bei Art Spiegelmans Maus Serie verfolgen kann: »Not only does this generation of artists intuitively grasp its inability to know the history of the Holocaust outside of the ways it has been passed down, but it sees history itself as a composite record of both events and these events’ 22
Diese Art von Kryptogramm zu entziffern ist ein Topos in Honigmanns Werk. In »Gräber in London« liest man von Spaziergängen auf dem Weißenseer Jüdischen Friedhof in Ostberlin, wo die Angehörigen der Generation nach der Shoah versuchen, die Wurzeln ihrer Identität in den hebräischen Grabinschriften zu finden: »Auf die hebräischen Buchstaben, die ich nicht lesen konnte, starrte ich, als ob sie vielleicht eine geheime, sehr wichtige Botschaft für mich enthielten, durch die sich das Rätsel meiner Herkunft offenbaren würde und das Schweigen meiner Eltern gebrochen werden könnte« (DDD 28). Siehe dazu den hervorragenden Artikel von Renneke, Kryptogramme der Schrift (wie Kapitel III, Anm. 15).
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
transmission to the next generation«.23 Dies deckt sich mit Remmlers Gedanken über »Orte des Eingedenkens« in den Werken Honigmanns, wo sie Walter Benjamins archäologische Sichtweise in Bezug auf Erinnerung anführt: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem, der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.24
Bei Honigmanns Mutter handelt es sich natürlich um keine Überlebende eines Konzentrationslagers; trotzdem kreist auch hier die Erinnerung um Unsagbares und der Tochter gelingt es aus vielerlei Gründen nicht, zum Kern der Mutter durchzudringen. Diese hatte im Hinblick auf ihre Geheimdiensttätigkeit grundlegende Fakten über ihr Leben verschleiert, was bei den verschiedenen Schreibweisen ihres Namens beginnt und bei der Ungewissheit über ihren genauen Todestag endet (KL 43, 47). Ihren Geburtstag am 2. Mai feierte sie am 1. Mai nach den Arbeiterdemonstrationen; sie gab vor, sich weder des Scheidungsjahres ihrer Ehe mit Kim Philby noch des ihrer Ehe mit Georg Honigmann entsinnen zu können und als die Tochter die Erinnerungen des Meisterspions in seinem letzten Interview mit denen der Mutter vergleicht, stößt sie wiederum auf zahlreiche Ungereimtheiten. Die Gewohnheit, sich die eigene Wahrheit zurechtzurücken, drückt sich auch in der Manie der Mutter aus, Photos, Briefe oder Zeitschriften und kompromittierende Dokumente wegzuwerfen.25 Durch diesen »Exorzismus« wappnet sie sich gegen unliebsame oder zu schmerzvolle Erinnerungen: Nein, meine Mutter war ganz und gar nicht auf der Suche nach Spuren oder Pfaden der Herkunft oder Vergangenheit, und sie war auf diese Haltung stolz und kam sich darin stark vor und war es vielleicht auch. Ich denke nur an den heutigen Tag, hat sie oft gesagt, ich lebe nicht in der Erinnerung. (DDD 100f.)
In diesem Zusammenhang muss eine andere wichtige Charaktereigenschaft der Mutter gesehen werden, nämlich »Contenance bewahren«. Das gelingt einem nur, wenn man sich als Selbstschutz einen eisernen Panzer zulegt, um gegen die vielen Schicksalsschläge wie das ewige Wandern von Ort zu Ort, die politische Desillusionierung, das Scheitern von drei Ehen und der Beziehung zu Pieter und Wito gewappnet zu sein (KL 25). Die Tochter sieht die Mutter nur ein paar Mal in ihrem Leben aufgebracht; das erste Mal, als sie Wito nach 23 24 25
Young, At Memory’s Edge (wie Kapitel V, Anm. 34), S. 2. Benjamin, zitiert nach Remmler, Orte des Eingedenkens in den Werken Barbara Honigmanns (wie Kapitel III, Anm. 59), S. 54. »Nur nicht aufhäufen, nur nicht sammeln und bewahren! Als müsse sie ein Schiff bei stürmischer See von Ballast befreien, warf meine Mutter ihr Leben lang alles weg, was nicht zu unmittelbarem Gebrauch bestimmt und von praktischem Nutzen war, alles, was ihrer Meinung nach das Schiff nur unnötig beschwerte« (KL 41).
3 Postmemory der Generation nach der Shoah
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dessen Untreue auf immer der Wohnung verweist, und die Tochter sie in ihrem Zimmer laut weinen hört, das andere Mal bekommt sie einen Wutanfall, als die Tochter das Wort »Österreich« mit nur einem ›r‹ buchstabiert und damit in den Augen der Mutter auf die primitivste Bildungsstufe absinkt. Die Verschwiegenheitssucht gepaart mit ihrer Ablehnung, sich zu erinnern, ist für den engsten Umkreis der Mutter schwer zu ertragen. So bilden Georg Honigmann, die Tochter und Pieter, der holländische Bildhauer, einen Dreierbund, der Lizzy zwar zugetan war, aber dem sie durch ihre Verschlossenheit im Grunde genommen doch zeitweise sehr fremd blieb (KL 91). Vor allem für die Tochter, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Vergangenheit ihrer Vorfahren mühsam zusammenzustückeln, ist die Wand, gegen die sie bei Fragen bezüglich der früheren Wohnplätze der Mutter in Wien und der Großeltern mütterlicherseits anrennt, frustrierend. Schon in der Erzählung »Gräber in London« aus Damals, dann und danach hieß es: Auf jede Frage hat meine Mutter geantwortet: Ich weiß nicht. Kann mich nicht erinnern. Selbst die Leute, die auf den wenigen Fotos, die in einem Schuhkarton aufgehoben wurden, zu sehen waren, behauptete sie nicht mehr erkennen zu können, und reagierte auf die Frage, wer sie seien, aus was für einer Zeit und ob vielleicht verwandt, immer nur gereizt, als ob mich das sowieso nichts anginge! Eigentlich kam es mir immer mehr so vor, als ob sie etwas zu verbergen hätte, und als ob hinter unserem alltäglichen Zusammenleben es vielleicht noch ein ganzes Leben meiner Mutter gäbe, zu dem ich keinen Zugang hatte, wie zu der dritten oder zwölften Tür im Märchen, man würde bestraft, wenn man sie öffnete. Aber wie im Märchen war meine Neugier größer als die Angst vor der Strafe, und ich stellte meine Nachforschungen an, um etwas zu finden, das in die Vergangenheit meiner Mutter zurückwies. Ich kramte und schnüffelte in Kästen, Schubfächern und der Bibliothek, sobald meine Mutter aus dem Hause war. In einigen Büchern fand ich ihren Vornamen in ihrer eigenen Handschrift mit einem anderen Familiennamen – das deutete auf eine frühere Ehe hin. Ich fand auch das Scheidungsurteil, das die Ehe meiner Eltern »Im Namen des Volkes« schied […]. (DDD 24)
In diesem Zitat wird schon auf die Ehe mit Kim Philby hingewiesen ohne seinen Namen zu nennen gemäß der Strategie der Autorin, zwischen »Enthüllen und Verstecken« zu schreiben.26 Die Tochter, die seit ihrem 14. Lebensjahr, also seit der Entlarvung des Spions im Jahre 1963 von der Ehe ihrer Mut26
Nur ein Kritiker, Jan Eik, war sich schon bei der Veröffentlichung von Damals, dann und danach bewusst, mit wem Lizzy Honigmann 12 Jahre verheiratet war und entschlüsselte das Geheimnis; ansonsten wurde davon in der Kritik keine Notiz genommen. Er schreibt in Bezug auf das Foto des pfeifenrauchenden Philbys: »Das Foto jenes very good looking jungen Mannes mit der Pfeife ist weltbekannt. ›Kim Philby, nachdem er Cambridge verlassen hatte‹, heißt es dazu in der deutschen Ausgabe von Phillip Knightleys Biographie Kim Philby. Geheimagent (München 1989).« Der Rezensent zieht nach weiteren Enthüllungen den Schluss: »Von all dem steht kaum ein Wort in Barbara Honigmanns Buch. Wie stark diese Geheimnisse ihre Biographie beschädigt haben, wird auf jeder Seite deutlich.« Jan Eik: Auch danach ist es nicht vorbei.... Rezension von »Damals, dann und danach«. In: Berliner LeseZeichen, Juni 1999.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
ter mit Philby wusste, nannte ihn erst in Ein Kapitel aus meinem Leben namentlich und veröffentlichte erst im Jahre 2004 diese Geschichte, Zeichen dafür, dass es ein halbes Leben dauerte, bis sich Barbara Honigmann bereit fühlte, über diese Episode aus dem Leben der Mutter und die Reaktionen der sie umgebenden Leute zu berichten.
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Die Aufbewahrung und der Verlust von Erinnerungs- und Erbstücken
Es gibt aber Erinnerungsstücke, die selbst die so im heutigen Tag lebende Mutter aufbewahrt hatte. Da ist zum einen die Perlenkette ihrer Mutter Gisella, die diese noch von ihrer Mutter hatte und Lizzy Honigmann in einem Brief zuschickt. Dieses alte Erbstück verliert die Tochter Barbara beim Sportunterricht: Nachher konnte ich zwischen den Anziehsachen und Schuhen die Kette nicht mehr wiederfinden. Das verheimlichte ich meiner Mutter ein paar Wochen, aber dann mußte ich es doch beichten, daß die Kette verloren war und unauffindbar. Meine Mutter sagte ganz lakonisch: es war das einzige, was ich noch von meiner Mutter besaß, und die hatte sie noch von ihrer Mutter, deiner Großmutter [sic]. (DDD 26, Hervorhebung v. Verf.)
Eine ähnliche Szene wird in Ein Kapitel aus meinem Leben erzählt. Dort ist von einem Hut die Rede, den sich die Mutter bei ihrer letzten Reise nach Paris als nostalgisches Symbol der wunderbaren Jahre, die sie zwischen 1936 und 1939 dort verbracht hatte, gekauft hatte: Dieser letzte Pariser Hut gehörte zu den wenigen Dingen, nein, war wahrscheinlich das einzige Stück aus dem Besitz meiner Mutter, das sie, obwohl es nutzlos, also überflüssig geworden war, über all die Jahre noch in Berlin aufhob. Ich habe ihn dann verloren, als ich ihn den zusammengetragenen Requisiten und Kostümen für eine Schultheateraufführung einverleibte, wo er im allgemeinen Chaos unterging und unauffindbar blieb, obwohl ich noch lange nach ihm gesucht habe. (KL 84f., Hervorhebung v. Verf.)
In beiden Szenen benutzt die Erzählerin das Adjektiv »unauffindbar«, so als hätten sich die Objekte verselbständigt. Der Verlust dieser greifbaren Gegenstände ist symbolisch für das Entschlüpfen der Vergangenheit der Vorfahren für die Tochter, die die Gegenstände vielleicht auch unbewusst »verliert«, um so gegen die Tabuisierung der Vergangenheit der Eltern zu rebellieren. Es ist ironisch, dass das ›offizielle‹ Erbstück der Perlenkette verloren geht, die Tochter aber bis heute noch als praktischen Haushaltsgegenstand das Grapefruitmesser besitzt, das die Mutter aus England nach Berlin mitgebracht hatte: Die Vergangenheit und die Erinnerungen meiner Mutter lagen in solchen Details, und wir waren uns nahe, wenn sie davon erzählte, und sie schien mir nicht ver-
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schlossen, wie wenn ich sie zu Gesprächen über »wichtige« und »richtige« Dinge drängte, von denen sie sich gequält fühlte und dann bloß bat, ach sekkier mich doch nicht. (DDD 116)
Die Tochter akzeptiert im Laufe der Zeit das selektive Gedächtnis der Mutter und lernt, deren Erinnerungen an scheinbar unwichtige Dinge zu schätzen, was im Zusammenhang mit ihren eigenen Schilderungen des Alltags zu sehen ist. Die Widersprüche in Bezug auf Memorabilien wie Photos bleiben auch nach dem Tod der Mutter unlösbar. Ein Kapitel aus meinem Leben schließt mit einer letzten Ungewissheit, die sich auf ein Photo ihres Großvaters bezieht. Wieder weiß die Erzählerin nicht genau, ob es sich tatsächlich um ihren Vorfahren handelt oder nicht, da ihr Vater den Großvater gekannt hat und überzeugt war, dass auf diesem Foto nie und nimmer Israel Kohlmann abgebildet sei, während die Mutter genau das Gegenteil behauptet: Beide Aussagen bleiben unbeweisbar, und so werde ich auch diese Wahrheit nie erfahren. Wenn ich mir den Mann auf dem Foto genau ansehe, glaube ich eine Ähnlichkeit mit seiner Tochter, meiner Mutter, und sogar mit mir und meinen Söhnen erkennen zu können. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das aus dem Foto heraussehe oder ob ich es in das Foto hineinsehe. (KL 142)
Entscheidend ist also, was man sehen will, was völlig subjektiv ist und eventuell nichts mit der Realität zu tun hat. Diese Erkenntnis der Tochter deckt sich mit einem Grundthema ihrer Interpretation der Vergangenheit der Eltern, die für sie mythisch und legendenhaft ist, ein Leitmotiv in Honigmanns Werken. Die Erinnerung an eine Person muss auch nicht notwendigerweise an greifbare Gegenstände, wie Grapefruitmesser oder Photos gebunden sein. Die Familie Honigmann hat ihre ganz eigene Form des Eingedenkens an die Mutter entwickelt, wie man am Ende von »Der Untergang von Wien« nachlesen kann. Sie lebt in der Sprache weiter, und zwar in dem Wort »Krawuri«: »Ob das Wort Krawuri wirklich Wienerisch ist, weiß ich nicht. Ich habe es niemals von einem anderen Menschen als meiner Mutter, aussprechen gehört und im Lexikon steht es auch nicht, weder im Duden noch im Weigand, aber wir sagen es hier tapfer immer weiter –, kleine Sprachinsel unbekannter Herkunft« (DDD 120).
