Anne Alexander
Wenn Katzenaugen dich verfolgen Irrlicht Band 244
Sinah sah sich auf einer mit Blumen übersäten Wiese...
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Anne Alexander
Wenn Katzenaugen dich verfolgen Irrlicht Band 244
Sinah sah sich auf einer mit Blumen übersäten Wiese. Ein Mann kam auf sie zu. Noch konnte sie seine Züge nicht erkennen. Er rief ihren Namen. Es klang wie eine Melodie. Und dann veränderte sich von einem Augenblick zum anderen alles. Die mit Blumen bedeckte Wiese verschwand, dafür sah sie sich plötzlich einer riesigen Katze gegenüber, aus deren geöffneten Maul Geifer tropfte. Pfoten mit mächtigen Krallen kamen auf sie zu. Sie hörte ein gefährliches Fauchen. Sinah warf sich herum. Sie lag jetzt nur noch im Halbschlaf. Noch immer hörte sie dieses entsetzliche Fauchen, und mit einem Mal wurde ihr bewußt, daß sie nicht träumte. Sie zwang sich, die Augen aufzureißen und schrie vor Entsetzen auf. Zwei große bernsteinfarbene Katzenaugen schwebten durch das dunkle Zimmer auf sie zu. Ihre Hand tastete zum Lichtschalter, im selben Moment fühlte sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Schulter. Noch bevor sie ausweichen konnte, spürte sie scharfe Krallen, die ihr Nachthemd zerfetzten…
Das war also Manning Hall! Gegen den Wagen gelehnt, blickte Sinah Manning auf das gewaltige, von Türmen, Giebeln und Erkern gekrönte Gebäude, das sich zwischen mit Bäumen bestandenen Hügeln nur wenige Meter vor ihr erhob. Das Herrenhaus mit seinen graubraunen Mauern, den kleinen Fenstern und dem schmalen Eichenportal wirkte nicht nur abweisend, sondern geradezu unheimlich. Alles in ihr sträubte sich dagegen, wieder in den Wagen zu steigen, um die Auffahrt entlang zu fahren. Die junge Frau fragte sich, was jener Manning, der das Haus vor rund zweihundert Jahren hatte erbauen lassen, wohl für ein Mensch gewesen sein mochte. Wen hatte er so gefürchtet, da er hatte glauben müssen, nur in dieser Festung vor ihm sicher zu sein? Sinah stieß heftig den Atem aus. Es half nichts, sie mußte weiterfahren. War sie nicht früher immer neugierig auf den Stammsitz ihrer Familie gewesen? War der Brief, in dem ihr Dr. Holborn mitgeteilt hatte, daß sie die Erbin von Manning Hall war, nicht wie ein Wink des Schicksals erschienen? Wer A sagt, muß auch B sagen, dachte die junge Frau und ließ sich hinter das Steuer des Wagens gleiten. Im Alter von drei Jahren hatte sie Manning Hall verlassen müssen. Ihre Mutter war fest davon überzeugt gewesen, daß sich innerhalb seiner Mauern das Böse manifestierte. Inzwischen waren achtzehn Jahre vergangen. Was immer sie auch hier erwarten mochte, sie war alt genug, sich ihm zu stellen. Energisch schlug sie die Wagentür zu und gab Gas. Sinah bremste den Wagen kurz vor dem Portal ab. Beklommen stieg sie aus. Jetzt, aus unmittelbarer Nähe, wirkten die Mauern noch gigantischer. Ihre Handtasche unter dem Arm, atmete sie tief durch, bevor sie den schweren
Türklopfer betätigte. Ein dumpfer Laut, der sich in Intervallen fortzusetzen schien, hüllte sie sekundenlang förmlich ein. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis das Portal von einer blonden Frau geöffnet wurde. Sie hatte ein schmales, hübsches Gesicht mit etwas schrägstehenden blauen Augen. Das einfach geschnittene Kleid, das sie trug, brachte ihre Figur vollendet zur Geltung. »Bitte, Sie wünschen?« fragte sie und zog dabei die Augenbrauen zusammen. »Ich bin Sinah Manning«, stellte sich Sinah mit einem Lächeln vor. »Ich nehme an, Sie haben mein Telegramm erhalten?« fragte sie, als sie so etwas wie Bestürzung in dem Gesicht der Frau zu erkennen glaubte. »Nein, wir haben kein Telegramm bekommen. Manchmal spielt die Post schon verrückt. Nun, das macht nichts. Ich bin Muriel Howard, Sinah, wir sind über sieben Ecken miteinander verwandt.« Sinah konnte sich nicht erinnern, daß ihre Mutter jemals von einer Muriel Howard gesprochen hatte. »Das mit dem Telegramm tut mir leid«, sagte sie. »Hoffentlich komme ich nicht ungelegen.« »Sie sind Edwards Erbin. Manning Hall steht Ihnen also jederzeit offen«, erklärte Muriel Howard. »Aber jetzt sollten wir erst einmal hineingehen.« Sie trat beiseite. »Um Ihr Gepäck wird sich dann später eines der Mädchen kümmern. Wenn wir geahnt hätten, daß Sie heute kommen, hätten wir selbstverständlich etwas vorbereitet. So wird es eine Weile dauern, bis man Ihr Zimmer gerichtet hat.« »Das ist schon in Ordnung.« Sinah sah sich in der düsteren Eingangshalle um. Außer einem Refektoriumstisch mit einigen gradlehnigen Stühlen gewahrte sie noch mehrere geschnitzte Eichentruhen und einen hohen bemalten Schrank. Im Hintergrund gab es eine breite Treppe, die nach oben führte.
»Die Wohnräume befinden sich alle im ersten Stock.« Muriel Howard wies zur Treppe. »Ich darf doch vorausgehen?« Sie lächelte Sinah zu. »Ich nehme an, Sie haben sich Manning Hall ganz anders vorgestellt.« »Auf jeden Fall heller«, erwiderte die junge Frau aufrichtig. »Und nicht so kalt«, fügte sie hinzu. Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. »Hier im Haus wird es nur selten warm«, erzählte Muriel, während sie vor Sinah die Treppe hinaufstieg. »Das liegt an den dicken Mauern. Einige Leute behaupten allerdings…« Sie unterbrach sich. »Ihr Onkel hat vor Eßzimmer und Salon eine Terrasse bauen lassen. Dort sitzt es sich im Sommer sehr schön, und in diesen Räumen und der Bibliothek sind auch die Fenster vergrößert worden.« Sie hatten eine schmale Galerie erreicht, die genauso im Halbdunkel lag wie die Treppe. Muriel öffnete die Salontür und ließ Sinah an sich vorbeigehen. Überrascht blieb die junge Frau stehen. Sie befand sich in dem schönsten Zimmer, das sie je betreten hatte. Es war mit polierten Kirschbaummöbeln, hellen Teppichen und silbergrauen Polstermöbeln ausgestattet. Die beiden Terrassentüren standen offen und ließen den Blick über einen Teil Dartmoors frei. »Sicher werden Sie sich ein wenig frischmachen wollen«, meinte Muriel. »Wir haben auch auf dieser Etage ein Badezimmer. Ich werde mich unterdessen um den Tee kümmern.« Nachdem sie Sinah erklärt hatte, wo sich das Bad befand, kehrte sie ins Erdgeschoß zurück. Das Badezimmer war ein schmales Gelaß am Ende der Galerie. Das einzige Fenster lag zu hoch, als daß man hätte hinaussehen können. Sinah wusch sich rasch Hände und Gesicht. Sie wußte nicht recht, was sie von Muriel halten sollte. Zwar war sie freundlich von ihr aufgenommen worden, doch gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als sei die junge Frau
alles andere als begeistert über ihr Kommen. Nun, verdenken konnte man es ihr eigentlich nicht. Immerhin war sie scheinbar seit langer Zeit gewohnt, auf Manning Hall die Rolle der Hausherrin zu spielen. Muriel Howard ließ nicht lange auf sich warten. Sie brachte ein Tablett, auf dem eine silberne Teekanne und Geschirr standen. »Liz kommt gleich mit dem Gebäck«, sagte sie. Geschickt deckte sie den Tisch. »Gibt es viel Personal auf Manning Hall?« erkundigte sich Sinah. Sie hatte an der Terrassentür gestanden und aufs Dartmoor hinausgesehen, jetzt wandte sie sich dem Tisch zu. »Außer der Köchin und dem Butler, die beide auf Manning Hall leben, haben wir drei Mädchen, die abends nach Hause zurückkehren. Und dann ist da noch der alte James. Er und seine Söhne sind für den Park und die Pferde zuständig. Er lebt in Manning Village, einer Siedlung von zehn Häusern. Dort sind die Landarbeiter mit ihren Familien untergebracht.« Muriel wies auf einen Sessel. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« »Der Anwalt meines verstorbenen Onkels schrieb von einem Verwalter«, sagte Sinah. »Jensen ist, glaube ich, sein Name.« »Philip Jensen«, bestätigte Muriel. »Ihr Onkel hat ihn vor etwa zwölf Jahren eingestellt. Philip wird Ihnen gefallen. Er ist heute morgen mit Arthur Summer nach London gefahren. Wir erwarten beide nicht vor morgen zurück. Philips Wohnung liegt im Nordflügel. Sie hat einen separaten Eingang.« Ein dunkelhaariges, sehr schlankes Mädchen von achtzehn Jahren betrat mit einem schwerbeladenen Tablett den Salon. Verlegen murmelte es einen Gruß, bevor es eine Kuchenplatte und einen Teller mit belegten Broten auf den Tisch stellte. »Das ist Liz«, stellte Muriel vor. »Sie ist erst seit einem halben Jahr bei uns. Ihr Onkel hat sie einige Wochen vor seinem Tod eingestellt.«
»Willkommen auf Manning Hall, Miß Manning«, sagte das Mädchen. Es errötete, als ihm Sinah die Hand reichte. »Wir freuen uns alle, daß Sie nach England zurückgekehrt sind.« »Danke, Liz«, erwiderte Sinah herzlich. »Sie ist etwas schüchtern, aber dafür auch sehr willig«, meinte Muriel Howard, kaum daß Liz den Salon verlassen hatte. »Und jetzt greifen Sie bitte zu, Sinah. Unsere Mrs. Jones ist eine ganz hervorragende Köchin.« Das konnte die junge Frau nur bestätigen, nachdem sie von dem Kuchen probiert hatte. »Leben Sie schon lange hier?« fragte sie ihre Verwandte. »Ich war so alt wie Sie, als ich nach Manning Hall kam«, erzählte Muriel. »Und das liegt jetzt schon vierzehn Jahre zurück. Meine Eltern sind kurz hintereinander gestorben. Ihr Onkel hatte davon erfahren. Er rief mich an und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, ihm den Haushalt zu führen, seine Wirtschafterin hätte geheiratet und wäre mit ihrem Mann nach Harwick gezogen. Natürlich habe ich mit beiden Händen zugegriffen. Wer läßt sich schon so eine Chance entgehen? Und ich mußte es nie bereuen. Ihr Onkel war ein wirklich feiner Mensch.« »Wie ist Onkel Edward gestorben?« fragte Sinah nachdenklich. »Doktor Holborn schrieb nur kurz von einem Unfall.« »Ja, es war ein Unfall«, sagte Muriel. »Kann nur ein Unfall gewesen sein.« Sie rührte in ihrer Teetasse, obwohl der Zucker in ihr sich längst aufgelöst haben mußte. »Wie meinen Sie das?« »Ihr Onkel litt seit Jahren an einer schweren Arthritis, die ihn oft tagelang an den Rollstuhl fesselte«, antwortete Muriel und nippte bedächtig an ihrem Tee. »Deshalb können wir es alle nicht verstehen, daß er die Treppe des Hauptturms hinaufgestiegen ist, um vom Söller aus über seinen Besitz zu
sehen. Zudem war es Abend und die Sicht kann nicht besonders gut gewesen sein. Jedenfalls hörten Philip und ich ein lautes Poltern und einen gellenden Schrei. Wir fanden Ihren Onkel kurz darauf am Fuß der Treppe. Er war noch bei Bewußtsein. Er sprach von bernsteinfarbenen Augen, die ihn verfolgt hätten. Auf dem Weg ins Krankenhaus ist er dann gestorben.« »Bernsteinfarbene Augen«, wiederholte Sinah versonnen. Sie stellte ihre Teetasse auf den Tisch und sah die Wirtschafterin an. »Auch meine Mutter erwähnte diese Augen einmal, als sie von Manning Hall sprach.« »Sie sollten sich darüber keine Gedanken machen«, meinte Muriel. »Ich glaube, es gibt kein altes Haus in England, von dem nicht behauptet würde, daß es in ihm spukt. Manning Hall bildet da keine Ausnahme. Aber wir leben schließlich heute im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Für Geister und dergleichen haben wir keinen Platz mehr.« Sie lachte. »Sie wurden von Radio und Fernsehen verdrängt.« Es kam Sinah vor, als wollte Muriel nicht weiter über die bernsteinfarbenen Augen sprechen. Nun gut, sie hatte Zeit, sie wollte sie nicht drängen. Sie nahm sich ein zweites Stück Fruchtkuchen. »Seit wann sind Sie wieder in England?« erkundigte sich ihre Verwandte. »Ich weiß nur, daß Ihre Mutter mit Ihnen nach Frankreich zurückgekehrt ist, als Sie etwa drei Jahre alt waren.« »Dann hat Ihnen mein Onkel wahrscheinlich auch erzählt, daß Mutter Französin war«, sagte Sinah. »Vater und sie lernten sich in Paris kennen. Kurz darauf heirateten sie. Onkel Edward muß alles andere als begeistert gewesen sein, als dann mein Vater mit seiner Frau nach Manning Hall kam.«
»Immerhin war er fünfzehn Jahre älter als sein Bruder und glaubte, das Recht zu haben, bei der Wahl seiner Schwägerin ein Wörtchen mitzureden«, gab Muriel zu bedenken. »Mag sein, jedenfalls fühlte sich meine Mutter auf Manning Hall nicht wohl. Deshalb blieb sie auch nach dem Tod meines Vaters nicht hier wohnen. Wir kamen bei Verwandten in Paris unter. Später kaufte Mutter ein Häuschen in der Bretagne. Sie starb vor fünf Jahren.« »Ja, das ist mir bekannt.« Muriel nickte. »Ihr Onkel hatte vom Tod Ihrer Mutter erfahren. Er wollte Sie nach Manning Hall zurückholen, doch Ihre Tante lehnte ab.« »Ich hatte damals gerade die Schule beendet und meine Ausbildung als Erzieherin begonnen«, nahm Sinah sofort ihre Tante in Schutz. Sie verschwieg Muriel, daß ihre Tante alles versucht hatte, um sie auch jetzt an der Heimkehr nach Manning Hall zu hindern. Man hatte ihr sogar vorgeschlagen, den Besitz von Frankreich aus zu verkaufen. »Es gibt Häuser, die ziehen das Unglück förmlich an und dazu gehört Manning Hall«, hatte sie gewarnt. »Was willst du in England, Sinah, du bist hier zu Hause, wir sind die einzige Familie, die du noch hast.« »Sie wird nicht gerade begeistert gewesen sein, als Sie nun doch Frankreich den Rücken wandten«, meinte die Wirtschafterin. »Ich bin seit einer Woche wieder in England«, beantwortete Sinah die Frage, die ihr Muriel vor einigen Minuten gestellt hatte. »Ich habe mir London angesehen. Ich wollte erst mit dem Anwalt meines Onkels sprechen, bevor ich nach Manning Hall fuhr, leider kam ich zu spät.« Muriel nickte düster. »Die Unfälle scheinen sich wirklich in der letzten Zeit zu häufen. Doktor Holborn ist am hellichten Tag von einem Wagen überfahren worden.« Sie hob den Kopf und blickte zur Tür. »Ja, Liz?«
»Das Zimmer ist jetzt gerichtet, Mrs. Howard«, wandte sich das Hausmädchen an Muriel. »Danke, Liz!« Sinah stand auf. »Dann möchte ich gern erst einmal mein Zimmer aufsuchen.« »Das kann ich verstehen.« Auch Muriel erhob sich. »Hat sich Anne um das Gepäck von Miß Manning gekümmert?« fragte sie das Hausmädchen. »Ja, es ist alles oben.« Liz zog sich rasch zurück. Sinahs Zimmer befand sich im zweiten Stock auf der Vorderseite des Hauses. Es besaß sieben kleine Fenster, von denen fünf in einem turmähnlichen Erker lagen. Die junge Frau öffnete eines von ihnen. Ihr Blick ging über die Hügel bis weit ins Dartmoor hinein. Ein feiner Dunstschleier lag über dem Land. »Sieht aus, als würden wir mal wieder Nebel bekommen«, meinte Muriel, die neben sie getreten war. »Daran werden Sie sich bei uns gewöhnen müssen. Es ist oft so neblig, daß man kaum die Hand vor Augen sehen kann.« Sie berührte kurz Sinahs Schulter. »Ich werde Sie jetzt allein lassen, damit Sie sich in Ruhe umsehen können. Bisher haben wir das Dinner immer um acht eingenommen. Wenn Sie etwas daran ändern wollen, so sagen Sie es ruhig.« »Acht Uhr ist mir recht«, erwiderte Sinah und wartete, bis Muriel das Zimmer verlassen hatte, dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Unten vor dem Haus stand noch immer ihr Mietwagen. Sicher würde sie ihn jetzt nicht mehr brauchen. Sie wollte einen der Angestellten bitten, ihn nach London zurückzubringen. Die junge Frau stützte sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett und atmete tief durch. Keine zwei Stunden waren seit ihrer Ankunft vergangen. Manning Hall erschien ihr noch immer abweisend und unheimlich, trotzdem erfüllte sie
plötzlich eine unbändige Freude. Sie war daheim. Niemand konnte sie mehr von hier vertreiben.
*
Unruhig wälzte sich Sinah Manning in ihrem Bett. Sie träumte von zwei riesigen Steinen, die sich unablässig aneinander schliffen. Das Geräusch, das sie dabei verursachten, tat ihr in den Ohren weh. Schmerzlich verzog sich ihr Gesicht. Das Schleifen wurde lauter und lauter… Die junge Frau schlug die Augen auf. Verwirrt blickte sie in die Dunkelheit. Von fern hörte sie ein leises, schleifendes Geräusch. Auf die Arme gestützt, richtete sie sich auf. Nein, sie irrte sich nicht. Da war etwas! Es schien das ganze Zimmer auszufüllen. Sie schaltete die Nachttischlampe ein. Ihr Blick fiel auf die Familienchronik, die sie am vergangenen Abend auf dem Nachttisch vorgefunden hatte. Am liebsten hätte sie sofort in ihr gelesen, aber sie war zu müde gewesen, um sich in ihr zu vertiefen. Sinah schaute zum Kamin. Sie schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. Barfuß eilte sie zum Kamin. Lauschend blieb sie stehen. Das Geräusch schien aus dem Kamin zu kommen. Unablässig schwoll es an und ebbte dann wieder ab. Was konnte das nur sein? Die junge Frau kehrte zum Bett zurück, warf sich den Morgenrock über und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Sehr leise verließ sie ihr Zimmer. Sie wollte feststellen, ob dieses Schleifen auch noch woanders im Haus zu hören war. Der Gang, der zu ihrem Zimmer führte, war nur schwach beleuchtet. Die beiden Wandlampen warfen lange Schatten.
Kälte drang von allen Seiten auf Sinah ein. Sie fühlte, wie sich ihr Körper mit einer Gänsehaut überzog. Obwohl sie kein ängstlicher Mensch war, bereute sie es bereits nach einigen Schritten, die Sicherheit ihres Zimmers verlassen zu haben. Endlich hatte sie die Galerie erreicht. Auch hier gab es kein besseres Licht. Sie nahm sich fest vor, schon in den nächsten Tagen für eine gute Beleuchtung des Hauses zu sorgen. Sie blickte über die Brüstung in die Halle hinunter. Alles war ruhig, auch das schleifende Geräusch war hier nicht zu hören. Sie wollte sich schon umwenden, als sie plötzlich unter sich eine Tür klappen hörte. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen. Jemand stieg die Treppe vom ersten Stock ins Erdgeschoß hinunter. Das einzige, was Sinah von ihm sehen konnte, war eine weiße Hand, die auf dem Treppengeländer entlangglitt. Sie überlegte, ob sie ihm nacheilen sollte, vielleicht war er auch von dem Geräusch geweckt worden, ließ es dann aber sein. Die Person, die aus dem ersten Stock gekommen war, hatte das Ende der Treppe erreicht. Sinah erwartete, daß sie nun die Halle durchqueren würde, aber nichts geschah. Nur die weiße Hand verschwand vom Treppengeländer. Das gibt es doch nicht, dachte die junge Frau. Ohne lange darüber nachzudenken, eilte sie fast lautlos die Treppen hinunter. Als sie in der Halle angekommen war, blickte sie nach oben. Wer immer vor ihr die Treppe passiert hatte, er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Nachdenklich stieg Sinah die Stufen wieder hinauf. Erst dieses seltsame Geräusch, jetzt das! Und sie war sich ganz sicher, jemand die Treppe hinuntersteigen gesehen zu haben. – Nein, eigentlich hatte sie ihn nicht gesehen, sondern nur eine Hand!
Sinah fuhr zusammen. Ihre Hand löste sich vom Geländer. Sie rannte förmlich die letzte Treppe hinauf. Nachdem sie die Gangtür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sie sich etwas sicherer. Schweratmend lehnte sie sich gegen die Wand. Sie versuchte über sich selbst zu lachen, es wollte ihr nicht gelingen. Sie stieß sich von der Wand ab und kehrte in ihr Zimmer zurück. Halb im Unterbewußtsein schloß sie die Tür nicht nur ab, sondern schob auch noch den altmodischen Riegel vor, der ziemlich weit oben angebracht war. Sinah Manning zog den Morgenrock aus und legte ihn über eine Stuhllehne. Schlagartig wurde ihr die Stille bewußt, die in ihrem Zimmer herrschte. Stirnrunzelnd ging sie zum Kamin. Tatsächlich, von dem Schleifen war nichts mehr zu hören. Hatte sie es sich vorhin vielleicht doch nur eingebildet gehabt? Tief in Gedanken zog sie einen der Vorhänge beiseite und blickte in den vom Mondlicht überfluteten Park. Der Nebel hatte sich verzogen. In der Feme sah sie einige Ponys durch die Heide galoppieren. Ihre Mutter hatte ihr vor Jahren einmal erzählt, daß Dartmoor die einzige Gegend Englands war, in der es noch wildlebende Ponys gab. Sinah ließ den Vorhang los und wandte sich ihrem Toilettentisch zu. Versonnen blickte sie in den Spiegel. Im Eßzimmer hing ein Porträt, das Dinah Manning, ihre Urgroßmutter, zeigte. Sie mußte etwa in ihrem Alter gewesen sein, als das Porträt gemalt worden war. Trotz der altmodischen Kleidung, die Dinah Manning trug, war es Sinah vorgekommen, als würde sie ein Bildnis von sich selbst betrachten. Sie war ihrer Urgroßmutter wie aus dem Gesicht geschnitten, hatte dieselben rotbraunen Haare und grünen Augen. Die junge Frau griff nach der Kette, die sie am Abend auf dem Toilettentisch abgelegt hatte. Sie strich leicht über den
großen, in Gold gefaßten Türkis des Anhängers. Es war dieselbe Kette, die auch ihre Urgroßmutter auf dem Porträt getragen hatte. Sinah war zu aufgewühlt, um wieder einschlafen zu können. Trotzdem ging sie zu Bett, griff aber nach der Chronik, um noch etwas in ihr zu lesen. Sie hoffte, darüber so müde zu werden, daß sie noch einige Stunden Schlaf finden konnte. Vorsichtig blätterte sie in dem großen Buch. Seine Seiten waren aus sehr dünnem Papier und knisterten etwas beim Umdrehen. Die ersten Eintragungen stammten von einer Deborah Manning. Sie hatte mit ihnen nach der Geburt ihres Sohnes Charles begonnen. Ihr Mann leitete ein großes Handelsunternehmen in Dover und kam gewöhnlich nur über das Wochenende nach Ashburton. Trotz des Kindermädchens, das ihr Mann eingestellt hatte, schien sie ganz in der Pflege des kleinen Charles aufzugehen. Sinah legte das Buch beiseite, nahm sich noch einige Kissen und baute sie am Kopfende des Bettes auf, um bequemer sitzen zu können, dann las sie weiter. »Charles ist ein aufgeweckter, folgsamer Junge«, schrieb Deborah Manning. »Ständig fragt er nach diesem und jenem. Ich habe beschlossen, ihm bereits jetzt Lesen und Schreiben beizubringen, obwohl er noch keine vier Jahre alt ist.« Sie berichtete von ihren Erfolgen. Aus jedem ihrer Sätze sprach der Stolz auf den Sohn. Sinah überblätterte einige Seiten. Im Alter von zwölf begann Charles seiner Mutter Sorgen zu machen. Deborah Manning erwähnte ein Mädchen namens Mary Russell, von dem es hieß, daß sie die Nachfahrin einer Hexe sei. »Ich habe Charles vor dem Umgang mit diesem Mädchen gewarnt. Er findet immer wieder Wege, um mit ihm zusammenzukommen«, berichtete Deborah Manning. Einige Seiten weiter schrieb sie vom Tod ihres Mannes und ihrer
Angst, daß ihr Charles immer weiter entgleiten würde. »Er ist dieser Mary regelrecht verfallen und fest entschlossen, sie zu heiraten.« An dieser Stelle endeten die Eintragungen von Deborah Manning. Charles selbst führte sie einige Jahre später fort. Er hatte inzwischen Mary Russell geheiratet und mit dem Bau eines Hauses, einige Kilometer von Ashburton entfernt, begonnen. Mary war es gewesen, die ihn dazu überredet hatte, in diesem Gebiet am Rand von Dartmoor, Land aufzukaufen. »Ich weiß nicht, was mit mir ist. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich nicht mehr Herr meiner selbst. Ich habe die Pläne zu Manning Hall selbst entworfen, dennoch sind sie mir fremd. Je höher die Mauern aufragen, um so häufiger frage ich mich, warum ich diesen Ort so mit Steinen umgebe. Und Mary, sie ist so anders geworden. Gestern standen wir bei Sonnenuntergang vor dem Bau. Das Licht warf Schatten gegen die Mauern, meinen und den einer Katze. Ich wagte nicht, davon zu sprechen. Ich wollte nicht, daß man mich für verrückt hält.« Mit wachsender Bestürzung las Sinah weiter. Sie erfuhr, daß Deborah Manning am Tag der Hochzeit ihres Sohnes von einer rätselhaften Krankheit erlöst worden war. Man hatte sie drei Tage später zur letzten Ruhe gebettet. Ein Jahr darauf hatte Mary einer Tochter das Leben geschenkt. Sie hatte darauf bestanden, ihr den Namen Emmy zu geben. Charles schien seiner Frau da schon völlig verfallen gewesen zu sein. »Ich hätte den Warnungen von Mutter Glauben schenken sollen«, schrieb er kurz nach ihrem Einzug in Manning Hall. »Heute habe ich erfahren, daß wir das Haus über jener Stelle errichtet haben, auf der Emmy Russell vor hundertneunzig Jahren als Hexe verbrannt worden ist. Immer wenn ich in die bernsteinfarbenen Augen meiner Tochter Emmy sehe, muß ich
an diese furchtbare Frau denken, die sich sogar in eine Katze verwandeln konnte.« Das darf doch nicht wahr sein, fuhr es Sinah Manning durch den Kopf. Sie glaubte nicht an Hexen und auch nicht daran, daß es jemals Hexen gegeben hatte, doch der Gedanke, in einem Haus zu schlafen, das sich auf einer alten Hinrichtungsstätte erhob, verursachte ihr unsägliches Grauen. Sie griff nach dem Wasserglas, das auf ihrem Nachttisch stand. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Ihr Onkel hatte sich von bernsteinfarbenen Augen verfolgt gesehen, ihre Mutter hatte einmal angstvoll von ihnen gesprochen… Sinahs Hand zitterte, als sie das Glas auf den Nachttisch zurückstellte. Sie wollte nicht weiterlesen, und doch war es ihr unmöglich, das Buch beiseite zu legen. Ein Jahr nach Emmys Geburt hatte Mary einem weiteren Kind das Leben geschenkt, Adrian. Sie schien an ihm nicht viel Interesse gehabt zu haben, denn Charles schrieb, daß es ihm vergönnt sei, den Knaben ganz nach seinen Wünschen zu erziehen. Drei Jahre später starb Mary nach einer Fehlgeburt. Aus der diesbezüglichen Eintragung Charles Mannings sprach keine Trauer. »Jetzt heißt es nur noch, für Emmy eine Lösung zu finden, dann werde ich mich ganz der Erziehung meines Sohnes widmen.« Zwischen diesen Zeilen und der nächsten Eintragung lagen fast zwei Jahrzehnte und es war Adrian Manning, der die Chronik fortsetzte. Er schrieb, daß seine Schwester Emmy wenige Wochen nach dem Tod der Mutter im Moor ertrunken war, und sein Vater Manning Hall dem Verwalter überlassen hatte und mit ihm nach London gezogen sei. Niedergedrückt von Schuld hatte ihm sein Vater kurz vor dem Tod gestanden, daß er Emmy ermordet hatte, um den Einfluß der Hexe auf seine Familie endgültig zu bannen.
