Ren Dhark Drakhon – 14 – Weiter Denn Je 1. Bin ich wirklich der Diener zweier Herren? ging es Colonel Frederic Huxley du...
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Ren Dhark Drakhon – 14 – Weiter Denn Je 1. Bin ich wirklich der Diener zweier Herren? ging es Colonel Frederic Huxley durch den Kopf. Ren Dhark, der Commander der Planeten, hatte ihn einst mit einem Lächeln so genannt. Und eine gewisse Berechtigung hatte diese Bezeichnung auch. Schließlich war er als Terraner Mitglied des Hohen Rates des Nogk-Imperiums. Ein einzelner humanoider Abgeordneter unter 500 reptilienähnlichen, mit Libellenköpfen ausgestatteten und etwa 2,50 Meter großen Nogk. Aber Huxleys Worte wurden im Rat inzwischen sehr ernstgenommen. Und das lag nicht nur an der freundschaftlichen Beziehung, die ihn mit Charaua, dem noch nicht einmal seit einem terranischen Standardjahr regierenden neuen Herrscher des Nogk-Imperiums verband. Huxley hatte sich allgemein Respekt unter den Nogk erworben. Seitdem er mit dem ihm unterstehenden Forschungsraumschiff FO-I 2052 per Zufall das Charr-System, die alte Heimat der Nogk entdeckt hatte, war es ihm gelungen, intensive Kontakte zu diesem Volk herzustellen. Seine eingehende Beschäftigung mit dessen Kultur hatte es möglich gemacht, eine Brücke zwischen Terranern und Nogk zu schlagen. Eine Brücke, die sich bis heute als stabil erwiesen hatte, waren die Nogk doch gegenwärtig die zuverlässigsten Verbündeten der Menschheit. Eine Tatsache, die nicht zuletzt durch den Umstand gestützt wurde, daß es einen gemeinsamen Feind gab: Die insektoiden Grakos, auch Schatten genannt, die die Galaxis mit ihrem Vernichtungsfeldzug heimgesucht hatten. Immer wieder hatten die Nogk im Verlauf ihrer Geschichte ihre Heimatsysteme verlassen müssen, wenn deren Sonnen durch einen unbekannten Feind zur Explosion gebracht worden waren. Wer dieser Feind war, blieb letztlich immer noch unklar. Viele glaubten, daß es sich bei ihm um die Grakos gehandelt hatte. Aber Huxley hegte erhebliche Zweifel daran. Und mit diesen Zweifeln war er keineswegs allein. Im Juni 2057 waren die Nogk in Richtung Andromeda aufgebrochen, um endlich eine dauerhafte Heimat zu finden. Huxley hatte dabei den Geleitschutz befehligt. Aber das Unternehmen war fehlgeschlagen.
Zwischen der Milchstraße und Andromeda hatte das sogenannte Exspect, eine Energiebarriere, die etwa 245 000 Lichtjahre in den Leerraum hineinragte, den Exodus der Nogk zumindest vorerst gestoppt. So hatte die kosmische Reise der Nogk zunächst im Corr-System ihr vorläufiges Ende gefunden. 17 Planeten umkreisten den 360 Millionen Kilometer durchmessenden roten Riesen, das Zentralgestirn dieses weit draußen im Leerraum zwischen den Galaxien gelegenen Systems. Vier von ihnen waren von den Nogk mit ihrer überlegenen Technologie umgeformt worden. Die Wasserwelten Corr VIII und IX dienten als Lebensmittelproduzenten. Auf Corr VII, auch Kraat genannt, was so viel wie »Herberge« bedeutete, hatten die Nogk Wohnstätten für die sie begleitenden Terraner errichtet. Dort herrschten für Menschen angenehme klimatische Bedingungen. Corr VI schließlich, der auf den Namen Reet getauft worden war, stellte das Zentrum dessen dar, was als das Nogk-Imperium bezeichnet wurde. Reet war die Wohnwelt der Nogk. Und hier befanden sich auch der Regierungssitz des Nogk-Herrschers Charaua und der Tagungsort des Rates der 500. Huxley blickte kurz auf sein Chrono. Nach irdischen Maßstäben waren es noch zwei Stunden bis zur nächsten Sitzung dieses Rates. Einer Sitzung, in der es um äußerst wichtige Fragen gehen würde, von deren Entscheidung die Zukunft des Nogk-Volkes abhing. Huxley war schon seit Stunden damit beschäftigt, sich auf diese Sitzung mental vorzubereiten und an seiner Rede zu feilen. In meiner Situation ist es besonders schwierig zu argumentieren, dachte er. Die Lage des Imperiums hat sich stabilisiert, die Wirtschaft boomt und nach dem Ende der verheerenden Energiestürme in der Galaxis könnten wir auch wieder daran denken, weitere Planeten w kolonisieren... Huxley lächelte mild. Du hast wirklich »wir« gedacht, als du über die gegenwärtige Lage der Nogk sinniertest! ging es ihm durch den Kopf. Ein Blick in den Spiegel hätte dich eines besseren belehren können, meldete sich ein leicht sarkastischer Kommentator in seinem Hinterkopf. Oder hast du je einen Nogk mit grauen Haaren auf dem Libellenkopf gesehen? Huxley unterdrückte ein Gähnen.
Er hatte jetzt viele Stunden am Stück und mit höchster Konzentration gearbeitet, sich schier den Kopf über einzelne Formulierungen zerbrochen. Und das bei einem Publikum, das so etwas wie eine »Sprache« im herkömmlichen Sinn gar nicht kannte, rief er sich ins Gedächtnis, denn die Nogk verständigten sich über semitelepathische Bildimpulse. Normalerweise brauchte ein Mensch einen gut konfigurierten Translator, um mit den Libellenköpfen in Kontakt treten zu können. Seit Huxley zum Mitglied des Nogk-Imperiums und dessen Rat der 500 geworden war, besaß er jedoch ein Implantat, das ihm eine direkte Kommunikation mit ihnen ermöglichte. Auf diese Weise hatte er aber auch ein besonderes Gespür dafür entwickelt, wie er durch die Benutzung herkömmlicher AngloterWorte telepathische Bildimpulse erzeugen konnte, die auf die Nogk besonders überzeugend und eindrucksvoll wirkten. Wahrscheinlich werde ich irgendwann in der Lage sein, ein Standardwerk über die rhetorische Wirkung telepathischer Bildimpulse zu verfassen, dachte Huxley. Er ging auf die große Fensterfront zu. Die Räumlichkeiten, die man ihm innerhalb des Regierungskomplexes zur Verfügung gestellt hatte, waren perfekt an seine menschlichen Bedürfnisse angepaßt worden. Huxley atmete tief durch, ließ den Blick hinausschweifen. Corr, die rote Riesensonne, deren Aussehen Huxley immer schon an Beteigeuze erinnert hatte, stand wie eine riesige, überreife Blutorange am Himmel von Reet und tauchte die Gebäude des Regierungskomplexes in ihr mildes, rötliches Licht. Die Sehnsucht der Nogk nach einer endgültigen Heimat war groß. Huxley wußte das nur zu gut. Und gerade jetzt, da die Grako-Gefahr beseitigt war, glaubten viele von ihnen, sich gewissermaßen zurücklehnen zu können. Huxley schmunzelte unwillkürlich bei diesem Gedanken. Ein sich zurücklehnender Nogk! überlegte er. Ein Bild, das man sich nur schwer vorstellen kann, wenn man sich die körperliche Gestalt eines Nogk ansieht! Es wäre interessant zu sehen, welche telepathischen Bildimpulse es auslöst. Möglicherweise könnte es eine Reaktion hervorrufen, die eine Analogie zu dem darstellt, was wir Terraner Humor nennen... Ein Summton riß Huxley aus seinen Gedanken.
Er wandte den Blick. Eine Anzeige machte deutlich, daß jemand den Raum zu betreten wünschte und lieferte auch gleich eine Drei-DProjektion des Gastes. Der Gast war allerdings kein gewöhnlicher Nogk. Seine Haut schimmerte kobaltblau. »Tantal!« flüsterte Huxley und gab eine Bestätigung ab, damit der Gast eintreten konnte. Tantal war der erste Vertreter einer neuen Nogk-Art gewesen, dem noch viele weitere gefolgt waren. Aus einer vergessenen Puppe geschlüpft, hatte er sich nach seinem Geburtsplaneten benannt. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Nogk waren die »Kobaltblauen« nur etwa zwei Meter groß und sowohl gegen die Auswirkungen der Strahlenstürme als auch das sogenannte Exspect resistent. Eine Schiebetür öffnete sich. Tantal trat ein.
Seine Projektion hingegen löste sich in nichts auf. »Sei gegrüßt, Huxley«, signalisierte der Blaue Nogk. Huxleys Implantat sorgte dafür, daß die Bildimpulse des Kobaltblauen für die Weiterverarbeitung innerhalb des menschlichen Gehirns in Worte umgewandelt wurden. Gewiß waren damit noch lange nicht sämtliche Kommunikationsprobleme beseitigt. Aber das Implantat arbeitete natürlich wesentlich bedeutungsgenauer, als jeder noch so leistungsfähige Translator es vermocht hätte. »Sei gegrüßt, Tantal.« Eine der Sitzschalen veränderte ihre Form automatisch so, daß sie sich der Körperform des Blauen Nogk perfekt anpaßte. »Nicht mehr lange, und die Sitzung des Hohen Rates beginnt, Huxley.« »Ich habe mich bis eben darauf vorbereitet.« »Ich zweifle nicht daran, daß auch dir klar ist, wie wichtig diese Sitzung ist... ich befürchte, daß der Frieden der Eivater der Agonie werden könnte.« Huxley nickte. Eine Geste, die das Implantat nicht in Bildimpulse übersetzen konnte. Aber Tantal war mit der Kultur der Terraner vertraut genug, um sie deuten zu können. Manchmal imitierte er sie sogar. »Dein Volk sehnt sich danach, endlich Ruhe und Frieden zu finden«, sagte Huxley im Vertrauen darauf, daß sein Implantat die konzentrierten Gedanken adäquat übertrug. »Und das Corr-System scheint dafür ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein.« »Uns stehen alle Möglichkeiten offen, Huxley. Seit dem Verschwinden des Exspects wäre selbst eine Weiterreise nach Andro-meda möglich, auch wenn viele jetzt der Meinung sind, daß ein weiterer Exodus nun nicht mehr vonnöten sei. Aber das Nogk-Imperium könnte auch innerhalb kürzester Zeit weitere Planeten in der Milchstraße besiedeln... du weißt, wie schnell unser Nachwuchs heranwächst.« »Ja, das weiß ich.« Die biologische Dynamik, die die Nogk an den Tag zu legen vermochten, war vermutlich der entscheidende Grund dafür, daß diese Rasse bisher überlebt hatte. Innerhalb kürzester Zeit konnten sie einen durch Kriege oder Katastrophen entstandenen Bevölkerungsverlust wieder ausgleichen. Tantals Existenz war der beste Beweis dafür. Der blaue Nogk war kaum älter als ein Jahr. »Ich denke, wir teilen dieselben Sorgen, Huxley«, signalisierte Tantal.
»Ich glaube, daß die Nogk weiterhin vor dem verborgenen Feind auf der Hut sein müssen, Tantal. Es ist überhaupt nicht gesagt, daß dieser Feind mit den Grakos identisch war.« »Ich stimme deiner Einschätzung zu.« »Zweitausend Jahre reichen die Aufzeichnungen eures Volkes zurück. Warum nicht weiter?« »Wenn wir weiterreichende Aufzeichnungen besäßen, würde uns das bei der Einschätzung der gegenwärtigen Lage zweifellos sehr helfen.« »Ich befürchte, daß die Unbekannten erneut zuschlagen und auch Corr in eine Supernova verwandeln könnten, so wie sie es mit jenen Systemen getan haben, in denen ihr zuvor gesiedelt habt.« »Wie du schon sagtest, dieser Feind ist unsichtbar, Huxley. Er hat kein Gesicht. Und das macht es für viele schwer, an seine Existenz zu glauben.« Eine kurze Pause folgte. Huxley empfing Bildimpulse, die ihn an die Raumschlachten gegen die Grakos erinnerten, an denen auch er selbst teilgenommen hatte. 2300 Nogk-Schiffe, begleitet von 100 terranischen S-Kreuzem, waren seinerzeit in Richtung Andromeda aufgebrochen und im Exspect gestrandet. Weiter als 300 000 Lichtjahre war diese Flotte nicht gelangt. Zu allem Überfluß waren sie auch noch in Kämpfe mit Grako-Verbänden verwickelt worden, die ihnen gefolgt waren. Das Corr-System war ihre Rettung gewesen. »Lebensspenderin«, so ließ sich der Name dieser Sonne in gebräuchliches Angloter übersetzen. Eine rote Riesensonne mitten im intergalaktischen Nichts, die darüber hinaus auch noch jene Strahlungskomponenten aufwies, von denen die herkömmlichen Nogk abhängig waren. Eine Abhängigkeit, die den Nogk schon in der Vergangenheit immer wieder zum Verhängnis geworden war. Denn wenn sich die Strahlungszusammensetzung einer Sonne, auf deren Planeten sie gesiedelt hatten, änderte, so bedeutete dies eine Fortsetzung ihres Exodus. Eine derartige Veränderung konnte als Folge natürlicher Prozesse auftreten, die selbst die überlegene Technik der Nogk nicht zu beeinflussen wußte. Oder aber durch Manipulationen des unbekannten Feindes, von dem man geglaubt hatte, er sei mit den insektoiden Grakos identisch. Die Blauen Nogk stellten in dieser Hinsicht so etwas wie die materialisierte Zukunftshoffnung für die gesamte Rasse dar. Denn sie waren unabhängig von diesen Strahlenkomponenten, und es gab
Hinweise darauf, daß die Kobaltblauen so etwas wie die ursprüngliche Form der Nogk verkörperten. Doch auch die Antwort auf diese Frage lag wohl in der Vergangenheit. .. Zweitausend Jahre aufgezeichnete Geschichte, dachte Huxley. Für ein Volk, dessen Individuen eine Lebenserwartung von fast vierhundert Jahren besaßen, war das ein Nichts. Es mußte einen Grund dafür geben, daß das Wissen der Nogk um ihre eigene Vergangenheit nicht weiter zurückreichte. Zudem hatten die Nogk auch zu Beginn ihrer Geschichte bereits über eine Hochkultur mit entsprechend fortgeschrittener Technologie verfügt. Es war undenkbar, daß so etwas aus dem Nichts heraus entstand, ohne daß dem eine jahrtausendelange Entwicklung vorausgegangen war. »Wir teilen also in vielem die Analyse der gegenwärtigen Situation, Huxley«, erklärte Tantal. »Und ich denke, daß wir uns auch über die daraus zu ziehenden Konsequenzen schnell einig werden...« »Gewiß.« »Wie dir sicherlich nicht entgangen sein dürfte, ist das Verhältnis zwischen Blauen und normalen Nogk etwas gespannt.« »Nach meinem Gefühl hat es sich bereits wieder deutlich verbessert, seit unter der Nachkommenschaft etwa gleich viele kobaltblaue und herkömmliche Nogk aus den Eiern schlüpfen.« »Dennoch gibt es da manchmal gewisse...« Huxley nahm ein paar unklare Bildsymbole wahr, mit denen er trotz seines Implantats zunächst nichts anzufangen wußte. »... Kommunikationsschwierigkeiten.« Ein flüchtiges Lächeln spielte jetzt um Huxleys Lippen. Er verstand sehr gut, was sein extraterrestrisches Gegenüber mit dieser Formulierung meinte. Charaua, der gegenwärtige Herrscher des Nogk-Imperiums, war Tantals Eivater. Das traf auch auf unzählige andere Nogk zu, die die Gene des Herrschers in sich trugen, aber Tantal war »anders«. Der erste der strahlungsunabhängigen Kobaltblauen, jener neuen Nogk-Unterart, der wahrscheinlich die Zukunft gehörte. Wenn man das, was Tantal als Kommunikationsschwierigkeiten bezeichnet hatte, in menschliche Begriffe übersetzen wollte, so konnte man vielleicht von einer Art VaterSohn-Konflikt sprechen. Unter den blauen Nogk hatte Tantals Wort Gewicht. Aber viele der »Alten« schienen sich unbewußt durch ihn und die anderen Kobaltblauen bedroht zu fühlen. Tantal fuhr fort: »Es ist dir sicher auch aus deiner Kultur bekannt, daß
nicht immer nur das reine Argument entscheidet, sondern auch der Umstand, von welchem Individuum es vorgebracht wird.« Huxley nickte. »Das ist richtig.« »Ich möchte dich ermutigen, deine Standpunkte mit Nachdruck vorzubringen, Huxley.« »Worauf du dich verlassen kannst!« »Auf dich, einen Fremden, wird man eher hören als auf mich, der in den Augen der Alten vielleicht voreingenommen wirkt.« Meint er das allgemein - oder in Wahrheit eher aufseinen Eivater Charaua bezogen? ging es Huxley durch den Kopf. »Ich verstehe, Tantal. Aber ich glaube, du unterschätzt deinen Einfluß im Rat der Fünfhundert gewaltig...« Es war schwer, wenn nicht gar unmöglich, aus dem Gesicht eines Nogk irgendwelche Gemütsreaktionen ablesen zu wollen. Die großen Facettenaugen sahen Huxley auf eine Weise an, die einem Terraner nur als unbeteiligt und kalt erscheinen konnte. Eine Pause des Schweigens folgte, ohne daß irgendwelche semitelepathischen Bildimpulse übertragen wurden. Was geht in ihm vor? fragte sich Huxley. Er kannte die Nogk und ihre Verhaltensweisen inzwischen gut genug, um sich in ihr Inneres weiter einfühlen zu können, als das je einem anderen Menschen gelungen war. Natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Denn die Wahmehmungsweise eines Nogk unterschied sich erheblich von jener der Menschen. Sein eigentliches Anliegen hat er noch nicht vorgebracht! erkannte Huxley schließlich. Er sollte recht behalten. Tantal erhob sich von seiner Sitzschale, schritt auf Huxley zu und blieb in einer Entfernung von kaum einem Meter vor ihm stehen. Eine Reihe unklarer Bildimpulse erreichte den Colonel. Impulse, mit deren Übersetzung das Implantat offenbar zunächst seine Schwierigkeiten hatte. »Ich möchte dich um etwas bitten, Huxley. Einen... Gefallen...« »Nur zu, Tantal«, forderte Huxley den Kobaltblauen auf. »Sag, was du auf dem Herzen hast... äh, sorry, ich hoffe diese bildliche Redeweise wird jetzt richtig übertragen.« »Vielleicht erklärst du mir später mal, was genau ein Herz ist, Huxley. Aber im Augenblick gibt es Dringenderes als den Austausch von
Kenntnissen über die menschliche Physiologie....« Huxley betrat als einer der letzten die Ratshalle, in dem das oberste Gremium des NogkImperiums tagte. 500 Paare von Facettenaugen und Fühlern... Huxleys Blick glitt über die Menge der Ratsmitglieder. Hier und da bewegten sich insektenartige Beißwerkzeuge an den Libellenköpfen. Huxley nahm seinen Platz ein. Sein Implantat in der Brust übersetzte die allgegenwärtigen semitelepathi sehen Schwingungen für ihn. Der Begriff Euphorie bezeichnet eine gute Stimmung trotz schlechter Lage! rief sich Huxley in Erinnerung. Seiner Ansicht nach paßte dieser Begriff exakt auf die vorherrschenden Emotionen, die unter den Mitgliedern des Hohen Rates anzutreffen waren. Huxley würde sich ziemlich ins Zeug legen müssen, um hier etwas ausrichten zu können. Charaua, der Nogk-Herrscher und Huxleys persönlicher Freund, hatte bereits seinen Platz eingenommen. Die Sitzung wurde eröffnet. Es gab zunächst eine allgemeine Aussprache über die gegenwärtige Lage des Nogk-Imperiums. Ein »Redner« namens Racharr ergriff das »Wort«. Er gehörte mit seinem Alter von über 400 Erdenjahren zu den Ältesten in der Versammlung. Bislang hatte Huxley kaum je erlebt, daß Racharr sich zu Wort meldete. Üblicherweise gehörte Racharr eher zu jenen Ratsmitgliedern, die aus dem Hintergrund heraus wirkten. Das Wort dieses alten Nogk hatte Gewicht im Hohen Rat. So viel hatte Huxley inzwischen mitbekommen. Racharr genoß großes Ansehen. Warum greift er ausgerechnet heute in die Debatte ein? fragte sich Huxley. Racharr stellte seine Sicht der gegenwärtigen Lage dar. »Lange ist es her, seit unser Volk sich in einer ähnlich positiven Situation befunden hat«, signalisierte er. »In den letzten fünf Generationen war das nicht mehr der Fall.« Fünf Generationen! dachte Huxley, während er die Signale Racharrs empfing. Fünf Nogk-Generationen entsprachen bei einer Lebenserwartung von etwas mehr als 400 Jahren einer Zeitspanne von gut 2000 Standard-Terrajahren. Genau die Zeitspanne, die die gesamte überlieferte Geschichte dieses Volkes umfaßte. Ihr wißt doch gar nicht,
woher ihr kommt und wer ihr wirklich seid! ging es Huxley durch den Kopf. Racharr breitete einen Rückblick auf die jüngsten Ereignisse der NogkGeschichte vor den Mitgliedern des Hohen Rates aus. Huxley glaubte dabei, in den Impulsen des Alten durchaus so etwas wie Pathos beziehungsweise eine Nogk-Entsprechung dafür erkennen zu können. »Das Corr-System bietet ideale Lebensbedingungen für uns. Die Strahlungskomponenten dieser Sonne, die wir zu recht die >Lebensspenderin< nennen, ermöglichen jenen, die mit der herkömmlichen Nogk-Gestalt aus ihren Eiern geschlüpft sind, eine sorgenfreie Existenz. Reet, unser Wohnplanet, hat sich mehr und mehr in einen Ort verwandelt, der wie die Idealvorstellung einer Heimat aller Nogk wirken muß. Unsere Wirtschaft boomt. Seit langem haben wir nicht mehr derartig viele Güter produzieren und mit anderen Völkern austauschen können. Insbesondere den Handel mit unseren terranischen Freunden möchte ich hier erwähnen, der trotz großer Distanz zwischen Corr und Sol an Schwunghaftigkeit gewonnen hat. Wir werden durch den Ausbau dieser Handelsbeziehungen unseren Wohlstand weiter vermehren.« Zustimmende Signale kamen vom Auditorium. Die Bildimpulse, die Racharr aussandte, zeigten eine rosige Zukunft des Nogk-Imperiums. »Wir sind von jeher ein Volk des Friedens gewesen«, fuhr Racharr fort. »Niemand kann daran zweifeln, und seitdem der furchtbare Feind allen Lebens, die schattenhaften Grakos, nun endlich besiegt sind, steht der Errichtung einer galaktischen Zone des Friedens, der Verständigung und des florierenden Handels nichts mehr im Wege.« Die zustimmenden Signale wurden noch stärker. Nur vereinzelt gab es skeptische Impulse oder solche, die indifferent waren. Huxleys Blick ruhte eine Weile auf Charaua, dem Herrscher aller Nogk. Seine Fühler bewegten sich leicht. In den Facettenaugen blitzten Lichtspiegelungen auf. Auf ihn wird es im Endeffekt ankommen, wußte Huxley. Aber die Signale, die bislang von dem Nogk-Herrscher ausgingen, waren bestenfalls indifferent. »Der Weg nach Andromeda stünde uns jetzt offen, seit die Barriere des
Exspect nicht mehr vorhanden ist«, erklärte Racharr weiter. »Aber es gibt keinen Grund mehr, diese Reise in die Ungewißheit fortzusetzen. Vielversprechender erscheint mir, vom Corr-System aus damit zu beginnen, wieder Planeten innerhalb der Milchstraße zu besiedeln. Konzentrieren wir uns darauf, den Nachwuchs großzuziehen und unsere Wirtschaft weiter zu entfalten. Unser Volk braucht jetzt eine Ruhepause der Erholung. Seit fünf Generationen hat es das für uns nicht mehr gegeben...« Ein Schwall positiver Signale brandete auf und stellte eine Art Entsprechung zu menschlichem Applaus dar. Es folgten eine ganze Reihe zustimmender Beiträge, die alle in das selbe Horn stießen. Mit den Grakos, so der Tenor, war der uralte Feind endlich besiegt, der das Volk der Nogk so lange heimgesucht und immer wieder von neuem ins Exil gezwungen hatte. Der Hinweis einer einzelnen semitelepathischen Stimme, es lägen noch keinerlei Erkenntnisse darüber vor, wie es die Grakos eigentlich geschafft hätten, das jeweilige Heimatgestirn der Nogk so zu manipulieren, daß es jeweils in unnatürlich kurzer Zeit zur Nova entartet war, wurde kaum weiter beachtet. Sie neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was ihren geheimen Wünschen entspricht, überlegte Huxley. In diesem Punkt schienen ihm die von ihrer körperlichen Erscheinung her so fremdartig wirkenden Nogk auf geradezu unheimliche Weise menschlich zu sein. Sriil, der oberste Meeg, schloß sich Racharrs Meinung an. Die Auffassung, daß die Grakos nicht der uralte Feind seien, entspringe reiner Spekulation. »Niemand«, so Sriil, dessen Rang auf Terra dem eines Wissenschaftsministers entsprochen hätte, »kann bisher auch nur einen wirklich schlüssigen Beweis dafür vorlegen, daß der uralte Feind uns noch immer nachstellt und unser Volk zu vernichten trachtet. Wir dürfen uns nicht länger zu Sklaven unserer kollektiven Furcht machen! Der einzige Gegner, den wir neben einzelnen, versprengten GrakoGruppen, die die neue Ordnung auf Grah nicht akzeptieren wollen, noch zu fürchten haben, ist tief in unseren Hirnen verborgen. Es ist unsere Furcht, die irrationale Angst vor einem Gegner, der es lange verstanden hat, sich im Verborgenen zu halten und aus seiner wahren Gestalt ein finsteres Mysterium zu machen.« Sriils Bildimpulse machten einen geradezu beschwörenden Eindruck. Huxley konnte an den Reaktionen ablesen, wie groß der Eindruck war, den Sriils Vortrag auf die Anwesenden machte. Der oberste Meeg vertrat
im Fall der Abwesenheit den Herrscher des Nogk-Imperiums. Ein Umstand, der Sriils Worten zusätzliches Gewicht verlieh. Ich werde mich ziemlich ins Zeug legen müssen! ging es dem grauhaarigen Colonel durch den Kopf. Sein Blick glitt kurz in Tantals Richtung. Der Kobaltblaue hat schon gewußt, warum er mich vorpreschen läßt und selbst in der Deckung verharrt. Ich hoffe nur, daß diese Strategie auch aufgeht... Dann erhielt schließlich Frederic Huxley das Wort. Der einzige Nicht-Nogk im Rat der Fünfhundert trat an den Rednerplatz und wandte sich an das Auditorium. »Freunde«, so begann er zu sprechen, und das Implantat sorgte dafür, daß diese Worte in entsprechende Bildimpulse umgesetzt wurden. »Als Fremder bin ich eurem Volk begegnet, inzwischen aber werde ich als einer der Euren akzeptiert. Euer Schicksal ist mit dem meinen untrennbar verbunden. Und so würde ich nichts lieber glauben, als daß die rosige Zukunftsvision, die der weise Racharr vor uns ausbreitete, eines Tages Wirklichkeit wird.« Huxley machte eine kurze Pause, versuchte die Reaktion der Nogk abzuschätzen. Er stellte fest, daß das unmöglich war. Zweifele nicht an dir und deiner Fähigkeit, die Seelen dieser Libellenköpfe w erreichen! durchzuckte es ihn. Du mußt es einfach versuchen. Mehr kannst du nicht tun... »Auch ich sehe die Verwirklichung dieser Vision in greifbarer Nähe. Aber nicht sofort. Gewiß, ich teile die Analyse des weisen Racharr, was die Beurteilung der gegenwärtigen Lage angeht. Die Wirtschaft des CorrSystems hat in der Tat einen sehr beachtlichen Aufschwung genommen, der wohl in der Geschichte des Nogk-Imperiums einzigartig sein dürfte. Und niemand empfindet mehr Freude über die Tatsache, daß sowohl Nogk als auch Terraner jetzt frei sind von der Bedrohung durch die Schatten. Doch das sollte niemanden blind und träge werden lassen. Keineswegs darf jetzt eine Phase der Selbstzufriedenheit und Ruhe anbrechen. Das wäre eine Entwicklung, die genau in die falsche Richtung ginge!« »Aber ist es nicht gerechtfertigt, die jetzt freigewordenen Ressourcen für die weitere Entwicklung unserer Kultur zu nutzen?« meldete sich einer der Nogk zu Wort und unterbrach Huxley damit. »Durch den Sieg über die Grakos und das Florieren der Wirtschaft gibt es tatsächlich freiwerdende Ressourcen im Nogk-Impe-rium. Aber diese Ressourcen dürfen wir nicht verschwenden. Sie müssen für einen einzigen Zweck gebündelt werden: nämlich den unsichtbaren Feind zu
finden, der das Volk der Nogk schon so oft aus seinen Heimatsystemen vertrieb...« »Aber diesen Feind kennen wir!« wurde aus dem Auditorium heraus signalisiert. Huxleys Bewußtsein wurde mit Bildimpulsen überflutet, die sein Implantat gar nicht erst zu übersetzen brauchte. Die Bilder zeigten Grakos. 20 Insektoide Ungeheuer, die von einer wabernden Hyperraumblase umgeben wurden. Sie ließ die Grakos wie Schatten erscheinen. Ein Umstand, der ihnen diesen Beinamen eingetragen hatte. »Viele von euch glauben, daß die Grakos diese uralten Feinde waren...«, sagte Huxley. Eine Flut von Signalen schlug ihm entgegen. »Ein Feind, der jetzt besiegt und unter Kontrolle ist!« »Nie wieder kann er uns gefährlich werden!« »Der Sieg war vollkommen!« »Keine unserer Sonnen wird je wieder zur Nova entarten, es sei denn im natürlichen Verlauf eines Stementodes!« Huxley hob die Arme. Niemand unter den anwesenden Nogk war in der Lage, diese Geste in irgendeiner Form angemessen zu interpretieren. Aber vielleicht war genau das der Grund dafür, daß die Impulse plötzlich abebbten. Die volle Aufmerksamkeit des Auditoriums war von einem Augenblick zum anderen wiederhergestellt. »Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, daß wirklich die Grakos jene uralten Feinde der Nogk waren, die immer wieder für Vertreibung sorgten. Auch ich würde gerne glauben, daß es so ist! Aber wenn wir uns jetzt in Sicherheit wiegen, bekommt dieser Feind vielleicht die Gelegenheit, zum entscheidenden Schlag gegen das Nogk-Imperium auszuholen. Einem Schlag, der diesmal tödlich sein könnte.« »Wie steht es denn deinerseits mit Beweisen?« signalisierte jemand. Und dieser Zwischensignalisierer bekam Unterstützung. »Ja, welche Anhaltspunkte sprechen dafür, daß deine Meinung mehr ist als bloße Verbreitung von Angst?« Messerscharf haben sie meinen schwachen Punkt erkannt! überlegte Frederic Huxley. »Fünf Generationen reichen eure Überlieferungen zurück... so habt ihr zu
Beginn der Existenz eures Volkes bereits über eine 21 fortgeschrittene Technik verfügt, die normalerweise nur in einer jahrtausendelangen kulturellen Evolution entwickelt werden kann! Vielleicht wurde der Umstand, daß ihr keine weiter in die Vergangenheit reichenden Überlieferungen besitzt, durch Manipulation herbeigeführt. Wir wissen es einfach nicht. Aber ich bin überzeugt davon, daß der Schlüssel zu eurer Zukunft in der Vergangenheit liegt. Was war die Ursache des grausamen Konfliktes, den eure Vorfahren mit dem unbekannten Feind ohne Gesicht ausgetragen haben? Es muß doch einen Grund für diesen Vernichtungsfeldzug gegeben haben, der gegen euer Volk geführt wurde. All das liegt im Nebel eurer Vergangenheit.« »Ich bin dagegen, daß die Nogk sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigen, anstatt in die Zukunft zu blicken!« signalisierte eines der Ratsmitglieder aufgebracht. »Du bist ein Forscher, Huxley! Aber willst du dein Interesse an historischer Erkenntnis die Zukunft unseres Volks bestimmen lassen? Dazu sage ich nein!« Huxley fuhr äußerlich ungerührt fort: »Ein großer, von der Menschheit bis heute als bedeutungsvoll angesehener Terraner namens Cicero hat dazu gesagt: >Nicht zu wissen, was geschah, ehe man geboren wurde, bedeutet, immer Kind zu bleiben<.« Offenbar war das eine Analogie, die sich gut in die Bildimpulse der Nogk übersetzen ließ und vielen von ihnen plausibel erschien. Zumindest ließen die zahlreichen zustimmenden Signale Huxley darauf schließen. »Ich frage euch: Will das Volk der Nogk in dem Stadium eines frisch geschlüpften Jungen verharren, das sein Wissen noch nicht erhalten hat?« Huxley unterstützte seine Ausführungen mit einem theatralischen Kopf schütteln, obgleich er wußte, daß der Großteil seines Publikums mit dieser Geste nichts anzufangen wußte. Selbst auf Terra hatte das Kopfschütteln keinen einheitlichen Bedeutungsgehalt und konnte je nach regionaler Kultur jeweils Verneinung oder Bejahung bedeuten. Aber auch diese Geste erfüllte für Huxley ihren Zweck. Sie fesselte die Aufmerksamkeit der Nogk. Dutzende von Fühlerpaaren 22 bewegten sich gleichzeitig. Huxley fuhrt fort: »Angesichts der großartigen Errungenschaften der Nogk-Kultur kann ich nicht glauben, daß ihr euch mit dem Stadium der Unwissenheit wirklich zufrieden geben wollt...«
Ein Signalchaos entstand jetzt. Beißwerkzeuge bewegten sich scheinbar unkontrolliert. In einem irdischen Parlament wären wohl tumultartige Szenen die passende Entsprechung gewesen. Es dauerte eine Weile, bis die Sitzung in ruhiger Manier fortgesetzt werden konnte. Der Herrscher selbst ergriff jetzt das Wort. Charaua wandte sich direkt an Huxley. »Was wäre deiner Ansicht nach zu tun. Ratsmitglied Huxley?« Huxley musterte Charaua einige Augenblicke lang. Die Signale, die der Herrscher ausgesandt hatte, entsprachen tatsächlich lediglich einer vollkommen neutral gefaßten Frage. Es war nicht erkennbar, wo derzeit Charauas Sympathien lagen. »Man müßte eine Expedition ausrüsten und mit den entsprechenden Mitteln versehen, um endlich Licht in die Vergangenheit der Nogk zu bringen. Ein vielversprechender Ansatzpunkt wäre in meinen Augen das Heimatsystem der Grakos. Nach der Machtergreifung der Gordo und dem damit verbundenen starken terrani-schen Einfluß dürfte es möglich sein, Zugang zu einigen uns bisher verschlossenen Aufzeichnungen zu erhalten. Dann hätten wir in der Frage, ob die Grakos die uralten Feinde waren, vielleicht etwas mehr Gewißheit...« »Wärst du eventuell bereit, die Leitung einer derartigen Expedition zu übernehmen. Ratsmitglied Huxley?« stellte Charaua jetzt die nächste Frage. Huxley schluckte. »Natürlich wäre ich das!« verkündete er und war sich nicht so recht sicher, ob der beinahe feierliche Tonfall, den er dabei an den Tag legte, auch in die richtigen Bildimpulse übertragen wurde. »Ein solches Unternehmen wäre reine Verschwendung«, meldete sich Racharr. Aber die Zustimmung zu seiner Position war inzwischen deutlich verhaltener geworden. »Ich habe alles gesagt, was zu sagen war«, beendete Huxley seinen Beitrag. »Es ist nichts hinzuzufügen, außer der Bitte, dieser Expedition zuzustimmen. Nicht um meinetwillen. Nicht deshalb, weil ich mir noch irgendwelche weiteren Lorbeeren an mein Forscherhaupt heften wollte, sondern weil der Schlüssel zu eurer Zukunft, meine Freunde, in eurer Vergangenheit liegt!« Die Signale der Zustimmung mischten sich mit jenen der Skepsis, als Huxley den Platz des Redners verließ und sich wieder ins Publikum
einreihte. Kein eindeutiges Stimmungsbild! wurde ihm klar. Aber er war sich doch einigermaßen sicher, mit seinem Beitrag Eindruck gemacht zu haben. Jetzt liegt es nicht mehr in meiner Hand, dachte er. Ein Gegenredner ließ sich das Wort erteilen und führte in den schönsten semitelepathischen Bildern vor, wofür man die Mittel, die ansonsten für die von Huxley vorgeschlagene Expedition aufgebracht werden mußten, viel sinnvoller verwenden könnte. Noch mehrmals wechselten sich Rede und Gegenrede ab. Aber zu Huxley s Erleichterung stellte sich heraus, daß der Terraner durchaus nicht der einzige im Rat der 500 war, der eine Forschungsexpedition befürwortete. Niemals zuvor hatte Huxley eine derartig leidenschaftlich und heftig geführte Debatte im Rat erlebt. Vielleicht war das eine Folge des verhältnismäßig sicheren Status, in dem sich das Nogk-Imperium befand. Not und Gefahr führten zwangsläufig eher zu Einigkeit und Geschlossenheit. Huxley verfolgte den weiteren Sitzungsverlauf gebannt. Tantal hielt sich dabei noch immer auffallend zurück. Und dabei ist er es gewesen, der mich darum gebeten, ja mich geradezu dazu gedrängt hat, eine Expedition vorzuschlagen! erinnerte sich Huxley. Er wartet auf Charaua, erkannte er dann einen Augenblick später. Bevor der Herrscher sich nicht geäußert hat, wird Tantal es auch nicht tun... Die Debatte zog sich noch eine Weile hin. Dann endlich schlug die Stunde Charauas. Eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit erfüllte die Ratshalle, als er das Wort ergriff. »Die Bilder, die ich gesehen habe, bewegten mich tief«, begann der Nogk-Herrscher seinen Beitrag. »Am tiefsten aber bewegten mich jene, die mein Freund Huxley uns sandte. Ich bin wie er inzwischen überzeugt davon, daß wir nicht ruhen dürfen, bis wir unsere Vergangenheit kennen und wissen, wer jener Feind ohne Gesicht war, der unserem Volk so viel Leid zugefügt hat. Wenn wir dieser Frage jetzt nicht nachgehen, könnten wir es schon in kürzester Zeit bitter bereuen. Oder wollen wir riskieren, erneut ins Exil getrieben zu werden, weil ein Unbekannter auch die Lebensspenderin Corr zu einer Nova werden läßt...« Eine Woge der Zustimmung schlug dem Herrscher der Nogk
entgegen. Er gibt den Ausschlag, dachte Huxley. Er wandte den Blick in Richtung Tantals, der die Szenerie mit seinen kalten Facettenaugen beobachtete. Seine Fühler waren so gut wie regungslos. Ein Zeichen für äußerste Selbstbeherrschung und Anspannung, wie Huxley inzwischen herausgefunden zu haben glaubte. Aber sicher war er sich da nicht. Die Entscheidung war gefallen. Die Stimmung im Rat kippte endgültig zugunsten einer Expedition. Charaua nahm das mit deutlichen Signalen der Befriedigung zur Kenntnis. »Deinem Vorhaben steht nichts mehr im Wege, Freund Huxley«, wandte sich der Herrscher des Nogk-Imperiums an den Terraner. »Wir werden einen offiziellen Beschluß des Rates dazu verabschieden.« Jetzt schlug Tantals Stunde. So lange er sich zuvor auch zurückgehalten hatte, nun ergriff er 25 entschlossen das Wort. »Wir haben unserem Freund, dem ehrenwerten Ratsmitglied Huxley, zum Dank für seine Verdienste, die er sich zweifellos um unser Volk erworben hat, ein Raumschiff übereignet, die CHARR. Ich bin dafür, daß vor dem Aufbruch von Huxleys Expedition die Bewaffnung verstärkt wird. Insbesondere erscheint mir die Ausrüstung mit den neuartigen terranischen Wuchtkanonen sinnvoll. Niemand weiß, welchen Gefahren die CHARR auf ihrer Expedition begegnen wird...« So jung er ist, so meisterhaft hat er taktiert! durchfuhr es Huxley. Denn Tantals Vorschlag traf zu diesem Zeitpunkt auf breite Zustimmung. »30 unserer besten Meegs sollten die Expedition begleiten«, forderte er des weiteren. Charauas Fühler bewegten sich heftig. »Ich nehme an, auch du selbst möchtest an dieser Mission teilnehmen, Tantal!« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Tantal sandte Signale der Zustimmung. »Ja - zusammen mit neun weiteren Kobaltblauen.«
»Es ist nichts dagegen einzuwenden«, erklärte Charaua und wandte den Libellenkopf in Huxleys Richtung. »Es sei denn, du als Leiter der Expedition und Kommandant der CHARR hättest etwas dagegen!« Huxley schmunzelte und schüttelte den Kopf. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, daß diese Geste für den Großteil der Nogk nicht als Antwort erkennbar war. »Natürlich habe ich nichts gegen Tantals Unterstützung! Im Gegenteil. Ich begrüße sie!« Am nächsten Reet-Tag flog Huxley zurück nach Kraat, der »Herberge« für die Terraner, die die Nogk bis ins Corr-System be26 gleitet hatten. Sofort nach seiner Rückkehr wurde mit den Vorbereitungen für die Expedition der CHARR begonnen. Das ehemalige Flaggschiff des Nogk-Imperiums, das Colonel Huxley als persönliches Eigentum überantwortet worden war, glich einer Art Ellipsoid von 500 Metern Länge. Die FO-I, das terranische Forschungsschiff, dessen Kommandant er nominell noch immer war, diente seitdem als Beiboot des gigantischen Nogk-Raumers. Beide Einheiten wurden vor Beginn der Expedition mit den neuartigen terranischen Wuchtkanonen ausgerüstet. Im Zuge des terranisch-nogkschen Technologietransfers waren die Konstruktionspläne dieser Waffe auch den Nogk zur Verfügung gestellt worden, so daß es keine Schwierigkeit war, diese Einbauten im Corr-System vorzunehmen. Innerhalb weniger Tage mußte das zu machen sein. Chief Erkinsson, der Bordingenieur der FO-I-Mannschaft, war in dieser Hinsicht jedenfalls sehr optimistisch. Fünf Wuchtkanonen vom Kaliber 5 Zentimeter sollten in die CHARR eingebaut werden. Auf der FO-I würden zwei dieser Kanonen künftig zur Standardausrüstung gehören. »Ich hoffe wirklich, daß wir nicht in die Lage kommen, diese Dinger benutzen zu müssen, Commander«, äußerte Erkinsson auf einer von Huxley einberufenen Lagebesprechung. »Wir sind zwar hier im Corr-System ein bißchen vom Schuß, aber nach allem, was ich mitbekommen habe, ist die Gordo-Regierung
auf Grah extrem terrafreundlich«, äußerte sich Captain Sybilla Bontempi, die Fremdvölkerexpertin der FO-I. »Ich nehme nicht an, daß wir im Gerrck-System auf irgendwelche nennenswerte Schwierigkeiten stoßen werden. Es ist eher davon auszugehen, daß man uns unterstützt.« »Wollen wir's hoffen«, meinte Huxley. Sybilla Bontempi hob die Augenbrauen. »Am guten Willen der neuen Regierung auf Grah würde ich nicht zweifeln.« 27 Huxley lächelte mild. »Nein, aber vielleicht an ihrer Durchsetzungskraft. Die Grakos sind besiegt. Endgültig. Doch das heißt nicht, daß die Lage auf Gran schon vollkommen unter Kontrolle ist.« Am Tag vor dem Aufbruch der CHARR ließ Charaua sich noch einmal nach Reet bringen. Er suchte Huxley auf. Der Herrscher der Nogk begrüßte Huxley auf eine Weise, die vermutlich die nogksche Form von Herzlichkeit darstellte. »Freund Huxley, ich wollte dich nicht auf diese wichtige Mission schicken, ohne noch einmal mit dir Gedanken ausgetauscht zu haben.« »Es ist eine Ehre für mich, diese Mission übertragen bekommen zu haben.« »Meinst du, weil du von deinen biologischen Anlagen her kein Nogk bist?« Von deinen biologischen Anlagen her, ließ Huxley die Worte seines Gegenübers in seinem Bewußtsein widerhallen. Ein Gedanke, der selbst nach der Umwandlung der Bildimpulse durch den implantierten Transformer noch interpretiert werden mußte. Man kann das so verstehen, daß er mich von den biologischen Tatsachen abgesehen als Nogk ansieht, ging es Huxley durch den Kopf. »Es hat zu Anfang meiner Mitgliedschaft im Rat der Nogk durchaus Vorbehalte gegen mich gegeben, Charaua«, gab Huxley zu bedenken. »Aber dieser Auftrag müßte dir klarmachen, daß so etwas endgültig der Vergangenheit angehört, Freund Huxley.« »Ja, ich weiß.« »Die Erforschung unserer Geschichte - es gibt für unser Volk kaum eine Mission, die sich damit messen ließe.« »Das ist mir durchaus klar, Freund Charaua.«
»Wir haben dich damit betraut. Nicht, um dir einen Gefallen zu erweisen oder dir zu schmeicheln, sondern weil du zweifellos derjenige bist, der diese Mission am ehesten zum Erfolg führen 28 kann.« »Ich hoffe, daß ich diese hohen Erwartungen zu erfüllen vermag, Freund Charaua.« »Daran solltest du nicht einen Fühlerruck lang zweifeln. Das Imperium der Nogk wird in Gedanken bei dir sein...« »Über To-Richtfunk werden wir in Verbindung bleiben, Freund Charaua«, versprach Huxley. Die CHARR, das ehemalige Flaggschiff der Nogk-Flotte, stellte das Modernste dar, was die Supertechnik dieser Libellenköpfe zu bieten hatte. 30 der besten Meegs, wie die Wissenschaftlerkaste bei den Nogk bezeichnet wurde, begleiteten die Mission. Desgleichen die Besatzung der FO-I. Der terranische Forschungsraumer befand sich in seinem Spezialhangar an Bord der CHARR. Tantal und neun seiner blauen Nogk waren als letzte vor dem Start an Bord der CHARR gegangen. Tantal verfügte über das gesamte Rassegedächtnis der Nogk. Er war damit geboren worden und stellte auf diese Weise selbst eines der wichtigsten Geschichtsarchive der Nogk dar. Aber auch dieses lebendige Archiv reichte nicht weiter zurück als fünf Generationen. Huxley befand sich während der Startphase im Leitstand der CHARR. Obgleich es sich um ein Routinemanöver handelte, war hier seiner Ansicht nach der Platz des Kommandanten. Die CHARR erhob sich von der Oberfläche der Gastwelt Reet, verließ bald darauf die Atmosphäre und erreichte den freien Raum. Auf der Allsichtsphäre im ganz vorne am Bug der CHARR gelegenen Leitstand war das Zentralgestim des Corr-Systems zu sehen. Die rote Riesensonne hatte die acht- bis neuntausendfache Leuchtkraft von Sol. Ihre Masse war gigantisch. Ein gewaltiger kosmischer Fusionsreaktor. Ihre rötliche Scheibe nahm den Großteil des Schirms ein. 29
»Dann wollen wir die Maschine mal unter Dampf nehmen!« meldete sich Bordingenieur Erkinsson von seinem eigenen Leitstand im Maschinenraum zu Wort. Sein Gesicht erschien auf einem Nebenschirm. Frederic Huxley lächelte mild. »Ich bin froh, daß wir darauf nicht angewiesen sind.« Erkinsson hob die Augenbrauen. »Worauf?« »Auf Dampf.« Ein Schmunzeln machte sich auf allen menschlichen Gesichtern in der Zentrale bemerkbar. Nur Tantal, der blaue Nogk, der sich ebenfalls seit dem Start hier aufhielt, konnte mit dieser Reaktion der Terraner wenig anfangen. Huxley fragte sich, in welche Bildimpulse Tantals Transformer-Implantat die Angloter-Worte der menschlichen Besatzungsmitglieder wohl übertragen mochte. Eine Folge etwas verwirrter Impulse erreichte Huxley. »Das war ein Witz, Tantal.« »Ich hatte mich über den plötzlich auftretenden mangelnden Sachverstand des Bordingenieurs auch schon sehr gewundert«, mußte der Kobaltblaue zugeben, v »Alles fertig für die Transition«, meldete indessen Erkinsson. Der Erste Offizier Lee Prewitt blickte von seinem Terminal auf. »Wir haben eine ziemlich lange Reise vor uns. Aber es ist schön, zur Abwechslung mal wieder den Himmel voller Sterne zu sehen!« 2. Flint Eriksen konnte sich nicht besinnen, daß ihn jemals in seinem Leben eine Prostituierte derart nervös gemacht hatte. Er war unfähig, seinen Blick von ihrem wohlgeformten Körper zu lassen. Mit zitternden Fingern nestelte er an der Gürtelschnalle ihrer engen Jeans. Spielerisch schlug sie ihm auf die Hand. »Nicht so ungeduldig«, ermahnte sie ihn. »Du mußt schon warten, bis wir im Hotel sind. Dort kriegst du alles, was du begehrst.« »Alles?« fragte Flint heiser. »Alles«, hauchte sie verheißungsvoll. Der junge Rauminfanterist ließ sich zurück in den Sitz fallen und behielt seine Hände brav bei sich. »Wohin soll's denn gehen, ihr Turteltäubchen?« erkundigte sich der etwa fünfzigjährige Fahrer des Schwebertaxis, der sich zu ihnen
umgedreht hatte. Auch ihm fielen beim Anblick der Blondine fast die Augen aus dem Kopf. Ihr Alter lag in etwa bei Mitte Zwanzig. Sie war schlank, aber mit den rechten Rundungen an den richtigen Stellen. Ein dunkelblaues T-Shirt, passend zu ihrer Augenfarbe, umschmeichelte ihren Körper wie eine zweite Haut. Noch ahnte der vietnamesische Taxifahrer nicht, wie wichtig es war, daß er sich jede Einzelheit ihres Aussehens einprägte. Schon bald würde man ihn als Zeugen vernehmen - im Büro der Galaktischen Sicherheitsorganisation. »Hotel Landhaus«, nannte ihm die Frau das Ziel. »Liegt am anderen Ende der Stadt.« »Ich weiß«, erwiderte der Chauffeur lächelnd und betätigte den Startknopf. »Ich stamme aus dieser Gegend.« Flint kam nicht von hier. Landhaus, wiederholte er in Gedanken. Hört sich nach einer miesen Absteige an - mit einem schmierigen Nachtpförtner, der sich schmierige Erotik-Holographien anschaut und dabei fortwährend in seiner schmierigen Nase bohrt. »Womit vertreiben wir uns bis zum Eintreffen in der Luxusherberge die Zeit, Cinderella?« erkundigte er sich mit breitem Grinsen, während sich der Schweber in Bewegung setzte. »Ist das eigentlich dein richtiger Name?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, wich sie einer direkten Antwort aus. »Du brauchst nicht alles über mich zu wissen. Wenn wir morgen früh auseinandergehen, bleibe ich dir auf alle Ewigkeit als Cinderella in Erinnerung, die geheimnisvolle Schöne, die deine heimlichen Phantasien wahrgemacht hat. Mehr erfährst du nicht über mich, schließlich erzählst du mir auch nicht das, was ich gern wissen möchte.« »Ich darf nicht, ich bin Geheimnisträger«, entgegnete der Zweiundzwanzigjährige mit wichtiger Miene. »Eigentlich habe ich dir schon viel zuviel verraten. Meine Kameraden hatten völlig recht, ich sollte besser meinen vorlauten Mund halten.« Sie seufzte. »Hättest du es doch getan! Es war gemein von dir, mich erst neugierig zu machen und dann nicht mehr weiterzureden. Weißt du denn nicht, wie quälend das für eine Frau ist? Du hast von einem streng geheimen Einsatz gesprochen, irgendwo in den Bergen. Außerdem war von vier Personen die Rede. Und nun willst du mir
partout nicht sagen, um wen es sich dabei handelt. Sei lieb, FlintSchätzchen, eine kleine Andeutung würde mir schon genügen.« »Ich wurde zum Schutz der betreffenden Personen eingeteilt«, gab »Flint-Schätzchen« ihr kurz und knapp Auskunft. »Gib dich damit zufrieden, mehr Informationen darf und will ich dir nicht zukommen lassen.« »Ihr habt vielleicht merkwürdige Gesprächsthemen«, mischte sich der Taxifahrer ein und drehte den Kopf leicht nach hinten. »Wir haben Februar, und es ist lausig kalt draußen. Warum kuschelt ihr euch nicht aneinander und wärmt euch gegenseitig ein bißchen?« 32 »Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten«, zischte ihn die Blonde an. »Und gucken Sie gefälligst nach vom, damit wir heil am Ziel ankommen.« »Schon gut, ich wollte nur freundlich sein«, schmollte der Vietnamese. »Das mit dem Kuscheln ist eine gute Idee«, meinte Flint und rückte näher an seine Begleiterin heran - so nahe, daß sie seinen penetranten Alkoholatem riechen konnte. Genau das hatte sie vermeiden wollen. Im Stillen belegte sie den Taxifahrer mit mehreren Flüchen. »Fühl mal meine Muskeln«, forderte Flint die Frau an seiner Seite auf. »Deshalb nennt man mich in unserer Einheit den Bullen. Ich bin ein zäher Hund und werde mit dem stärksten Gegner fertig. Für die Bewachung wichtiger Persönlichkeiten bin ich prädestiniert wie kein anderer.« »Du paßt also auf mehrere bedeutsame Menschen auf, darfst aber kein Wort darüber verlieren«, resümierte sie, während sie desinteressiert an seinem ansehnlichen Oberarm herumfummelte. »Laß mich mal raten. Die betreffenden Personen wurden in ein Agentenschutzprogramm aufgenommen, richtig? Sind es aussagewillige Spione einer fremden Macht?« »Dhark und Riker Spione?« erwiderte Flint lachend. »Laß sie das bloß nicht hören, sonst lassen sie dich demnächst von der GSO einbuchten.« »Ich bin ja schon still«, versprach ihm Cinderella. Das »Landhaus« entpuppte sich als Siebensternehotel der Superklasse. Das Personal hinter der Rezeption war vornehm genug,
Plints desolaten Zustand geflissentlich zu übersehen. Hier war der Gast noch König - und Königen stellte man keine peinlichen Fragen. Zudem trug der Rauminfanterist seine Ausgehuniform, was ihm einen gewissen Respekt verschaffte. Er selbst fühlte sich in dieser Umgebung nicht sonderlich wohl. Eine schäbige Absteige wäre ihm lieber gewesen. Allmählich bekam er eine ungefähre Preis Vorstellung für die Wonnen, die ihm 33 seine Begleitung auf dem Zimmer bereiten wollte. »Wie... wieviel kostest du eigentlich?« fragte er sie im Aufzug. »Der Sold eines einfachen Infanteristen...« »Was du heute nacht von mir bekommst, ist nicht mit Gold aufzuwiegen«, schnitt sie ihm das Wort ab und warf ihm einen Kußmund zu. »Deshalb kriegst du es umsonst, quasi als Werbegeschenk.« »Eine Gratisnummer?« staunte Flint. »Wie kannst du es dir leisten, so großzügig zu deinen Freiern zu sein? Allein die Stundenmiete fürs Zimmer muß dich ein halbes Vermögen kosten.« »Darum brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich habe die Suite für die ganze Nacht gebucht.« »Sagenhaft!« entfuhr es Flint. Als hinter ihm die Zimmertür ins Schloß fiel, kam er sich vor wie im Paradies. Cinderella verstand es offenbar zu leben. Sie hatte die »Honeymoon-Suite« gebucht, ein Liebesnest erster Güteklasse, in dessen Mittelpunkt ein großes rundes Bett stand - eine bequeme Spielwiese, die für eine Sechspersonenorgie ausgereicht hätte. ; Der angetrunkene Soldat strebte zunächst ein anderes Ziel an: die Bar. Hinter einem zierlichen Schanktresen stand ein Regal mit verschiedenen Flaschen, die unterschiedliche alkoholische Getränke beinhalteten. Flint war fest entschlossen, bis zum Morgen alle durchzuprobieren, eins nach dem andren. »Was für ein Unterschied zu den winzigen Kühlschränken mit den noch winzigeren Fläschchen, die man sonst auf Hotelzimmern vorfindet«, bemerkte er gutgelaunt, nachdem er die ersten beiden Buddeln geköpft hatte- »Trinkst du nichts mit?« »Ich mache mir nichts aus Alkohol«, entgegnete die blonde Frau. »Rauchen tu ich übrigens auch nicht. Andere Laster sind mir lieber.«
»Nur zu, ich bin für alles zu haben«, sagte er augenzwinkernd. »Wenn ich richtig in Fahrt komme, kenne ich keine Tabus.« Cinderella kam um den Tresen herum. 34 »Weißt du, welches der wichtigste Körperteil des Mannes ist?« fragte sie ihn. »Es ist der >Rutsch-mir-den-Buckel-runter-Finger<. Ihr Kerle benutzt ihn bei jeder Fahrt mit dem Schweber.« »Meinst du den hier?« erwiderte Flint grinsend und hielt ihr den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Cinderella griff blitzschnell zu. Mit gekonntem Griff drehte sie Flints Finger erst links-, dann rechtsherum. Ihn durchzuckte ein heftiger Schmerz, und er ließ sein Glas fallen. »Spinnst du?« jaulte er auf. »Verdammt, laß mich los!« »Ich denke, du bist für alles zu haben«, spöttelte sie. »Mein größtes Laster ist das Knochenbrechen. Dabei gehe ich schön langsam und genüßlich vor. Mit deinen Händen fange ich an. Anschließend ist der Unterarm dran, später folgen die Fußknöchel... das Genick hebe ich mir meist bis zum Schluß auf.« »Du bist ja irrsinnig!« keuchte Flint. »Laß mich gehen! Bitte! Ich tu alles, was du willst! Brauchst du Geld? Viel habe ich zwar nicht bei mir...« »Wo hält sich der Commander der Planeten auf?« fragte sie ihn scharf. »General Martell läßt mich nach Pluto versetzen, wenn ich dir das sage«, jammerte er. »Der genaue Standort des Regierungslandsitzes darf nicht jedermann zugänglich gemacht werden.« Seine Peinigerin verstärkte ihre Bemühungen. Flint hörte und fühlte, wie seine Fingerknochen mit häßlichen Geräuschen zerbrachen. Tapfer biß er die Zähne zusammen, bis ihm die Augen tränten. Minuten später kannte Cinderella nicht nur die genaue Lage von Dharks Landsitz in den Rocky Mountains, sie wußte jetzt auch, daß sich dort außer dem Commander und Dan Riker noch der weltweit gesuchte Jim Smith sowie ein kleines Mädchen aufhielten - und daß die Rauminfanterie den Ort weiträumig abgeriegelt hatte. Sie ließ Flint los. Verblüfft blickte er auf seine Hand, die noch völlig intakt war. 35
»Erstaunlich«, murmelte er. »Ich hätte gewettet, keinen einzigen Finger mehr bewegen zu können.« »Ein uralter japanischer Trick«, erwiderte Cinderella schmunzelnd. »Man übt etwas Druck auf bestimmte, schmerzempfindliche Punkte aus und schnalzt dabei geräuschvoll mit der Zunge - den Rest besorgt die Angst.« Flint wurde wütend. »Angst? Ich habe keine Angst vor dir! Schon vergessen, daß man mich den Bullen nennt?« Mit geballten Fäusten ging er auf sie los. Hätte eine Schußwaffe zu seiner Ausgehuniform gehört, er hätte sie ohne zu zögern eingesetzt, so zornig war er. Der »Bulle« war es gewohnt, knallharte Gegner auf die Bretter zu schicken. Diesmal übernahm er sich jedoch. Als er nach einem klassischen Knockout erwachte, lag er sachgerecht gefesselt und geknebelt auf dem großen runden Bett. Er war allein. Cinderella hatte die Suite soeben verlassen. Nachdem sie ein »Bitte nicht stören! «-Schild am äußeren Tür-knauf befestigt hatte, ging sie gemächlich zum Antigraviift. Ihr Handgepäck hatte sie bei sich. Die Suite war bereits im voraus bezahlt, so daß sie sich direkt zur Dachplattform begeben konnte, wo ihr Mietjett parkte. Spannende Erlebnisse in fremden Hotels pflegten normalerweise ganz harmlos anzufangen. Dieses hier hatte bereits aufregend begonnen - im fernen Himalaja, wo achtundvierzig Menschen mit dem Tode rangen... Mark Carrell würde der erste sein. Sein Tod würde das große Cyborg-Sterben einleiten - wenn nicht noch ein Wunder geschah. Ich verfügte über viele Begabungen, doch Wunder vollbringen konnte ich nicht. Es sah ganz so aus, als würde die Natur über die Wissenschaft triumphieren. Wir hätten uns niemals mit ihr anlegen dürfen. 36 Wir? Genaugenommen traf mich keine Schuld. Als sich Echri Ezbal an den Körpern von Mark Carrell, Holger Alsop, Bram Sass, Lati Oshuta, Jan Burton, Ule Cindar, Jes Yello und all den anderen Betroffenen versündigt hatte, hatte es mich noch gar nicht gegeben. Erst
am 26. Januar 2058, also vor ungefähr einem Jahr, war ich in den Fabrikhallen von Wallis Industries hergestellt worden. Und im September desselben Jahres hatte Ezbal mir zwecks eines Experiments einen Nexus aus vierundzwanzig hochwertigen Programmgehirnen eingebaut - woraufhin ich zum Leben erweckt wurde. Die Ursache für meine »Geburt« hing vermutlich mit einem Fehler im Nanobereich zusammen. Was nicht bedeutete, daß meine Erweckung an sich ein Fehler war. Im Gegenteil, es war das Beste, was mir je passieren konnte. Mein metallenes Körpergestell auf zwei Beinen - in groben Zügen menschlichen Formen nachempfunden wirkte auf zartbesaitete Gemüter zwar ein bißchen unheimlich, aber ich war damit mehr als zufrieden. »Blechmänner« nannte der Volksmund Roboter meines Typs. Man konnte uns überall erfolgreich einsetzen, im Haushalt, in Fabriken, sogar beim Militär. Wir waren strapazierfähiger und intelligenter als der Durchschnittsmensch. Allerdings besaß außer mir kein Roboter ein Bewußtsein; alle anderen waren seelenlose Maschinen. War ein Roboter mit Bewußtsein nicht genauso widernatürlich wie die Cyborgs mit ihren übermenschlichen Kräften? Ich betrachtete mich eher als den lebenden Beweis, daß man Wissenschaft und Natur durchaus miteinander in Einklang bringen konnte, vorausgesetzt, man ging mit Vernunft und Behutsamkeit vor. Der Plan, die Leistungsfähigkeit der Cyborgs durch spezielle Viren ins Unermeßliche zu steigern, hatte zwar im Ergebnis funktioniert, doch damit waren die Forscher einen Schritt zu weit gegangen. Das hatte inzwischen auch Ezbal eingesehen. Der hundertjährige, weißbärtige Brahmane war eine wissenschaftliche Koryphäe, aber selbst er war nicht unfehlbar. Bei der Entwicklung der ersten Cyborgs hatte man sich noch darauf beschränkt, die natürlichen Körperkräfte und die Intelligenz der freiwilligen Kandidaten zu erhöhen, ohne ihre gesundheitliche Belastbarkeit zu gefährden. Dies war unter anderem durch die Einsetzung von Programmgehirnen, künstlichen Kraftverstärkern und die Verabreichung eines Adhesivs erreicht worden. Doch dann hatte man auf dem Planeten Bittan das F-Virus entdeckt. ..