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Die Verschlossenheit von Orten
Immer wenn die Tochter zusammen mit ihren Söhnen die Mutter in Wien besucht, möchte sie von ihr mehr über diese Stadt ihrer Jugend erfahren und würde sehr gerne die Bedeutung der Wohnungen und Häuser, in denen sie in Wien gelebt hat, ergründen. Die Mutter aber weigert sich, Details von dieser Stadt und ihrem Leben in ihr preiszugeben. Nach dem Tod der Mutter fühlt sich die Tochter wie von einem Bann befreit und geht endlich auf Spurensuche, indem sie die alten Adressen der Mutter aufsucht.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
Dann lese ich bloß die Namen auf den Klingelschildern, völlig sinnlos, und weiß wirklich nicht, warum ich das tue und was es da zu sehen gibt, denn es gibt ja nichts zu sehen, außer den mir fremden Namen und der Fassade, die wie alle Fassaden in Wien dasteht, schön oder nicht schön, aber in jedem Falle unverändert und unbeschadet, als ob hier nie jemals etwas Häßliches oder Böses geschehen sei. (DDD 102)
Neben der Erkenntnis, dass Häuser und Fassaden ohne Erklärungen der Eltern, was darin stattgefunden hat, nichtssagend sind, klingt hier auch eine scharfe Kritik an Österreichs Nichtaufarbeitung der Vergangenheit an. In Eine Liebe aus nichts findet man ähnliche Szenen wie in »Der Untergang von Wien«, die die Vergeblichkeit illustrieren, die Vergangenheit anhand von Orten heraufzubeschwören. In Wiesbaden läuft die Erzählerin orientierungslos in den Villenvierteln herum auf der Suche nach der Herkunft ihres Vaters: Aber die Stadt blieb mir verschlossen, wie eben ein unbekannter Ort, ich lief den Biegungen und Windungen der Straßen hinterher wie in irgendeiner anderen fremden Stadt, gaffte auf die Häuser und Plätze ohne Verständnis und hoffte auf ein Zeichen, irgendeines, wenn ich auch nicht wußte, woher es kommen sollte; irgend etwas, das zu mir spräche und mir von meinem Vater als kleinem Jungen und meinen Großeltern und den Bankiers der Großherzöge von Hessen-Darmstadt erzählen würde. (LN 66f.)
Ursprünglich hatte die Tochter gehofft, ihren Vater dort zu treffen und mit ihm zusammen die Plätze seiner Kindheit aufzusuchen. Jedoch war der Vater damit beschäftigt, einer jungen, neuen Freundin die Stadt zu zeigen, statt der Tochter über seine Jugendjahre in Hessen zu berichten. Die Tochter bleibt frustriert zurück und beschreibt die Enttäuschung, die diese letzte verpasste Gelegenheit, vor dem Tod des Vaters von ihm etwas mehr über ihre Ahnen und seine Kindheit herauszufinden, in ihr auslöst. In demselben Roman bleibt die Erzählerin vor einem Haus am Quai d’ Orsay in Paris stehen, von dem sie vermutet, dass ihre Mutter dort gewohnt hat: »Natürlich gibt es dort gar nichts zu sehen, und es ist vielmehr, als sei eine Welle über ihre Anwesenheit zusammengeschlagen und alles ist einfach untergegangen« (LN 32). Die Wassermetapher ist hier bedeutend, da sie auch in »Der Untergang von Wien« im Titel anklingt. Wien, Paris und London sind Orte des Exils der Eltern, »Inseln im Meer des Exils«, wie Honigmann sie nennt (DDD 89). Nach einem Friedhofsbesuch zum Grab der Mutter in Wien geht ein Wolkenbruch auf die Stadt nieder, in der die Tochter die Vision von Wien als einer untergegangenen Insel des Exils hat.27 Auch bei dem Friedhofsbesuch der Nachfahren in London regnet es in Strömen, eine bewusst von der Autorin eingesetzte Wetterbeschreibung, die den Untergang von London 27
»Es hört nicht auf, zu regnen und zu schütten. Eine richtige Flut. Es stürmt und nun blitzt und donnert es auch, und ist ein richtiger Krach und ein Dröhnen von den Wasserstürzen vor den Fenstern des Zugs. Und ich sehe zurück, und da ist, hinter mir, Wien versunken und untergegangen« (DDD 120).
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als Insel des Exils der dort einsam verstorbenen Großeltern verbildlicht. Diese Inseln verschwinden im Meer, nachdem die ›Schiffbrüchigen›, die aus fremden Orten Angeschwemmten, ihr Leben darauf beendet haben. Das biblische Bild der Sintflut und der Arche Noah wird mit der Wassermetaphorik und den Inseln natürlich ebenfalls heraufbeschworen; es ist, als ob Gott die rettenden Orte nach dem Ableben der Ahnen von der Erde weggespült hätte. In Ein Kapitel aus meinem Leben wird erzählt, wie die Mutter das ungarische Kerkaszentmiklós, in dem sie ihre Kindheitssommer verbracht hat, aufsucht, aber merkt, dass es in ein anderes Dorf eingemeindet wurde und deshalb einen anderen Namen trägt; es ist – man beachte die Wortwahl –»buchstäblich unauffindbar« (KL 30). Als letztes Beispiel von vergeblicher Spurensuche sei erwähnt, wie die Tochter in Archiven eines Museums nach einer Fotoreportage sucht, die laut Aussagen der Mutter über die geschmackvoll eingerichtete Wohnung der Mrs. Philby in Paris gemacht wurde, und auch da mit leeren Händen ausgeht (KL 87f.). So eine Art von Spurensuche bleibt in Honigmanns Texten immer erfolglos. Ob die Tochter die Häuser in Wien, Paris oder Wiesbaden aufsucht, in denen die Eltern irgendwann einmal gewohnt haben, es ist immer die gleiche Enttäuschung, die die Suchende erfährt. In Ein Kapitel aus meinem Leben scheint die Tochter diese Etappe des Suchens hinter sich gelassen zu haben. Sie schreibt am Ende ihres Buches: Ich hätte den Lebenswegen meiner Mutter quer durch Europa nachreisen können, […] hätte mich in fremden Straßen vor fremde Häuser stellen können, an Orten, in denen ich niemanden und nichts kenne und schon gar nicht wiedererkenne und wo mir niemand etwas zu sagen hat. […] Doch solche Nachforschungen gleichen mir viel zu sehr dem Nachspionieren, einem Aneignen und Spiel mit dem fremden Leben, auch wenn es das Leben meiner Mutter ist und ich ihr einziges Kind bin und vielleicht irgendeinen Anspruch auf diese Geschichte erheben kann. […] Ich bin nirgends hingereist, hingefahren, hingegangen. Habe keine Dokumente gesucht, gefunden, gesehen. Ich habe mit niemandem gesprochen und keinem Menschen Fragen gestellt. Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan. (KL 139ff.)
Ihr ist bewusst, dass die Wahrheit über das Leben ihrer Eltern niemals in Orten zu suchen ist, die ihr als Tochter nichtssagend sind. Zeillinger meint, wenn Honigmann alle Dokumente zusammengetragen, das Unbekannte recherchiert und die Fakten zurechtgerückt hätte, hätte sie das Bild der Mutter verzerrt »und genau dieses Bild in seiner Rätselhaftigkeit bewahrt zu haben, ist die literarische Leistung dieses Buches«.28 Wie ihre Mutter ist die Erzählerin vielmehr den Fragen zugeneigt, weniger den Antworten. Welche erzähltechnischen und stilistischen Mittel die Autorin verwendet, um das literarische Port28
Gerhard Zeillinger: Dicht neben der Lüge. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Die Presse, 9. Oktober 2004.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
rät der Mutter zu entwerfen, und wie es auf die Kritik wirkt, soll im folgenden untersucht werden.
6
Erzähltechnik, Stil und Rezeption
Der Grund, warum sich Barbara Honigmann entschlossen hat, dieses Buch zu schreiben, mag in dem Überraschungsbesuch liegen, den die achtzigjährige Mutter ein Jahr vor ihrem Tod der Tochter in Straßburg abstattet und bei dem sie sie bittet oder vielmehr beauftragt, ihre Version der Geschichte aufzuschreiben. Philby war zu der Zeit bereits tot, ihr Ex-Ehemann Georg Honigmann ebenso, und dieses Gefühl der Endlichkeit der individuellen Lebenszeit mochte in ihr den Wunsch erweckt haben, sich der Tochter anzuvertrauen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Barbara Honigmann bereits aufgegeben, Näheres über die Vergangenheit der Mutter herauszufinden. Diese meint, die als Schriftstellerin etablierte Tochter könnte die Geschichte gut verkaufen und Kapital daraus schlagen. Honigmann lässt aber dieses Kapitel aus dem Leben ihrer Mutter erst in sich reifen, um es mehr als zehn Jahre später aufzuschreiben.29 Auch bei dem Besuch in Straßburg gibt die Ex-Ehefrau des Spions aber nur wenige Details preis und bleibt ihren Verhüllungstaktiken treu. Honigmann merkt dieses Ausweichen und erkennt es an. Im letzten Kapitel reflektiert die Erzählerin über den Versuch, die Mutter zwischen Dichtung und Wahrheit zu porträtieren: »Sie hat mich geboren, und nun setze ich sie wieder als Legende in die Welt. Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge, so wie es ihr Credo war« (KL 138). Ist Ein Kapitel aus meinem Leben also ein kleiner Rachefeldzug gegen die Verschwiegenheitssucht der Mutter?30 Wohl nicht; Lizzy Honigmann gab erstens ohnehin nicht viel Neues an Sachinformationen preis und zweitens stimmt der Ton des Buches nicht mit so einer Absicht überein. Es ist – wie andere biographische und autobiographisch orientierte Texte Honigmanns – ein Versuch, sich der eigenen Person und Position zu vergewissern und sich den engsten Personen der Familie – Vater, Mutter, Großeltern – schreibend zu nähern und immer auch Trauerarbeit zu leisten. Man könnte auch fragen, ob das Credo der Mutter nicht immer auch das Credo des Schriftstellers ist. Honigmann, deren Werk zwischen »Enthüllen und Verstecken« oszilliert, misstraut den harten Fakten und erkennt, dass der Tod der Eltern den Kindern einen freieren Blick auf deren Leben gibt, aber 29
30
Honigmann kommentiert: »Noch heute weiß ich nicht genau, wie sie das gemeint hat. Sollte sich die Sache am Ende wenigstens für ihr Kind ausgezahlt haben, und sei es finanziell?« (KL 78) Barbara Oetter schreibt in ihrer Rezension: »Honigmann sagte in einem Interview grübelnd, sie glaube nicht, ihre Mutter im neuen Buch verraten zu haben.« Barbara Oetter: So nah wie möglich. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Freitag 4 (2004).