Mit einem lauten Knall schlug Sinah die Chronik zu. Sie konnte nicht weiterlesen. Ein Kind zu ermorden, nur weil es einer Vorfahrin glich, die als Hexe verbrannt worden war… Sie legte das Buch auf den Nachttisch, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Was hatte Muriel sich eigentlich dabei gedacht, ihr die Chronik als Nachtlektüre auf den Tisch zu legen? Nur Muriel konnte es gewesen sein, die Hausmädchen waren sicher nicht auf diese Idee gekommen. Aufseufzend löschte sie das Licht und drehte sich zur Seite. Die kleine Emmy ging ihr nicht aus dem Sinn, und dann mußte sie auch ständig daran denken, daß man an diesem Ort vor rund vierhundert Jahren eine Frau verbrannt hatte. Kein Wunder, daß ihre Mutter es vorgezogen hatte, Manning Hall zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren. Aber warum hatte sie ihr nie davon erzählt? In Sinahs Gedanken hinein erklang plötzlich wieder dieses schleifende Geräusch. Die junge Frau griff entsetzt nach ihrer Bettdecke und zog sie sich über den Kopf.
*
Von heftigen Kopfschmerzen gequält, stieg Sinah Manning am nächsten Morgen die Treppe zum ersten Stock hinunter. Der Tisch im Eßzimmer war bereits gedeckt. Auf einem Servierwagen standen Eier mit Schinken, Rührei, Nieren und verschiedene Salate. Allein der Gedanke an Essen verursachte ihr schon Übelkeit. Sie war nur gekommen, um Kaffee zu trinken. »Guten Morgen, Sinah, ich hoffe, Sie haben in Ihrer ersten Nacht auf Manning Hall gut geschlafen und etwas Schönes
geträumt«, tönte die Stimme Muriel Howards von der Tür her, kaum daß die junge Frau Platz genommen hatte. »Leider keines von beiden«, antwortete Sinah müde und erwiderte den Gruß. Sie nahm die Kaffeekanne, die auf einem Stövchen stand. »Darf ich Ihnen auch gleich Kaffee einschenken, Muriel?« »Gern!« Die Wirtschafterin setzte sich. »Sicher die ungewohnte Umgebung«, meinte sie und bediente sich mit Toastbrot und Butter. »Heute abend sollten Sie am besten eine Schlaftablette nehmen.« Sie lachte leise auf. »Unsere Mrs. Jones schwört allerdings bei Schlaflosigkeit mehr auf ein Glas warme Milch.« »Ich bin mitten in der Nacht von einem mehr als seltsamen Geräusch aufgewacht«, erzählte Sinah. Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Es schien aus dem Kamin zu kommen.« »Ein Geräusch aus dem Kamin?« fragte Muriel. Es klang besorgt. »Und sie sind sich sicher, es nicht nur geträumt zu haben?« Sie hob einen silbernen Deckel an und legte sich mit der Gabel einige Kalbsnieren auf den Teller. »Wissen Sie, selbst wenn Sie nicht geträumt haben, Manning Hall ist ein sehr altes Haus, und in alten Häusern hört man oft Geräusche, die gar nichts bedeuten.« »Geträumt habe ich nicht«, antwortete Sinah bestimmt. »Und ich habe auch nicht das Gefühl, daß dieses Geräusch mit dem Alter des Hauses zu erklären ist. Es war nicht sehr laut. Es klang, als würde irgend etwas geschliffen. Ich…« Sie wurde von einem Klirren unterbrochen. »Bin ich heute morgen ungeschickt!« rief Muriel ärgerlich aus und sprang auf. »Wie kann man nur seine Kaffeetasse umstoßen.« Ärgerlich eilte sie zur Tür und rief nach Liz. Sinah war ebenfalls aufgestanden. Sie trocknete den Kaffeesee, der sich auf dem weißen Tischtuch gebildet hatte,
mit Papierservietten auf. »Alles halb so schlimm«, meinte sie, als Muriel zum Tisch zurückkehrte. »Danke, Sinah.« Muriel wandte sich der Tür zu. »Warum dauert denn das so lange, Liz?« fragte sie erregt, als das Hausmädchen eintrat. »Decken Sie den Tisch neu. Ich habe versehentlich die Tasse umgeworfen.« »Sofort, Mrs. Howard.« Das Hausmädchen trat an den Tisch. »Aber das ist doch eigentlich gar nicht nötig«, meinte Sinah unbedacht. »Es kann ja nichts mehr passieren. Der Kaffee ist von den Servietten aufgesaugt worden.« Muriel sah aus, als hätte sie eine heftige Erwiderung auf der Zunge. »Dann können Sie wieder gehen, Liz«, sagte sie und setzte sich. Sie wartete, bis Liz das Eßzimmer verlassen hatte. »Sie sollten nicht zu nachsichtig sein, Sinah, daß bekommt dem Personal nicht. Es verführt die Leute nur zur Faulheit.« »Ich wollte Ihnen keinesfalls in den Rücken fallen, Muriel. Ich fand es nur unnötig, den Tisch neu zu decken. Oder kommt außer uns beiden noch jemand zum Frühstück?« Sinah sah die Wirtschafterin an. »Manchmal frühstückt Philip mit mir«, erwiderte Muriel und ließ zwei Stückchen Zucker in ihren Kaffee fallen. »Philip Jensen und ich sind gute Freunde. Edward, ich meine Ihr Onkel, hat Philip auch oft eingeladen, mit uns das Dinner einzunehmen. Die beiden Männer haben sich sehr gut verstanden. Manchmal saßen sie bis in die Nacht hinein beim Schach zusammen.« »Ich habe nichts dagegen, wenn Mister Jensen nach wie vor hier ißt«, sagte Sinah. »Danke, Sinah.« Muriel lächelte ihr zu. »Philip und Arthur Summer sind übrigens vor drei Stunden aus London zurückgekommen. Ich habe Arthur gesagt, daß er das Personal für zehn in das ehemalige Arbeitszimmer Ihres Onkels bitten soll, damit ich Sie mit allen bekanntmachen kann.«
»Das ist mir sehr recht«, meinte Sinah. »Bis jetzt kenne ich nur Liz.« Sie runzelte die Stirn. »Sie sagten, die beiden Männer seien erst heute morgen nach Manning Hall zurückgekehrt? Ich war in der Nacht auf der Galerie und habe jemanden aus dem ersten Stock die Treppe hinuntergehen gehört.« »Das werde ich gewesen sein«, erwiderte Muriel. »Ich konnte nicht schlafen und habe mir aus der Bibliothek ein Buch geholt, danach bin ich noch in die Küche gegangen.« Sinah blickte auf die sonnengebräunten Hände ihrer Verwandten. Sie war sich ganz sicher, daß es nicht Muriel gewesen sein konnte, die sie gehört hatte. Trotzdem widersprach sie nicht. Sie schenkte sich Kaffee nach. »Übrigens habe ich in der Chronik geblättert. Nicht gerade die richtige Lektüre für eine geruhsame Nacht.« »Oh, das tut mir leid.« Muriel verzog den Mund. »Hätte ich geahnt, daß Sie sofort in der Chronik lesen, hätte ich sie Ihnen erst heute morgen gegeben. Ich dachte mir nur, die Chronik würde Sie interessieren, und da sie mir gestern zufällig in die Hände geriet, legte ich sie auf Ihren Nachttisch.« »Schon gut.« Sinah lehnte sich zurück. »Ich hatte keine Ahnung von der bewegten Geschichte der Mannings«, sagte sie. »Vor allen Dingen nicht, daß man Manning Hall über eine alte Hinrichtungsstätte gebaut hat. Ehrlich gesagt, mich graust es, wenn ich daran denke.« »Ich würde mir da nicht soviel Gedanken machen«, meinte Muriel und nahm vom Rührei. »Außerdem handelt es sich nicht um eine alte Hinrichtungsstätte. Der einzige Mensch, der hier hingerichtet wurde, war Emmy Russell.« Sie drehte sich um und wies zum Porträt von Dinah Manning. »Ich bin ebenfalls mit ihr verwandt. Ihr jüngster Sohn heiratete nach Suffolk. Sein einziges Kind, eine Tochter, war meine Großmutter.« Sie lachte. »Also gehört jene legendäre Emmy
Russell auch in gewisser Weise zu meiner Familie. Deshalb interessierte ich mich besonders für sie. Ich glaube zwar nicht, daß sie eine Hexe gewesen ist. Vieles von dem, was ihr nachgesagt wird, ist nur mit dem Aberglauben der Leute zu erklären, doch sie muß ein geradezu fürchterliches Weib gewesen sein. Es heißt, daß sie sich in eine Katze verwandeln konnte und in dieser Gestalt die Menschen heimsuchte, um sie zu verderben. Deshalb ist auf Manning Hall niemals eine Katze geduldet worden. Jedes Unglück, das der Familie widerfuhr, wurde dem Einfluß von Emmy Russell zugeschrieben. Charles Manning…« »Guten Morgen.« Die beiden Frauen wandten sich der Tür zu. »Philip, wie schön, daß du noch zum Frühstück kommst!« rief Muriel, sprang auf und führte den blonden Mann, der das Eßzimmer betreten hatte, zu Sinah. »Darf ich miteinander bekanntmachen? Philip Jensen, unser Verwalter – Sinah Manning, die neue Herrin auf Manning Hall.« »Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, Sie kennenzulernen, Miß Manning.« Philip Jensen ergriff Sinahs Hand. »Gleich, als uns Doktor Holborn bei der Testamentseröffnung mitteilte, daß Sie die Erbin dieses Besitzes sind, hoffte ich, daß Sie eines Tages nach England zurückkehren.« »Und nun ist es ja auch geschehen«, meinte Sinah. Obwohl sie sich eingestand, daß Philips Worte mehr eine höfliche Phrase als Wahrheit waren, nahm sie der Charme des Mannes gefangen. Sie schätzte Philip auf etwa achtunddreißig. Er trug graue Kniebundhosen und einen hellgrauen Pullover. Seine leicht gelockten Haare und die grünen, sehr lebhaften Augen verliehen ihm etwas von einem großen Lausbub. »Es gibt einiges, was wir miteinander besprechen müßten«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Schade, daß Doktor Holborn
nicht mehr unter uns weilt. Er hätte mir die Aufgabe, Sie in Ihrem Besitz einzuführen, erleichtert. So müssen Sie allein mit mir vorliebnehmen.« »Das macht nichts, Mister Jensen«, erwiderte die junge Frau. »Ich bin überzeugt, Sie werden dieser Aufgabe gerecht.« »Wollen wir es hoffen.« Er wandte sich an Muriel: »Ich habe bereits in meiner Wohnung gefrühstückt. Ich bin auf dem Weg nach Ashburton.« Er drehte sich wieder Sinah zu. »Hätten Sie Lust, so gegen halb elf mit mir auszureiten? Ich könnte Ihnen dann heute schon ein Stückchen Ihres Besitzes zeigen.« »Eine gute Idee, Philip«, warf Muriel zu Sinahs Überraschung ein. »Miß Manning ahnt wahrscheinlich noch gar nicht, in was für einer schönen Gegend wir leben.« »Ich werde gern mit Ihnen ausreiten, Mister Jensen«, sagte Sinah. Eigentlich war zu erwarten gewesen, daß Muriel etwas dagegen haben würde, wenn sie zu vertraut mit dem Verwalter wurde. Das genaue Gegenteil schien der Fall zu sein. Eifersucht schien sie demnach nicht zu kennen. »Dann bis später!« Philip Jensen hob seine Hand zum Gruß, bevor er hinausging. Muriel seufzte leise auf. »Ich werde dann auch wieder an meine Arbeit gehen«, erklärte sie. »Vergessen Sie bitte nicht, daß um zehn das Personal ins Arbeitszimmer kommt. Vielleicht sehen Sie sich schon ein bißchen um. Wenn Sie Fragen haben, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Kurz nach Muriel verließ auch Sinah das Eßzimmer. Sie stieg die Treppe zum Erdgeschoß hinunter. Lange betrachtete sie die holzgetäfelte Wand. Ob es hier eine verborgene Tür gab? Sie drehte sich verstohlen um, dann schlug sie leicht mit dem Knöchel gegen die Holzverkleidung. Es klang nicht, als würde es hinter dem Holz einen Hohlraum geben. Kurz vor zehn Uhr betrat Sinah das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Onkels. Es war mit schweren dunklen Möbeln
eingerichtet. Der dunkelbraune Teppich und die schwarze Ledergarnitur in der Sitzecke trugen nicht gerade zur Gemütlichkeit bei. Sie nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß es auch in diesem Raum heller würde. Über dem Kamin hing das Porträt eines dunkelhaarigen, sehr ernst aussehenden Mannes. In seinen Augen stand Fanatismus. Ohne daß es ihr jemand gesagt hätte, fühlte sie, daß es sich bei diesem Porträt nur um Charles Manning handeln konnte. Sie fragte sich, wer außerhalb der Familie wohl etwas von dem Mord an Emmy geahnt hatte. Angeführt von der Wirtschafterin kam kurz darauf das Personal ins Arbeitszimmer. Ihrem Rang entsprechend reihten sich die Leute in der Nähe der Fenster auf. Mit einer schlechtverhohlener Neugier musterten sie die neue Herrin von Manning Hall. Sinah dagegen starrte nur auf die Hände des Butlers. Sie waren so weiß wie die Hand, die sie in der Nacht das Treppengeländer hinabgleiten gesehen hatte. Sie mußte sich zusammenreißen, als Muriel mit der Vorstellung begann. »Es tut mir leid, Miß Manning, daß ich Sie nicht bereits schon gestern auf Ihrem Besitz begrüßen durfte«, sagte Arthur Summer. »Mister Jensen und ich hatten in London zu tun.« »Mrs. Howard erzählte mir davon«, erwiderte Sinah. »Und Sie sind erst heute morgen zurückgekommen?« »Ja, wir haben in London übernachtet und sind dann sehr früh losgefahren«, antwortete er. »Ich habe sehr gern für Ihren Onkel gearbeitet, Miß Manning. Sein Tod war für uns alle ein Schock.« Was Mrs. Jones, die Köchin, nur bestätigen konnte. Auch sie hieß Sinah auf Manning Hall willkommen. »Man sagt uns Köchinnen immer nach, daß wir uns nicht gern in unsere Arbeit hineinreden lassen. Das entspricht nicht ganz der
Wahrheit. Also wenn Sie einmal Appetit auf ein französisches Gericht haben, so scheuen Sie sich nicht, es mir zu sagen.« »Das werde ich gern tun«, versprach Sinah und wandte sich den drei Hausmädchen zu. Anne und Peggy waren etwas älter als Liz und weniger schüchtern. Sie hatte das Gefühl, daß sie mit allen dreien gut auskommen würde. Und auch der Gärtner James und seine Söhne machten einen ausgesprochen guten Eindruck auf sie. Mit dem Wunsch auf ein gutes Einvernehmen entließ sie wenig später die Leute, damit sie wieder an ihre Arbeit gehen konnten. Dann wurde es auch schon Zeit, sich für den Ausritt mit Philip Jensen umzukleiden. Pünktlich zur verabredeten Zeit erschien sie in der Halle und ging mit dem Verwalter zu den Stallungen, die sich etwas weiter hinten im Park befanden. Owen Barry, ein Sohn des alten James, erwartete sie bereits. Für Philip Jensen hatte er einen braunen Wallach namens Archibald gesattelt. »Wir dachten, daß Sie sich das Pferd, das Sie reiten möchten, selbst aussuchen sollten«, sagte er zu Sinah. »Es gibt da mehrere zur Auswahl.« »Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen, Owen, ich kümmere mich um Miß Manning«, wandte sich Philipp an den Stallmeister. »Wie Sie wünschen, Mister Jensen.« Owen Barry tippte an seine schief auf dem Kopf sitzende Mütze und drehte sich einem jungen Burschen zu, der dabei war, eine der Boxen auszumisten. »Ich würde Ihnen Julia empfehlen, Miß Manning.« Philip Jensen wies auf eine wunderschöne Schimmelstute, die ihren Kopf in den Hof hinausstreckte. »Julia ist noch nicht lange bei uns. Ihr Onkel hat sie erst kurz vor seinem Tod von Lord Longford gekauft.«
Sinah ging zu der Stute hinüber. Vertrauensvoll stieß Julia mit dem Kopf gegen ihre Schulter. »Ich glaube, sie mag mich«, meinte die junge Frau und tätschelte den Hals der Stute. Sie griff in ihre Hosentasche und reichte ihr auf der flachen Hand einige Zuckerstückchen, die sie vom Frühstück mitgenommen hatte. »Dann werde ich Julia für Sie satteln.« Der Verwalter ließ Sinah für einige Minuten allein, um Julias Sattelzeug zu holen. Sinah war von klein auf den Umgang mit Pferden gewohnt. Als sie noch mit ihrer Mutter in Paris gelebt hatte, waren sie am Wochenende oft aufs Land hinausgefahren und hatten Freunde besucht, die einen Reitstall besaßen. Später hatte Sinah Reitstunden erhalten. Es machte ihr Freude, ein Pferd zu versorgen, deshalb hätte sie auch Julia gern allein gesattelt, doch sie wollte Philip nicht vor den Kopf stoßen. So schaute sie ihm nur zu, wie er der Stute erst eine Decke überlegte und dann den Sattel. Er war eben dabei, den Sattelgurt festzuziehen, als Owen Barry quer über den Hof auf sie zukam. »Mrs. Howard möchte Sie sprechen, Mister Jensen«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich bitte, Miß Manning.« Der Verwalter ging auf das kleine Büro zu, das zu den Stallungen gehörte. Sinah wartete fünf Minuten, als er nicht zurückkam, folgte sie ihm. Sie wollte eben das Büro betreten, als er von innen die Tür öffnete und heraustrat. Mit einer hilflosen Bewegung hob er die Schultern. »Einer unserer wichtigsten Kunden hat eben angerufen und seinen Besuch für halb zwölf Uhr angekündigt«, sagte er. »Es tut mir leid, aber wir müssen unseren Ausritt verschieben.« Er sah sie an. »Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie ja allein ein Stückchen hinausreiten. Im Moorgebiet sollten Sie nur darauf achten, nicht vom Weg abzukommen.« Sinah hatte sich auf den Ausritt gefreut, deshalb beschloß sie spontan, allein zu reiten. »Es macht mir nichts aus, Mister
Jensen«, erwiderte sie. »Unseren gemeinsamen Ausritt werden wir eben später nachholen.« Philip half ihr beim Aufsitzen. »Und wie gesagt, nicht vom Weg abkommen«, erinnerte er sie, bevor er ihr die Zügel reichte. »Der Boden sieht manchmal sehr fest aus, aber ehe man sich versieht…« »Ich werde aufpassen«, versprach Sinah. »Dann viel Spaß!« Philip Jensen trat beiseite und ließ Sinah auf Julia an sich vorbeitraben. Kurz blickte er ihr noch nach, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und wandte sich dem Herrenhaus zu.