Es war den Menschen alles andere als freundlich gesinnt. Ezbal hatte dennoch versucht, es nutzbar zu machen. Mit Erfolg - so hatte es anfangs zumindest ausgesehen. Das gefährliche Virus war der Auslöser für den Phant. Nach seiner Aktivierung durch Reizstrom band es Flüssigkeiten und Gasgemische im Körper eines Cyborgs, wodurch dieser gegen äußere Einflüsse besonders resistent wurde, etwa bei extremen Druck- und Temperaturschwankungen. Sogar der zeitlich begrenzte Aufenthalt im Weltall war im Phantzustand möglich. Die Cyborgs wuchsen nach dem Phanten weit über sich hinaus. Sobald sie aufs Zweite System umgeschaltet hatten, wurden sie zu Übermenschen, deren Tun und Handeln überwiegend vom Programmgehirn bestimmt wurde, das einen ordnenden Einfluß auf ihr Verhalten ausübte. Allerdings hatten sie jederzeit die Möglichkeit, bei allzu unmenschlichen Entscheidungen zurückzuschalten, so daß sie nie die letzte Kontrolle über sich verloren. Hatte die Forschung damit den Grundstein zu einem neuen, von Vollkommenheit geprägten Menschenschlag gelegt? Die meisten Einsätze waren weitgehend zufriedenstellend verlaufen. Aufgetretene Schwierigkeiten hatte man stets wieder in den Griff bekommen. Erfahrene Wissenschaftler hatten die Erfolgsstory der Cyborgs mit flinker Feder laufend fortgeschrieben, ohne daß ein Epilog in Sicht war... Jetzt war der Traum vom perfekten Menschen ausgeträumt. Der Wegfall der harten galaktischen Strahlung hatte zur Mutation der 38 Phant-Viren und als Folge davon zur Verwandlung und Erkrankung der Cyborgs geführt. Daraufhin hatte Ezbal beschlossen, künftig keine F-Viren mehr einzusetzen. Ein Entschluß, der für achtundvierzig Betroffene aller Wahrscheinlichkeit nach zu spät kam. Lediglich vier Cyborgs standen derzeit nicht an der Schwelle des Todes. Die Viren der ehemals geisteskranken Zwillingsbrüder George und Charly Snide waren schon zu einem früheren Zeitpunkt mutiert, direkt nach dem Kontakt mit ihren Körpern. Darum machten ihnen die veränderten Strahlenverhältnisse nichts aus - sie waren immun. Dharks Regierungsstellvertreter Henner Trawisheim war nie mit dem F-Virus in Berührung gekommen. Er war der einzige Cyborg auf
rein geistiger Basis, sprich: Trawisheim verfügte über ein besonderes Programmgehirn, das seine logische Denkfähigkeit und Kombinationsgabe förderte, ihm aber keine besonderen physischen Kräfte verlieh. Die vierundzwanzigj ährige Amy Stewart war bisher die einzige Frau in der Cyborg-Clique. Mit achtzehn Jahren war sie in die Armee eingetreten und hatte bei der Terra Defence Force ihre Ausbildung zur Einzelkämpferin erfolgreich abgeschlossen. Im Jahr 2057 war Ezbal auf sie aufmerksam geworden und hatte sie ins Brana-Tal geholt. Seither hatte Amy die üblichen Prozeduren zur Kraftverstärkung durchlaufen. Zudem besaß sie ein nach neuesten Erkenntnissen gefertigtes Programmgehirn. Ihr Erstkontakt mit den Phant-Viren hatte kurz bevorgestanden... Nun war sie bestimmt heilfroh, daß die Behandlung noch nicht erfolgt war. Andernfalls müßten wir heute auch um ihr Leben bangen. Ich selbst benötigte keine Viren für meine Weiterentwicklung. Dank meiner unnachahmlichen Beobachtungs- und Auffassungsgabe lernte ich fortwährend dazu. Auch sonst besaß ich Fähigkei-^ ten, die mich über normale Roboter stellten. Beispielsweise konnte 39 ich andere Rechner manipulieren oder mich ins weltweite Netz einklinken. Auf diese Weise hatte ich innerhalb kürzester Zeit alle außer Kontrolle geratenen Cyborgs ausfindig gemacht, obwohl sie sich über die ganze Erdkugel verstreut hatten. Mittlerweile waren sie wieder hier im Himalaja, in der geheimen Cyborgstation im Brana-Tal. Nur für einen - Rok Nassis - war jede Hilfe zu spät gekommen. Die verängstigten Einwohner eines indischen Armenviertels hatten ihn noch vor Eintreffen der GSO umgebracht. Alle übrigen hatten wir rechtzeitig in Gewahrsam nehmen und von den mutierten Phant-Viren befreien können. Doch zu welchem Preis? Ihre Körperzellen waren mit den Viren eine solch innige Symbiose eingegangen, daß ohne die fremden Erreger ein Cyborg nach dem anderen würde sterben müssen. Mark Carrell, der als erster behandelt worden war, würde voraussichtlich den Anfang machen. Das Problem schien unlösbar. Ohne Viren erwartete die Cyborgs der sichere Tod. Und mit den Viren auch; sie würden sich wieder in Mutanten verwandeln und unter größten Schmerzen langsam
krepieren. All das war natürlich streng geheim. Dort, wo die Cyborgs gewütet hatten, legte die Regierung ein ungewohntes Tempo vor und erwies sich bei der Wiedergutmachung der Schäden als äußerst großzügig. Gleichzeitig bemühte sich die Galaktische Sicherheitsorganisation um die Verschleierung der Wahrheit, denn offiziell gab es keine Cyborg-Experimente, und auch die Existenz der Forschungsstation wurde stets geleugnet. Jeder Verstoß gegen das Geheimhaltungsprinzip zog schwerwiegende Folgen nach sich. Fehler und Fehlschläge waren verzeihlich - Verrat nicht. Darüber waren sich auch meine sechsundfünfzigjährige, resolute Freundin Jamie Savannah und ihr dreiundzwanzigjähriger, verweichlichter Neffe Frank Buscetta im klaren. Beide waren mehr oder weniger zufällig in die Cyborg-Krise hineingeraten. Ich hatte sie mit nach hierher genommen, auf ihren eigenen Wunsch hin. 40 Die beiden hatten sofort voller Begeisterung damit begonnen, ihre neue, außergewöhnliche Umgebung zu erkunden. Obwohl man ihnen nicht überall Zutritt gewährt hatte, hatten sie vieles in Erfahrung gebracht, was nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt war. Mittlerweile dachte Savannah an eine Rückkehr. Sie war Fernfahrerin. Ein hartes Geschäft. Jeder Tag, den sie länger im Brana-Tal blieb, bedeutete für sie erheblichen Auftrags Verlust, denn die Konkurrenz schlief nicht. Doch konnte man eine Zivilistin, die innerhalb kürzester Zeit mehr militärische Regierungsgeheimnisse erfahren hatte als mancher Offizier in seinem ganzen Leben, so einfach in ihr früheres Leben entlassen? Mit Buscetta verhielt es sich umgekehrt. Er hätte nichts dagegen gehabt, im Himalaja zu bleiben. Außer seiner Comicsammlung würde er laut eigenem Bekunden nichts vermissen. Aber was sollte man im Brana-Tal mit ihm anfangen? Soweit mir bekannt war, war er Gelegenheitsarbeiter ohne außergewöhnliche Befähigungen. Ein Feigling, der Konfrontationen aller Art grundsätzlich aus dem Weg ging. Ein Seiltänzer, der sich irgendwie durchs Leben schlug und sich keine Gedanken über seine Zukunft machte, geschweige denn über die Fortentwicklung der Menschheit.
Wer hatte für einen derart verantwortungslosen Zeitgenossen schon Verwendung? Daß er sich aufopfernd um das grüne Monstrum alias Bram Sass gekümmert hatte, trotz seiner ihm angeborenen Ängstlichkeit, paßte eigentlich gar nicht zu ihm. Sollte doch noch ein Rest von Verantwortungsgefühl in ihm erwacht sein? War er jetzt vielleicht bereit, etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen? Diese Fragen und vieles mehr beschäftigten eine ganze Reihe meiner Schaltkreise, während ich mich mit Ezbal, dem aztekischen Cyborgtrainer Ember To Yukan und einigen weiteren Fachkapazitäten im kleinen Konferenzsaal über die Situation der Cyborgs be-^ riet. Obwohl ich keine wissenschaftliche Ausbildung genossen 41 hatte und nur auf geringfügige persönliche Erfahrungswerte zurückgreifen konnte, legte man Wert auf meine Anwesenheit und Meinung. Zugegeben, das machte mich ein wenig stolz. Aber eine Lösung des Problems hatte auch ich nicht parat. Dabei gab es auf Terra mit Sicherheit keine klügere Maschine als mich. Abgesehen vielleicht vom Checkmaster, dessen Kenntnisse allerdings nicht so vielfältig waren wie meine. Sein von den Mysterious programmiertes Wissen beschränkte sich weitgehend auf Raumfahrttechnik, Kriegstaktiken, außerirdische Völker und Einblicke ins unendliche AU. Insbesondere bei letzterem war er mir weit voraus. Noch. Obwohl man munkelte, er würde eine biologische Komponente besitzen, bezweifelte ich, daß er sich seiner Existenz wirklich bewußt war. Zwar war er der ungekrönte König aller mir bekannten Suprasensoren, aber über den Status eines normalen Gerätes kam er nie hinaus. Er war und blieb eine leblose Maschine. Im Gegensatz zu mir. Ich war ich. »Hörst du überhaupt zu, Artus?« fragte mich To Yukan, der mir gegenübersaß. »Du wirkst so geistesabwesend.« »Das täuscht«, versicherte ich ihm. »Dank meiner Vielzahl von Programmgehirnen kann ich mich mit mehreren Vorgängen zeitgleich beschäftigen.« Ember To Yukan war knapp fünfzig Jahre alt, hatte blauschwarze Haare sowie graue Augen mit einem rötlichen Stich. Seine Aufgabe war es, die Cyborgs auszubilden. Zu allen seinen »Jungs«, wie er sie
nannte, hatte er eine persönliche Beziehung entwickelt, weshalb ihn die fortschreitende achtundvierzigfache Erkrankung besonders schmerzte. Um Amy Stewart kümmerte er sich mit demselben Enthusiasmus, jedoch kam er gefühlsmäßig nicht sehr nah an sie heran. Zwar nahm sie ihre Ausbildung sehr ernst, aber sobald es zu persönlich wurde, blockte sie ab. So hatte er es jedenfalls Ezbal erzählt - und ich hatte es »zufällig« mitgehört. (Man nannte mich nicht umsonst den Roboter, der seine Sensoren überall hatte.) »Augenblicklich analysiere ich gerade mein Umfeld«, fuhr ich fort. »Außerdem berechne ich die Überlebenschancen der Cyborgs bei Annahme deines Vorschlags. Gleichzeitig suche ich nach einem weniger risikoreichen Weg. Bisher sehe ich leider keine Alternative.« »Es muß eine geben«, warf Ezbal ein. »Einem erneuten Einsatz des F-Virus werde ich auf gar keinen Fall zustimmen.« »Damit liefern Sie die Cyborgs dem sicheren Verderben aus«, hielt To Yukan ihm vor. »Warum ziehen wir nicht die Snide-Zwillinge hinzu und fragen sie, was sie von meiner Idee halten? Die Durchführung hängt eh von ihrer Zustimmung ab. Falls sie sich weigern...« »Sie wissen so gut wie ich, daß sich die beiden nicht weigern werden«, fiel Ezbal ihm ins Wort. »Um ihre Kameraden zu retten, würden sie nach jedem Strohhalm greifen.« Einer der Anwesenden schlug vor, über Embers Vorschlag abzustimmen. Trotz schwerer Bedenken von Echri Ezbal wurde schließlich der Entschluß gefaßt, To Yukans Empfehlung zu folgen. Den Snides war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sich einige ihrer immunisierten Phant-Viren entnehmen zu lassen, um sie den anderen Cyborgs einzupflanzen. Niemand konnte sagen, ob der Schuß nicht nach hinten losging und sich die Erkrankung dadurch noch verschlimmerte. »Vielleicht wird ihr Sterben durch unsere speziellen Viren beschleunigt«, unkte George Snide, und Charly fügte hinzu: »Dann würde es mir vorkommen, als hätte ich sie alle eigenhändig getötet.« Trotz ihrer Bedenken, die von Echri Ezbal geteilt wurden, gaben sie
ihr Einverständnis. 43 Mein Schöpfer schwamm diesmal nicht gegen den Strom. Statt dessen fügte sich Ezbal dem Mehrheitsbeschluß und half bei der Durchführung des gefährlichen Experiments tatkräftig mit. Es war erschütternd zu sehen, daß dieser hochintelligente Mann keine andere Lösung fand als diese spezielle, die er eigentlich ablehnte. Selbstverständlich reichten die entnommenen Virenproben nicht für alle erkrankten Cyborgs aus, sie dienten lediglich Zuchtzwek-ken. Um die Nachzüchtung zu beschleunigen, wandte Echri Ezbal ein bislang unerprobtes Verfahren an. Unter Hinzufügung eines von ihm entwickelten Chemikaliengemischs vermehrten sich die Sni-deViren in Unmengen von Petrischalen mit speziellen Zellkulturen auf nahezu gespenstische Weise. »Nehmen die Viren dabei keinen Schaden?« erkundigte ich mich bei meinem indischen »Vater«. Ezbal beantwortete meine Frage aufrichtig, wie man es von ihm gewohnt war. »Das ist nicht auszuschließen. Möglicherweise verlieren sie ihre Immunität und haben dieselbe Wirkung wie normale Phant-Viren. Deshalb laufen nebenher weitere Zuchtversuche m Brutkästen, wobei ausschließlich herkömmliche Methoden angewendet werden. Das dauert aber seine Zeit.« Zeit, die wir nicht mehr hatten, denn die Cyborgs wurden immer schwächer - allen voran Mark Carrell. Während die Zuchtprogramme liefen, konnte ich nichts weiter tun. Selbst Ezbals Schnellverfahren benötigte eine gewisse Zeitspanne. Ich beschloß, die Zwangspause sinnvoll zu nutzen und mich um eine bessere Befestigung meiner Extremitäten zu kümmern. Noch einmal sollte mir kein mutierter Cyborg den Arm ausreißen und auch sonst niemand. Zwar entstammte ich einer Billigroboterproduktion, doch bei meiner »Körperpflege« legte ich Wert auf Qualität. Jeder Kegelroboter war stabiler gebaut als ich, das durfte ich nicht länger hinnehmen. Buscetta bot sich an, mir zu helfen. Warum nicht? Er war von den hochmodernen Werkstätten, die es im Brana-Tal gab, überaus angetan. Wie er mir erzählte, hatte er bereits in diversen Werksanlagen, Großfabriken und Schweberwerkstätten gearbeitet, aber...
»... nichts war wie das hier. Für jeden Handgriff scheint es das geeignete Werkzeug zu geben.« Meine Begeisterung für den ausgewählten Arbeitsraum hielt sich in Grenzen. Auf dem Werksgelände von Wallis Industries gab es Hallen, die so riesig waren, daß Menschen sich darin verlaufen konnten. Wenn man einmal darin gestanden hatte, kam einem jede andere Werkstatt wie eine Hinterhofgarage vor. Andererseits wollten wir ja kein Raumschiff bauen. Wir waren vollauf mit der Konstruktion meiner neuen Armbefestigung beschäftigt, und Buscetta war mir - entgegen meiner anfänglichen Befürchtungen - eine nützliche Hilfe. Die neue Konstruktion sollte auch bei meinen Beinen angewendet werden. Mit nur einem Arm konnte man notfalls weiterkämpfen. Doch humpelnd auf einem Bein...? Mit dem Einsatz eines stabileren, über einen größeren Durchmesser verfügenden Lagers war es nicht getan, dafür war zuwenig Platz vorhanden. Deshalb konzentrierten wir uns darauf, das Problem hauptsächlich im Mikrobereich zu lösen, wofür man besonders scharfe Augen brauchte, aber die hatte ich ja. Mit Hilfe meiner Optik konnte ich jede noch so geringfügige Messung vornehmen. Ein auf Lichtbasis funktionierender Meßstrahl sorgte für exakte Ergebnisse. Menschen benötigten dafür ein Werkzeug, das die Bezeichnung »Chrometo« trug. Mein Plan war, einige winzige, aber wichtige Teile der Befestigung derart miteinander zu verästeln und zu verschrauben, daß selbst die stärkste Maschine nicht in der Lage war, sie auseinanderzureißen oder zusammenzupressen. Dafür mußte kein hoch-kompliziertes System angewendet werden, es genügten ein paar elementare Berechnungen. Manchmal reichten schon einfache technische Möglichkeiten aus, um schwierigste Probleme zu lösen. Umgekehrt benötigte man für die Bewältigung scheinbar leichtester Aufgaben mitunter mächtige Apparaturen. Während Buscetta weitere Messungen durchführte, die ich für meine Berechnungen benötigte, durchstöberte Savannah die Werkstatt. Auch sie zeigte sich begeistert. Einige der Werkzeuge hätte sie am liebsten für ihren Notfallreparaturkasten an Bord ihres Lasten schwebers mitgenommen. »Wenn man bedenkt, womit ich mir behelfen muß, wenn ich mal auf
der Landstraße liegenbleibe«, murmelte sie. Die Arbeiter, die normalerweise hier tätig waren, hatten Feierabend gemacht, so daß wir drei die Räumlichkeiten ungestört nutzen konnten. Nachdem mir Frank alle erforderlichen Meßdaten durchgegeben hatte, fiel mir auf, daß er seinen Chrometo achtlos beiseitegelegt hatte. »Wie hast du die Messungen durchgeführt?« erkundigte ich mich verblüfft. »Pi mal Auge?« »Zum Teil mit dem Chrometo, zum Teil hiermit«, antwortete Buscetta und zeigte mir einen winzigen Gegenstand. »Was ist das?« fragte ich ihn nach einer vergeblichen Speicherabfrage mit Bildabgleich. »Eine Feinmeßschraube«, erklärte er mir. »Damit kann man Längen auf 0,01 Millimeter genau aus der Verschiebung einer gedrehten Schraube gegenüber einer feststehenden Mutter messen.« »Das kann ich auch ohne so'n seltsames Ding«, entgegnete ich. »Wann wurde dieses Verfahren zuletzt angewendet? Im Mittelalter? In meinen Speichern kann ich darüber jedenfalls nichts finden.« »Versuches mal mit der Eingabe > Mikrometerschraube <«, riet Savannah mir. »Die Bezeichnung >Feinmeßschraube< wurde zuletzt um 1980 herum verwendet.« 46 »Ich habe den Ausdruck von meinem Großvater übernommen«, merkte Frank an. »Er war ein stadtbekannter Handwerker. Man nannte ihn König Midas, weil er die Arbeit, die durch seine Hände ging, zu Gold machte. Na ja, Gold war es nicht gerade, aber immerhin ein gerechter Lohn. Sonderlich reich war unsere Familie leider nie.« Buscetta war schmächtig, kurzhaarig und hatte sein Kinn mit einem dunklen schmalen Bärtchen verziert - genannt »Künstlerbärtchen« (warum auch immer). Am auffälligsten war das fröhliche Blitzen in seinen Pupillen, das so gar nicht zu Savannahs negativer Charakterisierung ihres Neffen passen wollte. Ich konnte in seiner Optik lesen wie in einem Buch des berühmten deutschen Poeten Heinz Erhardt. »Bin ich nicht ein Schelm?« schienen mich Franks Augen zu fragen. War es möglich, daß er seiner Umwelt den unbeholfenen Spinner nur
vorgaukelte? Daß er ausgebuffter war als er vorgab? Auf Savannahs Geheiß hin suchte ich nach >Mikrometerschrau-be< und fand die Dateien. Umgehend ergänzte ich die mir innewohnenden Informationen. Offenbar war Buscetta zumindest auf handwerklichem Gebiet kein Dummkopf. Dennoch hielt ich es für angebracht, seine Messungen zu überprüfen. Ich stieß auf keinen Fehler. Jamie nannte das den »Sieg der Mechanik über die Elektronik«. Obwohl Echri Ezbal keine Turnschuhe trug, hörte man ihn nur selten kommen. Meist bemerkte man ihn erst, wenn er direkt vor oder hinter einem stand. »Ich muß mit euch reden«, sagte er mit einer Miene, die nichts Gutes verhieß. Hatte er etwa...? »Du bist mit der ersten Züchtung fertig, richtig?« vermutete ich. Ezbal nickte stumm. Ich äußerte eine weitere Vermutung. »Hast du die neuen Viren bereits injiziert?« Wieder nickte er, ohne ein Wort zu sagen. 47 »Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?« fragte ich ihn. »Ich wollte dir doch assistieren.« »Du warst beschäftigt«, antwortete er und warf einen Blick auf das noch unfertige Modell der Befestigungskonstruktion. »Gute Arbeit.« »Wir sind auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht fertig«, erwiderte ich. »Und jetzt lenk bitte nicht vom Thema ab, Ezbal. Du bist doch nicht hergekommen, um unsere Arbeit zu begutachten, stimmt's?« Ich duzte grundsätzlich jeden und redete ihn beim Hauptnamen an. »Stimmt«, bestätigte mir mein Gesprächspartner. »Meine Anwesenheit hat einen weitaus wichtigeren Grund.« Ich befürchtete das Schlimmste. »Wie... wie haben die Cyborgs auf die Injektion reagiert? Sie haben nicht überlebt, habe ich recht?« 3.
Nach mehreren Transitionen erreichte die CHARR das GerrckSystem, die Heimat der Grakos. Rund 26 000 Lichtjahre bis zum Sol-System! ging es Huxley durch den Kopf. Also fast schon zu Hause... im September 2058 hatte hier eine der furchtbarsten Raumschlachten in der noch kurzen astronautischen Ära der Menschheit stattgefunden. Ein Verband aus sämtlichen terranischen S-Kreu-zem sowie Ren Dharks POINT OF hatte das Gerrck-System angegriffen, um die Gefahr durch die Grakos endlich zu beseitigen. Die TF hatten einen hohen Blutzoll entrichten müssen. Vierzehn S-Kreuzer waren von den Grakos vernichtet worden, bevor es den Terranern schließlich gelang, die Werftanlagen für die sogenannten Schattenstationen auszuschalten. Das erst hatte das Schicksal der Grakos besiegelt. Die von künstlichen Hyperraumblasen umgebenen Insektoiden waren besiegt worden, und die Rückkehr der Gordo nach Grah stellte so etwas wie eine gewisse Garantie dafür dar, daß der Frieden auch hielt. Die Gordo stellten die ausgereifte Form der Grakos dar. Sie ähnelten über zehn Meter großen Libellen. Vor zehntausend Jahren waren die Gordo von ihrer entarteten und mit künstlichen Hyperraumblasen ausgestatteten, zu Schatten mutierten Jungzucht nahezu vernichtet worden. Nur wenige hatten sich vor den äußerst aggressiven Grakos zu jener Zeit in den Untergrund zu retten vermocht. Jetzt aber waren die Gordo zurückgekehrt und übten wieder die Herrschaft über Grah aus. Tatkräftig unterstützt wurden sie dabei von ihren terranischen Verbündeten, die der Gordo-Regierung im übrigen 150 GiantRaumer zur Verfügung gestellt hatten. »Wir erreichen in wenigen Augenblicken einen stabilen Orbit ^ Grah«, riß die Stimme des Ersten Offiziers Lee Prewitt den Befehlshaber der CHARR aus seinen Gedanken heraus. Prewitt besetzte im Moment die Pilotenkonsole. Sein gegenwärtiger Kopilot Henroy ergänzte: »Alles scheint normal zu sein. Ich erwarte keine Schwierigkeiten...« »Sehr gut«, meinte Huxley. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man jetzt auf uns reagiert«, knurrte Prewitt, der mit leicht angespannter Miene auf die Bildprojektion des Planeten Grah blickte. »Die Infrastruktur der
Grako-Raumkontrolle dürfte weitgehend zerstört sein, und ob sich das neue Gordo-Regime schon gut genug etablieren konnte, um dafür einen Ersatz zu installieren, kann ich nicht einschätzen, Commander.« »Wir werden sehen«, murmelte Frederic Huxley. Der grauhaarige Colonel stellte eine Verbindung zur Funk-Z her. John Butro-vich, der Funktechniker der CHARR, hatte wie die meisten anderen Terraner, die sich zur Zeit an Bord des Nogk-Raumers befanden, bereits unter Huxley gedient, als dieser noch Commander des Forschungsraumschiffs FO-I gewesen war. »Versuchen Sie, Kontakt mit der Gordo-Regierung aufzunehmen, John.« »In Ordnung, Sir.« Ortungsoffizier Perry meldete sich. »Drei Raumer nähern sich. Es handelt sich zweifellos um ehemalige Giant-Raumer aus terranischen Beständen. Wir werden aufgefordert, uns zu identifizieren.« Huxley nickte. Sein nachfolgender Befehl richtete sich an die Funk-Z. »Senden Sie die entsprechenden Signale, John!« »Aye.aye, Sir!« Wenig später erschien die Projektion eines Gordokopfes, der dem einer irdischen Libelle sehr ähnlich war. Im Gegensatz zu den Grakos, die untereinander in einer mit vielen Klicklauten durchsetzten Sprache kommunizierten, ähnelte die Verständigung der erwachsenen Gordo-Form dieser Spezies jener der Nogk. Es wurden Gedanken zu mentalen Bildimpulsen umgewandelt. Dabei 50 handelte es sich nicht um Telepathie im klassischen Sinn, denn weder Nogk noch Gordo waren in der Lage, die Gedanken eines Menschen gewissermaßen abzuhören. Aber die konzentrierten Gedanken eines Gordo waren für Menschen verständlich. Umgekehrt konnten Menschen, wenn sie sich genügend konzentrierten, auch von den Gordo verstanden werden. In diesem Fall allerdings erreichte die CHARR eine akustische Botschaft in fließendem Angloter. Das Translatorprogramm des ehemaligen Giant-Raumers mußte dafür gesorgt haben. »Hier spricht der Gordo-Commander der provisorischen Raum-
kontrolle von Grah. Ihre Identifikationsdaten haben wir erhalten. Wir hoffen, daß Sie sich dem Planeten Grah in friedlicher Absicht nähern.« Der Bildausschnitt, der von dem Ex-Giant-Raumer gesendeten visuellen Projektion änderte sich. Ein Teil der Zentrale des Raumers wurde sichtbar. Grakos besetzten die meisten Konsolen. Die Insektoiden waren durch die künstliche Hy perraumblase, die sie zeitlebens umgab, kaum zu sehen. Nur wenn sie sich bewegten, hatte man den Eindruck eines fließenden, dunklen Schattens. Daher ihr Name... Erst zukünftige Grakogenerationen würden ohne diese Hyperraumblase leben können, die ein Teil der Manipulation darstellte, die mit dieser Rasse durchgeführt worden war. Der Anblick der Schatten versetzte Huxley unwillkürlich einen Such. Zu frisch waren noch die Erinnerungen an die brutalen Kämpfe mit dieser erbarmungslosen Kriegerspezies. Ein Gordo führt das Kommando, meldete sich eine beruhigende Stimme in Huxleys Hinterkopf. Es besteht objektiv kein Anlaß zur Sorge. Eine weitere Gestalt trat jetzt in den Bildausschnitt, der sich erneut veränderte. Neben dem Gordo wirkte diese Gestalt geradezu lächerlich klein. Ein Terraner. »Colonel Huxley! Hier spricht Major Brent Dawson. Wie Sie sehen, unterstützen wir die Gordo-Regierung, wo es nur geht. In Ihren Identifikationsdaten war kein Auftrag der TF enthalten.« »Ich bin in einer offiziellen Mission des Nogk-Imperiums hier.« »Interessant. Und was ist das für eine Mission?« »Wir erbitten die Öffnung der historischen Datenarchive auf Grah für uns. Für das Volk der Nogk ist es von existentieller Bedeutung, zu wissen, ob mit den Grakos der sogenannte uralte Feind besiegt worden ist, der sie seit ewigen Zeiten von einem Sonnensystem zum nächsten hetzt.« Major Brent Dawson hob die Augenbrauen. »Existieren daran denn irgendwelche Zweifel?« »Es gibt solche Zweifel, Major. Und falls sie sich bewahrheiten, bedeutet das für die Nogk, daß sie noch immer nicht sicher sind.«
Major Brent Dawson wandte sich an den Gordo-Kommandanten des aus drei ehemaligen Giant-Raumem bestehenden Verbandes. Was die beiden untereinander an Kommunikation austauschten, wurde nicht zur CHARR übertragen. Die Translatorstimme des Giant-Raumers meldete sich wieder zu Wort und übersetzte die Gedankenimpulse des Gordo in gut verständliches Angloter. »Ich sehe keinen Grund, warum Ihnen die Erfüllung Ihrer Wünsche versagt werden sollte«, erklärte der Gordo. »Ich werde in dieser Frage die gegenwärtige Regierung kontaktieren und mich dann wieder melden.« Die Bildprojektion verblaßte. »Der Anblick raumfahrender Grakos beunruhigt mich«, äußerte der Erste Offizier Prewitt. Huxley lächelte mild. »Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Anblick sprechen kann! Man sieht die Schatten ja kaum...« 52 »Gerade das erweckt diese Ängste«, meldete sich Sybilla Bontempi zu Wort. Die Fremdvölkerexpertin hatte soeben die Zentrale betreten und den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen. »Ich denke, wir können darauf vertrauen, daß die Gordo die Lage unter Kontrolle halten«, sagte Huxley. Sybilla Bontempi blieb neben Huxley stehen. Sie deutete dorthin, wo soeben noch die Projektion des GordoKommandanten der provisorischen Raumkontrolle im Gerrck-System zu sehen gewesen war. »Wie ich sehe, haben Sie meine Hilfe nicht benötigt, Comman-der!« Huxley hörte den feinen Unterton sehr wohl, der in Sybillas Stimme mitschwang. Sie ist beleidigt, dachte Huxley. Auch wenn Sie das niemals zugeben würde: Ich kenne sie inzwischen gut genug, um diese Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diagnostizieren zu können. Und das ganz ohne telepathische Begabung... »Mit friedliebenden Gordo zu verhandeln, das bekomme ich gerade noch selbst hin«, lächelte er. »Aber der Moment wird schon noch kommen, da ich auf Ihre Mitarbeit angewiesen bin.«
Sybilla Bontempi lag noch eine Erwiderung auf der Zunge. Doch sie kam nicht mehr dazu, sie zu äußern. John Butrovich, der Funker der CHARR, kam ihr zuvor. »Wir empfangen eine Nachricht.« »Die Antwort dieses Raumkontroll-Kommandanten?« »Nein, Sir. Diese Botschaft wurde direkt von der Planetenoberfläche gesandt.« »Dann lassen Sie mal hören.« »Ja, Sir.« Die Projektion eines weiteren Gordo-Gesichts erschien. Für terfanische Augen waren die Köpfe dieser mit ihrer mittleren Größe in zehn Metern gigantischen Insektoiden schwer unterscheidbar. Bei einer direkten Gegenüberstellung mit einem dieser Wesen lag das natürlich unter anderem auch an den Größen Verhältnissen. Die Größe des Gordo entsprach der eines zweigeschossigen Hauses, dessen Dach von der Augenhöhe eines Menschen aus schließlich auch nicht besonders gut zu sehen war. Darüber hinaus war die menschliche Wahrnehmung natürlich nicht auf die Unterscheidung der feinen Individualmerkmale in den Gesichtern der Gordo trainiert. »Mein Name ist Nachtflug«, kam es über das Translatorsystem. »Ich bin der Sprecher der Gordo-Regierung von Grah und autorisiert, Ihnen einen Landeplatz zuzuweisen. Die Koordinaten wurden bereits übertragen.« »Ich danke Ihnen«, erwiderte Huxley. »Ich denke, daß wir für Ihr Problem eine Lösung finden werden.« Die Projektion verschwand. »Na, das nenne ich mal einen konstruktiven Ansatz«, kommentierte Chief Erkinsson die Botschaft des Gordo. Die ellipsenförmige CHARR senkte sich in die wolkenverhangene Atmosphäre von Grah, sank immer tiefer durch gigantische Wolkenberge, aus denen heraus sich die atmosphärischen Spannungen in Gewittern von ungeheurer, jedes irdische Maß übersteigender Heftigkeit entluden. »Tut mir leid, Sir, aber die Oberfläche ist fast vollkommen von einer dichten Wolkendecke verhängt. Die Bilder auf den Sichtschirmen sind daher etwas eintönig!« meldete sich Ortungsoffizier Perry zu
Wort. Lee Prewitt grinste. »Glücklicherweise ist es für die CHARR kein Problem, ihren Kurs auch ohne optischen Kontakt zum Zielgebiet zu finden.« Eine Projektion baute sich auf, zeigte zunächst den gesamten Planeten. Blinkende Punkte markierten die gegenwärtige Position der CHARR sowie den Ort, auf den die gegebenen Zielkoordinaten paßten. »Die Stelle, an der wir landen werden, wird laut des von den Gordo übersandten Datensatzes als Raumhafen Drei bezeichnet«, erklärte Perry mit Blick auf seine Anzeigen. »Es dürfte allerdings wohl der einzige zur Zeit einigermaßen funktionierende Raumhafen auf Grah sein. Ich orte zahlreiche Giant-Raumer.« »Das müssen die Einheiten sein, die Ren Dhark den Gordo zur Verfügung gestellt hat«, murmelte Huxley. Für die besiegten Grakos, deren Raumstationen und -werften komplett zerstört waren, würde die Raumfahrt auf absehbare Zeit nicht aus eigener Kraft möglich sein. Daher hatte Dhark ihnen die 150 auf Terra inzwischen ausrangierten Einheiten zur Verfügung gestellt. Die Aufbauarbeit der neuen Regierung mußte schließlich unterstützt werden, damit Grah nie wieder zu einem galaktischen Unruheherd wurde. Die CHARR setzte weich auf. »Wir befinden uns auf dem sogenannten Raumhafen Drei«, erläuterte Ortungsoffizier Perry. »Dieser Raumhafen ist umgeben von einer größeren Stadt. Teilweise sind Zerstörungen auszumachen. Dahinter beginnt ein Dschungelgebiet.« »Danke, Perry«, antwortete der Commander. Der größte Teil der Oberfläche von Grah war mit dampfenden, feuchtheißen Dschungeln bedeckt. Die Niederschlagsmengen, die hier vorherrschten, waren enorm. Die Luftfeuchtigkeit mußte nahe hundert Prozent liegen. Insgesamt glich das Klima dem in den tropischen und subtropischen Regionen der Erde. Genau diese Lebensbedingungen waren für die Grakos ideal. Mit Vorliebe hatten sie sich auf Welten angesiedelt, auf denen ähnliche klimatische Parameter vorzufinden waren wie auf ihrer Ursprungswelt. Huxley gab seine Befehle. Er wandte sich an Lee Prewitt. »Ich möchte, daß Sie mich begleiten, I.O.« »Jawohl, Sir«, nickte dieser.