6 Erzähltechnik, Stil und Rezeption
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dennoch »keine Offenbarung« bringt (KL 140). Und so versucht sie, in der ihr eigenen Assoziationsprosa die »Lebenshieroglyphen ohne verifizierbares Aktenstudium stehen zu lassen«, die Figur der Mutter so gut wie möglich zu fassen und den Lesern in all ihren Facetten nahe zu bringen.31 Dabei verlässt sie sich auf ihre eigene Sichtweise und nimmt Abstand von Dokumenten, Datenbanken und ausgiebiger Recherche. Jörg Magenau fasst am Ende seiner Rezension den Gegensatz zwischen Mutter und Tochter prägnant zusammen: »Barbara Honigmann ist nicht bereit, die mütterliche Spurenverwischung fortzusetzen, im Gegenteil. Sie arbeitet hartnäckig daran, ihre Herkunft kenntlich zu machen. Ein größerer Gegensatz als der zwischen einer Geheimdienstlerin und einer nach Öffentlichkeit strebenden Schriftstellerin ist wohl kaum denkbar«.32 Die Autorin benutzt literarische Metaphern, um das Leben der Mutter zu erfassen, was schon der Titel des letzten Werkes Ein Kapitel aus meinem Leben indiziert. Die Erzählerin differenziert zwischen dem »Paris-Kapitel« und dem »Paris-Roman«. Das Kapitel bestand aus der Zeit der Konspiration, der Kassiber, den Treffen mit den Kontrolloffizieren, der Roman hingegen umfasste mehrere Bände und verbindet sich in der Erinnerung der Mutter mit den ausschweifenden Festen, die sie dort gefeiert hat, mit ihrer Liebe zu Pieter und mit einer Wunschliste von historischen Ereignissen, die nicht hätten eintreten dürfen, um dieses mondäne Leben auch weiterhin führen zu können. Die Mutter hätte ihr Leben gerne ausschließlich zu diesem Roman »umgedichtet«, wie es bezeichnenderweise heißt (KL 86). Im folgenden Zitat ist erkennbar, wie auch das Leben der Großeltern in Kapitel eines Romans eingeteilt wird: »Über das letzte Kapitel des Lebens ihrer Eltern hat sie fast nichts erzählt und kein Wort über die Gräber verloren, die sie ohne Namen, ohne Zeichen, ohne Stein in England zurückgelassen hat« (KL 109). Die Exilzeit nimmt in den Erzählungen des Emigrantenzirkels der Mutter nicht nur romanhafte Züge an, sondern mythologische, wobei vor allem die Zeit in England zum mythischen Epos verklärt wird: Auch heute noch höre ich England, mit den Stimmen meiner Mutter, meines Vaters und ihrer Freunde, als großes Epos aus immer wiederholten und immer neu beleuchteten Erzählungen und Beschreibungen, Anekdoten und Betrachtungen. In diesem Gesang ist England etwas Zusammenhängendes aus Gesagtem und Ungesagtem, das, wie die Insel selbst, für Leute vom anderen Ufer unverständlich bleibt. (KL 94)
Die Mutter schickt die Tochter in den Ferien in dieses »gelobte Land«, wo sie allerdings Sachen erlebt, die nichts mit der »sagenhaften Londoner Zeit« zu tun haben, wie das Kind erkennt, als sie die Realität, die sie dort erlebt, an den Erzählungen der Eltern misst (KL 98). Es scheint so, als sei die Zeit für die Remigranten in der DDR stehen geblieben und als schwelgten sie in einer 31 32
Ebd. Jörg Magenau: Meine Mutter und der Spion. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2004, S. 36.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
mythischen, in der Erinnerung verklärten Zeit: »Die englischen Erzählungen waren keine Erinnerungen wie die ungarischen, Wiener und selbst die aus Paris, sondern eine zweite Gegenwart, parallel zu unserem Berliner Leben, auch wenn so vieles nur angedeutet blieb oder sich zu Sentenzen und Einzeilern verkürzte« (KL 98). Neben diesen literarischen Metaphern bedient sich Honigmann auch hier, wie in allen anderen Werken, des Vokabulars aus der Theaterwelt, die sie von ihrer Arbeit als Dramaturgin in Berlin so gut kennt. Das Rollenspiel, das Aufsetzen einer Maske, das Theaterspielen, das der Mutter durch ihre Geheimdiensttätigkeit zur zweiten Natur geworden ist, gab sie ihr Leben lang nicht auf und es ist sicher mit der Grund, warum ihr die Arbeit als Synchronregisseurin soviel Spaß gemacht hat: »Ich glaube, sie fühlte sich in dieser etwas unwirklichen Atmosphäre, halb im Kino, halb im richtigen Leben, ausgesprochen wohl, und auch in der ziemlich engen Bindung des Teams…« (KL 126).33 Bei ihren Arbeitskollegen galt sie als »Frau Gräfin« und weiß diesen gehobenen Status auch gut auszunutzen. Er sichert ihr seltene Bücher, Restaurantplätze und andere in der DDR begehrte Mangelware (KL 126f.). Die Erzählstrategie von Barbara Honigmann in Ein Kapitel aus meinem Leben ähnelt der, die sie in ihren früheren Werken so erfolgreich angewendet hat: Assoziationsprosa versetzt mit Reflektionen, Abschweifungen und Anekdoten, die aber streng durchkomponiert ist. Sie lässt verschiedene Stimmen des Erinnerungsnetzes zu Wort kommen in der Absicht, vielleicht so die Leerstellen des Mosaiks zu füllen: sie zitiert lange Passagen, die die Mutter in der IchForm erzählt (KL 60ff., 81ff.), gibt dem holländischen Freund Pieter das Wort (KL 90ff.), druckt einen Brief der Mutter an sie ab, der ironischerweise mit der Ermahnung schließt, er sei nur für sie bestimmt, nun aber durch das Einschließen von Barbara Honigmann in dieses Werk an die Öffentlichkeit gelangt (KL 136f.). Andere Dokumente, die abgedruckt werden, stammen aus der Mappe des Wiener Rechtsanwaltes der Mutter und beweisen, dass Lizzy Honigmann bereits seit den späten siebziger Jahren ihre Ausreise nach Österreich vorangetrieben hat entgegen ihrer Aussage, dass sie nach dem Verlassen der Tochter 1984 auch nicht mehr in der DDR bleiben wollte (KL 48f.). Wir lesen den Brief der Mutter an die Behörden, sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen sowie einen Brief an einen Philby-Biographen, den sie davon abhalten will, ihren Namen in seinem Buch zu nennen (KL 130, 112). Kommentare aus der Stasi-Akte des Vaters, die 1951 angelegt wurde, gewähren einen Einblick in die feindliche Haltung der Parteiführung gegenüber jüdischen Remigranten aus dem westlichen Exil (KL 118). Stefan Zweigs Signatur auf dem Vorsatzblatt des Pléiade-Bandes der Comédie Humaine von Balzac und eine 33
Dies erinnert an die Szene in Eine Liebe aus nichts, in der Vater und Tochter die Theatervorstellung »zwischen dem dunklen Zuschauerraum und der künstlichen Welt auf der Bühne und der Welt hinter der großen Tür« miterleben (LN 26). In beiden Szenen wird die Spannung zwischen dem ›richtigen‹ Leben und der Welt des Unwirklichen und Fiktiven hervorgehoben.
6 Erzähltechnik, Stil und Rezeption
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Widmung der deutschen Übersetzung der Schlimmen Leidenschaften von Choderlos de Laclos von Heinrich Mann an Stefan Zweig, die sich im Besitz der Eltern befinden, und von Honigmann Wort für Wort wiedergegeben werden, zeugen von dem Verkehr der damals noch nicht verheirateten Honigmanns mit prominenten Exilanten und davon, dass der Vater beim Haushüten von Zweigs Residenz in Bath einige Bücher hat »mitgehen« lassen (KL 101f.). Außerdem schreibt die Tochter in den eigenen Worten ihres Vaters nieder, wie er seine Ex-Frau gesehen und charakterisiert hat, und fügt – wie in Eine Liebe aus nichts – einige Einträge aus dem Tagebuch des Vaters aus der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Dieses Aktenmaterial, die Briefe und Notizen sind allerdings nicht üppig, da die Mutter, wie gesagt, eine Spurenverwischerin war. Durch diesen Chor von Stimmen nimmt Lizzy Honigmann in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit für den Leser momentan Gestalt an und das vorher aus Schraffuren bestehende Bild wird mit kräftigeren Farben ausgemalt, was jedoch nicht bedeutet, dass sie am Ende der Lektüre fassbarer ist: Wer nach einem Doku-Krimi giert, soll woanders suchen. Hier wird nichts enthüllt. Im Gegenteil. Leser werden umgarnt, mit tastenden Erzählbewegungen, die sich in Spekulationen verstricken, von Unsicherheiten in Ungereimtheiten geleitet, in einen Raum gelockt, in dem die Gestalt der Mutter gleich einem Vexierbild aufblitzt, um sofort wieder zu verschwinden. Ein Porträt der Mutter? Mitnichten. Es ist, als leuchte jemand in den Nebel, und alles verschwimmt im Weiß.34
Wie Susanne Mayer, so merkt auch Christoph Schreiner, dass der Mutter die Lebenslegenden wichtiger sind als die Beglaubigung durch Fakten und dass Honigmann diesen Wunsch der Mutter in ihrem Erzählstil widerspiegelt: »Um wie viel mehr ist Verhüllung der geselligkeitssüchtigen Mutter, die jahrelang für den russischen Geheimdienst agierte, gemäßer als Enthüllung. Und so folgt der Subtext des Buches kontinuierlich der Wahrheit von Lebenslügen«.35 Zur Erzählperspektive meint Birrer: Massgebend ist die Augenhöhe des einstigen Kindes, dessen Blick sich zwar im Erwachsenwerden weitet, schärft und an eigenmächtigen Reflexionsstufen und – tiefen gewinnt. Doch neben der hermetischen Grösse der Mutter bleibt das Kind immer Kind – in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter scheint die Distanz durch die unterschiedlichen und zugleich verquickten Lebenserfahrungen unüberwindbar.36
Laut Mayer ist gerade die »geheimnisvoll schillernde Erzählhaltung« das Bemerkenswerte an diesem Buch: »Man könnte sagen, der kleine Band tritt an 34
35 36
Susanne Mayer: Vielleicht, vielleicht auch nicht. Barbara Honigmann schreibt über das geheimnisvolle Leben ihrer Mutter und verwischt konspirativ alle Spuren. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Die Zeit, Nr 47 (2004). Christoph Schreiner: Wahre Lügen. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Saarbrückener Zeitung, Nr 208, S. C8. Sibylle Birrer: Weltgeschichte nebenher. Ein Buch der Erinnerungen von Barbara Honigmann. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Neue Zürcher Zeitung, 25. September 2004.
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VII ›Ein Kapitel aus meinem Leben‹
gegen zentnerschwere Spionageliteratur, die ans Licht zerren will, was Lizzy Honigmann und ihre Freunde verschleiern möchten – und können, mit ein wenig Hilfe von Barbara Honigmann«. Für sie ist dieses Werk »ein letzter, wie immer vergeblicher Liebesdienst an der Mutter, eine kleine Hilfestellung zur Fabrikation eines Familienromans, in den nicht nur Kinder und Spione ihr Leben so gern umdichten. Und sei es, um sich hinter seiner Fassade zu verstecken«.37 Abschließend ist festzustellen, dass Honigmanns Versuch, der Mutter literarisch habhaft zu werden, geglückt ist. Wenn man die Entwicklung der Mutterfigur vom Anfang bis zum vorläufigen Ende ihres Werkes verfolgt, bestätigt sich Thomas Noldens These der konzentrischen Annäherung an die Vergangenheit, an Tabuisiertes, an zu Schmerzvolles. In Roman von einem Kinde wurde die Mutter mit ein paar Pinselstrichen angedeutet, in Eine Liebe aus nichts wurde sie von der Vaterfigur fast vollständig an den Rand gedrängt. Dort war von einer erfundenen bulgarischen Mutter die Rede, die zwar in manchen Zügen Lizzy Honigmann ähnelte, sich aber in entscheidenden Details von ihr unterschied. Nach dem Exil reiste diese in ihr Heimatland zurück, wo sie sich durch den ausschließlichen Gebrauch der Muttersprache bald nicht mehr mit ihrer Tochter verständigen konnte, die des Bulgarischen nicht mächtig war. In Damals, dann und danach erfuhren die Leser schon mehr von den einzelnen Lebensstationen der Lizzy Honigmann, die sich mit den Großstädten Wien, Paris, London und Berlin verbanden. Die Frustrationen der Tochter über Ungesagtes, über die Tabuisierung des Judentums und der Shoah von Seiten der Eltern und die Rebellion einer jüngeren Generation gegen dieses Schweigen wurden dort bereits artikuliert. Auch Kim Philby geisterte schon durch die Seiten dieser persönlichen, intimen Prosatexte, aber nur als beschriebenes Photo und Schriftzug, noch namenlos. Der Tod der Mutter wurde zwar in dem bewegenden Text »Der Untergang von Wien« reflektiert, aber was sich in ihrem Leben zugetragen hatte zwischen ihrer Jugend in dieser Stadt, ihrer Flucht im Jahre 1934 und ihrer Rückkehr nach fünfzigjähriger Abwesenheit, davon war nur schemenhaft die Rede. Die Geschichte musste erst in der Autorin reifen und wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der man vielleicht den Blick abwenden möchte von der nationalsozialistischen Vergangenheit und vom Kalten Krieg. Umso notwendiger ist es, dieses Zeugnis einer Ära und einer einzigartigen Frau zu lesen, damit sie eben nicht im Ozean des Vergessens untergeht.
37
Mayer, Vielleicht, vielleicht auch nicht (wie Anm. 34).
VIII Die Poetologie der Erinnerung
Nach den Einzelinterpretationen will dieses Kapitel eine Bestandsaufnahme einiger allgemeiner Sachverhalte bieten, die auf das Werk von Barbara Honigmann zutreffen. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf der Beziehung der Autorin zur deutschen Sprache. Im Zusammenhang mit ihrem Aufsatz »Eine ›ganz kleine‹ Literatur des Anvertrauens« soll eine Verortung der Autorin im Kontext der deutsch-jüdischen Literatur der Gegenwart versucht werden.