*
Auf Julias Rücken fühlte sich Sinah Manning frei und unbeschwert. Ihre Kopfschmerzen waren verflogen, die Schatten der Nacht waren bedeutungslos geworden. Der Gedanke an die dunkle Vergangenheit ihrer Familie belastete sie momentan nicht mehr. In tiefen Zügen atmete sie die reine, klare Luft ein. Es war Frühling und alles um sie herum hatte zu blühen begonnen. Sie mochte etwa fünfzehn Minuten geritten sein und wußte nicht mehr, ob sie sich noch auf ihrem Besitz befand oder ihn bereits verlassen hatte, als sie merkte, daß Julia unruhig wurde. »Was hast du denn, meine Schöne?« fragte sie und tätschelte mit einer Hand den Kopf der Schimmelstute. Unbewußt verlagerte sie dabei ihr Gewicht. Julia stieß einen langgezogenen Schrei aus und begann zu galoppieren. Sinah konnte gerade noch mit der zweiten Hand den Zügel fassen. Vergeblich versuchte sie, das Pferd zum Stehen zu bringen. Es stürmte über einen schmalen Weg immer weiter
ins Moorgebiet hinein. Krampfhaft hielt sich die junge Frau im Sattel, jederzeit gewärtig, einfach abgeworfen zu werden. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, daß ihr jemand entgegenritt. Schon im nächsten Moment fühlte sie sich in der Taille ergriffen. Automatisch ließ sie die Zügel los und zog die Füße aus den Bügeln. Einen Augenblick lang schwebte sie in der Luft, dann wurde sie auf den Boden gestellt. »Das war knapp«, sagte eine sympathische Stimme. Sinah war zu erschreckt, um sofort antworten zu können. Sie blickte Julia nach, die noch ein Stückchen weiterjagte und dann abrupt stehenblieb. Verwirrt strich sie sich die rotbraunen Haare aus der Stirn. Der Mann, der sie aus dem Sattel der Stute gezogen hatte, sprang jetzt von seinem eigenen Pferd. »Geht es wieder?« fragte er und berührte sekundenlang ihre Schulter. Sinah drehte sich ihm zu. Ihr Gesicht war schreckensbleich. »Danke, daß Sie mir geholfen haben«, sagte sie mit belegter Stimme. »Es schien alles in Ordnung zu sein. Ich begreife nicht, warum sie plötzlich durchgegangen ist.« »Wir werden uns gleich um sie kümmern«, erwiderte der junge Mann. »Sind Sie okay?« Sinah nickte. »Es geht schon wieder. Es war nur der Schock.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie muß mir der Himmel geschickt haben.« »Sehe ich nicht wie ein Götterbote aus?« scherzte der Fremde. »Einen Götterboten habe ich mir immer mit blonden Locken und blauen Augen vorgestellt«, erwiderte Sinah. »Und da meine Haare und Augen dunkel sind…« Ihr Retter seufzte gekonnt auf. »So ist eben das Leben. Aber Sie gestatten doch, daß ich mich trotzdem vorstelle? Mein Name ist Robin Dillon. Ich lebe zur Zeit im Judge-House.«
»Sinah Manning.« Die junge Frau reichte ihm die Hand. Überrascht stellte sie fest, daß sich sein Gesicht verdüsterte. »Ich bin gestern erst angekommen.« »Dann sind Sie also diese geheimnisvolle Erbin«, meinte Robin Dillon. »Oh, geheimnisvoll ist wohl nichts an mir.« »Dann wollen wir erst einmal nach Ihrem Pferd sehen und feststellen, warum es durchgegangen ist.« Sein eigenes Pferd am Zügel haltend, nahm Robin Dillon ganz einfach Sinahs Arm. »Haben Sie sich schon etwas eingelebt?« fragte er, während sie den Weg entlanggingen. »Ich bin gerade dabei«, antwortete die junge Frau. Obwohl Robin Dillon sie wahrscheinlich vor einem Sturz mit ernsthaften Folgen bewahrt hatte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie ihn mochte. Er hatte etwas Bestimmendes an sich, das sie abstieß. Dabei sah er ausgesprochen gut aus. Er war groß und schlank und hatte ein schmales, markantes Gesicht mit Augen, in denen viel Wärme lag. Ihr Gefühl sagte ihr, daß er zu den Männern gehörte, auf die man sich verlassen konnte. Schweigend legten sie die letzten Meter des Weges zurück. Julia wieherte freudig auf, als Sinah nach ihren Zügeln griff. »Also an Ihnen kann es nicht gelegen haben«, bemerkte Robin. »Würden Sie bitte Willard halten?« Er reichte ihr die Zügel seines braunen Wallachs. »Vielleicht ist sie von einer Wespe gestochen worden, obwohl ich mir das eigentlich nicht denken kann. Dazu wäre es noch zu früh im Jahr«, sagte Sinah. »Wir werden sehen!« Robin löste den Sattelgurt. »Ganz ruhig, meine Gute, ganz ruhig«, sprach er mit sanfter, einschmeichelnder Stimme auf Julia ein. Vorsichtig hob er den Sattel von ihrem Rücken, dann die Satteldecke. »Da haben wir schon den Übeltäter.« Er ließ die Decke neben den Sattel auf
den Boden fallen. Behutsam griff er nach etwas Dunklem und hob es an. »Sehen Sie!« »Was ist das?« fragte Sinah und streckte die Hand aus. »Ich würde sagen, eine Katzenkralle.« Robin Dillon ließ die Kralle in Sinahs Hand fallen. »Sieht tatsächlich so aus.« Die junge Frau hob den Kopf. »Wie kommt eine Katzenkralle unter die Satteldecke? Kein Wunder, daß Julia in Panik geraten ist. Während des Rittes muß sich die Kralle immer tiefer in ihren Rücken gebohrt haben.« »Ich würde vorschlagen, Sie kommen jetzt erst mal mit ins Judge-House, und dort werden wir gemeinsam überlegen, wie die Kralle unter die Satteldecke gekommen sein kann«, sagte Robin grimmig. »Meine Haushälterin freut sich immer, wenn ich Gäste mitbringe.« »Lange werde ich nicht bleiben können. Ich werde zum Lunch auf Manning Hall erwartet«, erwiderte Sinah. »Ich begreife das einfach nicht.« Sie drehte die Kralle zwischen den Fingern. »Bitte geben Sie sie mir.« Robin nahm ihr die Kralle aus der Hand und ließ sie in seiner Hemdtasche verschwinden. »Sie könnten in Manning Hall anrufen und sagen, daß Sie von einem netten, jungen Mann zum Lunch eingeladen worden sind.« Sinah gab sich einen Ruck. »Gut, ich werde anrufen«, entschied sie. »Das ist ein Wort.« Der junge Mann tätschelte Julias Flanke. »Und ich werde dich jetzt wieder satteln, meine Gute.« Behutsam legte er ihr die Decke über. »Du hast nichts mehr zu fürchten, ganz ruhig.« Julia wandte ihm den Kopf zu. »Ah, du riechst wohl, daß ich ein paar Zuckerstückchen in meiner Tasche habe.« Robin zog sie hervor und teilte sie zwischen den Pferden, dann legte er der Stute den Sattel auf, faßte Sinah
unter und hob sie hinein. »Schließlich habe ich Sie ja auch aus dem Sattel geholt, Miß Manning«, meinte er, als er Sinahs überraschten Blick gewahrte. Schwungvoll setzte er sich auf sein eigenes Pferd. Hintereinander ritten sie den Weg zurück. An seinem Ende wandten sie sich nach links. Nach knapp fünf Minuten hatten sie eine Fahrstraße erreicht, die zwischen wildem Buschwerk in nördliche Richtung führte. »Judge-House!« rief Robin Dillon aus und wies auf ein flaches Backsteingebäude, das am Fuß eines mit Heidekraut bewachsenen Hügels lag. Er sprang von seinem Wallach, drehte sich dann Sinah zu und hob sie aus dem Sattel. »Scheint langsam Gewohnheit bei Ihnen zu werden«, bemerkte die junge Frau. »Trotzdem danke.« »Man tut, was man kann«, meinte Robin Dillon. »Warten Sie bitte einen Moment. Ich möchte nur erst dafür sorgen, daß die Pferde in den Stall kommen.« Er führte Willard und Julia hinter das Haus. Sinah sah sich um. Der kleine Vorgarten des Anwesens wirkte überaus gepflegt. Auch das Haus machte einen guten Eindruck. Scheinbar war es vor kurzem frisch gedeckt worden. Selbst die Fensterrahmen schien man erst gestrichen zu haben. Sie hoben sich glänzend weiß von den roten Mauern ab. Sie fühlte sich versucht, die Rahmen zu berühren, so wie sie es als Kind getan hatte, wenn an einer Bank »frisch gestrichen« gestanden hatte. Sie hob die Hand, ließ sie aber wieder sinken. »Warum tun Sie es nicht?« fragte Robin. Sinah errötete. »Sie vergessen, daß ich kein Kind mehr bin.« Robin sah sie lange an. »Nein, das kann man nicht vergessen«, erwiderte er ernst. »Kommen Sie, Miß Manning, sonst denken Sie womöglich noch, meine Einladung hätte sich nur auf den Garten bezogen.«
Drinnen im Haus wurden sie von einer älteren, mütterlich wirkenden Frau empfangen, die Robin als seine Haushälterin Mrs. Winter vorstellte. Sinah fiel auf, daß Mrs. Winter etwas überrascht schien, als er ihren Namen nannte. »Ich habe Miß Manning zum Lunch eingeladen«, fügte er hinzu. »Ich wollte mich gerade um das Essen kümmern«, sagte die Haushälterin und verschwand in der Küche. »Geht der Name des Hauses auf den Mann zurück, der es erbauen ließ?« erkundigte sich Sinah, als sie von Robin in den gemütlich eingerichteten Salon geführt wurde. »Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten, ich bin nämlich erst vor einem Monat nach Dartmoor gezogen«, antwortete Robin nachdenklich und bot ihr Platz an. »Mag sein, daß hier früher tatsächlich einmal ein Ritter mit seiner Familie gelebt hat. – Wie wäre es mit einem Sherry, Miß Manning?« »Danke, gern.« Robin ging an einen Schrank und kehrte mit einer gefüllten Karaffe und zwei Gläsern zurück. »Früher hat das JudgeHouse übrigens noch zum Besitz der Mannings gehört. Es soll vor rund fünfzig Jahren an einen ehemaligen Verwalter verkauft worden sein. Danach muß es noch ziemlich oft die Besitzer gewechselt haben. Ich habe das Haus von einer Witwe gepachtet, die ihren Lebensabend bei ihrer Tochter in Cornwall verbringt.« Sinah drehte ihr Glas in der Hand. »Ist es nicht für Sie recht einsam hier draußen?« »Nein, ganz und gar nicht«, sagte Robin. »Davon abgesehen, daß ich nach dem Stadtleben die Ruhe und Stille von Dartmoor genieße, brauche ich sie auch, um meiner Arbeit nachzugehen. Ich schreibe an einem Buch über diese Landschaft und ihre Bewohner.« »Dann sind Sie also Schriftsteller?«
»Ja, so kann man sagen.« Er lehnte sich zurück, bevor er fragte: »Und Sie, werden Sie sich hier nicht einsam fühlen, Miß Manning?« »Ich glaube nicht«, erwiderte Sinah. »Außerdem bin ich auf Manning Hall von Menschen umgeben. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Personal mein Onkel beschäftigt hat. Und dann ist da auch noch Mrs. Howard, eine Verwandte, von der ich bis gestern nichts wußte.« »Sind Sie freundlich aufgenommen worden?« Sinah zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso fragen Sie?« erkundigte sie sich. »Ja, ich bin freundlich aufgenommen worden. Man war nur etwas überrascht, weil das Telegramm, das ich von London geschickt hatte, nicht angekommen ist. Nun, so etwas kommt vor.« »Ja, es passiert hin und wieder«, antwortete der junge Mann. »Noch einen Sherry, Miß Manning?« Sinah schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Sie blickte zu dem Telefon, das sie auf einem Tischchen in der Nähe der Tür entdeckt hatte. »Darf ich einmal telefonieren? Ich möchte nicht die Köchin verärgern. Bis jetzt weiß sie ja noch nicht, daß ich nicht zum Essen komme. Und da ich heute morgen schon nur Kaffee getrunken habe…« »Telefonieren Sie ruhig. Ich bin gleich wieder da.« Robin Dillon stand auf und verließ das Zimmer. Leise schloß er die Tür hinter sich. Es dauerte fast zehn Minuten, bevor er zurückkam. Sinah hatte die Terrassentür geöffnet und war zu den Rosensträuchern gegangen, die hinter dem Haus standen. Einige der Blüten waren bereits aufgesprungen und verbreiteten einen geradezu betäubenden Duft. »Die Rosen sind Mrs. Winters größte Freude«, sagte Robin hinter ihr. »Wie war es, hat man Ihnen Absolution erteilt?«
»Mrs. Howard war am Telefon. Sie war etwas überrascht, als ich ihr sagte, daß Sie mich zum Lunch eingeladen hätten. Ich erzählte ihr, daß Sie mir quasi das Leben gerettet haben.« »Etwas übertrieben, würde ich sagen«, meinte Robin Dillon. »Ich habe Sie nur vor einem furchtbaren Sturz bewahrt.« »Bei dem ich mir das Genick hätte brechen können.« Sinah berührte eine der Rosenknospen. »Wenn Sie nicht zur rechten Zeit gekommen wären…« Sie ließ die Hand sinken. »Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar.« »Wie hat Mrs. Howard reagiert, als sie ihr erzählten, daß Julia mit Ihnen durchgegangen ist?« fragte der Hausherr und führte die junge Frau in den Salon zurück. »Haben Sie ihr etwas von der Katzenkralle gesagt?« Sinah nickte. »Sie kann sich auch nicht erklären, wie eine Katzenkralle unter die Satteldecke gekommen ist. Sie will mit Mister Jensen darüber sprechen. Sie meinte, da hätte ich wirklich einen Schutzengel gehabt.« »Mister Jensen ist der Verwalter, nicht wahr?« Sinah nickte. »Wir wollten eigentlich gemeinsam ausreiten, aber er wurde abgerufen.« »Und wer hat Julia gesattelt?« »Mister Jensen. Er…« Die junge Frau sah ihn forschend an. »Auf was wollen Sie eigentlich hinaus, Mister Dillon? Mister Jensen hat nicht den geringsten Grund, mir Böses zu wünschen. Außerdem hätte jeder diese Kralle unter die Satteldecke schieben können, da wir beide Julia einige Zeit unbeaufsichtigt ließen. Und wer sagt überhaupt, daß es Absicht gewesen ist? Die Katzenkralle kann schon vorher in der Satteldecke gehangen haben.« »Ich habe mit keinem Wort Anklage erhoben«, verteidigte sich Robin. »Es gibt nur einiges, über das ich nachdenken muß. Sagen Sie, stimmt es eigentlich, daß es auf Manning Hall
keine Katzen gibt? Meine Haushälterin hat so etwas gehört. Es erscheint mir ziemlich seltsam.« Sinah hatte nicht vorgehabt, mit ihm über die Chronik zu sprechen, zumal sie sich immer noch nicht sicher war, ob sie ihn mochte. Seine Gegenwart verwirrte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben glaubte sie, nicht mehr Herr ihrer selbst zu sein. Trotzdem sprach sie jetzt von Emmy Russell, die vor fast vierhundert Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war. »Bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sind Frauen diesem Wahn zum Opfer gefallen«, sagte Robin Dillon. »Die Menschen haben sich leider zu allen Zeiten verblenden lassen. Ich kann verstehen, daß Sie bestürzt darüber sind, daß Manning Hall ausgerechnet über dem Hinrichtungsort von Emmy Russell erbaut worden ist.« »Seit Charles Manning scheint es das Leben meiner Vorfahren beeinflußt zu haben«, meinte Sinah. »Diese Angst vor Katzen ist doch nicht normal. Und um ehrlich zu sein, ich bin bestimmt nicht abergläubisch, aber das Haus hat etwas an sich, das mir Angst macht.« Robin nahm ihre Hand. »Jetzt wissen Sie, daß ganz in Ihrer Nähe ein guter Freund wohnt, Miß Manning. Bitte versprechen Sie mir, sollte es auf Ihrem Besitz irgend etwas geben, wovor Sie Angst haben, sich an mich zu wenden. Ich werde immer für Sie dasein.« Die junge Frau antwortete nicht sofort. Dieses Angebot kam so überraschend, das alles in ihr durcheinander zu purzeln schien. »Ich werde daran denken«, sagte sie schließlich. Sanft entzog sie ihm ihre Hand. »Aber ich glaube, Sie machen sich ganz umsonst Sorgen. Unfälle passieren nun mal hin und wieder. Da kann man nichts machen.« »Ich frage mich nur, wie die Katzenkralle in die Satteldecke gekommen ist, wenn es auf Manning Hall keine Katzen gibt«,
meinte Robin Dillon. »Nun, wir wollen uns nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen. Bis zum Lunch ist noch reichlich Zeit. Hätten Sie Lust, sich das Haus anzusehen?« »Gern«, sagte Sinah und ließ sich von ihm aufhelfen. Gemeinsam traten sie in die Diele, um sich von dort aus der kleinen Bibliothek zuzuwenden. Robin öffnete einen der Wandschränke. Obwohl sie seinen Erklärungen lauschte, war sie mit ihren Gedanken woanders. Unablässig stellte sie sich dieselbe Frage, die sich auch Robin gestellt hatte. Wie war die Katzenkralle in die Satteldecke gekommen?
*
In einem pastellfarbenen Wollkleid kam Sinah Manning kurz vor fünf Uhr in den Salon hinunter. Nach ihrem Besuch bei Robin Dillon hatte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen gehabt, um etwas auszuruhen. Die Chronik lag noch immer auf ihrem Nachttisch. Sie hatte dem Verlangen widerstanden, weiter in ihr zu lesen und hatte sie auf den Schreibtisch gelegt. Vorläufig reichte es ihr, was sie von der düsteren Vergangenheit ihrer Familie erfahren hatte. Jetzt konnte sie gut verstehen, daß ihre Mutter, die ausgesprochen sensibel gewesen war, diesem Ort den Rücken gekehrt hatte. »Wie geht es Ihnen, Sinah?« fragte Muriel Howard und betrat mit einem riesigen Schlüsselbund den Salon. »Sie hatten mir einen schönen Schrecken eingejagt, als Sie mir von Ihrem Erlebnis erzählten. Nicht nur, daß Sie sich das Genick hätten brechen können, Julia hätte auch vom Weg abkommen und ins Moor geraten können. Erst Anfang des Jahres ist eine junge Journalistin im Moor ertrunken.«
Sinah schauderte zusammen. »Das ist ja schrecklich«, sagte sie. »Haben Sie die junge Frau gekannt?« Muriel nickte düster. »Sie war Gast bei uns auf Manning Hall. Wir hatten sie noch vor einem Ausflug in diesen Teil des Moorgebiets gewarnt. Aber sie wollte sich nicht davon abhalten lassen. Begleitung hatte sie auch abgelehnt. Es gibt so viele schöne Wanderwege durch die verschiedenen Moorgebiete, aber nein, sie wollte etwas Unbekanntes erkunden.« »Wie kann man nur so leichtsinnig sein«, meinte Sinah. »Sie können ganz sicher sein, wenn ich Ausflüge mache, werde ich mich an die vorgeschriebenen Wege halten.« »Da bin ich sehr froh, Sinah!« Muriel reichte ihr den Schlüsselbund. »Ich nehme an, Sie werden bald auf Erkundungstour gehen. Diese Schlüssel werden Ihnen jede Tür öffnen.« »Danke«, sagte Sinah. »Vielleicht werde ich mir sogar schon nach dem Tee etwas ansehen.« »Ich würde Sie gern begleiten, doch ich habe mir schon eine Arbeit für die Zeit nach dem Tee vorgenommen«, entschuldigte sich Muriel. Mit einem raschen Blick überprüfte sie den Teetisch. »Das macht nichts. Ich werde mich schon allein zurechtfinden können.« Sinah war froh, daß Muriel nicht mitkommen konnte, sie hatte keine Lust, sich während der Besichtigung über dies und jenes zu unterhalten. Zudem war sie nach wie vor überzeugt, daß es in der Eingangshalle eine Geheimtür geben mußte. Sie hoffte, sie zu finden. Auch Philip Jensen fand sich zum Tee ein. Er sprach davon, wie bestürzt er gewesen war, als ihm Muriel von der Katzenkralle erzählt hatte. »Ich wünschte, ich hätte mich nicht davon abhalten lassen, Sie auf Ihrem Ausflug zu begleiten«, sagte er, als sie am Tisch saßen. »Nicht auszudenken, was
passiert wäre, wenn sich Mister Dillon nicht zufällig auf dem Heimweg befunden hätte.« »Denken wir nicht mehr daran«, schlug Sinah vor. Sie hielt Muriel Howards und Philip Jensens Anteilnahme für echt. Es war ihr unerklärlich, wie Robin Dillon auf den absurden Gedanken kommen konnte, daß die beiden etwas mit der Katzenkralle zu tun hatten. »Was halten Sie von Mister Dillon?« erkundigte sich Muriel und legte Sinah ein Stückchen Türkischen Teekuchen auf den Teller. »Ich finde ihn reichlich verschroben.« »Er lebt seit etwa vier Wochen im Judge-House«, fügte der Verwalter hinzu. »Ab und zu bin ich ihm bereits begegnet, aber mehr als ein paar höfliche Worte haben wir nicht gewechselt. Nein, halt, einmal hat er mich gefragt, ob ich etwas dagegen einzuwenden hätte, daß er auch auf dem Gebiet von Manning Hall Forschungen für sein Buch betreibt. Was blieb mir anderes übrig, als es ihm zu erlauben, obwohl ich nichts davon halte, wenn sich Fremde auf dem Land herumtreiben.« »Mister Dillon treibt sich ja nicht herum«, widersprach Sinah und fragte sich im selben Augenblick, warum sie glaubte, Robin Dillon in Schutz nehmen zu müssen. »Ich halte ihn für einen netten jungen Mann«, sprach sie weiter. »Wir haben uns ganz ausgezeichnet unterhalten. Übrigens war er auch schon in der Bretagne.« »Dann hatten Sie ja auch ein gemeinsames Gesprächsthema«, meinte Muriel mit einem geradezu nachsichtigen Lächeln. Sie wechselte mit Philip Jensen einen kurzen Blick. »Wenn Sie sich etwas auf Manning Hall eingelebt haben, sollten wir auch dafür sorgen, daß Sie unsere Nachbarn kennenlernen. Oder haben Sie gar nicht vor, in England zu bleiben?« »Ich bin mir noch nicht klar darüber, was ich tun werde«, antwortete Sinah. »Manning Hall ist so ein riesiger Besitz, fast
zu riesig für mich. Ich habe mir schon überlegt, ob es sich nicht zu einem Internat eignen würde. Sie wissen ja, daß ich Erzieherin bin. Vielleicht könnte man es auch in ein Hotel umwandeln. Platz würde es genug geben. Ich…« Sie bemerkte das Entsetzen in den Gesichtern von Muriel und Philip Jensen. »Das heißt noch lange nicht, daß Sie Ihre Stellen verlieren werden«, sprach sie rasch weiter. »Verwaltet werden müßte Manning Hall nach wie vor, Mister Jensen. Außer dem Herrenhaus gibt es ja auch noch den Landbesitz. Und eine Wirtschafterin würde auch immer gebraucht.« »Sie haben es nicht nötig, Manning Hall kommerziell zu nutzen, Miß Manning«, sagte Philip Jensen sehr bedächtig. »Selbst nach Abzug der beträchtlichen Erbschaftssteuer trägt sich das Haus durch den Grundbesitz. Ihre Einnahmen aus der Land- und Forstwirtschaft sind so hoch, daß Sie damit nicht nur das Haus erhalten können, sondern auch noch einen Gewinn erwirtschaften. Wir sollten uns wirklich bei nächster Gelegenheit zusammensetzen, damit wir das alles besprechen können.« »Auf jeden Fall sollte man so etwas nicht überstürzen«, warf Muriel ein. »Das werde ich auf keinen Fall«, versprach Sinah. »Wo ist eigentlich Onkel Edward begraben? Ich würde gern sein Grab besuchen.« »Er liegt auf dem Familienfriedhof der Mannings«, antwortete Muriel. »Es ist ungefähr zwei Kilometer von hier in westlicher Richtung. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie morgen früh zum Friedhof.« »Doch, das ist mir recht«, meinte Sinah. »Und das Grab meines Vaters möchte ich auch besuchen. Sicher wurde er ebenfalls auf dem Familienfriedhof beigesetzt.« »Ja, das stimmt. Mrs. Jones weiß wahrscheinlich, wo genau es sich befindet. Sie hat im Auftrag von Ihrem Onkel den
Friedhof betreut. Der alte James ist nicht dazu zu bewegen, den Friedhof zu betreten.« Sie verzog geringschätzig die Lippen. »Er glaubt allen Ernstes, daß es da spukt.« Sinah trank ihren Tee aus und ging in ihr Zimmer hinauf, um sich eine Jacke zu holen. Sie hatte festgestellt, daß es unterhalb der Treppe eine Tür gab. Vielleicht fand sie in den dahinterliegenden Räumen einen Hinweis auf eine etwaige Geheimtür. Sie wußte genau, was sie in der Nacht gesehen hatte. Niemand konnte ihr weismachen, sie hätte nur geträumt. Den riesigen Schlüsselbund in einer Hand, eine Taschenlampe in der anderen, wanderte sie fast eine halbe Stunde durch ehemalige Personalräume, Abstellkammern und einen dunklen Raum, in dem wahrscheinlich einmal Kartoffeln gelagert hatten. Früher schien es auf Manning Hall ein ganzes Heer von Dienstboten gegeben zu haben. Sicher waren die Leute, die hier unten gewohnt hatten, nicht zu beneiden gewesen. Es war feucht und eiskalt in diesem Teil des Hauses. Nur in einem der größeren Zimmer konnte sie einen uralten Kohleofen entdecken. Einen Hinweis auf eine verborgene Tür oder gar einen Geheimgang gab es nicht. Sinah wandte sich nach rechts und gelangte in eine Art Vorraum, von dem eine schmale Treppe, die wahrscheinlich nur vom Personal benutzt worden war, in die oberen Stockwerke führte. Links von ihr versperrte eine abgeschlossene Eichentür den Weg. Die junge Frau griff nach dem Schlüsselbund und probierte solange die Schlüssel aus, bis sie den richtigen gefunden hatte. Er ließ sich viel leichter als erwartet im Schloß herumdrehen. Hinter der Tür lag eine steile Treppe. Sinah tastete vergeblich rechts und links von ihr nach einem Lichtschalter. Froh, daß sie an eine Taschenlampe gedacht hatte, schaltete die junge Frau sie ein. Der Lichtschein huschte über die schmalen Stufen und mit Spinnweben bedeckten Wände. Sie zuckte erschrocken
zusammen, als sie von unten herauf etwas rascheln hörte. Es wird eine Maus sein, dachte sie. Nun, sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich vor Mäusen und dergleichen fürchteten. Wenn es da unten weiter nichts als Mäuse gab, konnte sie ruhig den Abstieg wagen. Sehr langsam stieg Sinah die Stufen hinunter. Nach etwa zwei Metern gab es eine Biegung. Eine weitere Treppe folgte. Es war ihr unerklärlich, daß man unter Manning Hall ein derartiges Labyrinth angelegt hatte. Die Treppe mündete in einem dunklen Gang. Trotz ihrer Jacke fror Sinah. Die Kälte, die hier unten herrschte, war geradezu greifbar. Der Lichtkegel der Taschenlampe schwebte vor ihr her und erfaßte eine schwarze Tür. Langsam ließ ihn Sinah aufwärts wandern. Entsetzt starrte sie auf die großen, bernsteinfarbenen Augen, die plötzlich aufleuchteten. Unwillkürlich trat sie einige Schritte zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals, dennoch griff sie nach dem Schlüsselbund, um den Schlüssel für diese Tür herauszusuchen. Nacheinander probierte sie alle aus. Keiner von ihnen paßte. Obwohl das Licht der Taschenlampe nicht mehr auf die aufgemalten Augen gerichtet war, kam es der jungen Frau vor, als würde sie von ihnen angestarrt. Mit zitternden Fingern versuchte sie noch einmal, die Tür aufzuschließen. Sie spürte förmlich, wie ein unsagbares Grauen in ihr hochkroch. Und dann hielt sie es nicht länger aus. Sie fuhr herum und rannte den Gang zurück. Stolpernd bewältigte sie die beiden Treppen, hastete durch die offene Eichentür und schlug sie hinter sich zu. Minutenlang lehnte sich die junge Frau wie benommen gegen das dicke Holz. Schweratmend stieß sie sich schließlich ab, griff nach dem betreffenden Schlüssel und schloß die Tür zu. Erst jetzt fühlte sie sich wieder sicher.
Die Lust auf weitere Besichtigungen war ihr für diesen Tag vergangen. Sie kehrte in die Halle zurück und wollte eben die Treppe zum ersten Stock hinaufsteigen, als sie von Muriel angesprochen wurde, die aus den Wirtschaftsräumen gekommen war. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« Mrs. Howard machte einige Schritte auf Sinah zu. »Sie sind so bleich.« »Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, antwortete Sinah. »Ich war in den ehemaligen Personalräumen. Es ist ja grausig da unten. Ich begreife nicht, wie man die Leute so hausen lassen konnte.« »Ich glaube, daß es dem Personal auf Manning Hall nicht schlechter gegangen ist als in anderen Herrenhäusern oder Schlössern.« Muriel lehnte sich an das Treppengeländer. »Wollen wir froh sein, daß die Zeiten sich geändert haben. Weder Mrs. Jones noch Arthur haben Grund, sich über ihre Räume zu beklagen. Und was unser übriges Personal betrifft, so ist es in Manning Village sehr gut untergebracht. Ihr Onkel hat stets gut für seine Leute gesorgt.« »Ich hatte auch nicht vor, ihn zu kritisieren.« Sinah fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Was ist das eigentlich für eine schwarze Tür im Kellergeschoß? Auf ihr sind zwei bernsteinfarbene Augen aufgemalt. Ich habe keinen Schlüssel zu ihr gefunden.« Sie bemühte sich, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen, was ihr aber nicht ganz gelang. »Ich hätte an diese Tür denken müssen, tut mir leid«, sagte die Wirtschafterin. »Hoffentlich haben Sie sich nicht erschreckt.« Besorgt blickte sie die junge Frau an. »Der Raum hinter der Tür ist seit mindestens hundert Jahren verschlossen. Einen Schlüssel zu ihm gibt es nicht mehr.«
»Und was ist hinter der Tür?« fragte Sinah. »Warum ist sie pechschwarz und warum hat man die Katzenaugen aufgemalt? Im Schein der Taschenlampe schienen sie regelrecht zu leben.« »Hinter der Tür liegt die Stelle, auf der Emmy Russell verbrannt worden ist«, erwiderte Muriel. »Die Katzenaugen sollen daran erinnern, was für ein schrecklicher Ort sich dort befindet.« Sinah dachte an das Grauen, das sie vor der Tür gespürt hatte. Fast vierhundert Jahre waren seit dem Feuertod von Emmy Russell vergangen. Konnte es wirklich sein, daß dieses furchtbare Geschehen seine Spuren am Ort des Scheiterhaufens hinterlassen hatte? Alles in ihr sträubte sich, so etwas zu glauben, und doch war es ihr vorgekommen, als würden unsichtbare Arme nach ihr greifen. »Es wäre besser gewesen, die Tür zuzumauern«, meinte sie, und gab damit wider Willen etwas von der ausgestandenen Angst preis. »Es heißt, daß sich Mary Manning oft in diesen Raum zurückgezogen hat. Später soll sie auch ihre Tochter Emmy mitgenommen haben. Niemand weiß, was Mutter und Tochter dort getrieben haben.« Muriel hob die Schultern. »Aber vielleicht ist das auch nur so eine Geschichte, die im Laufe der Zeit entstanden ist. Ich glaube weder, daß Emmy Russell eine Hexe war, noch daß Mary Manning in ihre Fußstapfen treten wollte.« »An so etwas kann ich auch nicht glauben«, sagte Sinah. »Dann werde ich jetzt auf mein Zimmer gehen und an meine Tante in der Bretagne schreiben. Seit ich in England bin, habe ich erst einmal mit ihr telefoniert. Nicht, daß sie anfängt, sich Sorgen zu machen.« »Dann würde ich ihr auch nichts von Emmy Russell und dem Durchgehen von Julia berichten«, meinte Muriel.
»Ich werde mich hüten«, erwiderte Sinah. »Tante Monique würde mich daraufhin Tag und Nacht mit besorgten Telefonaten bombardieren. Bis zum Dinner.« Sie winkte der Wirtschafterin zu und stieg die Treppe hinauf.
