FLAMMENSTAUB Centauri-Zyklus 1
Nr. 49
Zwischen den Dimensionen von Bernhard Kempen
A
uf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Den relativ unsterblichen Arkoniden Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheit wirkt, verschlägt es mit der exotisch schönen Varganin Kythara in die Galaxis Dwingeloo, wo sie den Kampf gegen die mysteriösen Lordrichter aufnehmen. Diese haben zuletzt in der Milchstraße und in Dwingeloo mit Hilfe ihrer Truppen finstere Pläne verfolgt. Nachdem Atlan und Kythara den Dunkelstern in Dwingeloo zerstören konnten, gelingt ihnen in letzter Sekunde die Flucht aus dem Inferno an einen unbekannten Ort. Kurz darauf erhalten die beiden Kontakt zu einer Widerstandsgruppe, die Atlan um Hilfe bittet. Da er als einziges Wesen in der Lage ist, die ultimate Waffe gegen die Lordrichter, nämlich den Flammenstaub, zu bergen, tritt er seine Reise in die geheimnisvolle Intrawelt an. Atlan, der nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt den Flammenstaub nun in sich trägt, verweigert der Konterkraft die Herausgabe des Staubes. Der Arkonide ist davon überzeugt, dass die Anführer der Widerstandsgruppe zu schwach sind, um damit umzugehen. Der Unsterbliche beschließt, die Wirkung des Flammenstaubs zunächst selbst zu ergründen, und gerät dabei ZWISCHEN DIE DIMENSIONEN ...
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Bernhard Kempen
Die Chaostheorie beschreibt Vor Lichtwolke, die das mittlere der ge gänge, bei denen winzigste Ursachen parkten Beiboote einhüllte. Folgen von enormer Tragweite haben Nur wenige Sekunden später ver können. Ich erinnere nur an den Flü ging das kleine Raumschiff in einem gelschlag eines Schmetterlings, der blendenden Feuerball. einen Hurrikan auslösen kann. Was Der Zaqoor in der Hangar-Kon bedeutet der chaotische Faktor in die trollzentrale hatte bereits mit dem ser Kausalitätskette? Verletzen die Leben abgeschlossen. Doch als er die komplexen Bewegungen der Luftmo Augen wieder öffnete, sah er, dass das leküle, die sich schließlich zu einem Panzerglas gehalten hatte. War es eine Sturm aufschaukeln, die Gesetze ei zufällige Überlagerung der Druck ner mechanistischen Kausalität, oder wellen, die genau dort, wo die Kon sind sie nur zu komplex für unser Ver trollzentrale in die Wand des Hangars ständnis? Stellt die unbestimmte Kau eingelassen war, eine Interferenzzone salität des Chaos eine Grenze der der Sicherheit geschaffen hatte? Physik oder eine Garshwyn konnte Grenze unserer Wahr es nicht sagen. Au nehmung dar? ßerdem hatte er Die Hauptpersonen des Romans: Aus »Vorlesun jetzt ganz andere gen über die Grund Sorgen. Es war Atlan – Der Arkonide entdeckt die Macht des lagen der physika nämlich noch kei Flammenstaubs. lischen Realität« neswegs gewiss, Garshwyn – Ein Zaqoor zweifelt an der Wirk Les Zeron (408 dass das Glück lichkeit. NGZ) auch in den nächs ten Sekunden und Minuten auf sei 1. ner Seite stand. Die Verwüstung ging weiter. Eine gewaltige Explosion blühte in Das explodierte Raumschiff wirkte dem lang gestreckten Hangar des wie der Treibsatz eines Projektilge schützes: Der Feuerball dehnte sich Golfballraumschiffs auf. aus und katapultierte das vordere Garshwyn sah durch die dicke Beiboot durch das offene Hangartor Panzerglasscheibe zunächst nur mit in den Weltraum. Dann sah Garshwyn telbare Anzeichen dafür, dass die TROD-AHAN von einer neuen nur noch einen grellen Lichtschein, der von rechts in den Hangar fiel. Das Schockwellenfront getroffen wurde. Zunächst wirkte es sich nur wie eine kleine Schiff, das sich in ein Geschoss verwandelt hatte, schien nicht weit Störung des Sichtfelds aus: Die ge vom Mutterschiff entfernt detoniert genüberliegende Wand des röhren zu sein. förmigen Hangars wölbte und ver Das dritte Beiboot, das hinterste in zerrte sich, als würde sie von einer unsichtbaren Riesenhand wie eine der Reihe, wurde durch den Explosi plastische Masse geknetet. Dann onsdruck gegen die Rückwand des Hangars geschleudert und bohrte sich konzentrierte sich der hyperdimen in die Innereien der TROD-AHAN. sionale Effekt zu einer flirrenden
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Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Mutterschiff vollständig in Stü cke gerissen wurde. Die Ausmaße des Feuerballs würden das, was Garsh wyn hier beobachtete, um ein Vielfa ches übertreffen. Wenn dieser Fall eintrat, konnte er nicht mehr darauf hoffen, dem Tod durch eine Laune des Zufalls zu entkommen. Er musste selbst etwas unterneh men, wenn er das drohende Inferno überleben wollte. Garshwyn warf einen letzten Blick in den Hangar, der von Trümmerfet zen und verkohlten Gestalten in Schutzanzügen übersät war. Dann wandte er sich ab und hetzte zu den Rettungskapseln. Mit einem Schutzanzug hätte er deutlich bessere Chancen gehabt, aber dieses Privileg stand nur dem Personal zu, das unmittelbar im Han gar arbeitete. Allerdings hatten die Anzüge, die nur über minimale Aus stattung verfügten, die meisten seiner Kollegen nicht vor der Vernichtung bewahrt. Garshwyn erreichte den Korridor, an dem die Einstiegsluken zu den Ret tungskapseln lagen. Mit einem Blick wurde ihm klar, dass die Explosion im Hangar den größten Teil der Kapseln zerstört hatte. Ein Notfallschott rie gelte den Korridor ab, sodass von hier aus nur noch vier Rettungseinheiten erreichbar waren. Die Lichtsymbole an den Einstiegs luken machten Garshwyn keine große Hoffnung. Zwei waren völlig ausge fallen, eins flackerte bedenklich, und nur noch ein einziges zeigte volle Be reitschaft an. Der Zaqoor drückte die große Taste, mit der die Rettungskapsel aktiviert wurde. Es schien eine halbe Ewigkeit
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zu dauern, bis die einfachen Schalt kreise den Öffnungsmechanismus in Gang setzten. Als die Luke endlich mit einem leisen Klacken aufsprang, hörte Garshwyn Schritte, die sich durch den Zugangskorridor näherten. »Garshwyn!«, hörte er eine abge hetzte, aber vertraute Stimme, deren Klang ihn fassungslos erstarren ließ. *
Es war Fatuqar, eine Kollegin aus der Hangar-Reparaturkolonne – und eine Frau, mit der Garshwyn schon viele aufregende Nächte verbracht hatte. Welche Laune des Schicksals hatte dafür gesorgt, das ausgerechnet sie beide sich hier in diesem Korridor trafen? »Wie hast du die Explosion über lebt, Fatuqar?« »Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich konnte mich rechtzeitig in einen Lagerraum flüchten. Als es etwas ru higer wurde, habe ich mich wieder nach draußen gewagt. Aber jetzt sollten wir nicht lange diskutieren, sondern zusehen, dass wir die TROD-AHAN so schnell wie möglich verlassen!« Garshwyn sah die Frau mit merk würdigem Blick an. »In einer Ret tungskapsel kann es zu zweit ziemlich eng werden«, sagte er. »Willst du dich etwa mit mir duel lieren und gewaltsam die Entschei dung erzwingen, wer von uns diese Kapsel besteigen darf?« Als Garshwyn schwieg, schien Fa tuqar klar zu werden, dass seine Be merkung nicht nur so dahingesagt war. In der folgenden Sekunde gingen dem Zaqoor tatsächlich die unter
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schiedlichsten Möglichkeiten durch den Kopf. Der Atemluftvorrat einer Rettungs kapsel reichte sechs Tage – wenn sie mit einer Person besetzt war. Mit zwei Insassen halbierte sich die Spanne auf drei Tage. Die Chance, dass die Kap sel von einem Raumschiff aufgelesen wurde, bevor der Sauerstoff ver braucht war, stieg und fiel entspre chend. Zu zweit konnte es in der winzigen Kabine recht eng werden, aber in Ge sellschaft ließ sich die Wartezeit bis zur Rettung sicherlich angenehmer verbringen. Schließlich gehörte Fatu qar zu den sexuell aktivsten und phantasievollsten Frauen, die Garsh wyn jemals kennen gelernt hatte. Wenn er nur ihren schlanken, wun derbar knochigen Körper betrachtete, fielen ihm sofort ganz neue Spielarten ein, mit denen sie sich vergnügen konnten. Außerdem mochte es sein, dass die Rettungskapsel nie geborgen wurde, ob sie nun mit einem oder mit zwei Passagieren besetzt war. In diesem Fall würde Garshwyn die Zeit bis zum Ende lieber mit Fatuqar als in Ein samkeit verbringen. Doch was war, wenn die Kapsel nach vier oder fünf Tagen entdeckt wurde? Bevor Garshwyn zu einer Entschei dung gelangen konnte, schüttelte eine neue Explosion das Mutterschiff durch. Beide Zaqoor wurden von den Beinen gerissen. Zum Nachdenken blieb jetzt keine Zeit mehr. Garshwyn handelte. Er konnte sich am Rahmen der Ein stiegsluke festhalten und zog sich ins Innere der Rettungskapsel. Er hatte sich nicht vergewissert, was aus Fatu
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qar geworden war. Im kleinen Aus schnitt des Korridors, den er durch die Luke überblicken konnte, war nichts von ihr zu sehen. Er zögerte noch einen Sekundenbruchteil, um ihr eine allerletzte Chance zu geben, vielleicht doch noch in die Kapsel zu springen, dann drückte er den Knopf, der die Luke verriegelte und den Startvorgang einleitete. Die Treibsätze der Kapsel zünde ten, und Garshwyn wurde gegen die Rückwand gepresst. Das primitive Rettungsgefährt war nur mit den al lernotwendigsten Systemen ausgerüs tet und besaß keine Schwerkraftgene ratoren oder Andruckabsorber. Als die kurze Beschleunigungspha se vorbei war und die Kapsel in den freien Fall überging, zog sich Garsh wyn zu einer kleinen Sichtluke hin über. Vor dem Hintergrund des Welt raums, der von einem unheimlichen Wetterleuchten erfüllt zu sein schien, war die TROD-AHAN zu erkennen. Während sich die Kapsel immer wei ter entfernte, sah Garshwyn das Mutterschiff schließlich in ganzer Größe. Fassungslos sah er, dass es brannte. Obwohl es im luftleeren Raum ei gentlich unmöglich war, schlugen ge waltige Flammen aus dem Rumpf des großen Raumschiffs. Vielleicht wurde brennbares Material zusammen mit Atemluft ins All geschleudert. Oder es war eine Auswirkung der Schock fronten, für die nur Hyperphysiker ei ne plausible Erklärung liefern konn ten. Garshwyn sah auch, dass weitere Rettungskapseln vom Schiff davon trieben. Eine davon folgte ungefähr seiner Bahn und driftete verhältnis
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mäßig langsam zur Seite ab. Das konnte nur bedeuten, dass sie nicht weit von seiner eigenen gestartet war. Hatte Fatuqar es geschafft, sich rechtzeitig in die andere, noch halb wegs funktionsfähige Rettungseinheit zu flüchten? War sie dem drohenden Inferno entkommen? Vielleicht würde Garshwyn es erfahren, wenn er das Funksystem aktivierte und versuchte, mit anderen Überlebenden oder Ret tern Kontakt aufzunehmen. Doch bevor er dazu kam, stach eine grelle Lichtflut durch die Sichtluke. Garshwyn glaubte zu erkennen, wie plötzlich ein dunkler Schatten hinter der TROD-AHAN auftauchte, bevor das Mutterschiff von einer gewalti gen, lautlosen Explosion zerrissen wurde. Als er die Augen wieder öffne te, sah er, wie sich die weiß glühende Energieballung zu einer rötlich leuch tenden Wolke ausbreitete. Allmählich erlosch das Feuer, bis nur noch ein Schwarm aus materiel len Trümmern übrig blieb. Doch da mit war die Gefahr für Garshwyn und alle anderen Zaqoor, die dem unmit telbaren Inferno entkommen waren, keineswegs vorbei. Ein metallisch schimmernder Bro cken, der vielleicht einmal ein Stück des Raumschiffsrumpfes gewesen war, trieb genau auf die kleine Rettungs kapsel zu. Garshwyn starrte gebannt darauf, doch er konnte keine seitliche Bewegung erkennen. Das Trümmer stück wurde nur größer und schien ansonsten auf der Stelle zu verharren. Alles deutete auf einen exakten Kolli sionskurs hin. Garshwyn schloss erneut die Augen und sprach im Geist die Litanei von Trodar, während er auf das Ende war tete.
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Im nächsten Moment ging ein hefti ger Ruck durch die Kapsel, und der Zaqoor wurde gegen die Wand ge schleudert. Stechender Schmerz jagte durch seinen Schädel. Dann wurde al les schwarz um ihn.
2. Der Verfolger kam immer näher. Wahllos tippte ich Zahlen in den Navigationscomputer, den ich zuvor so programmiert hatte, dass er darauf mit winzigen Kursänderungen rea gierte. Dadurch raste die DYS-116 auf einem Schlingerkurs dahin und entkam den meisten Energiesalven, die das Keilraumschiff auf mich ab feuerte. Der Rest wurde vom Schutz schirm absorbiert. Gelegentliche Treffer konnte die Hülle aushalten, aber wenn es dem Verfolger gelang, mich unter Dauerbeschuss zu neh men, wurde es kritisch. Mir war immer noch nicht klar, warum mich das Schiff ins Visier ge nommen hatte. Vor ein paar Tagen hatte ich mich in die Nähe des explo dierten Dunkelsterns gewagt und eine Szene der Verwüstung vorgefunden. Nichts war mehr feststellbar von der halborganischen Anaksa-Station, der Schwarzen Substanz oder dem Durchgang in den Mikrokosmos. Alles verschwunden, erloschen, davonge wirbelt ins unendliche All, was mich so lange umgetrieben hatte. Alles. Auch Kythara, die um meinetwillen gestorben war, die dem Missbrauch der Hinterlassenschaften ihres Volkes hatte Einhalt gebieten wollen. Ich spürte Tränen der Erregung in meine Augen schießen.
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Überall trieben Trümmer der Flotte der Lordrichter von Garb, die einst aus 15.000 Einheiten bestanden hatte. Die wenigen Schiffe, die der unmittel baren Vernichtung entkommen wa ren, kämpften darum, sich mit be schädigten Triebwerken vor den hy perdimensionalen Schockwellenfron ten in Sicherheit zu bringen, die noch immer das Umfeld des Dunkelsterns heimsuchten wie Todeszuckungen der Unheil bringenden Schwarzen Sub stanz. Nach Auskunft des Bordrechners war der Keilraumer mit Roschech be mannt, einem reptiloiden GarbyorVolk, mit dem ich bisher noch keine nähere Bekanntschaft gemacht hatte. Da das kleine Zaqoor-Beiboot, mit dem ich unterwegs war, zumindest dem äußeren Anschein nach zu den Truppen der Lordrichter gehörte, hät te man eigentlich freundlicher auf mich reagieren müssen. Aber die Ro schech hatten ohne Vorwarnung oder vorherigen Funkkontakt das Feuer auf die DYS-116 eröffnet. Vielleicht hätte mein Extrasinn eine Vermutung beisteuern können, aber er hatte sich allem Anschein nach im mer noch nicht von der Konfrontation mit dem Seelenhorter Peonu erholt. Die nur 20 Meter durchmessende DYS-116 wurde durchgerüttelt, als ein weiterer Strahlschuss in den Schutzschirm schlug. Es wurde Zeit, dass ich den Keilraumer abschüttelte. Ich hatte gar nicht erst versucht, mit den Bordgeschützen des kleinen Zaqoor-Beiboots etwas gegen das dreieckige Schiff mit einer Spannwei te von gut 1500 Metern auszurichten. Ich brauchte eine Taktik. Mein Fluchtkurs führte mich ge fährlich nahe an eine der Schockwel
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lenfronten heran. Sie hing wie ein röt lich leuchtender Ringnebel im Welt raum. Dabei kam mir eine Idee. Ich gab dem Bordrechner den Be fehl, die Ereignisse der letzten fünf Minuten holografisch darzustellen. Es sah gar nicht so schlecht aus. Es gab zwar einen kleinen Unsicherheitsfak tor, aber die räumlichen Verhältnisse ließen meinen Plan aussichtsreich er scheinen. Ich schaltete auf manuelle Steue rung um und ließ die DYS-116 lang sam vom bisherigen Kurs abdriften. Für die Roschech musste es aussehen, als wolle ich der ringförmigen Schockwellenfront ausweichen, die inzwischen eine Ausdehnung von 20.000 Kilometern erreicht hatte. Im Abstand von etwa 5000 Kilome tern änderte ich abrupt den Kurs und flog mitten in den Ring hinein. Ich warf einen besorgten Blick auf die Energieortung, aber es sah tatsächlich danach aus, dass sich der Raum im Zentrum wieder stabilisierte. Sonst wäre mein Schiff von den entfesselten hyperdimensionalen Gewalten zerris sen worden. Das Keilraumschiff benötigte wie erwartet nur eine knappe Sekunde, um mein Manöver zu durchschauen und die Verfolgung fortzusetzen. Es war mir wieder dicht auf den Fersen, als ich das Loch innerhalb des Rings aus unvorstellbaren Energien passier te. Im nächsten Moment gab ich er neut Vollschub und drehte scharf ab. Ohne Andruckneutralisatoren wäre ich zu einem dünnen Schmierfilm an der Rückwand der DYS-116 zer quetscht worden. Aber ich wusste, dass ich mich auf die Technik verlas sen konnte.
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Direkt vor mir tauchte ein Golfball raumer der Zaqoor auf. Er befand sich genau dort, wo ich ihn vermutete. Ich hatte ihn kurz gesehen, als er hinter dem Schockwellenring ver schwunden war. Meine Verfolger hat ten ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bemerkt, weil sie sich aus einem leicht verschobenen Winkel genähert hatten. Auf diesen Faktoren beruhte mein Plan. Ich raste knapp am Golfballraumer vorbei, der offensichtlich schwer un ter den Schockwellen gelitten hatte. Knapp entkam ich einer Trümmer wolke, die langsam von einem Hangar wegdriftete, aus der glühende Funken strömten, als wäre sie zu einer Trieb werksdüse umfunktioniert worden. Der zweifellos sehr fähige Pilot des Keilraumschiffs brauchte eine Schrecksekunde länger als ich, um auf die plötzlich aufgetauchte Gefahr zu reagieren. Und das war genau eine Sekunde zu viel. Während ich mit Maximalbeschleu nigung in den freien Weltraum flüch tete, bohrte sich der Keilraumer mit der Spitze des dreieckigen Bugs in das große Zaqoor-Schlachtschiff. Ich kniff die Augen zusammen, denn im nächsten Moment vergingen beide Einheiten in einer gigantischen Ex plosion. *
Ich stieß den angehaltenen Atem aus und ließ mich in den Sitz zurück fallen. Für einen kurzen Moment dachte ich an die vielen Zaqoor und Roschech, die in diesem Moment ge storben waren. Was hätte ich tun sollen? Wenn je mand alles daransetzte, mich ins Jen
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seits zu befördern, durfte er sich nicht beklagen, wenn er am Ende selber den Kürzeren zog. Und das Golfballraum schiff war bereits so schwer ange schlagen gewesen, dass die Besatzung ohnehin kaum eine Überlebenschance gehabt hatte. Es gab Momente, in denen man zu erst an sich selbst denken musste. Jetzt ging es für mich zunächst ein mal darum, mich neu zu orientieren. Die Truppen der Lordrichter rund um den Dunkelstern waren größten teils vernichtet. Damit war bereits ein erheblicher Teil der Gefahr ausge schaltet, die der Galaxis Dwingeloo und in letzter Konsequenz auch der Milchstraße drohte. Derzeit ließ sich jedoch nicht sagen, was die Lordrich ter von Garb noch in der Hinterhand haben mochten. Allerdings verfügte ich seit kurzem über ein Mittel, das die entscheidende Wende im Kampf bringen konnte. Mit Unterstützung der Konterkraft, einer Widerstandsorganisation aus den Reihen der Garbyor, hatte ich in der Intrawelt den geheimnisvollen Flammenstaub in mich aufgenom men. Doch bevor ich mich am Treff punkt blicken ließ, den ich mit dem Daorghor Reshgor-1 vereinbart hatte, wollte ich zunächst mehr über diesen Stoff erfahren. Immerhin war es denkbar, dass die Konterkraft nur ei ne List der Lordrichter war und sie den Flammenstaub für ihre eigenen Ziele einsetzen wollten. Der Rhoarxi Tuxit, der mir bei der Beschaffung behilflich gewesen war, hatte ihn als ultimatives Mittel be zeichnet, mit dem der Träger die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses beeinflussen konnte. Ich hatte noch keine genaue Vorstellung davon, wie
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sich das in der Praxis auswirkte. Viel leicht hatte ich den Einfluss bereits bei der glücklich überstandenen Flucht vor dem Keilraumschiff zu spüren bekommen. Andererseits hatte ich mich während meines langen Le bens schon oft gegen jede Wahr scheinlichkeit aus brenzligen Lagen retten können. Eines vermochte selbst der Flam menstaub nicht, wie ich aus schmerz hafter Erfahrung wusste: Er konnte die Toten nicht wieder auferstehen lassen. Obwohl ich es mir inständig gewünscht hatte, war es mir jedoch nicht gelungen, Kythara zu retten. Sie war während der Rückkehr aus der Intrawelt in meinen Armen gestorben, und das machte meinen vordergrün digen Sieg schal. Solche Szenen hatte ich im Verlauf meiner über zehntausendjährigen Le benszeit schon viel zu oft miterleben müssen. Entgegen landläufigen Vor stellungen war es nur selten gesche hen, dass Frauen an meiner Seite alt geworden und nach Ablauf der natür lichen Frist gestorben waren, wäh rend mein Zellaktivator mich schein bar nicht altern ließ. In den meisten Fällen waren meine Gefährtinnen be reits viel früher aus meinem Leben verschwunden, und viel zu häufig hat te ich ihren vorzeitigen, gewaltsamen Tod mit ansehen müssen. Jedes Mal war damit auch ein Teil von mir gestorben. Vielleicht war das die wahre Bedeutung der relativen Unsterblichkeit. So viel zum Vorurteil, dass Un sterbliche nicht alterten. So viel zur ultimaten Macht des Flammenstaubs. In diesem Moment riss mich ein akustisches Signal des Bordrechners
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aus meinen Gedanken. Ich studier te die fremdartigen Anzeigen des Zaqoor-Beiboots, mit denen ich in zwischen recht gut vertraut war. Und während ich mir die Ortungsergebnisse ansah, kam mir wieder eine Idee ...