1
Autofiktion
In Bezug auf die Vermischung fiktionaler und autobiographischer Elemente in Honigmanns Werk bietet sich der von Serge Doubrowski in seinem Werk Fils (1977) geprägte Begriff der Autofiktion an. Für ihn ist autobiographisches Schreiben Fiktion über ein Ich, dessen Lebensgeschichte der Schriftsteller in der Anordnung des Materials, in der Hervorhebung bestimmter Episoden, in der Anwendung eines besonderen Stils ohnehin verändert.1 Das Ich wird zum Hauptmaterial einer Gattung, die fiktionale und dokumentarische Zutaten mischt.2 In ihrer ersten Züricher Poetikvorlesung über autobiographisches Schreiben und einigen Interviews betont Honigmann, dass sie nicht in der Eigenart des Lebens, das sie führt, wahrgenommen werden will, sondern in der 1
2
Dort heißt es: »Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels; si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau. Rencontres, fils des mots, allitérations, assonances, dissonances, écriture d’avant ou d’après littérature, concrète, comme on dit musique. Ou encore, autofriction, patiemment onaniste, qui espère faire maintenant partager son plaisir.« Serge Doubrowski: Fils. Roman. Paris: Editions Galilée 1977. Barbara Honigmann selber erwähnt diesen Term von Doubrowski in ihrer Züricher Poetikvorlesung »Wenn mir die Leute vorwerfen, daß ich zuviel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, daß sie überhaupt nicht über sich selber nachdenken« in der Diskussion darüber, wie ein Autor seine Biographie im Schreiben verändert (DGW 39). Auch Eva Lezzi bezeichnet die Werke von Esther Dischereit und Barbara Honigmann als Autofiktion. Siehe Lezzi, In den Körper verbrachte Erinnerung (wie Kapitel V, Anm. 51), Fußnote 8.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
»Eigenart des Schreibens« (DGW 39). Von zentraler Bedeutung ist, wie ein Autor – wenn er wie sie autobiographische Fakten in seinen Werken benutzt – diese verarbeitet; Fragen von Kritikern oder vom Publikum, die wissen wollen, ob sich alles genauso zugetragen hat, findet sie langweilig. Ihrer Meinung nach wird »[i]n der Suche nach der Person hinter dem Werk, dem biographischen Interesse an einem Kunstwerk überhaupt, […] diese neu erschaffene Welt, der Kosmos eines Romans, eines Bildes oder einer Komposition, wieder zurückgestuft auf die Ebene von Eindeutigkeiten, die seinem offenen Charakter widersprechen, es verflachen und einengen« (DGW 73). Schon in einem der ersten längeren Interviews mit Ariane Thomalla gibt die Autorin zu, dass sie zwar über sich schreibt und sich erklären will, warnt dann jedoch: Aber irgendwie möchte ich das nicht so autobiographisch verstanden wissen, was nicht heißt, daß ich’s verstecken will. Für mein eigenes Schreiben möchte ich auch die Freiheit haben, das zu vermischen. Das ist ja das, was mich am Schreiben interessiert, daß ich mich von meiner eigenen Biographie auch lösen kann. Und daß es egal ist, ob es stimmt oder nicht stimmt.3
Selbst wenn ein Autor sein eigenes Leben fiktionalisiert, ist nicht diese Biographie an sich das Packende, sondern das Vermögen des Schriftstellers, mit authentischer und unverwechselbarer Stimme dieses Leben so darzustellen, dass sich die Leser mit bestimmten Aspekten identifizieren und »ihr Gesicht wiederfinden« können.
2
Beziehung zwischen Autor und Leser
Wenn man die Rezeption ihres Werkes in verschiedenen Ländern vergleicht, so stellt sich heraus, dass in Deutschland der Inhalt und eben das Autobiographische mehr im Vordergrund stehen als beispielsweise in Frankreich, wo der Blick »deutlich literarischer« sei.4 Diese Aussage Honigmanns aus dem Jahre 2001 gesteht den Lesern ihrer Wahlheimat ein wachsendes Interesse an ihrem Werk zu, was natürlich bedingt ist durch die nun erhältlichen französischen Übersetzungen ihrer Bücher.5 Ein Jahr früher bemerkte sie in einem Porträt, ihrer Beobachtung nach sei für die Franzosen die deutsche Literatur bei Stefan Zweig stehen geblieben. Lobend dagegen hebt sie die zahlreichen Einladungen in die USA hervor.6 In einer Ankündigung ihrer Züricher Poetikvorlesungen im Herbst 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung wird wieder die Betonung auf den Inhalt und nicht die Kunstfertigkeit ihres Werkes in Deutschland gelegt. 3 4 5 6
Thomalla, Von Ost-Berlin nach Straßburg (wie Kapitel I, Anm. 10), S. 1206. Anne Stürzer: In deutsch-jüdischer Geschichte verstrickt. In: Nordsee-Zeitung, 9. Mai 2001. Siehe Kapitel V, Anm. 22. Dorothea Marcus: Literatur des Anvertrauens. In: Badische Zeitung, 2. Dezember 2000.
2 Beziehung zwischen Autor und Leser
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Dort heißt es, Honigmann stehe der sehr inhaltsorientierten Rezeption ihrer Werke in Deutschland zwiespältig gegenüber, und das Schweizer Publikum erscheine ihr offener und souveräner.7 Die Autorin hat ihre eigenen Betrachtungen angestellt über die Beziehung zwischen Autor und Rezipient. Der von Honigmann verehrte französische Schriftsteller Stendhal widmete all seine Werke den »happy few« und stellte sich in diesen Leuten seine idealen Leser vor. In Stendhals Aufforderung an den Leser, sein Leben nicht in Hass oder Angst zu verbringen, hofft sie, dass sich viele wieder erkennen können und seinen Rat beherzigen: Ich glaube also, daß uns ein Werk berührt, uns gegen Angsthaben und Hassen ein wenig wappnet, wenn wir darin eine Stimme hören, in der wir etwas von unserer eigenen Stimme wiedererkennen, weil sie uns, paradoxerweise, in unserer Einzigartigkeit ähnlich ist. In der Einzigartigkeit, von der ich annehme, daß sich in ihr unsere Ebenbildlichkeit mit Gott ausdrückt. (DGW 71)
Das Sich-Identifizieren mit Aspekten des Kunstwerks von Seiten der Leserin, des Betrachters, der Zuhörerin hat der französische Philosoph Emmanuel Lévinas in dem aussagekräftigen Bild »L’art consiste á retrouver le visage« zusammengefasst. Dieser Satz, mit dessen deutscher Übersetzung »Die Kunst besteht darin, das Gesicht wiederzufinden« sie die Rede zur Anerkennung des Jeanette-Schocken-Preises endet, enthält in nuce Barbara Honigmanns poetisches Konzept.8 Die Preisträgerin plädiert in dieser Rede dafür, erst einmal den Blick des anderen aushalten zu können, bevor man sich der schwierigen Aufgabe stellt, seinen Nächsten zu lieben, wie es die Bibel verlangt. Sie bezieht sich hier auf das einzig erhaltene Photo von Jeanette Schocken, deren Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Ironie und Trauer – in ihr in Anbetracht des Wissens, das sie von deren Ende hat,9 eine Verzweiflung hervorruft, der sie aber standhalten will. Honigmann führt literarische Dokumente aus der Verfolgung der Juden an, die sie besonders berührt haben, und sie fordert uns damit indirekt auf, uns auf ihr Werk einzulassen. Da sind zum einen Etty Hillesums Tagebücher, einer Jüdin aus Amsterdam, die angesichts des Schreckens und der völligen Sinnlosigkeit des Bösen, das auf sie zukommt, Trost in ihrer Religion sucht und ihr Schicksal, das sie nach Auschwitz führt, auf berührende Art gelassen annimmt.10 Da ist zum anderen das wenig bekannte gattungssprengende Werk 7 8
9 10
Alexandra Kedveš: Ganz nah dran – Barbara Honigmann blättert in ihrer Vergangenheit. In: Neue Züricher Zeitung, 28. Oktober 2002. Sie zitiert ihn auch für den marokkanischen Rabbi während ihrer Diskussion über ihre Bilder in dem Text »Ein seltener Tag« (DDD 131). Dass sie diesen Spruch noch einmal in der Schocken-Preisrede erläutert, zeugt von seiner Wichtigkeit für die Autorin. Barbara Honigmanns neuester Essayband trägt sogar diesen Titel. Jeanette Schocken wurde mit ihrer Tochter nach Minsk deportiert und dort ermordet. Auf dieses Tagebuch geht Honigmann in ihrer ersten Züricher Poetikvorlesung über autobiographisches Schreiben näher ein. DGW, S. 48–60.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
der Malerin Charlotte Salomon, die im vierten Monat schwanger 26jährig in Auschwitz vergast wurde, nachdem sie ihren Zyklus »Leben oder Kunst« gemalt hat, und deren Leben und Werk Barbara Honigmann mit ihrem ähnlichen Doppeltalent besonders nahe geht.11 Honigmann zitiert auch Textstellen von Else Lasker-Schüler und Heinrich von Kleist, die belegen, wie fremd sie sich in den Städten Jerusalem und Paris fühlten, da die Leute ihren Blicken auswichen und sich nicht für das Schicksal des anderen interessierten: »Hinter dem Ennui steht nämlich die Angst vor dem Blick des anderen, der einen entlarven könnte, weil man ja meistens eine Maske trägt, die verbergen soll, was wir auch im Gesicht des anderen nicht wahrnehmen wollen: Verletzlichkeit und Vergänglichkeit«.12 In dem Bild der Maske, die wir tragen, um uns zu schützen und die wir nur manchmal wagen abzunehmen, um unser authentisches Gesicht zu zeigen und in die Abgründe unseres Gegenübers zu sehen, ist das Grundthema des Enthüllens und Versteckens enthalten, unter dessen Vorzeichen diese Analyse von Honigmanns Werk steht. Im folgenden Zitat, in dem Honigmann die Etymologie des Wortes »Gesicht« erklärt, das im Hebräischen ein Pluraletantum ist und sich von den Verben »sich drehen, sich wenden« ableitet, ist von »Annäherung und Entfernung« zwischen Leser und Autor die Rede, einer Vorstellung, die der des Enthüllens und Versteckens sehr nahe kommt. Dieser Ursprung des Wortes und seine grammatikalische Form des Pluraletantums will vielleicht der Tatsache Ausdruck geben, daß ein Gesicht, das nur den Augen gegenüberliegt, nicht genug Sinn macht, wenn diese Mehrzahl von Gesichtern nicht in Zu- und Abwendung miteinander verbunden bleiben, einer ständigen Bewegung zwischen Annäherung und Entfernung, in der sie sich ihrer Verletzlichkeit und Vergänglichkeit bewusst werden, aber auch ihrer Ebenbildlichkeit mit Gott, die sich vielleicht in der Einzigartigkeit jedes dieser vielen Gesichter ausdrückt.13
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Mary Lowenthal Felstiner hat sich mit dieser Malerin beschäftigt und ihr Leben und ihre Kunst in dem Buch To Paint Her Life. Charlotte Salomon in the Nazi Era (New York: HarperCollins 1994) dargestellt. Außerdem befassen sich zwei Beiträge eines Symposiums zur jüdischen Weiblichkeit mit dieser Malerin. Gertrude Koch: Charlotte Salomons Buch »Leben oder Theater?« als historischer Familienroman. In: Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Hg. von Inge Stephan, Sabine Schilling und Sigrid Weigel. Köln: Böhlau 1994 (Literatur – Kultur – Geschlecht: Große Reihe; 2), S. 103–117 und Genia Schulz: Geschriebene Bilder – gemalte Schrift. Impromptu zum Singspiel »Leben oder Theater?« von Charlotte Salomon. In: Ebd., S. 119–130. Barbara Honigmann: Das Gesicht wiederfinden. Rede bei Entgegennahme des Jeanette-Schocken-Preises am 6. Mai 2001 in Bremerhaven. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie; 11), S. 232–236, hier S. 234. Ebd., S. 235.