*
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen beschloß Sinah, ein Stückchen spazierenzugehen. Wieder hatte sie rasende Kopfschmerzen. Dabei hatte sie in der vergangenen Nacht sehr gut geschlafen und war nicht einmal von angsterregenden Träumen heimgesucht worden. Wie benommen war sie am Morgen aufgewacht. Die Schmerzen hatten erst begonnen, als sie nach dem Ankleiden hinuntergegangen war. Das ist sicher die Umstellung, dachte die junge Frau. Sie hoffte, daß die Schmerztablette, die sie genommen hatte, bald eine Wirkung zeigte. Sie hatte sich mit Philip Jensen für elf Uhr verabredet. Er wollte mit ihr über ihren Besitz sprechen. Dazu mußte sie einen klaren Kopf haben. Sie folgte einem schmalen Weg, der zwischen sorgsam beschnittenen Büschen leicht bergan führte. Als sie den Hügelkamm erreicht hatte, drehte sie sich um. Auch von dieser Seite sah Manning Hall einer Festung ähnlicher als einem Herrenhaus. Wenn sie hier wohnen blieb, dann wollte sie versuchen, dem Haus ein anderes Aussehen zu geben. Es würde zwar teuer sein, sämtliche Fenster zu vergrößern, Balkone und Terrassen anzulegen, doch ihr Onkel hatte ihr genug Geld vererbt, um aus dem düsteren Gebäude einen Ort zu machen, zu dem man gern heimkehrte. Natürlich wollte sie nichts überstürzen, zumal sie sich noch immer im Zweifel war, ob sie Manning Hall nicht doch kommerziell nutzen sollte.
Auch wenn Muriel Howard und Philip Jensen dagegen waren, das Haus gehörte ihr und sie hatte nicht vor, sich von ihnen dreinreden zu lassen. Sie ging noch ein Stückchen weiter und konnte jetzt über niedriges Buschwerk hinweg ins Moor- und Heideland sehen. In der Ferne entdeckte sie einen Schäfer, der zusammen mit drei schwarzen Hunden eine Schafherde beaufsichtigte. Wahrscheinlich gehörten der Mann, die Hunde und die Schafe ebenfalls zu Manning Hall. Sie war begierig darauf, zu erfahren, was ihr Besitz alles umfaßte. Den Besuch des Familienfriedhofs hatten sie auf den Nachmittag verschoben, weil der Verwalter sie begleiten wollte. Auf dem Rückweg wollte er sie mit ihren Leuten in Manning Village bekanntmachen. Der Weg senkte sich sanft ins Tal. Sinah beschloß, ihm noch ein Stückchen zu folgen und dann von der anderen Seite aus nach Manning Hall zurückzukehren. Vor ihr tauchte eine hohe, völlig mit Efeu überwucherte Backsteinmauer auf. Sinah blickte an ihr hinauf und entdeckte, daß sie mit spitzen Eisenstückchen bewehrt war. Neugierig ging sie an der Mauer entlang. Nach einigen Minuten gelangte sie an ein breites Portal. Rechts von ihm stand ein völlig verfallenes Häuschen. Sieht nach einem Pförtnerhaus aus, dachte die junge Frau. Sie wunderte sich darüber, denn der Haupteingang lag schließlich auf der anderen Seite des Parks. Vorsichtig trat Sinah unter das vorspringende Dach des Hauses und blickte durch die zerbrochene Fensterscheibe nach drinnen. Außer Staub und ein paar ziemlich verrotteten Möbelstücken war nichts zu erkennen. »Miau!« Sinah hob überrascht den Kopf. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Also gab es doch Katzen auf Manning Hall,
zumindest eine, denn das Miau hatte sie sich nicht eingebildet, davon war sie überzeugt. »Musch… Musch… Musch…« lockte sie, aber keine Antwort folgte. »Na, ich werde dich schon finden!« Sie ging um das Haus hemm und blieb wie erstarrt stehen, als ihr Blick auf einen winzigen Käfig fiel, der unterhalb des Daches von einem Haken herabhing. Eine völlig verwahrloste Katze streckte ihr mit einem nochmaligen »Miau« die Pfote entgegen. »Wie kann man nur so gemein sein«, flüsterte die junge Frau. Tränen der Wut traten in ihre Augen. Sie fragte sich, wie lange die Katze schon ohne Futter und Wasser in diesem Käfig eingesperrt sein mochte. »Ich helfe dir, Kleines, warte!« Sie blickte sich nach etwas um, auf das sie sich stellen konnte, um den Käfig vom Haken zu nehmen. Sie entdeckte eine Kiste, stellte sie umgekehrt unter den Käfig und kletterte hinauf. »Gleich ist es geschafft«, sagte sie tröstend, als die Katze erneut schrie. Nachdem sie den Käfig heruntergenommen hatte, überlegte sie, wie sie die Katze nach Manning Hall bringen konnte. So gern sie das Tierchen auch aus seinem Gefängnis befreit hätte, sie mußte es im Käfig transportieren. Wütend über die Grausamkeit des unbekannten Täters, machte sie sich mit ihrem Fund auf den Heimweg. »Was bringen Sie denn da, Miß Manning?« fragte Arthur Summer, als Sinah mit dem Käfig an der Hand die Eingangshalle betrat. »Eine Katze. Ich habe sie in diesem Käfig an dem Häuschen hinten im Park neben der Pforte gefunden«, antwortete Sinah. »Ich kann nicht begreifen, wie…« Erst jetzt fiel ihr auf, wie erstarrt der Butler schien. »Was haben Sie denn, Arthur? Sagen Sie bitte Mrs. Jones, daß ich etwas Milch und Fleisch für das Tierchen brauche.«
»Heißt das, Sie wollen die Katze behalten?« Der Butler schien entsetzt. »Genau das heißt es«, erklärte Sinah. »Nachdem sie gefressen hat, werde ich einen der Wagen nehmen und nach Ashburton fahren. Es gibt dort sicher einen Tierarzt.« »Wissen Sie nicht, daß es auf Manning Hall keine Katzen geben darf?« fragte der Butler. Er wich zwei Schritte zurück. »Katzen…« »Sie werden doch hoffentlich nicht diesen Unsinn glauben, Arthur«, sagte Sinah aufgebracht. »Ich will kein Wort davon hören, daß diese Katze womöglich eine Inkarnation von Emmy Russell ist.« Sie sprang zur Treppe. »Eines der Mädchen soll Milch und Fleisch ins Arbeitszimmer bringen.« »Wie Sie wünschen, Miß Manning, wie Sie wünschen«, erklärte der Butler und wandte sich den Wirtschaftsräumen zu. »So etwas!« schimpfte die junge Frau erregt vor sich hin. »Ich glaube, es gibt hier einiges, mit dem ich aufräumen muß.« Sie hob den Käfig und blickte hinein. »Wenn es dir auf Manning Hall gefällt, Kimba, dann darfst du bleiben, das verspreche ich dir.« Mit einem Mal wurde es ihr bewußt, daß sie der Katze bereits einen Namen gegeben hatte. »Ich hoffe, er gefällt dir«, meinte sie. »Frag mich aber bitte nicht, wie ich ausgerechnet auf diesen Namen gekommen bin.« Im Arbeitszimmer angekommen, stellte sie den Käfig auf einen Stuhl und öffnete ihn. Obwohl die Katze ziemlich abgemagert war, hatte sie Mühe, sich durch die enge Öffnung zu winden. Endlich hatte sie es geschafft. Sie sprang auf den Boden, streckte sich mit allen vier Pfoten, rannte durch das Zimmer und kam dann zu Sinah zurück, um ihren Kopf an ihr zu reiben.
»Du scheinst mich zu mögen, Kimba.« Sinah strich sanft über das schmutzige Fell des Tieres. Schnurrend ließ sich Kimba die Liebkosung gefallen. Es war keines der Hausmädchen, das wenig später das Arbeitszimmer betrat, sondern Muriel Howard. Sie stellte zwei Futterschalen nahe einem der Fenster auf den Boden. Kimba näherte sich ihnen vorsichtig, streckte den Kopf vor, kostete mit der Zunge und machte sich dann erst über die Milch und später über das Fleisch her. Sinah bedankte sich bei Muriel. »Na, was sagen Sie zu unserem Familienzuwachs?« fragte sie. »Natürlich muß sie gebadet werden, außerdem lasse ich sie nachher gleich von einem Tierarzt untersuchen. Meine Besprechung mit Mister Jensen muß eben warten.« »Philip wird darüber nicht gerade erfreut sein«, bemerkte die Wirtschafterin. »Außerdem sind Sie dabei, ein Tabu zu brechen. Sie wissen doch, daß es auf Manning Hall noch nie Katzen gegeben hat.« »Dann wird Kimba die erste sein«, erwiderte Sinah nicht eben freundlich. »Man wird sich daran gewöhnen müssen. Ich möchte wissen, wer die Katze in den Käfig gesteckt und an das Dach des alten Pförtnerhäuschens gehängt hat. Wer immer es gewesen ist, er fliegt, sobald ich es herausgefunden habe.« »Ich kann Ihren Zorn durchaus verstehen, Sinah«, sagte Muriel, »doch sie sollten auch versuchen, sich in unsere Leute hineinzuversetzen. Katzen sind nun einmal auf Manning Hall nicht gern gesehen. Ich nehme an, daß es einer der Landarbeiter gewesen ist. Sie wird hier herumgestreunt haben und da hat er sie gepackt und in den Vogelkäfig gesteckt.« »Aberglauben ist keine Entschuldigung für Tierquälerei!« Sinah beugte sich zu Kimba hinunter und hob sie hoch. Beide Schalen hatte sie so blank geleckt, daß weder von der Milch
noch vom Fleisch etwas übriggeblieben war. »Kimba gehört ab heute zu Manning Hall.« »Also ich bin bestimmt nicht abergläubisch, aber mir ist es auch nicht wohl bei dem Gedanken, daß eine Katze durch das Haus streicht.« Muriel streckte ihre Hand aus, um Kimba zu berühren. »Au!« schrie sie auf, als die Katze mit ausgestreckten Krallen nach ihr schlug. »Kimba, so machst du dir nicht gerade Freunde«, meinte Sinah. Überrascht sah sie, daß sich die Rückenhaare der Katze aufgestellt hatten, die Ohren fest zurückgelegt waren und ihre Augen nur noch schmale Schlitze bildeten. »Eines dürfte schon mal feststehen, sie mag mich nicht.« Muriel Howard rieb ihre Hand. »Sie könnten sie in Pflege geben, bis man einen neuen Besitzer gefunden hat«, schlug sie vor. »Scheinbar wollen Sie nicht verstehen, Muriel«, erwiderte Sinah aufgebracht. »Kimba bleibt auf Manning Hall. Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob das Personal etwas gegen Katzen hat, oder ob die Leute vom Gut etwas gegen sie einzuwenden haben. Jedem, dem Kimbas Anwesenheit nicht paßt, steht es frei zu gehen.« »Nun, ich habe nur versucht, Sie vor Schwierigkeiten zu bewahren. Immerhin lebe ich seit etlichen Jahren auf Manning Hall und kenne den Aberglauben der Leute.« Muriel schüttelte den Kopf. »Warten wir es ab, was passiert.« »Dieser Meinung bin ich auch«, sagte Philip Jensen und schloß die Tür hinter sich. »Verzeihen Sie mein Eindringen, Miß Manning, aber ich habe geklopft, es hat mich nur niemand gehört.« Er lachte. »Unser guter Arthur scheint außer sich zu sein. Ich wußte gar nicht, daß er abergläubisch ist.« Vorsichtig berührte er Kimbas Kopf. Diesmal wehrte sie sich nicht. »Sieht aus, als würde sie mich mögen.«
»Im Gegensatz zu mir!« Muriel wies den Kratzer vor, den die Katze ihr beigebracht hatte. »Arthur sagte mir, daß Sie zum Tierarzt fahren wollen«, wandte sich Philip an Sinah. »Wenn Sie gestatten, bringe ich Sie hin. Das ist einfacher, als wenn Sie selbst fahren würden. Einmal weiß ich, wo der Tierarzt zu finden ist, zum zweiten ist es für Sie leichter, als den Wagen zu steuern und gleichzeitig auf die Katze aufzupassen.« Die junge Frau war ihm dankbar für sein Angebot. »Am besten, wir fahren sofort. Und wenn Sie dann heute nachmittag, nach dem Besuch des Friedhofs, noch Zeit haben, können wir uns ja den Büchern widmen.« »Sie sind der Chef, Miß Manning«, erklärte der Verwalter galant. »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.« »Also, wenn die Katze, ich meine Kimba, jetzt bei uns bleiben soll, werde ich dafür sorgen, daß sie auch ein Körbchen bekommt«, bot Muriel an. »Wo soll es stehen, Sinah? In Ihrem Zimmer?« »Ja.« Sinah nickte und drückte Kimba etwas fester an sich. »Danke, Muriel.« »Wie Mister Jensen eben so schön sagte, Sie sind der Chef«, erwiderte die Wirtschafterin und ging hinaus. »Hoffentlich nimmt es Ihnen Muriel nicht übel, daß Sie auf meiner Seite sind, Mister Jensen«, sagte Sinah besorgt. Nichts lag ihr ferner, als Zwietracht zwischen dem Verwalter und ihrer Verwandten zu säen. Philip schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht, Miß Manning, machen Sie sich darum keine Sorgen. Im Grunde ist Muriel genauso froh wie wir, daß Sie der Katze geholfen haben. Sie macht sich nur Gedanken darüber, was unsere Leute zu Kimba sagen werden.« Wieder strich er über Kimbas Fell. Schnurrend ließ sie es zu. »Außerdem werde ich nachforschen, wer für diese Tat verantwortlich ist. Wenn ich eines nicht
ausstehen kann, dann ist es Tierquälerei, gleich, aus welchem Grund.« »Ich bin froh, daß wir uns darin einig sind.« Sinah reichte ihm die Katze. »Ich geh mich nur rasch umziehen und hole meine Handtasche.« »Lassen Sie sich ruhig Zeit!« rief ihr Philip nach. Er setzte sich mit Kimba in einen Sessel. Leise sprach er auf sie ein.
*
Gebadet und satt machte Kimba gar nicht mehr den Eindruck eines verwahrlosten Kätzchens. Sinah Manning hatte fast eine Stunde damit verbracht, die Katze nach dem Baden und Trocknen zu bürsten. Jetzt glänzte ihr Fell in einem satten Rotbraun. Zufrieden lag sie in dem weichgepolsterten Körbchen, das Muriel in Sinahs Zimmer gestellt hatte, und leckte sich. Die junge Frau hatte nach dem Zubettgehen noch etwas in einem Roman gelesen, den sie sich aus der Bibliothek geholt hatte. Gähnend schlug sie das Buch zu. »Zeit, das Licht zu löschen, Kimba, was meinst du?« Sie blickte zu der Katze hinüber. »Ich bin sehr froh, daß ich dich gefunden habe. Auch wenn es lächerlich klingen mag, es gibt so vieles auf Manning Hall, was mir Angst einflößt. In deiner Gesellschaft läßt es sich leichter hier leben.« Kimba spitzte die Öhrchen, streckte sich und rollte sich dann zusammen. »Gute Nacht, Kimba.« Sinah löschte das Licht und drehte sich auf die andere Seite. Wenig später war sie eingeschlafen. In dieser Nacht träumte die junge Frau nicht wie in der vergangenen von einer schwarzen Tür mit aufgemalten
bernsteinfarbenen Augen. Sie träumte auch nicht von einer weißen Hand, die langsam das Geländer hinabglitt. Sie sah sich auf einer mit Blumen übersäten Wiese. Ein Mann kam auf sie zu. Noch konnte sie seine Züge nicht erkennen. Er rief ihren Namen. Es klang wie eine Melodie. Und dann veränderte sich von einem Augenblick zum anderen alles. Die mit Blumen bedeckte Wiese verschwand, dafür sah sie sich plötzlich einer riesigen Katze gegenüber, aus deren geöffnetem Maul Geifer tropfte. Pfoten mit mächtigen Krallen kamen auf sie zu. Sie hörte ein gefährliches Fauchen. Sinah warf sich herum. Sie lag jetzt nur noch im Halbschlaf. Noch immer hörte sie dieses entsetzliche Fauchen, und mit einem Mal wurde ihr bewußt, daß sie nicht träumte. Sie zwang sich die Augen aufzureißen und schrie vor Entsetzen auf. Zwei große, bernsteinfarbene Katzenaugen schwebten durch das dunkle Zimmer auf sie zu. Ihre Hand tastete zum Lichtschalter, im selben Moment fühlte sie einen dumpfen Schlag gegen ihre Schulter. Noch bevor sie ausweichen konnte, spürte sie scharfe Krallen, die ihr Nachthemd zerfetzten. Geistesgegenwärtig warf sich Sinah zur anderen Seite und rollte sich aus dem Bett. Hastig rappelte sie sich vom Boden auf und lief durch die Dunkelheit zur Tür. Aber die Augen waren schneller als sie. Sie schwebten über sie hinweg und blieben vor der Tür in der Luft hängen. Bevor die junge Frau einen weiteren Fluchtversuch unternehmen konnte, wurde sie mit einem mächtigen Stoß beiseite geworfen. Benommen blieb die junge Frau auf dem Boden liegen. Erst nach einer Weile schaffte sie es, sich aufzurichten. Das Zimmer war nicht mehr von Fauchen erfüllt. Sie öffnete die Augen. Nichts als eine undurchdringliche Dunkelheit umgab sie.
Mit zittrigen Knien kam Sinah auf die Beine. Sie wankte zum Lichtschalter. Erleichtert atmete sie auf, als das Deckenlicht funktionierte. »So was«, sagte sie leise vor sich hin. Vielleicht hatte sie doch nur geträumt, aber dann schien es ein sehr lebhafter Alptraum gewesen zu sein. Sie blickte an sich hinunter. Erst jetzt sah sie, daß ihr Nachthemd tatsächlich auf der rechten Seite von etwas Scharfem zerfetzt worden war. Sie schob die Fetzen zurück und betrachtete ihre Haut. Deutlich konnte sie auf Schulter und Arm feine rote Linien erkennen. Kimba! Sinah schaute zum Katzenkorb. Er war leer. Jetzt merkte sie auch, daß die Tür zum Gang offenstand. Es sah aus, als hätte die Katze das Weite gesucht. Seltsam, daß im Gang kein Licht brannte. Sinah öffnete die Tür ganz, um die beiden Wandlampen einzuschalten. Mit einem heftigen Ruck zog sie danach die Tür wieder zu und verriegelte sie. Sie war sich sicher, daß am Abend das Licht im Gang gebrannt hatte und auch, daß sie die Tür verriegelt gehabt hatte. Sie ging an ihren Kleiderschrank und nahm ein neues Nachthemd heraus. Noch während sie hineinschlüpfte, hörte sie Kimba vor der Tür miauen. Zuerst wollte sie das Tier nicht hereinlassen, dann sagte sie sich, daß Kimba kaum für ihr Erlebnis verantwortlich zu machen war. Eine Hauskatze konnte sich nicht in eine wilde Bestie verwandeln. Außerdem lagen die Kratzer zu weit auseinander, um von Kimbas Krallen zu stammen. Sie ging zur Tür, öffnete sie und ließ die Katze herein. Mit hocherhobenem Schwanz marschierte Kimba zu ihrem Körbchen, rollte sich zusammen und schlief fast sofort ein. »Einen schönen Schutz habe ich mir mit dir zugelegt«, meinte Sinah, erbost über soviel Gleichgültigkeit. »Paß auf, daß ich dich nicht gegen einen Hund eintausche.« Sie riegelte
die Tür sehr sorgfältig wieder zu, bevor sie zu Bett ging. Ohne das Deckenlicht zu löschen, schloß sie die Augen und versuchte, noch etwas Schlaf zu finden.
*
Mrs. Winter sah gerade aus dem Küchenfenster, als Sinah Manning die Auffahrt entlangritt, und eilte ins Arbeitszimmer ihres Chefs. »Wir bekommen Besuch, Doktor Dillon«, sagte sie. »Miß Manning.« Robin Dillon sprang von seinem Schreibtischsessel auf. »Danke, Mrs. Winter!« rief er seiner Haushälterin zu und eilte nach draußen. »Das nenn ich eine Überraschung«, sagte er, als er Sinah begrüßte. »Eine angenehme Überraschung.« »Das freut mich«, meinte die junge Frau. »Ich hatte schon Angst, daß ich womöglich störe.« »Sie stören niemals.« Robin Dillon griff nach Julias Zügeln. »Auch Willard wird sich über den Besuch freuen. Ich glaube, er versteht sich ausgezeichnet mit Ihrer Julia.« Er nahm Sinahs Arm. Sie gingen zu dem kleinen Stall, der hinter dem Haus angebaut war. Eine Viertelstunde später saßen sich Sinah und Robin im Salon gegenüber. Mrs. Winter hatte belegte Brote und Tee gebracht. »Sie sehen nicht aus, als hätten Sie heute morgen viel gefrühstückt«, hatte sie unumwunden gesagt, als Sinah gemeint hatte, es sei nicht nötig, sie zu bewirten. »Auch wenn es unhöflich klingen mag, ich glaube, Mrs. Winter hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Robin Dillon, nachdem sich die Salontür hinter der Haushälterin geschlossen hatte. »Ich habe nur eine Tasse Kaffee getrunken«, gestand Sinah.
»Und in der Nacht scheinbar kaum geschlafen«, bemerkte Robin. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren ihm längst aufgefallen. »Was ist passiert, Miß Manning?« Sinah hob das Gesicht und sah ihn an. »Sie haben mir vorgestern eine Menge Fragen über Manning Hall gestellt, Mister Dillon. Alle konnte ich nicht beantworten, da ich ja erst seit einigen Tagen wieder zu Hause bin. Es sieht aus, als hätten Sie mehr Interesse an Manning Hall als an dem Buch, das Sie schreiben.« Robin wich ihrem forschenden Blick nicht aus. »Ihnen gegenüber besteht kein Grund, es zu leugnen«, erwiderte er aufrichtig. »Ich würde vorschlagen, Sie erzählen mir, was Sie bedrückt, und dann sage ich Ihnen, weshalb ich dieses Haus gepachtet habe.« »Ein faires Angebot«, meinte Sinah. Sie nahm ihre Teetasse und leerte sie in kleinen Schlucken, bevor sie ihm berichtete, was sich seit ihrer Ankunft auf Manning Hall alles zugetragen hatte. »Irgend etwas stimmt da nicht, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe mir weder dieses schleifende Geräusch eingebildet, noch die Hand, die am Treppengeländer hinabgeglitten ist. Es muß eine Geheimtür geben, auch wenn ich sie noch nicht gefunden habe. Das einzige, auf das ich bei meinem Gang durch die ehemaligen Personalräume und den Keller gestoßen bin, ist der Hinrichtungsort von Emmy Russell.« Sinah erzählte von der schwarzen Tür mit den aufgemalten Augen. Robin beugte sich leicht vor. »Sie sollten sich nicht unnötig in Gefahr begeben, Miß Manning«, sagte er. »Es war ausgesprochen leichtsinnig, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet dunkle Treppen hinunterzusteigen und durch dunkle Gänge zu gehen.« »Hätte ich es nicht getan, hätte ich diese Tür niemals entdeckt.« Die junge Frau griff nach einem mit
Gurkenscheibchen belegten Sandwich. Mit wenigen Worten sprach sie davon, wie sie Kimba gefunden hatte. »Am liebsten hätten Mrs. Howard und Arthur die Katze mit einem Fußtritt davongejagt«, erklärte sie empört. »Nur Mr. Jensen scheint nichts gegen Katzen zu haben.« Sie unterbrach sich und starrte auf ihre Hände. »Die andere Sache ist, ich weiß nicht, wem ich trauen kann.« Stockend erzählte sie von ihrem nächtlichen Erlebnis. Robin Dillon sprang auf. »Ich würde mir gern Arm und Schulter ansehen«, sagte er. »Sind Sie gegen Tetanus geimpft?« Sinah runzelte die Stirn. »Es sind nur ein paar oberflächliche Kratzer. Erst heute morgen habe ich gemerkt, daß einer von ihnen etwas tiefer ist.« »Trotzdem möchte ich sie mir ansehen. Ich verstehe etwas davon.« Robin Dillon wandte sich einem Schrank zu, öffnete ihn und nahm eine schwarze Tasche heraus. Sinahs Blick folgte ihm. »Zu was braucht ein Schriftsteller einen Arztkoffer?« erkundigte sie sich. »Ich bin Arzt«, erklärte der junge Mann. »Sie haben meine Frage nach Ihrer Tetanusimpfung noch nicht beantwortet. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, doch es sind schon Leute an Wundstarrkrampf gestorben, die sich nur an einer Dornenhecke gerissen hatten.« »Ich habe erst im letzten Jahr eine Wiederholungsimpfung bekommen«, erwiderte Sinah. »Ehrlich, ich hätte nie gedacht, daß Sie Arzt sind.« Sie zog ihren Pullover aus. »Es sind wirklich nur ein paar Kratzer.« Robin griff nach ihrem Arm. »Und ganz sicher stammen sie nicht von Ihrer Katze.« Er trug ein Desinfektionsmittel auf. »Ich habe fast den Eindruck, als würde man auf Manning Hall alles tun, um Sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Haben Sie mit jemandem über diese Sache gesprochen?«
Sinah schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich habe nur eine Tasse Kaffee getrunken und bin dann gleich hierhergeritten.« Sie griff nach ihrem Pullover und streifte ihn sich über den Kopf. »Dieses Fauchen, von dem ich aufgewacht bin, und dann diese schrecklichen Augen… Mrs. Howard erzählte mir, daß mein Onkel sich auch von bernsteinfarbenen Augen verfolgt gefühlt hat. Er ist die Turmtreppe hinuntergestürzt und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.« »Setzen wir uns wieder«, schlug der Mann vor. Er schloß die Tasche und stellte sie neben seinen Sessel. »Haben Sie Mrs. Howard heute morgen gesehen?« Die junge Frau nickte. »Beim Frühstück. Später ist auch noch Mr. Jensen dazugekommen.« Sie griff zu ihrer Teetasse und stellte fest, daß sie leer war. Bevor sie zur Kanne greifen konnte, hatte es Robin bereits getan. »Danke«, sagte sie, nachdem er die Tasse nachgefüllt hatte. »Ich hatte den Eindruck, als würden beide nur darauf warten, daß ich etwas erzähle. Natürlich kann ich mir das auch eingebildet haben. Meine Nerven sind im Moment nicht gerade die besten.« »Verständlich.« »Ich habe mir gestern von Mr. Jensen die Bücher erklären lassen, da scheint alles in Ordnung zu sein. Natürlich könnte ich das alles auch noch von einem Anwalt nachprüfen lassen. Schade nur, daß ich Doktor Holborn nie kennengelernt habe. Er hätte mir über die Zustände auf Manning Hall vielleicht mehr sagen können.« »Ich habe von seinem Tod gehört«, warf Robin ein und fügte hinzu: »Der Fahrer des Wagens ist bis heute nicht gefunden worden. Den Wagen selbst hat man vor drei Tagen in Canterbury entdeckt. Die Tatzeugen haben übereinstimmend ausgesagt, daß es ausgesehen hätte, als wäre Doktor Holborn mit voller Absicht überfahren worden.«
Sinah sah ihn entsetzt an. »Und Sie meinen, es gibt da einen Zusammenhang?« Der junge Arzt hob die Schultern. »Ich mache mir nur so meine Gedanken. Und dann ist da noch die Sache mit Ihrem Onkel. Alles sieht wie ein Unfall aus. Erst durch Sie habe ich jetzt erfahren, daß er bernsteinfarbene Augen gesehen haben will. Das Ganze sieht mir aber ebenfalls nach Mord aus, und es wäre nicht der erste, abgesehen von den seltsamen Umständen, die zum Tod des alten Anwalts geführt haben.« »Was wollen Sie damit sagen, Mister Dillon?« fragte die junge Frau. »Hängt es mit dem zusammen, was Sie hierhergeführt hat?« »Ja, mit dem Tod meiner Stiefschwester Deborah«, sagte Robin. Über sein Gesicht legte sich ein Schatten. »Man hat Debbie vor acht Wochen tot im Moor gefunden.« »Das tut mir leid, Mister Dillon.« Sinah berührte seine Hand. Sie erinnerte sich wieder an die Geschichte von der toten Journalistin, die ihr Muriel erzählt hatte. »Mrs. Howard sprach von einer jungen Frau, die bei ihnen zu Besuch gewesen wäre.« »Ja, das war meine Schwester.« Robin schenkte ihr ein schmerzliches Lächeln. »Debbie arbeitete für ein Frauenmagazin und schrieb an einer Serie über alte Herrensitze. Sie wollte drei bis vier Tage auf Manning Hall bleiben und ist auch sehr freundlich aufgenommen worden. Sie rief mich in meiner Londoner Praxis an und erzählte, wie wunderschön es hier ist. Aber dann sagte sie, irgend etwas käme ihr seltsam vor. Sie wollte nicht weiter darüber sprechen und meinte, am Sonntag sei sie wieder in London und ich könnte sie zum Essen einladen. Das sei der Preis für meine Neugier.« Der junge Arzt seufzte auf. »Debbie war stets fröhlich, sie besaß eine Lebenslust, die ihresgleichen sucht.«
»Mrs. Howard erzählte mir, Ihre Stiefschwester hätte einen Ausflug in einen unbekannten Teil des Moors machen wollen.« »Dasselbe hat sie auch bei der Leichenschau ausgesagt. Die Sache ist nur, daß Debbie nicht zum Leichtsinn neigt. Sie hat stets alles mit Bedacht getan. Ich kann mir beim besten Willen nicht denken, warum sie ausgerechnet zu diesem Ausflug den späten Nachmittag gewählt hat, in einer Jahreszeit, in der es sehr schnell dunkel wird. Außerdem war sie nur mit einem leichten Wollkleid und einer Jacke bekleidet, als sie gefunden wurde.« »Ich begreife nicht, daß darüber nicht noch andere Leute gestolpert sind«, sagte Sinah. »Und warum haben Sie niemanden darauf aufmerksam gemacht?« »Nennen Sie es Schicksal. Ich erhielt die Nachricht von ihrem Tod am Nachmittag des folgenden Tages. Ich hatte am Morgen mit meinem Wagen einen Unfall gehabt und lag im Krankenhaus. Ich konnte nichts unternehmen, aber ich schwor mir, ihren Tod aufzuklären. Ich überließ meine Praxis einem Kollegen und pachtete dieses Haus. Mrs. Winter ist auch in London meine Haushälterin. Da hier mein Name niemals im Zusammenhang mit Debbie genannt worden ist, konnte ich unbesorgt Nachforschungen anstellen. Meine Stiefschwester hieß mit Nachnamen Colman.« »Und was ist mit dem Personal? Was haben die Leute von Manning Hall ausgesagt?« fragte Sinah. »Debbie wurde um drei zum letzten Mal gesehen, das war kurz nachdem sie mich angerufen hat. Ein Hausmädchen namens Anne Field hat sie in den Park gehen sehen. Als sie bis zum Tee nicht zurück gewesen ist, scheint diese Anne den Butler gefragt zu haben, ob Miß Colman ihren Tee an diesem Tag auf ihrem Zimmer einzunehmen wünsche. Der Butler hat ihr gesagt, daß Debbie einen Ausflug ins Moor machen würde.