»Während meiner Abwesenheit hat der Zweite Offizier Maxwell das Kommando auf der CHARR. Ich hoffe nicht, daß es zu irgendwelchen Komplikationen kommt. Captain Bontempi und Sergeant Cooper gehören ebenfalls zum Landeteam.« Huxleys Blick richtete sich nun an Tantal. »Du natürlich auch, Tantal. Es wäre außerdem gut, wenn uns ein oder zwei Meegs begleiten könnten, die über besondere Fähigkeiten bei der Dekodierung von Archivdaten verfügen. Wir wissen nicht, welche technischen Standards wir in dieser Hinsicht hier vorfinden.« »Deine Worte zeugen von Vernunft und Umsicht, Mensch Huxley«, übersetzte der in Huxleys Brust implantierte Transformer die semitelepathischen Bildimpulse des Kobaltblauen. Die Interpretation der Signale ist ziemlich gedrechselt! fiel dem Colonel auf. In der Regel war das ein Zeichen dafür, daß sich der vollständige Bedeutungsgehalt einer verbalen Übertragung entzog. Zwischentöne. So würde man das unter Menschen wohl nennen... Die relativ nervös wirkenden Fühlerbewegungen des Blauen Nogk machten Huxley nachdenklich. Vertraue deiner Intuition, Frederic Huxley! So schlecht war dein Einfühlungsvermögen in die NogkPsychologie bisher ja nicht! , »Es löst unangenehme Emotionen in dir aus, die Heimatwelt jener Rasse zu betreten, die deiner eigenen Spezies ein derart grausamer Gegner war«, sagte Huxley in ruhigem Tonfall. Der Transformer übertrug diese Botschaft in Bildimpulse. Der Blick der großen Facettenaugen des Kobaltblauen wirkte auf seinen terranischen Gegenüber kalt. Niemand wußte besser als Huxley, daß dies nichts weiter als eine anthropozentrische Fehlinterpretation darstellte. Ein Unvermögen, im Blick eines Nogk so lesen zu können wie in den Augen eines Menschen. Die ersten Signale Tantals waren verwirrend und unklar. Der Transformer hatte seine Mühe. Für Huxley war das ein Anzeichen dafür, daß seine Vermutung zutraf. Schließlich brachte Tantal hervor: »Der Mensch Huxley hat gut erfaßt, was in meinem Bewußtsein vor sich geht.« Eine Pause folgte. Schließlich fuhr er fort: »Du weißt, ich glaube nicht daran, daß die Grakos mit dem uralten Feind identisch sind.« »Deswegen sind wir hier!« »Aber auf der anderen Seite wünsche ich mir kaum etwas so sehr,
als daß sich genau das hier auf Grah herausstellt!« Huxley nickte langsam. Eine Geste, die zumindest Tantal inzwischen zu interpretieren wußte. Ich denke, ich verstehe, was du meinst, Tantal.« Wenig später trat Huxley zusammen mit Sybilla Bontempi, dem Ersten Offizier Lee Prewitt, Sergeant Cooper sowie Tantal und zwei Meegs auf das Landefeld. Die Nogk trugen leichte Schutzanzüge, denn Feuchtigkeit war tödlich für sie. Der Himmel war ein verwaschenes Muster unterschiedlichster Grauschattierungen. Es grollte leicht. Die Luft war geradezu erdrückend. Das Atmen fiel Huxley schwer. Schon nach wenigen Augenblicken vermißte er die angenehm klimatisierten Räume der CHARR. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Den anderen Terranern erging es nicht besser. »Was für ein Glück! Wir haben wohl gerade eine Regenpause erwischt!« sagte Lee Prewitt. Sergeant Cooper verdrehte die Augen. »Wenn das kein gutes Omen ist!« Einige Giant-Raumer waren am Rande des Landefeldes positioniert. Außerdem war ein einzelner terranischer S-Kreuzer zu sehen. Terra zeigt deutlich Flagge! ging es Huxley durch den Kopf. Offenbar war das auch notwendig. Die Verhältnisse auf Grah waren ganz offensichtlich noch weit von einem Zustand entfernt, der die Bezeichnung Stabilität verdient gehabt hätte. Der Betrieb des Raumhafens schien auf ein Minimum reduziert zu sein. Die Wiederaufnahme des Raumhandels steckte wohl noch in den Kinderschuhen. Kampfroboter vom sogenannten BlechmannTyp patrouillierten überall herum. Insbesondere der Bereich um die CHARR war vollständig abgeriegelt worden. Nur wenige Schatten waren zu sehen. Offenbar wollten die neuen Machthaber sie nicht zu zahlreich in den sicherheitsrelevanten Bereichen haben. Eine Haltung, die Huxley nur allzu gut verstand. Das flüchtige Flimmern der Halbraumfelder, die die Grakos für menschliche Augen fast unsichtbar machten, wirkte nach wie vor beunruhigend auf den Commander.
Die Gordo trauen ihrer manipulierten Brut noch nicht so recht, erkannte der grauhaarige Colonel. Zumindest scheinen sie sich -wesentlich wohler w fühlen, solange die Grakos unter der Aufsicht terranischer Kampfroboter stehen... Ein Großraumschweber näherte sich dem Landefeld, senkte die Flugbahn und landete schließlich nur wenige Meter von Huxley und seinen Leuten entfernt. Das Ausstiegsschott öffnete sich. Ein Mann in der Uniform der TF trat ins Freie. Er ging auf Huxley und die Seinen zu, salutierte und nannte vorschriftsmäßig Rang und Namen. »Captain Eric Santini. Ich habe den Auftrag, Sie und Ihre Delegation zu einem offiziellen Vertreter der Gordo-Regierung zu bringen.« »Danke, Captain«, antwortete Huxley. Lee Prewitt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sergeant Cooper ging es nicht besser. Die Kombination klebte schon nach wenigen Augenblicken am Körper. Lediglich Tantal und die beiden ihn begleitenden Meegs hatten keinerlei Probleme mit der Hitze. »Kommen Sie an Bord des Schwebers, Colonel. Der ist wenigstens angenehm klimatisiert.« Captain Santini atmete tief durch. »Diese Schwüle hier bringt mich noch um. Da sehnt man sich danach, mal zur Abwechslung auf einem Eisplaneten stationiert zu werden oder eine Pauschalreise in die heimatliche Antarktis zu gewinnen!« Sie gingen an Bord, und das Gefährt hob unverzüglich ab. Außer Captain Eric Santini befanden sich der Schweberpilot sowie zwei Kampfroboter vom Blechmann-Typ an Bord. Das Sicherheitsproblem ist allgegenwärtig auf Grah! ging es Huxley durch den Kopf. Sie schwebten über die an den Raumhafen angrenzenden Wohn-und Geschäftsanlagen. Durch die großen Sichtfenster des Schwebers hatte man einen guten Blick auf das, was sich in den düster wirkenden Straßen so tat. Schatten wandelten überall. An strategisch wichtigen Punkten waren Kampfroboter postiert. Außerdem gab es zahlreiche Patrouillen. »Einen glücklichen Frieden stelle ich mir anders vor«, meldete sich
Sybilla Bontempi zu Wort. »Nach dem, was ich bisher von diesem Planeten mitbekommen habe, ähneln die Verhältnisse hier eher jenen in einem gigantischen Gefangenenlager.« »Das Ziel der Gordo-Regierung ist es, die aggressiven Grakos wieder zu einem geachteten und friedlichen Teil der galaktischen Völkerfamilie zu machen«, erklärte Captain Santini. »Aber das läßt sich nicht im Handumdrehen erreichen, wie Sie sicher verstehen werden.« Der Schweber erreichte einen gigantischen Gebäudekomplex inmitten der Wohnbereiche und landete auf einer dafür vorgesehenen, terrassenartig in das Gebäude eingelassenen Fläche. »Da wären wir«, sagte Santini. Er wandte sich an Huxley. »Nach meinen Erfahrungen sind die Gordo sehr kooperativ. Da sie in verschiedenen Bereichen nahezu vollständig auf terranische Hilfe angewiesen sind, werden unsere Anliegen naturgemäß mit großem Wohlwollen behandelt.« »Wir sind nicht im Auftrag Terras hier«, erinnerte ihn Huxley. »Mag sein. Aber es ist den Gordo durchaus bewußt, wie eng die Interessen Terras mit denen des Nogk-Imperiums verwoben sind. Außerdem hat es eine offizielle Bitte der terranischen Regierung gegeben, Ihre Mission zu unterstützen, Colonel Huxley.« »Oh, das scheint sich ja schnell herumgesprochen zu haben«, murmelte der grauhaarige Colonel. Offenbar hatte Charaua hier seine Finger im Spiel. Das Außenschott des Schwebers öffnete sich. Lee Prewitt war der erste, der ins Freie trat. Feiner Nieselregen hatte eingesetzt. Ein Umstand, der den Eindruck von Trostlosigkeit und Düsternis noch verstärkte, der über diesem Ort hing wie ein graues Leichentuch. »Sie müssen die Umstände hier schon entschuldigen, Colonel«, meinte Captain Santini. »Ist alles noch recht provisorisch...« Huxley und seine Delegation wurden in einen großen, hallenar-tigen Raum geführt. Die gewaltige, einer Riesenlibelle gleichende Gestalt eines Gordo stand ihnen gegenüber. Der Gordo stellte sich erneut als Nachtflug vor. »Durch meinen Umgang mit euch Terranern habe ich gelernt, daß für menschliche Augen die Gordo schwer zu unterscheiden sind«, ertönte eine Art Stimme in Huxley s Hinterkopf- die konzentrierte
Gedankenbotschaft des Sprechers der Gordo-Regierung. »Gewiß alles eine Sache des Trainings«, erwiderte Huxley. Es fiel ihm leichter, seine Gedanken zu konzentrieren, wenn er laut sprach. »Wir haben große Pläne«, erklärte Nachtflug. »Sie werden sich kaum wirklich vorstellen können, was es bedeutet, die Aufzucht unserer Jungen vollkommen neu zu organisieren. Schließlich sollen die kommenden Generationen unseres Volkes ohne die sie umgebende Hy perraumblase aufwachsen. Sie sollen ganz normal heranreifen, um schließlich das Stadium der Gordo zu erreichen.« »So wird die Zeit der Schatten schließlich endgültig zu Ende ge hen«, sagte Huxley. »Ja, das ist richtig«, bestätigte der Gordo. »Und was ist mit jenen, die von dieser Entwicklung mit am meisten betroffen sind? Was ist mit den Grakos?« »Sie haben keine andere Wahl als sich zu fügen«, erklärte Nachtflug. »Und das tun sie auch.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wir Gordo waren von jeher der Philosophie und den Künsten sehr zugetan. Und natürlich waren wir in der alten Zeit auch die Bewahrer der Überlieferung. Hier auf Grah existieren noch umfangreiche Geschichtsarchive. Leider wurde ihre Pflege nicht in derselben Weise fortgesetzt, nachdem die Grakos die Macht übernahmen, und das war bereits vor 10 000 Jahren.« Huxley war klar, worauf sein Gegenüber anspielte. Die Interessenlage der Grakos war völlig andersgeartet gewesen. Sie hatten ihre Ressourcen vor allem in den Krieg investiert, aber auch wenn sie die Aufzeichnung ihrer eigenen Geschichte nicht mit derselben Akribie betrieben hatten, wie es von den Gordo anzunehmen war, so ließen sich doch vielleicht aus ihren Archiven wertvolle Erkenntnisse ziehen. »Wir werden Sie in jeder Hinsicht unterstützen, Colonel Huxley«, erklärte Nachtflug. Die Gedankenstimme in Huxleys Kopf klang dabei fast feierlich. Captain Eric Santini wandte sich an den grauhaarigen Expeditionsleiter: »Kommen Sie! Ich habe den Auftrag, Sie dort hinzubringen, wo Ihre Wünsche vielleicht erfüllt werden können.« Die Ordnung muß wiederhergestellt werden, durchzuckte es KappaKrieger 5989. Die Ordnung, wie sie vor 10 000 Jahren errichtet
worden ist. Damals hatte sich das Volk, wie die Grakos sich selbst nannten, von der Tyrannei der Gordo befreit. Künftige Generationen waren manipuliert worden, und man hatte verhindert, daß Grakos sich zu Gordos verpuppten. Einzige Ausnahme waren geschlechtsreife Königinnen und Drohnen gewesen, die zum Fortbestand der Gattung unverzichtbar waren. Kappa-Krieger 5989 war von tiefem Haß erfüllt. Haß auf diejenigen, die die Ordnung, wie er sie kannte, umgestürzt hatten: die Gordo, die Sklaven, der terranischen Eroberer. Kappa-Krieger 5989 hatte früher auf Schattenraumer 738 seinen Dienst getan. Er hatte eine Bedeutung gehabt. Er hatte in dem Bewußtsein gelebt, daß sein Leben einen Sinn hatte. Der Sinn bestand darin, ein guter Kämpfer zu sein und die Feinde zu vernichten, wo immer man sie antraf. Genau das hatte Kappa-Krieger 5989 getan. Gerade in jenem Moment, als die Terraner und ihre Verbündeten das Grah-System heimgesucht hatten, war Kappa-Krieger 5989 nicht an jenem Ort gewesen, der seiner tiefsten Überzeugung nach eigentlich sein Platz hätte sein sollen. Die Raumeinheit, in der er Dienst getan hatte, war gerade auf der Planetenoberfläche einer technischen Umrüstung unterzogen worden und nicht einsatzfähig gewesen, als es zur Schlacht gekommen war. Kappa-Krieger 5989 hatte das nicht zu verantworten, und doch fühlte er sich schuldig dafür. Auch die Tatsache, daß er diesen Umständen sein Überleben verdankte, konnte ihn nicht trösten. Er schnellte den langen Korridor entlang. Sein etwa 1,80 Meter großer Körper ähnelte dem einer riesenhaften irdischen Gottesanbeterin. Aufgrund des Hyperraumfeldes, das ihn umgab, war davon allerdings kaum etwas zu sehen: nur ein amorpher Schemen, dunkel wie ein Schatten. Es war nicht schwer gewesen, in das Administrationsgebäude von Raumhafen Drei vorzudringen. Zwar patrouillierten überall terranische Kampfroboter herum, aber die waren relativ leicht auszuschalten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren primitiv. Die Kontrolle des einzelnen war bei den Grakos ohnehin beinahe total gewesen. Es hatte in ihrer Geschichte nur wenige Renegaten gegeben.
Gehorsam und Hierarchie waren für sie die maßgeblichen Parameter, an denen sie ihr Verhalten ausrichteten. Eine allzu ausgeklügelte Überwachungstechnik war daher gar nicht notwendig gewesen. Der Wunsch, zu töten und zu zerstören, beseelte den Kappa-Krieger. Er wußte, daß sich einer der Gordo hier aufhielt. Und er hatte auch davon gehört, daß auf dem Raumhafen ein NogkRaumschiff gelandet war. Die Nogk waren ihm ebenso verhaßt wie die Terraner. Kappa-Krieger 5989 bog um eine Ecke. Am Ende des Ganges vernahm er Schritte, aber er bremste sein Tempo nicht ab. Zwei terranische Kampfroboter kamen ihm entgegen. Kappa-Krieger 5989 zögerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde. Er feuerte. Schwarze Strahlen zogen sich als gerade Linien aus purer Energie durch den Korridor. Mit einem zischenden Geräusch wurde der erste der beiden Blechmänner getroffen. Brandgeruch verbreitete sich. Auch den zweiten Blechmann erwischte der Kappa-Krieger. Sekundenbruchteile bevor der Roboter zu einem verrußten Haufen Metall zerschossen wurde, gelang es ihm gerade noch, seinerseits zu feuern. Der Energiestrahl des Roboters zischte haarscharf an der Hyperraumblase des Schattens vorbei und fraß sich schließlich in die Wand. Ein paar klackende Geräusche drangen zwischen den Beißwerkzeugen des Grakos hindurch nach außen - die Grako-Entspre-chung eines Triumphschreies. Kappa-Krieger 5989 stürmte weiter vorwärts. Nichts und niemand würde ihn aufhalten können. Mein letzter Einsatz im Dienst des Volkes, so ging es ihm durch den Kopf, denn ihm war klar, daß er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Einem irdischen Amokläufer ähnlich beabsichtigte er, so viele Terraner, Gordo und Kampfroboter auszuschalten wie nur irgend möglich, bevor ihn selbst schließlich ebenfalls der Tod ereilen würde.
Huxley hatte Verständnis dafür, daß Nachtflug sie nicht selbst zu den Datenbänken des Archivs begleitete. Die Architektur dieser Gebäude war auf die Grakos zugeschnitten, und das bedeutete, daß ein so gigantisches Wesen wie Nachtflug einen Großteil dieser Räumlichkeiten gar nicht betreten konnte. Antigravschächte ließen Huxley und seine Leute in die Tiefe schweben. Captain Eric Santini erläuterte ihnen, daß sich der Hauptteil dieser Administrationszentrale unter der Planetenoberfläche befand. Ein weitverzweigtes Netz von Gängen und Schächten setzte sich kilometerweit in die Tiefe fort. Das, was an der Oberfläche von Raumhafen Drei und der dazugehörigen Stadt sichtbar war, stellte nur einen Bruchteil der tatsächlichen Anlage dar. »Genau das wirft natürlich auch erhebliche Sicherheitsprobleme auf«, erläuterte Santini, als sie jenes Stockwerk erreicht hatten, in dem sich offensichtlich die Archive befanden. »Unsere Zentrale hier gleicht einem Schweizer Käse. Es gibt so viele Verbindungen und Eingänge, daß wir kaum genug Blechmänner haben, um sie alle absichern zu können. Wir sind dabei, elektronische Überwachungssysteme zu installieren. Die Grakos selbst haben so etwas offensichtlich nur sehr sparsam eingesetzt.« Energiefelder ließen Huxley und seinen Trupp einen langen, verzweigten Korridor entlangschweben. Schließlich erreichten sie ein Schott, vor dem zwei Kampfroboter postiert waren. Captain Santini identifizierte sich ihnen gegenüber durch sein Stimmuster. Er wurde von den Blechmännern als autorisiert eingestuft. Sie traten zur Seite. Das Schott öffnete sich. Nachdem Huxleys Gruppe ein weiteres Schott passiert hatte, gelangten sie in einen Raum, in dem sich Dutzende von Konsolen befanden. »Von hier aus müßten Sie Zugang zu den meisten Archiyspei-chem der Grakos bekommen«, erklärte Captain Santini. Wenn man allein die Tatsache bedachte, daß seit ihrer Loslösung von den Gordo bereits 10 000 Jahre vergangen waren, so war damit zu rechnen, daß in diesen Datenspeichern noch erhebliche historische Schätze zu heben waren. »Um ehrlich zu sein, wir haben uns bisher noch nicht sehr ein-
gehend mit diesen Speichern beschäftigt«, erklärte Santini. »Ich verstehe«, meinte Frederic Huxley. »Im Moment gibt es für die planetare Regierung wohl auch dringendere Fragen.« »Sie sagen es. Und so wie es aussieht, wird es sicher auch noch eine ganze Weile dauern, bis endlich Ruhe einkehrt.« Huxley wandte sich an Tantal. »Ich bin dafür, daß die Meegs jetzt damit beginnen, die Datenspeicher zu durchforsten.« Der Kobaltblaue bewegte leicht die Fühler. »Dies ist ein großartiger Moment für mich«, erklärte Tantal. Die Erregung, die er empfand, wurde durch weitere semitelepathische Bildimpulse unterstrichen. Einer der Meegs begann bereits, ein Modul auf eine der Konsolen aufzusetzen, mit dessen Hilfe die Grako-Datenspeicher nach ^n gesuchten Informationen systematisch durchsucht werden eilten, um anschließend übertragen zu werden. Die Meegs entfalteten jetzt eine geradezu hektische Aktivität, ^e auch von Tantal Besitz ergriff. Sybilla Bontempi konnte den Nogk dabei nur staunend zusehen. Captain Santini bot noch einmal technische Unterstützung an, aber Tantal signalisierte, daß daran kein Bedarf bestand. »Scheint, als hätten wir hier im Moment nicht viel zu tun«, wandte sich Lee Prewitt an Huxley. Die Durchsuchung der Datenspeicher zog sich eine ganze Weile hin. Huxley spürte, daß die Erregung der Nogk stetig zunahm. Sie kommunizierten untereinander, ohne dabei Huxley ihre Impulse zugänglich zu machen. Das beunruhigte ihn jedoch in keiner Weise. Es ist ihre Vergangenheit, erinnerte sich der grauhaarige Colo-nel. Sein Blick ruhte auf Tantal. Er versuchte zu verstehen, was jetzt wohl in dem Kobaltblauen vor sich gehen mochte. Nogk wurden mit einem gewissen Grundwissen geboren, das später durch Mentalbestrahlung ergänzt werden mußte. Tantal jedoch hatte von Geburt an über das kollektive Gedächtnis seiner Art verfügt. Ein bisher unerklärliches Phänomen, doch die zweitausend Erdenjahre, die in Tantals Gedächtnis gespeichert waren, stellten offenbar eine zu kurze Zeitspanne dar, um den Geheimnissen dieses Volkes wirklich auf die Spur kommen zu können. Schließlich wandte Tantal sich an Huxley. »Die Grakos mögen nicht so sehr an historischen Zusammenhängen
interessiert gewesen sein, aber über ihre Begegnungen mit Feindvölkern und den Verlauf von Schlachten haben sie minutiös Buch geführt«, berichtete der Kobaltblaue. »Gibt es Hinweise darauf, wann sie zum ersten Mal mit den Nogk zusammentrafen?« fragte Huxley. »Ja, darüber haben wir Daten gefunden. Sie sind allesamt in unseren Modulen gespeichert und werden sicher noch näher untersucht werden müssen, aber eine Erkenntnis beginnt sich herauszukristallisieren. Die Grakos trafen zum ersten Mal vor hundertzwanzig Erdenjahren auf unser Volk.« »Ist das sicher?« fragte Huxley. »Es existieren detaillierte Berichte und Aufzeichnungen, die das belegen.« »Dann können sie unmöglich mit dem uralten Feind identisch sein, der euer Volk immer wieder angegriffen und vertrieben hat.« »Eine Tatsache, die für uns beide nicht allzu überraschend sein dürfte, Freund Huxley.« Huxley nickte. »Das ist wahr. Aber nun haben wir Gewißheit.« Die Zeit der trügerischen Ruhe für die Nogk war jetzt vorbei. Auch wenn die Grakos besiegt waren, bedeutete das keineswegs das Ende der Auseinandersetzungen. Der uralte Feind war nach wie vor unbekannt, und es gab keinen Anlaß zu der Annahme, daß er seine Aggression gegen die Nogk eingestellt hatte. Kappa-Krieger 5989 stürmte weiter durch die langen Korridore der Verwaltungszentrale. Den Grundriß hatte er sich besorgt und eingeprägt. Es war nicht schwer gewesen, an die Pläne heranzukommen. Der Zugang zu den allgemeinen Datenspeichern wurde kaum überwacht, dazu fehlten einfach die personellen Ressourcen. Millionen von terranischen Besatzern und Kampfrobotem wären nötig gewesen, um wirklich alles unter Kontrolle zu bringen. Kappa-Krieger 5989 hatte vor seinem Amoklauf die Pläne eingehend studiert. Und dies nicht nur, um sich besser zurechtzufinden. Aufgrund der enormen Größe, die die Gordo auszeichnete, war Ar Aufenthalt nur in bestimmten Teilen des Gebäudes möglich, "nd genau dort wollte Kappa-Krieger 5989 hin. Er erreichte ein Schott. Den Kampfroboter, der davor stand und ihn mit seinen künstli-^en Sehorganen anstierte, schaltete Kappa-Krieger 5989 mit ei-
nem gezielten Schuß aus. Ein schwarzer Strahl erfaßte den Kopf des Blechmanns. Die geballte Energie ließ ihn verschmoren. Ein weiterer Schuß setzte das elektronische Schloß des Schotts außer Gefecht. Das Schott öffnete sich daraufhin. Eine Notfunktion, die verhindern sollte, daß im Unglücksfall die Bewohner eingeschlossen waren. Der Krieger lief den Korridor entlang. Ein Terraner kam ihm entgegen. Stirb, Feind der Grakos, durchzuckte es Kappa-Krieger 5989. Der Mann trug die Uniform eines Unteroffiziers der TF. Er war noch nicht einmal bewaffnet. Für den Kappa-Krieger bedeutete dies jedoch keinen Grund, ihn zu schonen. Der schwarze Lichtstrahl erfaßte den Menschen frontal und tötete ihn auf der Stelle. Kappa-Krieger 5989 stürmte weiter vorwärts. Der Korridor verzweigte sich. Der amoklaufende Insektoide bog links ab. Hinter dem nächsten Schott bin ich am Ziel, durchzuckte es ihn. Dort mußte sich Nachtflug oder einer der anderen Gordo befinden, die zu Zeit hier residierten. Tod und Verderben für sie! Augenblicke später erreichte Kappa-Krieger 5989 dieses Schott. Die beiden Blechmänner davor feuerten sofort. Sie waren offenbar vorgewarnt durch die Impulse, die ihre zerstörten »Kameraden« teilweise noch hatten abstrahlen können. Kappa-Krieger 5989 feuerte zur selben Zeit, und er war zweifellos der bessere Schütze. Sein Hyperraumfeld verwirrte die Zielerfassungssysteme der einfachen terranischen Konstruktionen. Innerhalb von Sekunden hatte er die beiden Roboter ausgeschaltet und zu Haufen aus Blech und Asche zerstrahlt. Das Schott öffnete sich automatisch. Man brauchte keine Autorisation oder irgendeine Art von Kode, um in diesen Sektor zu gelangen. Ein gewaltiger, hallenartiger Raum öffnete sich vor dem KappaKrieger. Stirb, Gordo-Verräter! Ein Stakkato klackender Geräusche stieß er zwischen den Beiß-
werkzeugen hervor. Mit dem Kampfruf eines Schatten stürmte er in die Halle hinein, jenem geradezu gigantischen Wesen entgegen, das einer überdimensionalen Libelle glich. Tod den Gordo, diesen Verrätern am Volk, durchzuckte es den Kappa-Krieger heiß. Ohne zu zögern eröffnete er das Feuer. Das einzig Gute an euch Gordo ist, daß man euch kaum verfehlen kann! »Ich hoffe, ihr habt gefunden, was ihr suchtet«, vernahm Huxley die telepathische Stimme des Gordo. »Das haben wir«, erwiderte der Commander laut. »Und wir danken für die großzügige Unterstützung, die uns zuteil wurde.« Es war ein Gebot der Höflichkeit gewesen, noch einmal den Gordo namens Nachtflug aufzusuchen, bevor an den Weiterflug gedacht werden konnte. Doch die freundliche Verabschiedung wurde jäh gestört. Ein schwarzer Strahl zischte durch die Luft. Sybilla Bontempi wirbelte herum. »Vorsicht, Commander!« stieß Lee Prewitt hervor. Tantal und die Meegs wirkten wie paralysiert, als die schattenhafte Gestalt in die Halle stürzte und wild um sich schoß. Telepathische Signale des Entsetzens gingen von Nachtflug aus. Entsetzen und Schmerz, denn der erste Strahlschuß hatte ihn getroffen. Er reichte nicht aus, um ihn zu töten, aber einige weitere Treffer würden selbst diesen Riesen zu Fall bringen und am Ende als ausgebrannten Chitinpanzer zurücklassen. Captain Eric Santini griff zu dem Strahler an seiner Seite. Er riß die Waffe hoch und feuerte sofort. Die Kampfroboter reagierten ebenfalls auf der Stelle. Zwei von ihnen wurden durch das wilde Feuer des Grakos schwer beschädigt, ehe der Amokläufer schließlich im gebündelten Energiefeuer aus einem halben Dutzend Mündungen vernichtet wurde. Menschen und Nogk sprangen in Deckung, denn sie wußten um die Thermoreaktion, die nun folgen würde. Zum Glück war die Halle groß genug, und eine Reihe von Einrichtungsgegenständen bot ausreichend Schutz. Mehrere der Kampfroboter umringten die Stelle, an welcher der Grako verglüht war. »Wie konnte das nur passieren?« rief Captain Santini. Sein Gesicht
war dunkelrot angelaufen. Er wandte sich an Huxley. »Tut mir leid, aber ich sagte Ihnen ja, daß Sie hier noch keine normalen Sicherheitsstandards erwarten können, Sir.« Huxley wandte sich an Nachtflug. Eine dunkle Stelle war auf dem Chitinpanzer zu sehen. Dort hatte der gebündelte Energiestrahl des Grako den zehn Meter großen Riesen getroffen. »Was glauben Sie, wie schwer die Verletzungen sind?« fragte Prewitt an Sybilla Bontempi gewandt. »Ich bin keine Medizinerin«, erklärte sie. Die telepathische Stimme meldete sich, wurde aber immer wieder unterbrochen von Gedankenimpulsen, die nichts als Schmerz signalisierten. »Für mich besteht keine Gefahr«, erklärte der Gordo. »Es sind keine lebenswichtigen Bereiche meines Körpers geschädigt worden.« »Es freut mich, das zu hören«, sagte Huxley. »Huxley-Mensch, Sie haben jetzt vielleicht einen Eindruck davon gewonnen, wie die Lage hier auf Grah zur Zeit ist.« »Ja«, murmelte Huxley. Das, was die Gordo vorhatten, war nichts anderes als eine Revolution der Grako-Gesellschaft, eine komplette Umgestaltung und Umorientierung, die alle Lebensbereiche durchdrang. Da war fast zwangsläufig mit Widerstand zu rechnen. K Der Gordo wandte sich an Tantal, richtete seine Gedankenim-Ise ganz speziell an ihn, den ersten der Blauen Nogk. »Ich wünsche dieser Mission viel Erfolg, wohin immer sie auch führen mag.« Mit gemischten Gefühlen blickte Huxley auf die düsteren Straßen, als Captain Santini sie zurück zum Landefeld des Raumhafens brachte. Eine bedrückende Welt, dachte er. Aber die vereinte Aufbauarbeit von Gordo und Terranern würde dazu führen, daß sich dies irgendwann änderte. Um die Vergangenheit allerdings wirklich hinter sich zu lassen, mußte wohl erst eine neue Generation von Grakos herangewachsen sein. Grakos, die nicht zu einer Schattenexistenz in künstlichen Hyperraumblasen verurteilt waren und denen es freistand, auch die letzte Stufe in der Entwicklung ihrer Spezies zu erreichen: die Stufe der Gordo. Vor dem Start besprach Huxley sich mit Tantal.
»Wir fangen bei unserer Suche nach dem uralten Feind jetzt wieder ganz von vorne an«, stellte der grauhaarige Colonel fest. Der Kobaltblaue senkte den Kopf, eine Referenz an eine auf Terra übliche Geste der Zustimmung. »Ich schlage vor, dort nach den Spuren der Unbekannten zu suchen, wo sie in der Vergangenheit bereits gewütet haben.« »Deine Kollektiverinnerung beginnt in jener Ära, in der eure Vorfahren das Charr-System besiedelt hatten, nicht wahr?« »Das ist richtig«, bestätigte Tantal. »Dann sollte das unser nächstes Ziel ein.« »Wir werden nichts weiter finden als die Trümmer eines Sonnensystems, dessen Zentralgestirn zur Supernova wurde. Wolken aus heißem Gas, frei umherschwebende Materie, die wahrscheinlieh noch längst nicht abgekühlt ist.« »Dann sollten wir uns diesen stellaren Trümmerhaufen einmal ganz genau ansehen, Tantal.« Eine halbe Stunde später erhob sich die CHARR in den wolkenverhangenen Himmel von Grah. Frederic Huxley nahm den Platz des Commanders in der Zentrale ein. Prewitt füngierte als Pilot, der Zweite Offizier Maxwell als Kopilot. Die Meegs begannen damit, die gesammelten Daten genauer auszuwerten. »Welchen Kurs, Commander?« fragte Prewitt. »So wie ich das sehe, haben wir hier im Gerrck-System nichts mehr zu erledigen.« »Wir fliegen zur ehemaligen Position des Charr-Systems. Fragen Sie unseren Bordastronomen, wie nahe Sie sich an die SupernovaTrümmer heranwagen können, ohne daß wir bei lebendigem Leib gegrillt werden oder ein zu ausführliches Strahlenbad bekommen.« Prewitt nickte knapp. »Ja, Sir. Bis zum Zielpunkt werden wir ja einige Standardtage unterwegs sein. Da habe ich mehr als Zeit genug, um mich mit den astronomischen Besonderheiten vertraut zu machen.« »Bereiten Sie alles für die erste Transition vor, 1.O.« »Aye, aye, Sir!« Die voraussichtliche Flugdauer berechnete Prewitt mit etwa einer Standardwoche. Nachdem die Auswertung der Daten abgeschlossen war, zogen sich die an Bord der CHARR befindlichen Nogk in den Sonnenhangar zurück, um sich während einer ausgedehnten
Schlafphase zu erholen. Nach terranischen Maßstäben gerechnet betrug die Dauer dieser Schlafphase in der Regel fünf Erdentage. Tantal und die anderen Kobaltblauen brauchten jedoch gerade mal 14 Stunden, um sich zu regenerieren und waren danach wieder voll einsatzfähig. Tantal begegnete dem Commander des öfteren, wenn dieser sich in einem der Aufenthaltsräume befand. Er suchte immer wieder das Gespräch mit Huxley. »Ich habe mich in den ersten Tagen unseres Fluges intensiv mit dem auf Grah gesammelten Datenmaterial beschäftigt«, erklärte der Kobaltblaue bei einer dieser Gelegenheiten. »Auch wenn sich meine ursprüngliche Meinung bestätigt hat, wonach die Grakos nicht mit den gesichtslosen Feinden der Vergangenheit identisch sind, so hatte ich doch sehr gehofft, mich in diesem Punkt zu irren, Huxley.« »Das geht mir nicht anders«, sagte Huxley. Zunächst wußte der grauhaarige Colonel nicht so recht, worauf sein nogksches Gegenüber letztlich hinauswollte. Da waren ein paar Impulse, die etwas verwirrend waren. Impulse der Enttäuschung, wie der Terraner wenig später begriff. »Du hattest gehofft, weiter in die Vergangenheit deines Volkes vorstoßen zu können.« Huxley Worte waren eine Feststellung, keine Frage. Die zustimmenden Impulse des Kobaltblauen bestätigten ihn. »Ja, das ist wahr. Gerade hundertzwanzig Erdenjahre liegt die erste Begegnung zwischen Grakos und Nogk zurück. Das ist eine vergleichsweise kurze Zeitspanne. Und die Angriffe der Grakos auf unser Volk begannen sogar noch viel später.« Huxley hob die Augenbrauen. Diese Erkenntnis hatte Tantal ihm bis jetzt verschwiegen. »Noch später?« echote der Terraner. Eine Ahnung begann in Am aufzusteigen. »Wann genau?« »In dem Moment, als die Grakos erkannten, daß wir Nogk Verbündete der von ihnen bekämpften Terraner waren.« »Ich verstehe.« »Wir stehen bei der Suche nach dem unbekannten Feind wieder ganz am Anfang. Bis auf einige wenige Hinweise, von denen wir aber nicht wissen, ob sie nicht vielleicht letztlich doch nur in die Irre weisen oder auf einer fehlerhaften Interpretation beruhen.« »Kannst du mir genauer erklären, was du damit meinst?«
»Gewiß. Du wirst dich sicher an Nanghkor erinnern.« »Den Nogk-Klon. der mich beschuldigte, genau die gleiche Gestalt zu besitzen wie der Feind.«* »Ja.« Huxley erinnerte sich nur zu gut daran, welch schweren Stand er damals vor dem Rat der Fünfhundert gehabt hatte. Letzte Zweifel an seiner Integrität waren erst in dem Moment auszuräumen gewesen, als sich erwiesen hatte, daß eben jenes KlonWesen in der Gestalt eines Nogk nichts anderes als ein Werkzeug des unbekannten Feindes war. »Unser Feind kann unsichtbar in unserer Nähe weilen, Huxley. Und ich frage mich, ob er nicht sogar von unserer Mission weiß.« »Das sind Spekulationen. Vielleicht werden wir in den Trümmern des CHARR-Systems ein paar Antworten finden.« »Ich glaube, daß die Antworten letztlich in uns selbst liegen, Huxley. In unserem Bewußtsein, unseren kollektiven Erinnerungen. Sie müssen manipuliert worden sein.« Eine Pause folgte, dann eine Sequenz von Signalen, die auch der Transformer in Huxleys Brust nicht sofort zu interpretieren wußte. Deutlich entstand schließlich ein Bild vor Huxleys innerem Auge. Er sah Tantal, versunken in einer Art kontemplativer Starre, in die die Nogk mitunter verfielen. »Ich habe immer wieder versucht, die zeitlichen Grenzen meiner Kollektiverinnerungen zu überschreiten. Es ist mir nicht gelungen. Es gibt keine Erinnerung, die weiter zurückgeht als die Charr-Ära. Davor herrscht Dunkelheit. Aber meine Erinnerungen setzen eigentlich voraus, daß die Auseinandersetzung mit dem unsichtbaren Feind viel weiter zurückreichen muß.« »Wie wäre eine derartige Manipulation deines Bewußtseins möglich?« »Wenn wir eine Antwort auf diese Frage bekämen, wüßten wir vielleicht auch, wie sie aufzuheben ist.« »Das ist wahr.« »Es gibt Anzeichen dafür, daß die Kobaltblauen die ursprüngliche Form der Nogk darstellen, Huxley.« »Könnte das heißen, daß ursprünglich alle Nogk mit einem weit in die Vergangenheit reichenden Rassegedächtnis ausgestattet waren?« »Über diese Möglichkeit habe ich auch schon nachgedacht. Die Strahlung der Sonne Tantal, nach der ich mich benannt habe,
nachdem ich aus meiner vergessenen Puppe schlüpfte, könnte eine Art Gedächtnisblockade aufgehoben haben.« »Eine Blockade, für die möglicherweise der unsichtbare Feind verantwortlich war.« »So ist es.« Einige Augenblicke herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann erreichten Huxley erneut Bildimpulse seines Gegenübers. Eine Szene wurde ihm in Erinnerung gerufen. Er sah sich selbst, Tantal und Sriil, den obersten Meeg und Stellvertreter des Herrschers bei dessen Abwesenheit. Sriil erläuterte dem Terraner einen Beschluß des Rates, nach dem Tantal ihn bei einer Mission zu begleiten hatte. Huxley hatte das damals rundheraus abgelehnt und seine Gründe dafür gehabt. Gründe, die längst nicht mehr zählten. »In der Vergangenheit ist es wiederholt zu Differenzen zwischen uns gekommen, Huxley«, begann der Blaue Nogk. »Und auf Grund unserer großen Verschiedenheit ist damit zu rechnen, daß es auch in Zukunft wieder dazu kommt.« »Bis jetzt hat sich unsere Kooperation doch recht zufriedenstellend gestaltet«, erwiderte Huxley. »Bei unserer ersten gemeinsamen Mission hättest du mich nicht als Partner akzeptiert, wenn ich nicht ausdrücklich anerkannt hätte, daß du der Kommandant bist.« »Worauf willst du hinaus, Tantal?« »Ich erneuere und bekräftige diese Erklärung, Colonel Huxley. »Wiedereintritt in den Normalraum«, meldete Lee Prewitt. Huxley lehnte sich in seinem Kommandantensessel zurück, blickte angespannt auf den Sichtschirm. »Ich hoffe. Sie halten gehörigen Abstand von dieser Gaswolke!« sagte Huxley. »Natürlich, Sir!« Ortungsoffizier Perry meldete sich von seinem Leitstand aus. »Die Gaswolke hat eine Ausdehnung von etwa zwei Lichtjahren, Sir. Die Temperatur liegt bei rund 65 000° Kelvin. Von den Planeten ist nichts mehr übrig. Sie sind bei der Explosion vollständig atomisiert worden.« »Was ist mit der Sonne?« hakte Huxley etwas ungeduldiger nach, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. »Charr ist zu einem 15 Kilometer durchmessenden Neutronen-Stern
mit extrem schneller Eigenumdrehung zusammengestürzt«, erläuterte Perry. »Einen Einflug in die Gaswolke könnten wir wagen«, meinte Prewitt. »Die Schutzschirme werden natürlich extremen Belastungen ausgesetzt. Wie weit wir uns an diesen Neutronenstem heranwagen können, da müssen Sie mal Bamard fragen.« Huxley stellte eine Verbindung zu Professor Allister Barnard, dem Bordastronomen der CHARR, her, der in seinem Astrolab gespannt die Anzeigen verfolgte. »Das UV-Licht des Neutronensterns ist für die Aurheizung der Gaswolke verantwortlich«, erklärte Barnard wenig später dem Commander. »Darüber hinaus stellt er eine äußerst starke Röntgenstrahlenquelle dar, der auch unsere Schutzschirme nur bedingt standhalten dürften.« »Was schlagen Sie vor, Professor Bamard?« fragte Huxley. »Um nähere Erkenntnisse und genauere Meßergebnisse zu erzielen, werden wir nicht umhinkommen, in die Wolke einzufliegen, obwohl schon das mit Risiken verbunden ist. Ich empfehle die Schutzschilde auf maximale Leistung einzustellen. Und bleiben Sie mindestens 500 000 Kilometer von dem eigentlichen Neutronenstern weg, sonst dürfte selbst die bekanntermaßen ausgefeilte Schutzschirmtechnik der Nogk versagen.« Huxley atmete tief durch und schlug die Beine übereinander, während Tantal den Leitstand betrat. Diesen Augenblick will er sich nicht entgehen lassen, schoß es Huxley durch den Kopf. Und er verstand den Kobaltblauen in dieser Hinsicht nur zu gut. Hier beginnen seine kollektiven Erinnerungen. Ein guter Ort, um deren Grenzen endlich zu überwinden... Huxley gab in ruhigem Tonfall seine Anweisungen. Die CHARR flog in die Gaswolke hinein. Bei einer Ausdehnung von zwei Lichtjahren war es mit Sicherheit nötig, auch noch innerhalb der Wolke zu transitieren. Schutzschirme und Ortungstechnik wurden auf höchstmögliches Niveau gefahren. »Jetzt können wir nur noch abwarten«, kommentierte Tantal. Huxley erhob sich von seinem Sitz. Er fuhr sich mit einer beiläufigen Geste über das Gesicht und wandte sich dem Kobaltblauen zu. »Eine Gaswolke von mehr als zwei Lichtjahren Ausdehnung. Das
ist mehr als die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen.« »Deine Antwort ergibt für mich unklare Bildimpulse. Ich nehme an, daß du mir sagen willst, daß es sehr schwierig werden wird.« »Allerdings.« »Ich würde vorschlagen, so nahe wie möglich an den eigentlichen Neutronenstern heranzutransitieren. Schließlich nehmen wir a1!, daß eine absichtlich durchgeführte Manipulation die Ursache für die Entartung dieser Sonne war. Was auch immer diesen Vorgang eingeleitet haben könnte, es müßte sich zum Zeitpunkt der Explosion im Bereich der Korona befunden haben.« »Das ist reine Spekulation«, gab Huxley zu bedenken. »Eine Spekulation mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgehalt. Professor Barnard war so freundlich, mir bei einigen Modellrechnungen zu helfen. Wir haben versucht zu berechnen, wo sich Trümmer künstlicher Objekte jetzt befinden könnten, die nahe genug an die Sonne Charr herangekommen sind, um die Explosion auslösen zu können.« »Nach terranischen oder nogkschen Maßstäben nahe genug!« widersprach Huxley. »Was wissen wir über die ungeahnten Möglichkeiten, die dem unbekannten Feind zur Verfügung stehen!« »Ich habe lediglich einen Vorschlag zur Effektivierung unserer Suche gemacht«, entgegnete Tantal. Die Impulse, die Huxley empfing, enthielten eine Art Unterströmung, die dem grauhaarigen Colonel keineswegs entging. Er fühlt sich zurückgewiesen! erkannte der Terraner schließlich. Ein Gedanke drängte sich ihm auf, der ihm nicht gefiel. Was hast du eigentlich gegen seinen Vorschlag? ging es ihm durch den Kopf. Angst um deine Autorität? Es ist immerhin eine Strategie, die einer gewissen Logik folgt. Das solltest du anerkennen. Huxley wandte sich an Prewitt. »Bringen Sie uns bis auf 600 000 Kilometer an den Neutronenstern heran«, forderte er. »Die Schutzschirme werden sich bedanken, Sir!« gab der Erste Offizier zur Antwort. Mehrere Standardtage vergingen in mehr oder weniger eintöniger Routine. Die Ortungsabtaster liefen auf Hochtouren. Das Areal, das erfaßt werden mußte, war gewaltig groß. Die starke
Röntgenstrahlung wirkte sich teilweise als Störfeuer auf die Instrumente aus. Die Meegs versuchten, die Ortungstechnik der CHARR so weit wie möglich zu optimieren. Eine Stimmung angespannter Erwartung herrschte an Bord. Insbesondere galt dies zweifellos für die an Bord befindlichen Nogk, wobei es in diesem Punkt keinen Unterschied machte, ob es sich nun um Kobaltblaue oder Vertreter der herkömmlichen Form dieser Spezies handelte. Während einer Schlafperiode wurde Huxley durch das Vipho geweckt. Das Gesicht des gerade diensthabenden Kopiloten Henroy erschien auf dem Schirm. »Wir haben ein Objekt geortet, Sir!« meldete dieser. »Ich bin sofort bei Ihnen!« versprach Huxley. Als er wenig später den Leitstand der CHARR erreichte, herrschte dort bereits hektische Aktivität. Lee Prewitt erhob sich vom Platz des Kommandanten, den er bis dahin eingenommen hatte. »Interessante Neuigkeiten, Sir!« begrüßte er Huxley. »Ich kann's kaum erwarten.« Huxley wandte den Blick seitwärts. Tantal war ebenfalls bereits anwesend. Seine Facettenaugen waren auf den grauhaarigen Colonel gerichtet. Aber es folgten keinerlei telepathische Bildimpulse. Der Kobaltblaue wurde von zwei Meegs begleitet. Der Zweite Offizier meldete sich zu Wort. »Bei dem Objekt handelt es sich um einen Gegenstand von etwa 10 Quadratmetern Ausdehnung«, meldete Maxwell, der zur Zeit als Pilot füngierte. »Die Dicke beträgt drei Meter. Sieht aus wie ein Bruchstück...« »Wenn es die Nova-Explosion bislang überstanden hat, muß es von schier unglaublicher Widerstandsfähigkeit sein«, murmelte Huxley vor sich hin. »Aus welchem Material besteht das Objekt?« »Metallische Eigenschaften«, meldete Henroy. »Aber die Substanz wird von der Ortungstechnik als unbekannt eingestuft.« Tantal wandte sich an Huxley. »Das könnte die Spur sein, nach der wir gesucht haben: Die Überreste eines Objekts, das sich zum Zeitpunkt der Nova-Explosion im Bereich der Korona von Charr
befunden haben könnte!« Huxley fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er hat recht, ging es ihm durch den Kopf. Und sein Vorschlag hat uns hierher geführt... an den Rand eines Neutronensterns! »Worum könnte es sich bei dem Ding gehandelt haben?« fragte Huxley. »Wir haben eine Spektralanalyse vorgenommen. Was wir vor uns haben, ist vermutlich Teil einer äußerst robusten Panzerung, die es erlaubte, irgend etwas sehr nahe an Charr heranzubringen«, erklärte Tantal. Seine Gedankenströme waren in diesem Moment für alle Anwesenden zugänglich. Die Bildimpulse waren von erschreckender Eindringlichkeit. Der Moment der Explosion... Huxley schloß unsinnigerweise die Augen, um nicht geblendet zu werden. »Einer Art Sonnenbombe, oder wie hat sich mein schlichter Geist so etwas vorzustellen?« fragte Prewitt. »Also wer in drei Teufels Namen auch so etwas zu konstruieren vermochte - er muß verdammt mächtig sein.« Allister Barnard meldete sich von seinem Astrolab-Leitstand aus in der Zentrale. »Was immer dieses Objekt auch sein mag, Sir, wir sollten nicht mehr allzu lang damit warten, etwas zu unternehmen. So wie ich die Daten interpretiere, hat es eine lange Bogenbahn hinter sich und trudelt nun immer weiter dem Neutronenstern entgegen. Und wir befinden uns ohnehin schon am Rand der kritischen Zone.« »Entfernung zum Neutronenstern, 11.0.?« wandte sich Huxley an Maxwell, den gegenwärtigen Piloten. »Die Entfernung des Objekts beträgt 510000 Kilometer, Tendenz fallend. Wir selbst befinden uns in einem Orbit mit einem Radius von 520 000 Kilometern.« »Schutzschilde, Mr. Henroy?« »Die Dauerbelastung hat ihre Spuren hinterlassen. Lange halten die das nicht mehr durch. Die Strahlendosis nimmt bedenkliche Werte an. Die Temperatur ist nicht ganz so problematisch.« Lee Prewitt wandte sich an den Commander. »Ich nehme an, wir können das Ding da draußen nicht einfach mit einem Traktorstrahl an Bord hieven. Es dürfte nämlich verdammt heiß sein, wenn es so lange in diesem Glutnebel gegrillt wurde.« »Nein, das ist wahr«, murmelte Huxley. Eine angestrengt wirkende Falte bildete sich zwischen seinen Augen. Dann vollführte er eine
ruckartige Drehung. »Man müßte das Objekt von hier wegbringen. Innerhalb der Gaswolke kann es unmöglich abkühlen.« »Nehmen wir es mit dem Traktorstrahl ins Schlepptau, Sir!« schlug Maxwell vor. Tantal beteiligte sich jetzt ebenfalls an der Diskussion. »Wenn wir nur den Traktorstrahl einsetzen, würden wir es bei einer Transition vermutlich verlieren«, gab der Kobaltblaue zu bedenken. »Außerdem wissen wir nicht, wie das uns bislang unbekannte Material auf einen Eintritt in den Hyperraum reagiert.« Huxley musterte einige Augenblicke lang nachdenklich die Facettenaugen des Blauen Nogk. »Wir müssen es mit einem Energiefeld umgeben. Dann müßte auch eine Transition möglich sein.« »Ich denke, das ist eine Möglichkeit, Colonel Huxley.« Warum so förmlich? ging es Huxley durch den Kopf. Eine betonte Anerkenntnis meiner Kommandogewalt oder der Ausdruck einer Art Nogk-Entsprechung für Ironie? Huxley beschloß, sich später Gedanken darüber zu machen. Jetzt mußte zunächst einmal dafür gesorgt werden, daß das Objekt sicher geborgen werden konnte. Lee Prewitt wandte sich an den Commander. »Nichts für ungut, Sir, aber ich möchte vorschlagen, mich an die Pilotenkonsole zu lassen.« Huxley nickte. »Einverstanden, I.O.« Maxwell machte für Prewitt Platz. Bei diesem komplizierten Manöver mußte der Pilot mit der umfassendsten Erfahrung ran. Huxley wandte sich an Henroy. »Wecken Sie Professor Bamard. Er soll das Astrolab besetzen. Wir müssen über die Sensoren ständig im Auge behalten, wie sich dieses unbekannte Metall verhält. Nicht, daß uns das Ding gewissermaßen unter den Fingern zerbröselt, bevor wir es bergen können.« »In Ordnung, Sir.« »Und noch was, Henroy.« »Ja, Commander?« »Chief Erkinsson muß auch aus den Federn. Ich will bei der Erzeugung dieses Energiefeldes nichts dem Zufall überlassen.« »Aye, Sir.« »Prewitt?« »Ja, Sir?«
»Bringen Sie die CHARR so nahe wie möglich an das Objekt heran.« »Ich werde mein Bestes versuchen«, versprach der Erste Offizier der CHARR. Huxley atmete tief durch, fuhr sich anschließend mit einer fahrigen Geste über das Kinn. Ich hoffe wirklich, daß das ausreicht, Prewitt! Der 1.0. sorgte dafür, daß die CHARR sich dem Objekt vorsichtig näherte. Aber damit kam sie auch jenem kritischen Radius näher, innerhalb dessen die harte Strahlung des Neutronensterns so hoch war, daß ihr selbst die Schutzschirme eines Nogk-Raumers nichts mehr entgegenzusetzen hatten. »Strahlungswerte werden jetzt kritisch!« meldete Henroy. Auf Prewitts Stirn glitzerten Schweißperlen. Und die hatten ganz gewiß nichts mit einer Temperaturerhöhung zu tun, denn obgleich es draußen geradezu unvorstellbar heiß war, hielten die Systeme der CHARR im Inneren des Raumers die gewohnt angenehmen Umweltbedingungen aufrecht. Huxley stellte von seinem Kommandantenplatz aus eine Verbindung zu Chief Erkinsson her. »Ich hoffe, Sie sind einigermaßen ausgeschlafen, Chief!« »Hellwach, Sir!« »Wie ist der Status der Schutzschirme?« »Nähert sich dem bedenklichen Bereich, Sir. Wir dürfen sie auf keinen Fall noch stärker belasten.« »Wir brauchen zusätzliche Ressourcen für den Traktorstrahl und das Energiefeld, um dieses Objekt aus einem bisher unbekannten Metall einzufangen.« Chief Erkinsson war ein paar Augenblicke mit seinem Terminal beschäftigt, was auch über die visuelle Verbindung zur Zentrale gut zu sehen war. Sein Gesicht wurde sehr skeptisch. »Ich habe die Daten hier auf dem Schirm... das wird verdammt knapp!« »Leider haben wir keine andere Wahl«, murmelte Huxley. Prewitt meldete sich zu Wort. »Position zum Einsatz des Traktorstrahls erreicht, Commander!« »Dann los, 1.0.!« Das Objekt erschien jetzt auf einem der Sichtschirme. Das Trümmerstück einer Panzerung, die widerstandsfähiger war als alles, was die Wissenschaft Terras oder des Nogk-Imperiums sich bis dahin hatte vorstellen können. Es glühte nicht einmal in der to-
benden Strahlungshölle. »Objekt mit Traktorstrahl eingefangen«, meldete Prewitt. »Energiefeld?« fragte Huxley. »Wird gerade aufgebaut.« »Ich kann die Ressourcen für das Energiefeld und den Traktorstrahl nur für kurze Zeit von den Schirmen nehmen, sonst bricht alles zusammen!« rief Chief Erkinsson von seinem eigenen Leitstand aus. »Objekt eingefangen«, sagte Prewitt. »Status des Energiefeldes stabil. Das Trümmerstück ist jetzt quasi an die CHARR gekoppelt.« »Alles fertigmachen zur Transition!« befahl Huxley. »Der Fisch ist immer noch im Netz«, kommentierte Prewitt, kurz nachdem die CHARR etwa fünf Lichtjahre von der Gaswolke entfernt wieder in den Normalraum eingetreten war. »Temperatur?« erkundigte sich Huxley. »Immer noch ungefähr 64 000° Kelvin, Sir! Und solange es von dem Energiefeld umgeben ist, wird das auch kaum weniger werden.« Huxley stellte eine Verbindung zu Chief Erkinsson und seinem Maschinenleitstand her. »Schalten Sie das Energiefeld ab, Chief«, befahl der grauhaarige Colonel. »Aber wir müssen dieses Trümmerstück weiterhin mit dem Traktorstrahl im Griff behalten.« »Aye, Sir!« Huxley beobachtete Erkinssons Gesicht, das auf einem Nebenschirm zu sehen war. Ein paar Augenblicke später meldete der Chefingenieur der CHARR, daß das Energiefeld abgeschaltet war. »Temperatur sinkt«, meldete Henroy. »Aber es wird wohl eine Weile dauern, bis so viel von der Hitze in den Weltraum abgegeben ist, daß wir das Ding an Bord holen können.« »Diese Zeit sollte mit Vorbereitungen genutzt werden«, mischte sich Tantal in die Unterhaltung mit ein. Er wandte sich an Huxley. »Ich werde mich ins Astrolab begeben und Professor Barnard zur Seite stehen.« Bevor er ging, musterte er Huxley einige Augenblicke lang. Die Fühler bewegten sich leicht. Die Facettenaugen reflektierten das Licht und ließen dabei eigenartige Muster aufblitzen. Schließlich sandte er Impulse, die einzig und allein Huxley zugänglich waren. Der Transformer in der Brust des grauhaarigen Colonels übersetzte sie in die Worte einer Angloter-sprechenden Stimme im Hinterkopf: »Wir standen noch nie so nahe an jener unerklärlichen Grenze, die uns bis jetzt von unserer Vergangenheit abgeschnitten hat, Huxley!«
Tantal verließ den Leitstand der CHARR und ließ sich von einem Energiefeld durch die langen Korridore des Schiffes tragen. Ein Hangar war inzwischen für die Aufnahme des Trümmer-Stückes vorbereitet worden. Professor Barnard hielt sich bereits in einem angrenzenden Laborraum auf. Ortungsoffizier Perry traf ein, um zu assistieren. Mehrere Meegs hatten sich ebenfalls eingefunden. Die Meßwerte der Ortung waren auch hier abrufbar, so daß Barnard und sein Team ständig darüber informiert waren, wie viel das Objekt bereits von seiner Wärmeenergie ins All abgegeben hatte, wo eine Temperatur von nahezu 0° Kelvin herrschte, also knapp über dem dem absoluten Nullpunkt von minus 273° Celsius. »Ein Temperaturunterschied von über 60 000 Grad!« meinte Barnard fast ehrfurchtsvoll. »Der Vorgang der Abkühlung wird dennoch mehrere Stunden dauern.« »Mich würde interessieren, wie du die Werte der Abtaster inter-v pretierst, Terraner Bamard«, signalisierte einer der Meegs, was ein angeschlossener Translator korrekt übersetzte. Barnard zuckte die Achseln. »Es scheint ein Gemisch verschiedener Metalle zu sein. Aber wie genau diese Legierung zusammengesetzt ist und was ihre schier unglaubliche Widerstandskraft ausmacht... tut mir leid, aber da kann ich im Moment wirklich nur spekulieren.« Barnard atmete tief durch. »Ich hoffe nur, daß dieses Ding die relativ rasche Abkühlung übersteht.« Als die Temperatur des Trümmerstücks weit genug gesunken war, wurde es mit Hilfe des Traktorstrahls in den Hangar geholt. Mehrere Robotsonden warteten dort bereits auf ihren Einsatz, um erste Untersuchungen durchzuführen. Sehr langsam wurde das Trümmerstück auf den Hangarboden gesenkt. Der Augenblick der Wahrheit! dachte Tantal. Wie lange haben die Nogk darauf gewartet... Dann berührte das Trümmerstück den Hangarboden. Augenblicklich zerfiel es in eine Unzahl kleinster Bruchstücke. »Energiefeld aufbauen!« befahl Bamard. »Zu spät!« erwiderte Perry. »Das Objekt ist offenbar wesentlich instabiler, als es nach unseren Daten zu vermuten war.« Nur Sekunden hatte der Zerfall gedauert. Bamard stellte eine Verbindung zur Zentrale her.