2 Beziehung zwischen Autor und Leser
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In Bezug auf den Literaturpreis, der für Werke vergeben wird, die gegen Hass, Intoleranz, Unrecht und Gewalt anschreiben, reflektiert sie über die gegenteiligen Meinungen in Bezug auf die Fähigkeit der Kunst, etwas gegen das Übel in der Welt auszurichten. Trotz der Einwände von Skeptikern ist sie sich eines sicher, nämlich dass wir als Menschen zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können. Sie schließt die Rede damit, dass die Kunst es uns sehr wohl ermöglicht, uns mit den Charakteren und Geschichten, die sie erfindet, zu identifizieren: Bei allem Zweifel jedoch wird man der schönen Literatur nicht absprechen können, daß sie jedem Geschöpf, welches sie erfindet oder nachzeichnet, in seinem Abbild, in den Geschichten und Beschreibungen seiner Irrfahrten, seiner Komödie der Irrungen, seiner Wahlverwandtschaften, seiner verlorenen Illusionen, und seiner Suche nach der verlorenen Zeit, nicht die Einzigartigkeit gegeben hätte, in der jeder Mensch sein eigenes Gesicht wiedererkennen kann. Oder wie Emmanuel Lévinas es sagt: Die Kunst besteht darin, das Gesicht wiederzufinden.14
Dieser visuelle Vergleich, was Kunst vermag, birgt die wichtige Komponente der Dialogizität in sich. Künstler malen ja nicht nur für sich, Schriftsteller schreiben nicht für die Schublade, sondern wenden sich an ein Gegenüber. Honigmann vergleicht dieses Sich-Offenbaren mit der Geste des HandAusstreckens beim Beginn einer neuen Freundschaft, was angesichts der Risiken, die man durch dieses Sich-Anvertrauen eingeht, großen Mut erfordert (DDD 49f.). Die Autorin erkennt, dass der gewünschte Dialog mit dem idealen Leser in der realen Begegnung gerade die Distanz zu diesem verdeutlichen kann. »Plötzlich merkt man, daß die alles ganz anders lesen und verstehen und kann es sich nicht erklären«. Obwohl sie sich der Offenheit des Kunstwerks für verschiedene Lesarten bewusst ist, da jede Leserin durch ihre jeweils anderen Lebenserfahrungen ihren eigenen Roman liest, fühlt sie sich manchmal »ein wenig enteignet«.15 Dem idealen imaginären Leser steht auf der anderen Seite der Rezipient gegenüber, der das Gefühl hat, ein bestimmtes Buch sei allein für ihn geschrieben worden. Die Schriftstellerin erzählt von einem ihr einst sehr nahe stehenden Freund, der, als er ein Buch von ihr in einem Schaufenster sah, dieses am liebsten mit einem Stein eingeworfen hätte, da er nicht bereit war, dieses Werk mit anderen Lesern zu teilen (DGW 41). Natürlich gebe es auch öffentlichkeitssüchtige Autoren, zu denen sie sich allerdings nicht zählt. Sie akzeptiert Einladungen zu Lesungen, Tagungen und Kolloquien, die sie aus der Isolation 14 15
Ebd., S. 236. Reichlin, »Ich bin durchs Bild zum Wort durchgebrochen« (wie Kapitel I, Anm. 2), S. 28. Anke Zimmer: »Jeder liest seinen eigenen Roman«. Die jüdische Autorin Barbara Honigmann über Realität und Fiktion, die Wahrheit – und über das Theater in Meiningen. In: Fuldaer Zeitung/Hünfelder Zeitung, 10. November 2001.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
des Künstlerdaseins herausholen, aber es stört sie dabei das Zerpflücken all der Dimensionen ihres Selbst. Bei ihren Auftritten in der Öffentlichkeit, in denen sie einmal als Jüdin, dann als Ostdeutsche, dann als Frau eingeladen wird, hat sie immer das Gefühl, den Ansprüchen des Publikums in dem Moment nicht gerecht zu werden. Der Grund liegt in ihrem Bewusstsein der anderen Komponenten ihres Ichs, die aber eventuell gerade nicht in die Diskussion passten.16
3
Figurenkonstellation
Betrachtet man die Figurenkonstellation in Honigmanns Werk, so steht außer Frage, dass alle ihre Texte das konfliktreiche Zusammenleben zwischen Juden und Deutschen darstellen. Im Hinblick auf Honigmanns Einstellung zur deutsch-jüdischen Symbiose, wie sie sich in ihrem Leben, Werk und Aussagen in Interviews darstellt, lässt sich sagen, dass sie – wie ihr Mentor Gershom Scholem – aufgegeben hat, an diese Symbiose zu glauben, was ihr Auszug aus Deutschland bezeugt. Wie die Einzelanalysen der Werke gezeigt haben, konstruiert sie in Roman von einem Kinde, Eine Liebe aus nichts, Alles, alles Liebe! und Ein Kapitel aus meinem Leben Verhältnisse zwischen Jüdinnen und Deutschen, die scheitern. Aber auch innerhalb der jüdischen Generationen kommt es zu Konflikten, die nicht durch Aggressionen, Antisemitismus oder Philosemitismus, wie bei der Beziehung zwischen Juden und Deutschen, ausgelöst werden, sondern eher durch Tabuisierungen und das Schweigen der Elterngeneration in Bezug auf die Familienrecherche, die das Hauptanliegen Honigmanns ist. Der von Marianne Hirsch geprägte Begriff »Postmemory«, der ausführlich im letzten Kapitel erläutert wurde, demonstriert, dass es sich bei den von Barbara Honigmann erfahrenen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Leerstellen, die sie ausfüllen will, nicht um ein Einzelphänomen handelt, sondern dass sich vor allem Kinder von Überlebenden der Shoah und in diesem Falle von Eltern, die zwar nicht in einem deutschen Konzentrationslager waren, deren Leben aber dennoch durch die Verfolgung der Juden traumatisiert und fragmentiert wurde, mit den Ellipsen in den Erzählungen der Eltern auseinandersetzen müssen.
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Erinnerungstechniken der Schriftsteller nach der Shoah
Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist zu analysieren, welche rhetorischen Mittel Autoren der Nachkriegsgeneration anwenden, um sich der Shoah und der durch sie bedingten Ereignisse anzunähern. Amir Eshel plädiert, wie die
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Barbara Honigmann: »Verwechslung« In: Dies: SRF, S. 48–49.
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Autorin selber, für eine nachdrücklichere Analyse der Poetik, Metaphorik, Sprache und Rhetorik der Werke der deutsch-jüdischen Literatur statt einer rein inhaltsorientierten Betrachtung. Formale Grundstrukturen und Erzählstrategien aufzudecken würde laut Eshel »eine genauere Ortsbestimmung im Kontext der zeitgenössischen jüdischen Literatur in anderen Sprachen sowie […] im Kontext der deutschen (und europäischen) Gegenwartsliteratur erlauben«.17 Er selber hat beispielsweise in seinem Vergleich der Novellen Der Verlorene von Hans Ulrich Treichel und Honigmanns Soharas Reise auf die Redemittel der Ironie und Allegorie hingewiesen, die diese Autoren einsetzen, um den Verlust von Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus sprachlich adäquat wiederzugeben, ohne dabei vorzugeben, »dieser Geschichte eindeutigen Sinn, Bedeutung und Lehre abzugewinnen«.18 Seiner Meinung nach grenzen sich die Werke der nachgeborenen Generation deutlich ab von denen der ersten und erkunden neue literarische Formen, »die, jenseits aller sozialen und politischen Rezepte, der historischen Katastrophe, dem fortdauernden Verlust und der daraus resultierenden allgegenwärtigen Trauer einen poetischen Ausdruck verleihen könnten«.19 Treichel und Honigmann brächten »poetische und historische Trauer« zusammen, wobei sie nicht vorgäben, die Ereignisse zu verstehen.20 Auch Hartmut Steinecke hat sich in mehreren Aufsätzen dazu geäußert, welche Erinnerungstechniken und Schreibweisen jüdische wie nichtjüdische Vertreter der post-Shoah Generation anwenden, um sich mit dem zentralen Ereignis der Elterngeneration, dem Holocaust, von dem sie nur durch vermittelte Erinnerung wissen, auseinanderzusetzen.21 Wie Eshel stellt er fest, dass Ironie ein Hauptkennzeichen dieser Literatur sei, was unsere Analyse des Gesamtwerkes Honigmanns bestätigt. Ein Autor wie Maxim Biller arbeitet z. B. sehr viel mit ironischer Brechung oder satirischer Überspitzung, während Robert Schindel in Gebürtig oder Daniel Ganzfried in Der Absender ein komplexes Erzählverfahren wählen, »das sich der Naivität des traditionellen und des mimetischen Erzählens ebenso entzieht wie der Auflösung in Hermetismus, Metaphern, Chiffren«.22 In Bezug auf Honigmann bemerkt er, dass sie die 17
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Eshel, Die Grammatik des Verlusts (wie Einleitung, Anm. 14), S. 62. Die folgende Anthologie ist ein erster Schritt, englischsprachigen Lesern Zugang zu den Werken jüdischer Schriftstellerinnen aus ganz Europa zu verschaffen: Voices of the Diaspora. Jewish Women Writing in Contemporary Europe (wie Kapitel I, Anm. 19). Ebd., S. 63. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 74. Hartmut Steinecke: Die Shoah in der Literatur der »zweiten Generation«. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 135–153, hier S. 135. Ebd., S. 143. Zu Ganzfried vgl. auch Hans Otto Horch: Die Stimme des Vaters. Zu Daniel Ganzfrieds Roman Der Absender (1995). In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hg. von Sander L. Gilman und
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große Rolle, die die Shoah bei der Identitätsbildung eines immer säkularer werdenden Judentums einnimmt, in Frage stellt, was sich vor allem in Soharas Reise manifestiert. Wie unsere Analyse dieses Werkes ergeben hat, bietet die aus Algerien stammende Protagonistin des Romans eine alternative Sichtweise auf jüdische Identität und den Holocaust an, der für sie eben nicht das zentrale Ereignis ihres Lebens war. Ihre sich nach und nach festigende Identität basiert u. a. auf einem gelebten Judentum, das sich westeuropäische assimilierte Juden oft nur noch schwer vorstellen können. Diese nichtdeutsche Sicht auf die Shoah ist eine Dimension, die gerade durch diesen Roman die Werke der neuen jüdischen Literatur bereichert. Neben ironischer Brechung, dem Blick von außen auf Deutschland, der Vielfalt der Perspektiven, die immer auch die Position der Gegenwartsebene mit einbezieht, der Verweigerung eines Erzählkontinuums, das in Bezug auf die Shoah den Eindruck einer Sinnstiftung erwecken könnte, ist herauszustellen, dass für all diese Autoren der zweiten Generation die deutsche Sprache immer noch ein taugliches Medium ist, sich schreibend auszudrücken. Barbara Honigmann äußert sich vor allem in den Aufsätzen »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« aus Damals, dann und danach und »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« zu der Verwendung von Sprache in einer Welt nach der Shoah. Diese Gedanken helfen uns, diese Autorin im Kontext der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur zu verorten, da sie den Kern ihres Schreibens umreißen.
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In dem Aufsatz über ihre männlichen Vorfahren erkennt Honigmann, dass das Experiment der Assimilation gescheitert ist, da ihre Vorväter auf diesem Weg meistens »Ablehnung und Abstoßung« gefunden haben (DDD 45). Sie will aus diesem Kreis ausbrechen und in einer neuen anderen Sprache als ihre Ahnen schreiben, die auch allesamt entweder Schriftsteller oder Herausgeber von Zeitschriften waren. Sie bezeichnet ihre Lage als die einer Ratlosen, und sieht sich als »eher erschrockene Nachgeborene«, die sich trennen will, »am Rande bleiben, in der Entfernung« (DDD 45). Sie will zwar weiterhin auf Deutsch schreiben, aber mit anderen Worten: Keiner soll denken, daß ich mich bescheiden will, im Gegenteil, auch ich will von den »großen Dingen« sprechen, nur davon, von Exil und Erlösung, aber nicht in der Sprache der Vorkämpfer, die alles wissen und deren Worte ihre Ideen vor sich hertragen, sondern so wie es dem Ratlosen entspricht, der Worte sucht für die verstreuten Erinnerungen und vagen Bilder, die in seinem Innern herumschwimmen. Diese Worte findet er im Alltag, es sind eher die banalen Wörter »aus nichts«, die leicht Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie; 11), S. 108-117.