Man hätte ihr zwar davon abgeraten, doch sie wisse ja, wie diese Stadtleute sind.« »Gegen sechs Uhr gehen die Hausmädchen nach Hause«, warf Sinah ein. »Ihnen wird es gar nicht aufgefallen sein, daß Ihre Stiefschwester nicht zurückgekehrt ist.« Robin nickte. »Genauso war es. Mister Jensen hat ausgesagt, nachdem Debbie um sieben Uhr noch nicht wieder in Manning Hall gewesen sei, hätten sie mit einigen Landarbeitern die Umgebung durchsucht. Die Suche war erfolglos. Man hat Debbie erst am darauffolgenden Morgen gefunden. Es sah aus, als sei sie über eine Wurzel gestolpert und mit dem Gesicht zuunterst ins Moor gestürzt.« »Wenn es wirklich Mord gewesen ist, heißt das, ich bin auch gefährdet«, sagte die junge Frau. »Ich werde also aufpassen müssen.« Nachdenklich griff sie nach einem weiteren Gurkensandwich. »Die andere Sache ist, daß man wohl kaum einen weiteren Mord riskieren wird. Ich nehme eher an, daß man alles versuchen wird, um mich von Manning Hall zu vertreiben.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen, Miß Manning. Denken Sie an die Katzenkralle unter der Satteldecke«, meinte Robin Dillon. »Wer…« Er unterbrach sich, um dann erneut anzufangen: »Wer ist der nächste Erbe, Miß Manning? Ich weiß, es klingt makaber, aber wir sollten auch daran denken.« »Darüber habe ich mir bis jetzt noch nicht den Kopf zerbrochen«, antwortete Sinah. »Ich nehme an, derjenige, den ich in meinem Testament als Erben einsetze.« »Und ein Testament haben Sie bestimmt noch nicht gemacht«, meinte Robin. »Sagten Sie nicht, Mrs. Howard wäre mit Ihnen verwandt?« »Schon, doch nur über sieben Ecken. Wir haben dieselbe Urgroßmutter. Da gibt es noch nähere Verwandte, zum Beispiel meine Tante in Frankreich.«
»Sie hat nichts mit den Mannings zu tun«, gab Robin zu bedenken. »Sie sollten diese Angelegenheit unbedingt klären.« Er nahm ihre Hand. »Mir ist es alles andere als wohl bei dem Gedanken, daß Sie jetzt wieder nach Manning Hall zurückkehren werden.« »Ich werde sehr, sehr vorsichtig sein, Mister Dillon, das verspreche ich Ihnen«, sagte Sinah. War sie sich erst nicht sicher gewesen, ob sie Robin Dillon auch nur sympathisch fand, so fühlte sie sich jetzt unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Das Gefühl, daß er sich um sie sorgte, erfüllte sie mit tiefer Freude. »Hätten Sie nicht Lust, selbst einen Blick nach Manning Hall hineinzuwerfen? Ich könnte Sie zum Dinner einladen. Heute möchte ich Mrs. Jones allerdings nicht mehr damit überfallen. Köchinnen schätzen es nicht gerade, wenn unerwartet Besuch kommt, aber wie wäre es mit morgen abend?« »Es wäre mir eine große Freude, Miß Manning«, erwiderte Robin. »Und nicht nur, weil ich Mrs. Howard und Mister Jensen näher kennenlernen möchte, sondern vor allen Dingen Ihretwegen.« »Man sollte immer das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden«, meinte Sinah lachend. Plötzlich fühlte sie sich wie befreit. Die Schatten der Nacht wurden von dem Bewußtsein verdrängt, daß sie Robin Dillon liebte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als von ihm in den Arm genommen und geküßt zu werden. Es fiel ihr schwer, es ihm nicht zu zeigen. Sie stand auf. »Es wird Zeit für mich, sonst fragt man mich auf Manning Hall noch, wo ich stecke. Und nichts wäre bedenklicher, als jemanden dort mißtrauisch zu machen.« »Ich bringe Sie nach draußen.« Robin nahm ihren Arm. »Passen Sie auf sich auf, Sinah, ich möchte nicht noch einmal einen Menschen verlieren, der mir sehr viel bedeutet«, sagte er zum Abschied.
Die junge Erbin blickte sich kurz um, als sie auf Julias Rücken das Grundstück verließ. Robin Dillon stand unter der Haustür und winkte. Vage erwiderte sie seinen Gruß, dann drückte sie die Schenkel in Julias Seiten und galoppierte davon. Muriel Howard klopfte an die Tür von Sinahs Schlafzimmer. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein. »Oh, Sie sind bereits beim Umziehen«, sagte sie. »Das konnte ich nicht ahnen. Dann komme ich nachher noch mal.« Sie wollte das Zimmer wieder verlassen. »Nein, bleiben Sie ruhig, Muriel«, antwortete Sinah. Im Unterrock trat sie an den Kleiderschrank und öffnete ihn. »Setzen Sie sich bitte.« Muriel Howard ging zu einem Sessel, Kimba, die zusammengerollt in ihrem Körbchen geschlafen hatte, stand auf, blickte die Wirtschafterin anklagend an, machte einen Buckel und rannte zur Tür. »Miau!« machte sie und kratzte gegen das Holz. »Sie mag mich nach wie vor nicht«, bemerkte Muriel. Sinah öffnete für ihre Katze die Tür. »Sie spürt, daß sie von Ihnen abgelehnt wird«, antwortete sie. »Tiere sind feinfühliger, als wir denken.« »Ich mache mir nur Sorgen, wie sich Kimba auf unsere Leute auswirkt«, verteidigte sich Muriel. »Sie wissen genau, was passiert, sollte ihr auch nur ein Haar gekrümmt werden«, sagte Sinah und nahm ein einfach geschnittenes Wollkleid aus dem Schrank. »Ich hoffe, Mister Jensen hat es ihnen gesagt.« »Hat er«, bestätigte Muriel. »Es ist übrigens Philip, wegen dem ich Sie aufsuche. Sie haben nichts gesagt, und jetzt wissen wir nicht, ob er heute abend zum Dinner willkommen ist.« »Selbstverständlich wird er das Dinner mit uns einnehmen«, erwiderte Sinah. Etwas sarkastisch fügte sie hinzu:
»Schließlich sind wir ja hier so etwas wie eine einzige Familie.« Sie schlüpfte in das Kleid und bemühte sich, den Reißverschluß im Rücken zu schließen. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Die Angestellte sprang auf. »Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet.« Nachdem sie den Reißverschluß hochgezogen hatte, trat sie einen Schritt zurück. »Schade, daß Ihr Onkel Sie nicht so sehen konnte. Es hätte ihm sehr viel bedeutet. Es ist immer sein Wunsch gewesen, daß…« »Jetzt ist es nicht mehr zu ändern, Muriel«, fiel ihr Sinah ziemlich grob ins Wort. Eigentlich hätten ihrer Verwandten die Kratzer auf Arm und Schulter auffallen müssen, aber sie hatte kein Wort darüber verloren. Es war nicht leicht, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie ihr nicht mehr traute. »Stimmt.« Muriel nickte. Sie lächelte. »Ich bin sehr gespannt auf Mister Dillon. Bisher habe ich ihn nur kurz gesehen.« Sie legte den Kopf etwas schief und sah Sinah von unten herauf an. »Mir kommt es fast vor, als hätten Sie sich in ihn verliebt. War er nicht überrascht, als Sie ihn anriefen und zum Dinner einluden?« »Vergessen Sie nicht, er hat mich vor einem bösen Sturz bewahrt. Eine Dinnereinladung ist das mindeste, was ich ihm schulde.« Sinah ging zum Toilettentisch und griff nach ihrer Kette mit dem Türkisanhänger. »Davon abgesehen finde ich ihn überaus sympathisch.« »Na, na!« Muriel drohte ihr schalkhaft mit dem Finger. »Nun, dann will ich mich auch umziehen. Außerdem muß ich Philip sagen, daß er willkommen ist. Er wird sich sehr darüber freuen, Sinah.« So erfreut habt ihr aber gestern gar nicht ausgesehen, als ich euch sagte, daß ich heute Mister Dillon zum Dinner erwarte, dachte die junge Frau. Sie setzte sich an den Toilettentisch. Das Gesicht in beide Hände gestützt, sah sie in den Spiegel. Ihre Augen glänzten und sie wußte auch, woran das lag. Sie
freute sich auf den Abend mit Robin Dillon. Sie konnte es kaum noch erwarten, ihn auf Manning Hall zu begrüßen. Und dabei habe ich ihn vor einer Woche noch gar nicht gekannt, überlegte sie, während sie sich die Haare kämmte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an den Augenblick zurückdachte, in dem Robin sie aus Julias Sattel gezogen hatte. Für Sekunden hatte er sie dabei im Arm gehalten. Sie wünschte sich heftig, wieder von ihm aufgefangen zu werden. Pünktlich eine Viertelstunde vor dem Dinner fuhr Robin Dillon auf Manning Hall vor. Arthur Summer ging ihm entgegen und öffnete für ihn den Wagenschlag. »Guten Abend, Sir«, grüßte er mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Guten Abend«, antwortete der junge Arzt. Er stieg aus und beugte sich noch einmal in den Wagen, um einige Jasminzweige herauszunehmen. Sinah Manning ging gerade die Treppe hinunter, als er von Arthur in die Halle geführt wurde. Sie hatte seinen Wagen vom Schlafzimmerfenster aus die Auffahrt entlangfahren sehen. »Wie schön, daß Sie gekommen sind«, sagte sie und verriet mit keiner Geste, wie gut sie sich inzwischen kannten. »Ihre Einladung war eine große Ehre für mich, Miß Manning«, erwiderte Robin und nahm leicht ihre Hand. »Ich habe mir erlaubt, Ihnen einige Blüten mitzubringen.« »Danke.« Sinah nahm den Strauß in Empfang und sog den lieblichen Duft des Jasmins ein. Als sie den Kopf hob, trafen sich ihre Augen für einen kurzen Augenblick. Sie wandte sich Liz zu, die im Hintergrund der Halle stand. »Bitte geben Sie den Jasmin in eine Vase«, bat sie. »Ich hätte ihn gern im Salon stehen.« Gemeinsam stiegen sie die Treppe zum ersten Stock hinauf. Muriel und Philip Jensen kamen ihnen aus dem Salon entgegen. Sie begrüßten den Gast überaus freundlich. »Ich
möchte Ihnen noch danken, daß Sie Miß Manning neulich vor Schaden bewahrt haben«, sagte Muriel. »Es war reiner Zufall, daß ich ausgerechnet an diesem Vormittag einen Ausflug ins Moor gemacht habe«, erwiderte Robin. »Dann wollen wir dem Schicksal danken, daß es Sie und Miß Manning zusammengeführt hat«, meinte Philip Jensen liebenswürdig. Sie gingen ins Eßzimmer und setzten sich an den runden Tisch, der von Liz und Peggy mit einer kostbaren, bestickten Seidendecke gedeckt worden war. In der Mitte der Tafel brannten Kerzen. Ihr Licht spiegelte sich in den Gläsern. »Ich war der Meinung, Ihre Hausmädchen würden abends immer zu ihren Familien zurückkehren«, sagte der junge Arzt, nachdem Anne zusammen mit Arthur das Vorgericht serviert und den Raum wieder verlassen hatte. »Liz und Anne sind heute abend ausnahmsweise geblieben«, erwiderte Muriel. »Mister Jensen wird sie später nach Manning Village fahren. Ich halte nichts davon, daß so junge Dinger bei Dunkelheit unterwegs sind. Manchmal treibt sich hier allerlei Gesindel herum.« »Und wir haben ihren Eltern gegenüber immerhin eine gewisse Verantwortung«, fügte Philip hinzu. »Ich weiß, Sie schreiben an einem Buch über Dartmoor, Mister Dillon. Macht es Fortschritte?« »Ich kann zufrieden sein.« Der Gast nippte an seinem Wein. »Ein ausgezeichneter Tropfen!« Anerkennend nickte er. »Mister Manning liebte es, gut zu essen und zu trinken«, erzählte Muriel. »Der Weinkeller war etwas, um das er sich immer persönlich kümmerte. In den letzten Jahren konnte er zwar nicht mehr selbst in den Keller hinuntersteigen, doch er ließ sich stets auf dem laufenden halten, wenn es um den Weinbestand ging.«
»Ihr Onkel muß ein netter, alter Herr gewesen sein«, meinte Robin. »Wie man so im allgemeinen hört, war er überaus beliebt.« »Wer hat denn mit Ihnen über Manning Hall gesprochen, Mister Dillon?« fragte der Verwalter scharf. Im selben Moment traf ihn ein mahnender Blick Muriels. »Noch etwas Wein?« fügte er lächelnd hinzu. »Danke, später«, erwiderte der Arzt. »Ich habe mit den Leuten über Manning Hall gesprochen wie auch über andere Herrensitze in Dartmoor, Mister Jensen. Ich…« Er unterbrach sich, weil der Butler und das Hausmädchen erneut ins Eßzimmer kamen. Mit hochaufgerichtetem Schwanz folgte ihnen Kimba. »Oh, dann gibt es ja doch Katzen auf Manning Hall!« rief er aus und beugte sich zu Kimba hinunter, die ihren Kopf an seinem Bein rieb. »Mir hat man erzählt, Katzen seien hier eines dummen Aberglaubens wegen nicht geduldet.« »Miß Manning hat Kimba gefunden«, berichtete Philip. »Und was diese Geschichte mit den Katzen betrifft, so würde ich nicht viel darauf geben. Wer glaubt heute noch an Hexen und dergleichen.« Anne räumte die leergegessenen Teller ab, während Arthur den gedünsteten Lachs auftrug. »Erzählen Sie uns etwas von Ihrem Buch«, bat Muriel. »Ich bin an so etwas sehr interessiert.« »Diese Journalistin, die Anfang des Jahres hier zu Gast war, hat sie eigentlich über Manning Hall geschrieben?« brachte Sinah das Gespräch auf Robins Schwester. Es fiel ihr schwer, so gleichgültig über Deborah Colman zu sprechen, und sie spürte, daß es dem Mann wehtat, trotzdem mußte es sein. »Nein!« Muriel schüttelte den Kopf. »Sie hatte ihren Artikel noch nicht abgeschlossen, und in Anbetracht ihres schrecklichen Todes ist die ganze Sache scheinbar
fallengelassen worden. Jedenfalls hat sich die Zeitschrift nicht noch einmal an uns gewandt.« »Meinen Sie die junge Frau, die im Moor ertrunken ist? Meine Haushälterin hörte etwas davon«, sagte Robin. Es kostete seine ganze Kraft, nicht mehr Interesse zu zeigen, als man es von einem völlig Unbeteiligten erwarten durfte. »Ja, es war eine ganz furchtbare Sache«, antwortete der Verwalter. »Miß Colman könnte noch heute leben, wenn sie nicht so leichtsinnig gewesen wäre.« Weder für Sinah noch für Dr. Dillon war es leicht, Muriel und Philip Jensen über Deborah sprechen zu hören. Sinah mußte sich zwingen, nicht Robins Hand zu ergreifen, um ihm zu zeigen, daß sie mit ihm fühlte. Sie war froh, als sich das Gespräch beim Dessert etwas anderem zuwandte. »Man sagte mir, daß man von Manning Hall eine besonders schöne Aussicht über Dartmoor hat«, meinte Robin, nachdem die Tafel aufgehoben worden war. »Ich werde sie Ihnen gern zeigen«, bot Sinah an. »Am besten, wir steigen auf den Hauptturm hinauf.« Sie drehte sich Muriel zu. »Den Kaffee trinken wir dann später.« »Ich muß Anna nach Hause fahren«, sagte der Verwalter. »Es hat mich gefreut, Sie endlich näher kennenzulernen, Mister Dillon.« Robin reichte ihm die Hand. »Mich ebenfalls, Mister Jensen. Judge-House ist ja nicht aus der Welt. Wir sehen uns bei Gelegenheit sicher bald wieder.« Sinah führte ihren Gast durch den schmalen, sehr dunklen Gang, der zum Hauptturm führte. Sie sprach davon, schon bald dafür zu sorgen, daß Manning Hall heller wurde. »Wie muß es erst früher hier ausgesehen haben, als es noch kein elektrisches Licht gegeben hat«, meinte sie. »Daran habe ich auch schon denken müssen«, gestand Robin. »Mir kommt es vor, als hätte man es darauf angelegt, daß sich
die Menschen innerhalb dieser Mauern graulen. Dieser Charles Manning muß wirklich ein seltsamer Kauz gewesen sein.« »Ein Teil seiner Nachfolger nicht minder«, meinte Sinah. »Haben Sie inzwischen weiter in der Chronik gelesen?« »Ja.« Sinah öffnete eine Tür und ließ den jungen Mann an sich vorbeigehen. Sie drückte auf den Lichtschalter, der rechts angebracht war. Ein schwaches Licht flammte auf und warf seinen milchigen Schein auf die ausgetretenen Turmstufen. »Es hat kaum einen meiner Vorfahren gegeben, der eines natürlichen Todes gestorben wäre. Die meisten von ihnen sind, durch irgendeinen Unglücksfall, der sie entweder im Haus oder im Park getroffen hat, ums Leben gekommen. – Dies ist übrigens die Treppe, die mein Onkel hinuntergestürzt ist.« »Ich frage mich, was ihn bewegt haben kann, diese steilen Stufen zu erklimmen«, sagte Robin. »Er muß schon einen triftigen Grund dazu gehabt haben. Die schöne Aussicht vom Söller wird es sicher nicht gewesen sein.« »Also das kann ich mir auch nicht denken. Wenn es stimmt, was Sie und jetzt auch ich vermuten, daß Mrs. Howard und Mister Jensen in irgend etwas verwickelt sind, dann ist mein Onkel womöglich dahintergekommen und hat deshalb sterben müssen.« »Wie Debbie«, sagte der Arzt grimmig. »Es ist mir sehr schwer gefallen, mit den beiden an einem Tisch zu sitzen.« Er legte den Arm um sie. »Nur Ihre Gegenwart hat es mir etwas leichter gemacht.« Das Treppenhaus des Turms war ziemlich eng, dennoch schafften sie es, nebeneinander die restlichen Stufen hinaufzusteigen. Erst kurz vor der Falltür, die auf den Söller hinausführte, löste sich Sinah aus Robins Arm. »Warten Sie, ich mach das!« rief er, als sie die schwere Falltür öffnen wollte. »Es bedarf einiger Kraft«, meinte er,
nachdem er sie zurückgeschlagen hatte. »Ich frage mich, wie Ihr Onkel das geschafft hat.« »Ich mich auch.« Sinah kletterte hinter ihm auf den Söller. Tief atmete sie die frische Abendluft ein. Robin drehte sich zu ihr um. »Sie hätten einen Mantel mitnehmen müssen. Hier ist es ziemlich kühl.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schlüpfte er aus seinem Jackett und legte es ihr um die Schultern. »Jetzt werden Sie frieren«, sagte Sinah und schmiegte sich in sein Jackett. »Ich friere nicht so leicht.« Robin legte den Arm um sie und führte sie an die Brüstung des Söllers. »Es muß wirklich Schicksal gewesen sein, daß wir einander begegnet sind. Vom ersten Augenblick an fühlte ich, daß da mehr ist, als nur eine bloße Bekanntschaft.« Die junge Frau blickte in die Moorlandschaft hinaus. Nebel kam auf und legte sich über Bäume und Sträucher. Sie wagte nicht, Robin anzusehen. Nie zuvor war sie so glücklich gewesen wie in diesem Moment. »Warum sagen Sie nichts?« fragte der junge Arzt. Er wandte sich ihr zu und schaute sie ernst an. Es gab keinen Menschen, zu dem sie sich je so hingezogen gefühlt hätte, wie zu ihm. Offenbar erging es ihm nicht anders, denn er nahm sie jetzt ganz einfach in die Arme und küßte sie. Sinah schloß die Augen und fand es ganz natürlich, daß er sie küßte. Dann ließ er sie los und sah sie wieder an. »Sag, daß du mich genauso liebst, wie ich dich, Sinah«, forderte er. »Fühlst du das nicht?« fragte sie und lehnte sich an ihn. »Mit verbundenen Augen würde ich dich unter Tausenden von Menschen herausfinden, Robin. Ich liebe dich so sehr, daß es direkt weh tut.« Robin schloß sie so fest in die Arme, daß sie meinte, er würde sie nie loslassen wollen. »Dann komm mit mir nach
London, Sinah. Ich möchte nicht, daß du länger hier auf Manning Hall bleibst. Es ist Wahnsinn, sich dieser Gefahr zu stellen. Ich werde die besten Detektive engagieren. Sie sollen herausfinden, was auf Manning Hall nicht stimmt.« »Sie werden versagen, weil Mrs. Howard und Mr. Jensen mißtrauisch werden würden, wenn hier immer wieder Fremde auftauchen. Wer hätte eine größere Chance als ich, die Sache aufzuklären? Mir gehört Manning Hall, ich kann mich ungehindert durch Haus und Park bewegen.« »Und niemand hat auch eine größere Chance, dadurch zu Schaden zu kommen«, sagte Robin Dillon bitter. »Sei vernünftig, Darling, spiel nicht Detektiv.« »Robin, so schnell gebe ich nicht auf!« Sinah lächelte ihm zu. »Ich kann verdammt hartnäckig sein, daran mußt du dich gewöhnen. Gib mir noch etwas Zeit. Sagen wir, wenn ich in vierzehn Tagen nichts herausgefunden habe, dann sprechen wir noch einmal über meine Flucht.« »Es wäre keine Flucht, Darling, nur Vernunft«, erwiderte Robin. »Sinah, bitte…« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Vierzehn Tage, Robin, nur vierzehn Tage! Und jetzt nimm mich noch einmal in die Arme, sonst denke ich, es sei alles nur ein Traum gewesen.« »Also gut, vierzehn Tage, aber keinen Tag länger«, gab Robin Dillon nach. Er zog sie an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, zärtlichen Kuß.