3. Bevor Garshwyn zu einer Entschei dung gelangen konnte, schüttelte ei ne neue Explosion das Mutterschiff durch. Fatuqar wurde gegen den Zaqoor geworfen und klammerte sich an ihm fest. Garshwyn blickte in die Augen der Frau. Er überlegte für einen Se kundenbruchteil, ob er ihr eine Chan ce geben sollte. Doch dann entschied er sich für das Leben. Für sein Leben. Er stieß Fatuqar von sich weg, sprang in die Kapsel und drückte den Knopf, der die Luke verriegelte und den Startvorgang einleitete. Die Treibsätze der Rettungseinheit zündeten, und Garshwyn wurde ge gen die Rückwand gepresst. Im nächs ten Moment ging ein heftiger Ruck durch die Kapsel ... ... und Garshwyn kam wieder zu sich. Keuchend schnappte er nach Luft und hielt sich den schmerzenden Schädel, während sich sein Sichtfeld langsam klärte. Dann drang ihm im mer deutlicher ein Geräusch ins Be wusstsein, das nicht hierher gehörte. Es war ein beständiges Zischen. Ein Geräusch, das für jeden Raumfahrer die gleiche Bedeutung wie eine schril le Alarmsirene hatte. Ein schneller Blick auf die Kontrol len bestätigte ihm, dass der Luftdruck in der Rettungskapsel besorgniserre gend niedrig war. Er zwang sich, Ruhe
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zu wahren, schloss die Augen und breitete die Arme aus. An der rechten Hand spürte er ei nen Luftzug. Er öffnete den Schrank mit der Notverpflegung, zog einen Nahrungs riegel heraus, riss die Verpackungs folie ab und warf sie ungefähr in die Richtung, in die sich der Luftzug be wegte. Die Folie schien einen Mo ment lang unschlüssig in der Schwere losigkeit zu schweben, dann nahm sie plötzlich Fahrt auf und klatschte et wa einen halben Meter von der Ein stiegsluke entfernt an die Wand. Garshwyn klappte den Werkzeug schrank auf, suchte ein pistolenförmi ges Gerät heraus, holte noch einmal so viel Luft wie möglich und hangelte sich zum Leck hinüber. Die Hülle der Kapsel war genau hinter einer Verstrebung über eine Länge von mehreren Zentimetern aufgeplatzt. Der Zaqoor richtete die Pistole auf die undichte Stelle, drück te den Abzug und bestrich das Leck mit der Dichtungsmasse. Sie quoll schäumend auf und war nach drei Se kunden ausgehärtet. Schlagartig hörte das Zischen auf. Mit jedem Atemzug spürte Garsh wyn, dass ihm das Luftholen leichter fiel. Erschöpft wandte er sich den Kon trollen der Rettungskapsel zu. Der At mosphärendruck hatte fast wieder den normalen Wert erreicht. Im nächsten Moment sah er, dass es ein weiteres Problem gab. Die Funkanlage war ausgefallen. Wenn seine Rettungskapsel keinen Notruf aussandte, kam vielleicht kein Schiff der Zaqoor auf die Idee, ihn zu bergen, weil niemand sie von einem der zahllosen umherfliegenden
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Trümmerstücke unterscheiden konn te. Garshwyn holte ein Diagnose werkzeug aus dem Schrank und öff nete die Verkleidung, hinter der sich die technischen Systeme der Kapsel verbargen. Jetzt kam ihm zugute, dass sie so primitiv wie irgend mög lich ausgelegt waren. Bereits nach kurzer Zeit hatte er den Fehler loka lisiert. Es war nicht mehr als ein Kontakt, der sich gelockert hatte und sich ohne besondere Schwierigkeiten reparieren ließ. Mit dem Werkzeug schickte er einen Impuls in die Funkanlage, die norma lerweise durch den Startvorgang der Kapsel automatisch aktiviert wurde. Garshwyn vergewisserte sich, dass sie tatsächlich den Sendebetrieb aufge nommen hatte, und atmete erleichtert aus. Als unmittelbar darauf ein Warnsi gnal ertönte, glaubte der Zaqoor zu nächst, dass der Notrufsender erneut ausgefallen war. Aber diesmal war es der Kollisionsalarm, wie er mit ei nem Blick auf die Anzeigen feststell te. Was hatte die Ewige Horde für ihn vorgesehen? Sollte die Serie der Schwierigkeiten denn niemals aufhö ren? Garshwyn schaltete die holografi sche Darstellung der Passivortung ein. Da das einfache System die Um gebung nicht aktiv abtasten konnte, war es schwierig, die matten Schemen zu deuten. Er musste die Anzeigen mit dem abgleichen, was er mit eigenen Augen durch die Sichtluken sehen konnte. Als er schließlich erkannte, wovor der Kollisionsalarm ihn warnen woll te, erstarrte der Zaqoor vor Entsetzen.
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Seine bisherigen Probleme waren nur der Auftakt zu dem gewesen, was jetzt auf ihn zukam. *
Die DYS-116 hatte ein schwaches Notrufsignal empfangen. Der Bord computer ordnete es einer Rettungs kapsel zu, die sich in gerader Linie von der Stelle fortbewegte, wo Golf ball- und Keilraumschiff explodiert waren. Offenbar hatten mehrere Za qoor versucht, der drohenden Vernich tung zu entkommen. Doch die anderen Rettungseinheiten waren energetisch tot, nachdem sie von der Explosions wolke überrollt worden waren. Aus den Speichern des Zaqoor-Bei boots rief ich die Blaupausen einer solchen Kapsel ab. Meine Vermutung bestätigte sich. Normalerweise wurde der Notruf automatisch gesendet, so bald eine Rettungskapsel das Raum schiff verlassen hatte. Vielleicht war die Funkanlage beim rabiaten Start beschädigt worden und hatte sich erst jetzt eingeschaltet. Die Selbstrepara tursysteme beherrschten jedoch nur sehr einfache Routinen. Damit be stand eine gewisse Wahrscheinlich keit, dass jemand aktiv nachgeholfen hatte. Jemand, der in dieser Kapsel überlebt hatte. Doch wie es schien, würde diese Person sehr viel Glück benötigen, um auch die nächste Minute zu überle ben. Denn ein sehr massiv wirkender Trümmerbrocken von knapp hundert Metern Durchmesser trieb genau auf die winzige Kapsel zu. Er war sehr schnell und näherte sich aus einer ganz anderen Richtung, wodurch sich die relative Geschwindigkeit beider
Objekte addierte. Ich wies den Bord computer an, die Bahnen holografisch zu extrapolieren, und wieder bestä tigte sich etwas, das ich bereits intui tiv erkannt hatte. Der große Brocken würde die Ret tungseinheit in genau 26 Sekunden zerquetschen wie eine Fliege, die auf der Windschutzscheibe eines Hochge schwindigkeitsgleiters landete. Wobei der Vergleich nicht völlig zu treffend war. Eine Fliege hatte die Möglichkeit, sich mit eigener Kraft aus der Gefahrenzone zu bringen, doch diese Kapsel verfügte über kei nerlei Antriebssystem. Nachdem sie das Mutterschiff verlassen hatte, konnte der bedauernswerte Insasse nur noch darauf hoffen, möglichst bald von gnädigen Rettern aufgelesen zu werden. Allerdings gab es da noch einen zweiten Faktor. Ein anderes, wesent lich kleineres Trümmerteil trudelte hinter der Rettungskapsel her und würde sie voraussichtlich zwei bis drei Sekunden vorher treffen. Wenn der Aufprall in einem günstigen Win kel erfolgte, würde die Rettungskap sel ein Stück zur Seite geschubst wer den und hatte eine gute Chance, dem Zusammenstoß mit dem großen Bro cken zu entkommen. Hektisch wies ich den Bordcom puter an, eine Prognose zu erstellen. Aber er sah sich nicht imstande, ein eindeutiges Ergebnis vorherzusagen. Der größte Unsicherheitsfaktor war die Rotation des kleinen Trümmer stücks, die keine zuverlässige Aus sage über den Aufprallwinkel zu ließ. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kapsel heil davonkam, lag ziemlich genau bei fünfzig Prozent. Die Sache
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stand sprichwörtlich auf des Messers Schneide. Ich machte mich bereit für das Ex periment. *
Garshwyn starrte gebannt durch die kleine Sichtluke auf den Trümmer brocken, der sich wie ein Asteroid durch die Schwärze des Weltraums heranwälzte. Nur gelegentlich schim merten schwache Reflexe auf der Oberfläche und ließen undeutlich er kennen, dass die Masse aus verboge nem und stellenweise geschmolzenem und wieder erstarrtem Metall bestand. Der Zaqoor war ganz auf den un vermeidlichen Zusammenstoß kon zentriert, der sein Ende bedeuten würde. Als der erste Schlag aus einer ganz anderen Richtung kam, war er völlig überrascht. Er hatte sich nur locker mit den Händen an der Wand neben dem Fens ter abgestützt und ließ den Rest des Körpers in der Schwerelosigkeit der Kapsel hängen. Plötzlich wich die Wand abrupt vor ihm zurück, und der Zaqoor prallte mit voller Wucht gegen die Wand hinter ihm. Noch während er scheinbar durch die Kapsel geschleudert wurde, be griff er, was wirklich geschehen sein musste. Nicht er, sondern nur die Kapsel hatte einen Bewegungsimpuls erhalten, sodass ihm nun quasi der Boden unter den Füßen weggezogen wurde – auch wenn dieser Vergleich in der Schwerelosigkeit nicht ganz ange bracht war. Der Aufprall war schmerzhaft, aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Garshwyn konnte durch die Sichtluke erkennen, dass sich der Metallbro
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cken weiter näherte. Es war noch nicht vorbei. Der Zaqoor schloss die Augen, machte sich auf den Tod gefasst und suchte Heil in der Litanei der Horden von Garb. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Tro dar. Garshwyn spürte kaum etwas, als die Rettungskapsel mit dem Metall brocken zusammenstieß. Es ging viel zu schnell. Innerhalb von Sekunden bruchteilen zerschellte das winzige Gefährt mit dem einsamen Insassen an der massiven Oberfläche. Kurz blitzte es auf, dann blieb nur noch ei ne schwach nachglühende Scharte im Metall zurück ... Es gibt kein Leben, es gibt nur Tro dar. Garshwyn und Fatuqar klammer ten sich in der engen Kapsel aneinan der. Er war froh, dass er die Frau im letzten Moment doch noch mitgenom men hatte. Nun würden sie wenigs tens nicht allein sterben. Gegenseitig trieben sie sich ein letztes Mal einem orgiastischen Höhepunkt entgegen, um vereint in den Tod zu gehen ... Es gibt keine Angst, es gibt nur Tro dar. Garshwyn geriet in Panik. Er konn te einfach nicht tatenlos abwarten, bis der Tod zu ihm kam. Er war ein Garb yor, ein Kämpfer! Er würde sich dem Schicksal nicht hingeben, sondern es selbst in die Hand nehmen. Entschlos sen zerrte er den kleinen Energie strahler aus dem Werkzeugschrank, setzte die Mündung an die Schläfe und drückte ab ... Es gibt keine Freude, außer in Tro dar. Garshwyn starrte ins Leere, wäh rend die Kapsel immer weiter in die
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Tiefe des Weltraums davontrieb. Wie durch ein Wunder war er knapp der Vernichtung entronnen. Doch nun er wartete ihn kein schneller, sondern ein langsamer Tod. Um ihn herum war nichts mehr. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor Sauerstoff mangel besinnungslos wurde ... *
Wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses ermit teln lässt, sagt das nichts darüber aus, ob dieses Ereignis in einer konkreten Situation tatsächlich eintreten wird. Dass im Würfelspiel dreimal hinter einander die gleiche Zahl erscheint, ist genauso wahrscheinlich oder un wahrscheinlich wie jede andere Kom bination. Diese Tatsache widerspricht nur deshalb unserem intuitiven Ver ständnis, weil es im Gesamtspektrum der Möglichkeiten nur wenige Kombi nationen aus gleichen Zahlen gibt. Oder um es anders zu formulieren: Es gibt keine Zufälle. Wir sind es, die in völlig normalen Ereignissen erstaun liche Muster erkennen. Aus »Vorlesungen über die Grund lagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
4. Ich konzentrierte mich auf die klei ne Rettungskapsel. Dann wünschte ich mir, dass das trudelnde Trümmer stück ihr genau den Bewegungsim puls versetzte, den sie brauchte, um aus der Flugbahn des großen Bro ckens geworfen zu werden. Noch zehn Sekunden ... Gebannt verfolgte ich die Annähe
rung der beiden Objekte, während ich mich anstrengte, keinen Augenblick in meiner Konzentration nachzulas sen. Für einen kurzen Moment ver schwamm meine Sicht, aber ich zwang mich dazu, fest an ein kleines Wunder zu glauben. Kontakt! Die Rettungskapsel erhielt einen verhältnismäßig sanften Schubs und änderte leicht die Flugrichtung. Dann rollte der dicke Brocken her an, und schon zwei Sekunden später war alles vorbei. Unwillkürlich stöhnte ich auf. Auf meinen Befehl spielte der Bordrech ner die Szene noch einmal in Zeitlupe und maximaler Vergrößerung ab. Tat sächlich. Die Kapsel war dem Zusam menstoß um Haaresbreite entgangen. Ein oder zwei Millimeter daneben, und die Rettungseinheit hätte zumin dest eine böse Schramme davongetra gen. Hätte sich die Geschichte nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Atmosphäre abgespielt, hätte die Kapsel jetzt große Probleme mit der Verwirbelung bekommen. Erneut stieß ich seufzend den Atem aus. Die Angelegenheit hatte mich of fenbar mehr mitgenommen, als ich für möglich gehalten hatte. Ich fühlte mich völlig augelaugt. Mit einer kleinen Dagor-Übung sammelte ich neue Kraft, während der Zellaktivatorchip in meiner Schulter belebende Impulse durch meinen Körper sandte. Hatte das Experiment funktioniert, oder war die Sache einfach nur so ab gelaufen, wie es der Zufall gewollt hatte? Schwer zu sagen. Vielleicht sollte ich mich bei Gelegenheit um ein geeigneteres Versuchsobjekt küm mern.
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Dann hielt ich inne und horchte in mich hinein. Zunächst war ich mir nicht sicher, was los war. Es war ein Gefühl, als hätte ich etwas vergessen, eine Überlegung, die ich nicht zu En de geführt hatte. Du hättest die Rettungskapsel ohne Schwierigkeiten mit dem Traktor strahl aus der Gefahrenzone holen können! Nein, es war nicht der Extrasinn, der diesen Einwurf vorbrachte. Dieser Teil meines Gehirns, der wahlweise die Rolle einer geschwätzigen Enzy klopädie, eines Kontracomputers oder eines mahnendes Gewissens spielte, schwieg weiterhin. Aber es war ungefähr die Bemer kung, die ich jetzt vom Extrasinn er wartet hätte. Im Laufe der Jahrtau sende hatte ich mich so sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, dass mir seine lautlose Stimme regelrecht fehlte. Natürlich konnte ich den Einwand mühelos entkräften. Wenn in der Ret tungseinheit tatsächlich ein lebendes und atmendes Wesen steckte, durfte es sich glücklich schätzen, dass ich mich zumindest bemüht hatte, ihm ei ne Überlebenschance zu geben. Und das, obwohl es sich nur um einen Zaqoor handeln konnte, den Vertreter eines der vielen Völker, aus denen die Lordrichter ihre Truppen rekrutier ten. Und die Garbyor hatten nie gezö gert, im Auftrag der Lordrichter Tod und Verderben über ganze Galaxien zu verbreiten. Ich hatte wirklich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, den Zaqoor zu retten. Das war es unter anderem, was mich von den Garbyor unterschied. Andererseits, so wurde mir nun bewusst, hatte ich mich wäh rend des Experiments völlig sicher ge
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fühlt, dass die Sache gut ausgehen würde. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und schloss diese Überlegungen ab. Ich wusste nicht, was sich in mir ver ändert hatte, ob es am Schweigen des Extrasinns lag oder ob der Flammen staub irgendeinen Einfluss auf mich ausübte. Aber ich würde es herausfin den. *
Vorsichtig dirigierte ich die DYS 116 an die kleine Rettungskapsel her an. Ein spürbarer Ruck ging durch das Beiboot, als die Luftschleusen miteinander verkoppelt wurden. Ich musste mir eingestehen, dass es richtiggehend Spaß machte, die Ar beit nicht den Syntrons oder Positro niken zu überlassen, sondern das Ma növer per Hand durchzuführen. Die ganze Situation besaß etwas Nostalgi sches, geradezu Archaisches. Schließ lich ging es darum, ein Rendezvous zwischen einem zwanzig Meter durch messenden, tropfenförmigen Kleinst raumschiff und einer nur drei Meter großen, kugelförmigen Einheit durch zuführen. Nachdem das Kopplungsmanöver abgeschlossen war, machte ich mich auf den Weg zur Schleuse. Lebte der Passagier noch, und war es tatsächlich ein Zaqoor? Ich hatte versucht, Funk kontakt aufzunehmen, aber nur den stur wiederholten Notruf empfangen. Die Werte der Energieortung deuteten darauf hin, dass die Systeme intakt waren. Ob in der Kapsel noch jemand am Leben war, hatte ich mit meinen Mitteln nicht feststellen können. Warum hatte ich nun doch be schlossen, die Rettungskapsel zu ber
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gen? Immerhin hätte ich kurz zuvor ihre Vernichtung in Kauf genommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Schlechtes Gewissen? Der Versuch, es wenigstens im Nachhinein wieder gutzumachen? Schließlich konnte sich die Sache als böser Fehler erweisen. Was war, wenn hinter der Luftschleuse ein Garb yor lauerte, der sich ohne Zögern auf den nächstbesten Feind stürzen wür de? Auf mich? Natürlich war es genauso möglich, dass die Kapsel leer war. Sie konnte während der Vernichtung des Golf ballraumers abgesprengt worden sein, worauf sie unbeirrt ihrer automati schen Programmierung gefolgt war. Das wäre allerdings eine ... wie soll te ich es ausdrücken? ... ziemlich blö de Sache gewesen. Dann hätte ich die Mühe der Bergung ganz umsonst auf mich genommen Ideal wäre es, wenn sich ein halb wegs friedlich gesinnter Zaqoor an Bord befand. Kaum zu hoffen wagte ich, dass er sich möglicherweise sogar zu einem Verbündeten im Kampf ge gen die Lordrichter entwickelte. Inzwischen hatte ich den kleinen Raum vor der Luftschleuse erreicht und die Hand nach dem großen Knopf ausgestreckt. Während mir noch ein mal alle Möglichkeiten durch den Kopf gingen, flimmerte es wieder für einen kurzen Moment vor meinen Au gen. Kurz darauf hatte ich mich wie der gefasst und aktivierte voller Zu versicht den Öffnungsmechanismus. *
Als Garshwyn die Augen aufschlug, brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Dann fügten sich die op
tischen Einzelinformationen zu einem Bild zusammen. Allem Anschein nach befand er sich in der medizinischen Versorgungsnische eines kleinen Zaqoor-Beiboots. Auf diese Erkennt nis folgte Verwirrung. Wie war er hierher gelangt? Er glaubte sich erin nern zu können, dass er eine Ret tungskapsel bestiegen hatte, bevor die TROD-AHAN explodiert war. Oder hatte er das alles nur geträumt – die Trennung von Fatuqar, die Vernich tung des Mutterschiffs, die Beinahe kollision mit dem riesigen Trümmer brocken? Zumindest der dumpfe Schmerz in seinem Hinterkopf passte zu seinen Erinnerungen. Und die Umgebung deutete darauf hin, dass seine Hoff nung Wirklichkeit geworden war. Of fenbar war seine Kapsel von Zaqoor entdeckt und geborgen worden. Er spürte einen Stich in der Herzge gend. Wenn er geahnt hätte, dass er schon nach so kurzer Zeit gerettet wurde, hätte er sich anders entschie den. Nun machte er sich bittere Vor würfe, dass er Fatuqar im Stich gelas sen hatte. »Wie geht es dir?«, hörte er eine fremdartig klingende Stimme. Garshwyn wollte sich aufrichten, musste jedoch feststellen, dass ein Fesselfeld ihn daran hinderte, die Medo-Liege zu verlassen. »Damit möchte ich nur vermeiden, dass du dich zu unbedachten Reaktio nen hinreißen lässt«, sagte der Frem de. »Wenn du mir glaubhaft versi chern kannst, dass du zur friedlichen Zusammenarbeit bereit bist, lasse ich dich frei.« In diesem Moment trat der Spre cher in Garshwyns Blickfeld. »Der Arkonide!«, keuchte er ver
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blüfft. Er hatte ihn sofort erkannt. Sein Bild war oft genug in den Infor mationssendungen für die Garbyor gezeigt worden. »Du darfst mich Atlan nennen«, sagte der Fremde. »Und wie ist dein Name, Zaqoor?« Garshwyn war fassungslos. Ausge rechnet der Feind der Lordrichter hatte ihn gerettet! Allerdings war ihm bewusst, dass es eine besondere Be wandtnis mit diesem Mann haben musste. In den Sendungen war die ausdrückliche Direktive ausgegeben worden, ihn zwar mit allen erlaubten Mitteln zu fassen, ihn aber auf keinen Fall zu töten oder ernsthaft zu verlet zen. Aus welchen Gründen die Lord richter so sehr am Arkoniden, an At lan, interessiert waren, wurde natür lich nie erwähnt. »Wenn du nicht mit mir reden möchtest, bringe ich dich gerne in deine Rettungskapsel zurück.« »Nein!«, beeilte sich Garshwyn zu erwidern. »Ich ... Mein Name ist Garsh wyn.« »Gut«, sagte Atlan. »Kann ich dir vertrauen, oder sollte ich das Fessel feld vorsichtshalber eingeschaltet las sen?« Garshwyn riss sich zusammen. Wenn er überleben wollte, musste er mit diesem Mann reden. Auch wenn er ihm sehr fremd vorkam. Mehr als ei nen Kopf kleiner als ein Zaqoor, aber mit stärker ausgeprägten Muskeloder Fettpaketen – und mit dem auf fälligen langen weißen Haar. »Warum sollte ich gegen dich kämpfen?«, fragte Garshwyn. »Mein Schiff ist vernichtet, die Flotte der Garbyor existiert praktisch nicht mehr. Du hast mich gerettet. Dafür danke ich dir.«
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»Gern geschehen«, sagte Atlan und senkte den Blick. Ohne ein weiteres Wort trat er ein Stück zur Seite und hantierte mit den Kontrollen der Medo-Nische. Das Fesselfeld erlosch. Im ersten Moment war Garshwyn verwundert. Mehr war nicht nötig, um den Arkoniden von seiner Harmlosig keit zu überzeugen? Aber er durfte sich keinen Illusionen hingeben. Es wäre ein Fehler, diesen Mann zu un terschätzen, auch wenn der Zaqoor ihm auf den ersten Blick körperlich überlegen schien. Der Humanoide hatte sogar die Bordschwerkraft auf etwa die Hälfte des Wertes herunter geregelt, die Garshwyn gewohnt war. Wenn es nur eine Frage der Muskel kraft wäre, hätte der Zaqoor leichtes Spiel mit ihm gehabt. Allerdings hatte Garshwyn gehört, dass sich Atlan mehr als einmal er folgreich gegen die Garbyor zur Wehr gesetzt hatte. Er selbst war nur ein Hangartechniker, der im Ernstfall höchstens als einfacher Fußsoldat eingesetzt wurde. Ihm entging nicht, dass die rechte Hand des Arkoniden mit scheinbarer Lässigkeit neben dem kleinen Energiestrahler an seinem Gürtel hing. Wenn Garshwyn die ver meintliche Gelegenheit zum Angriff nutzte, würde er mit hoher Wahr scheinlichkeit eine Überraschung er leben. Mit bedächtigen Bewegungen schwang er sich von der Liege. Er wollte nicht nur jegliche Provokation vermeiden, sondern sich zunächst ei nen Eindruck von seinem körperli chen Zustand machen. Dann fiel ihm wieder etwas ein, worüber er im ers ten Moment nicht genauer nachge dacht hatte.