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weggeworfen werden und deshalb sowieso überall herumliegen, man kann sie einsammeln und (im Trend der Zeit) wiederbenutzen. (DDD 51)
Petra Renneke ist dieser Poetologie der Sprache Honigmanns nachgegangen und hat festgestellt, wie sehr sich ihre Gedanken mit denen von Gershom Scholem und Walter Benjamin decken. Renneke beschreibt den dreifachen Übersetzungsprozess, den Honigmann beim Lesen der Tora, bei ihrem Wunsch nach Berührung mit dem Text, durchläuft, wie sich also die rechte Bedeutung der Heiligen Schrift nur durch genaues Nachschlagen, durch Hinzuziehen von verschiedenen Quellen und durch Abwägen der verschiedenen Kommentare enthüllt. Honigmann überträgt zunächst die hebräischen Schriftzeichen in deutsche, auf der Grundlage der deutschen Übersetzung des Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch. In einem zweiten Schritt werden anhand der Kommentare von Raschi und anderen die zunächst unverständlichen Gebote der Tora ›übersetzt‹, in Form der wortgetreuen Übertragung. In einem dritten Schritt bindet Honigmann die Wörter an ihre verlorenen Kontexte zurück, aus denen sie häufig infolge von Säkularisierungsprozessen und falschen Deutungsmustern herausgelöst wurden, und restituiert dabei alte, verschüttete Wortbedeutungen. Denn Wörter wie »Grazie«, »ungraziös«, »Haltung«, »Offenbarung«, »Erlösung« geraten mehr und mehr aus säkularen Blickfeldern und finden sich erst in der Dichtung von Kleist, einigen anderen Dichtern und in der heiligen Schrift wieder.23
Versteckte Bedeutungen der Wörter freizulegen ist demnach ein Hauptanliegen der Autorin, deren Sprachsensibilität durch ihr Bibelstudium geschärft wird. Nach Scholem kann die große Krise der Sprache nur durch die Dichter und Kabbalisten überwunden werden. Beide verbindet »der Glaube an die Sprache als ein, wie immer dialektisch aufgerissenes, Absolutum, der Glaube an das hörbar gewordene Geheimnis der Sprache«.24 Die Kritiker bemerken die Besonderheit von Honigmanns Prosa. Vom ersten Werk an wird immer wieder auf ihren einzigartigen Sprachstil hingewiesen. Hier seien nur ein paar Beispiele angeführt. So rühmt Heide Soltau an Roman von einem Kinde die »klare, poetische Sprache«,25 Sabine Sütterlin die »naiv anmutende, einfache Sprache – die dennoch voller Überraschungen steckt«26, und Anton Krättli stellt fest: »Barbara Honigmanns Roman von einem Kinde ist nicht darum eine Entdeckung, weil darin weibliches Erleben mitgeteilt wird, sondern weil sie die Wörter und den Ton findet, ihre Wirklichkeit richtig auszudrücken«.27 Volker Breidecker ist beeindruckt von der Sprache ihres letzten biographischen Romans: 23
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Petra Renneke: Erinnerte Kindheit im Labyrinth der Sprache. Barbara Honigmanns Roman »Alles, alles Liebe!« In: Weimarer Beiträge 50 (2004), H. 2, S. 242–265, hier S. 254. Scholem, zitiert nach Renneke, ebd., S. 259. Soltau, Sprung ohne Netz (wie Kapitel II, Anm. 1). Sütterlin, Vom Fremdsein (wie Kapitel II, Anm. 29), S. 53. Krättli, Das Leben buchstabieren lernen (wie Kapitel II, Anm. 31), S. 47.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
Es ist eine unerhörte Sprache, die so wirkt, als sei sie nicht geschrieben, sondern gesprochen, obwohl sie außerhalb von Honigmanns Büchern nirgendwo mehr zu hören ist: Ein lebendiges, unaufdringlich hervorquellendes Parlieren im entspannten, umgänglichen Plauderton, aus dem noch ein leises Berlinern herauszuhören ist, ganz unberührt von jeder Abnutzung durch den formlosen und saloppen Alltagsjargon, welcher das Gros der Gegenwartsliteratur regiert.28
Schon in ihrer allerersten Erzählung »Roman von einem Kinde« spricht Babu genau davon, was Breidecker als das Besondere von Honigmanns Sprache hervorhebt, nämlich »eine andere Sprache zu sprechen und seine Muttersprache nur noch heimlich mit sich herumtragen und nicht so ausgeben jeden Tag wie Allerweltsware« (RK 38). Das Bewahren der Muttersprache wie einen Schatz, das Erkennen ihrer Besonderheit, zeugt von einem Urvertrauen Honigmanns in die deutsche Sprache, die angesichts der Verunglimpfung des Deutschen durch die Nationalsozialisten bemerkenswert ist. Erich Hackl möchte die scheinbare Naivität ihrer Prosa lieber Grazie nennen und erkennt, dass sie das Ergebnis langer, mühevoller Arbeit ist. In Bezug auf Kleists Aufsatz über das Marionettentheater, in dem ein Jüngling vergeblich versucht, seine graziöse Haltung ein zweites Mal einzunehmen und erst nach einem Gang durch alle Schichten des Bewusstseins wieder imstande ist, die verlorene Unschuld, die Grazie, wiederzuerlangen, meint Hackl: »Barbara Honigmann, der diese Unschuld, wie uns allen, vor langem abhanden kam, schreibt wie in der Gnade neu gewonnener Unschuld«.29 Neben dem Vertrauen in die Sprache muss ein Schriftsteller auch passioniert sein über die Themen, die er bearbeiten will. Honigmanns Theorie ist, dass ein Autor immer nur ein Thema hat, um das sein Werk kreist und das sein
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Volker Breidecker: Nah an der Wahrheit lügen. Barbara Honigmann erzählt von ihrer ungreifbaren Mutter. Rezension von »Ein Kapitel aus meinem Leben«. In: Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 2004. Hackl, Gang und Grazie (wie Kapitel IV, Anm. 5). Auch Martin Lüdke nimmt in seiner Rezension von Soharas Reise auf Kleists Aufsatz Bezug und versucht, Parallelen zwischen Isaak B. Singer und Honigmanns Prosa herzustellen, ist aber eher skeptisch, ob ihr das gelingen kann: »Sie sucht, wie einst Kleist in seinem Aufsatz vom Marionettentheater, die Unmittelbarkeit durch die Reflexion hindurch zu erreichen. Naturgemäß kann das nicht immer gut gehen. Die Naivität wirkt manchmal nur aufgesetzt. Mit diesem Problem hat sich auch Isaak B. Singer herumschlagen müssen. Das Ostjudentum, dessen Vermächtnis in seinen Romanen und Erzählungen aufbewahrt ist, hatte eine Frömmigkeit hervorgebracht, an der sich auch Barbara Honigmann orientiert. In dieser Mystik passen Gelehrsamkeit und Naivität zusammen. Bei Singer lassen sich, noch vor dem Holocaust, die Auflösungserscheinungen des Ostjudentums ablesen. Barbara Honigmann will, aus verständlichen Gründen, dahinter zurück. Das kann zwar nicht gut gehen. Aber es lässt sich gut lesen.« Martin Lüdke: Barbara Honigmanns »Soharas Reise«. In: LeseZeichen – Das Bücherjournal, Radio Bremen, 18. Mai 1996, 16:05–17:00. Skript im Zentralarchiv Heidelberg, Serie B 2/6.
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Schreiben bestimmt. In ihrem Fall drängt sich die Familiengeschichte auf, die symptomatisch für die Geschichte der deutschen Juden steht: Es war eine Geschichte, die von vergeblicher Liebe handelte, vom Abstand zwischen großen Erwartungen und der Erfüllung dieser Erwartungen, den riesigen Anstrengungen und Unternehmungen und dem Haschen nach Wind. Es war die Geschichte von den gescheiterten Hoffnungen meines Urgroßvaters, meines Großvaters und meines Vaters und natürlich ebenso von denen meiner Urgroßmutter, meiner Großmutter und meiner Mutter, nur die haben darüber keine Bücher geschrieben. Diese Geschichte ist geprägt von existentiellen Erfahrungen und keinesfalls nur jüdischen, doch sind sie vielleicht in der jüdischen Erfahrung ausgeprägter, katastrophaler. (DDD 50)
In Frankreich, das sie zweimal in diesem Essay »das Land der Freiheit« nennt, begann sie 1984, schreibend die Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern aufzuarbeiten. Sie genießt es, dass ihre Identität dort selbst bestimmt und nicht wie in Deutschland von außen aufgezwungen ist. Neben der neuen Sprache, die sie benutzen will, neben der Enthüllung ihrer Themen, gibt es noch einen dritten Punkt, der entscheidend in dem Aufsatz über die Vorfahren ist, und das ist die Verbindung zwischen Schriftstellertum, Exil und Judesein: Ich begriff, daß Schreiben Getrenntsein heißt und dem Exil sehr ähnlich ist, und daß es in diesem Sinne vielleicht wahr ist, daß Schriftsteller sein und Jude sein sich ähnlich sind, wie sie nämlich vom Anderen abhängen, wenn sie auf ihn einreden, mehr oder weniger verzweifelt. Es gilt ja auch für beide, daß eine zu große Annäherung an den Anderen für sie gefährlich ist, und eine völlige Übereinstimmung mit ihm ihren Untergang befördert. (DDD 47)
Dieser ›Kein Ort. Nirgends‹,30 wohin sie gehört, ist ihr Schreibtisch; sie braucht weder die geographische Verankerung mit Deutschland, dem Land, in dessen Sprache sie schreibt, noch diejenige mit Israel, um sich als Jüdin zu fühlen.31 In der Diaspora findet sie genau die notwendige Distanz zu Deutschland und die Reibungsflächen, aus denen sich ihr Schreiben nährt.32 30
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Mit dieser Definition, der deutschen Übersetzung von ›Utopie‹, bezeichnete Christa Wolf den fiktiven Ort, an dem sie Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode in dem gleichnamigen Roman zusammentreffen lässt. Später in Damals, dann und danach schreibt sie: »Wir praktizieren unser Judentum in einer Weise, die wir ›koscher light‹ nennen, und wir grenzen uns deutlich von denen ab, die eine Pilgerfahrt nach Jerusalem oder nach Auschwitz unternehmen müssen, um sich als Juden fühlen zu können« (DDD 68). Galili Shahar kommentiert: »For her, the topography of writing is that of being on the outside. In this sense, her work indeed carries the name-of-the-(Jewish-) father, that is, the meaning of a Jewish name as a sign of foreignness. For Honigmann, the writing itself, the script, must embody the fact of homelessness. [...] ›Three streets behind the border‹ is not simply the description of a place; it is a sign of a negative topography, the name of a place that is beyond the placement of language itself. Honigmann’s decision to leave Germany is, therefore, a meto-
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
»Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens«
Im Zusammenhang mit diesem sehr persönlichen Essay muss Barbara Honigmanns Aufsatz »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« gelesen werden. Dort greift sie drei jüdische Schriftstellerinnen aus verschiedenen Zeitepochen heraus und versucht zu erkunden, ob sie als Nachgeborene etwas gemeinsam hat mit diesen schreibenden Frauen. Sie beginnt mit den Memoiren der Glückel von Hameln, der Frau eines Hamburger Geschäftsmannes, die von 1645 bis 1724 in einer Zeit lebte, wo die Juden abgetrennt von der Mehrheitsgesellschaft in Judenvierteln wohnten, und noch weit von der Emanzipation des auslaufenden 18. und 19. Jahrhunderts entfernt waren. In ihren »Denkwürdigkeiten«, die sie ab 1689, nach dem Tode ihres ersten Mannes aufschrieb, erscheinen die nichtjüdische Welt und Weltgeschichte nur am Rande; sie ist nie Grenzgängerin zwischen diesen zwei Welten gewesen, wie es die Frauen der Romantik bald sein sollten. Danach untersucht Honigmann die zwiespältigen Gefühle der Rahel Levin, die das Judentum bereits »als Schande, als Makel, als Unglück« empfand und für die die jüdische Welt nur noch als schlechte Erinnerung existierte.33 Mit scharfen Worten kritisiert Honigmann die Forderungen der christlichen Mehrheitsgesellschaft, die den Juden nur dann Einlass gewährte, wenn sie »ihr Judentum ein für allemal an der Garderobe« abgaben.34 Diese zwiespältige Zeit, in der sich trotz der formalen Gleichstellung der Juden ab 1812 die Spannungen zwischen Juden und Christen erhöhten, kommentiert die Autorin mit den Worten: Deutscher Patriotismus, Nationalismus und Antisemitismus, die offensichtlich immer zusammengehörten, überschwemmen die deutschen Gemüter, und sie scheinen die Juden um so mehr zu verachten, je emanzipierter sie sind und je deutlicher die Juden selbst ihr Judentum nur noch als Makel, als »Schande der Geburt« empfinden.35
Von den Briefen Rahels springt Honigmann zu Anne Franks Tagebuch, an dem sie zunächst bemerkenswert findet, wie Otto Frank bestimmte Passagen geglättet hat und zwar nicht nur die erotischen, sondern vor allem die, die das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden betreffen und die dann in der deut-
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nymical one, documenting the need for displacement.« Galili Shahar: Figurations of Unheimlichkeit. Homelessness and the Identity of »Jews« in Sebald, Maron, and Honigmann. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 3 (2004), S. 28– 45, hier S. 42f. Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14), S. 837. Ebd., S. 837. Ebd., S. 839.