»Hier Huxley, was ist los bei euch?« »Commander, wir haben ein Problem.« Barnard informierte Huxley in knappen Worten über das, was geschehen war. »Wie wollen Sie weiter vorgehen?« erkundigte sich Huxley. »Das Material scheint sehr empfindlich geworden zu sein. Ich werde durch den Einsatz einer Robotsonde Proben sichern lassen, die wir dann so schnell wie möglich untersuchen können. Die Werte, die unsere Abtaster anzeigen, sind leider widersprüchlich und nicht besonders aussagekräftig.« »Tun Sie das, Professor. Aber seien Sie vorsichtig.« Srool, einer der Meegs, wandte sich jetzt über Translator an Bamard. »Wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß der Zerfallsprozeß weiter fortschreitet, möglicherweise sogar bis auf die atomare oder subatomare Ebene.« Bamard nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht.« »Ich schlage vor, alles zum Einsatz von Abschirmungsfeldern bereit zu machen«, erklärte Srool. »Es könnte zu Strahlungsausbrüchen kommen.« »Die Daten, die wir bisher haben, legen zwar eher nahe, daß es sich um eine rein mechanische Instabilität handelt, die darauf beruht, daß die Bindungen in den metallischen Molekülgittem durch die rasche Abkühlung ihre Festigkeit verloren haben, aber... meinetwegen.« Eine Robotsonde begann wenig später damit, Proben einzusammeln. Einige Bruchstücke wurden mit Hilfe eines Saugarms fixiert und von einem leicht schimmernden Energiefeld umgeben. (Doch selbst diese schonende Behandlung schien dem Material cht gut zu bekommen. »Die Substanz zerfällt weiter«, meldete Perry, der die von der Robotsonde abgesandten Daten ablas. »Partikelgröße erreicht jetzt Staubkomniveau!« reDie Robotsonde brachte die Probe wenig später ins Labor. BDie inzwischen im wahrsten Sinn des Wortes zu Staub zerfallenen Bruchstücke wurden auf eine Energiesphäre gebettet. Tantal, Srool und Barnard umringten den Labortisch und akti('erten die Analysegeräte. Bamard starrte wie gebannt auf die Anzeigen. »Da läuft irgend etwas ab...«, murmelte er. »Der Zerfall geht weiter! Bis in den atomaren Bereich! Verdammt...!«
Die Probe veränderte sich, begann zu leuchten, als ob es sich um ein fluoreszierendes Material handelte. »Strahlungswerte steigen immens!« meldete Perry. »Raus hier! Abschirmfelder innerhalb von zehn Sekunden aktivieren!« schrie Barnard. »Professor!« rief Perry. »Das noch im Hangar befindliche Material beginnt ebenfalls zu zerfallen!« »Also kann es nicht mit dem Einsatz unserer Scanner zusammenhängen !« murmelte B amard. »Abschirmfelder werden in zehn Sekunden aktiviert. Countdown läuft! «rief Perry. Die Strahlungsdosis stieg innerhalb weniger Augenblicke. Alle Anwesenden verließen so schnell wie möglich das Labor. 4. Zugegeben, ich liebte es, recht zu haben und den Menschen ihre kleinen Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben. Aber es gab Momente, da wünschte ich mir, mal so richtig danebenzuliegen. Dieser Wunsch wurde mir erfüllt - genau zur rechten Zeit. Meine Vermutung, daß die Cyborgs die Injektion der Snide-Vi-ren nicht überlebt hatten, erwies sich Gott sei Dank als falsch. Ez-bal schüttelte auf meine Frage hin den Kopf. »Sie liegen alle im Koma«, teilte er mir mit. »Nun bleibt uns nichts weiter übrig als abzuwarten. Sollte sich herausstellen, daß die erste, beschleunigte Züchtung versagt oder zu einer Verschlechterung ihres Zustandes führt, werden wir die Phant-Viren erneut abtöten und die abgestorbenen Reste entfemen müssen. Ob die Körper der Cyborgs diese gefährliche, schmerzvolle Prozedur noch ein weiteres Mal durchhalten, ist allerdings fraglich.« »Demnach kommen die Viren der zweiten Züchtungsreihe vielleicht nie zum Einsatz«, entgegnete ich. Ezbal antwortete nichts. Was sollte er dazu auch sagen? Er war Forscher, kein Hellseher. »Du bist also nur gekommen, um uns darüber zu informieren, daß die umstrittene Vireninjektion erfolgt ist«, konstatierte ich. Wieder lag ich falsch. »Es gibt noch einen weiteren Anlaß«, sagte Ezbal mit dem für ihn typischen unergründlichen Lächeln. »Wie ich beobachten konnte, findet sich Mister Buscetta hier ganz gut zurecht. Könnten Sie sich vorstellen, im Brana-Tal zu arbeiten, Frank?«
Wie er beobachten konnte...? Wie lange hielt sich »Herr Leisetreter« schon in unserer Mitte auf? »Ich hätte mich längst um eine Anstellung in einer dieser phantastischen Werkstätten beworben, würde auch nur der Hauch einer Chance bestehen«, beantwortete Jamies Anverwandter Ezbals Frage. »Doch ich vennute mal, daß meine Bewerbungsunterlagen ohne Zwischenaufenthalt direkt im Strahlwolf landen würden. Ich habe die leidige Erfahrung gemacht, daß die wirklich guten Jobs immer schon von besser qualifizierten Mitbewerbern besetzt sind. Deshalb mache ich mir niemals unnötige Hoffnungen.« »Um einen >Job< im Brana-Tal bewirbt man sich nicht wie um eine normale Arbeitsstelle«, erklärte ihm Ezbal mit ruhiger Stimme. »Wer hier arbeitet, wurde auserwählt.« »Na schön, dann bin ich halt kein abgelehnter Bewerber, sondern ein nicht in die engere Auswahl gekommener Auserwählter«, meinte Buscetta. »Unterm Strich ist's dasselbe.« »Ich möchte Ihnen eine Beschäftigung im Brana-Tal anbieten, Frank«, ließ Ezbal die Katze aus dem Sack und wandte sich anschließend Savannah zu. »Ihnen übrigens auch, Jamie. Sind Sie mit dabei?« Frank und seine Tante hätten einen Kanon-Chor gründen können, so sekundengenau schienen sie die Zeitgleichheit ihrer Antworten aufeinander abgestimmt zu haben. Erste Stimme (Buscetta): »Nichts lieber als das!« Zweite Stimme (Savannah): »Auf gar keinen Fall!« »Dann begrüße ich Sie beide hiermit als neue Mitglieder unseres Teams«, bemerkte Ezbal mit zufriedener Miene. »Hören Sie mir nicht zu?« ranzte Savannah ihn an. »Ich habe kein Interesse an einer Anstellung. Nein - No - Njet - Nada!« »In diesem Fall müßten wir Ihre Füße in einen Bottich mit Zement stecken und Sie in einem Bergsee versenken. Gnädigste«, ließ sich der Inder zu einem makabren Scherz hinreißen, wurde aber sogleich wieder ernst. »Sie sind sich doch darüber im klaren, wo Sie sich befinden, Jamie, oder? Das Brana-Tal ist ein Regierungsgeheimnis. Was immer Sie hier gesehen, gehört oder erlebt haben, dürfen Sie niemals weitererzählen.« »Ich verbürge mich für die Verschwiegenheit meiner Freunde«, setzte ich mich für Savannah ein. »Das genügt leider nicht«, machte Ezbal mir unmißverständlich
klar. »Entweder gehören deine Freunde zukünftig zu uns - oder ich muß sie behandeln, als seien sie gegen uns.« »Was sind das denn für Töne?« protestierte Jamie Savannah. »Wohlklänge für meine Ohren«, warf ihr Neffe ein. »Darf ich mir noch ein paar Sachen von daheim holen, bevor ich ins Brana-Tal einziehe? Auf meine Comics würde ich ungern verzichten.« »Und ich verzichte ungern auf meinen Laster!« unterstrich meine Freundin Jamie ihre ablehnende Haltung. »Wohin sollte ich hier fahren? Die Berghänge rauf und runter?« »Denken Sie denn, unsere Arbeit beschränkt sich allein auf dieses Tal?« stellte Ezbal ihr die Gegenfrage. »Selbstverständlich dürfen Sie weiterhin rund um den Erdball die Straßen unsicher machen. Aber von nun an brauchen Sie keinem Auftrag mehr hinterherzulaufen. Oder sollte ich besser sagen: hinterherzufahren? Wir ernennen Sie offiziell zu unserer ständigen freien Mitarbeiterin und verpflichten uns vertraglich, Ihnen regelmäßig Transportaufträge zukommen zu lassen, die mit uns in Zusammenhang stehen. Dafür müssen Sie nicht einmal das Brana-Tal anfahren. Es genügt bereits, wenn Sie Material zu Transmitterstationen bringen, beziehungsweise von dort abholen. Was nicht heißen soll, daß Sie hier nicht jederzeit herzlich willkommen sind. Eine entsprechende ID-Karte erlaubt Ihnen jederzeit den Zutritt auf dieses Gelände.« Auch ich besaß eine solche Karte. Eine zweite wies mich als Besatzungsmitglied der POINT OF aus. Nur der letzte, für mich wichtigste Ausweis fehlte noch: meine Legitimation als terranischer Staatsbürger. Ren Dhark, der Commander der Planeten höchstpersönlich, hatte mir zugesichert, mir stünden dieselben juristischen Rechte wie jedem anderen Terraner zu, weil ich auf diesem Planeten zur Welt gekommen war. Sein Freund Dan Riker sollte mich mit allen erforderlichen Papieren ausstatten - doch die Behörden zögerten noch, mir meine »Existenzberechtigung« als Erdenbürger zu bescheinigen. Terraner waren Menschen. Roboter waren Nichtmenschen. Ein Nichtmensch konnte unmöglich Terraner sein oder werden, selbst l wenn er auf einem terranischen Planeten geboren wurde. Beamtenlogik. Meine offenherzige Bekundung, lieber sterben zu wollen als Mensch zu sein, machte mich bei den zuständigen Behördenvertre-tern nicht gerade beliebter.
Was bildeten sich die Menschen bloß ein? Gegen meine zwei Dutzend Programmgehirne nahm sich ihr unzulängliches, pulsierendes Kopforgan ziemlich lächerlich aus. Und mein Stahlgestell war hundertmal stabiler als ihre verletzbaren Körper. Jamie Savannah hatte sich zwischenzeitlich wieder abgeregt. Sie hatte sozusagen »Luft abgelassen« - bildlich gesprochen, denn sie war noch genauso dick und rundlich wie vorher. Allmählich be-« gann sie, sich mit Ezbals Vorschlag anzufreunden. »Ich bin aber nicht billig«, stellte sie von vornherein klar. »Zwar befehlige ich nur ein Ein-Frau-Untemehmen, doch ich arbeite effektiver als so mancher Großkapitalist.« »Sie werden angemessen entlohnt werden«, versprach ihr der Brahmane. »Ihre berufliche Zukunft ist von heute an finanziell gesichert. Dasselbe gilt für Sie Frank. Solange Sie keine silbernen Löffel klauen, können Sie im Brana-Tal alt und grau werden.« Ich horchte auf. Ezbal aß mit silbernen Löffeln? Und er hatte Angst, jemand könne sie ihm stehlen? Als mir bewußt wurde, daß es sich lediglich um eine menschliche Redensart handelte, die mir bis dato noch nicht bekannt war, speicherte ich sie umgehend ab. Meine Idiom-Sammlung nahm allmählich mächtig gewaltige Ausmaße an - und doch war sie nur ein Fliegenschiß, gemessen an der Gesamtkapazität meiner Speicherbänke. Die nächsten Tage verbrachte ich fast durchgehend in der Werkstatt. Zwar war es mir inzwischen gelungen, eine haltbarere Befestigung meiner Glieder zu entwickeln, doch ich war immer noch nicht zufrieden damit. Buscetta, der mir stundenweise assistierte (im Gegensatz zu ihm benötigte ich keinen Schlaf), nannte mich eines Morgens freiheraus einen Pedanten. Ich empfand das als Kompliment. Was war denn so schlimm daran, etwas Perfektes noch perfekter machen zu wollen? »Perfektionismus hin oder her - an dieser Konstruktion gibt es nichts mehr zu verbessern«, war Frank überzeugt. »Du wirst mit den teuersten Materialien ausgestattet, die je in einem Robotergestell verarbeitet wurden.« »Exakt das ist es, was mich daran stört«, erklärte ich ihm. »Jeder Kretin schafft es, eine solche Konstruktion zu entwickeln, wenn man
ihm genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Ich habe mir aber vorgenommen, etwas wesentlich Preisgünstigeres zu konstruieren, das mindestens ebenso stabil ist.« »Wozu? Reizt es dich denn nicht, der wertvollste Roboter zu sein, der jemals über die Erde gewandelt ist?« »Bin ich das nicht sowieso schon? Mehr noch. Seit ich als Mannschaftsmitglied auf dem Flaggschiff der TF Sold beziehe, bin ich zudem der reichste Roboter der Welt.« »Das ist kein Kunststück, schließlich kriegen die anderen Roboter gar nichts. Was sollte eine leblose Maschine auch mit Geld anfangen? Apropos, wofür gibst du dein Geld aus? Du benötigst keine Nahrung, zahlst keine Miete, stotterst keinen Kredit ab, mußt keine Versicherungsprämien berappen, hast keine kostspieligen Hobbys...« »Ich spare«, unterbrach ich Buscettas Aufzählung. »Geldsammeln ist schließlich auch so eine Art Hobby, eins, das mich unabhängig macht. Vielleicht möchte ich ja mal ins Theater oder Holo-kino gehen, ohne jemanden zu bitten, mich mitzunehmen. Möglicherweise will ich mir eines Tages ein eigenes Raumschiff kaufen.« »Dafür muß eine alte Oma lange stricken«, benutzte er eine Redewendung, die ich bereits in verschiedenen Variationen abgespeichert hatte. »Ich schlage vor, du spielst in der Lotterie, das vergrößert deine Chance, jemals zu einem Vermögen zu kommen. Oder du machst irgendeine bahnbrechende Erfindung, meldest sie zum Patent an und...« Diesmal unterbrach er sich selbst. »He, Moment mal! Genau das hast du vor, nicht wahr? Wäre deine Konstruktion nur ein teures Einzelstück, könntest du damit keinen müden Dollar verdienen. Doch falls du es schaffst, die Produktionskosten gering zu halten, wäre die neue Befestigung zur Serienproduktion geeignet. Damit kannst du dann Roboter bauen, die noch besser und billiger sind als die von Wallis Industries. Hast du überhaupt Zeit, um eine riesige Fabrik zu errichten und die Arbeiten zu überwachen? Falls du einen tüchtigen Vorarbeiter benötigst...« Nun war wieder ich mit Unterbrechen an der Reihe. »Langsam, langsam, ich habe nicht die Absicht, Terence Wallis Konkurrenz zu machen. Ganz im Gegenteil, ich werde ihm die Nutzungsrechte zum Verkauf anbieten.«
»Du willst dich mit Wallis auf einen Handel einlassen? Gib acht, Artus, daß er dich nicht über den Tisch zieht. Es heißt, für ein gutes Geschäft würde er seine eigene Großmutter verpfänden.« Ich teilte Franks Bedenken nicht. »Wallis ist ein guter Freund von Ren Dhark - und die Freunde des Commanders sind auch meine Freunde. Im übrigen soll der Multimilliardär in letzter Zeit ziemlich nachgelassen haben, erzählt man sich in der Gerüchteküche.« »Um so schlimmer. Falls an den Gerüchten was dran ist, braucht der Mann dringend ein Erfolgserlebnis. Ein unerfahrener Neugeborener wie du käme ihm da gerade recht.« Buscetta schien sich echt Sorgen um mich zu machen. Eigentlich war er gar kein so übler Kerl. Ich hatte Vertrauen zu ihm und weihte ihn in die Konstrukti°nspläne ein, die ich in der vergangenen Nacht entwickelt hatte, basierend auf unseren bisherigen Erfolgen. Frank begriff schnell, was zu tun war. Mit Sicherheit war er kein solcher Dummkopf, wie ich anfangs geglaubt hatte. Ihm hatte wohl bislang nur die geeignete Herausforderung gefehlt. Mehrmals täglich begab ich mich auf die Krankenstation. Man hatte die achtundvierzig erkrankten Cyborgs in nebeneinander-und gegenüberliegenden Mehrbettzimmern untergebracht. Bisher war noch keiner von ihnen aus dem Koma erwacht. Ich fragte mich, wie man mit ihnen verfahren würde, wenn sie nie mehr aufwachten? Ab wann stand es den behandelnden Ärzten zu, die künstliche Ernährung einzustellen und sämtliche lebenserhaltenden Systeme abzuschalten? Machten sie sich dadurch zu Mördern? Oder erlösten sie die im komatösen Zustand befindlichen Patienten aus einem quälenden Dämmerzustand, aus einer bedrückenden Gefangenschaft in einer unbekannten Welt zwischen Leben und Tod? Laut meinen Speicherinformationen hatte sich die Menschheit schon im vorigen Jahrhundert mit diesem medizinisch-ethischen Problem befaßt. Offensichtlich war nicht alles durch den Fortschritt lösbar. Die Terraner waren kluge Lebewesen, die ihren Verstand zu gebrauchen wußten - dennoch waren sie nicht allwissend. Nur die Cyborgs selbst hätten den Ärzten und Angehörigen diese wichtige Entscheidung abnehmen können, doch sie konnten sich augenblicklich nicht mit ihrer Umwelt verständigen.
Cyborgs und lebende Roboter (von denen es bisher nur einen einzigen gab) waren sich gar nicht mal so unähnlich. Außerhalb seines Zweiten Systems fühlte und dachte ein Cyborg wie ein normaler Mensch. Im Phantzustand war er die Konzentration in Person. Hatte er einmal ein Ziel ins Auge gefaßt, ließ er sich von nichts und niemandem ablenken, bis er es erreicht hatte. Auch ich konnte mich voll und ganz auf eine Aufgabe konzentrieren, ohne meine innere Ruhe zu verlieren, was vor allem im Kampf von Vorteil war. Trotzdem war ich keine tumbe Haudraufmaschine, sondern eine denkende und fühlende Kreatur. Ich erlangte jederzeit die Kontrolle über mich zurück - im Gegensatz zu manchen Menschen, die im Jähzorn jeden Bezug zur Realität verloren. Cyborgs konnten ihre Phant-Phase verlassen, wann immer sie wollten, dank der neuesten Generation von Programmgehirnen, an deren Herstellung ich nicht unwesentlich mitgewirkt hatte. Ule Cindar, an dessen Bett ich an diesem trüben Morgen stand, wirkte meist ein wenig blaß im Gesicht, ein Eindruck, der durch sein blondes Haar noch verstärkt wurde. Augenblicklich waren seine blutleeren Wangen weiß wie Schimmelkäse. Cindar kam mir mehr tot als lebendig vor. Sein Körper hatte keine Verwandlung durchmachen müssen, dafür aber hatte während der Viren-Mutation sein Verstand total ausgesetzt. Er, der normalerweise wie aus dem Ei gepellt herumlief und sich möglichst unauffällig verhielt, war zu einem verkommenen, ungewaschenen Subjekt geworden, das in einem kleinen Chiemgauer Ort die Wintersportler belästigt hatte. Ule war in der Lage, aus den verschiedensten Chemikalien köstliche Drinks zu mixen, überwiegend alkoholfreie. In seiner mutierten Identität hatte er sich fast ausschließlich von billigem Fusel ernährt. Eine größere Demütigung hätte sich der Sechsundzwanzigjährige kaum zufügen können. Ule Cindar lag im selben Zimmer wie Jan Burton. Jan war eine gelungene Mischung aus drei menschlichen Rassen: Mongole, Schwarzafrikaner und Nordeuropäer. Sein Haar wies einen leichten Blaustich auf, seine Augen waren von der Natur mit einer ungewöhnlichen Bernsteinfarbe beschenkt worden. Er war ein brillanter Logistiker, ein Spezialist im Berechnen von Wahrscheinlichkeiten, weshalb man ihn scherzhaft als »lebenden Suprasensor« bezeichnete.
Eine Bezeichnung, die wohl eher auf mich zutraf. Mit Burtons können Fähigkeiten auf diesem Gebiet konnte ich allemal mithalten. Oha, war das etwa wieder ein Anfall von Selbstherrlichkeit? Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, mich zu bessern. Eins hatte Jan mir auf jeden Fall voraus: eine Vergangenheit. Allerdings eine, um die ihn niemand beneidete. Nach zwei Jahren Ehe war seine Frau Mona auf dem Kindbett gestorben, zusammen mit dem Baby. Seither erstickte er seinen Kummer in harter Arbeit. Bei Kampfeinsätzen riskierte er oftmals zuviel, denn der Tod machte ihm keine Angst. Im Gegenteil, er betrachtete ihn als seinen besten Freund, schließlich würde er im Tod eines Tages wieder mit seiner Frau vereint sein. Ich hoffte sehr, daß dieser Tag noch weit entfernt war. Denn Jan Burton war einer meiner fünf »Väter«. An meiner »Geburt« hatte er genauso mitgewirkt wie Echri Ezbal, Ule Cindar und die sechsunddreißigj ährigen Snide-Zwillinge. Letztere lagen glücklicherweise nicht auf der Kranken Station. Sie hatten sich von der Virenentnahme verhältnismäßig schnell erholt und bangten nun mit uns um das Leben ihrer achtundvierzig Kameraden. Kameraden wie Bram Sass und Lati Oshuta, die sich im Nachbarzimmer befanden. Der sechsundzwanzigjährige, ein Meter dreiundsiebzig große Sass war Rätoromane, was bedeutete, daß er einem der drei romanisierten Volksstämme der Räter angehörte, die sich in Graubünden, Friaul und Südtirol niedergelassen hatten. Seine Wiege stand in Südtirol, logischerweise war er Ladiner. Natürlich gab es auch für ihn ein Leben vor den Cyborgs - er hatte als Landwirt gearbeitet. Die in meinen Speichern vorhandenen Angaben über ihn gingen bis in seine Kindheit zurück. Ich hatte sie, wie alle meine Informationen, anderen Rechnern entnommen oder bei Gesprächen aufgeschnappt. Oftmals befragte ich die betreffenden Personen auch selbst und speicherte Wichtiges und Uninteressantes kurzerhand ab. Wie schon erwähnt war die mir zur Verfügung stehende Speicherkapazität enorm hoch, und ich benötigte nur Sekundenbruchteile, um die gewünschten Auskünfte abzurufen. Der dreiundzwanzigjährige Japaner Lati Oshuta war ein Stückchen kleiner als Sass. Er beherrschte meisterlich verschiedene Selbstverteidigungstechniken, die durch den Phant noch potenziert
wurden. Insbesondere in Zweikämpfen mit Nomaden hatte sich gezeigt, daß Oshuta nahezu unbesiegbar war. Ich hatte von den gefährlichen Hundeartigen aus Drakhon gehört. Es gab Meldungen, nach denen vor nicht allzu langer Zeit eins ihrer Schiffe auf Esmaladan gelandet war, um Handel mit den Utaren zu treiben. Ob sich der nomadische Kreuzraumer derzeit noch in der Milchstraße aufhielt oder ob die Nomaden mitsamt ihrer Heimatgalaxis endgültig aus diesem Bereich des Weltalls verschwunden waren, entzog sich jedoch meiner Kenntnis. Ich versuchte, mir die Begegnung zwischen den aufrechtgehenden, menschengroßen »Dobermännern« und den zwergenhaften Utaren vorzustellen. Aufgrund der unterschiedlichen Größen Verhältnisse mußten sich die Nomaden gefühlt haben wie Erwachsene auf einem von Kindern gestalteten Planeten. Was außerirdische Völker anbetraf, wiesen meine Speicher noch ein gehöriges Informationsdefizit auf. Gab es nicht eine utarische Botschaft auf Oorch, dem Heimatplaneten der gigantischen Rateken? Die dort stationierten Utaren fühlten sich wahrscheinlich nicht sehr wohl in ihrer Zwergenhaut. Oshuta war bei den Nomaden bestimmt ein gefürchteter Mann. Im Zweikampf gegen mich hätte er allerdings nicht die geringste Chance. Hoppla! Reiß dich zusammen, Artus! Was würde Savannah von mir denken, wüßte sie von meinen großspurigen Reflexionen, noch dazu im Angesicht eines wehrlosen Kranken? Zum Glück konnten Menschen keine Gedanken lesen, schon gar nicht die von lebenden Robotern. Im übrigen hatte es bereits einen Zweikampf zwischen Oshuta und mir gegeben. In Tokio hätte er mich fast umgebracht - in Gestalt einer monströsen Riesenschlange. Nur unter Einsatz meines Lebens hatte ich ihn austricksen und zurück ins Brana-Tal befördern können. Oshuta war der letzte, den ich ausfindig gemacht hatte. Und somit auch der letzte, dessen mutierte Phant-Viren abgetötet worden waren. In welcher Reihenfolge Ezbal den erkrankten Cyborgs die nachgezüchteten Snide-Viren verabreicht hatte, war mir nicht bekannt. Ich nahm an, Mark Carrell war als erster drangekommen, schließlich
war es ihm am schlechtesten gegangen. Carrell war keiner von der »Hart-im-Nehmen-Sorte«. Obwohl auch er sich im Kampf gegen die Feinde der Menschheit nichts schenkte, hatte er sich eine gewisse Sensibilität bewahrt. Wie er mir in einer stillen Stunde einmal anvertraut hatte, fiel es ihm manchmal nicht leicht, die kalten Entscheidungen seines Programmgehirns zu akzeptieren, selbst dann, wenn sie ihm logisch erschienen und er gar keine andere Wahl hatte. Während seiner Mutation hatte Mark eine Fähigkeit entwickelt, die dem Gedankenlesen schon sehr nahe kam. Jedoch hatte er die Stimmen, Eindrücke und Empfindungen, die gegen seinen Willen gleich massenweise in ihn eingedrungen waren, nur sehr schwer unter Kontrolle bringen können. Mit friedlichem Gesichtsausdruck lag er unbeweglich auf seinem Krankenlager. Zumindest jetzt schien er seine innere Ruhe wiedergefunden zu haben. Hoffentlich war es nicht die letzte Ruhe. Im gegenüberliegenden Bett, sozusagen Fuß an Fuß, mit einem schmalen Gang dazwischen, stieß ich auf Jes Yello. Das Bemerkenswerteste an dem hageren, stoppelbärtigen Mittzwanziger war seine Bescheidenheit. Obwohl er mindestens ebenso viele Groß- und Heldentaten wie seine Kameraden vollbracht hatte, verlor er nie ein Wort darüber. Mehr durch Zufall hatte ich erfahren, daß er sich zusammen mit Ren Dhark im ersten Rateken-raumer aufgehalten hatte, der 2056 auf Cent Field gelandet war. Yello hatte nie viel Aufhebens darum gemacht. Vermutlich würde er nach dem Erwachen aus dem Koma seine Heilung ebenso gleichmütig abtun. Vielleicht sollte ich mir an seiner Bescheidenheit ein Beispiel nehmen. Ich ärgerte mich meistens, wenn ich etwas Erstaunliches vollbracht und niemand zugeguckt hatte. Holger Alsop, der nebenan lag, hatte im Verlauf der Mutation unter lebensbedrohlichen Krämpfen gelitten und sich nur unter großen Schmerzen bewegen können. Um sich Erleichterung zu verschaffen, war er in den Phant-Modus gegangen - und hatte dann nicht mehr zurückschalten können. Damit hatte die Uhr zu ticken begonnen und uns alle unter Zeitdruck gesetzt. Länger als neun Tage und sechs Stunden durfte kein Cyborg phanten; andernfalls wurde vom Virus eine blitzartig wirkende Krebsart ausgelöst, die unaufhaltsam zum Tode führte.
Alsops Haar war vorzeitig ergraut - nicht aufgrund der vergangenen Geschehnisse, sondern schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt. Der über ein Meter achtzig große Mann galt als Spezialist für robonische Biologie, eine Begabung, die seit dem 13. September 2058 - dem Tag, an dem die Robonen die Erde verlassen hatten - so gut wie gar nicht mehr benötigt wurde. Normalerweise erschreckte ich mich nicht so schnell. Der Anblick in Alsops Nachbarbett versetzte mir jedoch einen gehörigen Schock. Geboren am 30. September 2036. Vater amerikanischer Abstammung, Mutter deutscher Herkunft. Größe 1,76 Meter Gewicht 66 Kilogramm - Haarfarbe blond - Augenfarbe blau. Gefährliche Kämpferin. Von hoher Intelligenz. Fast automatisch rief ich meine Speicherinformationen ab - die offiziellen... ... und die inoffiziellen. Sie besitzt die Gabe, komplexe Situationen intuitiv zu erfassen und richtig zu beurteilen, und hat somit das Zeug zu einer großen Strategin. Zwar ist sie nicht der typische Einzelgänger, fügt sich aber nur widerwillig ins Team ein, bleibt seelisch auf Distanz zu ihren Mitmenschen. Während der Giant-Invasion mußte sie als eine der wenigen Immunen miterleben, wie ihre Eltern umkamen. Über diese Zeit redet sie mit niemandem; auch im schriftlichen Lebenslaufund in persönlichen Gesprächen reagiert sie verschlossen und sagt zu diesem Punkt nur das, was unbedingt notwendig ist. Ich war fassungslos. Offenbar hatte es jetzt auch Amy Stewart erwischt. Echri Ezbal war völlig außer sich. Auch ihn hatte niemand über Amy s Erkrankung informiert. »Wie konnte das passieren?« fragte er aufgeregt, kaum daß er die Krankenstation betreten hatte. »Amy Stewart wurde doch gar nicht mit den Phant-Viren infiziert.« Kurz nach ihm betrat eine der Krankenschwestern, die sich rund um die Uhr um die komatösen Cyborgs kümmerten, das Zimmer. Sie konnte zur Aurklärung des Sach Verhalts beitragen. Ezbal und mir fiel ein Stein vom Herzen. »Das hätte ich Amy gar nicht zugetraut«, sagte er zu mir, nachdem
die Schwester wieder gegangen war. »Bisher war ich überzeugt, daß sich unter ihrer hübschen Schale ein harter Kern verbirgt. Ich kenne sie als kompromißlose Kämpferin, die es mit jedem Mann aufnimmt. Was ihr an körperlichen Möglichkeiten fehlt, gleicht sie durch Gemeinheit aus, wobei sie auch vor miesen Tricks nicht zurückschreckt. Kaum zu glauben, daß ausgerechnet sie in jeder freien Minute auf der Krankenstation ausharrt, um dabeizusein, wenn der erste ihrer Kameraden die Augen aufschlägt.« »Ich finde das nicht so ungewöhnlich«, widersprach ich. »Unter meiner abgespeicherten Auflistung ihrer Charaktereigenschaften befinden sich Einschätzungen wie >ehrliche Haut< und >gute Kameradin^ Zwar steht sie nicht nur fremden Völkern, sondern auch ihren Mitmenschen prinzipiell mißtrauisch bis feindselig gegenüber, das schließt jedoch ein mitfühlendes Herz nicht zwangsläufig aus.« Amy Stewart schlug die Augen auf. »Okay, ihr habt es geschafft, jetzt bin ich glockenwach«, hielt sie uns vor. »Wie soll man bei diesem sentimentalen Geschwätz weiterschlafen können?« Sie war bis tief in die Nacht hinein bei den Cyborgs geblieben, und als sie müde geworden war, hatte sie sich der Einfachheit halber in das freie Bett gelegt - mit Einverständnis des Klinikpersonals. Gekonnt schwang sie sich aus dem Bett, mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die fast schon olympiareif war. Ihr Körper war muskulös, ohne daß die Ästhetik ihrer Gesamterscheinung darunter litt. Nach menschlichem Ermessen war sie eine überaus attraktive Erscheinung. Amy trug nur Slip und BH. Ezbals und meine Anwesenheit schien sie nicht im geringsten zu stören. Vielleicht hätte sie sich im Beisein jüngerer Männer geniert und etwas mehr bedeckt, doch den Hundertjährigen und den Roboter schien sie nicht für voll zu nehmen. »Ich gehe jetzt duschen«, kündigte sie an und machte Anstalten, nebenan im Bad zu verschwinden. Im Eingang drehte sie sich noch einmal zu uns um. »Es trifft zu, daß ich sowohl Fremdrassen als auch Menschen mit größtem Mißtrauen begegne. Aber wer kann mir das verdenken, nach allem, was meiner Familie und mir während der GiantInvasion zugestoßen ist? Nicht nur die verdammten Bestien haben
uns übel zugesetzt, auch scheinbar wohlwollende Freunde haben unser Vertrauen schamlos mißbraucht. Seither gehört es zu meinem erklärten Lebensziel, Terra eine zweite, wie auch immer geartete Invasion zu ersparen. Und dieses Ziel erreicht man am besten, indem man sämtliche Gefahren für die Menschheit von vornherein ^ Keim erstickt und rücksichtslos ausschaltet.« Amy ging ins Badezimmer, kam aber Sekunden später noch mal kurz heraus. »Nebenbei bemerkt: Ich schlage mir auf dieser Station nicht die Nächte um die Ohren, weil ich so ein herzensgutes Frauenzimmerchen bin. Ich möchte lediglich live miterleben, wenn der erste Patient aus dem Koma erwacht. Dann steht nämlich endgültig fest, daß die neuartigen Phant-Viren unschädlich sind - und man darf sie mir nicht länger vorenthalten.« Mit diesen Worten entschwand sie endgültig unter die Dusche. Als sie wiederkam, trug sie nichts weiter als ein riesiges Badetuch, das sie sich um den Leib geschlungen hatte. Ezbal hatte auf sie gewartet und stellte sie zur Rede. »Sie machen sich falsche Hoffnungen, Amy. Meine Anordnung, in Zukunft keine Phant-Viren mehr zu verwenden, bleibt auch nach der Genesung der Cyborgs bestehen. Die neue Viren-Schöpfung könnte zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, die erst viel später festgestellt werden. Ich bin nicht bereit, noch mehr Menschen diesem Risiko auszusetzen.« »Das ist unfair!« protestierte Stewart. »Ich habe mich nur deshalb für das Cy borgprogramm zur Verfügung gestellt, weil man mir die volle Umwandlung versprochen hat.« »Als ich Ihnen dieses Versprechen gab, konnten wir noch nicht ahnen, welche Auswirkungen der Wegfall der kosmischen Strahlung auf die Viren haben würde. Zugegeben, dieses Problem ist vom Tisch. Aber wer garantiert uns, daß die neue Virenkultur nicht ebenfalls auf irgendwelche äußeren Einflüsse reagiert? Jahrelang könnte alles gutgehen - bis die Snide-Viren plötzlich und unerwartet auf ähnliche Weise mutieren wie die anderen.« »Das sind doch nur Spekulationen.« »Durchaus berechtigte Spekulationen, basierend auf bisherigen Erfahrungswerten. Tut mir leid, Amy, Sie werden sich mit dem begnügen müssen, was Sie jetzt sind: ein leistungsfähiger Cyborg mit eingeschränkten Fähigkeiten. Normale Menschen würden Sie
darum beneiden.« »Ich bin aber kein normaler Mensch. Ich will alles oder nichts!« »Finden Sie sich mit Ihrem Schicksal ab«, riet Ezbal dem bisher einzigen weiblichen Cyborg. »Verabschieden Sie sich von Ihren früheren Vorstellungen und Hoffnungen, und lernen Sie, mit den alltäglichen Niederlagen des Lebens umzugehen.« »Den Teufel werde ich tun!« zischte Amy ihn an. »Aufzugeben ist in meinem Lebensplan nicht vorgesehen. Der Commander der Planeten soll entscheiden, ob Sie das Recht haben. Ihr Wort zu brechen und mir die Ausstattung mit den Phant-Viren zu verweigern.« Ihre Uneinsichtigkeit erzeugte bei Ezbal einen tiefen Seufzer. »Ich will versuchen, Ihnen gelegentlich einen Termin bei Dhark zu verschaffen«, sicherte er ihr zu. »Aber Sie müssen sich in Geduld fassen. Derzeit weiß wohl keiner so genau, wo sich der Commander befindet. Seit seiner Rückkehr aus dem All herrscht eine strikte Informationssperre, seinen Aufenthaltsort betreffend.« »Ich werde ihn suchen - und finden.« »Kommt nicht in Frage. Ich verbiete Ihnen, das Brana-Tal zu verlassen.« In Amy s Augen trat ein zorniges Funkeln. »Sie haben mir gar nichts zu verbieten. Ich bin aus der Terra Defence Force ausgeschieden und wurde noch nicht offiziell in die Cyborg-Truppe aufgenommen, sprich: Ich bin eine Privatperson. Als solche kann ich tun und lassen, was ich für richtig halte.« »Privatperson?« wiederholte Ezbal kopfschüttelnd. »Hier im BranaTal hält sich niemand nur privat auf. Dies ist kein Urlaubsort, sondern Regierungsgelände. Sie sind ein Cyborg, auch wenn Ihre offizielle Aufnahme noch aussteht. Außerdem sind Sie Geheimnisträger, so wie jeder andere hier. Schon deshalb kann ich Ihnen nicht gestatten, ohne bestimmte Auflagen außerhalb des Tals zu agieren. Und falls Ihnen das noch nicht genügt, Amy, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Ihre sämtlichen Implantate Regierungseigentum sind, allen voran das Programmgehirn in Ihrem hübschen Köpfchen.« »Reden Sie gefälligst nicht so herablassend mit mir!« fauchte Amy ihn wie ein gereiztes Raubtier an. »Ich bin niemandes Eigentum, ganz egal, was man mir eingepflanzt hat. Ich bin ich!« Hey, das ist doch mein Ausspruch? Ich sollte mir das
Copyright daran sichern. Noch bevor der Streit zwischen meinem »Vater« und Amy Ste-wart ausufern konnte, passierte etwas, womit in diesem Moment keiner gerechnet hatte. Holger Alsop bewegte sich. Er stöhnte leise - und öffnete dann die Augen. In den nächsten Stunden herrschte auf der Krankenstation helle Aufregung. Das gesamte Personal war im Einsatz, ganz gleich, ob es der Dienstplan vorsah oder nicht. Achtundvierzig ehemals Todkranke vollzogen ihre Wiederauferstehung und verlangten nach voller Aufmerksamkeit. Einige von ihnen benötigten sofortige ärztliche Hilfe aufgrund von Herzrhythmusstörungen, Kreislaufproblemen sowie plötzlichen Schmerzattacken. Andere wiederum steckten die auftretenden medizinischen Probleme einfach so weg und wären am liebsten gleich aufgestanden. Mark Carrell fiel noch zweimal in ein leichtes Koma, bevor er endgültig wach blieb. Erst gegen Mittag begriff er wirklich, wer er war und wo er sich befand. Lati Oshuta wollte mich sofort wieder angreifen, kaum daß er mein schwarzes Stirnband mit dem eingestickten goldenen A erblickte. Glücklicherweise wurde ihm rechtzeitig bewußt, daß wir keine Gegner mehr waren. Ule Cindar verspürte ein seltsames Verlangen nach billigem Schnaps. Statt dessen bekam er eine beruhigende Infusion. Jan Burton interessierte sich für jedes Detail, das im Zusammenhang mit seinem Komaanfall stand. Offensichtlich machte es ihm zu schaffen, daß er sich im Grenzbereich zwischen Leben und Tod aufgehalten hatte, ohne sich an Einzelheiten erinnern zu können. »Ich stand schon auf der Schwelle, Mona«, kam es tonlos über seine brüchigen Lippen. »Vielleicht komme ich ja beim nächsten Mal hinüber.« Amy Stewart und ich unterstützten die Ärzte und das Pflegepersonal im Rahmen unserer Möglichkeiten. Zeitweise arbeiteten wir Seite an Seite, wobei ich feststellte, daß sie eine sehr patente Frau war. Seelisch näher kamen wir uns jedoch nicht. Obwohl sie wußte, daß ich keine leblose Maschine war, verhielt sie sich mir gegenüber kühl und distanziert.