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»Was ist mit der Varganin? Ist sie auch an Bord?« Atlans Kopf ruckte herum. »Woher kennst du Kythara?«, fragte er schroff zurück. »Jeder Garbyor kennt dein Gesicht und das deiner Begleiterin.« »Du meinst das Gesicht des Fein des.« »Du bist der Feind der Lordrichter. Mir hast du das Leben gerettet.« Atlan atmete einmal tief durch. »Die Varga... Kythara lebt nicht mehr.« »Das tut mir Leid«, sagte Garsh wyn, obwohl er dieses Empfinden ei gentlich nicht verspürte; nicht einmal Fatuqars Tod berührte ihn sonderlich, dazu war er zu stark Zaqoor, zu sehr Garbyor. Atlan sah ihn lange wortlos an. Dann sagte er ein einziges Wort: »Gut.« Und, eine Ewigkeit später: »Viel leicht gibt es noch andere Überleben de.« *
Warum ließ ich Garshwyn frei um herlaufen? War es Mitgefühl für je manden, der gerade so dem Tod ent ronnen war? Oder für jemanden, der plötzlich alleine in einer fremden Ga laxis war? Mein Extrasinn hätte mich verspot tet, wenn er bereits wiederhergestellt wäre, so viel war sicher. Auf jeden Fall würde ich genau be obachten, was der Zaqoor tat, und nach Hinweisen Ausschau halten, ob ich ihm vertrauen konnte. Ich hatte Garshwyn den Zugang zum Bordrechner gestattet, allerdings nur in begrenztem Umfang. Er konnte
Navigationsdaten abrufen und Flug bahnen berechnen, aber das Schiff selbst um keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgte ich, wie er sich in der holo grafischen Projektion den Augenblick darstellen ließ, als sein Mutterschiff explodiert war. Dann stutzte ich, weil er eine ganze Weile nur auf das Bild starrte, ohne einen Finger zu rühren. »Du hast die TROD-AHAN ver nichtet«, sagte er schließlich. Daran hatte ich gar nicht mehr ge dacht. »Ja«, bestätigte ich. Es hätte keinen Sinn gehabt, etwas abzustreiten, was Garshwyn sich in allen Einzelheiten ansehen konnte. »Dadurch habe ich mein Leben gerettet.« »Ich verstehe.« Wieder blickte er ei ne Zeit lang schweigend auf die Sze ne. »Ein bewundernswertes Manö ver.« »Ich hatte einfach nur Glück, dass sich dein Schiff genau dort befand, wo es sich befand.« »Es gibt nichts, was ich dir zum Vorwurf machen könnte«, sagte er. »Jeder von uns muss zuerst an sich selbst denken.« Ich wollte ihm widersprechen, aber dann sah ich ein, dass er meine mora lische Rechtfertigung vermutlich gar nicht verstehen würde. Wenn ich mit ihm diskutierte, würde er mit seinem Standpunkt vielleicht sogar Recht be halten. Garshwyn hatte sich wieder seiner Aufgabe zugewandt. Überlebende su chen. Ich musste wahnsinnig sein, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, weitere Schergen der Lordrichter an Bord zu nehmen.
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Und dennoch: Das Leben an sich war ein Wert, den zu bewahren zu den vornehmsten Aufgaben eines intelli genten Wesens zählte. Nach einigen Minuten lehnte er sich zurück und zeigte auf die holografi sche Projektion. Ein Ausschnitt in Form eines abgesägten Kegels war farblich markiert. »Der letzte Sektor.« »Gut«, sagte ich und setzte mich an die Kontrollen. »Dann werden mir mal nachschauen, ob wir dort etwas finden.« Als wir uns langsam dem markier ten Raumsektor näherten, wurden die Ortungsreflexe allmählich deutlicher. »Da!«, rief Garshwyn plötzlich. »Das könnte eine Rettungskapsel sein!« Fast genau im Zentrum des stump fen Kegels wurde ein Objekt erkenn bar, dessen Durchmesser mit umge rechnet drei Metern angegeben war. Kurz darauf hatte der Computer es zweifelsfrei als Rettungskapsel der Zaqoor identifiziert. Ich ließ die DYS-116 weitertreiben und musste den Kurs nur auf den letz ten paar Kilometern leicht korrigie ren. Ich konzentrierte mich scheinbar ganz auf die Navigation, während ich meinen Passagier ständig aus dem Augenwinkel beobachtete. Garshwyn wurde zwar zunehmend aufgeregter, je näher wir kamen, aber er ließ keine feindseligen Absichten erkennen. Als die Rettungskapsel angedockt war, sah ich den Zaqoor an. »Nach dir!«, sagte ich. Er richtete sich zu seiner vollen Körpergröße von gut zweieinhalb Me tern auf und machte sich auf den Weg zum Schleusenraum. *
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Die Kapsel war leer. Kein Garbyor, der mit gezückter Waffe heraus sprang – nicht einmal mal eine er stickte Leiche. Garshwyn war die Enttäuschung deutlich anzumerken, falls er eine sol che verspürte. »Vielleicht gibt es noch andere Kapseln«, sagte ich. »Nein«, entgegnete er ohne Zögern. »Es gibt keine anderen Überleben den.« Seine Miene wirkte versteinert. »Was ist?« Er grunzte unwillig. Schließlich rang er sich zu einem Geständnis durch, das ich so nicht erwartet hatte: »Es gab da eine ... weibliche Zaqoor. Sie war bei mir, als ...« »Warum hast du sie nicht in deiner Kapsel mitgenommen?« Garshwyn starrte eine ganze Weile reglos auf den Boden und schwieg. Ich wollte mich bereits erkundigen, was mit ihm los war, als er langsam den Kopf hob und mich mit einem merk würdigen Blick ansah. »Weil ich ...«, setzte er stockend an. »Weil ich nur an mich selbst gedacht habe.« Jetzt war ich es, der schwieg. Es gab nichts, was ich darauf hätte erwi dern können. Ich konnte ansatzweise nachempfinden, was in ihm vorging. Im Laufe meines langen Lebens hatte ich immer wieder den Tod anderer in Kauf nehmen müssen, um meine Ziele zu erreichen. Natürlich nie aus Ei gennutz, sondern um höhere Ziele zu erreichen. Zumindest redete ich mir das ein. Oder bemühte mich, nicht allzu gründlich darüber nachzuden ken. Dann ging mir plötzlich etwas ganz anderes durch den Kopf.
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»Vielleicht ist es meine Schuld«, sagte ich leise. »Ich verstehe, worauf du hinaus willst«, erwiderte er. »Wenn du nicht dafür gesorgt hättest, dass die TROD AHAN vom Roschech-Schiff gerammt wird, hätte die Zeit vielleicht ge reicht. Aber ich kann es dir nicht zum Vorwurf ...« »Das meine ich gar nicht«, unter brach ich ihn. »Ich meine Schrödin gers Katze.« »Wie bitte? Dieser Begriff ist mir nicht bekannt.« Natürlich nicht. Er konnte auch nicht wissen, dass es einen Planeten namens Terra gab, der in mehreren Millionen Lichtjahren Entfernung um eine unscheinbare gelbe Sonne kreis te. »Schrödinger war ein Physiker, der vor langer Zeit in meiner Heimatgala xis lebte«, erklärte ich. »Er suchte nach einem Beispiel, das anschaulich die Unbestimmtheit der Quantenwelt beschreibt. In diesem Gedankenexpe riment geht es um einen Kasten, in dem man eine Vorrichtung installiert, die nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne mit genau fünfzigprozen tiger Wahrscheinlichkeit ein tödliches Gift freisetzt. Dann sperrt man ein Tier in diesen Kasten, verschließt den Deckel und wartet, bis die Zeitspanne abgelaufen ist. Und wenn man den Deckel wieder öffnet, passiert etwas sehr Interessantes.« »Wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte Garshwyn, »ist das Tier nach Ablauf der Zeitspanne entweder tot, oder es lebt. Was soll daran inter essant sein?« »Es geht darum, dass sich erst in dem Augenblick, wenn der Deckel ge öffnet wird, entscheidet, ob die Katze
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überlebt hat oder nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt existiert die Katze in einem unbestimmten Zwischenzustand. Sie ist erst dann eindeutig tot oder leben dig, wenn ein Beobachter die Unbe stimmtheit zusammenbrechen und ei ne konkrete Wirklichkeit entstehen lässt.« »Eine ähnliche Geschichte habe ich während meiner Ausbildung gehört, als es um Quantenphysik ging. Aber so verhalten sich doch nur winzig kleine Elementarteilchen und keine größeren Gegenstände oder Tiere.« »Streng genommen gilt dasselbe für alles, was existiert. Etwas wird erst dann real, wenn es von jemandem be obachtet wird. Zumindest kann nie mand beweisen, dass es davor exis tiert hat.« »Es sei denn, jemand anders hat schon vorher heimlich in den Kasten geschaut und gesehen, dass das Tier tot ist.« »Damit hätte er nur den Zeitpunkt der Beobachtung vorverlegt.« »Stimmt«, sagte Garshwyn nach denklich. »Du meinst also, dass es ge nauso war, als ich nicht wusste, ob Fatuqar sich mit der Kapsel retten konnte?« »Für mich war es genauso, als ich deine Kapsel geborgen habe. Auch ich wusste nicht, was mich hinter der Lu ke erwartet.« »Ich selbst war mir zeitweise nicht sicher, was wirklich mit mir gesche hen war. Ich glaube, ich kann nach empfinden, wie es dem Tier des Physi kers ergangen sein muss.« War Garshwyn klar, was er da gera de gesagt hatte? Aber ich wollte nicht genauer darauf eingehen. Ich hatte schon mehr preisgegeben, als ich wollte.
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»Glaubst du, dass der Beobachter einen Einfluss darauf hat, was in einer solchen unbestimmten Situation ge schieht?«, fragte der Zaqoor. »Wie kommst du darauf?« »Weil du vorhin von Schuld gespro chen hast.« »Ach ja ...« Ich überlegte, wie ich aus dieser Zwickmühle wieder her auskam. »Ich weiß nicht, ob Schrö dingers Experiment jemals mit Kat zenliebhabern und -hassern durchge führt wurde. Aber wenn ich bedenke, wie oft ich in meinem Leben schon tödlichen Gefahren entronnen bin ... Manche Leute behaupten, ich hätte mehr Glück als Verstand gehabt, wie es in einer Redensart meiner Heimat galaxis heißt.« »Hast du dir gewünscht, dass Fatu qar sich nicht retten konnte?« Verdammt, der Bursche war hart näckiger, als ich ihm zugetraut hätte! Das mit der Schuld war mir einfach so rausgerutscht. Ich wollte ihn nicht mit der Nase darauf stoßen, dass ich möglicherweise im Besitz einer Su perwaffe war, deren Wirkung sich kaum abschätzen ließ. Wie konnte ich ihn davon abbrin gen, diese Gedanken weiterzuverfol gen? In diesem Moment heulte die Alarmsirene in der Zentrale der DYS 116 los. Das konnte nur Ärger bedeuten. Einen Moment lang war ich un schlüssig, ob ich fluchen oder mit Er leichterung reagieren sollte.
5. Die Ortung hatte fünf Keilraum schiffe erfasst. Wenn sie den Kurs bei
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behielten, würden sie unserer derzei tigen Position ziemlich nahe kommen. Anscheinend hatten sie das kleine Beiboot noch nicht bemerkt, aber das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Garshwyn, der mir in die Zentrale der DYS-116 gefolgt war, keuchte entsetzt auf, als er die Einheiten in der holografischen Projektion erkann te. Ich blickte mich kurz zu ihm um. »Gibt es vielleicht einen speziellen Grund, warum die Roschech das Feu er auf wehrlose kleine Zaqoor-Bei boote eröffnen?« »Mein Volk ist bei ihnen nicht sehr beliebt«, erklärte Garshwyn. »Die Ro schech sind starke und rücksichtslose Kämpfer, aber sie neigen dazu, im Ei fer des Gefechts den Überblick zu verlieren. Deshalb werden sie nur sel ten und ausschließlich in untergeord neter Stellung in den Einsatz ge schickt.« »Und jetzt nutzen sie die willkom mene Gelegenheit, sich an ihren Un terdrückern zu rächen.« »Richtig.« »Dann sollten wir zusehen, dass wir so schnell wie möglich von hier ...« Ich sprach nicht weiter, weil in die sem Moment alle fünf Keilraumer gleichzeitig den Kurs änderten. Die Daten ließen keinen Zweifel, welchem neuen Ziel sie sich zugewandt hatten. Der DYS-116. »Verdammt, das hat uns gerade noch ...« »Es gibt eine kleine Chance«, unter brach Garshwyn meine einsetzende Schimpfkanonade. »Bist du ein guter Schütze?« »Leidlich. Auch wenn ich mit den Waffen dieses Schiffs noch nicht allzu viel Erfahrung ...«
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»Die Roschech-Schiffe besitzen ei ne Art Vernichtungsschalter für den Notfall. Wenn sie im Kampf keine Be fehle mehr entgegennehmen, lassen sie sich verhältnismäßig einfach eli minieren. Ich habe es bei einem Ein satz miterlebt, als sie ...« »Sag mir doch einfach, was ich tun soll!« »Mit einem gut gezielten Schuss auf die kuppelförmige Erhebung rechts neben dem Bug feuern.« »Was ist mit den Schutzschirmen?« »Durch einen speziellen Interfe renzeffekt sind sie genau an dieser Stelle durchlässig, unabhängig von der Richtung, aus der sie getroffen werden.« »Und wie soll ich mit diesem winzi gen Beiboot fünf riesige Schlacht schiffe auf einmal ausschalten?« »Wie gesagt, es ist eine kleine Chan ce, mehr nicht.« Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Garshwyn die Wahrheit sagte. Die Alternative wäre eine panische Flucht, bei der ich nicht darauf hoffen konnte, meinen früheren Trick noch einmal durchzu ziehen. Dummerweise war gerade kei ne ringförmige Turbulenz in der Nä he. Also steuerte ich die DYS-116 mit hochgefahrenem Schutzschirm direkt auf die Keilraumer zu. Ich beschloss, auf die Unterstützung des Bordrech ners zu verzichten, da es zu lange ge dauert hätte, ihn mit einer so komple xen Schussfolge zu programmieren. Beziehungsweise hätte ich erst einmal überlegen müssen, wie ich ihm erklär te, was ich im Sinn hatte. Also ent schied ich mich für die Variante, die im Augenblick die einfachere war. Ich schaltete die Waffenkontrollen auf
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manuelle Bedienung und konzentrier te mich. Für einen Moment verschwamm wieder alles vor meinen Augen, bis ich nur noch durcheinander wirbelnde Keilraumschiffe sah. Aber ich ließ mich nicht beirren und feuerte in schneller Folge fünf Schüsse hinter einander ab. Ich hätte genauso gut die Augen zu kneifen und blind schießen können. Und ohne den Flammenstaub hätte das Ergebnis schon vorher festgestan den. Als sich mein Sichtfeld wieder klär te, sah ich fünf Roschech-Raumschif fe, die nacheinander explodierten. Fassungslos starrte ich auf die Feu erbälle im Weltraum, die sich langsam in eine einzige langgezogene Trüm merwolke verwandelten. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Garshwyn leise, als er endlich die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich dachte, du würdest vielleicht ein Schiff vernichten und den anderen ei nen Schrecken einjagen, damit sie sich zurückziehen.« »Ich bin eben ein Glückskind«, ant wortete ich mit ungewohnt krächzender Stimme. »Aber jetzt sollten wir uns wirklich von diesem ungastlichen Ort entfernen und uns ein wenig Ent spannung gönnen.« Ich programmierte den Bordrech ner mit einem neuen Kurs, sicherte die Kontrollen und zog mich in die kleine Kabine zurück. *
Nach dieser Aktion fühlte ich mich völlig ausgelaugt, obwohl die An strengung eigentlich nicht der Rede wert gewesen war. Normalerweise
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neigte ich nicht dazu, in Stress- oder Gefahrensituationen zusammenzu klappen. So etwas steckte mein durchtrainierter Körper mit Unter stützung des Zellaktivatorchips lo cker weg. Aber jetzt brauchte ich unbedingt etwas Ruhe. Erleichtert streckte ich mich auf der Liege in der Kabine aus. Bekam ich nun die Auswirkungen des Flammenstaubs zu spüren, vor de nen Tuxit mich gewarnt hatte? Immerhin war ich mir nun einiger maßen sicher, dass ich über eine neue, mir bisher nicht bekannte Fähigkeit verfügte. Ich war in der Lage, Wahrschein lichkeiten zu beeinflussen. Die Flucht vor dem Keilraumschiff, der knappe Vorbeiflug der Rettungs kapsel, der erstaunlich umgängliche Zaqoor – all das ließ sich mit Zufall oder Glück erklären. Solche Situatio nen hatte ich schon tausendfach er lebt. Aber dass ich mit getrübtem Blick fünf stecknadelgroße Ziele erwischte, indem ich einfach losballerte – das war etwas anderes! Natürlich bestand immer eine – wenn auch verschwindend geringe – Möglichkeit, mit geschlossenen Augen ins Schwarze zu treffen. Doch in der Praxis sorgte die ausgleichende Ge rechtigkeit der Statistik dafür, dass so etwas in den meisten Fällen daneben ging. Ich dachte an all die anderen seltsa men Fügungen. Die zweite Rettungs kapsel, die leer war, weil ich nur un gern einen weiteren potenziellen Gegner an Bord genommen hätte. Die Roschech-Schiffe, die genau im richtigen Moment aufgetaucht waren, als das Gespräch mit Garshwyn in ei
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ne unangenehme Richtung abgedrif tet war. Auch wenn sich daraus ein neues Problem entwickelt hatte. Das ich wiederum mit Bravour gemeistert hatte. Für mich gab es keinen Zweifel mehr. Ich besaß die Fähigkeit, relativ unwahrscheinliche Ereignisse Wirk lichkeit werden zu lassen. Konnte ich vielleicht sogar Unmög liches leisten? Obwohl Tuxit dies ka tegorisch abgestritten hatte? Ein verlockender Gedanke! *
Garshwyn zog sich instinktiv in ei nen Winkel der kleinen Zentrale zu rück und kauerte sich auf den Boden. Allmählich wurde der Fremde ihm unheimlich. Zu Anfang hatte er sich ein paarmal dabei ertappt, dass er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Er hatte sogar begonnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, mit einem Feind der Lordrichter Freundschaft zu schließen. Ihm war bewusst, dass eine derarti ge Verbrüderung ein gefährliches Un terfangen war. Alle Untertanen der Lordrichter waren mit einem Implan tat ausgestattet, das ihnen bei Unge horsam einen tödlichen Impuls ver setzte. Hätte es nicht längst aktiviert werden müssen, als Garshwyn an Bord des Beiboots gegangen war? Und erst recht, als er mitgeholfen hatte, die Roschech-Schiffe zu vernichten? Vielleicht hatte mit dem allgemei nen Zusammenbruch der Ordnung auch das Todesimplantat seine Wir kung verloren. Oder war es möglich, dass sein Lebensretter über Mittel verfügte, es zu neutralisieren? Garshwyn verstand nicht, was in
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Atlan vor sich ging. Der Weißhaarige schien von einem unbegreiflichen Ge heimnis umweht zu sein. Es waren nicht nur die Augen, die den Eindruck erweckten, dass sie mehr als ein Nor malsterblicher gesehen hatten. Als er mit einer lässigen Handbe wegung die Roschech-Schiffe ausge löscht hatte, schien er auf eine andere Ebene entrückt zu sein. Garshwyn glaubte sogar, in diesem Moment so etwas wie eine Aura des Bösen gese hen zu haben, eine Wolke aus grau flirrendem Staub, die Atlan umgeben hatte. Der Zaqoor fühlte sich unendlich einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Mit der TROD-AHAN hatte er auch ein Stück Heimat verloren – ganz zu schweigen von Fatuqar ... Selbst die Auflösung der Macht strukturen der Garbyor-Flotte hatte eine unausgefüllte Leere in ihm hin terlassen. Obwohl Garshwyn sicher nicht zu den fanatischsten Anhängern der Trodar-Philosophie gehörte. Er hätte sich gerne etwas mehr Freiheit für die Gestaltung seines Lebens ge wünscht. Andererseits hatte die Macht der Lordrichter seinem Dasein ein klares Ziel gesetzt. Und nun hatte er alles verloren. Und in dieser Situation musste er mit einem Wesen zurechtkommen, das ihm trotz der humanoiden, zaqoor ähnlichen Gestalt fremdartiger als ein Roschech oder Daorghor vorkam. Garshwyn beschloss, vor diesem Atlan auf der Hut zu sein.
6. Nach dem letzten Abenteuer ver steckte ich die DYS-116 wieder im
Ortungsschutz eines ausgebrannten Raumschiffswracks. Es konnte nicht schaden, mein Glück nicht allzu sehr zu strapazieren. Außerdem kos tete es mich in meinem besonderen Fall eine Menge Kraft, und etwas Ru he würde mir jetzt gut tun. Mithin blieben wir in Deckung und verlegten uns aufs Beobachten. Immer noch regierte das Chaos im einstmals mächtigen Flottenverband der Garbyor, auch wenn die hyper energetischen Entladungen und Raum verzerrungen allmählich nachließen. Die mehreren tausend Schiffe hatten sich zu einem kugelförmigen Trüm merfeld verteilt, das inzwischen etwa zehn Lichtminuten weit vom Dunkel stern entfernt war – also etwas mehr als die Distanz, in der die Erde ihre Sonne umkreiste. Der Explosions druck trieb die Wolke aus Schrott, die auf gut dreißig Kilometer Dicke zu sammengestaucht war, mit einer Ge schwindigkeit von fast 3000 Stun denkilometern nach außen. Die weni gen Schiffe, die nach dem Inferno noch manövrierfähig waren, hatten längst den Schauplatz verlassen. Garshwyn vermutete, dass sie zu an deren Sammel- oder Stützpunkten geflogen waren, um sich neu zu for mieren. Eigentlich hätte langsam Ruhe auf dem Weltraumfriedhof einkehren müssen. Wenn nicht die Roschech gewesen wären. Sie schienen die Reste der Garb yor-Flotte als willkommenes Jagdre vier zu betrachten. Sie tauchten über all auf, wo sich noch Leben regte – und wenn es sich nur um ein Energie aggregat handelte, das mit einem letzten Aufblitzen den Geist aufgab.