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schen Übersetzung viel harmloser klangen als sie es im Original gewesen waren.36 Wichtiger aber ist die Schlussfolgerung: Die aufgeklärte, moderne Welt hatte sich als mörderische Feindesmacht entpuppt, sie ließ den Juden nun nicht einmal mehr die Wahl zwischen Taufe und Tod. Die Familie Frank aus Frankfurt am Main konnte vor dieser Macht nur noch fliehen, sich vor ihr verstecken, sich bemühen, ihre Sprache hinter sich zu lassen, und wurde schließlich doch von ihr eingeholt. Dann kam das gewaltsame Ende. Es war das gewaltsame Ende der deutsch-jüdischen Geschichte und Literatur.37
Honigmann fragt sich, ob sie sich in ihrer Eigenschaft als deutsch-jüdische Schriftstellerin auf diese Autorinnen berufen kann, und kommt zu dem Schluss, dass sie erstens ähnliche Themen bewegen wie ihre Vorgängerinnen, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen, und dass sie zweitens – wie diese Schriftstellerinnen – die Welt von der Sichtweise einer marginalisierten Person aus betrachtet: Ich habe sie gesucht, weil ich wissen wollte, ob sie mir ähnlich sind, ob wir noch etwas gemeinsam haben, ob ich vielleicht auch zu dieser »ganz kleinen Literatur« 36
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Honigmann schreibt: »Die gravierendste Veränderung allerdings findet sich im ›Prospekt und Leitfaden des Hinterhauses‹, einer Art Hausordnung, in der das Zusammenleben der Untergetauchten in verschiedenen Punkten auf ironische Weise reglementiert wird. Unter der Rubrik ›Sprachen‹ lesen wir im Original: ›[. . .] erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.‹ In der deutschen, und nur in der deutschen Fassung ist daraus geworden: ›Alle Kultursprachen … aber leise!!!‹« (ebd., S. 841). In der ungekürzten Fassung des Tagebuchs, vom Fischer Verlag 1992 herausgegeben, ist dieses Vergehen behoben. Anne Frank Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Übersetzt von Mirjam Pressler. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1996 (Fischer-Taschenbücher; 11377), S. 80. Siehe zu der problematischen Geschichte der Übersetzung des Tagebuchs das Kapitel »Anne Frank« in Tim Coles Selling the Holocaust. From Auschwitz to Schindler. How History is Bought, Packaged, and Sold (New York: Routledge 1999, S. 23–46). In Honigmanns erster Züricher Poetikvorlesung über autobiographisches Schreiben ist ebenfalls von diesem Tagebuch die Rede. In bitterem Ton schreibt sie: »Wahrscheinlich ist es auch deshalb so berühmt geworden und hat viele andere Zeugnisse für lange Zeit verdrängt, weil es, zumal in der geglätteten Form, in der es zunächst erschien, den nichtjüdischen Europäern – Juden gab es ja nun nicht mehr – eine sozusagen noch halbwegs zivile Vorgeschichte des von ihnen veranstalteten oder geduldeten Judenmords präsentierte und so leichter konsumierbar war« (DGW 50). Dies erinnert an Raul Hilbergs Darstellung des Vernichtungsprozesses in drei Stufen, die er in dem Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden darlegt: Stigmatisierung, Gettoisierung und Vernichtung. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich nach seinen Untersuchungen die antijüdischen Maßnahmen verschärft, denn früher waren Konversion und Vertreibung zumindest möglich: »Die Missionare des Christentums erklärten einst: Ihr habt kein Recht, als Juden unter uns zu leben. Die nachfolgenden weltlichen Herrscher verkündeten: Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben. Die deutschen Nazis schließlich verfügten: Ihr habt kein Recht, zu leben.« Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt a. M.: FischerTaschenbuch-Verlag 1991, Bd 1, S. 15.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
des Randes, der unbequemen Randposition gehöre; und weil mein Schreiben vielleicht auch nur etwas wie ein autobiographisches Schreiben zwischen Enthüllen und Verstecken ist, in einer ständigen, vielleicht zwanghaften Konfrontation mit der zum großen Teil auferlegten Familien- und Lebensgeschichte, einer dauernden Introspektion in dieses Leben.38
Neben dem Hinweis auf die zwei Pole des Enthüllens und Versteckens, unter denen diese Arbeit das Werk Honigmanns analysiert hat, spielt die Autorin mit der »ganz kleinen Literatur des Anvertrauens« auf den von Kafka geprägten und Deleuze und Guattari aufgenommenen Begriff der »kleinen Literatur« an. Dieses Konzept wurde in der Literaturkritik vor allem auf die von Minderheiten geschriebenen Werke angewandt, wie beispielsweise auf die deutschtürkische oder eben die deutsch-jüdische Literatur. Die »kleine Literatur« ist erstens gekennzeichnet durch sprachliche Deterritorialisierung, d.h. im Falle Kafkas, dass er in einer tschechisch-sprachigen Umgebung auf Deutsch schrieb; des weiteren zeichnet sie sich durch ihren politischen Charakter aus, und schließlich tendiert sie dazu, allen Äußerungen kollektiven Wert zukommen zu lassen.39 Honigmann geht nun einen Schritt weiter und kreiert eine Unterkategorie innerhalb der kleinen deutsch-jüdischen Literatur. Mit der »ganz kleinen Literatur der Anvertrauens« meint sie vor allem Genres, in denen die von ihr aufgeführten Frauen schrieben: Diese »ganz kleine Literatur« ist vielleicht nicht ganz, nicht wirklich »richtige« Literatur, weil sie auch keine »ganz richtige« Kunstform kennt, sondern in einer sozusagen vorliterarischen Form des persönlichen Anvertrauens, des Erinnerns, des Briefs, des Tagebuchs geschrieben ist – für keinen Nachruhm, und gerade deshalb so unnachahmbar direkt und eindringlich. [...] Das anvertrauende Schreiben des Erinnerns, des Tagebuchs, des Briefs kennt nichts Diskursives, verwendet keine abstrakten Begriffe, verliert sich selten im Allgemeinen, kommt aus der Anschauung und bleibt bei der Beschreibung, immer in einer Art Selbstgespräch und Selbstbefragung, wie es der Erinnerung, dem Brief und dem Tagebuch eigen ist, und nur manchmal kommentierend: [...].40
Ihre Bezeichnung dieses Stils als »vorliterarisch« ist sicher ironisch gemeint; auch die Vorbehalte, die wohl eine auf klare Genregrenzen pochende Literaturkritik gegen diese nicht ganz »richtige« Literatur hätte, sind ihrer Meinung nach zu überwinden. Sie plädiert hier m. E. für ein entschiedeneres Anerkennen dieser literarischen Zwischenformen, derer sie sich selber bedient. Die sprachliche Deterritorialisierung, von der Deleuze und Guattari sprechen, manifestiert sich bei allen drei Frauen. Glückel und auch Rahel in ihrer 38 39
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Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14) , S. 843. Gilles Deleuze and Félix Guattari: Kafka. Toward a Minor Literature. Trans. by Dana Polan. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1986 (Theory and History of Literature; 30), S. 16f. Honigmann, Eine »ganz kleine Literatur« des Anvertrauens (wie Einleitung, Anm. 14), S. 832.
6 »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens«
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Jugend schrieben auf Jüdisch-Deutsch; erst durch Bertha Pappenheim wurden Glückels Aufzeichnungen 1910 ins Hochdeutsche übertragen. Rahels Deutsch ist laut Honigmann bisweilen regellos, sperrig, von französischen Wörtern durchsetzt und klingt wie eine von ihr erfundene Kunstsprache.41 Anne Frank dokumentiert in fehlerhaftem Niederländisch die Spannungen von deutschen Juden, die verzweifelt versuchten, Deutschland und die Sprache ihrer Heimat hinter sich zu lassen, nur um in emotionalen Krisenmomenten in die deutsche Muttersprache zurückzufallen. Trotz oder vielmehr wegen dieser übersetzten oder gerade erst gelernten Sprache machen diese Zeugnisse einen Eindruck auf uns, weil sie zum einen von einzigartigen Erlebnissen in extremis erzählen, zum anderen aber auch vom Alltag der Zeit. Wenn Honigmann vom Ende der deutsch-jüdischen Literatur im Jahre 1944 spricht, so fragt man sich, wo sie sich selber platziert und warum sie mit keinem Wort zeitgenössische jüdische Schriftsteller wie Schindel, Menasse, Behrens oder Dischereit erwähnt? In welcher Hinsicht ist ihre Literatur ähnlich und anders als die ihrer Vorgängerinnen? Sie sieht sich als eine der letzten Repräsentantinnen eines deutschen Judentums, als jemanden, der im Gegensatz zu Rahel Varnhagen sich nicht wegbewegte von der Religion, sondern sich ins Judentum hineinbewegte und im Studium der Tora den für sie einzig möglichen authentischen Weg einschlug. Sie schreibt nach der Shoah im selbstgewählten Exilland Frankreich auf Deutsch. Auch sie ist also deterritorialisiert, wobei die Betonung auf »selbstgewählt« liegt, denn während Kafka in eine deterritoriale Situation hineingeboren wurde, ist Honigmann freiwillig nach Frankreich ausgewandert. Sie hat ein Urvertrauen in die deutsche Sprache und wurde von Goethe, Kleist, den Grimmschen Märchen und der deutschen Romantik geprägt, obwohl sie sich bewusst ist, wie sie schreibt, »daß die Herren Verfasser wohl alle mehr oder weniger Antisemiten waren« (DDD 18). Wie ihre Vorgängerinnen benutzt sie vorzugsweise kleine Genres, wobei die Briefform in Honigmanns Œuvre dominiert. Aber auch die Tagebuchform verwendet sie am Ende ihres Romans Eine Liebe aus nichts auf originelle Weise, indem sie die Aufzeichnungen des Vaters der Erzählerin, die er gleich nach dem Krieg in Ostberlin aufschrieb, nach dessen Tod mit denen der Erzählerin verfließen lässt. Damit betont sie zum einen die Verbundenheit der Generationen durch Geschriebenes und Gelesenes und zum anderen die Wichtigkeit des Alltags, der für ihre jüdischen Vorgängerinnen ebenfalls von eminenter Bedeutung ist. In allen Werken Honigmanns ist vom jüdischen Alltag die Rede, von Bräuchen, die vielfach nebenbei beschrieben werden und das Gefühl vermitteln, dass es ihr darauf ankommt, dieses für nichtjüdische Leser eventuell »exotische« Leben zu entmystifizieren. Am Ende des Artikels »Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens« gibt Honigmann zu, einer der Gründe, aus denen sie schreibt, sei ihre »kleine Rache«. Indem sie schreibt, vergewissere sie sich und der Welt, dass sie noch da 41
Ebd., S. 832, S. 838.
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VIII Die Poetologie der Erinnerung
und eben gerade nicht zerstört sei. Diese Aussage lässt uns ahnen, welch schreckliches Gefühl der Einsamkeit und der Distanz diese Nachgeborene der Shoah zum deutschsprachigen Publikum fühlen muss. Aber sie sucht, wie das folgende Zitat verdeutlicht, dort auch nach Berührung, wie Rahel Varnhagen 200 Jahre vorher: Auf dem Grund des Schreibens liegt ein immerwährendes Gefühl des Verletztseins, des Trotzes. Ich finde darin eine Art Trost, weil es mir beweist, daß ich noch da bin, daß ich, indem ich mich schreibend anvertraue, auch Vertrauen gewinnen kann, daß ich eine Verbindung und vielleicht sogar Bindungen »nach draußen« schaffen kann, Bindungen und Verbindungen, die mich auch festhalten. Ich könnte sagen, mein Schreiben ist der Versuch, Fassung zu gewinnen und zu bewahren.42
Damit meint sie, in Worte zu fassen, was sie bewegt, diese Gedanken in eine angemessene Form zu bringen und mit den Traditionsbrüchen, die es nach der Shoah in der deutsch-jüdischen Literatur gab und mit denen sich ihre Vorgängerinnen nicht auseinanderzusetzen brauchten, fertig zu werden. Zusammenfassend ist zu sagen, dass bedeutende Charakteristika der ›ganz kleinen Literatur des Anvertrauens‹ für Honigmann die Wichtigkeit der Familiengeschichte, des Alltags und des Erinnerns sind. Ihr postmoderner Stil besteht aus einer Collage von Erinnerungen, Wiedergabe von gehörten Erzählungen, Einmontieren von Briefen, Zitaten aus ihr wichtigen Büchern, Grabinschriften, Tagebuchaufzeichnungen, kurz, aus einer Vielfalt von Stimmen, die es den Lesern ermöglicht, sich die einzigartigen Lebensgeschichten, die sie beschreibt, vorstellen zu können. Wenn wir Deleuze und Guattaris dritten Punkt betrachten, in kleinen Literaturen bestehe die Tendenz, dass allen Äußerungen kollektiver Wert zukomme, muss man allerdings feststellen, dass Honigmann mit Sicherheit nicht für die Mehrheit der heutzutage auf Deutsch schreibenden Juden spricht, da ihre Perspektive durch ihre Rückkehr ins gelebte Judentum geprägt ist, die nur wenige mit ihr teilen. Für sie war und ist Deutschland kein akzeptabler Ort, ihr Judentum zu leben; seit ihrer Ausreise 1984 hat sich allerdings einiges im Lande verändert, vor allem die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Die Zahl der heute in Deutschland lebenden Juden ist durch das Öffnen des eisernen Vorhanges und der damit einhergehenden Emigration vieler russischer Juden bedeutend gestiegen. Rein zahlenmäßig gesehen gibt es also Grund zur Hoffnung auf eine Belebung der jüdischen Kultur in Deutschland. Jedoch existierten durch die Unterdrückung der Religionsfreiheit und den vorherrschenden Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion nur beschränkte Möglichkeiten, dort ein lebendiges Judentum zu pflegen. Die jüngere Generation müsste also die Religionspraktiken wieder erlernen oder sich zufrieden geben mit einem kulturell definierten Judentum. Es bleibt abzuwarten, ob Barbara Honigmann wirklich eine der letzten Repräsentantinnen eines deutschen Judentums ist, oder ob sich nicht auch in Zukunft 42
Ebd., S. 844.
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jüdische Schriftsteller zu Worte melden, die vielleicht nicht aus Deutschland kommen, sich aber der deutschen Sprache bedienen und Deutschland als Wohnort gewählt haben –Wladimir Kaminer wäre ein Beispiel –, um die deutsche Literaturszene durch ihre Pluralität von Stimmen zu beleben.