Dabei hätte ich sie einmal beinahe zum Lachen gebracht, als wir gemeinsam Jan Burton umbetten mußten. Wir hoben ihn hoch und legten ihn mit gebotener Vorsicht ins Nachbarbett. Prompt fiel mir dazu ein passender Spruch ein, doch Amy zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln. Ich deutete ihr Benehmen als eine Art Schutzmechanismus, den sie aufgrund ihrer bisherigen schlechten Lebenserfahrungen erworben hatte. Vielleicht würde es ja irgendwann irgendwem irgendwie gelingen, zu ihr durchzudringen - ich war dafür jedenfalls die falsche Person. Als sich am Nachmittag die Hektik allmählich legte, versammelten sich alle Mediziner und Helfer zu einer kurzen Lagebesprechung im Personalaufenthaltsraum. Echri Ezbal fiel als erstem auf, daß Amy nicht mehr mit dabei war. Er fragte nach ihr, doch keiner der Anwesenden konnte ihm exakt sagen, wann sie zuletzt mit im Team gearbeitet hatte. Der weißbärtige Brahmane unterdrückte einen Fluch und setzte sich mit dem Sicherheitsdienst in Verbindung. Er befürchtete das Schlimmste... Seine Befürchtung erwies sich als berechtigt. Amy Stewart befand sich nicht mehr auf dem Gelände. Sie hatte das Brana-Tal unbemerkt verlassen. Die umgehend eingeleitete Untersuchung ergab, daß der Trans"iitter zum vermuteten Fluchtzeitpunkt lediglich von einem als vertrauenswürdig geltenden Materiallieferanten benutzt worden war. Die Flugbereitschaft meldete den Verlust einer Linse. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Amy damit aus dem Tal entkommen. Um nicht vorzeitig entdeckt zu werden, mußte sie kurzzeitig eine Sicherheitseinrichtung außer Gefecht gesetzt haben. Wie ihr das gelungen war, blieb vorerst im Dunkeln. Wachpersonal und Techniker wurden überprüft. »Wenn sie das geschafft hat, schafft sie es auch, den Comman-der aufzustöbern«, war Ember To Yukan überzeugt. »Wo auch immer er sich gerade befindet und wie schwer bewacht sein geheimer Aufenthaltsort auch sein mag - sie gelangt zu ihm.« »Nicht, wenn ich sie vorher kriege«, knurrte Ezbal, dem die heimliche Bewunderung seines Mitarbeiters nicht zu passen schien. »Wir benachrichtigen die Galaktische Sicherheitsorganisation. Bernd Eylers wird eine weltweite Großfahndung nach ihr auslösen,
natürlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit.« »Warum laßt ihr sie nicht einfach laufen?« fragte ich, selbst auf die Gefahr hin, daß man mich für naiv hielt. »Das können wir nicht«, erklärte mir Ezbal. »Auf Terra gibt es gewisse Spielregeln, die zum Schutz der Menschheit unbedingt eingehalten werden müssen. Regel Nummer eins: Niemand verschwindet einfach so aus einem streng geheimen Hochsicherheitsbereich der Regierung. Regel Nummer zwei: Falls dies dennoch jemandem gelingt, wird man ihn so lange rund um den Erdball und notfalls quer durchs gesamte Weltall jagen, bis er wieder dort ist, wo er hingehört.« »Wie ich Amy einschätze, wendet sie Regel Nummer drei an«, warf To Yukan ein. »Die Regel lautet: Wenn du aus einem Hochsicherheitsbereich entkommen bist, verschleiere deine Fluchtwege, schüttele deine Verfolger ab, und laß dich nie wieder einfangen. Amy wird sich nicht so leicht erwischen lassen, darauf verwette ich die Amulettsammlung meiner aztekischen Vorfahren.« »Sie ist nicht halb so gut wie sie glaubt«, erwiderte Ezbal mit entschlossener Miene und wandte sich mir zu. »Selbst wenn die GSO versagt, haben wir noch immer unsere Geheimwaffe.« Ich ahnte, worauf er hinauswollte. »Du sprichst von mir, nicht wahr? In Ordnung, ich werde mich aufs neue ins weltweite Rechnernetz einklinken. Aber eine Erfolgsgarantie kann ich dir nicht geben. Die Programmgehirne der mutierten Cyborgs hatten einen Rückkopplungseffekt in meinem 24er-Nexus ausgelöst, anhand dessen ich ihre energetischen Muster schwach orten konnte. Stewart weiß das. Sie wird sich etwas einfallen lassen, um eine Ortung zu verhindern. Wenn ich wenigstens wüßte, wo ich nach ihr suchen soll.« »Konzentrier dich in erster Linie auf Gebiete, in denen sich der Commander verbergen könnte«, sagte Ezbal. »Früher oder später wird sie dort auftauchen. Ich weiß, wir brauchen eine Menge Geduld und etwas Glück, wenn wir Amy auf diese Weise finden wollen. Aber hat uns Kommissar Zufall nicht schon so manches Mal geholfen?« Nicht der Zufall bestimmte den weiteren Verlauf der Ermittlungen, sondern die Fingerfertigkeit eines Mannes namens Blake. Er war der Materiallieferant, der angeblich den Transmitter benutzt hatte. Amy
Stewart hatte ihn in einem Lagerraum überwältigt, gefesselt, geknebelt und im hinteren Trakt zwischen zwei Transportkisten abgelegt. Anschließend hatte sie mit Hilfe seiner speziellen ID-Card und dem ihr bekannten Tageskode den Transmitter ausgelöst. Erst jetzt hatte sich der Überfallene befreien können. »Wäre es mir nicht gelungen, die Fesseln zu lösen, hätte man mich später nur noch als Skelett aufgefunden«, untermalte Blake seine Aussage mit etwas Dramatik. Der kurze Strick hing noch an seinem linken Handgelenk. Ich besah ihn mir genauer und rekonstruierte mit Hilfe meines Simulatorchips die Art der Fesselung. »Stewart hatte nie die Absicht, Sie hinter den Kisten verfaulen zu lassen«, beruhigte ich den aufgebrachten Mann. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich aus diesem Spezialknoten hätten befreien können.« »Im übrigen wird der Lagerschuppen sporadisch kontrolliert, so daß man Sie heute abend ohnehin gefunden hätte«, fügte Ezbal hinzu, der bei Blakes Verhör anwesend war. Noch vor Einbruch der Nacht wurde in einer Felsenhöhle, die innerhalb der bewachten Abgrenzung lag, das »gestohlene« Beiboot entdeckt. Amy hatte die Linse lediglich umgeparkt, um zu verschleiern, wie ihr die Flucht tatsächlich geglückt war. »Tüchtiges Mädchen«, bemerkte Savannah, als ich ihr später davon erzählte. »Die bringt's noch zu was. Konntet ihr denn nicht herausfinden, nach wohin sie gesprungen ist?« »Ihre Spur endet vorläufig in New York«, verriet ich ihr. »Ich nehme mal an, dort ist sie nicht mehr, sonst hätte ich sie längst geortet.« »Sonderlich große Mühe gibst du dir nicht, habe ich den Eindruck«, meinte meine Freundin schmunzelnd. Sie hatte mich - wie üblich - durchschaut. In der Tat legte ich keinen gesteigerten Wert darauf, die Flüchtige ausfindig zu machen. Meiner Meinung nach drohte der Regierung von Amy Ste-wart keine Gefahr, deshalb gab es für mich keinen Anlaß, sie wie ein angeschossenes, unberechenbares Tier zu hetzen. Meine diesbezüglichen Anstrengungen beschränkte ich gerade so auf das Nötigste. Im übrigen hatte ich in der Werkstatt alle Extremitäten voll zu tun.
»Sir, das Material des Trümmerstücks zerfällt zu einer Art subatomarer Ursuppe!« meldete Henroy in die Zentrale der CHARR. »Starke Neutronenstrahlung. Abschirmfeld um den Hangar ist aktiviert, Entseuchungssequenz eingeleitet.« Huxley atmete tief durch. Wir waren so nahe dran, ging es ihm durch Kopf. Und jetzt bleibt nichts weiter übrig, als diesen letzten Rest des Trümmerstücks als strahlenden Sondermüll zu entsorgen... Huxley versuchte Kontakt zu Barnard herzustellen. Aber im Labor meldete sich niemand. »Bamard, was ist da unten los bei Ihnen?« »Der Labortrakt ist ebenfalls von einem Eindämmungsfeld abgeschottet!« berichtete Henroy. Er wandte sich zu dem Commander herum. »Mit den gesicherten Proben muß etwas Ähnliches geschehen sein wie mit dem Material, das sich noch im Hangar befand.« »Ein Strahlungsunfall!« kommentierte Lee Prewitt und atmete hörbar aus. »Den Werten nach ein ziemlich schwerer.« »Lage ist unter Kontrolle«, meldete unterdessen Henroy. »Die Eindämmungsfelder wirken. Wir können davon ausgehen, daß die Verstrahlung auf die bisher betroffenen Schiffsareale begrenzt bleibt.« Auf einem Sichtschirm meldete sich Dr. Berger, der Schiffsarzt, von der Krankenstation aus. »Commander, ich habe hier insgesamt fünf Opfer einer starken Verstrahlung, die sie im Labor erlitten haben: Professor Barnard, Ortungsoffizier Perry, Tantal sowie zwei Meegs. Mit der Entseuchung wurde bereits begonnen.« »Wie ist der Zustand der Opfer?« erkundigte sich Huxley. »Ich glaube nicht, daß einer von ihnen dauerhafte Schäden davontragen wird. Allerdings kann ich das in Bezug auf die Nogk nur mit Einschränkung sagen, da ich mich mit ihrer Physiologie weitaus weniger gut auskenne als mit der menschlichen. Aber ich bin optimistisch.« Huxley lehnte sich in seinem Kommandantensitz zurück. »Ihr Wort in Gottes Ohr, Berger!« Der grauhaarige Colonel unterbrach die Verbindung. »Ich hoffe wenigstens, daß wir aus dem Zerfallsprozeß des Materials irgendwelche Rückschlüsse ziehen können«, meinte Lee Prewitt. »Sonst stehen wir wieder ganz am Anfang unserer Suche.« Eine halbe Stunde später kam die Meldung, daß die Entseuchung der
von der Verstrahlung betroffenen Schiffsbereiche abgeschlossen war. Vier Stunden später berief Huxley eine Zusammenkunft ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Der Erste Offizier Prewitt nahm daran ebenso teil wie Bamard und Tantal, dazu Srool und Looraua, die beiden Meegs, die zu der Laborgruppe gehört hatten. Die Verstrahlten waren inzwischen vollständig entseucht worden und hatten sich den Umständen entsprechend gut von dem Vorfall erholt. »Ich habe mir inzwischen bereits die aufgezeichneten Daten über den Zerfallsprozeß des unbekannten Metalls angesehen, aus dem das Trümmerstück bestand«, erklärte Barnard, der sich offenbar kaum Zeit zur Erholung genommen hatte. Huxley hob die Augenbrauen. »Und? Gibt es irgendwelche Erkenntnisse, die wir daraus ableiten können?« »Leider nein. Diese Substanz hat ihre Geheimnisse vollständig mit sich genommen. Teilweise bin ich auf Meßergebnisse gestoßen, die sich mit dem bisherigen Stand unserer Physik kaum in Einklang bringen lassen.« »Das technische Produkt einer uns weit überlegenen Rasse«, mischte sich Srool in das Gespräch ein. Huxley nickte langsam. »Die Frage ist, was wir jetzt als nächstes tun.« »Wir fliegen noch einmal in diese Glutwolke hinein«, schlug Professor Barnard vor. Lee Prewitt hob abwehrend die Hände. »Ich weiß nicht, ob unsere Schutzschilde das noch mal so unbeschadet überstehen würden!« gab er zu bedenken. »Außerdem dürfte es extrem unwahrscheinlich sein, daß wir ein zweites Mal das Glück haben, auf Überreste dieses geheimnisvollen Objekts zu treffen, das offenbar kurz vor der Nova-Explosion bis in den Koronabereich vordrang.« Barnard hob die Augenbrauen. »Wir haben aber kaum eine andere Wahl, Mr. Prewitt! Außerdem ist das keine Frage des Glücks, sondern des genauen Arbeitens.« »Aber daß die Chancen nicht gerade gut stehen und wir gleichzeitig ein erhebliches Risiko für das Schiff eingehen, werden Sie schon zugeben müssen, Professor!«
Huxleys Blick war auf Tantal gerichtet. Die Fühler des Kobaltblauen bewegten sich nicht mehr. Die Körperhaltung war leicht nach vorne gebeugt. Er befindet sich im Zustand kontemplativer Starre, erkannte Huxley. Eine Art Trance... aber warum gerade jetzt? Hat er die Verstrahlung vielleicht doch nicht so gut überstanden, wie Berger zunächst vermutete? Plötzlich ging ein Ruck durch Tantals Körper. Die Fühler begannen heftig hin- und herzuschwingen. Ein Zeichen für die Erregung, die von ihm auf einmal Besitz ergriffen haben mußte. Irgend etwas ist mit ihm geschehen, war es Huxley sofort klar. »Ich erinnere mich an jene Zeit, als die Nogk das Charr-System besiedelten«, erklärte der Kobaltblaue plötzlich. »Und zum ersten Mal weiß ich jetzt, woher wir damals kamen...« Die Grenzen seiner Erinnerung? Irgend etwas muß dafür gesorgt haben, daß er sie plötzlich zu überschreiten vermag! ging es Huxley durch den Kopf. Vielleicht die Strahlung? Der Gedanke war nicht abwegig. Schließlich hatte das besondere Strahlungsniveau der Sonne Tantal für die Mutation der Kobaltblauen gesorgt. Und vielleicht auch für die Freigabe eines kollektiven Gedächtnisspeichers, über den möglicherweise früher einmal alle Nogk verfügt haben, überlegte Huxley. Wenn man davon ausging, daß es sich bei den Kolli baltblauen tatsächlich um die ursprüngliche Form der Nogk handelte, dann machte dieser Gedanke Sinn. »Woher kamt ihr?« fragte Huxley. Die Impulse, die er von Tantal empfing, sprachen von großer Verwirrung. »Wir flohen von einem Planeten, dessen Sonne zur Supernova zu entarten drohte.« »Soweit also das übliche Schema. Geht deine Erinnerung noch weiter zurück, Tantal?« »Nein. So sehr ich mich auch darauf zu konzentrieren versuche. Ich weiß noch nicht einmal, ob jene Sonne, von der wir flohen, auch tatsächlich explodiert ist. Aber ich bin mir sicher, daß es Aufzeichnungen darüber geben müßte. Die geschichtlichen Informationen in den Datenspeichern auf Reet reichen schließlich bis zum Beginn der Charr-Zeit zurück. Es gibt keinen Grund, warum
nicht auch Hinweise auf die Zeit davor vorhanden sein sollten.« Tantal bewegte heftig seine Gliedmaßen. »Die Datenspeicher auf Reet sind oft unter diesem Aspekt durchsucht worden, Tantal«, ergriff nun Srool das Wort. »und du weißt, daß dabei nichts herausgekommen ist.« »Vielleicht ist nur nicht richtig gesucht worden«, erwiderte Tantal. »Gibt es Anlaß, an der Kompetenz der Sucher zu zweifeln?« fragte Srool. »Ich selbst war einer von ihnen.« »Es war nicht der Sinn meiner Äußerung, jemanden zu beleidigen«, erklärte Tantal. »Aber bislang war es nur eine vage Möglichkeit, daß unser Volk vor der Zeit, da es das Charr-System besiedelte, schon einmal vertrieben wurde. Jetzt würde man mit der Gewißheit suchen, daß da etwas zu finden sein muß. Und wenn es nur Hinweise indirekter Natur sind, etwa durch Einzelheiten der damals benutzten Technologie.« »Ich habe Charaua versprochen, ihn über To-Richtfunk auf dem Laufenden zu halten«, sagte Huxley. »Und genau das werde ich tun.« »Dann verbinde deinen Bericht mit der Bitte, die Speicher noch einmal genauestens nach Hinweisen auf unsere Urheimat zu durchsuchen!« forderte Tantal. »Denn eins ist jetzt sicher: Das Charr-System war nicht der Ort, an dem unsere Spezies das Licht der Vernunft erblickte.« Charaua setzte sich an das Terminal. Nachdem Huxley ihn über ToRichtfunk über die jüngsten Ereignisse unterrichtet hatte, hatte sich der Herrscher umgehend persönlich in die neu angelegten Archive von Reet begeben, in denen alles Wissen gesammelt wurde, das die Nogk im Laufe ihrer äußerst wechselvollen Geschichte hatten retten können. Offenbar hatte der Strahlenschock weitere Teile von Tantals Kollektivgedächtnis freigegeben. Und somit stand fest, was viele bis dahin nur vermutet hatten: daß Charr nicht die Heimat der Nogk war. Ein anderes Sonnensystem, dessen Stern ebenfalls zur Nova wurde... wie die späteren Heimatgestirne der Nogk auch! Der Gedanke elektrisierte Charaua. Per Gedankenbefehl begann der Herrscher des Nogk-Imperiums die Archivspeicher zu durchsuchen.
Es ist wahr! durchzuckte es ihn. Wie konnte es nur sein, daß dieses Wissen so lange in unseren Archiven schlummerte? Eine Weile verharrte er fast regungslos vor dem Monitor. Dann erhob sich Charaua, durchschritt die große Halle, in der sich die Zugangsterminals zu den Archiven befanden, und verließ das Gebäude. Mehrere Tage vergingen. Die CHARR kreuzte weiter im Bereich der heißen Materiewolke, die einst das Heimatsystem der Nogk gewesen war, und durchsuchte mit Hilfe ihrer hochentwickelten Ortungstechnik die Umgebung sowie die äußeren Regionen der Wolke nach weiteren Spuren jener Unbekannten, die für die damalige Katastrophe verantwortlich gewesen waren. Auf einen erneuten Einflug in die glühendheiße Wolke verzichtete Colonel Huxley zunächst. Erst wollte er die Antwort Charauas abwarten. Aber die ließ auf sich warten. Schließlich wandte sich Huxley erneut per To-Richtfunk an den Herrscher des Nogk-Imperiums. »Was haben deine Nachforschungen ergeben, Freund Charaua?« fragte der grauhaarige Colonel. Charaua reagierte mit Unverständnis. »Von welchen Nachforschungen sprichst du, Freund Huxley?« »Du wolltest die Archive nach Daten durchsuchen, die uns etwas über die Zeit vor der Besiedlung des Charr-Systems sagen könnten.« Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Charaua schien verwirrt zu sein. Hier stimmt etwas nicht, ging es Huxley durch den Kopf. »Es tut mir leid, Freund Huxley. Ich erinnere mich wohl, an einem der Archiv-Terminals gewesen zu sein. Aber an das, was ich dort wollte, erinnere ich mich erst jetzt in diesem Augenblick wieder.« »Du hast also die Archive durchsucht«, stellte Huxley fest. »Ja. Aber ich vermag nicht zu sagen, auf was ich dabei gestoßen bin... « Eine Pause folgte. Schließlich fuhr der Nogk-Herrscher fort: »Es scheint so zu sein, als hätte ein Hypnobefehl meine Datensuche entweder von vornherein unterbunden oder als würde ein derartiger Befehl die Erinnerung an das, was ich fand, wirksam verhindern.« »Wenn der uralte Feind die Macht hat, eure Erinnerungen zu
manipulieren, dann ist auch klar, weshalb ihr nie sein Gesicht zu sehen bekommen habt.« »Das ist wahr, Freund Huxley.« »Was hast du jetzt vor, Charaua?« »Ich werde einen erneuten Versuch wagen, an das Wissen der Archive zu gelangen und mich dann wieder melden.« Tausende von Lichtjahren entfernt von der CHARR lehnte sich der Herrscher des Nogk-Imperiums in seinem sich perfekt an seine Physiognomie anpassenden Schalensitz zurück. Die To-Funkverbindung w ar j etzt unterbrochen. Der Feind ist offenbar noch viel mächtiger, als wir dachten, ging es Charaua durch den Kopf. Die Tatsache, daß die Unbekannten offensichtlich sogar Macht über das Erinnerungsvermögen der Nogk besaßen, erschreckte ihn zutiefst. Es gibt keine Sicherheit vor ihm. Keinen Ort, an dem man sich vor ihm verbergen könnte, denn offenbar ist er sogar in unseren Hirnen... Die Gedanken rasten nur so durch Charauas Bewußtsein. Wie hatte es den Fremden gelingen können, offenbar das gesamte Volk der Nogk in irgendeiner Weise posthypnotisch zu konditionieren? Denn genau das mußte geschehen sein! Der Nogk-Herrscher stellte eine audiovisuelle Verbindung zu Sriil, dem Obersten der Meegs, her, um die neue Lage mit ihm zu erörtern. Sriil war ebenso entsetzt wie Charaua selbst. »Ich möchte, daß der Versuch, an die Daten über die Prä-Charr-Zeit unseres Volkes zu gelangen, wiederholt wird«, entschied Charaua schließlich. »Aber diesmal unter kontrollierten Bedingungen.« Sriil sandte daraufhin zustimmende Bildimpulse. Später betrat Charaua zusammen mit einem guten Dutzend Meegs die Archivräume, setzte sich erneut an das Terminal. Die Meegs beaufsichtigten das Geschehen. Sriil war auch dabei. »Du erinnerst dich, hier gewesen zu sein, Charaua?«, fragte der Oberste der Meegs. »Ja«, bestätigte Charaua. »Und ich erinnere mich jetzt auch wieder an die genauen Frageparameter, die ich per Gedankenbefehl eingegeben habe.« »Dann gib sie erneut ein«, forderte Sriil. »Wir werden dann sehen, was geschieht...«
Charaua war einverstanden. Er wiederholte die Prozedur exakt so, wie er sie schon einmal durchgeführt hatte, starrte auf den Holobildschirm und verfiel plötzlich eigenartigerweise in einen Zustand, der einer Tag-Trance sehr ähnlich war. Sriil erkannte das im ersten Moment. Charaua stand auf, ging davon. Seine Bewegungen wirkten für nogksche Facettenaugen recht unharmonisch, fast etwas automatenhaft. Sriil war sofort bei ihm, berührte ihn am Oberkörper und weckte ihn mit heftigen, eindringlichen semitelepathischen Bildimpulsen aus seinem trancehaften Zustand. »Ich nehme an, du erinnerst dich an nichts«, signalisierte der oberste Meeg. Charaua starrte sein Gegenüber einige Augenblicke lang an. Das Licht warf blitzende Reflexe in seinen Facettenaugen. »Was ist geschehen?« Sriil sagte es ihm, und da fiel es auch Charaua wie Schuppen von den Augen. »Eine posthypnotische Konditionierung - wie wir es vermutet hatten!« äußerten Charauas Bildimpulse. »Einer unserer Meegs sollte jetzt sein Glück versuchen«, schlug Sriil vor. »Wir müssen wissen, ob diese Konditionierung für uns alle gilt oder...« »... oder ob nur der Herrscher davon betroffen ist?« ahnte Charaua die Gedanken des obersten Meegs voraus. Die Fühler Sriils bewegten sich heftig. Der Respekt ließ ihn sichtlich davor zurückschrecken, gegenüber dem Oberhaupt des NogkImperiums einen derartigen Verdacht auszusprechen. »Die Möglichkeit wäre durchaus plausibel. Immerhin wäre die Manipulation eines Herrschers immer noch mit weitaus weniger Aufwand verbunden als die eines ganzen Volkes.« »Ich weiß, Sriil.« Ein Meeg namens Soltolan versuchte sein Glück. Aber auch dieser Versuch, an das uralte Wissen zu gelangen, mißlang. Die posthypnotische Blockade war auch bei ihm wirksam. Ratlosigkeit herrschte zunächst, bis sich Hasgalor, ein anderer Meeg, zu Wort meldete. Er schlug vor, die Steuerung des Archivs durch Mentalimpulse zu umgehen und den Datenabruf über die vergleichsweise altmodische Zugangsart per Tastatur und Holo-
bildschirm zu versuchen. Und diesmal hatten sie Erfolg. Daten aus der Frühzeit der Besiedlungsepoche des Charr-Sy-stems kamen zum Vorschein. Die Aufzeichnungen eines bisher in keinen Annalen verzeichneten Herrschers mit dem Namen Taras-kan II., der auch den Beinamen Der-die-Schiffe-befehligte trug. »Das läßt sich wohl nur so interpretieren, daß dieser Taraskan II. der Herrscher des Exodus und später erster Nogk-Herrscher im CharrSystem war.« »Wie kommt es, daß dieses Wissen offenbar blockiert war und sich über mentale Abfrage nicht abrufen ließ?« fragte Charaua. »Manipulation, mein Herrscher.« »Der gesichtslose Feind...« »Das ist anzunehmen.« »Aber welches Interesse könnte er daran haben?« »Vielleicht werden wir das noch herausfinden.« Mühsam durchforschten sie weiter die Datenberge des Archivs. Es hieß, daß Taraskan II. sich nach seinem Vorgänger benannt und seine Herrschaft auf einem Raumschiff begonnen hatte, nachdem sein Vorgänger im Alter von 438 Standardjahren gestorben war. Charaua versuchte, an Informationen über Taraskan I. heranzukommen. Alles sprach dafür, daß die Nogk unter seiner Führung aus ihrer vorherigen Heimat aufgebrochen waren. Zunächst behauptete das Rechnersystem, das die Archivdaten verwaltete, daß es keinerlei Informationen über einen Herrscher dieses Namens gäbe. Der Meeg Soltolan verfeinerte die Suchoptionen, versuchte mit anderen Merkmalsparametem an die Informationen heranzukommen. Schließlich wurde er fündig. Es gab einen Speicherbereich, in dem sich Informationen über einen Herrscher befanden, auf den die eingegebenen Suchoptionen zutrafen, auch wenn irgend jemand dafür gesorgt zu haben schien, daß man ihn nicht unter seinem Namen finden konnte. Als Charaua und seine Meegs jedoch versuchten, auf den betreffenden Bereich zuzugreifen, wurde dies verweigert. »Keine vorhandene Autorisation zum Zugriff auf den ausgewählten Archivbereich«, kam die monotone Meldung. »Ich bin Charaua, der Herrscher des Nogk-Imperiums«, gab
Charaua ein. »Die Muster meiner Facettenaugen können als unabänderliche Merkmale mit den im Archiv gespeicherten Daten verglichen werden.« »Autorisation ist unzureichend.« ,, »Wieso unzureichend?« »Das Zeichen des Herrschers fehlt.« Mehr war aus dem System nicht herauszubekommen. »Das Zeichen des Herrschers - ich glaube kaum, daß damit meine Amtsinsignien oder dergleichen gemeint sein können«, war Charaua überzeugt. »Ich teile deine Ansicht«, erklärte Sriil. »Und ich glaube, daß diese Angabe sich auch gar nicht auf den gegenwärtigen Herrscher der Nogk bezieht.« Charaua bewegte die Fühler. »Sondern aufTaraskan II.?« »Oder seinen Vorgänger. In dem Fall wären wir natürlich schlecht dran, denn genau in Bezug auf Taraskan I. werden uns ja sämtliche Daten verweigert.« »Womit sich die Katze in den Schwanz beißt«, meinte Charaua. Sriil reagierte irritiert. »Ich verstehe nicht.« »Ein Bild, das unsere terranischen Freunde benutzen und sich auf eine vierbeinige, instinktgesteuerte und mit den Menschen in Symbiose lebende Spezies bezieht«, erläuterte der Nogk-Herr-scher. Charaua und seine Meegs verbrachten eine ganze Weile damit, sämtliche Daten durchzugehen, die über Taraskan II. aufzufinden waren. Es gab einige 3-D-Abbildungen aus der früheren Charr-Ära, die Den-der-die-Schiffe-befehligte zeigten. Und allen war gemeinsam, daß Taraskan II. mit einem Amulett gezeigt wurde, das die Form eines unregelmäßigen Hexagons besaß. Über die Bedeutung dieses Amuletts, das in späteren Epochen vollkommen unbekannt war, konnten keinerlei Informationen ermittelt werden. »Das könnte das Zeichen sein, das als Autorisation akzeptiert wird«, meinte Charaua. Sriil war weniger enthusiastisch. »Ein einfaches Symbol als Schlüssel? Das wäre zu leicht zu fäl-
schen.« Charauas Fühler waren in heftiger Bewegung begriffen. »Wenn eine einfache Drei-D-Abbildung des Amuletts der Schlüssel wäre, dann ja. Aber vielleicht ist ja etwas anderes gemeint.« Eine Weile rätselten die anwesenden Meegs darüber herum. Die Eingabe einer 3-D-Bilddatei scheiterte erwartungsgemäß und wurde vom Archivsystem nicht akzeptiert. Sriil hatte schließlich eine Idee. »Vielleicht ist dieses Amulett nur so etwas wie eine Chiffre...« »Eine Chiffre?« echoten Charauas Bildimpulse. »Wofür?« >Pür den eigentlichen Kode.« »Und wie könnte der aussehen?« »Wir sollten eine exakte mathematische Beschreibung dieses Symbols erstellen. Die Maße der einzelnen Seiten, ihr Winkel und ihr Verhältnis zueinander und so weiter...« »Ein Versuch kann nicht schaden«, meinte der Nogk-Herrscher ohne große Zuversicht. Ein Meeg namens Ruaton, der als großer Mathematiker galt, übernahm diese Aufgabe. Die mathematische Beschreibung des Herrscherzeichens wurde eingegeben und... ... akzeptiert! »Sei gegrüßt, Träger des Herrscherzeichens«, meldete sich der Rechner. Die Datenmenge, die nun freigegeben wurde, war allerdings nicht besonders umfangreich. Herrscher Taraskan I. war erst in späten Jahren zum Herrscher gewählt worden, als sich sein Volk in großer Bedrängnis befand. Die Nogk siedelten zu jener Zeit im System einer Sonne, die die Bezeichnung Geret trug. Aber diese Sonne drohte zur Supernova zu entarten. Hals über Kopf floh das Volk der Nogk unter Taraskan I., der während dieser Reise seinem Alter erlag. Vor genau 2098 Jahren hatte dieser Exodus aus dem Geret-Sy-stem stattgefunden. »Eigenartigerweise ist hier nichts darüber zu finden, ob Geret tatsächlich explodierte«, stellte Sriil irritiert fest. »Immerhin haben wir die Koordinaten, an denen jenes System damals zu finden war«, erwiderte Charaua. »Ich werde unser neues Wissen sofort an Huxley und die CHARR übermitteln!«
Sriils nervöse Fühler beruhigten sich. »Vielleicht haben wir endlich die erste Heimat unserer Art gefunden!« gab er seiner tiefsten Hoffnung Ausdruck. Die CHARR trat in der Nähe der angegebenen Koordinaten aus dem Hyperraum. »Transition erfolgreich abgeschlossen«, meldete Prewitt. Auf der Allsichtsphäre erschien eine nahe Sonne. Auf einem kleinen Nebendisplay war abzulesen, daß es sich um einen bisher nicht kartographierten Stern handelte. »Was sagt die Ortung, Mr. Perry?« fragte Huxley und lehnte sich im Kommandantensessel zurück. »Die Sonne, die wir hier sehen, muß Geret sein«, berichtete Perry. »Ein Zwischentyp von K und M.« »Planeten?« »Insgesamt 14. Leben in unserem Sinn könnte auf Nummer drei und vier existieren.« »Einzelheiten, Mr. Perry?« »Bei Geret III handelt es sich um eine heiße Wüstenwelt, Schwerkraft liegt mit 1,31 Gravo so hoch, daß man als Terraner ganz schön ins Schwitzen kommen dürfte. Geret IV ist ein Wasserplanet, der stark der Erde ähnelt.« Tantal, der sich ebenfalls im Leitstand der CHARR befand, wandte sich an Huxley. »Wenn dies wirklich die Urheimat der Nogk ist, dann käme Planet III in Frage.« Huxley hob die Augenbrauen. »Und die erhöhte Schwerkraft?« »Wenn die Gestalt von uns Kobaltblauen tatsächlich die ursprüngliche Form der Nogk darstellt, wäre es nur plausibel, wenn unser Volk von einer Welt mit erhöhtem Schwerkraftniveau stammen würde. Unsere kleinere Gestalt wäre ein Argument dafür. Später, als unser Volk dann floh und eine neue Heimat besiedelte, kam es auf Grund veränderter Schwerkraftverhältnisse zur Größenzunahme.« »Eine einleuchtende Theorie«, mußte Huxley zugeben. Er befahl Prewitt, die CHARR in einen stabilen Orbit um Geret III einschwenken zu lassen. Die Ortungsinstrumente liefen auf Hochtouren, Sonden wurden ausgesetzt, um die Planetenoberfläche abzutasten. Es dauerte nicht lange, bis die erste Erfolgsmeldung kam. »In der Äquatorregion gibt
es offenbar eine Ansammlung von eiförmigen Objekten, die ganz offensichtlich künstlichen Ursprungs sind...«, sagte Perry. »Könnte es sich um Gebäude handeln?« fragte Huxley. Der Ortungsoffizier bestätigte das. »Könnte durchaus sein, Sir.« Eiförmige Gebäude! durchzuckte es Huxley. Für die Nogk war die Eiform die bevorzugte Gestalt von Gebäuden. Erst auf Reet hatte sich die nogksche Architektur in dieser Hinsicht umorientiert, um sich besser an die klimatischen Gegebenheiten des Planeten anpassen zu können. Das Ei war für die Nogk ein sehr beliebtes Symbol. Angesichts der Tatsache, daß ihr Leben in einem Ei begann, war das nur zu verständlich. »Ich denke, wir haben es hier mit Überresten einer alten NogkZivilisation zu tun«, meinte Huxley. »Noch ist das nur eine Hypothese!« erinnerte ihn Tantal. Die Skepsis des Kobaltblauen verwunderte ihn etwas. »Was sagt dein Rassegedächtnis in dieser Hinsicht? Vielleicht löst der Anblick dieser Sonne ja irgend etwas in dir aus...« »Nein. Leider nicht.« Huxley wandte sich an Prewitt. »Suchen Sie uns einen Landeplatz in der Nähe dieser eiförmigen Objekte, I.O.« »Aye, Sir!« Die CHARR tauchte wenig später in die Atmosphäre von Geret III ein, deren Zusammensetzung sowohl für Menschen als auch für Nogk atembar war. Aus dem All betrachtet glich Geret einer überreifen Orange. Es gab einige dunkle Flecken. Vermutlich handelte es sich dabei um schattige Senken von gigantischen Ausmaßen. Weder am Nord-noch am Südpol existierte eine Eiskappe. Hier und da gab es kleinere Salzsenken, gegen die das terranische Tote Meer wie ein Süßwasserreservoir wirken mußte. Die Feinanalysen zeigten zwar, daß Geret III auch erhebliche Mengen Wasser beherbergen mußte, aber an der trockenen Oberfläche war davon so gut wie nichts zu sehen. Möglicherweise gab es Wasserspeicher unter der Planetenoberfläche. Unterirdische Seen, wie sie auch tief unter der Sahara zu finden waren. Immer tiefer sank die CHARR. Huxley und die anderen Besatzungsmitglieder im Leitstand der CHARR verfolgten angestrengt die Bilder auf der Allsichtsphäre. Eintönige Wüsten erstreckten sich über Tausende von Kilometern. Es gab Areale, die irdischen Sandwüsten glichen. In anderen
Gebieten wiederum war der Untergrund von härterer Konsistenz. Felsmassive und Plateaus erhoben sich bis zu einer Höhe von zehntausend Metern. Hin und wieder waren auch die Überreste von Kratern zu sehen. Da die Messungen der Abtaster ergaben, daß es auf Geret III so gut wie keine Plattentektonik und vulkanische Aktivität gab, mußten diese Krater von Asteroideneinschlägen stammen. »Wir erreichen in wenigen Augenblicken das Zielgebiet«, meldete Prewitt. Eiförmige Objekte von zum Teil mehreren hundert Metern Ausdehnung erhoben sich aus dem trockenen Sand, der sich in diesem Gebiet zu gigantischen Wanderdünen auftürmte. Die eiförmigen Gebäude lagen teilweise unter Sand begraben, andere hatte der Wind freigelegt. »Zweifellos Nogk-Architektur!« stellte Tantal fest. Seine Fühler bewegten sich heftig. »Die Anordnung der Gebäude... sie ähnelt jener, wie sie in der Anfangszeit im Charr-System üblich war.« »Diese Anlage hat erhebliche Ausmaße«, stellte Prewitt fest. »Ich schlage vor, ich fliege zunächst einmal eine Runde, damit wir uns einen Überblick verschaffen können.« »Tun Sie das«, bestätigte Huxley. Perry meldete sich zu Wort. »Es gibt hier in der Nähe ein etwas eigenartiges Gebäude, dessen Struktur von der ansonsten hier üblichen Architektur abweicht. Es handelt sich um einen gewaltigen Komplex, der in der Form eines sehr unregelmäßigen Hexagons gehalten ist.« »Auf den Schirm damit!« forderte Tantal mit einer Vehemenz, die Prewitt und Huxley einen etwas ratlosen Blick wechseln ließ. Wenig später erschien eine Projektion des Gebäudes. Es war tatsächlich in der Form eines sehr verzerrt wirkenden Hexagons gehalten. »Sie existiert also wirklich!« signalisierte Tantal. »Was meinst du damit?« »Die Kraat-kal-meeg, die Herberge des Wissens.« »Ich habe nie davon gehört, Tantal.« »Es handelte sich um ein legendäres Archiv, von dessen Existenz unsere Vorfahren noch wußten. Allerdings galt die Kraat-kal-meeg in späteren Generationen als reiner Mythos ohne historischen Kem. Die charakteristische Form aber läßt eigentlich keinen Zweifel
daran, daß wir sie jetzt gefunden haben.« »Recht ungewöhnlich für ein Nogk-Bauwerk«, stellte Huxley fest. »Für ein Nogk-Bauwerk unserer Zeit mag das zutreffen. Aber in diesem Fall hat die Form eine symbolische Bedeutung. Die sechs Eckpunkte dieses unregelmäßigen Hexagons symbolisieren Beine, Arme und Fühler des Nogk-Körpers.« Prewitt meldete sich zu Wort. »Ich habe einen geeigneten Landeplatz ganz in der Nähe gefunden«, erklärte er. »Wirkt auf mich ohnehin wie ein ehemaliges Landefeld, das allerdings wohl unter ein paar Tonnen Sand begraben liegt.« »Landen Sie, 1.0.«, befahl Huxley. 5. Ilja Iwanoff war als Griesgram auf die Welt gekommen, hatte sich fünfzig Jahre lang wie ein Griesgram aufgeführt und würde eines fernen Tages als Griesgram das Zeitliche segnen. Er war einer jener Typen, die von null Uhr eins bis Mittemacht schlechte Laune hatten und zum Lachen in den Keller gingen. Daß sein verbiesterter Gesichtsausdruck zum Kindererschrecken taugte, störte ihn nicht im geringsten - er konnte Kinder sowieso nicht leiden. Erwachsene auch nicht. Iwanoff bewohnte ein kleines Appartement in Alamo Gordo, direkt unterm Dach. Dort empfing er fast nie Besuch, und wenn man ihn anrief, ging er nur selten ans Vipho. Der Publikums verkehr und die Viphonate im Büro fielen ihm schon genug auf den Wecker; nach Feierabend wollte er nur noch seine Ruhe haben. Iljas Arbeitsplatz befand sich in einem Bürohochhaus im Stadtkern, nur eine halbe Stunde Fußweg von seiner Wohnung entfernt. Er arbeitete im dritten Stockwerk beim terranischen Patentamt, und weil er diesen Job schon sehr lange ausführte, bekleidete er dort einen leitenden Posten. Über seinen Schreibtisch gingen die allemeuesten Erfindungen, nützliche und unnütze. In welche der beiden Kategorien die jeweilige geistige Schöpfung eingeordnet wurde, entschied Iwanoff nach eigenem Gutdünken. Das meiste Zeug hielt er für nutzlos. Hätten es ihm seine Vorschriften erlaubt, hätte er neun von zehn Erfindern die Ausstellung der Patentschrift verweigert. An diesem Morgen war er besonders schlecht gelaunt. Daheim hatte seine Kaffeemaschine versagt, und auf dem Weg ins Büro hatte es
Bindfäden geregnet. Einen Schweber besaß er nicht, und öffentliche Verkehrsmittel mied er wie der Teufel das Weihwasser. Allein die Vorstellung, dichtgedrängt mit anderen Menschen in ^ner Tunnelbahn zusammenzuhocken, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Busse und Bahnen waren ihm viel zu unsicher. Man mußte höllisch aufpassen, daß einem von den Mitfahrern kein Gespräch aufgenötigt wurde. Grußlos marschierte Ilja durch den Büroflur und durchquerte das Vorzimmer. Im Vorübergehen nuschelte er seiner Sekretärin irgend etwas zu, das wie »Mojn« klang, und verschwand in seinem Büro. Er hatte es ganz für sich allein, denn er wollte mit keinem zusammenarbeiten. Und keiner mit ihm. Auf dem Schreibtisch lagen die Unterlagen mehrerer Erfinder, die sich für heute angemeldet hatten. Iwanoff setzte die Behördenkaffeemaschine in Gang und besah sich die Papiere näher. Mindestens einmal pro Jahr kam irgendwer auf den Gedanken, die Qualität von Musikaufnahmen mittels neuartiger technischer Kniffe noch mehr zu verbessern. Ilja war es ein Rätsel, wie man damit Geschäfte machen konnte. So sehr er sich auch anstrengte, er hörte nie den geringsten Unterschied heraus, ganz gleich, welches Gerät er zum Abspielen verwendete und welchen Tonträger er benutzte. Apparaturen zur Erleichterung der Hausarbeit gab es schon zu-hauf, die heimischen Küchen und Besenkammern waren vollgestopft damit. Theoretisch mußte man im Haushalt keinen einzigen Handgriff mehr ohne technische Hilfe ausführen. Trotzdem fanden sich auf dem Patentamt immer wieder Leute ein, die überzeugt waren, das ultimative Haushaltsgerät erfunden zu haben, etwas noch nie Dagewesenes, die totale Arbeitserleichterung... »Fehlt bloß noch der Apparat zum Einschalten des Gerätes, das den Einschaltknopf betätigt«, knurrte Iwanoff und legte einen Stapel Unterlagen beiseite. Während er den heißen Bohnenkaffee trank (etwas Besseres war in den vergangenen Jahrhunderten noch nicht erfunden worden), besah er sich die einzigen wirklich interessanten Konstruktionszeichnungen. Jemand hatte stabilere Rumpf gelenke für Billigroboter erfunden. Dadurch konnten sie effektiver eingesetzt werden. Mehrere von Zeugen beeidete und in sämtlichen Details schriftlich belegte Tests hatten ergeben, daß es selbst mit enormem Kraftaufwand nahezu unmöglich war, einem Blechmann Arme oder
Beine auszureißen, insofern er mit den neuen Gelenken ausgestattet war. Und das Erstaunlichste daran: Die neuen Teile kosteten in der Serienproduktion viel weniger als die alten. Möglich inachte dies ein gut ausgeklügeltes Bausystem im Mikrobereich. Ganz gegen seine Gewohnheit empfand Ilja Iwanoff leichte Bewunderung für den genialen Erfinder. Aber warum verschwieg er, wie er hieß? Auf dem Antragsformular stand lediglich sein Vorname: Artus. »Seltsam«, murmelte der Beamte. »Der Roboter, an dem die Tests durchgeführt wurden, trägt die gleiche Bezeichnung.« Plötzlich ging Iwanoff ein Licht auf. Er hatte bereits von Artus, dem lebenden Roboter, gehört. Die Medien hatten viel über seine »Geburt« und seine aufregenden Abenteuer berichtet. Artus hatte sich für heute nachmittag um drei Uhr bei ihm angemeldet. Ilja nahm einen weiteren Schluck Kaffee und dachte nach. Ein Roboter beanspruchte für sich selbst ein Patent? Entsprach das überhaupt den gesetzlichen Vorschriften? Seine Sekretärin schaute kurz zur Tür herein. »Nebenan wartet bereits der erste Antragsteller«, teilte sie mit. »Soll sich in Geduld fassen«, brummelte Iwanoff und füllte seine Tasse noch mal auf. »Ich bin mit Wichtigerem beschäftigt.« Er schaltete den Suprasensor ein und holte einige Gesetzestexte auf den Bildschirm. Ilja war fest entschlossen, dem Erfinder der neuen Gelenke jeden nur erdenklichen bürokratischen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Nicht, weil er etwas gegen Artus hatte, sondern aus purer Genieinund Gewohnheit. Nachdem ich über den Transmitter das Brana-Tal verlassen hatte, flog ich in einem Jett nach Alamo Gordo weiter. Natürlich hätte ich auch weiterhin per Transmitter in die Planetenhauptstadt reisen können, aber so machte es mehr Spaß. Fensterplatz, eine freundliche Stewardeß, Bordholokino, nette Mitreisende... was wollte man mehr? Das kleine Vergnügen kostete mich zwar ein bißchen was, doch bald würde ich im Geld nur so schwimmen. Meine Erfindung würde mich über kurz oder lang zu einem vermögenden Roboter machen.
Davon war auch Terence Wallis überzeugt, dem ich am Vipho davon erzählt hatte. »Meine hochbezahlten Techniker arbeiten schon seit langem daran. Rumpfgelenke zu entwickeln, die mit weniger Teilen auskommen und somit billiger produziert werden können«, hatte mir der Multimilliardär anvertraut. »Leider kam bisher nichts Gescheites dabei heraus. Eine stärkere Stabilisierung der Gelenke kann nur durch enorme Mehrkosten erreicht werden. Umgekehrt geht jede Materialersparnis zu Lasten der Qualität. Offenbar hast du das Ei des Kolumbus entdeckt. Wirklich beeindruckend. Wie hast du das geschafft?« , »Erstens hatte ich einen guten Assistenten, zweitens bin ich ein Genie«, hatte ich ihm geantwortet und flugs den Spruch mit dem Ei abgespeichert. Manchmal war Unbescheidenheit einfach fehl am Platze. Wallis stellte sein Licht schließlich auch nicht unter den Scheffel. Wer lang hat, läßt lang hängen. Wallis hatte mich in meinem Vorhaben, meine Konstruktion umgehend zum Patent anzumelden, bestärkt. Selbstverständlich wollte er unter allen Umständen die Nutzungsrechte erwerben, wie ich es mir gedacht hatte. Nachdem ich die Unterlagen eingereicht und einen Termin mit dem Patentamt vereinbart hatte, hatte ich ihn nochmals angerufen. Wallis wollte sich im Beisein eines Notars mit mir im Amt treffen. Offensichtlich befürchtete er, ein anderer Geschäftsmann könnte ihm die Rechte noch im letzten Moment wegschnappen. Seine Sorge war unnötig. Ich hatte ihm die entgeltliche Nutzung zugesichert und würde mich daran halten. Ein Roboter, ein Wort. Zwar betätigte ich mich zum ersten Mal als Geschäftsmann, doch so schwierig schien das gar nicht zu sein. Man traf mit anderen Geschäftsleuten Vereinbarungen, alle hielten sich daran und machten einen Haufen Geld. Natürlich wußte ich, daß es in diesem Bereich auch Lügner und Betrüger gab, die laufend versuchten, sich gegenseitig ein Bein zu stellen, doch ich war mir sicher, daß Wallis nicht zu denen gehörte. Er war ein verläßlicher Verhandlungspartner, das sagte mir meine Menschenkenntnis. »Da staunen Sie, nicht wahr?« hörte ich die Stewardeß leise zu irgendeinem Passagier sagen. »Er ist es wirklich. Artus, wie er leibt und lebt. Hätten Sie gedacht, daß er jemals einen Jett besteigen
würde, so wie ein ganz normaler Bürger?« Ich bin kein normaler Bürger, erwiderte ich in Gedanken. Nicht, solange man mir meine ID-Karte verweigert, die mich als Terra-ner ausweist. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, mich umzudrehen, um nachzuschauen, mit wem sich die aufgeregte Flugbegleiterin unterhielt. Allmählich war ich es gewohnt, öffentliches Aufsehen zu erregen und kümmerte mich kaum noch darum. »Wall Street« hieß das Holoprogramm, das an Bord des Jetts ausgestrahlt wurde. Es handelte sich um das Remake eines Zelluloidfilms aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Der Inhalt ließ sich leicht zusammenfassen: Schurken tricksten Schurken aus. Irgendwie faszinierend, diese Geschäftswelt... Seit Amy Stewart das Brana-Tal verlassen hatte, war sie vor allem damit beschäftigt, ihre Spuren zu verwischen. Ihr war nicht entgangen, daß sich die GSO an ihre Fersen geheftet hatte. Doch bislang war sie ihren Verfolgern immer um eine Nasenlänge voraus. Wohin die Agenten auch kamen - Amy war schon weg. Nur einen der »Bluthunde«, die Jagd auf sie machten, fürchtete sie wirklich. Artus. Amy war bekannt, auf welche Weise es der lebende Blechmann geschafft hatte, die verschwundenen Cyborgs ausfindig zu machen. Bestimmt versuchte er, auch ihr Programmgehirn anzupeilen. Deshalb beschränkte sie ihre Kontakte mit Rechnern auf das Allemotwendigste. Mit falschen Namen, perfekten Verkleidungen und manipulierten Ausweiskarten konnte sie zwar die GSO-Agenten täuschen, nicht aber die außergewöhnlichen Sensoren dieses nicht minder außergewöhnlichen Roboter, das war ihr nur zu gut bewußt. Die einzige Waffe gegen ihn war Mobilität. Solange Amy in einem fort unterwegs war, würde er es schwer haben, sie anzupeilen schließlich konnte Artus nicht überall sein. Zu ihrer Erleichterung war auch im Februar 2058 die Barzahlung noch nicht ganz abgeschafft worden. Zwar wurde Amy manchmal schief angeguckt, wenn sie keine Plastikkarte präsentierte, sondern
Geldscheine hinblätterte, doch sie konnte derzeit keine Bankgeschäfte tätigen. Mit Sicherheit verfolgte die GSO jede ihrer Kontenbewegungen und lauerte nur darauf, daß sie einen Fehler machte. Als Realistin war Amy klar, daß ihre Flucht nicht ewig währen konnte. Irgendwann würde sie entweder den GSO-Leuten in die Falle laufen, oder der Roboter würde sie aufspüren. Sie hoffte jedoch, bis dahin mit Ren Dhark gesprochen zu haben. Wenn er Verständnis für ihre Lage aufbrachte, würde er sich schützend vor sie stellen und seine Chargen zurückpfeifen. Wenn nicht... tja, dann war das Cyborg-Programm für sie wohl gelaufen. Man würde ihr das Programmgehirn und sonstige Implantate ausbauen, sie unter Androhung von Konsequenzen zum Stillschweigen verpflichten und sie für immer des Brana-Tals verweisen. Weitere Militärkarriere ungewiß... Nein, soweit durfte es erst gar nicht kommen! Falls Dhark auch nur annähernd der gerechte Mann war, für den sie ihn hielt, würde er ihr die Phant-Viren nicht verweigern. Seit Beginn ihrer Flucht reiste Amy nunmehr zum dritten Mal nach Alamo Gordo. Sie war sicher, hier auf eine Spur zu stoßen, die sie zum Commander führte. Leider wimmelte es in der Stadt nur so von der GSO, so daß sie sich nie länger als ein paar Stunden dort aulhielt. Als »Julie Foster« hatte sie den Linienjett bei einer Zwischenlandung bestiegen. Die dick aufgetragene Schminke im Gesicht machte sie älter als sie war. Ihr Haar war dunkler als sonst, dank einer leicht auswaschbaren Tagestönung. Das elegante Brillengestell, das sie trug, enthielt nur Fensterglas. Ganz gegen ihre Gewohnheit trug sie ein Kleid. Darin fühlte sie sich äußerst unwohl. Amy hatte das Gefühl, ihr Kleidungsstück würde an allen Nähten und Säumen scheuern und kneifen. Möglicherweise saß es nicht richtig. Um es ein wenig zurechtzurücken, begab sie sich zur Bordtoilette. Auf halbem Weg blieb sie wie angewurzelt stehen.Auf einem der Fenstersitze erblickte sie jemanden, den sie hier am allerwenigsten erwartet hätte. »Da staunen Sie, nicht wahr?« sagte die Stewardeß leise zu ihr. »Er ist es wirklich. Artus, wie er leibt und lebt. Hätten Sie gedacht, daß er jemals einen Jett besteigen würde, so wie ein ganz normaler
Bürger?« Hätte ich nicht, erwiderte Amy in Gedanken. Sonst wäre ich Jetzt nicht hier. Sie kehrte zu ihrem Platz zurück und hoffte, daß der Roboter ^ht gerade auf der Suche nach ihr war oder daß ihre Nähe den Suchimpuls unabsichtlich auslösen würde. Für den Rest des Fluges vermied sie es, ihm zu nahe zu kommen. Nur ab und zu blickte sie zu ihm herüber. Offensichtlich war er von der Holoaus Strahlung im Bordkino ganz fasziniert. Zugegeben, es gab schnellere Fortbewegungsmöglichkeiten als diesen »Bummeljett«. Aber hatte ich es eilig? In welchem Kino konnte man in Ruhe einen spannenden Film sehen und sich dabei über viele Kilometer hinweg fortbewegen? Das nachfolgende Informationsprogramm gefiel mir allerdings weniger. Es bestand überwiegend aus einer Anti-Dhark-Hetzsendung von Intermedia, getarnt als »aktuelle Nachrichten«. Obwohl er nur in Form von Archivmaterial mit dabei war, spielte Ren Dhark unbestritten die Hauptrolle - den gewissenlosen Schuft. Der Heldenpart war mit einer Schmierenkomödiantin besetzt: Joan Gipsy als verlassene, einsame, am Hungertuch nagende Kindesmutter, die in ständiger Angst lebte, von Dharks skrupellosen Anwälten noch mehr über den Tisch gezogen zu werden. In einer Nebenrolle: Baby Ion Alexandm, schnöde im Stich gelassen vom kaltherzigen Commander der Planeten. Was das Baby zu den feigen Anschuldigungen gegen seinen Vater sagte, war aufgrund mangelnder Sprechfähigkeit leider nicht zu verstehen. Joan Gipsy soufflierte für ihren Sohn. Im Anschluß an den Beitrag ließ sich die Moderatorin in unfairer Weise über Dharks spurloses Verschwinden aus, das ihrer Meinung nach nur dem Zweck diente, sich vor seinen Vaterpflichten zu drücken. Da die POINT OF auf dem Raumhafen stand, mußte der Commander auf der Erde sein. Aber wo? Nur unschwer konnte die Moderatorin ihren Ärger darüber verbergen, daß Intermedia bisher nichts Näheres über seinen Aufenthaltsort hatte ermitteln können. Letztlich wurden weitere Beiträge zum selben Thema angekündigt, wobei insbesondere auf sporadische Sonderberichte einer Sendung namens »Hautnah« hingewiesen wurde. Wäre ich ein Mensch, wäre mir jetzt bestimmt schlecht geworden.