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Sofort waren die Roschech zur Stelle und schossen alles kurz und klein. »Was weißt du noch über die Ro schech?«, fragte ich Garshwyn, der an meiner Seite die Szenen betrachtete, die sich um uns herum abspielten. »Nicht sehr viel«, antwortete der Zaqoor. »Sie sind reptiloid und etwa so groß wie du. Sie haben einen sehr grazilen Körper, einen länglichen Schädel und einen langen Schweif. Ich selbst bin nie einem Vertreter die ses Volks begegnet. Ich habe gehört, dass man ihre Raumschiffe nur mit Atemmaske betreten sollte. Sie lieben ein feuchtwarmes Klima, in dem sich sehr schnell unangenehme Gerüche bilden.« »Ich stelle mir gerade bildlich vor, wie sie durch die Dschungel und Sümpfe ihrer Heimatwelt stapfen und mit ihren langen Zungen Insekten im Flug fangen.« »Zu ihrer Herkunft kann ich dir nichts sagen. Und wie sie sich ernäh ren, habe ich auch nie beobachtet. Sie haben nicht viel Kontakt zu den ande ren Garbyor-Völkern gehabt.« »Diese Abneigung scheint auf Ge genseitigkeit zu beruhen«, sagte ich. »So scheint es.« Ich wandte mich wieder der Holo projektion zu, weil ich aus dem Au genwinkel eine Bewegung wahrge nommen hatte. »Da draußen scheint sich etwas zu tun. Was bezwecken deine Freunde mit diesem Manöver?« »Ich vermute, sie sammeln sich, weil es hier nichts mehr zu holen gibt. Sie haben ihren Zorn an allen Zaqoor ausgelassen, die sich in der Nähe des Dunkelsterns aufgehalten haben.« »Allen bis auf einen«, schränkte ich ein. Er sah mich an. »Vergiss nicht, dass
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auch du in einem Zaqoor-Beiboot sitzt.« Nach kurzer Zeit hatten sich in et wa einer Lichtminute Entfernung knapp zweihundert Keilraumer der Roschech versammelt. Es kamen noch ein paar Nachzügler dazu, dann schien die Flotte komplett zu sein. Offenbar hatten sie jetzt tatsächlich genug, denn kurz darauf setzten sie sich in Bewegung und gingen in den Überlichtflug. Aber nicht etwa in ei nem koordinierten Manöver, sondern jedes Schiff einzeln. Jeder Keilraumer wählte einen eigenen Zeitpunkt für den Abflug und sein eigenes Tempo – wie es sich für eigensinnige Kämpfer naturen gehörte. Nur die Richtung, in die sie aufbra chen, war in allen Fällen dieselbe. »Was glaubst du, wohin sie flie gen?«, wollte ich von Garshwyn wis sen. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich kann mich nur erinnern, dass der Hauptteil ihrer Flotte bei Letrasch stationiert war.« Ich beugte mich über die Konsole, um eine dreidimensionale Sternkarte abzurufen. Dann wies ich den Bord rechner an, den Kurs zu extrapolieren und alle Systeme in der Umgebung anzuzeigen. »Nun rate mal, welches System genau in dieser Richtung liegt.« »Letrasch?« »In einer Entfernung von nur sie benundneunzig Lichtjahren. Ein Kat zensprung.« Garshwyn sah mich mit verdutztem Ausdruck an. »Was hat das Tier in der Kiste damit zu tun?« »Eigentlich gar nichts. Das ist nur eine Redensart, die ich von einem mir recht gut bekannten Barbarenvolk
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übernommen habe. Purer Zufall, dass darin dasselbe Tier eine Rolle spielt.« Garshwyns Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er immer noch nichts verstanden hatte. »Ich würde mir die Sache gerne aus der Nähe ansehen«, wechselte ich das Thema und ließ das Beiboot Fahrt aufnehmen. »Was hast du vor?« »Ich beabsichtige, mich in die Höh le des Löwen zu wagen«, verkündete ich. »Das ist eine weitere Redensart mit einem anderen Tier, das zufällig ein naher Verwandter der Katze ist. Nur wesentlich größer und gefährli cher.« Jetzt sagte Garshwyn vorläufig gar nichts mehr. *
In gebührendem Abstand ging die DYS-116 auf Unterlicht und trieb im freien Fall auf den bläulichen Stern zu, der mich an die Sonne meines Hei matsystems erinnerte. Zwischen drei ausgeglühten Gesteinsbrocken und vier schon etwas verblassten Gasrie sen zog ein etwa erd- oder arkongro ßer Sauerstoffplanet seine Bahn. Letrasch. Den Ortungsdaten zufolge musste es sich um eine Welt handeln, auf der es sowohl Arkoniden als auch Zaqoor aushalten konnten. Genauere Werte bekam ich aus dieser Entfernung nicht herein. Auch in der Datenbank des Bordrechners fanden sich keine näheren Angaben über die Beschaf fenheit dieses Planeten. Also mussten wir uns überraschen lassen. Ich steuerte den Schatten hinter dem innersten Gasriesen an, der zu
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fällig gerade günstig stand, und nutz te den Ortungsschutz, um der Sache ein gutes Stück näher zu kommen. Dann ließ ich das Beiboot zwischen den zahlreichen Monden und Planeto iden treiben und richtete die techni schen Sinnesorgane der DYS-116 auf Letrasch. Jetzt erhielt ich etwas aussage kräftigere Daten. Hohe Anteile von Sauerstoff, Kohlendioxid und Was serdampf in der Atmosphäre, eine Durchschnittstemperatur von etwa 25 Grad Celsius und ein Lichtabsorp tionsspektrum, das auf jede Menge Photosynthese hinwies. Also ein Treibhausklima, in dem es vor Leben strotzen musste. Von den Roschech-Schiffen jedoch weit und breit keine Spur. Ich fühlte mich ermutigt, mich noch etwas näher heranzuwagen. An die mutmaßliche Höhle der Ro schech. Im Schatten eines Mondes ließ ich das Beiboot beschleunigen, dann trie ben wir im freien Fall und mit herun tergefahrenen Systemen auf Letrasch zu. Da wir uns von »außen« näherten, sahen wir den Planeten nur als schmale Sichel neben dem blau strah lenden Sonnenball. Plötzlich meldete die Ortung etwas Ungewöhnliches – eine hohe Konzen tration exotischer Metalle an der Oberfläche. Die Stelle gelangte durch die Rotation erst jetzt in den Erfas sungsbereich der Sensoren – genau dort, wo es auf der schmalen Sichel gerade Abend wurde. Offenbar waren sämtliche Ro schesch-Schiffe auf Letrasch gelan det. Wir konnten nur hoffen, dass sie Besseres zu tun hatten, als den Nacht
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himmel nach verdächtigen Bewegun gen abzusuchen. Vor allem nicht nach wehrlosen kleinen Zaqoor-Beibooten. Die parabelförmige Bahn führte uns immer näher an den Planeten her an, und nun wurden auch erste De tails auf der Oberfläche erkennbar. Wie es schien, hatte ich mit meiner allerersten Vermutung voll ins Schwarze getroffen. Diese Welt war mit einem Flickenteppich aus Land und Wasser übersät. Ich konnte noch nicht sagen, ob es ein Meer mit vielen Inseln oder eine Landfläche mit vielen Seen war. Vermutlich lief es letztlich auf dasselbe hinaus. Auf jeden Fall war alles mit sattem Grün bedeckt, sogar die Wasserflächen. Da unten breitete sich ein einziger dampfender Dschungel aus. Eine brodelnde Ur suppe. Die Atmosphäre nahm so viel Energie von der Sonne auf, dass sich allein auf der Hemisphäre, die uns zu gewandt war, gleichzeitig über zwan zig Wirbelstürme austobten. Sowohl entlang des Äquators als auch an den Polen. Dann stutzte ich. Nein, eigentlich durfte es mich nicht überraschen, dass meine Vermutung bestätigt wor den war. Wenn weder Garshwyn noch der Bordcomputer gewusst hatten, wie es auf dieser Welt aussah, waren alle Möglichkeiten offen gewesen. Wenn ich dann eine konkrete Vorstel lung hatte, war die Wahrscheinlich keit recht hoch, dass sich genau das als Wirklichkeit entpuppte. Es passte. Aber es war schon ein ei genartiges Gefühl. Hätte sich Le trasch wirklich als trister Wüstenpla net erwiesen, wenn ich mir zuvor ein entsprechendes Bild veranschaulicht hätte?
Bernhard Kempen
Nein, das hätte nicht gepasst. Weil Garshwyn mir vom feuchtwarmen Klima erzählt hatte, das die Roschech bevorzugten. Aber diese Überlegungen brachten mich auf eine ganz neue Idee. Ich konnte diese Erkundung für ein wei teres Experiment nutzen. Wenn es funktionierte, wäre es ein weiterer Beweis für die verblüffende Macht des Flammenstaubs. *
Natürlich hatte ich die ganze Zeit daran gedacht, auf Letrasch zu lan den. Sofern sich eine günstige Gele genheit ergab. Somit kam das schwere Gewitter, das sich dem Standort der RoschechFlotte näherte, buchstäblich wie ge rufen. Die dichten Wolkenmassen und zuckenden Blitze ließen sich hervor ragend als Ortungsschutz nutzen. Schließlich senkte sich das ZaqoorBeiboot im prasselnden Regen auf die Oberfläche von Letrasch. Unter dem Raumschiff knickten ein paar Bäume mit riesigen gefiederten Blättern ein, dann versank die DYS-116 etwa zwei Meter tief im Matsch. Das erste Teilexperiment war nur zur Hälfte erfolgreich verlaufen. Ich hatte mir während des Eintritts in die Atmosphäre vorgestellt, dass die vor herrschende Baumspezies von Le trasch riesige lappenförmige Blätter hatte. Jetzt wurde mir klar, warum dieser Wunsch nur schwerlich in Er füllung gehen konnte. Die häufigen Stürme hätten solche Blätter sehr schnell in kleine Fetzen oder Streifen gerissen. Aber die großen gefiederten Blätter waren immerhin ein guter Kompromiss.
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»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Garshwyn. »Ich schlage vor, wir warten ab, bis es hell wird und sich der Sturm verzo gen hat. Danach werden wir uns ein wenig umsehen.« »Du willst nach draußen gehen?«, kam es entsetzt von Garshwyn zurück. »Es kann nicht schaden, wenn wir uns ein wenig frische Luft um die Na se wehen lassen. Es ist schon fast eine Woche her, seit ich das letzte Mal fes ten Boden unter den Füßen hatte.« »Frische Luft? Ich will gar nicht wissen, wie es auf diesem Planeten riecht! Ich würde es vorziehen, wenn du dich allein in dieses Abenteuer stürzt.« Ich sah den Zaqoor nachdenklich an. »Wie oft hast du dich in deinem Leben schon auf der Oberfläche eines Planeten aufgehalten?« »Lass mich überlegen ... dreimal. Aber das letzte Mal stand ich eigent lich nur in der Schleuse und habe die Oberfläche gar nicht betreten.« Etwas in dieser Richtung hatte ich mir gedacht. »Ich vermute, du bist so gar an Bord eines Raumschiffs gebo ren.« »Natürlich! Alles andere wäre viel zu unhygienisch.« »Oder ist das nur ein Trick, damit du allein mit dem Beiboot verschwin den kannst, während ich draußen her umstapfe?« »Nein! Bitte glaub mir, Atlan!« Garshwyn sah mich mit verzweifelter Miene an. »Fessle mich, betäube mich – mach, was du willst! Ich bin zu al lem bereit. Aber zwing mich nicht, auch nur einen Fuß auf diesen Dreck klumpen zu setzen!« *
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Das Phänomen der Unbestimmtheit scheint auf den ersten Blick nur den Bereich des sehr Kleinen zu betreffen. Subatomare Partikel existieren in ei nem nicht klar definierten Zustand. Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Aufenthaltsort und selbst die Frage, ob sie Welle aus reiner Energie oder materielles Teilchen darstellen, sind nicht eindeutig festgelegt. Dies ge schieht erst, wenn sie mit anderer Ma terie interagieren. In diesem Augen blick realisiert sich eine von vielen Möglichkeiten. Die Konfrontation zwingt sie dazu, sich für einen Zu stand zu »entscheiden«. Aus »Vorlesungen über die Grund lagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
7. Garshwyn hatte sich ohne Gegen wehr auf der Medo-Liege ausge streckt und sich ein Fesselfeld anle gen lassen. Mein Angebot einer Pa ralyse oder Narkose zur Verkürzung der Wartezeit hatte er ausgeschla gen. Ich stellte die Kontrollen so ein, dass das Fesselfeld nach zwölf Stun den automatisch abgeschaltet wurde. Wenn ich dann noch nicht zurückge kehrt war, hatte ich andere Probleme. Dann konnte Garshwyn selbst ent scheiden, ob er mich heraushauen oder sich lieber aus dem Staub ma chen wollte. Nach kurzer Überlegung sorgte ich für einen zweiten Fall vor. Nun würde der Zaqoor auch dann die Freiheit zu rückerhalten, wenn die Ortung der DYS-116 eine Gefahrensituation er kannte – wenn das Schiff beispiels
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weise vom Boden oder aus der Luft oder dem Weltraum angegriffen wurde. Ich wollte ihn nicht zur Tatenlosigkeit oder zum Tod verurteilen. Aber ich hatte auch noch nicht genug Vertrauen, um völlig auf solche Vorsichtsmaßnahmen zu verzichten. Nicht genug Vertrauen in Garshwyn und in die Fähigkeiten, die mir der Flammenstaub verlieh. Danach öffnete ich das Schleusenschott. Vorsichtig prüfte ich den Schwall warmer Luft, der mir entgegenschlug. Die Systeme des ZaqoorBeiboots hatten sie zwar als atembar klassifiziert, aber wie die Geruchsmischung auf arkonidische Nasen wirkte, hatte der Bordrechner nicht beurteilen können. Die Luft von Letrasch war ein würziger, beinahe betörender Duft, der nach einer Woche im Weltraum sofort meine Sinne belebte. Experiment geglückt. Ich hatte zuvor beschlossen, dass es so sein sollte. Weil es hier entweder nicht so stank wie an Bord eines Roschech-Raumers oder weil Zaqoor-Nasen auf andere Geruchsnoten reagierten als die von Arkoniden. Dann trat ich durch die Schleuse auf die Oberfläche des Planeten. Das hieß, zuerst wäre ich beinahe darin versunken. Hastig rettete ich mich auf einen Baumstamm, der durch die Landung des Beiboots umgeknickt war. Ich balancierte auf dem Stamm weiter, bis ich einigermaßen festen Untergrund erreicht hatte. Es stellte sich heraus, dass sich überall Sandrücken oder Felsbuckel durch den Dschungel zogen, was mir ein gutes Vorankommen ermöglichte.
Bernhard Kempen
Der Wald bestand hauptsächlich aus den Bäumen mit den großen gefie derten Blättern, und auch im Unterholz herrschte keine besonders große Artenvielfalt. Moosteppiche, farnähn liches Gestrüpp, ineinander ver schlungene Blattgewächse mit blass blauen Blüten. Genau so hatte ich mir die Umgebung vorgestellt, in der sich die Roschech wohl fühlen mussten. Von größeren Tieren war bislang nichts zu sehen. Ich riss mich zusam men und verdrängte das Bild eines mehrere Meter langen schleimigen Wurms, das unverhofft aus meinem Unterbewusstsein aufgetaucht war. Nein, hier gab es nur harmlose klei ne Tierchen! Frösche, Eidechsen, Na getiere und dergleichen. Ein filigranes Insekt näherte sich surrend und landete auf meiner Hand. Ich betrachtete es neugierig, doch schon im nächsten Moment zuckte ich zusammen und schüttelte es hektisch ab. Was in aller Welt hatten bissige Blutsauger oder Schlimmeres hier zu suchen? Ich erinnerte mich, dass in meiner ersten Vision von Letrasch Insekten vorgekommen waren. Erfahrungsgemäß erwiesen sie sich nur selten als niedliche Kuscheltierchen. Also muss te ich jetzt wohl oder übel damit le ben. Zumal ich sie in meinen zweiten, etwas konkreteren Wunsch hinsichtlich der Tierwelt nicht ausdrücklich eingeschlossen hatte. Mir ging ein altes Sprichwort durch den Kopf: Überlege dir genau, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfül lung gehen! Ein guter Rat. *
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Nach einer Stunde hatte ich mich etwa zwei Kilometer vom Beiboot entfernt. Während der nicht ganz ein fachen Wanderung war es zu keinen weiteren Zwischenfällen gekommen. Nur einmal hatte ich dicht unter der Oberfläche eines trüben Tümpels et was gesehen, was Ähnlichkeit mit ei nem mehrere Meter langen schleimi gen Wurm hatte. Aber zum Glück hat te es nicht das Bedürfnis verspürt, an Land zu kriechen und einen ortsfrem den Eindringling zu bedrohen. Ich hatte mich in die Richtung des Landeplatzes der Roschech-Schiffe bewegt, die selbst noch etliche Kilo meter entfernt waren. Doch schon hier sah ich den ersten Roschech. Ich ging hinter einem Farnstrauch in Deckung und beobachtete, wie der Reptiloide die kleine Lichtung betrat. Es überraschte mich nicht im Gerings ten, dass er genauso aussah, wie Garsh wyn beschrieben hatte. Eine etwa zwei Meter große, aufrecht gehen de, schlanke Eidechse mit langem Schwanz. Er blieb auf der Lichtung stehen und schaute sich unschlüssig um. Ich hatte keine Ahnung, was der Ro schech hier suchte. Die Szene lag in einem seltsamen blassen Licht, das durch die Wolken des sich verziehen den Gewitters gefiltert wurde. Als nicht allzu weit entfernt ein kä ferähnliches Insekt vorbeisummte, sprang er unvermittelt auf, ließ eine lange Zunge hervorschnellen und fing das Tierchen im Flug. Unglaublich! Es war exakt so, wie ich es dahingesagt hatte, als ich mit Garshwyn über die Roschech speku liert hatte. Ich beschloss, das Experiment fort zusetzen. Diesmal jedoch bemühte ich
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mich, meine Vorstellungen nicht zu sehr an üblichen Klischees auszurich ten, die gemeinhin mit reptiloiden Wesen in Verbindung gebracht wur den. Diese Spezies sollte ein paar Be sonderheiten aufweisen, die im Uni versum nicht allzu häufig anzutreffen waren. Dann wartete ich gespannt ab. Wenig später trat ein zweiter Ro schech auf die Lichtung. Die beiden näherten sich vorsichtig und schlichen eine Weile lauernd um einander herum. Dann stürmte der Neuankömmling unvermittelt los und stürzte sich auf den ersten Roschech. Sie rauften miteinander und stießen dabei ein helles Quieken aus. Und da war es schon, mein erstes Anti-Klischee: Diese Reptilien fauch ten nicht, sie quiekten wie terranische Schweine! Die Rauferei war keineswegs ein Kampf auf Leben oder Tod, sondern hatte eher etwas Spielerisches. Nur kurze Zeit später ließen sie voneinan der ab und belauerten sich wieder. Schließlich erschien noch ein weite rer Roschech auf der Lichtung. Das Spiel begann erneut, nur dass sie sich diesmal zu dritt balgten. Ich konnte nicht allzu viele Details erkennen, aber es war nicht zu über sehen, dass sich die drei Individuen hinsichtlich des Körperbaus in Klei nigkeiten unterschieden. Das ließ sich noch mit individuellen Abweichungen erklären. Recht auffällig waren je doch die drei Knochenleisten, die ihre Köpfe zierten. Hier traten die Unter schiede am deutlichsten hervor. Beim ersten Roschach waren sie nur andeu tungsweise ausgeprägt, beim zweiten bildete die mittlere Leiste eine Art Kamm, und beim dritten hatten sich
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die beiden äußeren Leisten am stärks ten entwickelt. Als sie sich gegenseitig die braunen Monturen vom schuppigen Leib rissen und die Angelegenheit intensiver wurde, nutzte ich ihre Ablenkung, um mich dezent zurückziehen. Ich hatte genug gesehen – auch das dritte Ge schlecht, das ich mir für die Roschech vorgestellt hatte, war gegeben! Genauer wollte ich es gar nicht wis sen. Ich stapfte ein Stück weiter durch den Dschungel, bis ich an eine Gruppe von Bäumen kam, in deren Nähe nur niedriges Unterholz wuchs. Es sah da nach aus, dass dieser Ort regelmäßig von den Roschech besucht wurde, so dass sprießende Keimlinge sofort nie dergetrampelt wurden. Die Bäume wiesen noch eine weite re Besonderheit auf. An den Ästen hingen schlauchför mige Gebilde von schmutzig weißer Färbung. Sie waren etwas über einen halben Meter lang und maßen im Querschnitt etwa dreißig Zentimeter. Da ich keine Roschech in der Nähe sah, wagte ich mich näher heran. Ich berührte eins dieser Gebilde und überzeugte mich, dass sie eine sehr stabile Hülle besaßen. Sie waren um und über die Äste gelegt, geschlun gen oder gewunden, damit sie nicht gleich beim nächsten Sturm herun terfielen. Dann fand ich eins, an dem sich et was tat. Ich kam näher und beobach tete, wie an einem Ende plötzlich die Hülle aufbrach. Nach einer kurzen Atempause schlüpfte etwas heraus – ein Bündel aus schuppigen Armen, Beinen und einem langen Schwanz. Geschickt schlang es sich um den nächsten Ast und streckte sich auf
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seine volle Länge von etwa fünfzig Zentimetern. Ein junger Roschech. Bevor er auf mich aufmerksam wer den konnte, zog ich mich zurück. Das Experiment war ein voller Er folg gewesen. *