Literaturverzeichnis
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Danksagung
Dieses Projekt nahm seinen Anfang, als ich Barbara Honigmann im Rahmen eines Fulbright Summer Studies Programmes im Sommer 2000 in Berlin aus Damals, dann und danach lesen hörte und inspiriert wurde, eine längere Arbeit über sie zu schreiben. Ich bedanke mich bei dem Fulbright Programm für die großzügige Unterstützung während dieser drei Wochen. Western Washington University gewährte mir ein Sabbatjahr (2003-2004), während dessen ich Materialien im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg sammeln und die Forschungsarbeiten beginnen konnte. Außerdem unterstützt das Office for Research and Sponsored Programs meiner Universität die Drucklegung dieser Monographie. Ich möchte mich für die herzliche Aufnahme im Zentralarchiv bei Peter Honigmann und seiner Sekretärin Eva Blattner, die einen Monat lang unermüdlich Dokumente für mich kopierte, bedanken. Meiner Schwester Gabi Schug-Fuchs, die mir den Aufenthalt in Heidelberg finanzierte, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt. Barbara Honigmann hat mich großzügigerweise zu sich in ihre Wohnung in Straßburg eingeladen, wo wir ein mir unvergessliches Gespräch über ihre Werke führten. Vielen Dank dafür! Bei Hans Otto Horch und seiner Mitarbeiterin Doris Vogel möchte ich mich ganz herzlich bedanken für die Veröffentlichung dieser Arbeit in der Reihe »Conditio Judaica«, den tatkräftigen technischen Beistand und den freundlichen Empfang in Aachen. Mein Mann David B. Fiero hat mich seit Beginn meiner akademischen Laufbahn in all meinen Forschungsvorhaben unterstützt. Ihm gilt mein besonderer Dank. Ich widme diesen Band meinen Eltern Edda und Alfred Schug, die mich mein ganzes Leben lang zum Lesen, Lernen und Forschen ermutigten und das Entstehen dieses Buches mit regem Interesse verfolgten.
Personenregister
Abusch, Alexander 166 Adenauer, Konrad 163 Adler, Fanny 128 Agnon, Shmuel Yosef 134, 136 Ahren, Yizhak 22 Améry, Jean 141 Arafat, Yassir 141 Arens, Marianne 85 Arnim, Achim von 156 Arnim, Bettina von 16 Arnold, Heinz Ludwig 57 Assall, Paul 10–11 Assmann, Jan 31 Baal Schem Tow 97 Barol, Moses 29 Barthes, Roland 131 Baumann, Christiane 159 Becker, Jurek 144 Behrens, Katja 2, 12, 55, 69, 106, 149, 197 Benjamin, Brunella 122 Benjamin, Walter 42, 172, 191 Benn, Gottfried 42 Bhabha, Homi 49 Biermann, Wolf 10, 152 Biller, Maxim 2, 12, 106, 189 Birrer, Sibylle 181 Bismarck, Otto von 8 Bleichrode, Isaak 23 Bober, Robert 50–51 Boesch, Ina 38, 136 Börne, Ludwig 146 Brasch, Thomas 14
Braun, Michael 3, 8, 48, 95 Braun, Volker 151 Breidecker, Volker 191–192 Brentano, Clemens 156 Brion, Friederike 60 Bruyn, Günter de 154 Bubis, Ignaz 72 Buff, Charlotte 60 Burgess, Guy 161, 168 Buturlin, Schura 167 Cohen, Albert 13–14 Cohn-Sherbok, Dan 92, 94, 98 Cole, Tim 195 Corbin, John 153 Cullen, Michael 116 Danielle, Jean 91 Deleuze, Gilles 13, 196, 198 Demirkan, Renan 20 Dietschreit, Frank 83–84, 91, 106 Diner, Dan 69, 149 Dische, Irene 47 Dischereit, Esther 2, 12, 47, 69–70, 106, 183, 197 Domin, Hilde 57, 121 Donahue, William Collins 93–94, 100, 106 Doubrowski, Serge 183 Dresen, Adolf 8 Eckart, Gabriele 153 Eichendorff, Josef von 37 Eik, Jan 173
216 Elon, Amos 130 Emmerich, Wolfgang 151 Epkes, Gerwig 84 Epstein, Daniel 136 Eshel, Amir 3–5, 90, 188–189 Fachinger, Petra 20, 35, 42 Fassbinder, Rainer Werner 116 Feinberg, Anat 40, 49–50 Felstiner, Mary Lowenthal 186 Fiero, Petra S. 41, 115, 139 Finkielkraut, Alain 141, 150 Finney, Gail 154 Fleischmann, Lea 2, 144 Fox, Thomas C. 166 Franco, Francisco 45, 54 Frank, Anne 4, 112–113, 130, 133, 194–195, 197 Frank, Otto H. 194 Frenkel, Ulrike 159 Friedrich, Caspar David 9, 43 Fries, Marilyn Sibley 3, 20, 22–23, 39 Ganzfried, Daniel 2, 12, 189 Geheeb, Paul 56 Geheeb-Cassirer, Edith 56 Gide, André 131 Gilman, Sander L. 1–4, 47, 49, 66, 77, 112, 143, 186 Ginzburg, Natalia 155 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 42, 53, 59–63, 71, 155, 197 Goetschel, Willi 60 Goldhagen, Daniel Jonah 25 Gorman, Robert F. 140 Görres, Joseph 156 Graetz, Heinrich 29 Grimm, Jacob 156 Guattari, Félix 13, 196, 198 Guenther, Christina 3, 110 Günderode, Karoline von 154–155, 193 Günther, Petra 28–29
Personenregister
Hackl, Erich 84, 192 Hafner, Philipp 152 Hameln, Glückel von 4, 128, 133, 194, 196–197 Harding, Luke 160 Hartewig, Karin 58–59, 163–164 Härtling, Peter 55 Hasenclever, Michael 7, 13, 53, 114–115, 118, 134 Heine, Heinrich 16, 28, 128 Henisch, Peter 55 Herf, Jeffrey 58, 141, 163, 165–166 Hermann, Matthias 117 Hermlin, Stephan 154 Hertz, Deborah 156 Herz, Henriette 140 Herzog, Todd 3, 49, 75 Hilberg, Raul 195 Hillesum, Etty 185 Hirsch, Marianne 125, 160, 169, 188 Hirsch, Samson Raphael 191 Hitler, Adolf 20, 64 Hoffman, Eva 74, 110 Hoffmann, Ernst 163 Hölderlin, Friedrich 64, 77 Homer 121 Honecker, Erich 141, 151 Honigmann, Georg 7, 55–57, 128, 161, 163–164, 167, 169, 171–173, 178 Honigmann, Lizzy 5, 7, 13, 125– 126, 159–162, 164–165, 167–168, 170–171, 173–174, 178, 180–182 Honigmann, Peter 10–11, 24, 34, 61, 70, 115, 117 Horch, Hans Otto 3, 11, 23, 121 Jacoby, Jessica 13 Jäger, Manfred 44 Kacandes, Irene 125 Kafka, Franz 59, 196–197 Kahlo, Frida 53
217
Personenregister
Kahn, Siegbert 165 Kaminer, Wladimir 199 Karl August 59 Kather, Ulrike 121 Kedveš, Alexandra 185 Keller, Gottfried 42 Kersten, Paul 55 Keßler, Mario 165 Kirsch, Sarah 154 Kleist, Heinrich von 9, 13–14, 36, 42, 53, 97, 114, 119–120, 154, 156–157, 186, 191–193, 197 Klitgård Povlsen, Steen 59 Knightley, Phillip 173 Koch, Gertrude 186 Köhler, Andrea 36 Kollmann, Gisella 160, 174 Kollmann, Israel 160, 164, 175 Krättli, Anton 30, 191 Krüger, Ingrid 134 Kuschel, Andrea 2, 6 Laclos, Choderlos de 155, 181 Langenhorst, Georg 54–55 Lasker-Schüler, Else 9, 53, 186 Lennox, Sara 154 Leon, Moses de 94 Levetzow, Ulrike von 60 Levi, Bernhard Henry 91 Levi, Primo 57 Lévinas, Emmanuel 185, 187 Lezzi, Eva 135, 183 Libeskind, Daniel 53–54, 125 Lorca, Federico García 69, 152– 153, 156 Lorenz, Dagmar C. G. 3, 16, 21, 112–113 Lüdke, Martin 192 Lüpkes, Claus 140–141, 155 Lützeler, Paul Michael 139, 148 Maclean, Donald 161, 167–168 Magenau, Jörg 179
Mann, Heinrich 181 Mann, Thomas 132 Marcus, Dorothea 184 Marquardt, Fritz 8 März, Ursula 48 Mattenklott, Gert 146–147 May, Gisela 8 Mayer, Hans 141 Mayer, Susanne 181–182 Mazenauer, Beate 114 Meckel, Christoph 55 Menasse, Robert 2, 12, 14, 106, 197 Mendelsohn, Daniel 90 Merker, Paul 165 Mertens, Lothar 61, 123 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch 8, 166 Molière 91, 95 Morgner, Irmtraud 154 Nádás, Peter 125 Nekritsch, Alexander 167–168 Nickisch, Reinhard M. G. 156 Nietzsche, Friedrich 31 Nolden, Thomas 1–3, 12, 27, 33, 35–36, 55, 66, 75, 117, 122, 124, 129, 142, 182 Noll, Chaim 2, 41, 117, 120, 124, 129 Noll, Dieter 117, 129 Nolte, Ernst 116 Novalis 36 Obermann, Peter 11 Oetter, Barbara 178 Ostow, Robin 153 Ottenbreit, Melanie 116 Papacek, Ellen 3, 45, 48, 67, 80, 86, 100, 102, 104, 106 Pappenheim, Bertha 197 Pasche, Wolfgang 145 Peck, Jeffrey 3, 83, 94
218 Perec, Georges 35, 50–51, 125 Philby, Kim 5, 13, 127, 159, 161, 171–174, 178, 182 Plenzdorf, Ulrich 151, 154 Pohl-Braun, Ulrike 48 Proust, Marcel 42 Pulver, Elsbeth 15 Rabinovici, Doron 2, 12 Raczymow, Henri 170 Raschi 23, 30, 65, 191 Rehmann, Ruth 55 Reichlin, Susanne 7, 187 Reich-Ranicki, Marcel 15–16, 18, 27 Remmler, Karen 1–3, 47, 56, 66, 77, 126, 172 Renneke, Petra 3, 37, 52, 110, 171, 191 Richardson, Samuel 155 Richarz, Monika 73 Rilke, Rainer Maria 45–46, 66 Rivera, Diego 53 Rosenberg, Ethel 166 Rosenberg, Julius 166 Roth, Joseph 20 Rousseau, Jean-Jacques 155 Rousset, David 1 Salomon, Charlotte 186 Sartre, Jean-Paul 113 Schachtsiek-Freitag, Norbert 22 Schadow, Johann Gottfried 8 Schäfer, Andreas 114 Scheidt, Korinna 3, 14 Schindel, Robert 2, 12, 106, 189, 197 Schinkel, Karl Friedrich 8 Schleef, Einar 14 Schneider, Richard Chaim 8, 12, 116 Schocken, Jeanette 14, 133, 185– 186
Personenregister
Schoeps, Julius H. 73, 93 Scholem, Gershom 21–24, 28–29, 34, 36, 42, 70–71, 122, 126, 188, 191 Scholem, Werner 28 Schoppmann, Claudia 13 Schreiner, Christoph 181 Schruff, Helene 1, 3, 26 Schulz, Genia 186 Schumacher, Kurt 163 Seligmann, Rafael 2, 12, 37, 55 Shahar, Galili 193–194 Sichrovsky, Peter 33 Simon, Marcus 91 Singer, Isaak B. 192 Slánský, Rudolf 145, 166 Soltau, Heide 15, 191 Spiegelman, Art 35, 171 Stalin, Josef 20, 163, 167 Steinecke, Hartmut 1–4, 49, 77, 112, 124–125, 127, 186, 189 Steiner, George 137 Stendhal 185 Stern, Frank 59, 112, 116, 145 Stern, Guy 3, 16, 74 Stern, Susan 64, 72–73 Stürzer, Anne 184 Suleiman, Susan Rubin 125 Sütterlin, Sabine 29, 191 Tasso, Torquato 62 Tekinay, Alev 87 Thews, Klaus 9 Thomalla, Ariane 9, 12, 29, 184 Thull, Françoise 85 Thuswaldner, Anton 95 Timm, Angelika 140 Tolksdorf, Stefan 85, 95 Treichel, Hans-Ulrich 4, 189 Ulbricht, Walter 8 Unseld, Siegfried 61
219
Personenregister
Varnhagen, Rahel 4, 16, 133, 140, 156, 194, 196–198 Veit, Dorothea 140 Villon-Lechner, Alice 31 Vogel, Henriette 154 Vogel, Wolf 9 Vogt, Heribert 15 Völter, Bettina 144 Wagner, Richard 64 Walser, Martin 116 Weinberger, Gabriele 16 Willemer, Marianne von 60, 71 Wittstock, Uwe 126, 165 Wolf, Christa 131, 140, 154, 193 Wolf, Ruth 3
Yerushalmi, Yosef Hayim 27 Young, James E. 124–125, 160, 170–171 Zeillinger, Gerhard 177 Zena-Henry, Wendy 13 Zenge, Wilhelmine von 156 Zimmer, Anke 187 Zipes, Jack 1, 19, 66 Zola, Émile 97 Zweig, Stefan 180–181, 184 Zwetajewa, Marina Iwanowna 134