*
»Ein Wetter ist das wieder heute.« Muriel Howard schloß die Vorhänge im Salon. »Manchmal glaube ich, es soll dieses Jahr überhaupt nicht mehr Sommer werden.«
»Wir haben immer noch Frühling, Muriel«, sagte Sinah. Sie gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. Mit einem Ruck stand sie auf und trat neben ihre Verwandte, die eben den Vorhang des letzten Fensters schließen wollte. »Sieht es nicht auch irgendwie schön aus, wie sich die Bäume im Sturm biegen?« »Mag sein, doch ich mache mir Sorgen um Philip. Er hätte schon vor einer Stunde aus London zurück sein müssen.« »Sicher ist er aufgehalten worden«, versuchte Sinah sie zu beruhigen. Die Wirtschafterin war den ganzen Nachmittag über schon ausgesprochen nervös gewesen. Dann beim Dinner war ihr zweimal das Besteck aus den Händen gefallen. Diese Nervosität mußte mit der Fahrt des Verwalters nach London zu tun haben. Zu schade, daß sie erst davon erfahren hatte, als Philip Jensen bereits auf dem Weg nach London gewesen war. Es wäre für Robin sicher nicht schwer gewesen, ihm nachzufahren und herauszufinden, was er dort tat. »Dann hätte er zumindest anrufen können«, klagte Muriel. Sie lächelte gezwungen. »Zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. So sind die Männer nun einmal. Niemals denken sie daran, wieviel Sorgen und Kummer sie anderen bereiten.« Sie seufzte auf. »Hat es Mister Dillon gestern abend bei uns gefallen?« fragte sie zusammenhanglos. »Ich glaube schon«, erwiderte Sinah. »Es geht mich zwar nichts an, aber selbst ein Blinder würde sehen, daß Sie bis über beide Ohren in ihn verliebt sind«, meinte Muriel. »Er scheint auch tatsächlich ein netter junger Mann zu sein. Wissen Sie Näheres über ihn?« »Nein, bisher noch nicht«, log Sinah. »Wir haben uns schließlich erst kennengelernt.« Sie griff nach dem Buch, in dem sie gelesen hatte. »Sind Sie mir böse, wenn ich schon schlafen gehe? Ich bin so müde, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann.«
»Nein, natürlich nicht. Ich werde aufbleiben, bis Philip kommt.« Sie ließ sich in einen der Sessel fallen. Fahrig strich sie über ein Spitzendeckchen, das unter einer Vase lag. »Dann gute Nacht, Muriel.« Sinah verließ den Salon. Kimba, die neben dem brennenden Kamin gelegen hatte, folgte ihr, ohne die Wirtschafterin eines Blickes zu würdigen. So sorgfältig wie jeden Abend verriegelte die junge Frau auch diesmal wieder ihre Tür. Sie war bereits im Nachthemd, als ihr einfiel, daß sie an diesem Abend die beste Gelegenheit gehabt hätte, sich die Wohnung des Verwalters anzusehen. Zu dumm, daß sie nicht eher daran gedacht hatte. Sinah setzte sich auf ihr Bett und dachte nach, dann trat sie an eines der Fenster und blickte auf die Auffahrt hinaus. Das Unwetter, das am späten Nachmittag begonnen hatte, tobte noch immer. Vielleicht würde Philip Jensen an diesem Abend überhaupt nicht mehr nach Hause kommen, sondern in London übernachten. Sie drehte sich zu Kimba um, die auf ihr Bett gesprungen war und sich dort mit einer ausgiebigen Toilette beschäftigte. »Wenn ich dich mitnehme, könnte ich immer behaupten, ich hätte dich gesucht«, überlegte sie laut. »Ja, warum eigentlich nicht?« Sie nahm ihren Morgenrock und schlüpfte hinein. Vom dritten Stock aus gab es einen Verbindungsgang zur Verwalterwohnung. Zwar wurde er nur selten benutzt, konnte ihr aber jetzt nur dienlich sein. Fünf Minuten später trat Sinah mit Kimba im Arm auf die schmale Galerie hinaus. Sie hörte, wie das Telefon, das unten in der Eingangshalle stand, klingelte. Nach dem dritten Klingelton meldete sich der Butler. »Einen Moment bitte«, sagte er. Sinah hörte, wie er wählte und dann auflegte. Sie nahm an, daß er mit Muriel Howard verbunden hatte. Wer anders als Philip Jensen hätte um diese Zeit anrufen sollen?
Also blieb er in London und würde erst am nächsten Morgen nach Hause kommen. Lautlos huschte sie die Treppe hinauf. Im dritten Stock hatten früher die Kinderzimmer gelegen, sowie die Räume, in denen die Hauslehrer und Gouvernanten untergebracht gewesen waren. Jetzt wohnte hier niemand mehr. Deshalb war die junge Frau auch nicht besonders vorsichtig, als sie nun zu dem Gang ging, der zur Wohnung des Verwalters führte. Kaum hatte sie ihn erreicht, setzte sie Kimba auf den Boden. Die Katze jagte vor ihr her. Vor einer geschlossenen Tür ließ sie sich auf ihr Hinterteilchen fallen und blickte Sinah mit fragenden Augen an. Sinah holte tief Luft, bevor sie die Türklinke umfaßte. Das Her sprang auf und rannte lautlos die Turmtreppe hinunter bis zum zweiten Stock, in dem sie von einer weiteren Tür aufgehalten wurde. Die junge Frau umklammerte so fest die Taschenlampe, daß ihr die Finger schmerzten, als sie jetzt auch diese Tür öffnete. Dunkel lag der Flur der kleinen Verwalterwohnung vor ihr. Rechts ging es in das Schlafzimmer, links führte eine Wendeltreppe zum Wohnzimmer hinunter. Küche und Arbeitszimmer befanden sich im Erdgeschoß und waren über eine weitere Treppe zu erreichen. Von der Küche aus gelangte man in den Park. Nur im Schein ihrer Taschenlampe blickte sich Sinah in dem geschmackvoll eingerichteten Wohnraum um. Sie fühlte sich nicht sehr wohl dabei, da sie sich darüber klar war, daß sie hier nichts zu suchen hatte. Hastig warf sie einen Blick in das Büfett, dann wandte sie sich einer Vitrine zu. Ihre Finger zitterten, als sie ein Schubfach öffnete, kurz mit der Taschenlampe hineinleuchtete und es dann wieder schloß. Sie bemerkte nicht, daß sie dabei die Ecke einer Serviette einklemmte. Genauso wenig fiel ihr
auf, daß sich Kimba mit den beiden Kissen, die auf der Couch lagen, amüsierte. Nachdem sie weder im Schlaf-, noch im Wohnzimmer etwas gefunden hatte, stieg sie die letzte Treppe hinunter. Um die Küche kümmerte sie sich nicht weiter, von Interesse war nur das Arbeitszimmer des Verwalters. Der Schreibtisch war abgeschlossen. Leise fluchte sie vor sich hin. Daran hätte sie denken müssen. Sie ging zu einem Aktenschrank und öffnete ihn. Sie hoffte, in ihm vielleicht die Schlüssel zum Schreibtisch zu finden, aber alles was sie entdeckte, war eine Flasche Bourbon. »Komm, Kimba.« Sinah ging ins Treppenhaus. Kurz huschte der Schein ihrer Taschenlampe durch den schmalen Raum. »Kimba!« rief sie halblaut. »Sofort…« Entsetzt starrte sie zur Eingangstür. Sie hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Ohne sich weiter um die Katze zu kümmern, hastete sie zum ersten Stock hinauf. Sie hatte gerade die zweite Wendeltreppe erreicht, als unten das Licht eingeschaltet wurde. Die junge Frau preßte eine Hand auf ihr Herz. Es schlug so laut, daß sie vermeinte, es müßte meilenweit zu hören sein. Mit angehaltenem Atem lauschte sie nach unten. Es war Philip Jensen, der das Treppenhaus betreten hatte, das erkannte sie am Schritt. Erleichtert stieß sie den Atem aus, als er sich der Küche zuwandte. Auf Zehenspitzen stieg sie die Wendeltreppe hinauf. Unten wurde erneut die Eingangstür aufgerissen. »Philip, Darling?« Das war Muriel Howards Stimme. »Hier bin ich.« »Sag mal, warum hast du nicht angerufen?« fragte Muriel. »Kannst du dir vorstellen, was ich…« Sinah hob bedauernd die Schultern. Muriel war scheinbar in die Küche gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Nachdenklich blickte sie nach unten. Wo mochte nur Kimba stecken? Sollte sie es riskieren, sich nach unten zu schleichen, um nach ihr zu suchen? Nein, lieber kein Risiko eingehen. Vielleicht war Kimba sogar schon vor ihr die Treppen hinaufgesprungen. Auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer ließ die junge Frau die beiden Verbindungstüren zum Hauptteil des Hauses offen, so daß die Katze, sollte sie sich noch in der Verwalterwohnung befinden, jederzeit zurückkehren konnte. Sie hoffte, daß es nicht weiter auffallen würde, daß die Türen offenstanden, irgend jemand konnte vergessen haben, sie zu schließen. Sinah war zu aufgewühlt, um gleich einschlafen zu können. Nachdem sie ihre Zimmertür erneut sorgfältig verriegelt hatte, löschte sie bis auf die Nachttischlampe das Licht und zog sich einen Sessel ans Fenster. Sinnend blickte sie in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich hörte sie ein empörtes Miau und ein heftiges Kratzen. Sie sprang auf und ließ Kimba ins Zimmer. »Warum bist du denn ausgerissen, du Schlingel?« fragte sie und hob die Katze hoch. »Du bleibst jetzt schön hier, Liebes, ich komme gleich zurück.« Sie setzte Kimba in ihr Körbchen und eilte nach draußen, um wenigstens die Verbindungstür im dritten Stock zu schließen. Aber die Tür war bereits geschlossen.
*
Sinah sagte Robin Dillon kein Wort von ihrer nächtlichen Exkursion, weil sie genau wußte, sie müßte ihm dann versprechen, derartige Unternehmen in Zukunft zu unterlassen. Während sie am Nachmittag einen Spaziergang durch das Heideland machten, war sie mit den Gedanken bei der
geschlossenen Tür. Konnte es sein, daß Kimba sich gegen die Tür gelehnt hatte, nachdem sie hindurchgeschlüpft war? Weder Muriel noch der Verwalter hatten die Tür erwähnt. Sie hatten sich ihr gegenüber wie immer benommen. Scheinbar völlig unbefangen hatte Philip von seiner Fahrt nach London erzählt. Muriel trug die einfache Brosche, die er ihr mitgebracht hatte. »Einen Penny für deine Gedanken, Darling«, sagte Robin und nahm sie in den Arm. »Wie heißt er, an den du denkst?« Er schaffte es, grimmig dreinzusehen. »Wird nicht verraten«, ging Sinah auf seinen Scherz ein und sie legte ihr Gesicht an seine Schulter. »Die Welt könnte so schön sein, Robin.« Sie blickte auf. »Weißt du, was ich mir wünsche? Ich würde gern mit dir durch ganz England fahren. Bis auf dieses Fleckchen Erde und London kenne ich bisher meine Heimat nur aus Büchern.« »Wir werden reisen, Darling, das verspreche ich dir.« Er umgriff für einen Augenblick ihre Schultern mit beiden Händen. »Ich bin nach Dartmoor gekommen, um Debbies Tod aufzuklären. Wer hätte gedacht, daß ich hier meinem großen Glück begegne?« Zärtlich faßte er unter ihr Kinn. »Im übrigen habe ich eine Überraschung für dich. Ich habe Karten für ein Konzert, das am Sonntag in Canterbury stattfindet. Es wird das Londoner Symphonie-Orchester spielen.« »Ich freue mich darauf«, sagte Sinah. »Ich dachte, danach könnten wir dann noch irgendwo einen kleinen Mitternachtsimbiß einnehmen. Einmal alles vergessen, nur wir beide…« Dr. Dillon ließ sie los. »Seit ich dich kenne, kommt mir die ganze Welt verändert vor.« »Mir ergeht es genauso«, gestand die junge Frau. »Neben dir ist alles andere unwichtig geworden.« Der Arzt strich zart über ihr Gesicht, dann beugte er sich über sie und verschloß ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen
Kuß. Sinah schlang die Arme so fest um ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
*
Wie so oft lag der Park im dichten Nebel. Sinah Manning schloß das Fenster. Sie hatte nach dem Dinner mit ihrer Tante in Frankreich telefoniert. Ihre Tante hatte sich gefreut, als sie ihr von Robin erzählt hatte. Wie gern hätte sie auch davon gesprochen, daß es auf Manning Hall nicht mit rechten Dingen zuging, aber sie durfte ihr nichts davon sagen. Leicht war es ihr nicht gefallen, da sie ihrer Tante gegenüber immer völlig offen gewesen war. Sie schaute noch einmal nach Kimba. Die Katze schien zu schlafen. Ihr Naschen zuckte. Wahrscheinlich träumte sie. Sinah strich leicht über das warme Fell, dann wandte sie sich der Tür zu. Sie war verschlossen und verriegelt. Müde schlüpfte sie aus ihrem Morgenrock, legte ihn über eine Stuhllehne und ging zu Bett. Wie auch in den letzten Nächten zuvor, ließ sie die Nachttischlampe brennen. Mit den Gedanken an Robin schlief sie schon Minuten später ein. Die Gedanken an den jungen Arzt nahm sie in ihre Träume mit. Sie sah sich mit Robin Arm in Arm einen einsamen Strandweg hinunterschreiten. Unten am Wasser hob er sie auf und setzte sie in ein Boot. Mit starken Armen ruderte er sie auf das Meer hinaus. Delphine umtanzten ihr kleines Boot. Robin wies lachend ins Wasser. – Nein, das waren keine Delphine, das waren riesige Raubkatzen. Sie rissen ihre Mäuler auf. Von ihren Eckzähnen tropfte Blut. Ihr Fauchen übertönte das Tosen der Brandung. Ihr Atem…
Sinah erwachte von ihrem eigenen Schrei. Sie riß die Augen auf. Aus ihrer Kehle kam nur noch ein heiseres Krächzen. Riesige, bernsteinfarbene Augen schwebten in der Dunkelheit über ihrem Bett. Während sie mit einer Hand nach der Bettdecke griff, tastete sie mit der anderen nach der Taschenlampe. Doch ihre Hand faßte ins Leere. Mit einem gewaltigen Ruck wurde ihr die Decke entrissen. Die junge Erbin warf sich zur Seite, versuchte, sich aus dem Bett zu winden. Im selben Augenblick traf sie ein harter Schlag. Sie spürte einen schneidenden Schmerz, als ihr von scharfen Krallen der Arm aufgerissen wurde. Gellend schrie sie auf, während sie gleichzeitig aus dem Bett rutschte und hart auf dem Boden aufschlug. Das Deckenlicht flammte auf. Muriel Howard stürzte ins Zimmer. »Was ist denn passiert?« fragte sie. »Ich habe Sie schreien gehört. Ich… Sinah!« Muriel beugte sich über die junge Frau, die noch immer am Boden lag. »Um Gottes willen, was ist mit Ihnen geschehen? Sie bluten ja.« »Die Augen«, sagte Sinah stöhnend. »Diese furchtbaren Augen!« »Was für Augen?« Muriel half der jungen Frau, sich aufzurichten. »Kommen Sie, am besten, Sie legen sich aufs Bett. Sieht ja fast aus, als wäre diese Katze ein Raubtier. Ich verstehe nicht, warum Kimba Sie angefallen hat.« Es fiel Sinah noch schwer, wieder klar zu denken, dennoch verteidigte sie das Tier. »Das ist nie und nimmer eine Hauskatze gewesen, Muriel. Ich…« Leise stöhnte sie auf. »Meinen Sie, daß ich Sie einen Augenblick allein lassen kann, Sinah? Ich möchte den Verbandskasten holen.« Muriel strich ihr über die Haare. »Ich bin gleich wieder da.« Ohne Sinahs Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer. Die junge Frau schloß die Augen. Ihr Arm brannte, als wäre sie mit einem glühenden Ofenrohr in Berührung gekommen.
Doch der Schmerz half ihr, die Benommenheit abzuschütteln. Sie richtete sich auf und blickte zu ihrem rechten Arm. Aus den Kratzern traten Blutstropfen, liefen über ihre Haut und sickerten ins Kissen. Wenn das Kimba gewesen ist, dann müßte sie sich in eine Raubkatze verwandelt haben. Sie drückte auf den Schalter der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf. Also war auch nicht die Birne kaputtgegangen, man hatte die Lampe ausgeschaltet. Gab es in ihrem Zimmer eine Geheimtür? – Es mußte so sein, denn ihre Tür hatte sie schließlich abgeschlossen und verriegelt gehabt. Jetzt stand sie auf. Muriel kam mit einem großen Kasten ins Zimmer. »Geht es Ihnen etwas besser, Sinah?« Sie stellte den Kasten auf das Bett. »Kimba scheint fortgelaufen zu sein.« Erst jetzt schaute die junge Frau zum Katzenkorb hinüber. Tatsächlich, er war leer. »Auch auf die Gefahr hin, mich bei Ihnen unbeliebt zu machen, ich würde die Katze weggeben«, sagte die Wirtschafterin. Sie öffnete den Kasten und nahm ein Stück Verbandsgaze heraus. Behutsam wischte sie damit über Sinahs Arm. »Viel kann ich nicht tun«, fuhr sie fort. »Ich wäre dafür, daß Sie sich morgen zum Arzt nach Ashburton fahren lassen. Jetzt wird es etwas brennen.« Sie trug vorsichtig ein Desinfektionsmittel auf. »Und was soll ich dem Arzt sagen?« fragte Sinah. »Daß Ihre Katze Sie gekratzt hat.« »Muriel, das war nie im Leben Kimba.« Sie überlegte kurz, dann beschloß sie, ganz einfach die Wahrheit zu sagen. Ohne die Wirtschafterin aus den Augen zu lassen, erzählte sie von ihrem Erlebnis. »Es war kein Traum. Ich habe diese Augen wirklich gesehen. Und es ist nicht das erste Mal gewesen.« Muriel schaute sie skeptisch an. »Wenn diese Kratzer nicht wären, würde ich Ihnen kein Wort glauben«, erwiderte sie. »Es
erscheint mir einfach unsinnig. Ich habe diesen angeblichen Spuk immer abgeleugnet.« Sie nagte an der Unterlippe. »Könnte es sein, daß doch etwas Wahres an diesen ganzen Geschichten sein soll?« Nachdenklich sah sie Sinah an. »Es ist so unsinnig, so…« Sie stieß heftig den Atem aus. »Immerhin leben wir im zwanzigsten Jahrhundert.« »Ich weiß nur, was ich gehört und gesehen habe«, sagte Sinah. »Meine Tür war abgeschlossen und verriegelt. Meine Nachttischlampe hatte gebrannt. Es fällt mir nicht leicht, es zuzugeben, aber ich bin nun einmal in dieser Beziehung etwas ängstlich.« »Das ist doch keine Schande«, meinte ihre Verwandte begütigend. »Als ich kam, brannte im Zimmer kein Licht und die Tür stand weit auf.« Sie sprang auf und begann hin und her zu gehen. Abrupt drehte sie sich um. »Scheinbar bleibt mir nichts anderes übrig, als die Tatsachen zu akzeptieren. Vielleicht ist dieses Zimmer irgendwie mit Mary Manning verbunden. Könnte sie nicht hier gewohnt haben? Wir werden morgen ein anderes Zimmer für Sie suchen.« »Und heute nacht?« »Keine Angst, Sinah, heute nacht werde ich hier schlafen«, sagte Muriel. »Ich werde Sie doch nicht in diesem Zustand allein lassen.« »Danke.« Muriel Howard wandte sich der Tür zu. »Ich komme sofort wieder«, versprach sie. »Ich will nur frisches Bettzeug für Sie holen und meine eigenen Sachen.« Sinah wartete, bis die Wirtschafterin das Zimmer verlassen hatte, dann stand sie auf. Ihre Knie drohten zwar unter ihr nachzugeben, doch sie schaffte es zum Schrank. Ein Nachthemd in der Hand, wankte sie ins angrenzende Bad. Mit der linken Hand drehte sie den Wasserhahn an und begann, sich das Blut, das ihren Arm bis zum Handgelenk
hinuntergeronnen war, abzuwaschen. Als sie den Kopf hob, begegnete sie ihrem Blick im Spiegel. »Hübsch siehst du aus, gerade zum Anbeißen, Sinah«, sagte sie lautlos zu sich selbst. »Als sei dir ein Geist begegnet.« Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Auch wenn ihr Arm schmerzte und das ausgestandene Grauen ihr noch in den Gliedern saß, sie war nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen. Sie war felsenfest davon überzeugt, daß hinter dem ganzen furchtbaren Spuk ein Mensch aus Fleisch und Blut steckte.
*
»Nicht eine Stunde länger wirst du in diesem Haus bleiben, Darling«, sagte Dr. Dillon, als ihm Sinah am nächsten Vormittag ihren verletzten Arm zeigte. »Du vergißt, daß du mir vierzehn Tage gegeben hast«, erinnerte ihn Sinah, während er die Kratzer reinigte und neu verband. »Diese vierzehn Tage sind noch nicht hemm.« »Sinah, das war, bevor ich das hier sehen mußte«, erwiderte Robin erregt. »Meinst du denn, es würde uns oder auch meiner toten Schwester nur irgendwie helfen, wenn du von diesen Leuten umgebracht wirst?« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Mein Leben ist ganz sicher nicht in Gefahr, Robin, sonst hätte man mich längst ermordet. Es kommt nur darauf an, mich zu vertreiben. Heute morgen bin ich umquartiert worden. Man hat mir ein Zimmer in der Nähe von Muriels gegeben.« Sie blickte auf ihren verbundenen Arm. »Schön machst du das, Robin. Gelernt ist gelernt.«
Der junge Arzt seufzte hörbar auf. »Ich begreife dich nicht, Sinah. Wie kann man da noch Witze machen?« Er führte sie zur Couch und ließ sie sich setzen. »Weil ich nicht daran denke, mich einschüchtern zu lassen. Manning Hall ist mein Besitz. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was auf meinem eigenen Grund und Boden vor sich geht. Ich kann nicht einfach meinen Kopf in den Sand stecken und weglaufen.« »Beides zusammen dürfte auch etwas schwierig sein, Miß Manning«, meinte die Haushälterin und stellte einen Teller mit Cremeschnitten auf den lisch. »Der Tee kommt sofort.« »Miß Manning hat leider einen Dickkopf, dem wir, wie es aussieht, beide nicht gewachsen sind, Mrs. Winter«, sagte Robin Dillon zu ihr. »Das Dumme ist, daß wir sie nicht mit Gewalt von Manning-Hall fernhalten können.« »Oh, das Judge-House hat einen ganz annehmbaren Keller, Doktor Dillon«, scherzte Mrs. Winter und ging hinaus. »Eine nette Frau«, bemerkte Sinah. »Ihr scheint euch prächtig zu verstehen.« Robin legte ihr ein Stück Kuchen auf den Teller. »Nicht nur das, sie teilt auch meine Vorliebe für dich.« Liebevoll strich er ihr die Wangen. »Aber das ist kein Wunder, dich muß man einfach lieben.« »Danke für das Kompliment.« Sinah lächelte ihm zu. »Das war kein Kompliment, Darling, das war die reine Wahrheit«, beteuerte Robin. Er stand auf und nahm seiner Haushälterin die Teekanne ab. »Ich brauche Sie dann im Moment nicht mehr, Mrs. Winter«, sagte er. »Wenn Sie mich suchen sollten, ich bin in der Küche«, erwiderte sie. »Und geben Sie sich ordentlich Mühe, ihr den Kopf zurechtzurücken.« »Sieht mir nach einer Verschwörung aus«, meinte die Besucherin, als sie wieder mit ihrem Freund allein war. »Aber
Spaß beiseite, Robin, ich denke wirklich nicht daran, das Feld zu räumen. Dieser letzte Angriff auf mich hat einen sehr realen Hintergrund. Ich nehme an, man hat gemerkt, daß ich in der Verwalterwohnung herumgeschnüffelt habe.« Sie wies ihre leeren Hände vor. »Leider vergeblich.« »Wann?« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Vorgestern nacht.« Sinah erzählte, wie es dazu gekommen war. »Ich bin es nicht gewohnt, nachts mit einer Taschenlampe bewaffnet fremde Wohnungen zu durchsuchen. Bestimmt habe ich jede Menge Spuren hinterlassen, abgesehen von den beiden Türen. Bestimmt wurde Kimba bemerkt, man hat sie vor mein Zimmer gebracht und die Verbindungstür wieder geschlossen.« Robert Dillon lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie schweigend an. »Ich nehme an, jeder Appell an deine Vernunft dürfte vergeblich sein, Darling, aber willst du mir wenigstens versprechen, so etwas nicht noch einmal zu tun?« »Okay, ich werde nicht wieder heimlich in die Wohnung des Verwalters gehen«, sagte Sinah. »Wenn ich nur einen Bauplan des Hauses finden würde. So verwinkelt, wie es gebaut worden ist, gibt es sicher auch mehrere Geheimtüren. Ich werde mir heute nachmittag noch einmal die Bibliothek vornehmen.« »Sinah, ich…« »Robin, was ist schon dabei, wenn ich mich in der Bibliothek aufhalte? Das Leben auf Manning Hall ist so eintönig, daß ich nach einem guten Lesestoff suchen muß. Das wird auch Muriel Howard einsehen.« Sinah probierte von dem Kuchen. »Er ist übrigens ausgezeichnet.« »Reicht es dir wirklich nicht, was heute nacht passiert ist?« fragte Robin der Verzweiflung nahe. »Ich war nur furchtbar erschrocken«, meinte Sinah. »Und die Verletzung hat schlimmer ausgesehen, als sie ist. Ich kann meinen Arm sogar bewegen, ohne daß es groß schmerzt. Die
Kratzer werden in wenigen Tagen geheilt sein. Mister Jensen wollte mich heute morgen zu einem Arzt nach Ashburton fahren. Ich sollte ihm sagen, meine Katze hätte mich gekratzt. Er meinte, etwas anderes könnte es auch gar nicht sein, das mit den Augen hätte ich mir nur eingebildet.« »Geschickt eingefädelt«, bemerkte Robin. »Einer streitet den Spuk grundsätzlich ab, der andere tut, als würde er anfangen, daran zu glauben. Und du stehst dazwischen.« »Ich sagte ihm, daß ich mich ganz sicher nicht dazu überwinden könnte, zu einem anderen Menschen davon zu sprechen. Schließlich hätte ich keine Lust, für verrückt erklärt zu werden. Und dann bat ich ihn und Muriel, auch gegenüber dem Personal nichts verlauten zu lassen. Sie sollten nur sagen, das Zimmer hätte mir nicht mehr gefallen.« »Wie war Mrs. Howard eigentlich angezogen, als sie in dein Zimmer stürzte?« »Ich war zu entsetzt, um darauf zu achten«, erwiderte Sinah. »Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Ich nehme an, Sie trug einen Morgenrock über ihrem Nachthemd.« »Wenn Sie tatsächlich schon im Bett gelegen hätte, hätte sie eigentlich deinen Schrei nicht hören können«, gab Robin zu bedenken. »Ich nehme an, der Spuk wurde von Mister Jensen inszeniert, während sich die gute Mrs. Howard bereithielt, dir zu Hilfe zu eilen und den rettenden Engel zu spielen.« Der attraktive Arzt stieß heftig den Atem aus. »Am besten, du rückst jeden Abend noch etwas unter die Türklinke. Abschließen und verriegeln nützt ja nichts. Und untersuch die Schränke und die Wände. Sollte es eine Geheimtür geben, so müßte es hohl klingen. Und…« Er unterbrach sich. »Darling, bist du dir überhaupt des Risikos bewußt, das du eingehst? Ich will…«
»Hör auf, Robin, wir haben beschlossen, daß ich noch einige Tage auf Manning Hall ausharre, also sollten wir jetzt nicht darüber lamentieren«, unterbrach ihn Sinah. »Du hast es beschlossen«, stellte Dr. Dillon richtig. Düster schaute er sie an. »Wenn dir etwas passiert, könnte ich meines Lebens nicht mehr froh werden.« »Unkraut vergeht nicht!« erklärte ihm die junge Frau. Sie stand auf, beugte sich über ihn und schlang die Arme um seinen Hals. »Du hast mich seit mindestens zwanzig Minuten nicht mehr geküßt«, beklagte sie sich und stieß sanft mit der Nase gegen seine Stirn.