Ich hatte mir vorher überlegt, dass die Roschech zur Abwechslung dreige schlechtlich waren und ihre Eier nicht in Nester legten, sondern an Bäumen aufhängten. Alles andere wäre zu nor mal gewesen. Nachdem die Kleinen zur Welt gekommen waren, tollten sie eine Weile zwischen den Ästen herum, bis sie groß genug waren, am Boden den aufrechten Gang zu üben. Die Sache mit den Knochenleisten hatte allerdings noch einen zusätzli chen interessanten Aspekt. Das 0-1-2 Kämme-System war meine Idee ge wesen, aber bei der realen Umsetzung hatte sich so etwas wie ein Wahr scheinlichkeitsfaktor eingeschlichen. Die Lösung mit den drei Leisten, die bei allen Geschlechtern vorkamen, entsprach genau dem Prinzip, mit dem die natürliche Evolution ge schlechtsspezifische Merkmale entste hen ließ. Eine elegante kleine Anpas sung, die meiner Ausgangsidee etwas mehr Glaubwürdigkeit verlieh. Das Faszinierendste an dieser Ge schichte war, dass ich entschieden hatte, wie die Roschech lebten! Sie waren so, wie sie waren, weil es mir so in den Sinn gekommen war. Ich hatte die Macht, das Universum zu verändern, es nach meinen Vorstel lungen zu gestalten. Dass es eine Welt namens Letrasch gab, hatte schon vorher festgestan
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den. Aber wie es hier aussah und was die Roschech hier trieben – das war ganz allein mein Werk gewesen! Die Konsequenzen waren kaum zu fassen. Damit nicht genug. Mit meiner Schöpfung musste ich noch viel mehr bewirkt haben. Wenn die Lordrichter wussten, dass diese Spezies dreigeschlechtlich war, dann wussten sie es nur, weil ich es so bestimmt hatte! Zweifellos hatten schon andere In telligenzwesen Kontakt mit den Ro schech gehabt. Doch in diesen Mo menten hatte ich entschieden, was da bei über die Lebensweise der Reptilo iden bekannt geworden war. Ich hatte bestimmt, welche Art von Aufzeich nungen es über diese Begegnungen gab. Wenn ich eines Tages an Bord ei nes Garbyor-Schiffs oder anderswo entsprechende Daten finden würde, mussten sie natürlich mit meinen Be obachtungen übereinstimmen. Ein atemberaubendes Gefühl! Mir war natürlich klar, dass ich mit der Macht des Flammenstaubs nicht alles bewirken konnte. Ich konnte mir nicht wünschen, dass die Lordrichter nie existiert hatten – womit meine derzeitigen Probleme auf einen Schlag hinfällig gewesen wären. Mei ne Fähigkeit erstreckte sich nur auf die Beeinflussung unbestimmter Er eignisse, die ich in eine bestimmte Richtung lenken konnte. Aber ich musste nun in der Lage sein, mich aus nahezu jeder Schwierig keit zu retten. Weil es immer eine Mög lichkeit gab, mochte die Wahrschein lichkeit auch noch so gering sein. Wahnsinn! *
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Ein Stück weiter stieß ich auf eine Felskuppe, die sich knapp hundert Meter über den ansonsten recht ebe nen Boden erhob. Ich kletterte hinauf, und ganz oben bestieg ich den höchs ten Baum. Mit dem Energiestrahler, den ich auf minimale Leistung stellte, sägte ich ein paar Äste ab, bis ich freie Sicht hatte. Es hatte sich gelohnt. Ich blickte über das grüne Blätter dach des Dschungels, das sich bis zum Horizont erstreckte. Nur links von mir konnte ich weit im Süden gerade noch den Rand einer schimmernden Wasserfläche erkennen. Doch viel in teressanter war die Szenerie, die sich unmittelbar vor mir ausbreitete. In unregelmäßigen Abständen rag ten gewaltige dunkelbraune Dreiecke aus dem Grün. Wie die Bauwerke ei ner untergegangenen Kultur, deren Städte von der Natur zurückerobert worden waren. Die Roschech-Schiffe hatten mit der breiten Heckseite auf dem Boden aufgesetzt, sodass die Bugspitze etwa 700 Meter hoch in den Himmel ragte. Ein ungewöhnliches Zusammentref fen von Natur und Technik. Eigentlich war das Bild viel zu be eindruckend, um es zu zerstören. Aber darauf durfte ich keine Rücksicht nehmen. Ich machte mich für ein weiteres Experiment bereit. Mit der Macht des Flammenstaubs konzentrierte ich mich auf die Keil raumschiffe und stellte mir vor, dass es plötzlich zu einer Fehlfunktion in den Energiesystemen kam. Irgendeine Panne, die zu einer unkontrollierba ren Kettenreaktion führte. Etwas, das sie mit einem Schlag vernichtete. Wieder wurde mein Sichtfeld un
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scharf, und ich sah so etwas wie Geis terbilder, die sich über das reale Bild legten. Aber sonst tat sich nichts. Ich strengte mich etwas mehr an, und nun erkannte ich den Ansatz ei ner Möglichkeit, die ich wahr werden lassen konnte. Ich holte das entspre chende Geisterbild näher heran, doch dann sah ich die Schemen startender Keilraumschiffe, die aus dem Dschun gel aufstiegen. Ich drängte das Bild zurück, weil es nicht das war, was ich bewirken wollte. Immerhin leuchtete mir ein, was das bedeutete. Die Wahrscheinlich keit eines Starts der Raumer war hö her als eine spontane Explosion. Also musste ich mich noch stärker konzentrieren. Ich versuchte es erneut und drang tiefer als je zuvor in die Schichten der sich überlagernden Geisterbilder ein. Dann sah ich in weiter Ferne die An deutung einer Szene, die meinen Vor stellungen entsprach. Ich strengte mich an, aber es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Mit einem letzten Schub aus menta ler Kraft riss ich das Bild heran, das Wirklichkeit werden sollte. Doch be vor ich es aus den Tiefen der Unwahr scheinlichkeit holen konnte, geschah etwas anderes. Ein stechender Schmerz durchbohrte meinen Kopf, und mir wurde schwindlig. Die Welt kippte, und mit dem letzten Rest mei nes Bewusstseins konnte ich verhin dern, dass ich vom Baum fiel. *
Der Macht des Flammenstaubs schienen Grenzen gesetzt zu sein. Aus irgendeinem Grund war das, was ich mir gewünscht hatte, zu un
wahrscheinlich gewesen. Um es wahr werden zu lassen, hätte ich mehr Kraft aufbringen müssen, als mir zur Verfügung stand. War die Technik der Keilraumschif fe so sicher und unverwüstlich, dass sie praktisch nie versagte? Meine Er fahrung – auf die ich mir einiges ein bilden konnte – sprach dagegen. Jede Technik war gegen Störungen anfäl lig. Höchstens der Standard der Kos mokraten kam dem Ideal der Unver wüstlichkeit nahe. Alles, was von nor malen Intelligenzwesen zusammenge baut wurde, ging irgendwann kaputt. Daran konnte es also nicht liegen. Ich ließ mir noch einmal durch den Kopf gehen, was ich über Wahr scheinlichkeit und Statistik wusste, und schließlich dämmerte mir, wo ich einen Denkfehler begangen hatte. Ich zwängte mich in eine Astgabel des Baumes, um mir einen sicheren Stand zu verschaffen, und machte mich für ein weiteres Experiment be reit. Ich hatte mich noch gar nicht richtig von der Anstrengung erholt, aber diesmal wollte ich nicht so weit gehen wie beim letzten Mal. Für den nächsten Versuch be schränkte ich mich auf eine beschei denere Variante meines Wunsches. Wenig später verwandelte sich eins der Keilraumschiffe in einen grellen Feuerball, der sich mit geradezu ma jestätischer Anmut aus dem Dschun gel erhob. Mehrere Sekunden darauf erreichte mich der grollende Donner der Explosion. Von meinem Standort konnte ich etwa dreißig Roschech-Schiffe über blicken. Sich die totale Vernichtung aller Keilraumer zu wünschen war vielleicht etwas zu größenwahnsinnig gewesen. Aber die Chance, dass es in
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einem dieser Raumschiffe zu einer fa talen technischen Störung kam, war durchaus realistisch. Ich beobachtete eine Weile das brennende Wrack inmitten des schwarzen Flecks, den die Explosion im Dschungel hinterlassen hatte. Zu einem flächendeckenden Waldbrand kam es nicht. Dazu schienen Boden und Vegetation zu viel Feuchtigkeit gespeichert zu haben. Dann fiel mir ein, wie ich mein Werk auf einfachere Weise fortsetzen konnte. Ich zog meinen Energiestrahler, stellte ihn auf engste Bündelung ein und visierte einen Keilraumer an, der günstig stand und nicht zu weit ent fernt war. Unter normalen Umstän den wäre ich nie auf die Idee gekom men, mit einer Handwaffe auf ein Ob jekt zu zielen, das mehrere Kilometer entfernt war. Aber ich wollte es we nigstens versuchen. Nach einer Weile hatte ich mich auf das leichte Schaukeln des Baumes eingestellt und drückte ab. Der Energiestrahl, der im Grund nicht mehr als ein Nadelstich war, schlug genau in die Kuppel neben dem Bug. Ich wünschte mir, dass dieser winzige Im puls trotzdem ausreichte, um die Ver nichtungsschaltung auszulösen. Ein zweiter Feuerball erblühte über dem Dschungel von Letrasch. Ich nahm noch ein drittes und viertes Keilraumschiff ins Visier, und je des Mal wurde die Landschaft von neuen Detonationen erschüttert. Zu frieden bewunderte ich mein Werk. Dabei ließ ich es bewenden. Die üb rigen Schiffe waren zu weit entfernt oder standen in einem ungünstigen Winkel, sodass ich nicht an die Kup pel herankam. Außerdem hatte mich
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die Anwendung des Flammenstaubs inzwischen so sehr ausgelaugt, dass ich kaum noch die Hand mit der Waffe ruhig halten konnte. Obwohl mir jetzt eine längere Ru hepause gut getan hätte, beeilte ich mich, vom Baum herunterzukommen und mich möglichst weit vom Hügel zu entfernen. Immerhin war es denk bar, dass die Roschech herausfanden, von wo die Schüsse gekommen waren. Meine Vorsicht war angebracht. Nur wenige Minuten später hörte ich hinter mir ein lautes Krachen. Durch die dichte Vegetation konnte ich nicht sehen, was passiert war. Aber alles deutete darauf hin, dass ein Schütze an Bord eines Keilraumschiffs den Hügel ins Visier genommen und Ver geltung geübt hatte. Trotz meiner Erschöpfung machte ich mich unverzüglich auf den Rück weg zum Beiboot. *
Um meine Kräfte zu schonen, hatte ich immer wieder längere Verschnauf pausen eingelegt. Von den zwölf Stun den waren erst drei vergangen, sodass ich mir noch keine Sorgen wegen Garsh wyn machen musste. An meiner letzten Raststätte war ich tatsächlich für einen Moment ein genickt. Das war ein deutliches An zeichen, dass ich bereits meine letzten Energiereserven angegriffen hatte. Ich musste aufpassen, dass ich mir nicht zu viel zumutete. Ein Geräusch ließ mich hoch schrecken. Ich hielt den Atem an und sah mich um. Dann entdeckte ich sie. Nicht weit entfernt strichen drei Roschech durchs Unterholz. Sie be
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wegten sich mit großer Vorsicht und reckten immer wieder die langen Hälse. Ihr Verhalten ließ keinen Zweifel, dass sie etwas suchten. Der Verdacht lag nahe, dass sie nach mir suchten. Beziehungsweise nach dem Unbekannten, der ihre Raumschiffe vernichtet hatte. Es mochte durchaus sein, dass es dieselben drei Individuen waren, die ich vor einer Weile beim hemmungslosen Treiben beobachtet hatte. Aber sicher sein konnte ich mir nicht. Letztlich spielte es auch keine Rolle. Ich rutschte langsam und möglichst unauffällig den Baumstamm hinunter, gegen den ich mich gelehnt hatte, und rollte mich ins Dickicht. Offenbar ging ich dabei nicht unauffällig genug vor. Oder die Echsenwesen waren ausgezeichnete Späher. Jedenfalls drehte sofort einer der Roschech den Kopf in meine Richtung. Er quiekte seinen Kollegen etwas zu und hob eine Waffe. Ein Energiestrahl schlug in den Baumstamm und hinterließ ein verkohltes Loch im Holz. Genau dort, wo sich eine Sekunde zuvor noch mein Kopf befunden hatte. In dieser Sekunde war ich weitergerollt und im dichten Gestrüpp in Deckung gegangen. Ein zweiter Schuss zischte zwei Meter von mir entfernt ins Farndickicht. Das bedeutete entweder, dass mein Gegner mich aus den Augen verloren hatte oder ein lausiger Schütze war. Angesichts seines ersten Schusses schien dies aber nicht zuzutreffen. Ohne meine Deckung zu verlassen, hob ich den Energiestrahler, konzentrierte mich und wartete. Als ich einen der Roschech rufen hörte, drehte
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ich die Waffe ein kleines Stück zur Seite, bis die Richtung ungefähr stimmte, schloss die Augen und drückte auf den Auslöser. Der Energiestrahl schnitt zischend durch die Farnwedel, und im nächsten Moment ertönte ein abgehackter Schrei. Hastig wechselte ich erneut meinen Standort, obwohl ich mich am liebs ten vor Schmerzen am Boden gewälzt hatte. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn in eine altertümliche Schraubzwinge geklemmt. Aber dar auf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Deshalb war es ratsamer, wenn ich in nächster Zeit versuchte, mich durch bloßes Kampfgeschick statt exzessive Anwendung des Flammenstaubs aus der Affäre zu ziehen. Was mich mehrere Jahrtausende am Leben gehalten hatte, würde auch in dieser Situation genug sein. Hoffte ich. Ich wagte es, für einen kurzen Moment aus dem Farngestrüpp aufzutauchen, um mich zu orientieren und zwei Schüsse auf meine noch übrigen Gegner abzugeben. Beide Schüsse gingen daneben. Anschaulicher hätte mir kaum demonstriert werden können, wozu ich nur mit Hilfe des Flammenstaubs im stande war. Trotzdem ließ ich es darauf ankommen und hetzte weiter. Ich ging hinter einem dicken Baumstamm in De ckung und wartete ab. Als ich etwas hörte, schob ich mich vorsichtig an der Rinde entlang, bis ich ein Ziel hatte. Ich bemühte mich, die Hand ruhig zu halten, und drückte ab. Jetzt war nur noch ein Roschech übrig. Wieder horchte ich. Eine Weile
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blieb es ruhig, dann waren plötzlich Schritte zu hören, die sich hastig ent fernten. Sofort sprang ich hinter dem Baum hervor, zielte, und schoss dem flüchtenden Echsenwesen in den Rü cken. Problem gelöst. Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchte die Frage auf, ob das viel leicht nicht ganz fair gewesen war. Auf jemanden zu schießen, der sich ganz offensichtlich dem weiteren Kampf entzog. Ich wollte diesen Einwand nicht gelten lassen. Wenn der letzte Ro schech seine Artgenossen alarmiert hätte, wäre der Kampf erst richtig losgegangen. In der nächsten halben Stunde konnte ich meinen Weg ungehindert fortsetzen. Ich dachte schon, ich wür de das Beiboot ohne weitere Zwi schenfälle erreichen, als es neuen Är ger gab.
8. Garshwyn schreckte aus dem Schlaf hoch, als die Alarmsirene durch das Beiboot schrillte. Anfangs hatte er sich bemüht, wach zu blei ben, damit er auf keinen Fall Atlans Rückkehr verpasste. Er hatte ver sucht, sich Fatuqars Halbexistenz in einer Rettungskapsel vorzustellen. Ein geschlossener Raum, in dem sich eine Person aufhielt und zugleich nicht aufhielt. Dann der Augenblick, als die Kapsel geöffnet wurde. Als die Entscheidung zwischen Vorhanden sein und Nichtvorhandensein getrof fen wurde. Wie eine fallende, sich dre hende Scheibe, die schließlich auf ei ner definitiven Seite landete. Er stell
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te sich vor, wie sich das Universum in diesem Moment verzweigte. Auf der einen Seite ein Universum, in dem Fa tuqar in der Kapsel war, auf der ande ren eines, in dem sie es nicht war. Dann waren die Gedanken allmählich in einen wirren Strudel aus Bildern übergegangen, die in einen noch wir reren Traum mündeten. Garshwyn brauchte nach dem Auf wachen ein paar Sekunden, um sich wieder zu orientieren. Erst dann wur de ihm bewusst, dass er den Oberkör per aufgerichtet hatte. Dass er unge hindert hochgeschreckt war. Das Fesselfeld war desaktiviert worden. Da Atlan offenbar noch nicht zu rückgekehrt war, konnte das nur be deuten, dass der Notfall eingetreten war, für den der Arkonide vorgesorgt hatte. Garshwyn sprang von der MedoLiege und lief zur Zentrale. Er setzte sich an die Konsole und rief einen Statusbericht ab, um sich einen Über blick zu verschaffen. Der Bordcomputer meldete, dass sich während der vergangenen zwei Stunden vier Explosionen in mehre ren Kilometern Entfernung ereignet hatten. Die Positionen und die Ener giewerte legten den Verdacht nahe, dass es sich um vernichtete Keilraum schiffe handelte. Was hatte der wahnsinnige Arkoni de da draußen angestellt? Doch das war es nicht, was den Bordalarm ausgelöst hatte. Seit eini gen Minuten wurde in nur zweihun dert Metern Entfernung vom Beiboot mit leichten Energiewaffen geschos sen. Der Computer hatte das Vor kommnis als Gefährdung für das Schiff eingestuft und gleich die ent
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sprechenden Notmaßnahmen einge leitet. Garshwyn überzeugte sich, dass er in vollem Umfang Zugriff auf die Funktionen der DYS-116 hatte. Was sollte er tun? Den durchge drehten Arkoniden aus seiner mut maßlichen Notlage befreien? Das hatte Atlan nicht verdient. Wenn er in Schwierigkeiten steckte, hatte er es sich selbst zuzuschreiben. Wer konnte sagen, welche Untaten wider Garb er als Nächstes anrichten würde? Es wäre das Klügste, wenn Garsh wyn ihn seinem Schicksal überließ und sich so schnell wie möglich aus dem Staub machte – solange er noch die Gelegenheit dazu hatte. *
Es konnten nur noch wenige Schrit te bis zum Zaqoor-Beiboot sein, von dem in der dichten Dschungelvegeta tion allerdings noch nichts zu sehen war. Ich erinnerte mich sogar an den Felsbuckel, hinter dem ich in De ckung gegangen war. Auf dem Hinweg hatte ich ihn benutzt, um einer sump figen Stelle auszuweichen. Doch all das half mir im Moment nicht weiter. Wieder schlug ein Energiestrahl in die Felsen über meinem Kopf und sprengte kleine Gesteinssplitter her aus, die mir um die Ohren flogen. Ich tauchte kurz an einer anderen Stelle auf als beim letzten Mal und feuerte mit meiner Waffe ins Grün. Nichts deutete darauf hin, dass ich einen Ro schech getroffen hatte. Im Gegenteil. Sofort wurde das Feuer erwidert. Zum Glück hatte ich längst wieder den Kopf eingezogen. Ich wagte es immer noch nicht, den
Flammenstaub einzusetzen, weil ich mich gerade so weit erholt hatte, dass ich wieder einigermaßen klar denken und handeln konnte. Benutze deinen Verstand! Du hast schon viele solcher Schießereien er lebt – und überlebt. Vielleicht hätte der Extrasinn mir einen guten Tipp geben können. Doch er hatte sich immer noch nicht zu rückgemeldet. Ich blieb bei meiner bisherigen Taktik, indem ich aufsprang und eine längere Salve ins Dickicht feuerte. Diesmal war mir, als hätte ich mehre re Schmerzensschreie gehört. Immer hin etwas. Obwohl es mindestens ein Dutzend Roschech sein mussten, die mich in die Zange genommen hatten. Als ich hinter mir Äste knacken hörte, dachte ich zuerst, dass es zu Ende war. Mit gezückter Waffe fuhr ich herum ... ... und starrte verdutzt auf ein klei nes Zaqoor-Beiboot, das sich seinen Weg durch die Baumwipfel bahnte. Es mochte im Vergleich zu anderen Raumschiffstypen winzig sein, aber wenn man am Boden kauerte und sah, wie sich ein Metallklotz von zwanzig Metern Durchmesser auf einen herab senkte, wirkte es trotz allem ver dammt groß. Ich rollte mich instinktiv herum, als unvermittelt die Energiekanonen der DYS-116 feuerten. Natürlich war nicht ich das Ziel, sondern meine Gegner. Das Prasseln und der Hitzeschwall verrieten mir auch mit geschlossenen Augen, dass hinter mir der Dschungel in Flammen aufging, wo sich die Echsenwesen verschanzt hatten. Obwohl ich zugeben musste, dass ich für einen Sekundenbruchteil an
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der Zuverlässigkeit meines ZaqoorFreundes gezweifelt hatte. Das Beiboot senkte sich auf den lautlos arbeitenden Antigravfeldern noch etwas tiefer herab und drehte sich ein Stück, bis genau vor mir die offene Schleuse gähnte. Ich überlegte nicht lange, sondern sprang auf und hechtete mit einem Satz hinein. Ohne noch einmal zu rückzuschauen, drückte ich auf den Knopf und hörte das dumpfe Klacken, mit dem das Schleusenschott zufiel. Ich hielt die Augen geschlossen und atmete dreimal tief durch. Nur eine winzige Verschnaufpause, aber ich hatte sie dringend nötig. Erst danach konnte ich mich dazu aufraffen, mich zur Zentrale zu begeben. *
Garshwyn hatte die DYS-116 ge wendet und entfernte sich in geringer Höhe von der Kampfzone. Er hörte, wie Atlan in die Zentrale kam, und drehte sich zu ihm um. »Danke für die Rettung in letzter Sekunde«, sagte der Arkonide und ließ sich erschöpft auf den Kopiloten sitz fallen. »Gern«, erwiderte der Zaqoor. »Betrachtest du damit eine Art Le bensschuld als getilgt, oder kann ich mich weiterhin auf deine Unterstüt zung verlassen?« »Das kommt darauf an, was du von mir erwartest.« Die Ortung meldete sich mit einem akustischen Signal. Das Holo zeigte, wie sieben Keilraumer vom Dschun gelboden abhoben. »Im Augenblick erwarte ich, dass du einfach nur tust, was ich sage«, erklärte Atlan.