Amy war erleichtert. Nach der Landung hatte sie sich so weit wie möglich von Artus entfernt gehalten, und er hatte sie nicht bemerkt. Scheinbar hatte er die Suche nach ihr unterbrochen. Was ihn wohl nach Alamo Gordo führte? Hatte er vielleicht ein geheimes Treffen mit dem Commander? Amy Stewart widerstand der Versuchung, dem Roboter zu folgen. Das Risiko, daß er sie am Ende doch noch entdecken würde, war zu groß. Im übrigen bezweifelte sie, daß er wußte, wo Ren Dhark steckte. Sie wollte sich anderswo nach dem Commander umhören. Dazu mußte sie sich erst einmal umkleiden. Außerdem brauchte sie einen Schweber oder Mietjett sowie eine vorübergehende Unterkunft. Ursprünglich hatte sich Amy in irgendeiner verschwiegenen Absteige einmieten und dort eine gänzlich neue Verkleidung anlegen wollen. Während des Fluges hatte sie es sich jedoch anders überlegt. Obwohl der schlimmste ihrer Verfolger nur wenige Meter von ihr entfernt gesessen hatte, war sie nicht erwischt worden. Das brachte sie auf die Idee, eine andere, sehr gewagte Taktik auszuprobieren. Die GSO-Leute konnten sich ausmalen, daß sie ihr Äußeres verändern, in der Versenkung abtauchen und sich weitgehend aus der Öffentlichkeit femhalten würde. Wo würde man also zuerst nach ihr suchen? In kleinen Hotels und Pensionen, in verwinkelten Straßen und Gäßchen... In einem beliebten und belebten Stadtteil von Alamo Gordo stand ein ansehnliches Siebensterneluxushotel mit vielen hundert Betten. Dort mietete Amy Stewart ein Zimmer für die Nacht. Kein winziges Einzelzimmer, sondern eine prächtig ausgestattete Suite für Liebespaare. Nachdem sie allein war, legte sie ihre Verkleidung ab und wusch die Tönung aus dem Haar. Anschließend zog sie sich so an, wie sie es am liebsten mochte: knappe Jeans und T-Shirt. Selbst ein GSO-Agent mit starker Sehschwäche hätte sie nun problemlos identifizieren können. Amy ging allerdings davon aus, daß Eylers seine Leute auf mögliche raffinierte Verkleidungen hingewiesen hatte. Darum würde fast keiner ihrer Verfolger nach einer Frau Ausschau halten, die exakt so aussah wie die Gesuchte. Und wo würde man garantiert nicht nach ihr fahnden? Dort, wo sich Angehörige von Regierung und Militär aufhielten. Die
GSO mußte annehmen, daß sie um derlei Treffpunkte einen großen Bogen machte. Denkste! An diesem Abend wollte sich Amy mitten in die Höhle des Löwen begeben. Nicht in Dharks Bürohochhaus, das war ihr nun doch zu gewagt. Vielmehr schwebten ihr ein paar Soldatenkneipen am Hafen vor. Und zum krönenden Abschluß würde sie das Los Morenos besuchen. Frechheit siegte bekanntlich. »Selbstverständlich nehmen wir Ihre Konstruktionspläne dankend an, Herr... äh... Artus. Aber wir können Ihnen leider kein Patent darauf ausstellen.« Howgh! Ilja Iwanoff hatte gesprochen. Mit dieser Entscheidung wollte ich mich jedoch nicht zufriedengeben. »Wieso, weshalb denn, warum und wofür?« hakte ich hartnäckig nach. »Gibt es bereits jemanden mit demselben Patent?« »Nein, Ihre Erfindung ist bislang einmalig«, antwortete mir der Beamte. »Aber Sie sind weder Bürger Terras noch einer anerkannten ausländischen Macht. Sie sind...« Er stockte, suchte nach einer passenden Bezeichnung für mich. »Ich bin ich«, betonte ich. »Artus, geboren auf Terra. Mitglied der Besatzung des bekanntesten Raumschiffs des Universums. Ren Dhark persönlich bürgt für mich.« »Selbst der Commander der Planeten darf nicht gegen geltende Gesetze verstoßen«, entgegnete Iwanoff beharrlich. »Er muß sich genauso an die Vorschriften halten wie ich.« »Und das ist auch gut so«, mischte sich ein Mann in das Gespräch ein, der ohne anzuklopfen das Büro betrat. »Wo kämen wir hin, wenn jeder nach seinen eigenen Spielregeln lebt?« Terence Wallis war gekommen. Nicht mit einem Anwalt, nicht mit zweien, sondern mit deren drei. »Gesetz ist Gesetz«, fuhr er fort. »Jeder Terraner muß sich daran halten. Das gilt auch für dich, Artus.« »Aber ich bin kein Terraner«, erwiderte ich. »Zumindest wird das dauernd behauptet.« »Natürlich dürfen auch Sie als Nichtterraner nicht gegen terrani-
sches Recht verstoßen, Artus«, belehrte mich Ilja Iwanoff. »Jede Person, die sich auf Terra aufhält, hat sich unseren Gesetzen zu beugen. Andererseits hat nicht jeder Aufenthaltsberechtigte dieselben Rechte wie ein Einheimischer, verstehen Sie?« Ich verstand nicht. »Ich zähle nicht zu den aufenthaltsberechtigten Besuchern fremder Planeten, sondern zu den Erdenbürgern«, argumentierte ich. »Nicht im Sinne des terranischen Einwanderungsgesetzes«, widersprach der Beamte. »Aber ich bin doch gar nicht eingewandert!« protestierte ich vehement. »Ich lebe hier!« »Dennoch gehören Sie nicht zu uns«, machte mir Iwanoff klar. »Oder können Sie sich als einer von uns ausweisen?« »Kann ich nicht, das weißt du doch!« antwortete ich und war versucht, mit meiner Blechfaust auf den Schreibtisch zu schlagen. »Sture Beamtenköppe wie du sind es, die mir meine Legitimation verweigern.« Allmählich drehte sich die Diskussion im Kreis. Wie eine indische Gebetsmühle wiederholte Ilja Iwanoff immer und immer wieder das gleiche und wich nicht einen Jota von seinen Vorschriften ab. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Wallis ärgerlich zu ihm. »Ich habe heute noch wichtige Termine, deshalb wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Patentverfahren etwas beschleunigen würden.« Einer seiner Anwälte ergriff das Wort. »Die Entscheidung, welcher Herkunft der Antragsteller Artus ist, kann man sicherlich verschieben. Viel wichtiger ist es, sich mit seiner neuen Erfindung zu befassen...« »Genau!« warf ich ein. »... und seine Konstruktionspläne offenzulegen, damit wir Einsicht in die Unterlagen nehmen können.« »Kommt nicht in die Tüte!« warf ich erneut ein. So langsam schwante mir, was Wallis plante. Er wollte sich gründlich über meine Erfindung informieren und sie sich dann zu eigen machen. Während ich mich mit dem Amtsschimmel herumschlug, konnte er in aller Seelenruhe sein Patent für meine Konstruktion anmelden - denn er war ja terranischer Bürger. Dadurch würde er sich die Zahlung für die Nutzungsrechte sparen, und alle weiteren Verwendungsrechte lägen bei ihm.
»Laut Gesetz sind Sie verpflichtet, Ihre Unterlagen in allen Einzelheiten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen«, sagte ein anderer der drei Anwälte zu mir. »Sie dürfen sich dem nicht widersetzen.« Er wandte sich Iwanoff zu. »Und Sie auch nicht!« Offenbar haßte es der Beamte, wenn ihm ein Außenstehender Befehle erteilen wollte. Sein Gesicht nahm einen verärgerten Ausdruck an. »Mir langt's jetzt!« schimpfte er und streckte den Zeigefinger vor. »Dort drüben hat der Zimmermann das Loch gelassen! Werte Herren, werter Blechmann - gehen Sie bitte!« »Sie können uns nicht einfach hinauswerfen«, erwiderte der dritte Anwalt. »Die gesetzlichen Vorschriften...« »... gestatten es mir, ein einwöchiges Moratorium zu verkünden«, ergänzte Iwanoff, »was ich hiermit tue! In dieser Zeit werden meine Berater, Vorgesetzten und ich die undurchschaubare Rechtslage klären. Bis dahin bleiben sämtliche Unterlagen unter Verschluß. Haben wir uns verstanden?« Flint Eriksen ließ den trockenen Rotwein langsam, ganz langsam über seine Zunge gleiten. Was für ein herrliches Gefühl, als die dunkle Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann und sich zunächst im Magen und dann im restlichen Körper wärmend ausbreitete! Viel zu lange hatte er das vermißt. »Ein köstliches Tröpfchen!« bemerkte er, nachdem er das Glas von den Lippen genommen und zurück auf den Tresen gestellt hatte. »Wer hätte gedacht, daß ich ausgerechnet in einem miesen Schuppen wie diesem auf einen derart exzellenten Bordeaux stoße? Noch ein Gläschen, Herr Wirt, aber bitte randvoll!« »Liebend gern, Mister Eriksen«, entgegnete der »Herr Wirt« und schenkte aus einer gläsernen Karaffe nach. »Ich freue mich, einen echten Kenner wie Sie bedienen zu dürfen. Zum Wohl!« »Seit wann haben wir Bordeaux im Keller?« flüsterte die Wirtin ihrem Mann zu. »Seit dieser Dummschwätzer welchen bestellt hat«, antwortete er ebenso leise. »Ich habe den mexikanischen, mit Stumpf und Stiel gekelterten Dreizehn-Prozent-Fusel kurzerhand umgefüllt. Nach den vielen Bieren, die der großmäulige Bursche vorher weggeschluckt hat, schmeckt er eh nicht mehr viel.« »Morgen früh ist ihm bestimmt speiübel.«
»Na und? Das wird ihn lehren, wie ungesund es ist, anderer Leute Gasthöfe als >miesen Schuppen< zu bezeichnen.« »Wo waren wir stehengeblieben?« nuschelte Flint, der bereits leicht angeheitert war. »Habe ich euch beiden schon erzählt, daß ich ursprünglich aufgrund einer wichtigen Mission mit ins All fliegen sollte? Doch jetzt schiebe ich Wache auf der Erde statt auf fremden Welten Dienst zu tun. Dagegen kann ich nichts machen, Befehl ist Befehl. Der Teufel soll General Martell holen! Selbstverständlich hat man mir auch hier eine wichtige Aufgabe zugeteilt, aber ich bin nicht zur Terranischen Flotte gekommen, um am Boden zu bleiben. Einer wie ich braucht den Kampf und das Abenteuer.« Das Gasthaus, in welchem er sich befand, lag im Amüsierviertel am Raumhafen von Alamo Gordo. Es war laut in der verräucherten, überwiegend von TF-Rauminfanteristen bevölkerten Schank-stube; trotzdem schaffte es Flint Eriksen, mit seinem Organ alle anderen Anwesenden zu übertönen. »Reiß dich gefälligst zusammen«, ermahnte ihn ein Kamerad, der ebenfalls an der Theke saß. »Du weißt genau, daß wir über unseren derzeitigen Einsatz nicht reden dürfen. Besser, du trinkst nichts mehr und gehst zurück in die Kaserne.«:. »Du hast mir überhaupt nichts zu sagen«, erwiderte Flint feindselig. »Heute ist unser erster freier Tag, das muß doch gefeiert werden! Meinen Spaß lasse ich mir von niemandem vermiesen.« »Keiner will dir was vermiesen«, mischte sich ein zweiter Kamerad ein. »Du sollst nur etwas leiser reden und den Mund nicht so vollnehmen.« Im Gegensatz zu Flint trugen die meisten der Infanteristen Zivil. Einige der Tische und Stühle waren derart schmuddelig, daß sich kein Soldat die Ausgehuniform daran schmutzig machen wollte. Wegen der schummrigen Beleuchtung konnte man die Flecken auf den Möbeln allerdings nicht auf Anhieb erkennen. Auf einer provisorischen Bühne präsentierte eine gelangweilt wirkende Stripteasetänzerin den Gästen ihre Brüste - etwas schlaff, dafür aber garantiert implantatfrei. Ein paar Männer klatschten müde. Im Anschluß daran gab es eine mäßige Gesangs darbietung. Nur wenige Frauen hielten sich in diesem heruntergekommenen Nachtclub mit Kneipenflair auf. Man sah ihnen unschwer an, daß sie auf professionellen Männerfang aus waren.
Eine der Damen hob sich wohltuend von den übrigen Prostituierten ab. Sie trug enge Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und konnte es sich leisten, auf Schminke gänzlich zu verzichten. Allein saß sie an einem Zwei-Personen-Tisch in Thekennähe. Fortwährend wurde sie von begehrlichen Blicken gestreift, doch offenbar traute sich kein Mann, sich zu ihr zu setzen. Die jungen Infanteristen hatten wohl Angst vor einer Abfuhr, oder sie hatten nicht genügend Geld dabei. Flint spürte, wie ihn die Frau mit den Augen fixierte. Er lächelte sie zaghaft an. Zu seinem Erstaunen lächelte sie verheißungsvoll zurück. »Finger weg von der«, raunte ihm ein älterer Kamerad zu, der neben ihm saß. »Ein Mädchen dieser Güteklasse kannst du dir mit deinem Sold nicht leisten. Im übrigen bringst du es eh nicht mehr.« »Ich bringe es nicht mehr?« erwiderte Eriksen - wieder einmal eine Spur zu laut. »Was glaubst du wohl, warum man mich den Bullen nennt?« »Würde mich brennend interessieren«, hauchte ihm die Schöne zu, die plötzlich hinter ihm stand. »Wieso gehen wir nicht irgendwohin, wo es ruhiger ist, und du erzählst mir alles darüber?« Lautlos wie eine Katze hatte sie sich ihm genähert, ohne daß er es mitbekommen hatte. Was für eine ungewöhnliche Frau! Flint konnte es kaum erwarten, mit ihr allein zu sein. Er zahlte die Zeche und bat den Wirt, ein Schwebertaxi zu rufen. Dann begab er sich mit seiner Eroberung nach draußen. Den Ermahnungen seiner Kameraden schenkte er kein Gehör mehr. »Du bist mir gleich aufgefallen, kaum daß ich das Lokal betreten hatte«, säuselte die unbekannte Schöne, während sie mit ihrem betrunkenen Freier auf das Taxi wartete. »Mir war sofort klar, daß du etwas ganz Besonderes bist, ein mutiger Soldat, der stets dort eingesetzt wird, wo es brennt. Ich bin überzeugt, dein General hatte einen guten Grund, dich nicht ins All zu schicken. Er brauchte dich dringend hier, weil er keinen anderen mit dieser wichtigen Aufgabe betrauen konnte.« »Nun ja, Martell hält große Stücke auf mich«, entgegnete Flint Eriksen. »Ich bin zwar nicht der einzige, der eingeteilt wurde, doch die anderen versehen ihren Dienst ziemlich lax. Der General weiß schon, was er an mir hat.« »Daran habe ich keinen Zweifel. Worum geht es bei eurem Einsatz eigentlich? Und wo findet er statt?«
»Darf ich dir leider nicht sagen, die ganze Angelegenheit ist streng geheim. Wir Infanteristen dürfen uns nicht einmal untereinander darüber unterhalten. Als man uns mit dem Einsatzplan vertraut machte, erfuhren wir nur das Nötigste. Meinen Kameraden genügt das, sie stellen niemals neugierige Fragen. Ich hingegen bin von Natur aus sehr wißbegierig und sperre meine Augen und Ohren immer weit auf. Meinem hochmodernen Präzisionsfeldstecher entgeht nichts. Ich habe sie gesehen, dort obenin den verschneiten Bergen - alle vier. Sie stiegen aus ihren Flash und verschwanden eilig in der Blockhütte.« »Alle vier?« wiederholte die Frau. »Wer sind sie?« Er legte einen Finger auf seine Lippen und deutete ihr damit stumm an: Bis hierhin und nicht weiter. Das Taxi kam herangeschwebt. »Wie heißt du überhaupt?« erkundigte sich Flint vor dem Einsteigen bei seiner Begleiterin. . »Nenn mich Cinderella«, antwortete sie geheimnisvoll. »Ich werde dir eine märchenhafte Nacht bereiten.« Bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Alamo Gordo hatte Amy Stewart zunächst überlegt, ob sie einen Schweber mieten sollte, hatte sich dann aber für einen kleinen Privatjett entschieden. Auf der Flucht war sie damit mobiler. Als sie jetzt zum nächtlichen Himmel aufstieg, wußte sie, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mit dem Jett würde sie schneller in den Rocky Mountains sein, wo sich der schwer bewachte Landsitz der Regierung befand. Das Los Morenos, Dharks Stammlokal, hatte Amy alias Cinderella glücklicherweise nicht mehr aufsuchen müssen. Der großmäulige Infanterist aus der Nachtclub-Spelunke hatte ihr alles gesagt, was sie wissen wollte. Eine schmerzhafte Erfahrung für ihn, die noch nicht zu Ende war. Nach dem Erwachen würde der Alkoholkater sein geringstes Problem sein. Seine Vorgesetzten würden ihn in kleine Häppchen schneiden und zum Frühstück verspeisen. Während Amy das Bürohochhaus überflog, in welchem sich das Hauptquartier der Galaktischen Sicherheitsorganisation befand, fragte sie sich, wie dicht Bernd Eylers ihr wohl schon in den Hakken stand. Hätte sie getrost noch ein paar Tage in dem Luxushotel
verbringen können, ohne entdeckt zu werden? Oder würde der einarmige GSO-Leiter bereits im Morgengrauen an ihre Zimmertür klopfen? In dieser Hinsicht unterschätzte sie den zweiunddreißigjährigen Sicherheitschef gewaltig. Zwar wirkte Eylers mitunter etwas unbeholfen, ein Eindruck, der durch seine linke Unterarmprothese noch verstärkt wurde, doch das täuschte. Wenn Handlungsbedarf vorlag (wie es so schön im Behördenchinesisch hieß), dann handelte er - und zwar innerhalb der kürzestmöglichen Zeit. Der vietnamesische Taxifahrer, der Amy und Flint zum Hotel gebracht hatte, nutzte eine freie Minute, um sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Die Unterhaltung seiner beiden ungleichen Passagiere war ihm reichlich merkwürdig vorgekommen. »Von einem geheimen Einsatz war die Rede«, teilte er dem wachhabenden Beamten mit. »Und von Ren Dhark und Dan Riker.« Eylers arbeitete noch in seinem Büro, als er kurz darauf von der protokollierten Aussage erfuhr. Die Beschreibung der Unbekannten namens »Cinderella« ließ ihn aufhorchen. »Bringen Sie den Taxifahrer sofort zu mir!« ordnete er ohne viel Federlesens an. Für ihn zählte jede Sekunde, deshalb wartete er erst gar nicht ab, bis der Vietnamese bei ihm war. Umgehend setzte er sich mit einigen zur Einsatzbereitschaft eingeteilten Agenten in Verbindung und schickte sie zum Hotel. Es gab Augenblicke, da leistete es sich der GSO-Chef, laut und herzhaft zu fluchen. »Dieses verdammte Luder! Während wir in allen möglichen Ländern nach ihr fahnden, tanzt sie uns direkt vor der Nase herum! Und sie hält es noch nicht einmal für nötig, sich zu verkleiden!« Niemand hörte ihn, er war allein im Büro. In Gegenwart anderer benahm er sich meist wortkarg und verschlossen. Der Nachtportier staunte nicht schlecht, als plötzlich und unerwartet vier GSO-Mitarbeiter an der Hotelrezeption standen, aufgeregt mit ihren Ausweisen herumwedelten und den Computer nach Amy Stewarts Zimmernummer abfragten. Wie nicht anders zu erwarten, war sie unter einem Falschnamen abgestiegen, doch der leitende Portier wußte auch so, wer gemeint war. »Eine beeindruckende Erscheinung«, bemerkte er fasziniert. »Ihr
uniformierter Begleiter paßte überhaupt nicht zu ihr. Beim Einchecken entschied sie sich für die am höchsten gelegene Suite.« »Logisch«, meinte ein GSO-Mann. »Sie will möglichst nah an der Dachplattform sein, für den Fall einer überstürzten Flucht.« An Amys Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!«. Die GSO störte trotzdem und öffnete das Zimmer mit der Generalchipkarte des Portiers. Flint Eriksen hatte sich inzwischen vom Knebel befreien können. Er rief jedoch nicht um Hilfe, da er aufgrund seines Alkoholpegels gleich wieder eingeschlafen war. Die Agenten lösten seine Fesseln und rüttelten ihn dann unsanft wach. Bernd Eylers unterzog den Rauminfanteristen einem strengen Verhör, wobei der GSO-Leiter auf Flints Zustand - halb besoffen, halb nüchtern - keine Rücksicht nahm. Anschließend wurde Eriksen zurück in die Kaserne gebracht und in eine Zelle gesteckt. Ihm stand ein Disziplinarverfahren bevor. Eylers persönlich informierte General Martell über Amys bevorstehenden »Besuch«. »An den Überwachungsanlagen und unseren bewaffneten Wachleuten kommt sie nicht vorbei«, war sich der erfahrene Offizier sicher. »Die TF-Rauminfanterie und Terra Command kontrollieren rund um den Landsitz das ganze Gebiet. Was immer diese Rebellin vorhat, sie wird sich hier nur Eisfüße holen. In den Rockys liegt meterhoch Schnee.« Das war auch Amy Stewart klar. Daher erledigte sie auf halbem Weg noch eine kleine Besorgung. Bald darauf erreichte sie die Rocky Mountains und nahm Kurs auf das Gebiet, das Flint ihr beschrieben hatte. Der 4300 Kilometer lange, bis zu 700 Kilometer breite Gebirgszug wies im Süden steppenartige Areale auf und war im Norden dicht bewaldet. Er war das Quellgebiet berühmter Flüsse wie Missouri, Rio Grande und Colorado. Nachdem man die Bodenschätze weitgehend ausgebeutet hatte, wurde das Felsengebirge wirtschaftlich vor allem als Freizeitund Erholungsgebiet genutzt. Ren Dhark machte hier mit Sicherheit keine Ferien, obwohl ihm der Glacier-Nationalpark oder der Yellowstone-Park sicherlich gefallen hätten. Amy war überzeugt, daß es einen wichtigen Grund für seinen Aufenthalt in den Rockys geben mußte. Der interessierte sie allerdings herzlich wenig. Sie war ausschließlich in eigener Sache
hier. Die erfahrene Pilotin war sehr tief geflogen und hatte den automatischen Peilgeber des Jetts manipuliert. Unbemerkt landete sie in einem verschneiten Waldstück zu Füßen eines Berges. Der Landsitz der Regierung befand sich oben auf dem Bergplateau. Um es zu erreichen benötigte Amy weder Waffen noch warme Socken - nur das, was sie unterwegs »eingekauft« hatte. Gegen Mitternacht machte sie sich auf den Weg. Eine gewagte Kletterpartie mit Hindernissen lag vor ihr. Die CHARR setzte sanft auf der Planetenoberfläche auf. Sand wirbelte auf. Mehrere der typischen eiförmigen Gebäude umgaben das ehemalige Landefeld. Die meisten dieser Gebäude waren ebenfalls zu einem beträchtlichen Teil mit Sand bedeckt. Tantal, Srool, Maxwell und Sybilla Bontempi sollten zusammen mit Huxley selbst das erste Außenteam bilden. Da man nicht wissen konnte, was auf die Gruppe zukam, ordnete der Commander die Bewaffnung mit Lähmstrahlern und Blastem an. Maxwell lenkte den Schweber, mit dem das Außenteam die etwa 800 Meter Luftlinie zwischen Landeplatz und dem Hexagon-Gebäude zurücklegte. Tantal zeigte Maxwell einen Landeplatz, der ganz in der Nähe des Hauptportals lag. »Bruchstücke einer noch weiter in die Vergangenheit reichenden Erinnerung?« erkundigte sich Huxley hoffnungsvoll. Tantal blieb skeptisch. »Ich weiß es nicht. Hin und wieder scheint da etwas aufzublitzen... aber es sind wirklich nur Bruchstücke, Huxley.« »Immerhin haben uns diese Bruchstücke hierher gebracht!« gab der grauhaarige Offizier zu bedenken. Der Schweber setzte sanft auf dem sandigen Boden auf, sank sogar etwas tiefer darin ein, als ein Terraner das von den Verhältnissen auf der Erde her gewohnt war. Eine Folge der erhöhten Schwerkraft. Huxley war der erste, der ins Freie trat. 1,31 Gravo - ein Gefühl, als ob man einen mittelschweren Rucksack trägt, der einen niederdrückt. Zuerst merkt man es nicht gleich, aber auf die Dauer macht sich das schon bemerkbar... Er sog die extrem trockene Luft in sich hinein. Die hoheSchwerkraft
hatte immerhin den positiven Nebeneffekt, daß der Wind den Sand nicht so stark aufwirbeln konnte wie auf anderen Wüstenwelten. »Wo soll hier ein Portal sein?« drang Sybilla Bontempis Stimme in Huxleys Bewußtsein. Die Fremdvölkerexpertin deutete auf die vollkommen kahle Wand, die vor ihnen aufragte. »Tja, da bin ich wahrscheinlich nicht der Richtige, um Ihnen die Frage beantworten zu können!« sagte Huxley. Fragende Blicke richteten sich nun auf Tantal. Dessen Fühler bewegten sich heftig. Er ging voran, auf die kahle Wand zu. »Den Legenden nach liegt das Portal an der längsten Seite dieses unregelmäßigen Hexagons«, erklärte er. »Und zweifellos ist dies die längste Seite...« Einige Augenblicke später standen sie direkt vor der Mauer aus massivem Stein. Das Material erinnerte an Marmor. Es war vollkommen glatt. Tantal berührte es leicht. Seine Fühler waren dabei absolut still. ''• »Ich messe hier einige schwache Energiesignaturen«, stellte Maxwell mit Blick auf ein Handmeßgerät fest, mit dessen Hilfe er die Umgebung überprüfte. »Ja, es muß hier ein elektronisches Schloß geben, welches das Portal öffnet«, bestätigte Tantal. Dann berührte er plötzlich eine ganz bestimmte Stelle auf dem Stein, dessen glatte Oberfläche für menschliche Augen vollkommen gleichförmig und strukturlos wirkte. Ein Symbol wurde sichtbar. Dunkle Linien zeichneten drei ineinander verschlungene Ellipsen. Tantal wandte sich an Srool, öffnete seine Gedankenimpulse jedoch nur ihm und nicht den anwesenden Terranern. Srool trat neben Tantal an die Außenwand der Kraat-kal-meeg heran. Der Meeg setzte ein Modul an die Steinwand, mit dessen Hilfe man in eventuell vorhandene Rechnersysteme eindringen konnte. Außerdem konnten durch gezielte energetische Impulse derartige Systeme wieder aktiviert werden. Tantal und Srool waren eine Weile beschäftigt, dann tat sich endlich etwas. Eine hohe Tür bildete sich in der zuvor vollkommen glatt er-
scheinenden Steinoberfläche. Mit einem schabenden Geräusch schob sie sich zur Seite. Mehrere Kubikmeter Sand rutschten ins Innere des Gebäudes hinein, dessen Bodenniveau etwa zwei Meter tiefer lag. »Dann nichts wie rein!« meinte Maxwell. »Lassen wir Tantal den Vortritt«, schlug Huxley vor. »Instinktiv scheint er sich hier ganz gut auszukennen...« Tantal wandte den Kopf in Huxleys Richtung. »Ich verspüre das vage Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein«, erklärte er. »Splitter verlorener Erinnerungen?« »Möglich.« Der Kobaltblaue ging voran. Srool folgte ihm, dann traten Huxley, Bontempi und Maxwell ein und kletterten die gerade entstandene sandige Böschung hinab. Nach wenigen Schritten war es stockfinster. Aber Huxleys Gruppe war darauf eingerichtet, eventuell in lichtlosen Räumen vorankommen zu müssen. Alle Mitglieder des Außenteams waren mit Leuchtaggregaten ausgerüstet, die dafür sorgten, daß man sich gut orientieren konnte. Tantal ging einen langen, breiten Korridor entlang, und die anderen folgten ihm. Er scheint genau zu wissen, wo er hinwill, ging es Huxley durch "en Kopf. Das Tempo, mit dem Tantal voranschritt, verriet ein gehöriges Maß an Zielstrebigkeit. Die Gruppe erreichte schließlich eine Halle von gewaltigen Ausmaßen. Säulen standen darin, deren Grundriß exakt jener unrgelmäßigen Hexagonform des ganzen Gebäudes nachgebildet war. In der spärlichen Beleuchtung der tragbaren Aggregate war die volle Pracht dieser Halle nur zu erahnen. Sie wurde von einer Kuppel überwölbt. Auf kleineren Säulen befanden sich Terminals, die wie eine Frühform jener Geräte wirkten, wie sie jetzt in den Archiven auf Reet im Corr-System zu finden waren. »Es ist wahr!« sagte Huxley ergriffen. »Hier müssen die Nogk einst das Wissen ihres Volkes gesammelt haben.« Seine Worte hallten vielfach wider. »Warum wurde diese Anlage hier zurückgelassen?« fragte Sybilla Bontempi.
»Ich nehme an, es war unmöglich, sie bei dem Exodus, der hier vor 2098 Jahren stattgefunden haben muß, mitzunehmen«, antwortete Huxley. »Aber so bestand doch die Gefahr, daß das gesammelte - auch kriegstechnische - Wissen dieser Rasse in die Hände von feindlichen Intelligenzen fällt!« sagte Bontempi. Maxwell strich mit dem Finger an konsolenartigen Terminals entlang. Dicke Staubschichten hatten sich auf den Terminals abgesetzt. »Sie meinen, die Nogk wären besser beraten gewesen, die ganze Anlage zu vernichten, Captain Bontempi?« »Unter der Voraussetzung, daß sie nicht erwogen haben, jemals hierher zurückzukehren, ja.« Jetzt mischte Srool sich ein, der die Unterhaltung der Terraner mit zunehmendem Interesse verfolgt hatte, wie an der Aktivität seiner Fühler abzulesen war. »Der Respekt vor dem gesammelten Wissen ist in unserer Kultur sehr stark verankert«, erklärte er. »Wie ich aus der Beschäftigung mit der terranischen Geschichte weiß, hat es bei euch immer wieder Phasen der Geschichte gegeben, in denen Kunstwerke oder Datenträger mutwillig vernichtet wurden. Vor allem in der Epoche, als das Buch das vorherrschende Speichermedium war, kam es immer wieder zu Datenträger Verbrennungen. Etwas derartiges wäre für die Nogk undenkbar. Und ich nehme nicht an, daß unsere Vorfahren sich in diesem Punkt von uns unterschieden haben.« »Das heißt, euer Volk ist aus Respekt vor dem Wissen das Risiko eingegangen, daß die Kraat-kal-meeg in falsche Hände gerät?« zweifelte Huxley. »Du vergißt, das die Sonne Geret zur Nova zu werden drohte«, gab Srool zu bedenken. »Du meinst, deine Vorfahren rechneten ohnehin mit der baldigen Vernichtung der Kraat-kal-meeg.« »Ja. Außerdem wissen wir nicht, welche Sicherheitsmaßnahmen ursprünglich installiert waren, um das Wissen dem Zugriff Unbefugter zu entziehen.« Tantal hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Huxley war schon die ganze Zeit über aufgefallen, daß sich der Kobaltblaue in einem Zustand befand, der auf einen außenstehenden Beobachter fast wie eine Art Trance wirkte. Zumindest kapselt er sich im Augenblick ziemlich von uns ab! erkannte der grauhaarige
Colonel. Aber vielleicht ist das genau der richtige Weg für ihn. Er scheint in den wenigen wieder zugänglichen Splittern seiner verschütteten Erinnerung zu suchen... Huxley trat näher an den Kobaltblauen heran, sprach ihn aber nicht an. Tantal schien die Nähe des Commanders gar nicht zu bemerken. Seine Fühler waren vollkommen starr. Die Facettenaugen fixierten eine der Konsolen. Dann berührte er unvermittelt eine bestimmte Stelle, wie von einem plötzlichen Impuls getrieben. Ein Summton begann zu rumoren. Die Beleuchtung wurde aktiviert. Es wurde hell. Überall begannen Anzeigen aufzublinken. Ein Schwall semitelepathischer Bildimpulse begann auf die Bewußtseine der Anwesenden Terraner und Nogk einzuprasseln. Die Translatoren konnten damit kaum etwas anfangen, und auch Huxleys Transformer-Implantat hatte mit diesen Signalen seine Schwierigkeiten. Huxley faßte sich unwillkürlich an den Kopf. Die Intensität dieser Bildimpulse war ungewöhnlich stark. Er verspürte rasende Kopfschmerzen. Die Impulse mußten künstlichen Ursprungs sein, denn im weiten Umkreis waren keinerlei Lebensformen geortet worden. Offenbar war ihre Stärke nicht so justiert, daß sie für terranische Bewußtseine bekömmlich war. Srool schien allerdings ähnliche Schwierigkeiten zu haben. Seine Fühler zitterten. Nur Tantal war offenbar durch die Intensität der semitelepathi-schen Bildimpulse nicht beeinträchtigt. »Was geht hier vor sich?« stöhnte Maxwell auf. »Das Rechnersystem wurde aktiviert und es fordert uns auf, uns zu identifizieren«, erklärte Tantal jetzt in erstaunlicher Ruhe und Gelassenheit. »Ich habe es bereits versucht...« »Und?« »Das System reagiert nicht. Vielleicht ist es nach den zwei Jahrtausenden defekt, oder es erwartet irgendeine Art der Autorisation, von der wir nichts wissen.« Die semitelepathische Bilderflut verebbte. Der Kopfschmerz ließ nach.
»Verdammt, mir ist schwindelig«, stöhnte Maxwell und schüttelte energisch den Kopf. Sybilla Bontempi lehnte sich gegen eine der Säulen. Auch Srool machte einen mitgenommenen Eindruck. Oben in der Kuppel bildeten sich jetzt Öffnungen. Es waren insgesamt sechs - angeordnet wie die Eckpunkte der Kraat-kal-meeg. Etwas metallisch Blitzendes kam aus einer dieser Öffnungen hervorgeschossen. »Eine Robotsonde!« stieß Huxley hervor. Sie hatte etwa die Länge eines menschlichen Unterarms. Surrend schwebte die Robotsonde ein paar Meter dahin. Das auf der Unterseite angebrachte Sehorgan schwenkte suchend hin und her. Eine weitere Sonde kam aus der Öffnung, trudelte zu Boden und schlug dort auf. Offenbar war das Antigravaggregat, das sie schweben ließ, nach zwei Jahrtausenden nicht mehr intakt. Die noch schwebende Robotsonde wandte ihnen jetzt die Vorderseite zu, die Huxley unwillkürlich an etwas erinnerte. Die Mündung eines Strahlers... Tantal reagierte. Er griff zum Biaster, schoß den gebündelten Energiestrahl auf die Robotsonde ab. Der Strahl erfaßte sie voll. Sie zerplatzte mit einer beachtlichen Energieentladung. Huxley schützte die Augen mit der Hand vor dem gleißenden Licht. »Das ist ein Abwehrmechanismus!« riefen Tantals semitelepathischen Impulse. Die dritte Robotsonde schwebte aus ihrer Öffnung hervor. Sie feuerte sofort. Ein Energiestrahl zischte mit gleißender Lichterscheinung durch die Halle, fraß sich in die Steinsäule hinein, hinter der Tantal nur Sekundenbruchteile zuvor Deckung gesucht hatte. Huxley und Maxwell rissen beinahe gleichzeitig ihre Biaster empor und feuerten. Die Sonde schoß ebenfalls. Strahlen zuckten durch die Halle. Augenblicke später zerplatzte auch Robotsonde Nummer drei. Die drei restlichen Sonden kamen jetzt gleichzeitig hervor.
Alle Mitglieder von Huxley s Team hatten Deckung gesucht. Eine der drei Sonden trudelte in einer mehr oder minder chaotischen Flugbahn abwärts, feuerte dabei mehrere Strahlschüsse ab. Davon zischte einer haarscharf an Huxley vorbei, der sich gerade noch rechtzeitig hinter einer der Konsolen in Sicherheit brachte. Dann knallte die Robotsonde auf den Boden. Sie verschoß wei-te!' ihr ungezieltes Blasterfeuer. Wie bei einer Wunderkerze sprühten die Strahlen in alle Richtungen. Es war Maxwell, der sie mit einem gezielten Schuß schließlich ausschaltete. Jetzt eröffneten auch die beiden intakten Sonden das Feuer. Huxley, Maxwell und Tantal feuerten zurück. Ein Strahlschuß traf die Konsole, hinter der Maxwell sich verschanzt hatte. Der Erste Offizier der CHARR warf sich mit einem Hechtsprung zu Boden, ehe die Konsole explodierte. Er rollte sich ab, feuerte immer wieder in Richtung der Robotsonden und rettete sich dann hinter eine der Säulen. Im selben Augenblick wurden die Sonden fünf und sechs kurz nacheinander vom B lasterfeuer getroffen. Sie explodierten. Einzelne glühendheiße Metallteile wurden durch die Luft geschleudert und regneten zu Boden. Dann war es plötzlich ruhig. »Ich hoffe, das war die einzige Überraschung dieser Art!« stieß Huxley hervor. »Wie du siehst, hatten sich unsere Vorfahren sehr wohl Gedanken darum gemacht, was passieren sollte, wenn Unbefugte Zugang zu den Daten dieses Archivs bekommen möchten«, erklärte Srool. »Aber ich verstehe nicht, weshalb die beiden Nogk nicht akzeptiert wurden«, sagte Huxley. »Mich hat das System akzeptiert«, verkündete Tantal. »Aber auch du bist beschossen worden«, gab Huxley zur Antwort. »Möglicherweise kam ich in der falschen Begleitung. Oder das System arbeitet einfach nicht mehr einwandfrei.« Tantal wandte sich wieder jenem Terminal zu, über das er die internen Systeme dieser Anlage ganz offensichtlich aktiviert hatte. Aber jetzt zögerte er. »Ich habe Angst, einen Fehler zu machen«, erklärte er. Huxley trat an ihn heran. »Du mußt deine blockierten Erinnerungen weiter zu reaktivieren versuchen...«
»Gewiß...« »Du wußtest als erster von uns, daß es sich bei diesen Biestern um Waffen handelte, Tantal...« »Ja.« »Auch das muß deinen Erinnerungen entsprungen sein.« Tantals Fühler bewegten sich ziemlich nervös. »Ich werde versuchen, die Mentalsteuerung zu aktivieren und in das Datenarchiv einzudringen«, sagte er dann. »Commander, ich habe hier eine beunruhigende Anzeige auf meinem Meßgerät...«, meldete sich nun Maxwell zu Wort. Er runzelte die Stirn. Srool schaute jetzt ebenfalls auf seine Anzeigen. »Das Strahlungsniveau verändert sich«, gab der Meeg bekannt. »Es steigt. Und zwar rapide!« stellte Maxwell klar. »Commander, hier geht irgend etwas vor sich, was mir nicht gefällt.« »Möglicherweise wird die Anlage durch Fusionsreaktoren mit Energie versorgt, die die Zeit nicht ganz schadlos überstanden haben«, vermutete Sybilla Bontempi. Maxwell lächelte nachsichtig über das Statement einer Nichttechnikerin. »Energetisch war das Gebäude bis auf schwache Signaturen vollkommen tot«, erklärte er. »Ich glaube kaum, daß sich ein Fusionsreaktor derart schnell hochfahren läßt!« »Immerhin haben wir Licht, und vergessen Sie nicht diese beinahe tödlichen Robotbiester!« »Die Energie dafür muß irgendwo gespeichert gewesen sein«, beharrte Maxwell. »Mit den Strahlungswerten hat das nichts zu tun.« »Aber die Anzeichen sind eindeutig. Hier findet irgendwo radioaktiver Zerfall statt«, berichtete Srool. Huxley versuchte über Vipho Verbindung zur CHARR herzustellen, um das Gebäude von den Ortungsscannem des Schiffes unter die Lupe nehmen zu lassen. Aber es kam keine Verbindung zustande. »Muß an dem Gestein liegen, aus dem die Kraat-kal-meeg besteht«, murmelte er vor sich hin. »Wenn das Strahlungsniveau weiter so steigt, dann haben wir noch gut eine Viertelstunde, bis ein kritisches Maß erreicht wird«, erklärte Maxwell. »Tantal könnte in dieser Zeit noch einmal versuchen in das Archivsystem einzudringen.«
Tantal berührte das Terminal. Dann zuckte er zurück. Von einem Augenblick zum anderen fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Bilder blitzten in seinem Bewußtsein auf. Bilder aus sehr femer Vergangenheit. Erinnerungen. »Wir müssen raus hier!« verkündete er. »Die Kraat-kal-meeg verfügt über einen Selbstzerstörungsmechanismus! Ich weiß es jetzt wieder! Der Anstieg des Strahlungsniveaus hängt damit zusammen!« Die anderen sahen den Kobaltblauen entgeistert an. Tantal sandte semitelepathische Bilder einer atomaren Explosion. Diese Explosion diente allerdings nur dazu, für eine genügend große Hitze zur Erzeugung einer Kernfusion zu sorgen. Ein Inferno drohte. Die Bildimpulse waren auch ohne Translator unmißverständlich. »Worauf wartet ihr?« fragte der Kobaltblaue. Huxley und seine Gruppe hetzten ins Freie. Sie erreichten den Schweber. »Im Freien ist der Anstieg des Strahlungsniveaus kaum meßbar«, erklärte Maxwell plötzlich mit Blick auf sein Meßgerät. »Das machen die dicken Wände, die offenbar stark abschirmend wirken«, erwiderte Tantal. »Huxley an CHARR!« versuchte Huxley Kontakt zu seinem Schiff herzustellen. Diesmal gelang es. Das Gesicht von Lee Prewitt erschien auf dem Vipho-Display. »Was geht da bei Ihnen vor, Sir? Wir haben versucht Sie zu er reichen , aber die Verbindung...« »Alles klarmachen zum Start, 1.0.! Wir sind gleich bei Ihnen!« »Sir?« »Sie haben richtig verstanden.« Maxwell startete den Schweber. Wenig später erreichte das Gefährt den Landeplatz der CHARR und schwebte in einen der Hangars ein. Als Huxley, Maxwell und Tantal den Leitstand des Raumers erreichten, hatte die CHARR sich schon von der Planetenoberfläche erhoben. »Sicherheitshalber habe ich die Schutzschilde aktiviert, Sir!«
meldete Prewitt. »Das ist gut!« nickte Huxley erleichtert. Auf der Sichtsphäre war Sekunden später eine Explosion zu sehen. Die Kraat-kal-meeg begann, sich in einen Atompilz zu verwandeln. Die ersten Ausläufer der Druckwelle wurden von den Instrumenten der CHARR registriert. Die Strahlungswerte stiegen rasant. »Was geht da eigentlich vor sich?« fragte Prewitt etwas verständnislos an den Commander gerichtet. »Ein Selbstzerstörungsmechanismus«, erklärte Huxley lakonisch. Ortungsoffizier Perry meldete sich. »Das, was wir gerade gesehen haben, scheint erst der Anfang gewesen zu sein! Ich habe hier deutliche Anzeichen für eine Fusionsreaktion...« Huxley atmete tief durch, starrte auf die Sichtsphäre, um sich dieses Schauspiel der Zerstörung anzusehen. Ein wahres Inferno brach dort unten los. Es wird nichts von der Kraat-kal-meeg übrigbleiben! durchzuckte es ihn. Dort, wo sich die Wiege des Nogk-Wissens befand, ^vird buchstäblich kein Atom auf dem anderen bleiben... Die CHARR stieg weiter auf. Prewitt ließ sie in einen stabilen Orbit einschwenken. Auf Grund des wolkenlosen Himmels von Geret III war die Explosion sogar aus dem All heraus zu beobachten. »Deine Vorfahren haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht, Tantal«, wandte sich der grauhaarige Colonel an den Kobaltblauen. »Wir werden den uralten Feind dennoch eines Tages finden«, versprach Tantal daraufhin. Oder er findet uns, ging es Huxley durch den Kopf. Zumindest ist es in der Vergangenheit immer so gewesen. Die Stimme von Mr. Perry riß Huxley aus seinen Gedanken. Er meldete sich über einen Sichtschirm aus der Ortungszentrale heraus. »Commander, ich empfange hier äußerst beunruhigende Werte.« »Sprechen Sie von der Nuklearexplosion?« hakte Huxley etwas ungläubig nach. »Nein, Sir. Ich beziehe mich auf immer eigenartigere Meßergebnisse in Bezug auf das Zentralgestim dieses Systems!« »Geret...?«
»Helligkeit und Größenausdehnung haben bereits um mindestens eine Klasse zugenommen«, fuhr Perry fort. Huxley wurde blaß. Er hörte Perrys weiteren Ausführungen gar nicht mehr richtig zu. Eine derartig rasche Veränderung von Helligkeit und Ausdehnung konnte nur eines bedeuten: Geret wird zur Supernova! durchzuckte es den Colonel. Tantal wandte den Libellenkopf mit den Facettenaugen in Richtung des Commanders. »Der Feind - er ist hier im System!« erklärte der Kobaltblaue. Mit einer Verspätung von über 2000 Jahren schickten sich die Gesichtslosen offenbar an, ihr Vemichtungswerk zu vollenden. 6.