*
Die nächsten Tage vergingen in relativer Ruhe. Das Zimmer, das Sinah jetzt bewohnte, erlaubte ihr keinen Blick mehr in den vorderen Teil des Parks. Ihre Fenster gingen alle nach Norden hinaus. Es war ein schöner, hoher Raum mit glänzendem Parkett und einem sehr alten Perserteppich. Die Einrichtung bestand aus poliertem Mahagoni und dunkelgrünen Polstermöbeln. Wäre Sinah nicht gezwungen gewesen, ständig an ihre Sicherheit zu denken, hätte sie sich auch hier sehr wohl gefühlt. Wie mit Robin abgesprochen, stellte sie jeden Abend einen hochlehnigen Stuhl unter ihre Türklinke. Am Sonntag waren sie schon zeitig nach Canterbury gefahren, hatten sich die herrliche Kathedrale angesehen, dann die Kings School, die von Henry VIII. gegründet worden war, und die St. Augustine’s Abbey. Später waren sie zum West Gate aufgebrochen, in dessen Anlagen das Konzert stattfinden sollte. Das Wetter hatte mitgespielt und der Platzregen, mit
dem Robin Dillon gerechnet hatte, nachdem nachmittags dunkle Wolken aufzogen, war ausgeblieben. »Danke für den wunderschönen Abend, Robin«, sagte Sinah, als er die Auffahrt von Manning Hall entlangfuhr. Es war weit nach Mitternacht und sie konnte vor Müdigkeit kaum noch die Augen offenhalten, trotzdem hatte sie auch noch die lange Heimfahrt genossen. Robin hielt vor dem Haus und befreite sich von seinem Gurt. »Dann bist du mir also nicht böse, daß ich dich für ein einziges Konzert so weit von Manning Hall fortgelockt habe?« fragte er und löste ihren Gurt. »Dummkopf, ich habe jede Minute unseres Zusammenseins genossen«, erwiderte Sinah mit strahlenden Augen. »Es war ja nicht nur das wundervolle Konzert, sondern es ist all das gewesen, was wir heute zusammen unternommen haben.« Sie zwinkerte ihm zu. »Einschließlich der fast dreistündigen Hinund Rückfahrt.« »Drei Stunden sind wohl reichlich übertrieben!« Der junge Mann drohte ihr mit dem Finger. Er zog sie in die Arme und küßte sie zärtlich. »Und wenn du jetzt wieder in diesem alten Gemäuer bist, paß gut auf dich auf, Darling.« »Werde ich, Robin.« Dr. Dillon löste die Arme von Sinah und stieg aus. Er lief um den Wagen herum. Aber die junge Frau war schneller als er. Sie hatte bereits den Wagenschlag geöffnet. Er reichte ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Innig küßten sie sich noch einmal, dann drehte sich Sinah um und ging auf das Portal zu. Robin wartete, bis sie das Haus betreten hatte, bevor er sich wieder in den Wagen setzte und ihn wendete. In der Eingangshalle brannte wie immer nur ein einziges Licht. Sinah wandte sich der Küche zu, um sich ein Glas Milch warm zu machen. Sie hatte die Küchentür schon fast erreicht,
als sie auf der Treppe Schritte hörte. Sie drehte sich um. »Muriel!« rief sie überrascht aus. »Ich habe Sie kommen gehört, Sinah«, sagte die Wirtschafterin mit einem liebenswürdigen Lächeln. Sie trug einen blauen Morgenmantel, der in der Taille durch einen sehr eng geschnürten Gürtel zusammengehalten wurde. Scheinbar sollte es aussehen, als sei sie eben aus dem Bett gekommen, doch dem widersprachen die Seidenstrümpfe, die unter dem Morgenrock hervorschauten, und ihre akkurate Frisur. »War es schön in Canterbury? Ich hatte Sie noch nicht zurückerwartet.« »Sagen Sie nur, Sie konnten meinetwegen nicht schlafen«, erwiderte Sinah. »Das tut mir leid.« »Ich leide zur Zeit sowieso unter Schlaflosigkeit«, erklärte Muriel leichthin. »Passen Sie auf, Sie machen sich jetzt für die Nacht fertig, und ich koche uns beiden noch eine schöne Tasse Schokolade.« »Danke, das wäre sehr lieb von Ihnen«, sagte Sinah. »Es war wunderschön in Canterbury, und erst das Konzert. Die weite Fahrt hat sich auf jeden Fall gelohnt. Mister Dillon hat einen phantastischen Wagen. Man hat überhaupt nicht gemerkt, wie schnell er gefahren ist.« »Deshalb also die frühe Rückkehr«, bemerkte Muriel und ging an Sinah vorbei. »Ich bringe die Schokolade nach oben.« Freundlich nickte sie der Herrin von Manning Hall zu, bevor sie in die Küche trat. Sinah stieg die Treppe hinauf. Unter den Zimmertüren war kein Lichtschein zu entdecken, trotzdem hatte sie das Gefühl, als würden sich in der Bibliothek mehrere Leute aufhalten. Sie hob schon die Hand, um die Türklinke herunterzudrücken; ließ sie aber wieder sinken. Es würde viel besser sein, so zu tun, als sei sie schlafen gegangen. Fast sah es aus, als hätte sie Philip Jensen und seine Komplizen mit ihrer frühen Rückkehr in Schwierigkeiten gebracht.
Die junge Frau hatte sich gerade ausgezogen, als Muriel Howard nach kurzem Anklopfen mit einem Becher heißer Schokolade ins Zimmer kam. Sie stellte ihn auf den Nachttisch. »Ein reizendes Nachthemd haben Sie an, Sinah«, bemerkte sie. »Aus Frankreich?« Sinah nickte. »Ich habe nach meiner Ankunft in London nur wenig eingekauft. Fast alle meine Kleidungsstücke stammen noch aus Frankreich.« Sie griff nach dem Becher und nippte an der Schokolade. »Noch zu heiß, ich werde mit dem Trinken warten, bis sie sich etwas abgekühlt hat.« »Aber nicht zu lange, denn Schokolade schmeckt am besten heiß«, erwiderte Muriel und blickte auf Sinahs rechten Arm. »Sind die Kratzer inzwischen geheilt?« »Fast«, sagte Sinah. »Sie schmerzen jedenfalls nicht mehr.« »Haben Sie Mister Dillon davon erzählt?« Muriel drehte sich zu Kimba um, die sich in ihrem Körbchen aufgerichtet hatte und sie mit zurückgelegten Ohren ansah. »Natürlich nicht«, log die junge Frau. »Er hätte sich nur unnötig aufgeregt und wäre vielleicht auch der Meinung gewesen, Kimba hätte verrückt gespielt.« Sie setzte sich aufs Bett. »Bin ich müde.« »Dann gute Nacht, Sinah, träumen Sie etwas Schönes.« Muriel lächelte ihr zu. »Aber nach so einem wunderbaren Abend, wie Sie ihn erlebt haben, kann man ja nur gut träumen.« Sinah wünschte ihr gleichfalls eine gute Nacht. Sie begleitete die Wirtschafterin zur Tür und schloß hinter ihr ab. Da sie annahm, daß ihre Verwandte noch im Gang stand, schob sie auch den Riegel sehr geräuschvoll vor, dann legte sie den Kopf gegen die Tür. Sie hatte sich also nicht geirrt. Erst jetzt ging Muriel fort. Allerdings nicht in ihr Zimmer, sondern in die andere Richtung.
Sinah kehrte zum Nachttisch zurück. Sie roch an der Schokolade. Ohne Zweifel hatte Muriel etwas in das Getränk gemischt. Der Geruch war kaum wahrzunehmen und doch war da etwas. Sie nahm nicht an, daß man sie vergiften wollte. Aber wahrscheinlich war ein Schlafmittel in der Schokolade. Nun, sie dachte nicht daran, sie zu trinken. Die junge Frau zog sich das Nachthemd über den Kopf und schlüpfte in Trainingshosen und einen dunklen Pullover. Aus ihrem Schrank nahm sie ein Paar weiche Turnschuhe, holte ihre Taschenlampe aus dem Nachttisch und verließ das Zimmer. Sicherheitshalber schloß sie es von außen ab. Die Turnschuhe verhinderten, daß durch ihre Schritte auch nur das geringste Geräusch entstand. Vorsichtig schlich Sinah sich zur Galerie und spähte nach unten. Alles schien ruhig zu sein. Sie war eben auf der Treppe, als im ersten Stock die Bibliothekstür geöffnet wurde. »Sieht aus, als würden wir völlig umsonst warten, Philip«, sagte Arthur Summer. »Wir schlagen uns für nichts und wieder nichts die! Nacht um die Ohren.« »Auf Mark ist Verlaß«, antwortete der Verwalter. »Er wird aufgehalten worden sein.« »Seien wir dankbar, daß er und Miß Manning nicht zusammen eingetroffen sind«, meinte Muriel. »Es ist jetzt alles so schwierig geworden. Na ja, jetzt schläft sie, und ich habe dafür gesorgt, daß sie nicht vor morgen früh aufwacht.« »Das beste wäre, sie würde nach Frankreich zurückkehren und Philip die Verwaltung von Manning Hall überlassen«, sagte eine andere Stimme. Sinah wußte, wem sie gehörte. Nie hatte sie damit gerechnet, daß auch Mrs. Jones, die alte Köchin, an dem, was in Manning Hall geschah, beteiligt sein könnte. Sie hatte sich von dem offenen, stets freundlichen Gesicht der Frau täuschen lassen.
»Jetzt, da sie diesen Dillon kennengelernt hat, wird sie sicher nicht nach Frankreich zurückkehren«, meldete sich wieder der Verwalter zu Wort. »Wenn sie mit ihm in London leben würde, wäre das Ganze kein Problem mehr, aber er ist Schriftsteller und braucht nicht unbedingt die Stadt. Stellt euch vor, sie heiraten und er zieht hierher. Wenn ich nur wüßte, was wir tun sollen. Wie wir uns auch drehen und wenden… Es ist zum Verrückt werden.« »Ich war gleich dafür, die Sache ein für allemal zu lösen«, meldete sich der Butler grob zu Wort. »Wieso all diesen Firlefanz? Der Besitz kann nur an einen Nachkommen der Mannings vererbt werden. Es wäre also die beste Lösung…« »Manchmal hast du ein Brett vor dem Kopf, Arthur«, sagte Muriel wütend. »Noch einen Toten können wir uns im Moment nicht leisten. Später…« »Psst!« machte Mrs. Jones. »Ich glaube, ich hab’ was gehört.« Auch Sinah hatte es gehört. Es klang, als würde ein Wagen die Auffahrt entlangfahren. Sie trat von der Galerie noch ein weiteres Stück zurück. Die vier Menschen, die sich unten im ersten Stock unterhalten hatten, stiegen nacheinander die Treppe hinunter. Sie gaben sich nicht die geringste Mühe, leise zu sein. Die junge Frau wartete, bis sie das Haus verlassen hatten, dann huschte sie in den ersten Stock hinunter und öffnete sehr leise die Pforte zum Hauptturm. Eilig stieg sie im Dunkeln die Treppen hinauf. Völlig außer Atem kam sie vor der Falltür an. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie die Tür. Sie wollte sie festhalten, aber ihre Hände rutschten ab und die Falltür schlug mit einem häßlichen Krachen auf dem Söller auf. Mit angehaltenem Atem blieb Sinah stehen. Erst nach einigen bangen Sekunden wagte sie es, auf den Söller hinauszusteigen. Leise huschte sie zur Brüstung und spähte nach unten. Sie
wunderte sich ziemlich, daß das Krachen keiner gehört zu haben schien, aber wahrscheinlich waren die sechs Leute, die unten um einen Kombiwagen standen, zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Der Verwalter und ein Mann, den Sinah noch nie zuvor gesehen hatte, hoben eine längliche Kiste aus dem Gepäckraum des Wagens. Sie trugen sie ins Haus. Arthur und ein weiterer Mann folgten ihnen mit einem ähnlichen Behältnis. Jetzt standen nur noch die beiden Frauen am Wagen. Muriel Howard hob den Kopf. Sinah stolperte zurück, fiel und schlug sich dabei den Ellbogen auf. Gerade noch im letzten Augenblick konnte sie einen Aufschrei unterdrücken. Unten wurde eine Wagentür zugeschlagen, gleich darauf erlosch die Lampe, die über dem Hauptportal angebracht war. Sinah schlich sich erneut zur Brüstung, aber sie konnte nur noch den Wagen im Mondlicht stehen sehen. Sehr leise stieg sie wieder die Turmtreppe hinunter. Die Falltür hatte sie offengelassen. Sie wollte nicht riskieren, daß sie ihr noch einmal aus der Hand rutschte. Es war schwierig, im Dunkeln die Stufen zu finden. Sie wagte es nicht, die Taschenlampe einzuschalten, weil sie befürchtete, daß der Lichtschein durch die winzigen Fenster nach draußen dringen würde. Es dauerte nur knapp zehn Minuten, bis sie wieder den ersten Stock erreicht hatte, ihr war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sie öffnete die Tür einen Spalt. Alles schien ruhig zu sein. Rasch schlüpfte sie nach draußen. Nicht zum ersten Mal war sie für die schwache Beleuchtung innerhalb des Hauses dankbar. Sinah wollte über die Galerie huschen. Mitten im Schritt blieb sie stehen und starrte die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Seitlich von ihr gab es einen schmalen hohen
Lichtschein. Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann machte sie sich auf den Weg nach unten. Der Lichtschein kam aus einer Öffnung, die in die Holztäfelung der Wand eingelassen war. Endlich hatte sie die Geheimtür gefunden, nach der sie schon so lange gesucht hatte. Schon streckte sie die Hand aus, um sie ein Stückchen weiter zu öffnen, da hörte sie Philips Stimme. Sie schaffte es gerade noch, wieder die Treppe hinaufzulaufen. Begleitet von einem der Fremden, kam er aus der Tür und ging zum Portal. Kaum war Sinah allein im Treppenhaus, stieg sie die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Tief in Gedanken schlug sie den Weg zu ihrem alten Zimmer ein und öffnete die Tür. Fassungslos starrte sie in die Dunkelheit. Der ganze Raum war von einem leisen, auf- und abschwellenden schleifenden Geräusch erfüllt. Es war dasselbe Geräusch, daß sie auch in ihrer ersten Nacht auf Manning Hall gehört hatte.
*
Sinah Manning erwachte erst am späten Vormittag. Wider Erwarten hatte sie sehr gut geschlafen und auch keine Alpträume gehabt. Die Katze, die endlich nach draußen wollte, sprang auf ihr Bett und stieß sie energisch mit dem Mäulchen an. »Bin ja schon wach, Kimba«, sagte Sinah. Sie drängte die Katze beiseite und stand auf. Barfuß lief sie zur Tür, entriegelte sie und schloß auf. »Laß dir was Feines zum Fressen geben«, forderte sie Kimba auf, die wie ein Pfeil in den Gang schoß. Sicher hatte Mrs. Jones bereits das Futter für Kimba bereitgestellt und war jetzt dabei, die Vorbereitungen für das
Mittagessen zu treffen, wie es sich für eine ordentliche Köchin gehörte. Jahrelang hatte sie schon unter ihrem Onkel gedient. Sinah fragte sich, wie sie dazu gekommen war, sich Mrs. Howard und Philip Jensen anzuschließen. Arthur Summer lebte erst seit fünf Jahren auf Manning Hall. Ihr Onkel hatte ihn eingestellt, nachdem sein früherer Butler zu alt gewesen war, um seinen Aufgaben noch nachkommen zu können. Wahrscheinlich war Arthur ihm von Philip empfohlen worden. Sinah ging ins Bad. Gleich nach dem Frühstück wollte sie zu Robin Dillon reiten. Er mußte so schnell wie möglich erfahren, was sie in der Nacht herausgefunden hatte. Sie überlegte, was in den Kisten, die aus dem Kombiwagen ausgeladen worden waren, sein könnte. Zu gern hätte sie es auf der Stelle herausgefunden, aber sie wußte selbst, daß das zu gefährlich wäre. Muriel Howard wirkte nicht sehr ausgeschlafen, als sie ihr in der Halle begegnete. »Ich glaube, ich brauche nicht fragen, wohin Sie unterwegs sind, Sinah«, sagte sie. »Zu Mister Dillon, stimmt es?« »Ja, wir haben uns für heute morgen miteinander verabredet«, log Sinah. »Eigentlich wollten wir zusammen frühstücken, doch ich habe verschlafen.« »Er wird Ihnen sicher nicht böse sein«, meinte die Wirtschafterin. »Sind Sie zum Lunch zurück?« »Das kann ich noch nicht sagen.« Die junge Frau hob die Schultern. »Falls nicht, rufe ich an«, versprach sie. »Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« Muriel öffnete für ihre Verwandte das Portal und ließ sie an sich vorbeigehen. »Einen schönen Ritt.« Julia wieherte freudig auf, als Sinah an ihre Box trat. Begierig fraß sie die Möhre und die Schwarzbrotstückchen, die sie ihr reichte. Owen Barry brachte ihr eine Decke und den Sattel. Er wies zum strahlendblauen Himmel hinauf. »Sieht
aus, als würde jetzt endlich der Sommer kommen, Miß Manning«, meinte er. »Wir haben ja auch lange genug gewartet.« Sinah schenkte ihm ein Lächeln. Sie mochte den Stallmeister genauso wie den alten James und dessen übrige Söhne. Ganz sicher hatte er nichts mit den Vorkommnissen auf Manning Hall zu tun. Als sie aus dem Hof hinausritt, bemerkte sie Liz. Sie schien auf dem Weg zum Büro zu sein. Es war nicht das erste Mal, daß Sinah sie bei den Stallungen erwischte. Sie nahm an, daß das Mädchen in einen der jungen Burschen verliebt war, die Owen Barry zur Hand gingen. Trotz der schweren Gedanken, die sie quälten, genoß die junge Frau den Ritt zum Judge-House in vollen Zügen. Es war wirklich ein herrlicher Tag, wie geschaffen, irgendwo ein Picknick zu machen. Heiß brannte die Sonne auf ihre rotbraunen Haare hinunter. Sinah machte Julia vor dem Judge-House fest. Sie wollte sich eben der Haustür zuwenden, als Mrs. Winter hinaustrat. »Guten Morgen, Miß Manning«, sagte sie freundlich. »Ich nehme an, Sie wollen Doktor Dillon besuchen. Er ist nicht da.« »Nicht da?« Über Sinahs Gesicht legte sich ein Schatten. »Doktor Walkers hat ihn angerufen. Das ist der Kollege, der während Doktor Dillons Abwesenheit die Praxis betreut. Eine Patientin, die Doktor Dillon schon seit Jahren behandelt, ist schwer krank geworden und müßte sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mrs. Folett ist eine alte Dame und ziemlich eigensinnig. Sie will erst ins Krankenhaus gehen, wenn auch Doktor Dillon es für notwendig hält.« Sie lächelte Sinah zu. »Sie kennen ja meinen Chef inzwischen. Er brachte es nicht fertig, nein zu sagen.« »Das kann ich sehr gut verstehen«, meinte die junge Frau. »Schade, ich hätte etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen gehabt. Es handelt sich um diese Sache auf Manning Hall.«
Die Haushälterin sah sie lange an. »Haben Sie etwas herausgefunden?« Sinah nickte. »Wann erwarten Sie Doktor Dillon zurück?« »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, aber ich nehme an, daß er mich im Laufe des Tages sicher anruft.« Mrs. Winter griff nach Sinahs Hand. »Bitte, versprechen Sie mir, nichts ohne Doktor Dillon zu tun.« Über ihre Köpfe brauste ein Düsenjäger hinweg. Erschrocken waren die beiden Frauen zusammengezuckt. Julia stellte sich entsetzt wiehernd auf die Hinterbeine. Sinah brauchte ein Weilchen, die Stute wieder zu beruhigen. Es enthob sie einer Antwort. »Immer diese Düsenjäger«, schimpfte Mrs. Winter. »Eines steht fest, mich würde kein Mensch jemals in ein Flugzeug bekommen.« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Bin ich heute unhöflich, Miß Manning, bitte entschuldigen Sie. Ich habe Sie noch nicht einmal aufgefordert, hineinzukommen und eine Tasse Tee zu trinken. Ich habe gestern Erdbeerkuchen gebacken. Möchten Sie nicht ein Stückchen probieren?« »Da sage ich nicht nein«, erwiderte Sinah. »Vor dem Lunch werde ich sowieso nicht auf Manning Hall erwartet.« Sie machte die Stute los. »Ich bringe sie nur zu Willard in den Stall.« Liebevoll tätschelte sie Julias Hals. »Komm, meine Gute, besuchen wir deinen Freund.« »Und ich setze inzwischen das Teewasser auf«, sagte Mrs. Winter eifrig. Zufrieden mit sich und der Welt verschwand sie im Haus. Sinah hörte sie vor sich hinsummen, als sie etwas später am offenen Küchenfenster vorbeiging. Solange sie für andere sorgen konnte, war Mrs. Winter anscheinend durch nichts zu erschüttern.
*
»Kimba, ich wünschte, du könntest mir einen Rat geben«, sagte Sinah Manning zu ihrer Katze. Sie saß am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Das Tier hatte es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht. Jetzt blinzelte sie und hob die Öhrchen, um gleich darauf den Kopf zwischen den Pfoten zu verstecken. Leise schnurrte sie vor sich hin. »Was anderes kannst du nicht, als fressen und schlafen«, beklagte sich die junge Frau, während sie automatisch die Katze kraulte. »Zu was habe ich dir denn ein Zuhause gegeben, wenn du nicht einmal bereit bist, mir zu sagen, was ich tun soll?« Sie stand auf und setzte sie Katze vorsichtig auf ihrem Bett ab. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab. Wie jeden Abend hatte sie das Dinner mit Muriel Howard und Philip Jensen eingenommen. Arthur Summer hatte sie perfekt wie immer bedient. Das Tischgespräch hatte sich hauptsächlich um Canterbury und das gestrige Konzert gedreht. Trotzdem hatte sie das Gefühl gehabt, als könnte sie die Spannung, die im Eßzimmer zu liegen schien, regelrecht greifen. Sie war felsenfest davon überzeugt, daß der Verwalter und seine Leute nur darauf warteten, bis sie zu Bett gegangen war. »Zu dumm, daß Robin erst morgen abend aus London zurückkommen wird«, sagte sie vor sich hin und wandte sich wieder dem Fenster zu. Mrs. Winter hatte sie am Nachmittag angerufen, um es ihr zu sagen. Sie hatte eine Andeutung gemacht, daß Doktor Dillon durch Zufall auf eine Spur gekommen sei, die Erfolg versprach. »Wiegen wir sie in Sicherheit, Kimba«, meinte sie und begann, sich auszukleiden. Muriel sollte denken, sie sei völlig ahnungslos, wenn sie nachher kam, um ihr, wie angekündigt,
heiße Schokolade zu bringen. Ganz sicher würde das Getränk wieder ein Schlafmittel enthalten. Die Wirtschafterin ließ nicht lange auf sich warten. Sie stellte den Becher auf den Nachttisch. »Ich werde auch gleich zu Bett gehen«, meinte sie. »Ich weiß nicht, von was ich so müde bin. Vielleicht das Wetter.« »Danke für die Schokolade«, sagte Sinah. »Die gestern hat einfach köstlich geschmeckt.« »Das freut mich.« Mrs. Howard lächelte. »Dann bleibt mir nichts anderes, als Ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Ich glaube, es war richtig, Sie aus dem anderen Zimmer auszuquartieren. Sie sehen jetzt viel wohler aus.« Sie ging zur Tür. »Schlafen Sie gut, Muriel!« rief ihr Sinah nach. Kaum war sie allein, griff sie nach dem Becher. Das heiße Getränk roch genauso seltsam wie in der vergangenen Nacht. Sie trug es ins angrenzende Bad und leerte es im Waschbecken aus. Sorgfältig beseitigte sie hinterher die Spuren, indem sie kaltes Wasser nachlaufen ließ. Sinah wartete knapp eine Stunde, bevor sie sich Trainingshosen und einen Pullover anzog. Nachdem sie die Taschenlampe an ihren Gürtel gehängt hatte, wollte sie schon das Zimmer verlassen, da fiel ihr ein, daß es vielleicht besser war, eine Waffe mitzunehmen. Nachdenklich blickte sie sich um. Hier im Raum gab es nichts, was sie im Notfall benutzen könnte, um sich zu verteidigen. Sehr leise schlich sich die junge Frau wenig später durch den Gang auf die Galerie hinaus. Im Haus war es völlig ruhig. Dem äußeren Anschein nach schien alles zu schlafen. Aber Sinah ließ sich davon nicht täuschen. Darauf bedacht, jegliches Geräusch zu vermeiden, stieg sie die Treppen hinunter. Die Geheimtür war geschlossen. Sie hatte damit gerechnet. Es wäre Leichtsinn gewesen, nach dem Mechanismus zu
suchen, der sie ihr öffnete, deshalb wandte sich die junge Erbin der Tür zu, die in die ehemaligen Gesinderäume und einen Teil des Kellers führte. Ihre Hand griff bereits zur Klinke, da dachte sie an die Küche und all die Messer, die dort wohlgeordnet an der Wand hingen. Nie zuvor war ihr die Küche so riesig vorgekommen, wie jetzt in der Dunkelheit. Sinah ließ den Strahl ihrer Taschenlampe durch den Raum wandern. Vorsichtig umging sie Tische und Stühle, dann erfaßte der Lichtschein die Messerleiste. Sorgfältig wählte sie eines der scharfen Fleischmesser aus. Es war zu groß, um es in die Hosentasche zu stecken, deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als es in der Hand zu halten. Die Räume, die früher dem Personal vorbehalten gewesen waren, wirkten im Dunkeln wie ein einziges Labyrinth. Trotz des warmen Pullovers fror sie, aber es war nicht die Kälte, sondern die Angst, die ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Als sie bei einer verschlossenen Tür angekommen war, überlegte sie, ob sie nicht doch besser umkehren sollte. Dann schalt sie sich in Gedanken einen Feigling, steckte den passenden Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Leise öffnete sie die Tür, ließ sie aber sofort wieder zugleiten, als sie den Lichtschein bemerkte, der den Raum auf der anderen Seite erhellte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie war sich klar, daß sie jetzt noch vorsichtiger als bisher sein mußte. Ihre Angst niederkämpfend, öffnete sie erneut die Tür und schlüpfte hindurch. Sinah befand sich in einem fast viereckigen Raum, der mit alten Möbeln vollgestellt war. Der Lichtschein drang durch ein rechteckiges Fenster, das auf einen schmalen, beleuchteten Gang hinausging. Sie war sich sicher, daß er an der Geheimtür begann.