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»Möchtest du die Kontrollen über nehmen?«, fragte Garshwyn. Der Arkonide schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte der Zaqoor gelernt, dass diese Geste Verneinung bedeute te. »Ich möchte, dass du scharf nach links abdrehst und hinter der geboge nen Bergkette dort drüben zurück fliegst.« »Warum soll ich wieder in Richtung der Roschech-Schiffe ...?« »Weil ich einen Plan habe. Aber wenn wir zuerst ausführlich darüber diskutieren, erhalten wir vielleicht nicht die Gelegenheit, ihn auszufüh ren.« Garshwyn schwieg und führte das Manöver exakt nach Atlans Wün schen aus. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, aber rief sich ins Gedächtnis, dass der Arkonide schon aus viel ver zwickteren Situationen in Dwingeloo entkommen war. Die Keilraumer nahmen Kurs auf die DYS-116. »Geht es dir gut?«, fragte Garshwyn mit einem Seitenblick auf Atlan. »Ging mir schon schlechter«, erhielt er die brummige Antwort. »Lass mich in Ruhe planen, während du die Ar beit übernimmst.« »Sie kommen näher.« »Gut«, sagte Atlan. »Flieg ein biss chen langsamer.« Garshwyn verkniff sich eine ver dutzte Nachfrage und tat, was der Ar konide von ihm verlangte. Die Keilraumer legten sich in die Kurve, um das kleine Zaqoor-Beiboot nicht zu verlieren. Atlan beugte sich vor und rief einen Datensatz aus dem Speicher ab. »Übernimm diesen Schlingerkurs«, sagte er. »Damit konnte ich die Ro schech schon einmal austricksen.«
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Das vorderste Schiff eröffnete das Feuer. Die DYS-116 wurde kurz gestreift, aber der Schutzschirm hielt. »Jetzt flieg genau auf die gelande ten Schiffe zu!«, ordnete Atlan an. Als Garshwyn das Manöver aus führte, verstand er endlich den Sinn des Plans. Nun befand sich das Bei boot genau zwischen den Keilrau mern am Boden und denen in der Luft. Was zur Folge hatte, dass die Gegner das Feuer einstellten, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. »Verdammt!«, sagte der Arkonide mit einem Blick auf die holografische Darstellung. »Das hatte ich bei der Planung nicht berücksichtigt.« »Was?« »Die Kuppeln.« Garshwyn bemerkte, was Atlan meinte. »Die Roschech haben den Bug ihrer Schiffe hochgezogen.« »Um die Selbstvernichtungskup peln zu schützen«, führte Atlan den Gedanken zu Ende. »Aber dieses klei ne Problem werden wir mit einer leichten Abwandlung des Plans lö sen.« Atlan beugte sich erneut vor und übernahm die Waffenkontrollen. »Zum Glück haben wir den Bordcom puter inzwischen mit einer Routine programmiert, die automatisch die Kuppeln als Ziel erfasst. Ich möchte mich nicht schon wieder nur auf mein Glück verlassen.« »Was hast du vor?«, fragte Garsh wyn. »Wenn ich ›jetzt‹ sage, ziehst du das Beiboot senkrecht hoch.« Der Abstand zu den gelandeten und den fliegenden Keilraumern wurde immer geringer. »Achtung ... jetzt!«
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Garshwyn tat wie befohlen. Die DYS-116 schoss steil nach oben. Im nächsten Moment eröffnete Atlan das Feuer auf die vorderen zwei Ro schech-Schiffe. Da sie nicht schnell genug auf die Kursänderung des Bei boots reagierten, lagen die Kuppeln im freien Schussfeld des Beiboots. Die Keilraumer explodierten und regneten als brennende Trümmerwol ken auf den Dschungel von Letrasch. Garshwyn wartete darauf, dass At lan auch die anderen Keilraumer ab schoss. Aber die Waffen der DYS-116 schwiegen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Arkonide sich im Kopilotensitz zurückgelehnt hatte. Garshwyn blick te sich zu ihm um und erschrak. At lans Gesichtsausdruck wechselte zwi schen höchster Konzentration und tiefster Qual. Gleichzeitig wurde er wieder von diesem seltsamen grauen Staub umweht. Der Zaqoor kam gar nicht dazu, sich zu fragen, was mit ihm los war. Denn nun wurde seine Aufmerksam keit von dem beansprucht, was sich am Himmel über der Dschungelwelt abspielte. Gleichzeitig begriff er, war um der Arkonide das Feuer eingestellt hatte. Den fünf hinteren Schiffen der Ro schech-Staffel blieb nicht genug Zeit, den Feuerbällen auszuweichen. Sie rasten mitten in die Trümmerwolken hinein. Die Gewalt der Explosionen reichte zwar nach wenigen Sekunden nicht mehr aus, um die übrigen Keilraumer auf der Stelle zu vernichten. Aber die Schiffe kamen auch nicht ungescho ren davon. Sie wurden aus der Bahn geworfen, gerieten ins Trudeln und erlitten
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schwere Beschädigungen. Eins brach in der Mitte durch. Der rechte Flügel überschlug sich und stieß mit dem letzten Schiff in der Staffel zusam men, das die Sache bis zu diesem Zeit punkt noch relativ heil überstanden hatte. Die Zerstörung breitete sich immer mehr aus, bis von der kleinen Flotte nur noch ein Schwarm aus größeren und kleineren Trümmerstücken übrig war, die sich in einer ballistischen Kurve langsam dem Boden entgegen neigten. Atemlos verfolgte Garshwyn das Geschehen in der holografischen Darstellung, während sich das Bei boot immer weiter vom Planeten ent fernte. Die Trümmer stürzten genau über dem weitläufigen Landeplatz der Keilraumer ab. Einige Stücke gingen im Dschungel nieder, ohne weiteren Schaden anzurichten, aber die meis ten krachten gegen die Schiffe am Boden und rissen sie mit ins Verder ben. Drei Roschech-Raumer verwandel ten sich in Glutbälle. Die Druckwel len breiteten sich aus und brachten andere Schiffe aus dem Gleichge wicht. Es wirkte beinahe majestä tisch, wie sie langsam umkippten und die Vegetation auf einer dreieckigen Fläche von etwa einem Quadratkilo meter einebneten. Wieder blitzte es auf, als die noch intakten Einheiten von umherfliegenden Trümmern ge troffen wurden. Schließlich vereinig ten sich die Feuerbälle zu einem ein zigen Inferno. Die DYS-116 hatte inzwischen den Weltraum erreicht, aber die glühende Wunde auf der Oberfläche des Plane ten war immer noch deutlich als
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leuchtender Fleck im Grün zu erken nen. Garshwyn ließ sich gegen die Lehne zurückfallen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann blickte er sich wieder zu At lan um und erkannte, das seine Worte ohnehin auf taube Ohren gestoßen wären. Der Arkonide war bewusstlos in seinem Sitz zusammengesackt. *
Garshwyn hatte mich zur kleinen Medo-Nische gebracht und auf die Liege verfrachtet. Die Diagnoseein heit hatte jedoch vor meinem Orga nismus kapituliert, der nicht ganz dem entsprach, was sie von ZaqoorPatienten gewohnt war. Daraufhin hatte mein Begleiter entschieden, mich einfach schlafen zu lassen und zu hoffen, dass sich das Problem von selbst behob. Als ich gut zwölf Stunden später auf noch leicht wackligen Beinen in die Zentrale trat, saß Garshwyn mit Grüblermiene vor dem Holo. Mit einem Blick erfasste ich, dass wir uns immer noch im Letrasch-Sys tem befanden. Allerdings hatte sich die DYS-116 ein Stück zurückgezo gen und hielt sich wieder im Ortungs schutz eines kleinen Mondes des in nersten Gasplaneten auf. »Der Stützpunkt der Roschech wurde vollständig vernichtet«, sagte Garshwyn ohne weitere Einleitung. »Da unten können höchstens ein paar Roschech überlebt haben, die zufällig weit genug vom Explosionsort ent fernt waren.« »Die Roschech sind die Feinde der Zaqoor.«
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»Die Roschech sind Garbyor!« Nun drehte sich Garshwyn zu mir um. »Auf welcher Seite stehst du?«, wollte ich von ihm wissen. »Darum geht es nicht. Du machst es dir zu einfach. War es wirklich nötig, ein ganzes Volk auszulöschen?« »Was soll das heißen?« Er senkte den Blick. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, weil ich es nur von anderen Garbyor gehört ha be. Angeblich waren die Roschech, die den Lordrichtern dienten, die Letzten ihres Volkes. Vor der Katastrophe am Dunkelstern bestand ihr Kontingent aus dreihundert Keilraumern. Auf Letrasch hatten sich etwa zweihun dert versammelt. Es könnte sein, dass du die letzten Individuen dieser Spe zies ausgerottet hast.« »Wer um sein Leben fürchtet, sollte nicht in den Kampf ziehen«, erwiderte ich kühl. »Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass die Roschech an mein Verständnis für ihre schwierige Lage appelliert haben.« Garshwyn sagte nichts, sondern sah mich nur an. Ich wusste immer noch nicht, was ich von diesem Burschen halten soll te. Dass ein Zaqoor und ein Arkonide zu dicken Freunden wurden, war an gesichts der allgemeinen Lage kaum vorstellbar. Aber bisher hatte ich mich trotz gewisser Meinungsver schiedenheiten stets auf ihn verlas sen können. Immerhin hatte er mir auf Letrasch aus der Patsche gehol fen, obwohl er die Gelegenheit ge habt hätte, sich einfach mit der DYS 116 abzusetzen. Würde er sich genau so verhalten, wenn er irgendwann vor einer schwierigeren Entschei dung stand? Mir blieb keine andere Wahl. Vor
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läufig musste ich ihn weiterhin gut im Auge behalten. Ich schüttelte den Kopf, trat vor und setzte mich neben ihn an die Kon sole. »Jetzt sollten wir zusehen, dass wir von hier verschwinden«, sagte ich. »Falls doch noch überlebende Ro schech auftauchen, sollen sie hier un gestört ihre friedliche Existenz wei terführen.« *
In der Quantenphysik hat sich ge zeigt, dass der Beobachtungsvorgang und damit auch das beobachtende Subjekt einen entscheidenden Ein fluss auf das Objekt, die sogenannte Realität, ausübt. Damit entdeckte die Naturwissenschaft ein Dilemma wie der, das bereits die alten Philosophen beschäftigt hatte. Wenn es ein Ereig nis gibt, das von niemandem beobach tet wird und das auch keine Spur hin terlässt, die jemals von einem Beob achter gedeutet werden kann – hat dieses Ereignis dann wirklich stattge funden? Ist letztlich nur das real, was ich wahrnehme? Aus »Vorlesungen über die Grund lagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
9. In den nächsten Tagen kreuzten wir ohne besonderes Ziel durch Dwinge loo – die 16 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernte Galaxis, die von den Varganen und den Garbyor Gantatryn genannt wurde. Uns bot sich das Bild einer Galaxis im Aufruhr. Am chaotischsten schien es in den
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Raumsektoren zuzugehen, die durch die Experimente der Lordrichter mit dem Mikrokosmos betroffen waren. Die hyperdimensionalen Energien, die sich dort austobten, waren schon auf weite Entfernung anzumessen. Vorsichtshalber wichen wir diesen Bereichen weiträumig aus. Überall, wo wir auf Garbyor-Trup penverbände stießen, bot sich uns das gleiche Bild. Die Einheiten irrten planlos umher, immer wieder brachen Kämpfe aus. Auch an Bord einiger Raumschiffe schien alles zusammen gebrochen zu sein. Sie trieben füh rungslos dahin, und niemand unter nahm etwas, wenn sie auf Monde, Pla neten oder Sonnen zustürzten. Inzwischen hatten wir uns über 8000 Lichtjahre vom Dunkelstern ent fernt und näherten uns der Sonne Varlin. Hier sah die Situation ganz anders aus. Genau 183 Raumschiffe hatten in vorbildlicher Formation Stellung um eine Raumstation bezogen, die in ei ner stabilen Umlaufbahn um die pla netenlose Sonne kreiste. Vielleicht erhielt ich hier die Gele genheit, mehr über die neuen Pläne der Lordrichter zu erfahren. Auf den ersten Blick wirkte die Sta tion, als hätte ein kleines Kind wahl los die unterschiedlichsten Elemente aus einem Spielzeugbaukasten zu sammengefügt. Doch dann erkannte ich das Prinzip der Konstruktion. Die Grundlage bildete eine etwa fünf Ki lometer durchmessende scheibenför mige Werftplattform rund um eine Kugelzelle, die die typischen Merk male eines Golfballraumers der Zaqoor aufwies: Der Durchmesser von 1350 Metern stimmte, und auf der gewölbten Oberfläche waren deutlich
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die Dellen zu erkennen, hinter denen die Hangarröhren lagen und denen diese Schiffe ihre Bezeichnung ver dankten. An den Seiten der Plattform waren weitere Raumschiffselemente angeflanscht oder eingelassen. Ich konnte tropfenförmige Konstruktio nen identifizieren, die dem bevorzug ten Design der Torghan oder Daor ghor entsprachen, daneben sah ich Bauteile, die an die Käferraumer der Shiruh erinnerten, oder gänzlich an dere, vermutlich dem Design mir bis lang unbekannter Garbyor-Völker entlehnt. Die Station war so etwas wie eine Schnittstelle für unterschiedliche technische Systeme, gewissermaßen ein riesiger Universaladapter. Die Auswertung der abgehörten Funksprüche bestätigte meine weiter gehenden Vermutungen. Nach anfäng lichem Zögern hatte sich Garshwyn bereit erklärt, mir dabei zu helfen – vor allem bei der Entschlüsselung der interessanteren Sendungen. Die Raumstation trug den Namen Trodemlyor und stand unter dem Kommando eines gewissen Tolgoruk, der den Rang eines Marquis bekleide te. Damit nahm er in der Hierarchie der Garbyor eine Mittelstellung zwi schen den einfachen Soldaten und den Lordrichtern ein. Kein großer Feld herr, aber durchaus jemand, der etwas zu sagen hatte. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte ich Garshwyn. Er sah mich mit einem merkwürdi gen Blick an. Wahrscheinlich überleg te er, ob er die offensichtliche Gegen frage stellen sollte. Was ich ihm in Anbetracht der Umstände nicht ein mal übel nehmen konnte. »Was soll ich sagen oder tun, um
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dich davon zu überzeugen?«, erwider te er schließlich. »Ich würde mir diese Station gerne von innen ansehen.« »Es wäre kein Problem für mich, dich an Bord zu bringen. Du müsstest dich nur darauf einstellen, dass man dich nicht ohne weiteres wieder gehen lässt.« Ich lachte leise. Damit hatte er ge nau die richtige Antwort auf meine einleitende Frage gegeben. »Das lass meine Sorge sein.« »Es dürfte nahezu unmöglich sein, sich unbemerkt einzuschleichen«, sagte er. »Wenn wir uns zu erkennen geben, das heißt, wenn ich Kontakt mit der Station aufnehme, wird man einen kampftauglichen Garbyor mit einem funktionsfähigen Raumschiff bestimmt nicht zurückweisen.« »Und ich wette, wenn du mich als Gastgeschenk präsentierst, wird man dich mit offenen Armen empfangen«, setzte ich hinzu. »Versuchen wir es!« *
Garshwyn wusste überhaupt nicht mehr, was er vom Weißhaarigen hal ten sollte. War Atlan lebensmüde ge worden? Schwer vorstellbar. Also konnte er nur unter Größenwahn lei den oder wieder einen seiner berüch tigten Pläne verfolgen. Vielleicht trafen sogar beide Ver mutungen zu. Dem Zaqoor konnte es letztendlich egal sein. Wenn Atlan sich verrechnete und von Tolgoruk dingfest gemacht wurde, konnte Garsh wyn seine Rolle weiterspielen und sich rühmen, einen Feind der Lord richter gefangen genommen zu haben. Und wenn nicht ... Er beschloss, einfach abzuwarten,
wie sich die Dinge entwickelten. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlie ren. Wie erwartet wurde das kleine Bei boot nicht von einem der Golfball raumschiffe eingeschleust, sondern direkt zur Raumstation gelotst. Nachdem Garshwyn mit einem einfa chen Garbyor Funkkontakt aufge nommen und die Lage erklärt hatte, war er sofort mit einem Komman deur verbunden worden. Noch wäh rend des Gesprächs hatte der Offizier Befehle erteilt und angekündigt, un verzüglich dem Marquis Meldung zu machen. Damit bestätigte sich Atlans Ver mutung, dass Tolgoruk seine Truppen fest im Griff hatte. Hier hatte jemand die Initiative ergriffen und versuchte, eine Insel der Ordnung im Chaos zu schaffen, das sich unter den Garbyor ausgebreitet hatte. Die DYS-116 dockte am kugelför migen Zentralelement der Station an, dann begaben sich Garshwyn und At lan zur Schleuse. Der Arkonide hatte sich von ihm ein Fesselfeld anlegen lassen, das er jederzeit durch einen gesprochenen Befehl desaktivieren konnte. Schließlich baute sich der Zaqoor mit erhobenem Energiestrah ler neben ihm auf, während sich das Schott öffnete. Sie wurden von einem Komman deur und sieben Trobyor mit schwe ren Energiewaffen in Empfang ge nommen. Atlan ließ sich widerstandslos ab führen. Den Arkoniden brachte man in eine Arrestzelle, und einer der Sol daten begleitete Garshwyn zu einem schlicht eingerichteten Raum. Der Mann postierte sich neben der Tür und gab nur einsilbige und nichtssa
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gende Antworten auf Garshwyns Fra gen. Eigentlich hatte er sich die Rück kehr in den Kreis seiner Artgenossen etwas freundlicher vorgestellt. Aber nun kam er sich vor, als wäre er selbst ein Gefangener. Nach einer knappen Stunde kam ein anderer Zaqoor im Dienstrang ei nes Kommandeurs und begann mit dem Verhör. *
Eine wichtige Stütze meines Plans war die Tatsache, dass die Lordrichter mich lebend haben wollten. Das hatte sich immer wieder gezeigt, wenn die Garbyor in brenzligen Kampfsituatio nen trotz meiner heftigen Gegenwehr eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag gelegt hatten. Schließlich war mir dieser Punkt auch von Garshwyn glaubhaft bestätigt worden. Der Ablauf der Gefangennahme hatte beinahe etwas Skurriles. Als ich von einem Kommandeur und sechs Zaqoor abgeführt wurde und mich völlig friedlich verhielt, ließen die Soldaten schon nach kurzer Zeit in ihrer Wachsamkeit nach. Schließlich waren es nur noch zwei Bewaffnete und der Offizier, die mich das letzte Stück bis zur Zelle begleiteten. In die sem Moment hätte ich ohne Schwie rigkeiten das Fesselfeld abschalten, einen Energiestrahler an mich reißen und die drei Zaqoor erschießen kön nen. Natürlich tat ich es nicht, weil da mit mein Plan hinfällig gewesen wäre. Außerdem wäre dann die übrige Be satzung dieser Station schlagartig in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden.
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Nachdem man mich in die Zelle ge sperrt hatte, die nur eine Pritsche und eine zweite Sitzgelegenheit enthielt, dauerte es gar nicht lange, bis sich die Tür wieder öffnete. »Tatsächlich! Der Arkonide!«, sagte Tolgoruk mit sichtlichem Erstaunen, als er meiner ansichtig wurde. Ich kannte sein Gesicht aus den ent schlüsselten Sendungen, die wir abge fangen hatten. Der ranghöchste Offi zier an Bord von Trodemlyor – und vielleicht sogar im Umkreis von meh reren tausend Lichtjahren – gab sich höchstpersönlich die Ehre. Ich schwieg. Tolgoruk setzte sich auf den Stuhl und sah mich eine Weile ebenfalls schweigend an. »Wie hast du es geschafft, dich von einem simplen Trobyor, einem Han gartechniker, gefangen nehmen zu lassen?«, fragte er schließlich. Ich sagte nichts, sah ihn aber mit starrer Miene an. »Keine Antwort ist auch eine Ant wort«, stellte der Zaqoor fest. »Es ist nur bedauerlich, dass ...« Ich wartete ab, doch er sprach nicht weiter. »Also scheint das Gerücht zu stim men, das ich vernommen habe«, er griff ich schließlich das Wort. »Dass Lordrichter Yagul Mahuur nicht mehr unter den Lebenden weilt.« Tolgoruk sah mich mit undurch dringlichem Gesichtsausdruck an. »Erwartest du etwa eine Antwort auf diese Frage?« »Es war keine Frage«, entgegnete ich. »Wie du meinst«, sagte Tolgoruk und erhob sich sodann. »Dann werden wir uns eine ... andere Gesprächstak tik überlegen.« Dabei sah er sich wie
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zufällig den kleinen Energiestrahler genauer an, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Jetzt wusste ich alles, was ich wis sen wollte. Nämlich, dass Tolgoruk gar nichts wusste. Er war zweifellos ein fähiger Be fehlshaber. Das musste er sein, wenn es ihm gelungen war, einen Teil der Garbyor-Flotten zu reorganisieren. Aber ohne die Führung der lordrich terlichen Macht stand er letztlich auf verlorenem Posten. Er hoffte, dass sich Yagul Mahuur zurückmeldete oder ein anderer Lordrichter das Heft in die Hand nahm, weil er ohne die komplette Befehlskette hilflos war. Weil er keine Ahnung hatte, wofür er die Ordnung aufrechterhalten sollte. Ohne Führung wusste er nicht, wofür er eigentlich kämpfen sollte. Damit hatte er für mich jeden Nut zen verloren. »Tolgoruk!«, sagte ich und stand von der Pritsche auf. Er blieb kurz vor der Tür stehen und drehte sich halb zu mir um. »Vielleicht bin ich doch bereit, dir ein Geheimnis anzuvertrauen.« Wortlos wandte er sich mir ganz zu und wartete ab. Der Narr schien tatsächlich keinen blassen Schimmer zu haben, was auf ihn zukam. Ich konzentrierte mich, bis sich wieder der Flimmereffekt einstellte. Inzwischen beherrschte ich den Flam menstaub so gut, dass ich den Vorgang viel bewusster als zu Anfang wahr nahm. Für mich sah es aus, als würden sich mehrere Bilder übereinander le gen. Ich beobachtete Tolgoruks Ge sicht, das ich gleichzeitig in den un
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terschiedlichsten Ausdrucksformen sah. Er blickte mich regungslos an, er lachte, er weinte, er riss erstaunt den Mund auf, er schrie vor Schmerzen. Auf dieses letzte Bild richtete ich mei ne ganze Willenskraft. Zuerst verschwand das Lachen, dann die Trauer und schließlich alle anderen Fratzen, bis nur noch der ge peinigte Ausdruck übrig war. Tolgoruk fasste sich an den Brust korb und keuchte schmerzerfüllt auf. Der Energiestrahler fiel ihm aus der Hand, er wankte, dann brach er zu sammen. Er war tot. Er hatte überraschend einen Herz infarkt erlitten. Es war ein relativ unwahrscheinli cher Zufall, dass es ihn ausgerechnet während der Befragung eines Gefan genen erwischte, aber unmöglich war es nicht. Wenn ich den Flammenstaub einsetzte, erhöhte sich die Wahr scheinlichkeit für einen solchen Zu fall auf dramatische Weise. Seelenruhig ging ich zu ihm hin über und schaltete unterwegs das Fes selfeld aus. Dann bückte ich mich und nahm seinen Energiestrahler an mich.
10. »Wie konntest du den Arkoniden überwältigen?«, lautete die erste Fra ge des Zaqoor. Garshwyn hörte deutlich die Un gläubigkeit, die in den Worten des Kommandeurs mitschwang. Keine Spur von Dankbarkeit oder gar Be wunderung. Er hatte sich nicht ein mal nach seinem Namen und seiner Stellung erkundigt. »Ich konnte mich mit einer Ret
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tungskapsel in Sicherheit bringen, als die TROD-AHAN explodierte ...« Garshwyn hatte beschlossen, so na he wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, um sich nicht zu sehr in Wi dersprüche zu verwickeln. Dann er zählte er, wie er vom Arkoniden auf gelesen worden war und ihn schließ lich in einem günstigen Moment über rumpelt hatte. »Er mag ein großartiger Kämpfer sein«, schloss er seine Geschichte ab. »Aber ich habe sehr schnell seinen Schwachpunkt entdeckt. Er ist zu leichtgläubig. Es hat mir nicht die geringste Mühe bereitet, sein Ver trauen zu gewinnen. Ich musste mich nur eine Weile friedlich verhalten, mit ihm reden, ihn ein paarmal in Si cherheit wiegen – und schon hat er mir gegenüber jegliches Misstrauen abgelegt.« »Wo ist seine Gefährtin?«, fragte der Kommandeur. Es war, als hätte er Garshwyn gar nicht zugehört. Ver mutlich wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass eine solche Taktik erfolgreich sein konnte. Sie war eines Garbyor, eines wah ren Kämpfers, einfach unwürdig. »Darüber hat er nicht geredet«, ant wortete Garshwyn daher vorsichts halber. »Wie ist er an das Beiboot gekommen?« »Auch das wollte er mir nicht ver raten. Obwohl ich ihn danach gefragt habe. Aber dann kam irgendetwas dazwischen, und später habe ich nicht mehr daran gedacht, ihn noch einmal ...« »Ist dir etwas ... Ungewöhnliches am Arkoniden aufgefallen?« »Abgesehen von seiner Zwergwüch sigkeit scheint er sich kaum von ei nem Zaqoor zu unterscheiden. Seine
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Haut ist hell, sein Haar ist weiß, seine Augen sind rot. Er ist ...« Der Kommandeur unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. »Ich meine nicht das, was jeder auf den ersten Blick sieht! Sondern etwas ... wirklich Ungewöhnliches.« »Zum Beispiel?« »Ich stelle hier die Fragen!« »Ich weiß nicht, was du von mir hö ren willst.« »Erzähl mir noch einmal ganz ge nau, wie du ihn überwältigt hast.« Garshwyn seufzte innerlich und machte sich auf ein langwieriges Ver hör gefasst. *
Ich machte mir gar nicht die Mühe, für einen kurzzeitigen Energieausfall der Verriegelung zu sorgen, sondern klopfte einfach an die Tür. Die Wachen waren unverzüglich zur Stelle, um ihren Marquis aus der Arrestzelle treten zu lassen. Ihnen blieb höchstens eine Sekun de, sich darüber zu wundern, dass kein Zaqoor, sondern ein schmächti ger Arkonide vor ihnen stand. Ein Arkonide, der einen Energie strahler in der Hand hielt. Ich stieg über die Leichen der bei den Wachen hinweg. Die Brandlöcher in ihrer Brust waren kein schöner An blick, aber leider hatten sie für die falsche Seite gearbeitet. Dann sah ich mich um und setzte meinen Weg fort. Noch war alles ruhig, aber das konnte sich bald ändern. Andererseits war es durchaus mög lich, dass in absehbarer Zeit niemand bemerkte, was in und vor der Arrest zelle vorgefallen war.
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Dann hielt ich inne und ging noch einmal zurück. Ich erteilte mir einen Verweis, weil der Flammenstaub mich nachlässig werden ließ. Schließlich besaß ich noch andere Mittel, um die Wahrscheinlichkeit ei ner baldigen Entdeckung der Leichen zu verringern. Ich benutzte meine Hände, um die Wachen in die Zelle zu schleppen, und ließ dann die Tür zu fallen. Jetzt würde der Vorfall so lan ge unentdeckt bleiben, bis jemand es wagte, sich nach dem Verbleib des Marquis zu erkundigen. Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Nun konnte ich mich meinem nächsten Vorhaben widmen. Denn es gab da noch eine Kleinigkeit, die ich erledigen wollte, bevor ich von hier verschwand. Undankbarkeit gehörte sicher nicht zu meinen Charaktereigenschaften. Schließlich war ich kein Unmensch! *
Garshwyn blickte auf, als sich die Tür zu dem Raum öffnete, den er die ganze Zeit nicht hatte verlassen dür fen. Erstaunt sah er, dass Atlan eintrat. Hinter dem Arkoniden lag ein Zaqoor-Soldat am Boden. Der Mann rührte sich nicht. Garshwyn konnte aus seiner Perspektive keine tödliche Verletzung erkennen, aber etwas sag te ihm, dass er nicht mehr am Leben war. Der Kommandeur bemerkte den verdutzten Blick seines Gegenübers und drehte sich um. Garshwyn duckte sich instinktiv, als ein Energiestrahl aus Atlans Waffe den Kopf des Kommandeurs zerfetzte. Dann sah er den Arkoniden mit
starrem Blick an und wartete auf den folgenden Schuss. Doch er kam nicht. »Begleitest du mich, oder wäre es dir lieber, wenn sich hier unsere Wege trennen?«, fragte Atlan. »Was soll das bedeuten?«, stieß Garshwyn hervor. »Was hast du ...?« »Eine schnelle Entscheidung wäre jetzt angebracht. Ich möchte nicht mehr allzu viel Zeit vertrödeln.« Garshwyn musterte den Weißhaari gen. Bildete er es sich nur ein, oder war seine Haarfarbe plötzlich ins Graue gewechselt? Auch die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer gewor den zu sein, und die rötlichen Albino augen, die auf einen Zaqoor ohnehin einen ungesunden Eindruck machten, schimmerten nun in einem dunklen Violett. Was Garshwyn in diesen Augen sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Hatte er tatsächlich die freie Wahl? Wenn sich der Zaqoor dafür ent schied, bei seinen Artgenossen zu bleiben, wurde er für Atlan automa tisch zum Feind. Damit erhöhte sich die Wahrschein lichkeit, dass sich ein zweiter Schuss aus dem Energiestrahler lösen würde. Doch wenn er mit Atlan ging, wenn er sich darauf verließ, dass der Arko nide weiterhin das Glück auf seiner Seite hatte, würde er leben. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie es weitergehen sollte. Aber er würde leben – und viel leicht irgendetwas bewirken können. Garshwyn benötigte kaum länger als eine Sekunde, um all diese Überle gungen abzuschließen. »Ich komme mit«, sagte er. *
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Die Versuchung war groß, aber ich bemühte mich, den Flammenstaub nicht einzusetzen und dem Zaqoor die freie Wahl zu lassen. Obwohl es für mich durchaus von Vorteil war, einen Verbündeten aus den Reihen des Fein des an meiner Seite zu haben. Ich konnte nicht beurteilen, ob die ser unterschwellige Wunsch Garsh wyns Entscheidung beeinflusste. Aber im Augenblick zählte sowieso nur das Ergebnis. Als er seine Wahl getroffen hatte, nickte ich nur knapp und wandte mich wieder um. Ich konzentrierte mich und wünschte mir, dass uns auf dem Weg zur DYS-116 zufällig kein einziger Zaqoor über den Weg lief. Damit schien ich wohl doch etwas zu viel von der Unwahrscheinlichkeit verlangt zu haben. Hinter der dritten Biegung stießen wir auf zwei Torghan, die nicht zu wissen schienen, wie sie auf unseren Anblick reagieren sollten. Es bereitete mir keine Mühe, die Insektoiden zu erschießen. Wenig später wurde Alarm in der Station gegeben. Offenbar war die Chance zu gering, dass Tolgoruks Tod über längere Zeit unentdeckt blieb. Daraufhin tauchten gelegentlich klei nere Garbyor-Trupps auf, die es of fensichtlich auf uns abgesehen hat ten. Einmal wurde den Soldaten der Weg versperrt, als unverhofft die De cke über ihnen einstürzte. Ansonsten musste ich nur mit dem Energiestrah ler in die ungefähre Richtung feuern, und schon fielen die Feinde reihen weise um. Ein wunderbares Gefühl, wenn ei nem alles so leicht von der Hand ging!