Fft,fft,fft... Infanterist Leif Larkins vernahm das leise Geräusch, das einem sanften Flügelschlagen ähnelte, über den Bäumen und verspürte dabei ein beruhigendes Gefühl. Er wußte, daß es von keinem Vogel, sondern von einem kleinen Fluggerät verursacht wurde. Das Gerät sah aus wie die Kreuzung eines Modellhubschraubers mit einem auf den Kopf gestellten Kaffeefilter. Es war die ultimative Weiterentwicklung früherer Wärmebildkameras und diente zum Aufspüren unbefugter Personen in gesperrten Gebieten. Während die einstigen Kameras lediglich feststellen konnten, ob und wo jemand durch die Dunkelheit schlich, erkannte der »fliegende Abtaster« (die offizielle militärische Bezeichnung konnte sich nicht einmal der Erfinder selbst merken) den Unterschied zwischen Freund und Feind. Das funktionierte ganz einfach. Freund war, wer eine spezielle Anstecknadel trug, die fortwährend einen ^stimmten Signalkode ausstrahlte. Feind war alles andere. ^Registrierte der Abtaster einen Menschen, der sich ohne jene Anstecknadel auf dem Gelände aufhielt, sendete er einen stummen Alarm an die Zentrale. Von dort aus wurde der weitere Einsatz koordiniert. Die Wachen wurden zusammengezogen, der Unbefugte umzingelt und gestellt. Leiter der Zentrale, die sich in einem separaten Gebäude unweit von Dharks verschneitem Landhaus befand, war General John Martell. Seit Eylers' Anruf kam Schlaf für ihn nicht mehr in Frage. Zwar wußte er nicht genau, wer Amy Stewart war und was sie hier wollte, doch er war fest entschlossen, sie nicht an den Commander herankommen zu lassen. Der GSO-Leiter hatte sich wie üblich geheimnisvoll gegeben und ihn nur mit Halbinfonnationen versorgt. Das war John von ihm jedoch gewohnt - ebenso von Ren Dhark. Kartell stellte nie mehr Fragen, als für den jeweiligen Einsatz ^pnnöten war. 157 Nicht nur deswegen hatte man den einundsechzigjährigen TerraCommand-General zu Dharks Schutz abkommandiert. Außer eiserner Verschwiegenheit konnte er auch praktische Einsatzerfahrung vorweisen. Felsmassive zwischen Schnee und Eis waren ihm von Alaska her vertraut, einschließlich der damit verbundenen Entbehrungen.
Unterstützt wurde die Martell-Truppe von Raumsoldaten der Terranischen Flotte. Der General hatte den Eindruck, daß sich nicht alle ihm zugeteilten TF-Infanteristen mit ihrer Abkommandierung abgefunden hatten. Einige von ihnen hätten wohl lieber auf fremden Planeten Dienst getan. ; Gelegentliche Unmutsbekundungen ignorierte John Martell jedoch geflissentlich. Beim Militär konnte man sich seinen Einsatzort halt nicht aussuchen. Und überhaupt: War es nicht egal, ob sich ein Fußsoldat auf einem fernen Gestirn oder hier die Beine in , den Bauch stand? Verglichen mit Eisplaneten wie Pluto war es in den Rocky Mountains doch richtig schön kuschelig. ' Leif Larkins war keiner der Warmduscher, die sich dauernd beschwerten. »Was uns nicht umbringt, macht uns härter«, lautete die Devise des hünenhaften Infanteristen, i Der Uppercut, der ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen von den Füßen riß, war dann aber doch eine Spur zu hart für ihn. i Das letzte, an das er sich später erinnern konnte, war eine geisterhafte Gestalt, die sich direkt vor ihm aus dem Schnee erhoben ; hatte... : Von einem Augenblick auf den anderen hatte er aufgrund des punktgenau angesetzten Aufwärtshakens das Bewußtsein verloren. Fft.fft.fft... Das fliegende Überwachungsgerät registrierte den Eindringling und löste den stummen Alarm aus. Martell reagierte sofort und leitete die Gefangennahme in die Wege. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich der Kreis um die gemeldete unbefugte Person geschlossen. Ein Entkommen war unmöglich. GEIST DER BERGE. Amy Stewart fand, daß dieser Name zu ihrem weißen Skianzug paßte, den sie sich in einem Sportgeschäft »ausgeliehen« hatte. Sonderlich warm war er zwar nicht, doch die eisigen Temperaturen machten einem Cyborg wie ihr nichts aus. Der Anzug diente lediglich dem Zweck der Tarnung. Sie hatte sich damit rücklings in den tiefen Schnee gelegt und war dadurch so gut wie unsichtbar geworden. Der hünenhafte, bewaffnete Soldat, der sich ihr arglos genähert hatte, hatte sie erst bemerkt, als es bereits zu spät für ihn war. Nach seinem K.O. hatte sie ihm blitzschnell die Anstecknadel abgenommen und an ihrem linken Ärmel befestigt. Militärische Wachstrategien waren Amy nicht fremd. Über den
Einsatz von fliegenden Abtastern hatte sie sogar mal eine Abhandlung verfaßt und zusätzlich diverse Verbesserungsvorschläge eingereicht. Seinerzeit hatte sie sich noch in der Ausbildung befunden und war daher nicht ernstgenommen worden. Lamettaträger nahmen von unteren Dienstgraden grundsätzlich nichts an, schon gar keine Vernunft. Nicht überall am Hang patrouillierten Wachsoldaten. Eine große, breite Lichtung, die Amy wenig später überqueren mußte, schien völlig unbewacht zu sein. Ein hungriges Kaninchen suchte dort im Schnee nach Eßbarem. Amy benutzte ihr Program mgehim, um ihre Sehkraft zu verändern. Auf einer anderen Sichtebene konnte sie deutlich die gleißenden Strahlen erkennen, die wie Irrwische über die Lichtung tanzten. »Schau an, die gute alte Lichtschranke hat noch nicht ausgedient«, murmelte sie. Die »gute alte Lichtschranke« war in Wahrheit die neueste Entwicklung auf diesem Gebiet. An mehreren Bäumen waren unauffällige winzige Geräte angebracht. Sobald sich deren Suchstrahlen kreuzten, änderten sie ihre Richtung, bis sie auf den nächsten Strahl trafen, der wiederum eine Richtungsänderung verursachte. Auf diese Weise waren sie ständig in Bewegung, als ob sie ein Eigenleben hätten. Auf das Kaninchen reagierten die Suchstrahlen nicht; erst beim Kontakt mit intelligenten, denkenden Wesen gab es Alarm. Das hing mit der Intensität der Gehirnströme zusammen, die bei Tieren wesentlich geringer war als bei Menschen. Amy schüttelte alle negativen Gedanken ab und zwang sich innerlich zur Ruhe. Unter Zuhilfenahme des Programmgehirns senkte sie ihre Gehirnstromaktivität für einen begrenzten Zeitraum auf das äußerste Minimum. Dann ging sie los, ganz langsam, bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend. Ihr Zustand glich einer Trance. Sie fühlte sich ganz und gar entspannt, völlig losgelöst von der Welt. Giants, Brana-Tal, Dhark... all das war in Vergessenheit geraten. Amy wußte nicht einmal mehr, wer sie war und was sie hier wollte. Nur eins war ihr wichtig - das Ende der Lichtung zu erreichen. Lautlos wie ein Gespenst »schwebte« die junge Frau über die l feste Schneedecke. Amy spürte nicht die Suchstrahlen, die sie erfaßten und
wieder von ihr abließen, weil sie sie nicht wahrnahmen. Sie fühlte überhaupt nichts, weder Angst noch Freude. Die von ihren Gehirnströmen verursachte Ausstrahlung befand sich auf dem untersten Niveau, noch unter dem von Tieren. Eine weitere Absenkung würde Amy nicht verkraften, es hätte sie den Verstand gekostet. Doch das Programmgehirn ließ seine Trägerin nicht im Stich. Rechtzeitig stieg die Intensität wieder an, und die Gehirntätigkeit normalisierte sich. Als Amy Stewart wieder klar bei Sinnen war, konnte sie sich "icht mehr daran erinnern, wie sie die Strecke zurückgelegt hatte. Eben noch hatte sie drüben gestanden, jetzt war sie plötzlich hier. Was zwischenzeitlich geschehen war, hatte ihr Gedächtnis nicht ^gistriert, zumindest nicht bewußt. Wahrscheinlich gab es irgendwo in den komplizierten Windungen ihres Programmgehirns einen versteckten Speicherplatz mit »Notizen« über das Geschehen der vergangenen Minuten. Inzwischen wurde Leif Larkins von seinen Kameraden entdeckt. Sie hatten ihn von allen Seiten umzingelt und richteten die Waffen auf den vermeintlichen Eindringling. Entkommen konnte er ihnen nicht schon deshalb, weil er gefesselt und geknebelt war. Als man ihn erkannte, wurde er aus seiner mißlichen Lage befreit. »Der Kerl hat meine Anstecknadel«, informierte Larkins die anderen, nachdem man ihm den Knebel entfernt hatte. »Welcher Kerl?« fragte ein Unteroffizier. »Der General warnte uns davor, daß eine Frau versuchen könnte, zum Landsitz zu gelangen.« Leif Larkins schnaubte verächtlich. »Eine Frau? Da hat man ihm aber einen schönen Bären aufgebunden. Der Typ, der mich umgehauen hat, hatte einen Schlag wie ein Holzfäller. Der reinste Mörderhammer, sage ich euch.« Leif war von mächtiger Statur, deshalb glaubte man ihm unbesehen. Per Vipho wurde Martell über den Stand der Dinge unterrichtet. Der Regierungslandsitz wies Ähnlichkeiten mit der luxuriösen Blockhütte auf, in die sich Terence Wallis ab und zu zurückzog (und das ganz sicher nicht zum Meditieren), allerdings war Dharks Haus ein wenig größer. Zudem gab es angrenzende kleinere Gebäude. Vor dem Blockhaus parkten zwei Flash. Etwas abseits davon lag die Soldatenunterkunft. Im selben Gebäude war auch die Überwachungszentrale untergebracht. Ren Dhark und seine drei Gäste wurden im Haus von Blechmännern
bedient und bewacht. Nachdem Martell davon erfahren hatte, hatte er einen der vielseitigen Roboter für sich beansprucht. Er setzte ihn auf dem Plateau als bewaffneten Wächter ein. Falls es tatsächlich jemandem gelang, bis nach hier oben vorzudringen, würde sich die Kampfmaschine ausgiebig um ihn kümmern. Wie eine Spinne klebte Amy Stewart an der glatten Steilwand. Ihre sensiblen Fingerkuppen ertasteten die winzigste Unebenheit. Ein normaler Mensch hätte das nicht gekonnt. Ohne ihre Cyborg-kräfte wäre sie keinen Meter an der Felswand hochgekommen. Sie hoffte, daß die auf dem Plateau patrouillierenden Wachtposten den Steilhang vernachlässigten. Aus dieser Richtung rechnete gewiß niemand mit einem Angriff im Morgengrauen. Vorsichtig zog sich Amy über den Rand. In einiger Entfernung sah sie den Gebäudekomplex. Nur hinter einem Terrassenfenster brannte Licht, die übrigen Räume waren unbeleuchtet. Ein anderes, etwas abseits gelegenes Gebäude hob sich mit vielen hell erleuchteten Fenstern vom nebligen Grau des anbrechenden Tages ab. Amy vermutete darin die Unterkünfte für die Soldaten sowie die Kommandozentrale. Von ihrer Position aus erblickte sie nur vereinzelte, verstreute Wachtposten. In unmittelbarer Nähe von Dharks Landhaus waren keine zu sehen. Amy schloß daraus, daß der Commander seinen Bewachern verboten hatte, zu nahe heranzukommen. Offensichtlich hatte er etwas zu verbergen. Die Cyborgfrau zog in Erwägung, einen Sprint zum Haus zu riskieren. Augen zu und durch! Wenn es sein mußte, mitten durchs Terrassenfenster. Sobald sie Ren Dhark vor sich hatte, konnte sie ihm ihr Verhalten erklären. Was dann mit ihr passierte, stand in den Sternen... Nach kurzem Nachdenken entschied sich Amy gegen die Blitzangriffsmethode. Wie hatte doch Artus, der selbsternannte Erfinder neukreierter Sprichwörter, auf der Krankenstation so treffend gesagt? »Vorsichtig legt die Mutter ihren kleinen Elefanten aus dem Porzellanladen in die Kiste.« Damit hätte er sie fast ^m Lachen gebracht. Einerseits fand Amy den lebenden Roboter recht originell, andererseits hatte sie keine Lust gehabt, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn man den Kopf voller Fluchtpläne hatte, stand einem nicht der Sinn nach Smalltalk.
In gewissen Situationen Vorsicht walten zu lassen konnte allerdings nicht verkehrt sein, darin gab sie Artus recht. Da es am Haus keine Wachleute gab, mußten sich Dhark und seine Begleiter dort sehr sicher fühlen. Schlußfolgerung: Der Gebäudekomplex wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Alarmanlage geschützt. Von einer sehr guten, die auf Anhieb nicht als solche zu erkennen war. Amy näherte sich unbemerkt dem Blockhaus, allzeit bereit, sich auf den Boden zu werfen und eins mit der Schneelandschaft zu werden. Auf der rückwärtigen Außenterrasse standen Gartenmöbel. Die Stühle waren ineinandergestellt, zwei Tische hatte man umgekehrt aufeinandergelegt. Bei dieser Witterung war es drinnen zweifelsohne gemütlicher. Durch die großen Fensterscheiben waren undeutlich zwei Gestalten zu erkennen. Eine war menschlich, die andere sehr unförmig, ähnlich einer Amöbe, aber sehr viel größer. Da sich das Monstrum bewegte, gehörte es zweifelsohne zur Gattung Lebewesen. In diesem Augenblick wurden per Knopfdruck die dichten, schwarzen Vorhänge geschlossen. Amy setzte ihre heimliche »Besichtigungstour« fort. Vorn gab es eine Veranda, die zu den Seiten hin offen war und die gesamte Vorderfront des Blockhauses einnahm. An der linken Hausfront zog sich ein breiter Holzsteg entlang, von der Veranda zur Terrasse. Rechts befanden sich die Anbauten - Lager- und Vorratsräume - außerdem war dort die Energieversorgung untergebracht. Diese Gebäude waren ebenfalls mit Stegen ausgestattet. Man konnte also aus dem Blockhaus treten und den gesamten Komplex umrunden, ohne sich im Schneematsch nasse Füße zu holen. Amy Stewart hatte einen bestimmten Verdacht. Sie streckte ihre Hand nach dem hölzernen Fußsteig aus und berührte ihn ganz sanft mit den Fingerspitzen, so als hätte sich ein Insekt kurz darauf niedergelassen. Wie sie es erwartet hatte, verspürte sie leichte Vibrationen. Dank ihrem ausgeprägten Fingerspitzengefühl wußte sie nun, woran sie war. Hätte sie die Stege, die Veranda oder die Terrasse arglos betreten, wäre der Alarm umgehend losgegangen. Nur ein Fliegengewicht unter hundert Gramm konnte bei eingeschalteter Anlage ungehindert darüber hinweg spazieren. Simpel, aber wirkungsvoll, dachte Amy. Die Techniker und Tüftler des dritten Jahrtausends entwickelten in einem fort so viele neue komplizierte Alarm Vorrichtungen, daß die einfachen
Erfindungen früherer Zeiten darüber längst in Vergessenheit geraten waren. Amy erinnerte sich an ein Spielzeuggerät, mit dem sie als kleines Mädchen ihre Kleiderschranktür gesichert hatte, aus Furcht, die darin verborgenen Monster und Spukgestalten könnten nachts herauskommen und sie im Schlaf kidnappen. Unter dem Schrank hatte sie einen batteriebetriebenen Signalgeber befestigt, der im eingeschalteten Zustand jaulende Laute von sich gab - es sei denn, man unterbrach den Schalterkontakt mit einem Streichholz. Um das Streichholz hatte sie einen Bindfaden geknotet und den Faden mit der Schranktür verbunden. Hätte jemand die Tür aufgezogen oder von innen aufgestoßen, wäre das Hölzchen herausgerissen worden, und die »Alarmsirene« hätte losgeheult. Unwillkürlich mußte Amy schmunzeln. Nicht über ihre kindlichen Ängste damals. Vielmehr erheiterte sie die Vorstellung, daß selbst heutzutage derlei primitive Fallen Wohnungseinbrechern zum Verhängnis werden könnten. Jeder gewiefte Dieb verfügte über die modernsten »Arbeitsmaterialien« für die verschiedensten Zwecke. Aber rechnete er auch damit, im Türrahmen über einen Bindfaden zu stolpern, der ein quäkendes Alarmsignal auslöste? Qder in der Diele einem häßlichen Plastikköter mit Kunststoffe!! gegenüberzustehen, dessen einzige Fähigkeit darin bestand, bei Sichtkontakt sofort loszukläffen? Ihre Eltern hatten ihr einen solchen Hund geschenkt, ein Null-achtfuffzehn-Modell, das schon damals museumsreif war. Amy hatte gern mit ihm gespielt. Leider war ihre heile Kinderwelt nur von kurzer Dauer... Als sich plötzlich eine Metallhand auf Amys Schulter legte, zerplatzten ihre Erinnerungen und Phantasien wie Seifenblasen. Jetzt stand sie mit beiden Beinen wieder fest in der Realität des Jahres 205 8. »Sie sind festgenommen«, schnarrte eine metallische Stimme. Aus. Und das so kurz vor dem Ziel. Normalerweise kannte Amy das Wort Aufgeben nur vom Hörensagen. Aber ein guter Stratege wußte, wann er verloren hatte. Mit den PhantViren im Körper hätte sie vielleicht den Kampf gegen den bewaffneten Roboter aufgenommen. Ohne sah sie jedoch keine Chance, die
Auseinandersetzung zu gewinnen. »Gehen Sie voran«, forderte der Blechmann sie auf. »Ich bringe Sie zu General Martell.« »Warum gehen wir nicht gleich zu Commander Dhark?« erwiderte Amy. »Er ist der Ranghöhere. Im übrigen wollte ich ohnehin mit ihm reden.« Unkomplizierte Frauenlogik gegen die programmierte Logik einer leblosen Apparatur. »Mein Befehl lautet, den Commander vor jeglichen Eindringlingen zu schützen«, antwortete die Maschine auf Beinen mit schnarrender Stimme. »Widersetzen Sie sich nicht, und gehen Sie voran.« Da Amy sich fügte und seiner Anweisung nachkam, gab es für ihn keinen Grund, den Paraschocker aus der Halterung zu ziehen. Seufzend warf die Cyborgfrau einen letzten Blick aufs einstök-kige Blockhaus. Fast hätte sie es geschafft... Abrupt blieb sie stehen. Jemand hatte die Terrassentür einen Spalt geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Ein himmlisches Zeichen? Eine wirklich allerletzte Chance? »Weitergehen!« befahl der Roboter. Amy ging langsam auf das ebenerdige Gebäude zu, in welchem sie die Zentrale vermutete. Sie hatte keine Eile, ging langsam. Ihr Bewacher bedrängte sie nicht und paßte sich ihrem gemächlichen Tempo an. Plötzlich schien Amy förmlich zu explodieren. Sie wechselte die Richtung und sprintete mit der Geschwindigkeit eines Profiläufers auf das Landhaus zu. Was sich hinter ihrem Rücken abspielte, konnte sie nur erahnen. Höchstwahrscheinlich griff der Roboter nach seiner auf Betäubung eingestellten Waffe und legte auf sie an. Zielen und... Noch bevor es zum Schuß kam, schlug Amy einen Haken nach rechts. Danach folgte ein weiterer Blitzausfall nach links, dann wieder nach rechts. Amy spürte fast, wie der Blechmann den Ziel Vorgang ihrem Bewegungsablauf anpaßte. Erst wenn er sie hundertprozentig im Visier hatte, würde er den Auslöser betätigen. Haken nach links. Haken nach rechts. Haken nach links, Haken nach... Amys Berechnung nach bewegte der Roboter seine Waffe erneut nach rechts, weshalb sie zwei linke Haken hintereinander schlug, bevor wieder ein rechter an die Reihe kam. Einen Hasenjäger hätte sie damit total aus dem Konzept gebracht, doch eine Präzisionsmaschine konnte man nicht nervös machen. Unbeirrt vollzog der Arm des Blechmanns jede
Richtungsänderung nach. Die Terrasse lag direkt vor der fliehenden Gefangenen. Was würde die Auslösung der versteckten Alarmvorrichtung bewirken? Ein akustisches Signal? Elektroschocks? Strahlenbeschuß? Amy legte keinen Wert darauf, es herauszufinden. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie über den vorderen Teil der Terrasse hinweg und landete mit den Füßen sicher im hinteren Bereich, dort, wo die Gartenmöbel standen. Trotz der Entfernung fühlte sie aufs neue den Lauf der Waffe in ihrem Nacken. Ducken! Wieder kam der Roboter nicht zum Schuß. Amy Stewart öffnete die Terrassentür, schob den schwarzen Vorhang ein Stück beiseite und huschte geduckt ins Zimmer. Erst drinnen wagte sie es, sich aufzurichten. Der Roboter würde gewiß nicht blindlings in einen Raum feuern, in dem sich weitere Personen aufhielten. Ren Dhark katapultierte regelrecht von seinem Sitzplatz hoch und griff automatisch nach seinem Strahlerhalfter. Amy machte sich bereit, dem schlanken, weißblonden Commander die Waffe aus der Hand zu treten. Fast gleichzeitig stellten beide fest, daß er momentan kein Halfter trug es hing über der Stuhllehne. Die riesige Amöbe hatte sich in einem extragroßen Sessel ausgebreitet und machte keine Anstalten, einzugreifen. Außerplaneta-rische Wesen mischten sich nur ungern in die inneren Angelegenheiten anderer Völker ein. Amy hielt es mit dem Fremden genauso und schenkte ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig. In diesem Moment betrat ein schwarzhaariger, zirka dreißigjähriger Mann mit vorstehenden Kinn den Raum. Er trug einen seidenen Morgenmantel. Dan Riker zog sein Handfunkgerät aus der Tasche und wollte die Wachen alarmieren. Amy kannte ihn nur aufgrund diverser Berichterstattungen. Ein zehnjähriges Mädchen mit einem gefüllten Tablett kam ins Zimmer und fragte: »Frühstück? Mister Dhark? Mister Riker? Jim?« Als es »die weiße Frau« erblickte, blieb es wie angewurzelt stehen. Amy schlug ihre Kapuze nach hinten und hob dann leicht die Arme, als Geste des Friedens. »Ich suche keinen Streit«, sagte sie. Dhark spürte instinktiv, daß von ihr keine Gefahr ausging. Er gab seinem Freund Dan ein Handzeichen, woraufhin Riker das Funkgerät wieder
einsteckte. Draußen machte sich der Wachroboter daran, die in den Terrassenboden eingelassene Alarmvorrichtung zu überwinden. Ren Dhark sah es durch den Vorhangspalt, begab sich kurz auf die Terrasse und erteilte der Maschine den Befehl, umzukehren und den Patrouillendienst wieder aufzunehmen. »Sie haben uns eine Menge zu erklären«, sagte er zu Amy, nachdem er ins Haus zurückgekehrt war. Amy nahm in einem freien Sessel Platz. »Mein Name ist Amy Stewart«, stellte sie sich vor und schaute lächelnd zu Juanita. »Ich komme aus dem Brana-Tal und hätte gern eine Tasse dieses frisch duftenden Kaffees.« Das Mädchen stellte das Tablett ab und schenkte allen ein. »Eigentlich wollte ich Sie unter vier Augen sprechen, Commander«, wandte sich Amy an Dhark und blickte dann Dan an. »Es ist ein vertrauliches Gespräch, Riker, dennoch habe ich gegen Ihre Anwesenheit nichts einzuwenden. Immerhin sind Sie der beste Freund des Commanders.« Ihre Augen fixierten die Riesenamöbe. »Was man von Ihnen ganz bestimmt nicht behaupten kann, Jim Smith. Soweit ich informiert bin, stehen Sie auf der staatlichen Fahndungsliste ganz weit oben.« Gisol erhob sich zu voller Größe. Dann begann er, sich zu verformen, zu verändern... Kurz darauf stand er in seiner Jim-Smith-Menschengestalt vor ihr. Dhark stellte anerkennend fest, daß Amy nicht die geringsten Anzeichen von Überraschung oder gar Furcht zeigte. »Woher kannten Sie seine wahre Identität, Amy?« fragte er. »Gisol wurde unter strengsten Sicherheitsbestimmungen auf mei-"en Landsitz gebracht. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, hatte er auf dem Weg hierher sein menschliches Äußeres angenommen.« »Ebendrum«, entgegnete Amy kurz und knapp. »Ein vorwitziger Infanterist hat ihn beim Aussteigen aus dem Flash beobachtet und erkannt. Der Mann war recht geschwätzig - nachdem ich seine Zunge ein bißchen gelockert hatte. Als die Kleine Gisol mit Jim anredete, brauchte ich nur noch eins und eins zusammenzuzählen.« »Und woher wissen Sie, daß sein wahrer Name Gisol ist?« staunte Dhark.
»Von Ihnen, Commander, Sie haben seinen Namen gerade erwähnt.« »Sie kombiniert schneller als du sprichst, Ren«, merkte Dan Ri-ker amüsiert an. »Meinen Namen kennst du nicht, wetten?« sagte Juanita, während sie Amy den Kaffee reichte. »Wette gewonnen«, antwortete die Frau. »Ich heiße Juanita«, entgegnete das Kind. Amy gab Juanita die Hand. »Freut mich, Juanita, ich heiße Amy.« »... habe ich mich der schmerzhaften Umwandlungsprozedur nur unter der Voraussetzung unterzogen, daß ich am Ende ein vollwertiger Cyborg sein werde. Ich bestehe darauf, daß die Regierung ihren Vertrag erfüllt. Um keinen Geheimnisverrat zu begehen, wollte ich persönlich mit Ihnen darüber reden, Commander, unter Umgehung sämtlicher Vorschriften. Sie glauben gar nicht, wie schwierig es ist, einen Termin bei Ihnen zu bekommen. Vorher muß man etliche Instanzen durchlaufen und bei zahllosen Mittelsmännern von Mittelsmännern vorstellig werden, die mich alle nach dem Anlaß für mein Ersuchen gefragt hätten. Hätte ich denen etwa von der geheimen Cyborgstation und der Viren-Krise erzählen sollen?« »Natürlich nicht«, erwiderte Ren Dhark, nachdem er sich Amy Stewarts Erklärungen angehört hatte. »Aber das ist noch lange kein Grund, auf ein bewachtes Grundstück der Regierung vorzudringen.« »Auf das bestbewachte Grundstück Terras«, ergänzte Dan Riker, der als einziger bei der Unterredung anwesend sein durfte; Gisol und Juanita hielten sich im oberen Stockwerk auf. »Der Wachtposten, den Sie niedergeschlagen und gefesselt haben, Amy, war schockiert, als er erfuhr, daß er von einer Frau umgehauen wurde. Er braucht jetzt dringend Erholung und hat seinen Resturlaub beantragt, wie mir General Martell berichtete.« In Dans Stimme schwang so etwas wie Bewunderung mit. Auch Ren mußte zugeben, daß ihn die Fähigkeiten seiner ungebetenen Besucherin beeindruckten, allerdings ließ er sich das nicht anmerken. »Sie gehören zu der Sorte von Frauen, die einem nichts als Ärger macht«, sagte er uncharmant zu Amy. »Weil Sie unbedingt Ihre eigenen Interessen durchsetzen mußten, kennen Sie jetzt eins der größten Geheimnisse der terranischen Regierung. Nicht einmal der GSO-Leiter wurde über Jims wahre Identität unterrichtet. Sie wissen zuviel, Amy. Zu Zeiten des Kalten Krieges hätte man Sie mit einem Schall
dämpferrevolver durchlöchert und Ihren Leichnam im Krematorium entsorgt.« »Oder man hätte mich mit viel Geld bestochen«, konterte die Cyborgfrau, »und mir auch sonst jeden Wunsch von den Augen abgelesen.« Dhark stand auf. »Man sollte Sie einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Kommen Sie mit.« Beide begaben sich in eins der angrenzenden Gebäude. Dort stand ein Transmitter. Echri Ezbal weigerte sich hartnäckig, Amy Stewart mit dem Phant-Virus der Snides zu infizieren. Ren Dhark mußte all seine Überzeugungskünste aufwenden. Darin lag eine seiner Stärken. »Es ist im Interesse der Regierung«, machte der dreißigjährige Commander der Planeten dem greisen Brahmanen klar. »Amy stellt sich freiwillig für dieses Experiment zur Verfügung. Sie ist erwachsen und intelligent genug, um die Risiken abzuschätzen. Wenn sich das Virus in ihr, die vorher keine Phant-Trägerin war, bewährt, kann man mit den Snide-Kulturen weitere neue Cyborgs ausrüsten. Schlägt der Versuch fehl, wird das F-Virus künftig nicht mehr eingesetzt. Nie mehr, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« »Ein Fehlschlag würde Sie das Leben kosten - sind Sie sich überhaupt darüber im klaren?« fragte Ezbal Amy, die ihm in seinem Wohnzimmer in der Sitzecke gegenübersaß. »Der Tod ist eine ehrliche Sache«, erwiderte sie unbeeindruckt. »Wer stirbt, zieht einen konsequenten Schlußstrich unter sein Leben. Das ist immer noch besser als mein derzeitiger Daseinszustand. Ich bin kein richtiger Mensch mehr, aber auch kein echter Cyborg. So hatte ich mir das ganze nicht vorgestellt.« »Demnach sind Sie fest entschlossen, jedes Risiko einzugehen?« Amy nickte stumm. Ren Dhark nutzte seinen Aufenthalt im Brana-Tal, um sich bei Artus für dessen Mithilfe bei der Bewältigung der Cyborg-Krise zu bedanken. Auch Jamie Savannah sagte er guten Tag, und er lernte ihren Neffen Frank Buscetta kennen. Artus setzte den Commander von seiner neuen Erfindung in Kenntnis und schilderte ihm die Schwierigkeiten mit dem Patentamt.
»Wir werden einen Weg finden, dir die terranische Staatsbürgerschaft zu verleihen«, versprach ihm der Commander. »Zwar kann ich gegen die bestehenden Gesetze nichts ausrichten, doch ich werde versuchen, eine Gesetzesänderung durchzudrücken, die eine großzügigere Ausnahmeregelung vorsieht. Leider dauert das ziemlieh lange, so etwas kann sich Monate hinziehen.« »Terence Wallis wird nicht so lange warten«, entgegnete der Roboter. »Du hättest dich nie mit ihm einlassen dürfen«, hielt Dhark ihm vor. »Er ist ein guter Kerl, man könnte Pferde mit ihm stehlen. Doch sobald er ein Geschäft wittert, kennt er keine Freunde mehr.« »Demnach sollte man besser keine Pferde mit ihm stehlen«, widersprach Artus, der es liebte, am Sinngehalt terranischer Sprichwörter und Aussprüche zu rütteln. »Zwar wäre er ein exzellenter Dieb, doch sobald es ans Teilen der Beute geht, haut er einen übers Ohr.« »Du hast recht, Artus«, räumte Dhark ein. »Dieser Gauner würde sich mit meiner Hälfte der Herde glatt aus dem Staub machen. Schade, daß es mir als gewähltem Volksvertreter nicht zusteht, direkten Einfluß auf Entscheidungen der Ämter zu nehmen.« »Aber es steht dir zu, mich zum terranischen Staatsbürger zu machen, auch ohne langwieriges Verfahren«, erwiderte der Roboter. »Mich erstaunt immer wieder, wie wenig ihr Terraner euch in eurer eigenen Historie auskennt. Sagt dir der Name Dai Pehtao etwas? Oder Burt Brain?« »Auf Anhieb fällt mir zu den beiden nichts ein.« »Dann beginne ich am besten ganz von vorn, zum leichteren Verständnis. Über Jahrhunderte hinweg war die Erde in zahlreiche eingegrenzte Staaten unterteilt. Die jeweiligen Regierungsoberhäupter vertraten fast ausschließlich die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung. Mit der Gründung der Weltregierung änderte sich so einiges. Die Grenzen wurden aufgeweicht und die Gesetze weitgehend vereinheitlicht, wobei allerdings die lokalen Belange der unterschiedlichen Regionen berücksichtigt wurden.« »Nicht in jedem Fall«, warf Dhark ein. »In einigen Ländern Wurden unmenschliche Bestimmungen mittels eines übergeordneten Gesetzes für null und nichtig erklärt und ihre gewaltsame Durchsetzung unter Strafe gestellt. Leider ist es der Weltregierung bis heute nicht gelungen, überall auf dem Planeten das Unrecht abzuschaffen, aber wir arbeiten dran.« »Abgesehen von solchen Ausnahmen gestattete die neue Regierung den
jeweiligen Regionen, ihre eigene Politik weiterzuverfolgen, solange sie nicht den Zielen der Weltgemeinschaft widersprach«, fuhr Artus fort. »Somit gibt es in manchen Teilen der Erde Gesetze, die keine Allgemeingültigkeit haben, weil sie nur für die Bevölkerung bestimmter Landstriche wichtig sind.« »Beziehungsweise weil die dortige Bevölkerung diese Gesetze für wichtig hält«, ergänzte Dhark. »Oftmals klammern sich die Leute nur an verstaubte Traditionen. Es fällt ihnen schwer, sich von Erlassen loszulösen, die bereits vor mehreren hundert Jahren verfaßt wurden.« »Ein derartiger Erlaß existiert noch heute in der chinesischen Provinz Sezuan«, kam Artus jetzt zur Sache. »Laut einer Gouverneursentscheidung aus dem neunzehnten Jahrhundert können nur Asiaten Bürger von Sezuan werden. - Zum Zeitpunkt der Gründung der Weltregierung hieß der dort amtierende Gouverneur Dai Pehtao. Dai war mit einem Engländer namens Burt Brain befreundet, einem selbstlosen, vermögenden Mann, der schon seit mehr als vierzig Jahren in dieser Provinz lebte und sehr viel zum bescheidenen Wohlstand der Einheimischen beigetragen hatte. Vor allem in schwierigen Zeiten konnte man sich immer auf ihn verlassen. Die Bewohner nannten ihn den guten Menschen von Sezuan. Dank ihm kam die von Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen heimgesuchte Provinz stets wieder auf die Beine. Nur zu gern wäre Burt Brain ein waschechter Bürger Sezuans geworden, mit allen Rechten und Pflichten und den dazugehörigen Dokumenten, doch Dai Pehtao mochte nicht gegen die Bestimmung aus dem neunzehnten Jahrhundert verstoßen. Weil der Gouverneur aber ein pfiffiger Mann war, fragte er die neue Weltregierung um Rat. Sollten sich »die da oben« doch mit dem Problem herumschlagen... Eine knifflige Rätselaufgabe für die Politiker, die sich in ihren Irdischen Ämtern noch bewähren mußten. Wie ernennt man einen 'Europäer zum Bürger einer Provinz, in der nur Asiaten Bürger werden dürfen? Ein weiteres übergeordnetes Gesetz mußte her, eines, das Brains Einbürgerung möglich machte, ohne dabei gegen las Dekret des Amts Vorgängers zu verstoßen. Wann immer eine Sitzung einberufen wurde, stand dieser Punkt ils letztes auf dem Protokoll. Sicher, man hatte weitaus bedeutsa-nere Fragen zu klären - und trotzdem... es mußte eine Lösung geben, so schwierig konnte das doch nicht sein. >Wir verankern im terranischen Staatsbürgerschaftsgesetz einen Passus, der es dem Commander der Planeten erlaubt, Menschen, hie sich um
Terra verdient gemacht haben, unabhängig ihrer Herkunft die sezuanische Bürgerschaft zu verieihen<, lautete der erste halbwegs brauchbare Vorschlag. Er wurde mehrstimmig abgelehnt, mit der Begründung: unzulässige Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten. Im übrigen gibt es seit Gründung der Weltregierung offiziell nur noch eine einzige Staatsbürgerschaft - die terranische.< Es folgte die nächste Version des Gesetzesentwurfs: >Dem Commander der Planeten ist es erlaubt, Menschen, die sich um Terra verdient gemacht haben, unabhängig ihrer Herkunft die terranische Staatsbürgerschaft zu verleihen.< vom Tisch haben. Als Dai Pehtao nach viel zu langer Wartezeit erfuhr, daß >die Person Burt Brain< aufgrund ihrer zu würdigenden Verdienste an der Allgemeinheit zum terranischen Staatsbürger und infolgedessen auch zum Bürger von Sezuan ernannt worden war, hatte sein Freund gerade das Zeitliche gesegnet. Somit hatte die Politposse ein unerwartetes Ende gefunden. Der kleingedruckte Passus im Staatsbürgerschaftsgesetz wurde bis zum heutigen Tag nie mehr angewandt, aber auch nicht ausgestrichen.« »Es ist dem Commander der Planeten somit erlaubt, Personen, die sich um Terra verdient gemacht haben, unabhängig ihrer Herkunft die terranische Staatsbürgerschaft zu verleihen«, wiederholte Ren Dhark nachdenklich den Zusatzartikel, nachdem Artus geendet hatte. »Seinerzeit hat man dabei bestimmt noch nicht an Außerirdische gedacht, denn bis dahin waren uns noch keine Fremden aus dem All begegnet. Mit einem lebenden Roboter war die Menschheit ebenfalls noch nicht konfrontiert worden. Stellt sich nur die Frage: Was ist eigentlich eine Person? Antwort: Jedes Intelligenzwesen, das über eine Persönlichkeit verfügt. Du bist ein solches Intelligenzwesen, Artus. Damit dürfte der Erfüllung deines Wunsches nichts im Wege stehen.« Als Terence Wallis in Begleitung seines besten Anwalts auf den Eingang zum Patentamt zuging, schaute er auf seine Uhr. Ich beobachtete ihn durchs Bürofenster und versuchte, seine Gedanken zu erraten. In einer Viertelstunde lief das Moratorium aus, sprich: In fünfzehn Minuten würde er, der reichste Mann der Welt, noch ein kleines Stückchen reicher sein. Nichts, aber auch gar nichts würde ihn mehr daran hindern, meine Konstruktionsunterlagen einzusehen.