Noch konnte sie umkehren, aber nun hatte sie endgültig das Jagdfieber gepackt. Sie wollte herausfinden, wohin der Gang führte. Kurzentschlossen öffnete sie die Tür neben dem Fenster, blickte in beide Richtungen und trat nach draußen. Der Gang fiel leicht ab. Sinah war froh, daß sie durch ihre Turnschuhe lautlos auftreten konnte. Immer wieder sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, weil sie befürchtete, daß jemand ihr entgegenkommen könnte, aber es gab keine. Plötzlich blieb sie stehen. Sie war um eine Ecke gebogen. Ganz deutlich hörte sie von fern dasselbe Geräusch, daß sie auch in der vergangenen Nacht in ihrem alten Zimmer wieder wahrgenommen hatte. Der Gang endete vor einem Mauerdurchbruch. Sinah trat gebückt hindurch und befand sich in einem sehr keinen Kellergewölbe, dessen Wände schwarz ausgemalt waren. Auf einem niedrigen Regal stand eine Lampe. Einige Zentimeter von ihr entfernt gab es einen weiteren Mauerdurchbruch. Aber der interessierte die junge Frau im Augenblick nicht. Wie gebannt starrte sie auf die schwarzbemalte Tür auf der anderen Seite des Raumes. Auch ohne daß es ihr jemand gesagt hätte, wußte sie, wo sie sich befand. Dies war der Ort, auf dem sich der Scheiterhaufen für Emmy Russel erhoben hatte. Sie spürte, wie sich in ihr jede Nervenfaser aufzurichten begann. Sinah preßte die Finger so fest zusammen, daß sie schmerzten. Es half den Bann, der sich um sie zu legen schien, zu lösen. Eilig durchquerte sie den Raum und kroch durch den zweiten Mauerdurchbruch. Das Geräusch wurde lauter und lauter. Wie in ihrem ehemaligen Zimmer schwoll es an und ebbte wieder ab. Das Messer in der Rechten, brauchte ihm Sinah nur zu folgen. »Wohin so eilig?« Bevor die junge Frau auch nur reagieren konnte, hatte sich ihr von hinten ein starker Arm um die Brust gelegt. Sie versuchte,
dagegen anzukämpfen und das Messer hochzubringen, aber sie schaffte es nicht. Sehnige Finger wanden es ihr aus der Hand. Scheppernd schlug es auf den Boden auf. »Es sieht aus, als hätten Sie sich in der Küche bedient, Miß Manning.« Der Butler lachte. »Kommen Sie, ich möchte meinen Fang den anderen vorstellen.« Obwohl sich die junge Frau mit Händen und Füßen wehrte, schleppte er sie durch eine der nächsten Türen. »Wir haben Besuch!« rief er dröhnend in den Lärm der Schleifmaschine hinein, die von Philip Jensen und Muriel Howard bedient wurde. Mrs. Jones, die mit dem Gesicht zur Tür an einem Tisch saß und kleine, glänzende Gegenstände polierte, hob den Kopf. »Ach, du meine Güte!« Kopfschüttelnd sah sie Sinah an. Der Verwalter schaltete die Maschine aus. Steifbeinig ging er auf die junge Frau zu. »Laß sie los, Arthur!« befahl er und ergriff sie selbst beim Arm. »Darf ich fragen, was Sie hier unten zu suchen haben, Miß Manning?« stieß er wütend hervor. In Sinah erwachte der Trotz. »Schließlich ist das hier mein Grund und Boden. Ich habe sehr wohl ein Recht, mich auf meinem Besitz frei zu bewegen.« »Ihr Besitz!« Muriel Howard sprang auf. »Was haben Sie schon dafür getan? Mir müßte Manning Hall gehören, mir allein, aber mir war sofort klar, als mich Ihr Onkel hierherholte, daß ich mir da gar keine Illusionen zu machen brauchte.« »Und deshalb hatte ich es ja auch sehr leicht, dich für mein kleines Unternehmen zu gewinnen, liebste Muriel«, bemerkte Philip Jensen. »Was… was tun Sie hier überhaupt?« fragte Sinah. Sie versuchte erst gar nicht, sich aus Philips Griff zu winden. Er hielt sie wie in einem Schraubstock fest.
»Was wir hier tun?« fragte die Wirtschafterin höhnisch. »Wir schleifen gestohlene Diamanten um. Im übrigen ein ziemlich einträgliches Unternehmen. Gestern haben wir eine neue Lieferung bekommen.« »Deshalb mußte ich umziehen«, sagte Sinah tonlos, während sie ihren Blick durch den Raum gleiten ließ. Er war mit mehreren Lampen geradezu strahlendhell beleuchtet. In der Mitte stand die Schleifmaschine. Auf einer Bank bemerkte sie einige Kisten. Neben einer lagen Goldfassungen. Zwischen ihnen stand etwas, das wie ein Kelch aussah. Er mußte einmal sehr kostbar gewesen sein, doch jetzt gähnten, wo früher Diamanten in ihn eingelassen waren, nur leere Höhlen. »Wir hatten Sie ausgerechnet in dem einzigen Raum untergebracht, in dem das Geräusch der Schleifmaschine zu hören war«, erklärte Philip mit einer Bereitwilligkeit, die Sinah eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er wies zu einer Kaminöffnung. »Dadurch wurde es übertragen.« »Es war übrigens nicht das erste Mal, daß uns der Geist der armen Emmy Russell zu Hilfe kam«, bemerkte Muriel. »Sie werden noch feststellen, daß die gute Emmy Russell sehr gefällig sein kann. Allerdings nur zu Leuten, die sie zu schätzen wissen.« »Was haben Sie mit mir vor?« fragte Sinah tonlos. »Emmy Russell wird sich um Sie kümmern, verlassen Sie sich darauf«, erwiderte Arthur Summer. Er wandte sich an die anderen: »Und jetzt sollten wir weitermachen.« Philip Jensen nickte. »Ich will nur unseren Ehrengast erst in seine Gemächer geleiten«, sagte er. »Kommen Sie, Miß Manning!« »Nein!« Sinah stemmte die Füße in den Boden. »Wenn Sie mir etwas tun, fliegt das Ganze hier auf, dessen dürfen Sie sich sicher sein. Sie können mich nicht einfach verschwinden lassen.«
»Wer spricht denn davon, Miß Manning?« fragte Philip lachend. »Sie werden ganz bestimmt wieder auftauchen. Ich nehme an, Mister Dillon wird ein paar rührende Worte an Ihrem Grab finden.« Er faßte sie einfach unter und hob sie hoch. »Muriel, komm mit!« Sinah sah ein, daß es im Augenblick keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Als sei sie leicht wie eine Feder, trug sie der Verwalter durch den Gang. Kurz vor dem Mauerdurchbruch stellte er sie zu Boden. Muriel kletterte als erste hindurch. Der Verwalter schob Sinah ihr entgegen und folgte dann. »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, dies ist der Platz, von dem aus die gute Emmy Russell zur Hölle fuhr«, erzählte Muriel. »Es heißt, Mary Manning hielt hier mit ihrer Tochter Emmy lange Sitzungen ab, bei denen der Geist der Ahnin beschworen wurde. Und sie ist immer noch hier, spüren Sie es?« »Beeil dich, Muriel, wir haben noch was anderes vor«, drängte Philip. Er zog Sinah zu der Wand, die gegenüber der Tür lag. Muriel griff in ein Regal. Wie von Geisterhand schwang ein anderes beiseite. »Wir sind gleich da, Miß Manning.« Der Verwalter schob Sinah weiter. Überrascht stellte sie fest, daß sie sich jetzt in einem Teil des Weinkellers befanden. An riesigen Fässern vorbei wurde sie zu einem kleinen Gelaß gezerrt, dessen Tür offen stand. Muriel trat beiseite und ließ ihren Freund mit Sinah vorausgehen. »Da wären wir also, Miß Manning«, sagte Philip Jensen. »Dies ist Ihr neues Domizil, Sinah«, meinte Muriel höhnisch. »Es wird nicht ganz Ihren Ansprüchen genügen, aber beruhigen Sie sich, es ist nicht für lange. Emmy Russell wird schon dafür sorgen, daß Sie hier nicht alt und grau werden.« »Sie glauben doch nicht, daß Sie damit durchkommen«, sagte Sinah, der Verzweiflung nahe.
»Meine liebe Miß Manning, wir werden es«, erklärte Philip. Er stieß sie in eine Ecke des kleinen Raumes, dann schob er Muriel nach draußen und folgte ihr. Sinah sprang auf und rannte zur Tür, doch sie war bereits hinter dem Verwalter zugefallen. Sie hörte, wie er von außen einen schweren Riegel vorschob. Verzweifelt schlug sie mit den Fäusten gegen das grobe Holz. »Sie sollten sich nicht überanstrengen!« rief Philip durch die geschlossene Tür. »Und sparen Sie sich Ihre Stimme, es würde Sie doch niemand hören.« Sinah ließ die Arme sinken. Sie wankte zu der Pritsche, die im hintersten Winkel des kleinen Raumes stand, und sank auf ihr zusammen. Sie vermutete, daß auch Deborah Colman die letzten Stunden ihres Lebens hier verbracht hatte. Aufschluchzend verbarg sie das Gesicht in den Händen. Philip Jensen hatte recht, ihre Lage war aussichtslos. Robin würde erst am folgenden Abend nach Dartmoor zurückkehren, zu spät, um sie noch zu retten.
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Nur zäh strichen die Stunden dahin. Sinah Manning war froh, daß es keinem aufgefallen war, ihr die Taschenlampe fortzunehmen, so hatte sie wenigstens ab und zu Licht. Sie wagte es nicht, die Lampe die ganze Zeit über brennen zu lassen, weil sie befürchtete, daß sich die Batterie erschöpfen würde. Draußen mußte längst der Tag angebrochen sein. Stundenlang hatte sie darüber nachgegrübelt, ob es für sie nicht doch einen Fluchtweg geben könnte. Sie hatte die Wände abgeklopft, versucht, die Tür zu öffnen, alles vergebens. Das
einzige, was ihr die sinnlosen Versuche eingetragen hatten, waren aufgeschürfte Knöchel und abgebrochene Nägel. Für kurze Zeit war sie in einen unruhigen Schlummer gefallen, aus dem sie aber mehrmals aufgeschreckt war. Ängstlich lauschte sie auf jedes Geräusch. Sie begriff nicht, was Muriel damit gemeint hatte, daß Emmy Russell sich ihrer annehmen würde. Ein Geist der Emmy Russell existierte nicht. Doch sie fühlte, daß Muriel ihre Worte nicht in den luftleeren Raum gesprochen hatte. Hinter ihnen steckte eine schreckliche Drohung. Stunde um Stunde verrann, ohne daß ihre Kerkermeister nach ihr sahen. Sinah dachte an die drei Hausmädchen, die sicher bereits ihren Dienst angetreten hatten. Ob man ihnen erzählte, sie sei zu einem Ausflug ins Moor aufgebrochen? Und plötzlich fiel ihr Kimba ein. Sie glaubte jetzt zu wissen, warum die Katze immer einen so großen Bogen um die Wirtschafterin machte. Sicher war es Muriel gewesen, die sie in den Käfig gesteckt und an das Pförtnerhäuschen gehängt hatte. Sie sollte die Katze finden und aufnehmen. Wahrscheinlich hatte ihre Verwandte geglaubt, dies würde den Spuk auf Manning Hall nur noch untermauern. Hunger verspürte Sinah nicht, doch je weiter der Tag fortschritt, um so stärker wurde ihr Durst. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Vor ihren Augen tauchte eine Flasche Mineralwasser auf. Automatisch hob sie die Hand und griff dann ins Leere. Ob man sie verhungern und verdursten lassen wollte? War das mit der Emmy Russell gemeint gewesen? Die junge Erbin sprang entsetzt auf. Alles war besser, als ohne Wasser und Essen bis ans Ende ihrer Tage in diesem Raum gefangengehalten zu werden. Nein, das konnten sie nicht riskieren. Robin würde jeden Stein umdrehen, um sie zu finden. Aber wer sollte sie schon
hier finden? Erd- und Kellergeschoß dieses Hauses waren so verwinkelt, daß man ganz Manning Hall würde abtragen müssen, um auch wirklich jeden einzelnen Raum zu entdecken. Und doch war das Risiko für Philip Jensen und seine Komplizen zu groß. Der Verwalter hatte davon gesprochen, daß Robin an ihrem Grab stehen würde, also konnten sie nicht den Hungertod für sie geplant haben. Plötzlich wurde Sinah so schläfrig, daß sie sich nicht länger wachhalten konnte. Sie legte sich zurück und rollte sich wie eine Katze zusammen. Wieder fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Die junge Frau erwachte von einem unbestimmten Geräusch. Abrupt richtete sie sich auf. »Wer… wer ist da?« fragte sie mit zittriger Stimme. Sie griff nach ihrer Taschenlampe und schaltete sie ein. Im Lichtschein bemerkte sie, daß die Tür einen Spalt offen stand. »Bleiben Sie sitzen, Miß Manning!« rief Mrs. Jones drohend. »Ich habe eine Pistole in der Hand und ich würde sie auch benutzen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen Brot, ein Hühnerbein und eine Flasche Wasser zu bringen.« »Warum?« fragte Sinah, während sie überlegte, ob sie trotz der Pistole Mrs. Jones nicht überwältigen konnte. »Weil ich Mitleid mit Ihnen habe«, erwiderte die Köchin. »Es tut mir leid, daß Sie sterben müssen. Aber warum mußten Sie auch so neugierig sein? Der armen Miß Colman habe ich auch eine letzte Mahlzeit gebracht.« »War das die tote Journalistin?« fragte Sinah, um Zeit zu gewinnen. »Leben Sie wohl, Miß Manning!« Mit einem heftigen Ruck zog Mrs. Jones die Tür zu. Die junge Frau lehnte sich gegen die feuchte Wand. Die Köchin gab sich keine Mühe, leise zu sein. Trotz der dicken Eichentür konnte die junge Frau ganz deutlich ihre schweren
Schritte auf den Steinen des Kellerbodens hören. Es war zum… Sinah runzelte die Stirn. Die Schritte hörte sie, aber sie hatte nicht gehört, wie die Köchin den Riegel vor die Tür geschoben hatte. Sinah sprang auf. Am liebsten wäre sie sofort zur Tür gerannt, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Sie wartete, bis die Schritte der Köchin völlig verklungen waren, bevor sie sehr leise zur Tür ging. Der Schein ihrer Taschenlampe fiel auf einen gefüllten Teller und die Wasserflasche. Trotz ihres Durstes hatte sie jetzt keinen Blick dafür. Sinah faßte in den Griff, der innen in der Tür eingelassen war. Sie hielt den Atem an, als sie an ihr zog. Mühelos ließ sie sich öffnen. Vor Erleichterung hätte sie am liebsten aufgeweint. Die junge Frau bückte sich nach der Wasserflasche. Jetzt hatte sie keine Zeit mehr zum Trinken. Erst wollte sie sich in Sicherheit bringen. Auch wenn sie jetzt frei war, sie wußte genau, solange sie Manning Hall nicht hinter sich gelassen hatte, war ihr Leben in Gefahr. Die Erbin kannte sich in dem alten Weinkeller nicht gut aus, sie war erst ein einziges Mal hier unten gewesen. Sie wagte es auch nicht, mehr als immer nur sekundenlang die Taschenlampe einzuschalten. Dadurch kam sie nur langsam vorwärts. Trotzdem gelang es ihr, die einzelnen Gewölbe zu durchqueren. Dann versperrte ihr eine geschlossene Tür den Weg. Verzweifelt ließ sie sich gegen das Holz sinken. Es dauerte einen Augenblick, bis sie an die Kellerschlüssel dachte, die noch immer in ihren Hosentaschen steckten. So schlau Philip Jensen auch alles eingefädelt zu haben schien, er hatte sie nach ihrer Gefangennahme nicht untersucht. Sie zog die Schlüssel hervor und probierte einen nach dem anderen aus.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis Sinah die Treppe erreicht hatte, die vom Keller aus in den hinteren Teil des Parks führte. Endlich hatte die junge Frau auch sie überwunden. Überrascht stellte sie fest, daß der Tag bereits vergangen war. Hoch oben am nachtblauen Himmel stand der Mond. Sinah schlich sich gebückt durch den Park. Es hatte keinen Sinn, sich nach Manning Hall zu wenden, auch wenn der Weg nicht so weit sein würde wie zum Judge-House. Woher sollte sie wissen, ob Philip Jensen nicht auch unter den Landarbeitern Komplizen hatte. Es schien am Tag geregnet zu haben. Der Boden war völlig aufgeweicht. Ihre Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt. Zu dumm, daß sie nicht in ihr Zimmer hatte hinauflaufen können, um sich andere Schuhe anzuziehen. Doch das wäre zu gefährlich gewesen. Zwanzig Minuten später hatte Sinah die Straße erreicht, die durch die Hügel hindurch zum Judge-House führte. Jetzt erst machte sie eine Pause. Gierig leerte sie die Wasserflasche. Ihr Hals war völlig ausgedörrt gewesen. Sie warf die leere Flasche in ein Gebüsch, bevor sie sich auf den Weg machte. Die junge Frau war etwa fünf Minuten gelaufen, als plötzlich die Luft um sie hemm von einem entsetzlichen Fauchen erfüllt schien. Sie wandte sich um. Fassungslos starrte sie zum Himmel hinauf. Deutlich sah sie riesige bernsteinfarbene Augen, die auf sie zuschwebten. Sinah begann zu rennen. Hin und wieder blickte sie sich um. Die Augen und das Fauchen kamen immer näher. In ihrer Angst verließ sie die Straße, um eine Abkürzung durch das Moor zu nehmen. Sie hatte keine Zeit, daran zu denken, wie gefährlich es war, so ins Moorgebiet hineinzulaufen. Sie wollte nur den Augen entkommen. Mit jedem Schritt versank die junge Frau tiefer im Schlamm. Verzweifelt bemühte sie sich, den richtigen Weg zu finden. Sie
stolperte und stürzte hin. Trotz der Schmerzen im rechten Knöchel rappelte sie sich auf und lief weiter. Jede Wurzel, jeder Busch schien ihr ein Bein zu stellen. Noch immer wurde sie vom Fauchen und den Augen verfolgt. Jetzt wußte sie, was Muriel Howard mit der Hilfe von Emmy Russell gemeint hatte. Sie weigerte sich, an einen Spuk zu glauben, aber etwas anderes kam kaum in Frage. Der Mond verschwand hinter den Bäumen. Wasser umspülte ihre Füße. Blindlings hastete sie weiter, jeden Moment gewärtig, daß ihr von messerscharfen Krallen der Rücken aufgerissen wurde. Wieder stolperte sie. Ihre Arme versanken bis zu den Ellbogen im Schlamm. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich zu befreien. »Sinah!… Sinah!« Die junge Frau blieb stehen. »Robin«, flüsterte sie ungläubig. Sie drehte sich in die Richtung, aus der sie die Stimme hatte rufen hören. »Sinah!« klang es erneut durch das ohrenbetäubende Fauchen. »Robin!« schrie die junge Frau auf und sah den Lichtschein, der zwischen den Büschen tanzte. »Robin, hier bin ich! Robin!« Die bernsteinfarbenen Augen hatten sie eingeholt. Sie schwebten jetzt direkt über ihr. Zwei Männer kamen mit großen Lampen auf sie zu. Einer von ihnen war Dr. Dillon, der andere ein Polizist. Sinah brach bewußtlos zu ihren Füßen zusammen. Sie spürte nicht, wie sie aufgehoben und von Robin zur Landstraße zurückgetragen wurde. Ihre Taschenlampe blieb im Moor zurück und versank langsam im Schlamm.
*
Sinah Manning erwachte von einem fordernden Miau. Eine weiche Pfote strich über ihren Arm, gleich darauf spürte sie Kimbas rauhe Zunge. »Kimba«, flüsterte sie und drehte den Kopf zur anderen Seite. »Kimba, komm, dein Frauchen will noch schlafen«, sagte Robin Dillon. »Robin?« fragte Sinah, ohne die Augen zu öffnen. »Ja, Darling, ich bin es!« Der Arzt setzte sich auf ihr Bett. Die junge Frau schlug die Augen auf. Sie blickte in sein über sie gebeugtes Gesicht. »Träume ich, oder bin ich wirklich bei dir?« fragte sie leise. »Es ist kein Traum, Darling«, beteuerte Robin. Er wies zum Fenster. »Draußen ist strahlender Sonnenschein. Du bist hier bei mir im Judge-House. Mrs. Winter ist gerade dabei, dir ein Superfrühstück zusammenzustellen.« »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte Sinah. »Jetzt kann ich mich wieder ganz deutlich erinnern. Diese Augen und das Fauchen, das Moor…« Sie runzelte die Stirn. »Ich, ich dachte immer, es würde keine Geister geben; dieses Gerede über Emmy Russell, die sich auch heute noch in eine Katze verwandeln könnte, sei Unsinn.« »Es ist Unsinn, Darling.« Robin küßte sie zärtlich auf die Stirn. »Ich werde dir beim Frühstück erzählen, was hinter dem ganzen Spuk steckte.« »Mrs. Howard und ihre Komplizen hatten mich in einem lichtlosen Gewölbe auf Manning Hall gefangengehalten«, erzählte Sinah. »Ich hatte sie dabei erwischt, wie sie gestohlene Diamanten umgeschliffen haben.« »Sinah, hättest du nicht mit weiteren Nachforschungen warten können, bis ich aus London zurück bin?« fragte der junge Mann und stand von ihrem Bett auf. »Kannst du dir
überhaupt vorstellen, was ich ausgestanden habe, als man mir gestern abend nach meiner Rückkehr sagte, du würdest dich nicht wohlfühlen und seist den ganzen Tag in deinem Bett geblieben? Ich wußte sofort, daß da etwas nicht stimmen konnte.« »Schimpf nur ruhig, ich habe es verdient«, meinte Sinah. »Aber habe ich dafür nicht auch bitter bezahlt? Noch einmal möchte ich nicht durchstehen müssen, was ich seit vorgestern mitmachen mußte.« Sie erzählte ihm, was sich alles zugetragen hatte, während er in London war. »Sinah, ich…« Die junge Frau unterbrach ihn. »Ich möchte mich erst ein bißchen zurechtmachen, Robin, sonst kommt Mrs. Winter mit dem Frühstück und ich habe mich noch nicht einmal gewaschen.« »Warte, ich helfe dir zum Bad«, bot Robin an. »Deinen Fuß solltest du nämlich noch nicht allzu sehr belasten. Du hast eine ziemliche Verstauchung.« Sinah grinste. »Was macht das schon, mit einem Arzt im Haus?« scherzte sie. Sinah war kaum aus dem Bad zurück, als Mrs. Winter mit dem Frühstück ins Zimmer kam. Robin Dillon hatte einen kleinen Tisch an das Bett der jungen Frau gerückt. Durch das offene Fenster schien die Sonne. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. »Woher wußtest du überhaupt, wo du mich suchen mußt?« fragte Sinah nach der ersten Tasse Kaffee. »Das war nicht schwer«, erwiderte der Arzt. »Wie gesagt, ich rief auf Manning Hall an, weil ich dich sprechen wollte. Dieser Butler war am Telefon. Er verband mich mit Mrs. Howard, und sie erzählte mir, du hättest den ganzen Tag schon im Bett gelegen. Der Tonfall, in dem sie sprach, gefiel mir nicht. Ich fühlte, daß da etwas nicht stimmt und rief Kommissar Stone in
London an. Ich hatte bereits am Vormittag wegen der Vorfälle auf Manning Hall mit ihm gesprochen. Er verständigte sofort die Polizeistelle in Ashburton. Ich traf mich mit Constabler Willes auf halbem Weg und stieg in seinen Wagen um. Als wir die Hügel passiert hatten, sahen wir plötzlich diese Augen und hörten das Fauchen. Uns war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Wir brauchten ihnen nur zu folgen, um dich zu finden.« »Ich war noch nie so froh, dich zu sehen, wie gestern nacht«, gestand Sinah. »Ich nehme an, deine Schwester wurde auf dieselbe Weise in den Tod getrieben. Mich hätte man sicher auch ertrunken im Moor gefunden.« »Muriel Howard hat es inzwischen zugegeben, daß es so gewesen ist. Diese schrecklichen, bernsteinfarbenen Augen waren an einem Modellflugzeug angebracht, das vom Hirn aus gesteuert wurde. Als Leitpunkt diente Jensen dazu ein winziger Sender, der unbemerkt an deiner Kleidung befestigt worden war. Das Fauchen, das auch wir gehört haben, kam aus einem Verstärker. – Es war übrigens Absicht, daß Mrs. Jones deine Kerkertür nicht mehr verriegelte. Du solltest dich in Sicherheit glauben und Gelegenheit haben, ins Moor zu laufen.« »So etwas Ähnliches habe ich mir bereits gedacht«, meinte Sinah. »Philip Jensen war der Kopf des Ganzen. Du weißt wahrscheinlich nicht, daß es in den letzten Jahren immer wieder Raubüberfälle und Einbrüche gegeben hat, die nicht geklärt werden konnten. Ein Teil dieser Verbrechen erfolgte im Auftrag Jensens. Er hatte sich Manning Hall als Hauptquartier ausgesucht, weil er mit Berechtigung annehmen konnte, daß dein Onkel zu alt war, um hinter seine Machenschaften zu kommen. Jahrelang wurde ein bis zweimal im Monat gestohlener Schmuck nach Manning Hall geliefert. Die Steine wurden hier aus den Fassungen gebrochen und neu geschliffen. Die Fassungen kamen zum Einschmelzen in den
Norden Englands. Es muß ein sehr lukratives Geschäft gewesen sein. Jensens Vertrauensleute sollen alle Nummernkonten in der Schweiz haben.« »Aber wie bist du ihnen auf die Spur gekommen, Robin? Noch vor einigen Tagen hatten wir nicht den geringsten Anhaltspunkt.« Sinah schmiegte sich an ihn. »Durch Zufall.« Der junge Mann lachte auf. »Wie das Leben so spielt. Die Zofe meiner Patientin trug eine Brosche, die ich vor Jahren Debbie geschenkt hatte. Sie erzählte stolz, daß sie seit einigen Wochen einen sehr reichen Freund hätte, der leider nicht oft nach London kommen würde. Ich ließ mir diesen Freund beschreiben. Es handelte sich um unseren Arthur Summer, der sich bei ihr allerdings Brian Donell nannte. Ich rief Kommissar Stone an, und er versprach mir, sich der Sache anzunehmen. Und als ich dann gestern abend aus London zurückkam, hatten die Ereignisse mich bereits eingeholt.« Der junge Arzt zog Sinah an sich. »Du mußt doch zugeben, daß man einen so leichtsinnigen Menschen wie dich nicht frei herumlaufen lassen kann.« »Willst du mich etwa an Ketten legen?« Sinah sah ihn strahlend an. »In Ketten würde ich es nicht gerade nennen«, verbesserte sie Robin, »doch ich möchte dich mit einem Ring für immer und ewig an mich fesseln. Das heißt, wenn du mich als Gefängniswärter akzeptierst.« »Als Gefängniswärter nicht, doch als Ehemann«, sagte Sinah und sie legte die Arme um seinen Hals. »Wenn wir jetzt miteinander verlobt sind, solltest du mich endlich küssen«, forderte sie ihn schalkhaft auf. »Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen«, meinte Robin Dillon und legte die Arme um die geliebte Frau. Ihre Lippen trafen sich zu einem langen, innigen Kuß, der sie all die Schrecken der letzten Wochen vergessen machte.