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Endlich hatten wir den Hangar mit den Andockschleusen für die kleine ren Raumschiffe erreicht. Das Zu gangsschott fiel zu und ließ sich durch eine bedauernswerte technische Pan ne nicht mehr ohne weiteres öffnen. Die Garbyor waren ausgesperrt. Nur ein paar Techniker kamen ver dutzt aus dem Kontrollraum und schraken zurück, als sie den Zaqoor und mich sahen. Als ich die Waffe heben wollte, hielt Garshwyn meinen Arm fest. »Atlan!«, sagte er in eindringlichem Tonfall. »Es ist nicht nötig, dass du blindlings jeden meiner Artgenossen tötest! Diese Männer und Frauen sind unbewaffnet.« Ich wollte zwar kein unnötiges Risi ko eingehen, aber er hatte natürlich Recht. Außerdem war es durchaus möglich, dass sich diese Leute, die nur harmlose Hangartechniker waren, friedlich verhielten. »Gut«, sagte ich, während mir plötzlich eine verrückte Idee durch den Kopf schoss. »Ich bin überzeugt, dass sie keine Dummheiten anstellen werden.« Die Idee ließ mich nicht mehr los. Sie kam mir immer reizvoller vor. Würde es mir gelingen, sie Wirklich keit werden zu lassen? Hier im Hangar waren wir zumin dest vorläufig in Sicherheit. Und wenn sich etwas daran änderte, mussten wir nur in die DYS-116 springen und die Notstartautomatik aktivieren. Ich konnte mir also einen kleinen Spaß erlauben. *
Die Vorstellung unendlich vieler Paralleluniversen beantwortet die al
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te Frage, warum wir in der »besten al ler Welten« leben. Eine geringfügige Änderung der Voraussetzungen, der elementaren Naturkonstanten, und in unserer Welt gäbe es keine stabilen Atome und damit auch kein Leben. Wir existieren in diesem Universum, weil wir nur in einem Universum exis tieren können, das Leben hervorbrin gen kann. Aus »Vorlesungen über die Grund lagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
11. »Fatuqar!«, stieß Garshwyn mit fassungslosem Keuchen hervor. »Wie hast du die Vernichtung der TROD AHAN überlebt?« Er starrte die Frau, die plötzlich aus dem Hangar-Kontrollraum getre ten war, wie eine Geistererscheinung an. Die Szene war so unwirklich, dass er mit einem Teil seines Verstandes fest davon überzeugt war, alles nur zu träumen. Aber sosehr er sich auch sagte, dass es nicht real sein konnte, was er zu erleben glaubte – der Mo ment des Aufwachens kam nicht. »Ich wusste, dass du ein Verräter bist, der nur an seinen eigenen Nutzen denkt!«, sagte Fatuqar. Ihr Gesicht zeigte tiefen Hass. »Zuerst stößt du mich zurück, und jetzt hast du dich mit dem Feind verbündet!« »Nein, es war ganz anders! Ich ...« Garshwyn gab es auf, weil sie ihm oh nehin keine seiner Rechtfertigungen geglaubt hätte. In diesem Moment wurde ihm klar, wovor er die ganze Zeit die Augen verschlossen hatte. Zwischen Fatuqar und ihm konnte es nie wieder so sein, wie es einmal ge
wesen war. Dazu hätte er sich in ei nem bestimmten Moment eindeutig für sie entscheiden müssen. Jetzt war es zu spät, irgendetwas wieder gutzu machen Er zwang sich dazu, in sachlichem, aber eindringlichem Tonfall weiterzu sprechen. »Sag mir bitte, wie du aus der TROD-AHAN entkommen konn test.« »Warum fragst du mich das? Was interessiert es dich überhaupt?« »Bitte! Ich muss es wissen!« Fatuqar seufzte. »Ich bin zurückge laufen und konnte mich einer Gruppe anschließen, die zu einem Beiboot ge flüchtet ist. Ein Techniker wusste, wo sich noch ein intaktes Schiff befindet. Wir haben es buchstäblich in letzter Sekunde geschafft, das Mutterschiff mit der TROD-116 verlassen, wäh rend hinter uns alles zusammenbrach. Derselbe Typ und dieselbe Nummer wie das Beiboot, mit dem du gekom men bist. Seltsam, nicht wahr? Dann wurden wir von einem Schlachtschiff aufgenommen, das uns nach Trodem lyor brachte. Bist du jetzt zufrieden?« Garshwyn drehte sich mit einer hilflosen Geste zu Atlan um. »Wie ist so etwas möglich?« Der Arkonide lächelte nur, obwohl er immer deutlichere Spuren der Er schöpfung zeigte. Er machte beinahe den Eindruck, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Zaqoor empfand die Einsam keit und Leere tiefer als je zuvor. In der Not hatte er sein Schicksal einem Humanoiden anvertraut, der sich nach und nach in ein Monstrum ver wandelte. Dadurch hatte er sich so weit seinen eigenen Artgenossen ent fremdet, dass die Kluft vermutlich nie mehr zu überbrücken war.
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Er war dazu verdammt, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. »Lass uns aufbrechen«, sagte er zu Atlan und ging zur Einstiegsluke des Beiboots. »Willst du deine Freundin nicht mitnehmen?«, fragte der Arkonide. »Ich glaube nicht, dass sie noch auf meine Gesellschaft Wert legt.« »Verschwinde von hier, Verräter!«, fauchte Fatuqar ihm hinterher. »Leb wohl«, sagte Garshwyn leise. Es tat ihm unendlich Leid, dass es so gekommen war, aber jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. *
Ich spürte, dass mich das Abenteuer in der Station sehr erschöpft hatte. Außerdem drängte sich eine Sache immer mehr in den Vordergrund, die ich bis jetzt erfolgreich ignoriert hat te. In meinem Schädel breiteten sich bohrende Kopfschmerzen aus. Etwas, mit dem ich als Zellaktivatorträger normalerweise keine Schwierigkeiten hatte. Es sei denn, ich war einer schweren psionischen Attacke ausge setzt oder erhielt einen handfesten Schlag auf den Kopf. Aber das war es nicht. Es war ein hartnäckiger, migrä neartiger Schmerz, wie ich ihn seit meiner lange zurückliegenden Ju gendzeit nicht mehr erlebt hatte. Deshalb war ich froh, dass wir in aller Ruhe und ungehindert das Bei boot besteigen und von der Station ablegen konnten. Doch sobald wir von Trodemlyor wegtrieben, setzten sich ein paar Golfballschiffe in Bewegung und hef teten sich uns an die Fersen. Es war klar, dass man uns nicht
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ohne weiteres entkommen lassen wür de. Auch wenn nach Tolgoruks Tod unter den Garbyor eine gewisse Un schlüssigkeit über das weitere Vorge hen herrschen dürfte. Vorläufig verhielten sie sich fried lich. Offenbar wollten sie uns wirk lich nur im Auge behalten, während sie auf neue Befehle warteten. Ich wischte mir über die Augen, um erfolglos die Schmerzen und die Er schöpfung zu vertreiben. Es war so schlimm, dass ich für einen Moment genauso wenig wie unsere Gegner wusste, wie es jetzt weitergehen soll te. Schließlich erhob ich mich ächzend aus dem Pilotensessel, in dem ich zu sammengesunken war, beugte mich vor und ließ die DYS-116 Fahrt auf nehmen. Die Verfolger wurden ebenfalls schneller. Als ich seitlich abdrehte und noch einen Zahn zulegte, setzten sie mir ei nen Warnschuss vor den Bug. Konnte ich mich darauf verlassen, dass sie das Beiboot nicht ernsthaft beschädigen würden, weil sich darin jemand aufhielt, den die Lordrichter unbedingt lebend fassen wollten? Die Unentschlossenheit der füh rungslosen Garbyor mochte mich vor dem Tod schützen, aber wenn sie sich dazu aufrafften, eigene Entscheidun gen zu treffen, konnte es schlagartig verdammt gefährlich werden. Ich brauchte einen Plan. *
Garshwyn war im kleinen Schleu senraum des Beiboots zurückgeblie ben, während der Arkonide mit schweren Schritten zur Zentrale wei
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tergestapft war, ohne sich noch ein mal zu ihm umzuschauen. Der Zaqoor brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Für ihn stand nun zweifelsfrei fest, dass Atlan über eine unglaubliche Fä higkeit verfügte. Inzwischen hatte er sogar eine ziemlich genaue Vorstel lung, was es damit auf sich hatte. Da zu musste er nur zusammenzählen, was er erfahren hatte: das Gespräch über Wahrscheinlichkeiten und das tote Tier in der Kiste, die gehäuft auf tretenden glücklichen Zufälle und nicht zuletzt die Fragen des Komman deurs im Verhörraum. Als er im Hangar unverhofft Fatu qar wieder begegnet war, hatte er zu nächst geglaubt, der Arkonide hätte ihn mit einer Sinnestäuschung kon frontiert. Dass er seine Macht dazu eingesetzt hatte, den Geist der Frau aus der Ewigen Horde zurückzuholen oder ihm die Illusion zu vermitteln, er würde wirklich zu ihr sprechen. Doch nun stand für Garshwyn fest, dass diese Begegnung ein absolut rea les Ereignis gewesen war. Bis zu die sem Augenblick war ihre Rettung von der TROD-AHAN ein extrem un wahrscheinlicher Fall gewesen. Aber Garshwyn hatte keine letzte Gewiss heit über ihr Schicksal gehabt. Also waren für Atlan die nötigen Voraus setzungen gegeben, um diese Möglich keit Wirklichkeit werden zu lassen. Garshwyn wusste nicht, ob er dem Arkoniden dafür danken oder ihn hassen sollte. Einerseits erleichterte es ihn, dass Fatuqar aus der Unbestimmtheit er löst worden war und nun wieder ein deutig existierte. Sie war keine Illusi on gewesen. Was der Arkonide mit seiner unheimlichen Fähigkeit ge
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schehen ließ, war mit allen Konse quenzen real. Andererseits war es durch das Wie dersehen zum endgültigen Zerwürfnis gekommen. Was er Fatuqar nicht ein mal verdenken konnte. Aus ihrer Sicht hatte Garshwyn alles verloren, was ihn für sie einmal begehrenswert gemacht hatte. Trotzdem war er froh, dass sie le bend aus der TROD-AHAN entkom men war. Nicht zuletzt, weil er damit sein schlechtes Gewissen ein wenig beruhigen konnte. Sein Fehler, ihr den Zugang zur Rettungskapsel zu ver weigern, wurde dadurch nicht korri giert. Aber nun musste er sich wenigs tens keine Vorwürfe mehr machen, dass er ihren Tod verschuldet hatte. Garshwyn raffte sich auf und machte sich auf den Weg in die Zen trale der DYS-116. *
Erst als Garshwyn zu mir trat, fiel mir auf, dass er sich mehrere Minuten Zeit gelassen hatte, mir zu folgen. Wahrscheinlich hatte er sich erst ein mal vom Schock erholen müssen. Die Wiederbegegnung mit seiner Gefähr tin – falls es so etwas bei den Zaqoor überhaupt gab – war wohl etwas an ders ausgefallen, als er sich erhofft hatte. Aber es passte. Zum einen hatte er angedeutet, sich nicht ganz korrekt verhalten zu ha ben, bevor er sich mit der Rettungs kapsel davongemacht hatte. Also hat te die Gute eigentlich gar nicht anders reagieren können. Zum anderen hätte es mir nicht so recht in den Kram ge passt, wenn sich die beiden ihrer Lie be versichert hätten und ich zwei Zaqoor im Auge behalten müsste.
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Also hätte ich mich schon sehr an strengen müssen, um zu bewirken, dass die Frau ihm überglücklich um den Hals fiel. Ich schob die Überlegungen zu Garsh wyns Liebesleben zur Seite. Erstens ging es mich im Grunde nichts an, und zweitens zeichnete sich gerade ein ganz anderes Problem ab. Die zehn Zaqoor-Schiffe, die uns verfolgten, ließen sich einfach nicht abschütteln. Außerdem gaben sie nun keine Warnschüsse mehr ab, sondern nahmen gezielt den Schutzschirm des Beiboots ins Visier. Die Sorgfalt, mit der sie vorgingen, ließ nur einen Schluss zu. Sie wollten den Schutzschirm mit wohldosierten Salven zum Zusammenbruch bringen und die DYS-116 manövrierunfähig schießen. In der Hoffnung, mich eini germaßen unversehrt aus dem Wrack einsammeln zu können. Aber ich war nicht bereit, mich ein weiteres Mal von den Garbyor gefan gen nehmen zu lassen. Abrupt änderte ich immer wieder den Kurs und suchte nach einer Mög lichkeit, ihre Taktik zu durchkreuzen, die ich schnell durchschaut hatte. Sie achteten darauf, dass ich mich nicht allzu weit von der Hauptflotte und der Raumstation im Sonnenorbit entfern te. Während ich mir den Raumsektor in der holografischen Darstellung ansah, nahm der Umriss eines Plans immer konkretere Gestalt in meinem Kopf an. So konnte es klappen. Ich würde einfach die Taktik des Feindes zum ei genen Vorteil ausnutzen. Es war ein Manöver, das letztlich nur eine leichte Abwandlung des Tricks war, mit dem ich am Dunkelstern den RoschechKeilraumer ausgeschaltet hatte.
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Zunächst ließ ich mich von den Zaqoor ein Stück in Richtung Tro demlyor zurücktreiben, dann scherte ich plötzlich aus und raste direkt auf die Sonne Varlin zu. Diese Seite hatten die Garbyor na türlich nicht gesichert, weil ihr Plan darauf hinauslief, mich zwischen der Raumstation und dem Stern in die Zange zu nehmen. Ich fuhr den Schutzschirm auf Ma ximalleistung hoch, während wir der glühenden Sonnenoberfläche näher kamen. Varlin war ein recht aktiver Stern, aber die übliche Abschirmung eines Raumschiffs reichte normaler weise völlig aus, um sich vor der Glut des Fusionsfeuers zu schützen. Solange man der Sonne nicht zu na he kam. Ich hatte jedoch vor, so nahe wie nur irgend möglich heranzufliegen. Es sollte danach aussehen, als woll te ich mich auf die andere Seite der Sonne flüchten, um dort sozusagen wieder ins Freie zu gelangen. Wenn die Verfolger mich nicht ver lieren wollten, mussten sie mir auf den Fersen bleiben. Mit den üblichen Beschleunigungswerten würden sie es nicht schaffen, einen weiten Bogen um die Sonne zu fliegen und mich auf der Rückseite abzufangen. Die Zaqoor taten genau das, was ich von ihnen erwartete. Ich steuerte eine verhältnismäßig ruhige Zone in der ansonsten mehre re Millionen Grad heißen Sonnenko rona an. Dabei näherte ich mich der Oberfläche bis auf gut 50.000 Kilo meter. Das klang nach einer recht großen Entfernung, aber im Verhältnis zur Sonne, die einen Durchmesser von gut anderthalb Millionen Kilometern
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hatte, war das doch verdammt nahe dran. *
Garshwyn hatte atemlos Atlans Ausweichmanöver verfolgt und seine Fähigkeiten als Pilot bewundert. Ihm wurde klar, dass es dabei nicht nur um Glück ging. Der Arkonide war ein ausgezeichneter Taktiker. Das konnte selbst ein schlichter Hangartechniker auf den ersten Blick erkennen. Doch als er dann genau auf die Son ne zuraste, wurde der Zaqoor doch et was unruhig. Eine winzige Kursab weichung oder ein unvorhersehbarer Strahlungsschauer, und von der DYS 116 bliebe nur ein Hauch aus verwe hender Asche. »Was hast du vor?«, fragte er be sorgt. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie von Trodemlyor ab geflogen waren. Atlan drehte sich mit einem trium phierenden Grinsen zu ihm um. »Wart’s ab«, sagte er. »Gleich wird dir buchstäblich ein Licht aufgehen!« Das Beiboot hatte jetzt den Punkt der größten Annäherung an die Son nenoberfläche und eine mit techni schen Mitteln nahezu unmögliche Be schleunigung erreicht. Der Sturz in die Schwerkraftsenke wirkte wie ein Schleudereffekt und würde das Schiff an der Sonne vorbei in den freien Weltraum katapultieren. »Jetzt achte darauf, was mit deinen Freunden passiert«, sagte Atlan und zeigte mit dem Finger in die Holopro jektion. Garshwyn fiel es schwer, aus schließlich die Zaqoor-Schiffe zu be obachten, weil sich in diesem Moment
wieder ein anderer unheimlicher Ef fekt bemerkbar machte. Das Gesicht des Arkoniden war vor Konzentration angespannt, und gleich zeitig verwandelte es sich in das Ge sicht eines alten oder kranken Man nes. Der Zaqoor schrak zurück, als in seiner unmittelbaren Nähe wieder grauer Staub in der Luft materiali sierte. Wie eine böse Aura, die mit ei nem Mal sichtbar wurde. Dann wurde Garshwyns Blick von dem angezogen, was sich hinter der DYS-116 abspielte. Fassungslos starr te er auf das unwahrscheinliche Ge schehen.
12. Es hatte wieder einmal funktio niert! Genau in dem Moment, als wir der Sonnenoberfläche am nächsten wa ren, stieg plötzlich eine ungewöhnlich starke Protuberanz aus dem glühenden Inferno auf. Unser Beiboot ent fernte sich rasend schnell von der Stelle, sodass wir längst außerhalb der Gefahrenzone waren. Für die zehn Zaqoor-Schiffe sah die Sache jedoch ganz anders aus. Die Eruption, eher ein explosiver Flare als eine gemächlich aufstei gende Protuberanz, schoss mit einer Geschwindigkeit von mehreren tau send Kilometern pro Sekunde empor. Der Ausbruch war eine glühende Lanze aus harter Strahlung und ex trem heißer Sonnenmaterie. Kurz darauf hatte der Flare unsere Verfol ger erreicht. Die Garbyor-Raumer versuchten auszuweichen, aber sie hatten keine Chance. Sie wurden einfach von der
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Glut verschluckt. Es war nicht mehr zu erkennen, ob die Schiffe explodier ten. Die winzigen Lichtblitze wären in der heißen Strahlung einfach un tergegangen. Nur einem einzigen Schiff gelang es, der völligen Vernichtung zu ent kommen. Doch als es sich weit genug von der Eruption entfernt hatte, er kannte ich an den Ortungswerten, dass es nur noch ein ausgeglühter Me tallklumpen war. Zunächst sah es da nach aus, als würde es uns weiter auf den Fersen bleiben, doch dann neigte sich die Flugbahn allmählich der Son nenoberfläche zu. Als es in die Glut eintauchte, bestand es nur noch aus einzelnen Atomen, die jeglichen Zu sammenhalt verloren hatten. Obwohl ich mich völlig ausgelaugt fühlte, schaffte ich es, die Faust in die Luft zu recken und einen krächzen den Jubelschrei auszustoßen. *
Mit einem Mal zweifelte Garshwyn wieder daran, ob es die richtige Ent scheidung gewesen war, sich auf die Seite des Arkoniden zu schlagen. Es schockierte ihn, mit welcher Kaltblü tigkeit Atlan die Besatzungen von zehn Zaqoor-Schiffen zum Tod in der Protuberanz verurteilt hatte. Nicht, dass sich die Garbyor bei der Wahl ih rer Mittel durch besondere Rücksicht auf das Leben auszeichneten. Aber diese Verfolger hatten durch ihre Tak tik deutlich gemacht, dass sie Atlan lebend fassen wollten. War es wirk lich nötig gewesen, zu solch brutalen Maßnahmen zu greifen? Für Garshwyn stand fest, dass At lans unheimliche Fähigkeit die plötz liche Eruption auf der Sonnenoberflä
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che bewirkt hatte. Eine Fähigkeit, die ihm der Flammenstaub verlieh. Ver mutlich handelte es sich dabei um die graue halbstoffliche Substanz, die den Arkoniden wie eine Staubwolke um gab, wenn er die Wahrscheinlichkeit manipulierte. Und sie hatte anscheinend auch et was mit seinem ungesunden Zustand zu tun. Das ehemals schulterlange weiße Haar war nun eindeutig grau geworden. Seine Züge wirkten einge fallen, die Haut war von Pickeln und verfärbten Stellen übersät, und seine Augenbrauen waren zusammengezo gen, als hätte er körperliche Schmer zen. Nach einer Weile schien er seine Entkräftung zumindest teilweise überwunden zu haben und richtete sich wieder auf. Seine müden Augen belebten sich mit einem rötlichen Funkeln, und er sah Garshwyn mit ei nem selbstbewussten Lächeln an. »Es wird Zeit, dass ich den Garbyor eine nachhaltige Lektion erteile«, ver kündete er. »Genug gespielt! Jetzt wird es ernst!« »Was willst du tun?«, fragte Garsh wyn besorgt. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Nein, mein Freund«, erwiderte At lan kopfschüttelnd. »Wenn ich dir meinen Plan verrate, würde ich uns doch den ganzen Spaß verderben. Lass dich überraschen!« *
Ich empfand gleichzeitig eine tiefe Erschöpfung und eine selten erlebte Hochstimmung. Es kostete mich jedes Mal eine Menge Kraft, wenn ich den Flammenstaub einsetzte, aber der Er folg und die Gewissheit, wozu ich fä
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hig war, vermittelten mir ein unglaub liches Machtgefühl. Es reizte mich, bis an die Grenze zu gehen. Ich wollte unbedingt wissen, wie viel in dieser geheimnisvollen Substanz steckte. Mit einem kurzen Überlichtmanö ver entfernte ich mich ein paar Licht minuten von der Sonne und ließ die DYS-116 dann auf einer exzentri schen Bahn weitertreiben. Ich fuhr al le nicht benötigten Systeme herunter und hoffte, dass meine Gegner das kleine Beiboot nicht sofort bemerk ten. Langsam kamen Trodemlyor und die Garbyor-Flotte wieder hinter der Sonne in Sicht. Die Schiffe bildeten immer noch eine schützende Kugel rund um die Station. Sehr gut! Das kam meinem Plan entgegen. Dann konzentrierte ich mich. Mir war klar, dass ich mir diesmal sehr viel vorgenommen hatte. Ein sol ches Ereignis war unter normalen Umständen ziemlich unwahrschein lich. Im Grunde nahezu unmöglich. Meines Wissens war auch noch nie beobachtet worden, dass es plötzlich und ohne vorherige Anzeichen ein trat. Aber ich zwang mich, ganz fest daran zu glauben. Es musste einfach möglich sein. Und wenn nicht, musste es trotzdem funktionieren! Wenig später gab die Ortung ein lei ses akustisches Signal von sich. Das war es! Ich hatte vorher sämtliches Bei werk aus der holografischen Projekti on ausgeblendet, sodass sie jetzt nur noch ein normales Bild zeigte. Natür lich war es nicht ganz das, was man mit unbewaffnetem Auge durch eine
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Sichtluke des Beiboots hätte erken nen können. Die Darstellung war ver größert, die Sonne abgedunkelt und die Raumstation in einem gesonderten Ausschnitt hervorgehoben. In dieser Ansicht musste der Effekt am eindrucksvollsten wirken. »Was ist passiert?«, fragte Garsh wyn. »Du musst dich noch etwa ... zwei einhalb Minuten gedulden«, sagte ich. »Bei dieser Entfernung braucht das Licht eine gewisse Zeit, bis es unseren Standort erreicht hat.« Denn es war längst passiert. Wir konnten es nur noch nicht sehen. Während die letzten Sekunden bis zum großen Augenblick verstrichen, blieb ich völlig gelassen. Wenn das Experiment wider Erwarten doch nicht funktioniert hatte, bestand kein Grund zum Jubel. Aber wenn ich tat sächlich etwas Derartiges vollbringen konnte, stand es mir nicht zu Gesicht, aufgeregt auf dem Sessel hin und her zu rutschen oder wie ein Irrer durch die Zentrale zu toben. Dann war es so weit. Plötzlich schossen fast gleichzeit drei grelle Flares aus der uns zuge wandten Sonnenscheibe. Sie schleu derten Materie und Energie in gigan tischen Protuberanzen ins All. Nach einer Atempause von wenigen Sekun den folgte ein gutes Dutzend weiterer Eruptionen. Die Automatik regelte bereits die Helligkeit der optischen Darstellung herunter. Aber das war erst der Anfang. Kurz darauf schien die Sonne regel recht zu zerplatzen. Die Ausbrüche erfassten die gesamte Oberfläche und vereinigten sich zu einer glühenden Aura aus Gas, die sich rasend schnell ausdehnte. Die Sonne schien sich auf
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zubäumen, als wollte sie sich überschüssiger Materie entledigen. Wäh rend die glühende Sphäre allmählich verblasste, nahm die Helligkeit im Zentrum erneut zu. Dann wurde Var lin von einer noch gewaltigeren Ex plosion zerrissen. Die zweite Glutwol ke überholte die verwehenden Reste des ersten großen Ausbruchs und ver schluckte alles, was sich in der Umge bung befand. Die Raumstation Trodemlyor und die Flotte der Garbyor wurden wie Staubkörnchen in einer Feuersbrunst ausgelöscht. Sie verschwanden ein fach aus dem Bild, weil alles von der Glutwolke überstrahlt wurde. Es war unglaublich! Ich hatte es ge schafft, einen Stern zur Supernova werden zu lassen! Mit tiefer Befriedi gung sonnte ich mich buchstäblich im Glanz dieser unvorstellbaren Macht. Selbst die totale Erschöpfung, die mich gleichzeitig überkam, konnte nichts an diesem wunderbaren Gefühl ändern. Nur am Rande bemerkte ich, dass sich Garshwyn, der die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, plötzlich bewegte. Im Grunde interessierten mich solche Kleinigkeiten überhaupt nicht mehr, aber dann sah ich etwas, das mich innehalten ließ. Ich machte mir klar, dass auch ein Unbesiegbarer in Schwierigkeiten ge raten konnte, wenn er in seiner Wach samkeit nachließ. *
In den ersten Momenten war Garsh wyn vom Anblick der Zerstörung wie gelähmt. Er musste erst einmal verarbeiten, was sich in ein paar Lichtmi nuten Entfernung abspielte.
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Als sein Denkvermögen wieder ein setzte, wusste er genau, was er jetzt tun musste. Es gab einfach keinen an deren Ausweg. Atlan war so sehr von den Bildern gefesselt, dass es für Garshwyn ein Leichtes war, nach dem Energiestrah ler zu greifen, den der Arkonide wie der an der Hüfte trug. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er darauf reagierte. Langsam drehte er sich zum Zaqoor um und sah ihn an. Garshwyn erschrak. Der Arkonide erinnerte ihn an einen Fieberkranken, der innerlich vor Energie zu glühen schien, dem aber die Auszehrung deutlich anzusehen war. Atlan wirkte gleichzeitig unvorstellbar mächtig und schwach. »Was soll das?«, fragte er. »Warum fällst du mir plötzlich in den Rücken? Ist das der Dank, dass ich dir das Le ben gerettet habe?« Er streifte die Waffe, die Garshwyn auf ihn gerichtet hielt, nur mit einem flüchtigen Blick. »Es ist die Konsequenz aus der Tat sache, dass du jeden Respekt vor dem Leben verloren hast.« »Erwartest du, dass ich Rücksicht auf einen Feind nehme, der ganze Ga laxien unter seine blutige Herrschaft bringen will?« »Ich erwarte, dass du bei der Wahl deiner Mittel nicht das Augenmaß verlierst.« »Ich verstehe«, sagte Atlan. »Es geht dir also nur um deine Freundin.« Er schüttelte den Kopf. »Was interes siert dich ihr weiteres Schicksal? Sie hat dir deutlich gesagt, dass sie nichts mehr von dir wissen will.« »Das ist ihr Recht, und jetzt ist sie in Ehren bei der Ewigen Horde. Einer Ehre, die du nicht kennst.«
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»Dir scheint nicht klar zu sein, wel che Bedeutung die Wiederbegegnung mit ihr hatte. Du hast es nur mir zu verdanken, dass sie aus der Ungewiss heit in die Existenz zurückgekehrt ist.« »Mir ist völlig klar, welche Rolle du in dieser Geschichte spielst. Du und der Flammenstaub. Deswegen halte ich diese Waffe in der Hand.« Es schien den Arkoniden nicht im Geringsten zu beeindrucken, dass Garshwyn sein Geheimnis durch schaut hatte. »Aber du scheinst nicht erkannt zu haben, dass du keine Chance gegen mich hast«, sagte er. »Ich werde es einfach nicht für möglich halten, dass mir von dir eine Gefahr droht.« »Es wird dich vielleicht überra schen, aber das sehe ich genauso«, er widerte Garshwyn. »Ich werde mich nicht gegen den wahrscheinlichsten Ausgang dieser Geschichte sträuben. Ich werde genau das tun, was sowohl für dich als auch für mich das Beste ist. Wach auf, Atlan!« Garshwyn hob den Energiestrahler und ... *
Mit der Unbestimmtheit der Quan tenfluktuationen hat sich der Deter minismus aus der Physik verabschie det. Nicht jede Ursache hat eine ein deutig vorhersagbare Wirkung. Damit ist die Idee aufgekommen, dass sich unsere Welt in jedem unbestimmten Moment in neue alternative Universen aufspaltet, die allesamt »real« existie ren, auch wenn sie sich außerhalb un serer erlebten Wirklichkeit befinden. Je weiter die Abspaltung zurückliegt, desto fremdartiger erscheinen uns
diese Universen. Auch Paralleluniver sen mit gänzlich anderen Naturgeset zen sind nur Facetten der Metarea lität des Multiversums. Sie sind zu einem noch ferneren, »früheren« Zeit punkt aus den unendlichen Möglich keiten des »Ur-Universums« hervorge gangen. Aus »Vorlesungen über die Grund lagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
13. In diesem Moment sah ich wieder mehrere Bilder, die sich gegenseitig überlagerten, wie ein Stapel durch sichtiger Folien, die sich laufend in einander verschoben. Garshwyn führ te die unterschiedlichsten Bewegun gen gleichzeitig aus. Hinzu kamen noch ganz andere Bilder, deren Be deutung ich überhaupt nicht ver stand. Dieser Moment war ein entschei dender Wendepunkt. Hier und jetzt entschied sich, ob ich überlebte oder ob eine mehrtausendjährige Existenz zu Ende ging. Atlan von Arkon, gebo ren als Mascaren, Kristallprinz des arkonidischen Imperiums, von einer Superintelligenz mit der relativen Unsterblichkeit beschenkt, der Einsa me der Zeit, erbitterter Feind und schließlich bester Freund des Terra ners Perry Rhodan, der Ritter der Tie fe ohne Erinnerung an die Zeit hinter der Materiequelle und noch so vieles mehr ... Der Flammenstaub verlieh mir die Fähigkeit, alles gleichzeitig zu sehen – die erstarrte Gegenwart, den langen Fluss der Vergangenheit und die Mög lichkeiten der Zukunft.
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Ich konzentrierte mich auf die Fa cetten der wahrscheinlichen und un wahrscheinlichen Welten, suchte ver zweifelt nach der richtigen Variante, nach dem Ausgang der Geschichte, die den Zeitablauf wieder ins Lot brachte ... Facette 1.0 Garshwyn hob den Energiestrahler und drückte ab. Ich sah noch das Auf blitzen der Thermoladung, doch den Schmerz spürte ich nicht mehr. Es war vorbei. Facette 1.2 Garshwyn hob den Energiestrahler und ließ ihn kraftlos wieder sinken. »Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« »Schon gut.« Ich stand auf, ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Kann ich mich jetzt darauf verlassen, dass du mich bedingungs los im Kampf gegen die Lordrichter unterstützt?« »Selbstverständlich, Atlan!«, sagte er und blickte mich an. In seinen Au gen stand plötzlich ein Funkeln – das Zeichen, dass er endlich ins Leben zu rückgekehrt war. »Ich bin kein Zaqoor mehr!«, verkündete er. »Ich kenne nur noch den Kampf für die Gerechtigkeit!« »Nichts anderes hatte ich erwartet«, gab ich zurück. »Ich weiß auch schon, wie wir unseren Feinden die ent scheidende Schlappe beibringen kön nen.« »Sag mir, was ich tun soll!« Garsh wyn sah mich erwartungsvoll an. Ich lächelte, denn nun wusste ich, dass ich mich auf meinen neuen Ge fährten und Freund verlassen konnte. Und ich wusste, dass es jetzt nichts
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mehr gab, was meinen Siegeszug noch aufhalten konnte. Wer bewirken konnte, dass ein Stern zur Supernova wurde, war auch in der Lage, eine ganze Galaxis in den Strudel der Vernichtung zu reißen! Facette 41.3 Garshwyn hob den Energiestrahler, doch bevor er abdrücken konnte, war ich aufgesprungen und hatte ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Es war so schnell gegangen, dass er von meinem Gegenangriff völlig über rascht wurde. Nur so konnte ich etwas gegen ihn ausrichten. Da der zweiein halb Meter große Zaqoor mir an Kraft um einiges überlegen war, konnte ich nur auf meine Schnelligkeit und mein Kampfgeschick setzen. Im nächsten Moment spürte ich die Auswirkungen meiner Erschöpfung. Garshwyn bekam mich am Arm zu fassen und riss mich herum. Ich rutschte über den Boden der kleinen Zentrale und krachte gegen die Wand. Benommen schüttelte ich den Kopf. Dann sah ich, wie der Zaqoor nach setzte. Er nahm Anlauf, um sich auf mich zu werfen und mich wie eine Fliege zu zerquetschen. Mit einem Blick erkannte ich meine einzige Chance. Ich drehte mich seitlich herum und stieß mich mit den Füßen von der Wand ab. Schneller, als er reagieren konnte, schoss ich zwischen seinen Beinen hindurch und streckte die Hand aus. Ich schnappte mir den Energiestrah ler, wo er zu Boden gefallen war, und rollte mich gleichzeitig auf den Rü cken. Ohne Zögern drückte ich ab. Garshwyn, der zuerst sein eigenes
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Volk und dann mich verraten hatte, brach tödlich verwundet zusammen. Ich ließ die Arme sinken und blieb noch eine Weile schwer keuchend auf dem Boden liegen. Wenn ich mich ein wenig erholt hatte, würde ich die Lei che entsorgen und mir meine nächsten Schritte überlegen. Ich wusste noch nicht, wie ich den Kampf gegen die Lordrichter fortset zen würde, aber eins war gewiss: Von nun an würde ich nicht mehr zulas sen, dass sich mir irgendwer in den Weg stellte! Ich würde jeden einzelnen Garb yor, vom Kommandeur bis zum letzten Lordrichter, mit bloßen Händen oder mit der Kraft meines Willens töten! Facette 0.1 Wolken aus fein verteilter Materie trieben durch das Universum. Es wies nur einen verhältnismäßig winzigen Unterschied zu anderen Universen auf, in denen sich komplexe chemi sche Strukturen und Leben entwi ckelt hatten. In dieser Version der un endlichen Möglichkeiten der Existenz wiesen die Grundkräfte – die starke und die schwache Wechselwirkung, die Gravitation und die elektroma gnetische Kraft – leicht gegeneinan der verschobene Werte auf. Elementarteilchen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Neutronen hatten, stießen zusammen, lösten sich wieder und setzten ihre Bahnen fort. Nur hier und dort bildeten sich unter dem Ein fluss der schwachen Gravitation dich tere Ballungen. Doch schon ein einzi ges heranrasendes Neutron genügte, um sie wie einen Schwarm Billardku geln zu sprengen. Nirgendwo in diesem Universum entstand etwas, das auch nur entfernt
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an Sterne und Planeten, an Atome oder Moleküle erinnerte. Die Kräfte waren zu schwach, um dauerhafte oder komplexe Bindungen entstehen zu lassen. Nur winzige Neutronen bewegten sich durch den Raum, stießen zusammen und lösten sich wieder voneinander ... Facette 1.0 Garshwyn hob den Energiestrahler und drückte ab. Die Thermoladung traf meinen Brustkorb und verglühte mein Herz zu einem Haufen Asche. Dann wurde es dunkel um mich. Es war vorbei. Facette 0.7 Die Horden von Gohrbesh unter dem Kommando der Tiefenritterin At lana setzten zum Sturm auf die Milch straße an. Der Entscheidungskampf gegen die neulemurianischen Truppen stand kurz bevor. Das letzte Aufgebot unter der Führung des Höchsten Tam rats Periordan sammelte sich, eine un überschaubare Armada aus Kugel schiffen. Doch Atlana wusste, dass ihr ehemaliger Geliebter keine Chance ge gen die Fliegenden Festungen der Hor den hatte. Nur durch den Verrat des Zaqoriers Gohrshwyn war es den Neu lemurern überhaupt möglich gewesen, so lange Widerstand zu leisten. Atlana strich sich das lange weiß blonde Haar aus dem Gesicht und sah den Vargonen Kytharon mit sie gessicherem Lächeln an. Sie be schloss, auf große Reden zu verzich ten und es endlich hinter sich zu bringen. Ein Wort von ihr genügte, um die gigantische Schlachtflotte in Bewegung zu setzen. Sie atmete einmal tief durch, dann sprach sie das Wort.
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»Angriff!« Facette 1.1 Garshwyn hob den Energiestrahler, setzte ihn an seine Schläfe und drück te auf den Auslöser. Tödlich getroffen brach er zusammen. Ich saß reglos da und konnte nicht glauben, was geschehen war. Plötzlich war Ruhe eingekehrt. Es war, als wäre ich mit einem Boot durch tosende Stromschnellen gerast, die unverhofft in einen breiten, ruhig dahinströmenden Fluss mündeten. Nachdem das Chaos der unbestimm ten Wirklichkeiten überwunden war, lief die Zeit wieder in ihrem üblichen gemächlichen Tempo ab. Ich hatte diese Szene immer wieder gesehen und versucht, sie durch eine andere Realität zu ersetzen. Doch je des Mal war ich vor diesen alternati ven Realitäten zurückgeschreckt. Oder sie waren so unwahrscheinlich gewesen, dass es mich zu viel Kraft gekostet hätte, sie Wirklichkeit wer den zu lassen. Manchmal musste man zuerst an sich selbst denken. Ich erkannte, dass dies die einzige Lösung des Dilemmas war. Ich hätte Garshwyn vor dem Tod bewahren können, doch damit wäre meine eige ne Überlebenschance auf einen mini malen Wert gesunken. Entweder rich tete er den Energiestrahler auf mich oder setzte seinem eigenen Leben ein Ende. Entweder ich ließ zu, wozu er fest entschlossen war, oder die Kraft, die ich zur Änderung der Wirklichkeit hätte aufbringen müssen, hätte mich schließlich selbst vernichtet. All das erkannte ich nun, denn in diesem Moment geschah das, wozu Garshwyn mich mit seinen letzten Worten aufgefordert hatte.
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Ich wachte auf. Ich sah nun, wie der Flammenstaub mich verändert hatte. Hat der Narr schließlich doch Ein sicht bewiesen? Sieh an! Da war also noch jemand, der unverhofft wieder aufgewacht war. Schön, dass mein Quälgeist wieder zur Stelle ist, dachte ich zurück. Was hat dir so lange die Sprache verschla gen? Kümmere dich lieber um deine dringlicheren Probleme, riet mir der Extrasinn. Wenn du die DYS-116 nicht bald aus der Gefahrenzone bringst, wird das Feuerwerk, das du da draußen veranstaltet hast, auch dich verschlingen. Wie konnte er sich so schnell einen Überblick über die Situation ver schaffen? Hatte er sich die ganze Zeit als stummer Beobachter im Hinter grund meines Bewusstseins aufgehal ten, ohne selbst aktiv werden zu kön nen? Narr! Selbstverständlich kann ich jederzeit auf dein komplettes fotogra fisches Gedächtnis zugreifen! Diese Aussage deutete darauf hin, dass der Extrasinn tatsächlich über einen längeren Zeitraum vollständig ausgeschaltet gewesen war. Aber ich verzichtete darauf, mich nach den näheren Einzelheiten zu er kundigen. Vermutlich hätte ich ohne hin keine erschöpfende Antwort er halten. Ich horchte in mich hinein und war tete auf eine schlagfertige Erwide rung, doch sie kam nicht. Keine Antwort war auch eine Ant wort. *
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Ich versetzte das Beiboot wieder in den vollen Betriebszustand und ließ es gerade genug Fahrt aufnehmen, dass ich von den Auswirkungen der sich weiter ausdehnenden Explosionswolke verschont blieb. Zum Glück hattte ich immer noch meinen varganischen Raumanzug und war nicht auf die Bestände der DYS116 angewiesen. Im einem zweieinhalb Meter langen Zaqoor-Anzug hätte ich vermutlich keine besonders vorteilhafte Figur gemacht. Aber das war im Augenblick meine geringste Sorge. Ich trug Garshwyns Leiche zum kleinen Schleusenraum. Die Anstrengung kostete mich die letzten Reserven meines verausgabten Körpers. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, ihn mit technischer Unterstützung zu transportieren, aber ich wollte es selbst tun. Zumindest das war ich ihm schuldig. Ich wartete, bis die Atemluft aus der Schleusenkammer gepumpt war, dann öffnete ich das Schleusenschott. Blendendes Licht stach mir in die Augen. Ich verringerte die Durchläs sigkeit des Helmvisiers, bis ich die Wolken aus glühender Materie rund um die Supernova erkennen konnte, zu der die Sonne Varlin geworden war. Das Gebilde schimmerte rötlich und hatte die Form eines Traubenbündels angenommen. Dann blickte ich in Garshwyns Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, als wollte er nichts mehr von dem sehen, was die Zukunft für ihn bereithielt. Sein Mund war im Ausdruck der Entschlossenheit zusammengepresst und vom Ansatz eines tiefen Schmerzes verzerrt.
Bernhard Kempen
Ich konnte nicht anders, ich musste ihm in allem Recht geben, was er ge sagt hatte und was er mir durch seinen Tod vor Augen hielt. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren – und über das, was der Flammenstaub mir ermöglichte. Ich hatte mich Schritt für Schritt in ein Monstrum verwandelt, das sich schließlich für ein gottgleiches Wesen gehalten hatte. Weil es die Macht be saß, in das Schicksal des Universums einzugreifen. »Leb wohl, mein Freund«, sagte ich. Alle weiteren Worte wären überflüssig gewesen. Ein letztes Mal hob ich seine Leiche auf und stieß sie durch die offene Schleuse. Lange blickte ich ihm nach, wie er geradezu anmutig der Explosionswol ke der Supernova entgegenschwebte. Bald würde er wieder mit seiner Freundin Fatuqar vereint sein. Auch wenn ich nicht sagen konnte, ob es wirklich das war, was er sich ge wünscht hätte. Aber es hatte durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Epilog Der Besucher trat ein und wartete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ergriff das Wort. »Was sollen wir jetzt tun?« Der Angesprochene wurde aus sei nen Gedanken gerissen. »Wir dürfen nicht aufgeben. Das ist das wichtigste Gebot der Stunde!« Der Besucher ließ nicht locker. »Die Lage ist verzweifelt. Der Dunkelstern ist zerstört und die Schwarze Sub stanz eliminiert. Damit ist die Brücke
Zwischen den Dimensionen
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in den Mikrokosmos endgültig zusammengebrochen.« Der Angesprochene ließ sich nicht beirren. »Wir müssen eine neue Möglichkeit finden. Wir werden einen neuen Weg finden!« Damit wollte sich der Besucher nicht zufrieden geben. »Welche Möglichkeiten bleiben uns noch? Veschnaron ist tot, und alle unsere Pläne sind hinfällig geworden. Der Arkonide hat in der Intrawelt den Flammenstaub in sich aufgenommen. Jetzt haben wir ihm nichts mehr entgegenzusetzen!« Der Angesprochene sah den Besu-
cher mit eindringlichem Blick an. »Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Trotzdem dürfen wir auf keinen Fall aufgeben!« »Was sollen wir jetzt tun?« »Beobachten ... einschätzen ... einen neuen Plan ausarbeiten. Wir werden eine Möglichkeit finden!« Der Besucher wartete auf einen Vorschlag, eine Idee, einen Befehl, doch der Angesprochene schwieg. Er schien das Gespräch als vorläufig be endet zu betrachten. Unzufrieden wandte sich der Besucher um und ging.
ENDE
Atlan erkennt, dass ihm jede Benutzung des Flammenstaubs körperlich sehr zusetzt und selbst sein Zellaktivator die zerstörerische Wirkung nicht aufhalten kann. Dennoch ist er nicht gewillt, davon abzulassen: Mit zuneh mender Beherrschung setzt er sich immer größere Ziele im Kampf gegen die Lordrichter. HAUCH DES TODES geschrieben von Michael Marcus Thurner, schildert Atlans weiteren Schick salsweg. Der Roman erscheint in vierzehn Tagen überall im Zeitschriften handel.
Atlan – erscheint zweiwöchentlich in der Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Internet: www.vpm-online.de. Redaktion: Sabine Kropp, Postfach 2352, 76413 Rastatt. Titelillustration: Arndt Drechsler. Druck: VPM Druck KG, 76437 Rastatt, www.vpm-druck.de. Vertrieb: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf, Postfach 5707, 65047 Wiesbaden, Tel.: 06123/620-0. Marketing: Klaus Bollhöfener. Anzeigenleitung: Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rainer Groß. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 31. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Öster reich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m.b.H., Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskript sendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Februar 2006. Internet: http://www.Atlan.de und E-Mail:
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