Ich verließ meinen Stehplatz am Fenster und setzte mich auf einen freien Stuhl. Ilja Iwanoff saß hinter seinem Schreibtisch und starrte fortwährend fassungslos auf meine frisch ausgestellte Identitätskarte. »Was ist nun?« fragte ich ihn. »Bekomme ich mein Patent?« Der mürrische Beamte nickte und setzte seinen Suprasensor in Gang, um mir die erforderliche Bestätigung auszustellen. Die Tür öffnete sich. Wallis und sein Begleiter kamen herein. »Herzlich willkommen!« begrüßte ich sie so herzlich, wie man normalerweise nur seine besten Freunde begrüßt. »Wie schön, daß du pünktlich bist, Wallis. Dann haben wir eine Menge Zeit, um über die Lizenzgebühren zu verhandeln, die du mir für meine verbesserte Gelenkkonstruktion zahlen mußt.« Sein ungläubiger Gesichtsausdruck entschädigte mich für allen Ärger, den er mir bereitet hatte. :my Stewarts Infektion mit den neuen Phant-Viren verlief zur vollsten Zufriedenheit der Mediziner und Wissenschaftler aus dem Brana-Tal. Sie vertrug die Viren und wurde somit zum ersten Cy-borg der nächsten Generation. Ren Dhark nahm sich die Zeit für einen Besuch an ihrem Bett, das sie am liebsten so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. »Nur die Ruhe, ein bißchen Erholung wird Ihnen guttun«, sagte Dhark beim Abschied zu ihr. »Schon bald können Sie Ihr gewohntes Training wieder aufnehmen.« Er war von ihr beeindruckt. Die körperlichen Auswirkungen der Behandlung taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Amy hingegen fand ihn nicht sonderlich attraktiv. Sie konnte blonde Männer nicht ausstehen. Weißblonde schon gar nicht. 7. Bert Stranger, Starreporter der Terra-Press, gönnte sich seinen freien Abend. In den letzten Monaten kam es selten vor, daß er einmal mehr als 24 Stunden in Alamo Gordo zubrachte und die Annehmlichkeiten seines Apartments genießen konnte. In einer Höhe von 300 Metern über dem Boden befand es sich in einer Kugel, die langsam auf ihrem Stiel rotierte und den Bewohnern der »Außenapartments« zweimal am Tag das gesamte Stadtpanorama zeigte. Diese Stielbauten waren in den Jahren nach der Invasion der Gi-ants entstanden. Jeder von ihnen war praktisch eine Stadt in der Stadt, nahezu
autark mit Wohnraum für mehr als viertausend Menschen, die hier alles fanden, was sie benötigten, vom Kino bis zum Krankenhaus. Strangers Wohnung befand sich im unteren Drittel der Kugel. Das hieß, daß er zwar eine prachtvolle Aussicht über die Stadt - und dank der Höhe - bis weit ins Hinterland hinein hatte, aber vom Stemenhimmel bekam er herzlich wenig mit. Ihn störte das nicht weiter; er sah die Sterne oft genug aus erster Hand und nicht von der Erdatmosphäre gefiltert, wenn er in seiner Eigenschaft als Reporter draußen im Weltraum aktiv war. Die Wohnungen im oberen Bereich der Kugel waren erheblich teurer, aber von der Ausstattung her auch nicht viel besser als seine eigene. Stranger hatte es sich bequem gemacht. Die Lehne des Multifunktionssessels war schräggestellt, so daß er fast in dem Sitzmöbel lag, und die Füße hatte er hochgelegt. Neben ihm schwebte ein kleiner Antigravtisch mit einer Platte aus italienischem Carrara-Marmor. Aus diesem Material hatte einst der große Michelangelo seine Skulpturen geschaffen. Aus Italien stammte auch der Wein, von dem Stranger sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen ein Schlückchen auf der Zunge zergehen ließ. Dabei hatte er einen Teil des Panoramafensters auf TV geschaltet und langweilte sich von Minute zu Minute mehr über den Spielfilm im Holokanal, der die Heldentaten eines von seinem Volk verstoßenen Rebellen irgendwo in den Weltraumtiefen einer fremden Galaxis zeigte. Als die Werbepause kam, war er fast erleichtert. Wenn sie wenigstens die Paarungsrituale in aller Ausführlichkeit gezeigt hätten? dachte Stranger sarkastisch. Dann könnte man diesem Filmchen vielleicht noch etwas abgewinnen... aber für derartige Sequenzen fehlten dem Drehbuchautor und dem Regisseur wohl die nötige Fantasie. Die Werbung plätscherte ebenfalls banal an ihm vorbei, und er spielte mit dem Gedanken, auf einen anderen Kanal umzuschalten, aber dafür hätte er sich die Mühe machen müssen, die Fembedienung aufzurufen und ihr eine andere Programmnummer anzusagen. Aber das widersprach seiner festen Absicht, an diesem Abend einfach absolut stinkfaul zu sein. Und dann riß ihn ausgerechnet die Werbung doch noch aus seiner selbstgewählten Feierabendlethargie. Der Spot war genial gemacht. Psychedelische Farbmuster, rotierende Fraktale, wohltuende Klänge. Dazu kam eine sanfte, erotische Frauenstimme. Die Bilder wechselten. Ein Gerät raste aus der Tiefe des Bildes kommend auf den Betrachter zu, schien direkt vor ihm zu stoppen. Hs
sah aus wie ein brillenähnlicher Kopfbügel, der aber keine Gläser besaß, sondern eine geschlossene Front zeigte. So ähnlich hatten Anfang des Jahrhunderts die Geräte ausgesehen, mit denen sich Menschen in computergenerierte virtuelle Spielewelten versinken lassen konnten. Aber das hier war eleganter gestylt, wirkte leichter und sympathischer. »Sensorium. Mehr braucht kein Mensch«, raunte die erotische Frauenstimme, und unter dem Gerät entstand zunächst transparent, dann verfestigt der Kopf einer jungen Frau. So wie das Gerät aus dem Nichts herangerast war, glitt es jetzt wieder zurück, zeigte dabei den gesamten Körper, der in den wenigen Sekunden, die er zu sehen war, den Eindruck erweckte, nackt zu sein, ohne anstößig zu wirken. Ein raffiniertes Spiel von Licht und Schatten überflog die Holographie. »Sensorium. Mehr brauchen auch Sie nicht!« Eine plastische Schemazeichnung entstand und erläuterte, wie dieser Bügel zu tragen war. Dann tauchte wieder der Frauenkopf auf, und die Kamera schien in ihn einzudringen und durch die Augen zu erfassen, was das »Sensorium« darstellte. Eine paradiesische Landschaft tauchte auf. »Sie wollen Ihren Urlaub für die Ewigkeit aufzeichnen? Vergessen Sie jede Kamera - das Sensorium ist besser. Sie wollen Filme abspielen? Vergessen Sie ihre Holowand. Das Sensorium ist viel besser. Sie können es ständig bei sich führen. Projektionsfelder und Lautsprechersysteme? Brauchen Sie nicht. Kopfhörer? Brauchen Sie nicht. Klobige VR-Helme? Brauchen Sie nicht. Sie brauchen nur das Sensorium. Bilder und Klänge werden unmittelbar in Ihr Gehirn projiziert.« Eine weitere Bildsequenz folgte: Sie zeigte die wohl berühmteste Szene aus dem Paradies, nur überreichte Eva ihrem Adam keinen Apfel, sondern eines dieser Geräte, von denen sie ein weiteres bereits selbst auf dem Kopf trug. Adam setzte seines auf, zeigte ein verzücktes Lächeln. Und die beiden wurden nicht vom Erzengel mit dem Flammenschwert aus dem Garten Eden vertrieben, sondern dieser tauschte sein Schwert bei der Schlange ebenfalls gegen ein Sensorium ein... »Sensorium. Auch für Engel. Jetzt überall im Handel«, hauchte die Stimme aus dem Off. »Erleben Sie die Welt ganz neu. Für nur...« Der genannte Kaufpreis ging irgendwie an Stranger vorbei. Der Werbespot endete damit, daß noch einmal das Gerät in Großaufnahme gezeigt wurde, zusammen mit einem leuchtenden und blinkenden Schriftzug. »Sensorium. Mehr braucht kein Mensch.« Das Logo des Senders leuchtete auf, der seichte Spielfilm, als spannender Action-Thriller angekündigt, fand seine Fortsetzung, und
Stranger entschloß sich, seine Faulheit teilweise zu vergessen. »Holokanal aus. TV aus.« Das Fensterstück wurde wieder transparent und zeigte die Abenddämmerung über Alamo Gordo. Stranger erhob sich. Das Weinglas in der Hand, trat er ans Fenster. Weit draußen, jenseits der Stadt, sah er Cent Field, den größten Raumhafen der Erde. Sah die Ringraumer, die dort abgestellt waren, und die Kugelraumer, deren größte Exemplare bis zu 400 Meter hoch emporragten, sah einen im Licht der Abendsonne rot funkelnden Ikosaederraumer aus Tofirit. Sein Blick kehrte zurück zu den Häusern von Alamo Gordo, die niedriger waren als die Stielbauten, zum Regierungsgebäude, jenem riesigen, grauen Quader, der mehr als hundert Meter aufragte und auf dessen Flachdach zahlreiche Schweber parkten. Das Botschaftsviertel mit seinen Villen in einer Parklandschaft. Die Hochstraßen, von schnellen Wagen befahren, und tief unten die normalen Straßenschluchten für den Versorgungs- und Personenverkehr. Dazwischen die Schweber in den ihnen zugewiesenen Luftkorridoren. Ein hektisches Gewimmel, kaum noch durchschaubar. »Sensorium«, murmelte er. »Mehr braucht kein Mensch?« Überall im Handel? Da übertrieb die Werbung gewaltig, wie Bert Stranger feststellen mußte, als er am kommenden Tag eine Menge Anrufe tätigte, um einen Händlernachweis zu erhalten. Im ganzen Stadtbezirk gab es lediglich einen Händler, der das Sensorium anbot. »Aber die Nachfrage ist sehr groß. Wenn Sie eines der Geräte erwerben wollen, sollten Sie sich beeilen, Sir. Ich weiß nicht, wann die nächste Lieferung eintrifft.« Stranger benutzte ein Jett-Taxi, um sich in den anderen Stadtteil bringen zu lassen. Da war etwas, das ihn alarmierte. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er witterte eine Story. Deshalb wollte wissen, was es mit diesem Sensorium auf sich hatte. Die Übertragung von Bildern und Klängen direkt ins Gehirn? Mußte das nicht sogar die legendäre Gedankensteuerung der POINT OF übertreffen? Von der war nur bekannt, daß sie sich stimmlich im Bewußtsem des Raumschiffskommandanten meldete. Allerdings ohne ein Übertragungsmedium wie diesen Kopfbügel. Stranger konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand
eine solche Technologie zur Perfektion weiterentwickelt hatte, falls es nicht die Mysterious selbst gewesen waren. Aber wie sollte ein solches Stück Supertechnologie nach Terra gelangt sein? Selbst auf Hope und Babylon konnte es keine Weiterentwicklung geben, weil die Geheimnisvollen vor tausend Jahren die Galaxis fluchtartig verlassen hatten, um nie wieder zurückzukehren. Die POINT OF, der Ringraumer, den Ren Dhark seinerzeit auf Hope entdeckte und in Betrieb nehmen konnte, war das absolute Nonplusultra an M-Technologie. Wie hätte irgendwo eine noch weiter modernisierte Technik auftauchen sollen? Nun gut, die Giants waren mit ihrer CE-Technik auch nicht gerade unbedarft gewesen, die aber eine völlig andere Einflußnahme auf menschliche Gehirne vorsah. Und auch die Nogk mit ihren auf mentaler Basis arbeitenden Translatorkugeln... Nein. Es mußte etwas völlig anderes sein. Entweder war jemandem ein absoluter Geniestreich gelungen, oder es handelte sich um den größten Betrug der Mediengeschichte überhaupt. Und Bert Stranger wollte herausfinden, welche Version stimmte. Deshalb hatte er seinen Anruf aufgezeichnet und beabsichtigte, auch alles weitere zu dokumentieren. Er war sicher, wieder mal auf einer heißen Spur zu sein. Wohin auch immer die führte. Eine halbe Stunde später stand er in dem Laden. Eine hübsche junge Frau in äußerst knapper Bekleidung, die wohl ablenkend wirken sollte, bediente ihn. Mit einem beachtlichen Wortschwall erklärte sie ihm, welch fantastische Neuentwicklung dieses Gerät sei und daß der Hersteller bereits in der ersten Woche Millionenumsätze gemacht habe. Stranger hörte geduldig zu, und ebenso geduldig ließ er sich die Handhabung des Gerätes erklären. Die war denkbar einfach und wäre mit drei oder vier Sätzen und einigen demonstrierenden Griffen abzuhaken gewesen. Aber die Verkäuferin überflutete Stranger mit einem langatmigen Redeschwall, derweil er längst begriffen hatte, wie das Sensorium zu bedienen war und den Rest der Zeit damit zubrachte, den Anblick der jungen Dame zu genießen und sich auszumalen, wie sie wohl ganz ohne ihre sparsame Bekleidung aussehen mochte. Er war fast erschüttert, als sie endlich fertig war, das Gerät wieder verpackte und dann seine Kreditkarte forderte. Er gab ihr die Firmenkarte der Terra-Press. Wie wohl er daran tat, sah er an dem abgebuchten Betrag; was das Sensorium kostete, hatte er sich bei
der Werbung nicht gemerkt und jetzt beim Geschwätz der Hübschen auch nicht. Jedenfalls hätte die Summe seinen Etat für den laufenden Monat Februar annähernd ausgeschöpft; auch Starreporter waren keine Millionäre. Sein Chef würde ihn mal wieder in hingebungsvoller Wut zur Schnecke machen und darauf hinweisen, daß Ausgaben in dieser Höhe zuvor beantragt und genehmigt werden müßten. Aber Stranger war in seinem Job einfach zu gut, als daß Caroon ihn feuern würde. Das kleine Päckchen mit dem Sensorium unter dem Arm, die versteckte Filmaufnahme des Verkaufsgesprächs im Kragenknopf und in der Jackentasche, rief er per Armbandvipho erneut ein Jett-Taxi, das ebenfalls auf Spesen ging, und ließ sich zurück zu seiner Wohnung fliegen. Zu Hause packte er das Gerät aus und nahm es näher in Augenschein. Es war leicht zu tragen; er spürte es kaum, als er es aufsetzte. Auch die Handhabung war tatsächlich einfach und sogar °hne die Bedienungsanleitung und ohne den Redeschwall der Verkäuferin leicht zu verstehen. Es gab einen kleinen, auswechselbaren Chip, der im Bügel eingelegt wurde und auf dem die Bild-und Tonaufzeichnungen gespeichert waren. Drei dieser Chips gehörten zur Grundausstattung des Sensoriums, weitere konnten hinzugekauft werden. Die in der Werbung und auf der Verpackung beschriebene Möglichkeit zur eigenen Aufzeichnung gab es mit diesen Chips nicht. Dafür mußten weitere, modifizierte Speicherchips gekauft werden, deren Preis in der Bedienungsanleitung vorsichtshalber nicht genannt wurde. Dennoch hatte Bert Stranger einen davon erstanden. Ebenfalls auf Rechnung von Terra-Press. Zunächst wollte er aber erst einmal sehen, was die mitgelieferten Chips zu bieten hatten. Er legte einen davon ein und setzte das Sensorium auf. Im ersten Moment sah er durch den Apparat weiterhin seine unmittelbare Umgebung, obgleich der vor seinen Augen befindliche Teil an sich völlig undurchsichtig wirkte. Stranger schaltete das Sensorium ein. Im gleichen Moment wechselte das Bild. Er fühlte sich übergangslos in eine andere Welt versetzt. Eine paradiesische Strandlandschaft mit ausgesucht schönen Menschen, Sonne, weißem Sand, kristallklarem Wasser. Er bewegte sich über den Strand. Eine südländische, langhaarige Schönheit im winzigen Tanga schritt an ihm vorbei, lächelte ihn
freundlich an und setzte ihren Weg fort. Stranger wollte sie ansprechen, aber er stellte nur fest, daß er seine Lippen bewegte, doch wurde kein Wort hörbar. Dafür hörte er das Rauschen des Meeres, hörte, wie die Palmen sich im leichten, warmen Wind wiegten. Er ging ein paar Meter weit in das klare Wasser hinein, bückte sich, hob eine Muschel auf und legte sie dann wieder zurück. Als er sich umdrehte, sah er eine Gruppe junger Leute ein Ballspiel durchführen. Er hörte ihre fröhlichen Rufe und hätte sich gern beteiligt. Aber Er schaltete ab und fand sich in seiner Wohnung wieder, in seinen Komfortsessel hingelümmelt. Er war am Strand entlanggegangen, aber in Wirklichkeit hatte er sich keinen Zentimeter weit bewegt. »Faszinierend«, murmelte er und setzte das Sensorium wieder ab. Die Sichtfläche, durch die er geblickt hatte wie durch eine Brille, war wieder schwarz. Stranger drehte das Gerät zwischen den Händen hin und her, versuchte den Trick herauszufinden, durch den diese schwarze Fläche beim Aufsetzen transparent wurde und ihn seine Umgebung so lange wahrnehmen ließ, bis er den Chip zuschaltete und alles von dessen gespeicherten Bildeindrücken überlagert wurde. Wieder mußte er an die Mysterious denken. Auf Hope hatte man ihm vor einigen Jahren vorgeführt, wie im Industriedom von Deluge eine der hochhausgroßen, unitallverkleideten Maschinen plötzlich transparent wurde und vorübergehend Einblick in ihr Innenleben und den darin stattfindenden Produktionsprozeß gewährte. Dennoch wollte er bei dem Sensorium immer noch nicht an M-Technik glauben. Das Gerät sah auch allein vom Design her nicht danach aus. Er schloß die Augen und rief sich das, was der Chip ihm gezeigt hatte, in Erinnerung. Es war, als wäre er tatsächlich selbst an diesem Strand gewesen. Das faszinierte ihn. Die Eindrücke waren unglaublich realistisch. Bild, Ton, Gerüche... beinahe das gesamte Wahmehmungsspektrum wurde hier abgedeckt. Stranger war durchaus begeistert. Es reizte ihn, diese Urlaubssituation weiter auszukosten. Er glaubte, einige hundert Meter weiter im Landesinneren ein kleines Lokal gesehen zu haben. Vielleicht gab es da etwas zu essen und zu trinken. Er war gespannt auf diese Darstellung, setzte das Gerät wieder auf und schaltete es ein. Ein wenig ärgerte es ihn, daß die Wiedergabe nicht an dem Punkt
ansetzte, an welchem er abgebrochen hatte. Es begann wieder ganz von vom. Aber dann gelangte er wieder an die Stelle von vorhin. Er wollte zu dem kleinen Lokal gehen. Das funktionierte nicht. Das Sensorium, genauer gesagt der Chip darin, schrieb ihm einen anderen Weg vor. Dabei geriet er in eine Gruppe junger Mädchen, die winzige String-Tangas trugen oder sogar darauf noch verzichteten, und die ihn heiter anlächelten, auch ansprachen, und er hörte seine eigene Stimme antworten, nur gehörten die Worte nicht zu seiner normalen Diktion. Er berührte eines der Mädchen, und es schmiegte sich an ihn, aber dann lösten sich die Strandschönheiten von ihm und liefen fröhlich lachend davon. Er rannte ihnen nach. Irgendwann erreichten sie bei dieser Verfolgungsjagd auf einem Umweg doch noch das kleine Lokal, aber alle Plätze waren besetzt. Im nächsten Moment brach der »Film« ab. Stranger keuchte. Das war mehr als der einstige Cyberspace, der am Anfang des Jahrhunderts Furore machte, um dann irgendwann in seiner Weiterentwicklung zu stagnieren und fast wieder in Vergessenheit zu geraten. Das hier war einfach perfekt. So perfekt, daß er sogar seine eigene Stimme erkannt hatte, als das Programm vorgab, daß den Mädchen geantwortet wurde. Stranger nahm das Sensorium wieder ab. Eine Diode blinkte und zeigte an, daß der Chip sein Programm abgespult hatte und ausgetauscht oder neu gestartet werden wollte. Der Reporter setzte einen anderen Chip ein und probierte es erneut. Von einem Moment zum anderen befand er sich mitten m einer wilden Raumschlacht! Er saß in der Zentrale eines Kugelraumers im Kommandantensessel. Vor ihm das große Steuerpult, rechts und links von ihm Offiziere der Terranischen Flotte. Die Kontrolleuchten flackerten, am Suprasensor gab es etwas Hektik. Der Raumer wurde durchgeschüttelt. Die großen Bildschirme zeigten feindliche Raumer in der typischen Falschfarbenprojektion, die bei taktischen Manövern angezeigt wurde. Ein neuer Schlag erschütterte den Kugelraumer, aber diesmal lag es daran, daß das Schiff selbst feuerte. »Treffer«, meldete die Ortung. »Ratekisches Schiff im senkrechten Triebwerkswulst getroffen.« Wieder rummste es. »Schutzschirm auf 23 Prozent«, meldete der Offizier
rechts neben Stranger. »Ausweichmanöver über Rot«, hörte Stranger sich sagen. Der Pilot ließ seine Hände über die Steuerschalter wirbeln. Die Andruckausgleicher im Schiff brüllten auf. Die Bildschirmanzeige änderte sich. Plötzlich tauchte ein weiteres Feindsymbol auf. »Strukturerschütterung! Zweiter Ratekenraumer aus dem Hyperraum ins Normalkontinuum eingebrochen! Eröffnet Feuer!« Der Kugelraumer taumelte. »Schutzschirm auf Null! Notenergie auf Schirmfeldprojektoren!« hörte Stranger jemanden rufen. »Gehe auf Fluchtgeschwindigkeit! Nottransition vorbereiten«, hörte er sich befehlen. »Nicht genug Energiereserven für Transitionstriebwerk, Schutzschirm und Waffen«, kam es aus dem Maschinenraum. Weitere Treffer schlugen ein. »Schwere Schäden im oberen Polbereich und im Triebwerkssektor. Eingeschränkte Manövrierfähigkeit!« »Fliegen Sie zwischen den beiden Räumern hindurch«, befahl Stranger. »Aber, Sir...« »Tun Sie, was ich sage!« herrschte er den Piloten an. Wieder krachte es. Funken sprühten über die Steuerkonsole. Ein kleinerer Bildschirm platzte jäh. »Verlieren Hilfsenergie! Hüllenbruch in Decks 15 bis 23. Strukturelle Integrität des Schiffes gefährdet!« Falsche Serie, dachte Stranger unwillkürlich, der sich durch diese Terminologie an eine TV-Serie des vergangenen Jahrhunderts erinnert fühlte. In der TF waren diese Formulierungen jedenfalls nicht üblich. »Lebenserhaltungssysteme abschalten. Keine Energie auf Waffen und Schutzschirme, alles auf Antrieb«, befahl er. »Sir...« »Machen Sie schon, oder wollen Sie sterben?« Der Kugelraumer beschleunigte. Er raste zwischen den beiden Ratekenschiffen hindurch. »Nottransition!« Noch während der Kugelraumer mit eigentlich viel zu niedriger Ausgangsgeschwindigkeit in den Hyperraum wechselte, sah er, wie die beiden Ratekenschiffe gleichzeitig aus allen Strahlantennen das Feuer eröffneten. Aber ihre Kampfstrahlen huschten bereits durchs Nichts. Sie konnten die
Moleküle des Kugelraumers nicht mehr zerreißen, weil das Schiff sich bereits in der Übergangsphase befand und de facto schon nicht mehr zum Normalkontinuum gehörte. Statt dessen erfaßten sie sich gegenseitig. Das letzte, was Bert Stranger sah, waren zwei gewaltige Explosionen. Der Kugelraumer stürzte wieder aus dem Hyperraum zurück. Die Energie hatte nicht gereicht, die Nottransition erfolgreich durchzuführen. Wenn es eine Versetzung gegeben hatte, dann höchstens um ein paar hunderttausend Kilometer. Die Bildschirme zeigten die beiden Feuerkugeln, die einmal ratekische Raumschiffe gewesen waren. Sie bedeuteten keine Gefahr mehr für das schwer angeschlagene Schiff der TF. »Schadensmeldungen«, verlangte Stranger. Und der »Film« brach ab. Er riß sich das Sensorium vom Kopf. »Verdammt!« Seine Verwünschung galt nicht der Tatsache, daß er so jäh aus dem »Film« gerissen worden war, sondern dieser: Woher hatten jene, die dieses Szenario geschaffen hatte, die exakten Kenntnisse über das Innere der Zentrale eines Kampfraumers? Es war einfach zu perfekt! Und unglaublich eindrucksvoll. Selbst das Knistern der Funken auf der Konsole... Stranger hatte persönlich noch kein Raumgefecht an Bord eines Kugelraumers erlebt, schon gar nicht als Kommandant, aber er hatte eine recht klare Vorstellung von diesen Dingen. Seine bisherigen Erfahrungen reichten dafür aus. Alles stimmte perfekt! Sein Mund war trocken geworden. Er orderte beim Servo ein kühles Bier und löschte seinen Durst. Dann überlegte er, ob er sich noch fit genug fühlte für den dritten Chip - und entschied sich dafür. Er erlebte ein Jett-Rennen, wie es dramatischer nicht sein konnte. Er sah, wie andere Schnellschweber aus der Bahn flogen, bei Kursänderungen miteinander kollidierten, sah die grellen Blitze, mit denen sie auseinanderplatzten. Er nahm die ständigen Warnmeldungen des Kontrollsystems seines Jetts wahr, das permanent Überlastungen signalisierte. Aber Stranger ignorierte die Warnungen und raste schließlich als erster durchs Ziel. Er landete den Jett auf die brutalste Art, indem er den Boden des Schwebers als Bremse benutzte. Metall kreischte und verformte sich kalt, Kunststoff brach. Alarmsignale gellten
durch die Kanzel der Rennmaschine. Stranger stieß die Cockpitluke auf und schnellte sich nach draußen. Er begann zu laufen... und hinter ihm flog der Jett in einer brüllenden Explosion auseinander. Aber er hatte das Rennen gewonnen! Als die Wiedergabe des Chips endete, fühlte er sich gestreßt. Er brauchte eine Weile, um wieder zur Ruhe zu kommen. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, und er war hypemervös. Verdammt, es war alles so echt! Das war nicht nur Holographie. Das war viel mehr. Das war das Eintauchen mit Augen und Ohren in eine virtuelle Welt, wie sie perfekter kaum dargestellt werden konnte. Stranger betrachtete seine Finger und erwartete tatsächlich, Brandflecken zu sehen, wo ®r schmelzende Steuerschalter berührt hatte, um auch noch das Allerletzte aus der völlig überlasteten und teilweise schon glühenden Maschine herauszuholen. Er atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Die beiden letzten »Filme« hatten ihn mit ihrem Tempo und ihrer Spannung stark gefordert. Er war nicht sicher, ob er sie sich ein zweites Mal antun wollte. Es gab sicher genug junge Leute, die sich daraus ihren Kick holten, aber für den 2030 geborenen Reporter war das nichts mehr, auch wenn er sich noch längst nicht zum »alten Eisen« zählte. Seinen Kick holte er sich aus seinen Reportagen, die ihn oft genug in haarsträubend lebensgefährliche Situationen brachten. Er ging keinem Risiko aus dem Weg. Nur so konnte er Erfolg haben und blieb nicht in der zweiten oder dritten Reihe stehen. »Okay... ein bißchen friedlicher wollen wir's nun aber schon ausklingen lassen«, murmelte er und legte diesmal den Aufzeichnungschip ein. Während der Aufzeichnung bewegte er sich tatsächlich durch seine Wohnung. Er konnte durch das eigentlich schwarze Gerät wieder normal sehen. Der Bedienungsanleitung zufolge nahm das Sensorium genau das auf, was er selbst sah. Das verführte ihn zu einer waghalsigen Schlußfolgerung, was die Raumschlacht anging: Sollte man einen Kommandanten der TF dazu gebracht haben, während eines Einsatzes ein Sensorium zu tragen und den Verlauf des Kampfes gegen zwei Rateken-schiffe aufzuzeichnen? Allerdings war Bert Stranger nichts davon bekannt, daß es in den letzten zwei Jahren zu einem neuerlichen Zusammenstoß mit Rateken gekommen wäre. Und er hörte immerhin das sprichwörtliche Gras wachsen! Die Sache wurde ihm immer rätselhafter. Bei dem Strandszenario war ja
noch leicht nachzuvollziehen, wie es zustande kam, notfalls auch noch bei dem Jett-Rennen. Möglicherweise hatte ein solches Rennen in letzter Zeit tatsächlich stattgefunden. Bert hatte sich für solche motorsportlichen Dinge nie sonderlich interessiert, aber er beschloß, mal bei den Kollegen nachzufragen. Aber die Raumschlacht gab ihm zu denken! Sie war so unglaublich realistisch... Stranger bereitete sich einen kleinen Imbiß zu, während der Sensorium-Chip alles aufnahm, was er tat - aus seiner eigenen Beobachterperspektive heraus, wie er anschließend feststellen konnte, als er die Aufnahme wieder abrief. Zum zweiten Mal sah er sich durch die Wohnung gehen, in die kleine Küche, sah sich darin agieren. Einige Male übte er dabei Kritik an seinen eigenen Handlungen, weil sie in der gezeigten Folge ein wenig unlogisch waren. Er hätte bei der Imbißzubereitung wesentlich effizienter arbeiten können... Schließlich schaltete er das Gerät endgültig ab und legte es zur Seite. Er war beeindruckt. Er beschloß, morgen mit seinem Ressortchef darüber zu reden. Maik Caroon, Ressortchef für Aktuelles, Sensationen und Innenpolitik und mit dem Spitznamen »Toppy Secret« bedacht, kam ihm zuvor und zitierte seinen Starreporter ins Allerheiligste. Er wedelte mit einem Beleg. »Stranger, sind Sie wahnsinnig geworden? Was denken Sie sich dabei. Ihr Privatvergnügen von der Terra-Press finanzieren zu lassen? Da - sechstausenddreihundert Dollar und ein paar Zerquetschte! Ohne Antrag, ohne Genehmigung! Für ein >Sensorium< - sind Sie irre, Mann?« Er starrte Bert wütend an, als wolle er gleich mit ihm Fußball spielen und ihn ins gegnerische Tor schießen. Was vom Vergleich her durchaus nahelag; Stranger besaß eine etwas unglücklich aus den Fugen geratene Figur, war entschieden zu klein für sein Gewicht und besaß darüber hinaus einen annähernd kugelförmigen Kopf, der von einer strohdünnen, rötlichen Haarpracht verunziert wurde. Das Faszinierendste an ihm war sein Gesicht, das dem eines zufriedenen, satten Babys ähnelte mit seinen großen, immer irgendwie staunend strahlenden großen Augen. Der Reporter ließ sich in den Sessel vor Caroons Schreibtisch fallen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Regen Sie sich nicht auf wegen dieser lumpigen paar Dollars«, sagte er. »Stranger, wer hat Ihnen erlaubt, sich zu setzen?« bellte Caroon.
»Muß ich drüber nachdenken«, konterte Stranger. »Vielleicht war's der Geist der harmonischen Verständigung...« »Verschonen Sie mich mit Ihren Geistern!« brüllte Caroon. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Verdammt noch mal, Bert, Sie wissen genau, daß ich Ihnen immer jede nötige Unterstützung gebe, auch wenn's zwischendurch mal wieder Unsummen kostet, weil irgendein windiger GSO-Agent Ihnen die Richtmikrofone zerbröselt oder ich teure Anwälte bezahlen muß, weil Sie mal wieder angeeckt oder verhaftet worden sind. Aber wir haben Spielregeln, und die lauten: privat ist privat und Dienst ist Dienst!« »Weiß ich doch, Chef«, brummte Stranger und zeigte sein strahlendstes Lächeln, nur konnte er Maik Caroon damit nicht beeindrucken. »Und weshalb haben Sie dann mit Ihrer TP-Kreditkarte dieses Dingsbums, diesen Mist... Sensorium oder was auch immer... gekauft? Für ein solches Schweinegeld?« »Weil das eine Schweinestory wird«, konterte Stranger gelassen. »Trauen Sie meiner Nase nicht mehr?« »Story?« konterte Caroon. »Was soll daran eine Story sein, wenn irgendeine obskure Firma ein völlig überteuertes Lifestyle-Spielzeug auf den Markt wirft?« »Sie halten das wirklich für ein Spielzeug, Maik?« »Ich habe die Werbung gesehen. Das reicht mir.« »Und ich habe dieses Gerät ausprobiert. Es ist einfach fantastisch. Man kann vorgegebene Szenarien nacherleben, man kann auch selbst Erlebnisse aufzeichnen und sich immer wieder darin verlieren. Wie's aussieht, werden die Eindrücke direkt ins Gehirn projiziert. Das ist ein absolutes Novum, eine unglaubliche Sache. Ich halte das Sensorium für das Medium der Zukunft, weit besser als Holographie.« »Sie lehnen sich da ziemlich weit aus dem Fenster«, meinte Caroon. Stranger zuckte mit den Schultern. »Allerdings gaben mir die vorgefertigten Szenarien ein wenig zu denken. Da stimmt was nicht.« »Wie meinen Sie das?« Er hat angebissen, stellte Stranger fest. Er schilderte seine Eindrücke und Überlegungen. Caroon lehnte sich zurück, hörte zu und dachte nach. »Sie haben Ihre Story, Bert«, sagte er schließlich. »Trotzdem hätten Sie vorher zu mir kommen müssen. Sie können nicht einfach auf Rechnung der Terra-Press eigenmächtig irgendwelche Käufe tätigen.« »Sie hätten abgelehnt«, sagte Stranger. »Weil ich zu dem Zeitpunkt noch
nicht mit entsprechenden Begründungen hätte auffahren können, mangels eigener Erfahrung.« Toppy Secret verzog das Gesicht. »Spielen Sie jetzt bloß nicht den Schlaumeier, Stranger«, grummelte er. »Sie hätten aus eigener Tasche vorlegen können, um später das Geld anzufordern.« »Für wie dämlich halten Sie mich, Chef?« wollte Stranger launig wissen. »So unendlich viel verdient ein kleiner Reporter wie ich bei der TerraPress nun auch wieder nicht. Der Kauf hätte mein Konto über den Dispo hinaus belastet und ich hätte Ärger mit meiner Bank bekommen. Und Sollzinsen gelöhnt, bis endlich der Ausgleich von Terra-Press gekommen wäre. Und wie lange es dauert, bis unsere Buchhaltung mal einen Auftrag bearbeitet, wissen Sie doch selbst am besten!« »Wollen Sie mehr Geld?« »War' nicht die schlechteste Ihrer Ideen, Chef«, grinste Stranger. »Dann wechseln Sie zu Intermedia. Die zahlen ein paar Cent mehr, vor allem für Klatschgeschichten über und Kampagnen gegen Ren Dhark.« »Nicht mein Stil, Maik«, winkte Stranger ab und erhob sich. »Das Sensorium ist also meine Story?« »Warum fragen Sie noch so blöd? Finden Sie mehr über dieses Spielzeug heraus. Wer hat es entwickelt, wie, warum und so weiter.« »Nichts anderes habe ich vor«, grinste Stranger, erhob sich und strebte die Bürotür an. »Eines möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben«, rief Caroon ihm nach. »Die Firma, die das Sensorium produziert und auch das Patent hält, nennt sich nach dem Gerät > Sensorium Incor-porated< und ist eine anonyme Kapitalgesellschaft.« »Woher wissen Sie das?« fragte Stranger verblüfft. »Das ist top secret«, verabschiedete ihn Toppy Secret und machte seinem Spitznamen wieder mal alle Ehre. Maik Caroon sah noch eine Weile auf die Tür, die Bert Stranger hinter sich geschlossen hatte. Kurz bevor der Reporter sein Büro betreten hatte, hatte Caroon eine Besprechung mit Sam Patterson gehabt, der »obersten Heeresleitung« von Terra-Press. Darin war ihm vom Oberboß klargemacht worden, daß er Stranger auf die Firma Sensorium Inc. ansetzen sollte, weil diese journalistische Kampfkugel die besten Voraussetzungen besaß, mehr über die Hintergründe herauszufinden. Deshalb war der Anschiß, den er seinem besten Mann eben wegen des
Kaufes verpaßt hatte, reine Makulatur. So etwas gehörte zu den internen Spielregeln... Ebenso hatte Patterson Caroon klargemacht, daß es wichtig war, so viel wie möglich über die Sensorium-Technik herauszufinden, da Terra-Press beabsichtigte, sich daran zu beteiligen, um von dem zu erwartenden Boom zu profitieren. Nicht nur Bert Stranger hielt das Sensorium für das Medium der Zukunft! Gisol, der Mysterious, trat nach wie vor in der Öffentlichkeit nur in seiner Jim-Smith-Gestalt auf, an der er besonderen Gefallen gefunden zu haben schien, denn er verfügte doch über noch mehrere Tarnidentitäten, in denen er sich nach seiner Ankunft in der Milchstraße auf verschiedenen Planeten herumgetrieben hatte, um Informationen zu sammeln. Seine wahre Natur kannten bislang nur Ren Dhark, sein Freund Dan Riker sowie das elfjährige Mädchen Juanita Gonzales und der weibliche Cyborg Amy Stewart. Die Mysterious, die sich selbst »Worgun« nannten - was soviel bedeutete wie die »Lebenden« -waren ein Volk von Gestaltwandlern. Das heißt, sie hatten die vollkommene Kontrolle über ihre Körperzellen und konnten jedwede Gestalt annehmen. Ihre »normale« Gestalt war die einer unförmigen Amöbe, die sich auf laufend wechselnden Pseudopodien fortbewegte. Dabei waren sie natürlich alles andere als Amöben, einzellige Geschöpfe. Sie waren eingeschlechtliche Lebewesen mit einer Zellmasse, die ein Gewicht von durchschnittlich 100 Kilo auf die Waage brachte. Diese Masse konnten sie nicht verändern, egal, ob sie als Gestaltwandler kleinere oder größere Wesen nachahmten. Nach »unten« waren ihnen dabei Grenzen gesetzt, bei deren Überschreiten sie sich im größten Notfall unter Schmerzen von Teilen ihrer Körpermasse trennen und sich so verkleinern konnten, aber danach mußten sie diese Masse in einer langwierigen Prozedur wieder nachwachsen lassen. Bis zu einem gewissen Grad konnten sie ihre Masse allerdings komprimieren und so wie ein Mann von 60 oder 70 Kilo wirken, wenn sie Menschen nachbildeten. Nach »oben« war es einfacher; sie konnten eine dünne Hülle erschaffen und so den Eindruck eines wesentlich größeren Wesens erzeugen. Als Jim Smith brauchte der Worgun Gisol keine zu großen Umstände betreiben. Er war ein hochgewachsener, muskulös-kräftiger
Terraner mittleren Alters, etwa 100 Kilo schwer, mit dunklem Haar. So hatte ihn Juanita kennengelernt, und dieses Aussehen behielt er nun bei. Vielleicht eben wegen dieses Mädchens, das sich heimlich in sein Worgunherz geschlichen hatte? Er hatte die Waise in den Slums von Rio de Janeiro aufgegriffen, weil sie über eine verblüffende Parafähigkeit verfügte. Sie konnte sich und andere unsichtbar machen! Natürlich war das keine echte Unsichtbarkeit. Eher eine HyperUnauffälligkeit: Sie wurde von anderen gar nicht mehr wahrgenommen. Gisol alias Smith war das zugute gekommen, als er auf Terra und später auf Hope Informationen sammelte und dabei bemüht sein mußte, sich vor der Galaktischen Sicherheitsorganisation, der GSO, zu verbergen. Anfangs war Juanita für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen. Aber sie brachte ihm ein geradezu umfassendes Vertrauen entgegen, eine Zuneigung, als sei er so etwas wie ihr Ersatzvater. So hatten sie sich aneinander gewöhnt, und Gisol war mittlerweile bereit, ihr fast jeden Wunsch zu erfüllen. Den Wunsch, sich im Regierungsgebäude umzusehen, allerdmgs nicht. Das Zentrum des expandierenden terranischen Einflußbereichs in der Milchstraße blieb für sie tabu. Schon allein aus Sicherheitsgründen; ins »Allerheiligste« Terras konnten nur Menschen vordringen, die über spezielle Legitimationen verfügten oder Bert Stranger hießen, der vor Jahren der GSO vorgeführt hatte, wie wenig ihre Sicherheitssysteme wert waren, wenn hochtechnisierte Terroristen wie die Robonen es darauf anlegten, diese Systeme zu knacken. Dhark und Gisol wurden überprüft. Dharks Gehirnstrommuster war bekannt; das von Gisol mußte erst eingelesen und gespeichert werden, wobei der Commander der Planeten für den Mysterious bürgte, von dem noch niemand ahnte, daß er kein Mensch war, sondern etwas unglaublich Fremdes aus einer anderen Galaxis. Sicherheitsbeamte begleiteten das Duo dennoch auf dem Weg durch das Regierungsgebäude, diesen hochaufragenden Betonblock mit seinen weit über 40 Etagen, in dessen höchsten Stockwerken die terranische Stemverwaltung angesiedelt war. Dhark ignorierte sein eigenes Büro. Er suchte das seines Stellvertreters auf. Henner Trawisheim, bisher einziger Cyborg auf geistiger Basis und damit ein Mensch, dessen IQ ebenso wie sein Gedächtnis von Echri Ezbals Experten im Brana-Tal enorm aufgestockt worden war, erhob
sich hinter seinem Schreibtisch, als der Commander der Planeten in Begleitung Gisols eintrat. »Nett, daß Sie sich auch mal wieder herablassen, dem Regierungsgebäude einen Besuch abzustatten, Commander«, sagte Trawisheim ironisch. »Es gibt mittlerweile Leute, die schon gar nicht mehr wissen, wie Sie aussehen, und einige, die Sie für eine längst verstorbene Legende halten.« Er wandte sich dem Worgun zu. »Sie sind Jim Smith, nicht wahr? Wie ich erfuhr, hat die GSO die Fahndung nach Ihnen eingestellt. Nehmen Sie bitte Platz.« Er schüttelte Dhark kurz, aber herzlich die Hand. Ren nahm ihm die Begrüßungsworte nicht übel. Ihm war selbst klar, daß er sich in den letzten Jahren viel zu wenig auf Terra aufgehalten hatte. Seine Repräsentationspflichten als Staatschef hatte er stark vernachlässigt und alles seinem Vize Trawisheim überlassen, während er selbst dem Rätsel der Mysterious nachgejagt war, von Stern zu Stern, seit damals, als plötzlich die Robotflotte der Geheimnisvollen im Sol-System auftauchte und sich bemühte, Terra zu vernichten. Nach der Abwehr der Invasion folgten die Entdeckung der Stemenbrücke, die Konfrontation mit dem Telin-Imperium, dann die Galaxis Drakhon... es war eine nicht endenwollende Kette von Entdeckungen und Abenteuern, nur sporadisch unterbrochen von Aufenthalten auf Terra, die jeweils kaum mehr als ein Zwischenstop waren. Aber Dhark hatte sich nie danach gedrängt, Regierungschef zu werden. Sein verstorbener Vater Sam Dhark, der den Kolonistenraumer GALAXIS nach Hope geflogen hatte, um noch vor der Landung an einer rätselhaften Krankheit zu sterben, hatte starke Ambitionen gezeigt, in die Politik einzusteigen. Ren dagegen war in die Führungsrolle hineingedrängt worden, ohne es zu wollen. Er hatte sie akzeptiert, um zu verhindern, daß Figuren wie einst Rocco auf Hope oder später Norman Dewitt auf Terra die Macht an sich rissen. »Wer mich zum Präsidenten wählt, sollte wissen, daß ich ein Sternzigeuner bin«, hatte er damals gesagt, als er 2053 aufgefordert wurde, sich zur Wahl zu stellen. Gut, sie hatten ihn dann 2054 nicht zum Präsidenten, sondern zum »Commander der Planeten« gemacht, was im Grunde nichts anderes als eine andere Bezeichnung für das gleiche Amt war. Und er hatte seine Wähler zumindest in dieser Hinsicht nicht enttäuscht - er war ein Sternzigeuner geblieben, den es in die Weltraumtiefen hinaus trieb, um die »final frontier«, die letzte Grenze
des terranischen Einflußbereichs, immer weiter nach »draußen« zu verschieben. Das aber eher ungewollt; er war der Forschertyp, nicht der Eroberer. »Henner, vermutlich wundern Sie sich, weshalb Mister Smith mich begleitet«, sagte Ren. Trawisheim schüttelte den Kopf. »Im Zusammenhang mit Ihnen wundert mich überhaupt nichts mehr«, sagte er. »Ich würde nicht mal staunen, wenn Sie in Begleitung einer menschengroßen Kakerlake auftauchten und behaupteten, das sei der Botschafter des Planeten Wropprwrcek. Warum soll ich mich dann wundern, wenn Sie den Datendieb Smith mitbringen?« Gisol wechselte einen kurzen Blick mit Ren. Der grinste plötzlich wie ein Honigkuchenpferd. Trawisheim zuckte zusammen. Als sein Blick von Dhark zu Smith wechselte, sah er einen Menschen, der einen überdimensionalen Kakerlakenkopf auf den Schultern trug, und aus dessen Jakkenärmeln insektenhafte Greifglieder hervorragten. Trawisheim sprang auf. Seine Hand befand sich in gefährlicher Nähe des Alarmschalters vor ihm unter der Schreibtischplatte. »Das -das...« Der Insektenköpfige sprach. »Der arme alte Kakerlak Ist traurig, weil ihn keiner mag. Auch nicht die Medizinstudönten, Die ihm doch sicher helfen könnten. Selbst Nachbars Katze faucht ihn an Da faßt er 'nen verwegenen Plan: Er transmutiert zur Weihnachtsgans. Jetzt mag ihn sogar Nachbars Franz.« Übergangslos veränderte sich der Insektenkopf zu dem einer Mastgans um anschließend wieder menschlich zu werden. Aus den vernachlässigten Insektengreifgliedern wurden wieder normale Hände. »Verzeihung, Gentlemen«, sagte Smith. »Aber diesen Knüttelvers habe ich von Senorita Juanita Gonzales gelernt.« »Was ist das für ein verdammter billiger Taschenspielertrick?« entfuhr es Trawisheim. »Was soll dieser Zauberzirkus?« »Das ist kein Taschenspielertrick, Henner«, sagte Ren Dhark. »Was Sie gerade gesehen haben, war absolut echt. Jim Smith kann sein Aussehen ganz nach Belieben verändern. Und er kann noch ein wenig mehr.« »Nur eines kann ich nicht«, sagte der. »Ein Mensch sein. Denn ich bin
ein Worgun. Mein richtiger Name ist Gisol.« »Worgun?« fragte Trawisheim. »Was bedeutet das?« »Ihr Terraner«, sagte Gisol, »bezeichnet mein Volk als die My-sterious.« Langsam sank Trawisheim in seinen A-Gravsessel zurück. Selbst sein Cyborgverstand brauchte seine Zeit, mit der Überraschung zurechtzukommen. Der weißblonde Commander der Planeten schmunzelte. »Genau so dämlich wie Sie jetzt habe ich aus der Wäsche geschaut, als Gi-sol mir sein Geheimnis preisgab. Es war, als wir das Zentrums-Black Hole umpolten und Drakhon zurück in sein eigenes Universum katapultierten. Ohne Gisols Eingreifen wäre es uns möglicherweise nicht gelungen, die durchdrehenden Rahim wieder in den Griff zu bekommen.« »Davon haben Sie bisher in Ihrem Bericht nichts erwähnt«, murmelte Trawisheim. »Es war bislang auch nur ein Kurzbericht«, gestand Dhark. »Den ausführlichen erhalten Sie und die GSO. Den Rest braucht noch niemand zu wissen. Ich möchte nicht, daß die Gerüchteküche angeheizt wird und die Medien wieder mal ausflippen.« Trawisheim nickte ganz langsam. Er ließ den Blick nicht von dem Worgun. »Sie haben es also geschafft, Ren«, flüsterte er. »Sie sind am Ziel Ihrer Suche. Sie haben tatsächlich die Mysterious gefunden. Ich habe es nie für möglich gehalten. Die Chancen standen eins zu eine Milliarde gegen Sie, höchstens. Ein Volk, das vor tausend Jahren auf dem Höhepunkt seiner Macht von einem Moment zum anderen aus der Milchstraße verschwand, ohne auch nur den geringsten Hinweis zu hinterlassen... nein. Und ich kann es immer noch nicht richtig glauben. Ren, haben Sie die Salter schon vergessen, die Sie und wir alle anfangs auch für die Mysterious gehalten haben? Sind Sie sicher, daß dieser Metamorph Sie nicht düpiert, wie die Salter es getan haben?« Gisol blieb ruhig und schwieg. »Bei den Saltern hatten die Shirs ihre Hypno-Finger im Spiel«, wehrte der Commander ab. »Aber die Shirs sind mit Drakhon aus unserem Kontinuum verschwunden. Nein, Henner, diesmal stimmt alles. Sie haben das Raumschiff nicht gesehen, das Gisol fliegt. Ich war an Bord.« »Schön«, raffte Trawisheim sich auf. »Gehen wir mal davon aus, daß Mister Gisol, oder wie auch immer er wirklich heißt, ein Mysterious ist - ein Worgun, sagten Sie, Gisol? Daß er nicht einfach ein
Abenteurer und Taschenspieler ist, der einen Ringraumer gefunden hat und dessen Technik nutzt, so wie Sie auf Hope den Industriedom und die POINT OF fanden, Ren. Was folgt nun für uns daraus? Kehren die Mysterious zurück? Ist Gisol ihr Vorbote? Wollen sie ihre Planeten und Stützpunkte wieder in Besitz nehmen? Welten, die längst von uns oder auch von den Tel übernommen worden sind?« »Ja«, sagte Gisol. »Natürlich wollen wir das.« Trawisheim sah ihn an. »Wir geben diese Planeten aber nicht wieder her. Allein Babylon ist mittlerweile von Millionen Terra-nem besiedelt worden und...« »Ich weiß«, sagte Gisol. »Ich war dort. Ich nannte mich John Brown.« »Und?« fragte Trawisheim. »Werden Sie unsere Besiedelung akzeptieren, oder haben wir in Kürze mit riesigen Geschwadern von Ringraumem zu rechnen, die unsere Schiffe zu Staub zerblasen?« Gisol lächelte. , »Rechnen Sie mit gut fünf Millionen S-Kreuzem und einigen Dutzend Trägerschlachtschiffen, von denen eines reicht, ein ganzes Sonnensystem wie Ihres innerhalb einiger Sekunden vollständig in eine stellare Gaswolke zu verwandeln.« Trawisheim sah Dhark an. »Das meint der doch nicht wirklich ernst?« fragte er unnatürlich ruhig; er hatte sein Cyborg-Pro-grammgehim in den Aktivzustand versetzt, das Emotionen unterband. Dhark verdrehte die Augen. »Vor tausend Ihrer Jahre«, sagte Gisol, »hätten Sie von einem Vertreter meines Volkes genau diese Antwort erhalten, die ich Ihnen eben gab, Mister Trawisheim. Aber viel Zeit verging, selbst für ein langlebiges Volk wie uns. Wir sind längst nicht mehr die Herren des Universums, und ich bin nicht als Vorbote einer Invasionsflotte hier. Ich komme als Bittsteller. Ich wiederhole, worum ich den Commander bei unserer ersten Begegnung im Zentrum dieser Galaxis bat: Helft uns!« Trawisheim, der eben noch behauptet hatte, sich über nichts mehr zu wundern, was mit Ren Dhark zu tun hatte, geriet nun doch ins Staunen, als Gisol ihn über die fatale Lage der Myste-rious in Kenntnis setzte. Die Worgun blickten auf eine kontinuierliche Geschichte von rund 1,5 Millionen Jahren zurück. Seit etwa einer Million Jahre befuhren sie das All. Ihre Heimat lag in der Galaxis Orn im Sculptor-Haufen. Orn war
etwas größer als die Milchstraße und lange Zeit absolutes Herrschaftsgebiet der Worgun gewesen. Vor etwa 500 000 Jahren drangen sie in den benachbarten Stemenhau-fen vor, unsere lokale Gruppe. Vor etwa 2000 Jahren trat ein neues, dynamisches Volk auf die galaktische Bühne von Om: die insektenhaften Zyzzkt. Sie bauten sich rasch ein eigenes Sternenreich auf, was in den galaktischen Weiten von Orn kein Problem darstellte. Doch sie suchten die Konfrontation mit den von ihnen als überheblich empfundenen Worgun, die ihnen keine der von ihnen schon erschlossenen Planeten zu Verfügung stellen wollten. Die Zyzzkt aber hatten und haben wegen ihrer hohen Vermehrungsrate einen großen Platzbedarf. Es kam zu ersten Auseinandersetzungen. Die Zyzzkt kamen auf den Spuren der Worgun auch in die Milchstraße, wo sie auf die Grakos trafen. Die beiden Insektenvölker verbündeten sich, die Zyzzkt versprachen den Grakos die Herrschaft über die Milchstraße, wenn sie ihnen im Kampf gegen die Worgun halfen. Die Grakos bauten mit Hilfe der Zyzzkt Stützpunkte im Hyperraum auf, in denen sie für Worgun und Salter unerreichbar waren. Unter dessen Strahlung verwandelten sie sich langsam und wurden teilweiser Bestandteil des Hyperraums. Um ihre schweren Angriffe endlich abzustellen, manipulierten die Worgun das gigantische Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße. Die verstärkte Gravitationswirkung des Schwarzen Überlochs riß die Stationen der Grakos aus dem Hyperraum und machte sie so angreifbar. Die Grakos wurden vernichtend geschlagen, ihre Überlebenden flohen in die Weltraumtiefen. Aber die Manipulation der Gravitationskräfte hatte weitere, unvorhergesehene Folgen: Die Worgun Margun und Sola rechneten anhand verschiedener Phänomene, die angemessen wurden, aus, daß eine Galaxis aus einem anderen Kontinuum - Drakhon - in unseres gerissen und den Untergang der Milchstraße herbeiführen würde. Die Worgun wollten aus der Milchstraße fliehen, mußten aber zu ihrem Schrecken feststellen, daß ihre Raumschiffe das ebenfalls durch die Manipulation des Schwarzen Überlochs entstandene Exspect nicht überwinden konnten. Aber bald stellte sich heraus, daß zehn Ringraumer, gekoppelt zu einem »Tunnel« - also aufeinandergestapelt - mit ihren Intervallfeldern eine Art Düseneffekt erzeugten, mit dem das Exspect durchstoßen werden konnten. So verschwanden die Mysterious vor 1000 Jahren. Und weil sie
glaubten, daß alle Humanoiden in der Milchstraße zum Untergang verdammt waren, nannten sie sie »die Verdammten«. Sie mittels einer Evakuierung zu retten, kam ihnen nie in den Sinn, denn die Worgun waren auch arrogant -damals zumindest. Inzwischen hatten die Zyzzkt eine Waffe gegen das Intervallum entwickelt und schlugen die Worgun schließlich deshalb entscheidend, weil sie einfach Verluste ob ihrer hohen Vermehrungsrate besser verkraften konnten. Masse schlug Klasse! Das war vor rund 900 Jahren. Die überlebenden Worgun wurden auf ihrem Ursprungsplaneten Epoy eingepfercht und mußten fortan als Vasallen der Zyzzkt vegetieren. Ihre Führungsschicht hatte man ausgerottet, ihre besten Forscher wurden regelmäßig in Zyzzkt-Dienste gepreßt, an die Spitze der Worgun kamen den Zyzzkt genehme zwielichtige Gestalten, und der Nachwuchs wurde einer Art Dauergehirnwäsche unterzogen, nach der die Worgun der Abschaum und die Zyzzkt die Retter des Universums waren. »Diese Situation dauert noch an«, schloß Gisol. »Ich gehöre zu den wenigen, die dagegen rebellieren. Ich bin hierher gekommen, um Hilfe zu erbitten.« Dhark nickte dazu. »Wir sind es den Mysterious schuldig«, sagte er. »Wir haben bislang stets von ihrer Technologie profitiert. Ohne die M-Technik wären die Siedler der Galaxis noch auf Hope, wäre Terra noch in der Gewalt der Giants, wäre niemand dazu gekommen, die Manipulation des Schwarzen Überlochs rückgängig zu machen und damit unsere beiden Galaxien, Milchstraße und Drakhon, vor dem Untergang zu retten... Henner, wir müssen etwas tun. Wir müssen eine Schuld zurückzahlen.« Trawisheim sah zwischen den beiden Personen hindurch. Er ahnte, daß Gisol nicht alles erzählt hatte, was es zu berichten gab. Aber er schwieg. [ »Ohne die M-Technik würden wir in ein paar Monaten alle im galaktischen Feuer verbrennen. Wir müssen denen helfen, die uns die Chance zum Überleben lieferten.« »Gisol sagte eben, daß die Worgun vor tausend Jahren nicht daran dachten, Menschen und andere Humanoiden mitzunehmen, als sie aus der Milchstraße flohen. Sie haben uns alle einfach im Stich gelassen. Chance zum Überleben, Ren? Wenn der >Time-Ef-fekt< Ihres Kolonistenraumers nicht versagt hätte und Sie planmäßig das DenebSystem erreicht hätten, statt auf Hope zu stranden, wäre das alles nie
geschehen. Und wir würden in dem von Ihnen so schön benannten galaktischen Feuer verbrennen, das von den Mysterious entzündet wurde. Nein, Commander, wir schulden den Worgun nichts. Daß ihre Technik uns eine Chance gab, bindet uns nicht. Es geschah unabsichtlich, rein zufällig.« Dhark beugte sich vor und wollte etwas sagen, aber sein Stellvertreter unterbrach ihn. »Ren, daß die Worgun unterdrückt werden, ist das, was uns Mister Gisol erzählt. Ob es wirklich stimmt, wissen wir nicht. Wir können es nicht nachprüfen. Die Galaxis Orn ist verdammt weit entfernt, um die zehn Millionen Lichtjahre, wenn mich nicht alles täuscht. Aber selbst, wenn Gisol uns die Wahrheit erzählt hat, was sollen wir tun? Uns mit einer Macht anlegen, die schon vor neunhundert Jahren mächtig genug war, die mächtigen Mysterious zu besiegen? Hören Sie auf. Das ist unsinnig. Wir haben die Ressourcen dafür einfach nicht. Sie blasen uns aus dem Kosmos, wenn wir uns mit ihnen anlegen. Falls es diese Macht tatsächlich gibt, tun wir sehr gut daran, uns vor ihr möglichst bedeckt zu halten!« »Wir dachten auch lange Zeit, die Grakos würden uns aus dem Kosmos blasen«, erinnerte Dhark. »Aber trotzdem sind wir mit ihnen fertiggeworden.« »Das ist etwas anderes«, widersprach Trawisheim. »Dieser Krieg fand in unserer Milchstraße statt. Wollen Sie eine Kampfflotte in eine andere Galaxis führen und dort Wildwest spielen?« Dhark erhob sich langsam. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Es war Gisol, der nach seinem Arm griff und den Commander mit unwiderstehlicher Kraft wieder zurück in den Schwebesessel drückte, ohne daß ihm auch nur ein Hauch von Anstrengung anzumerken war. »Keine Kampfflotte«, sagte Dhark. »Nur eine Erkundungsexpedition. Schon allein«, er zwinkerte seinem Stellvertreter zu, »um herauszufinden, ob Gisol uns nicht beschwindelt.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Eine kleine S-Kreuzerflotte, die mit meiner PO INT OF und Gi-sols EPOY nach Orn fliegt und dort nach dem Rechten sieht. Vorerst. Alles weitere zeigt sich dann später, wenn wir verläßliche Daten haben.« Trawisheim schüttelte den Kopf. »Dazu werde ich meine Zustimmung nicht geben«, sagte er. »Das ist auch gar nicht nötig«, sagte Dhark. »Ich bin der Com-
mander der Planeten. Ich ordne es an.« »Sie sind wahnsinnig«, entfuhr es Trawisheim. »Ich glaube. Sie sind nicht mehr bei Sinnen«, wiederholte er einige Sekunden später. »Sie haben den Blick für die Realität völlig verloren. Dhark, Terras Finanzlage ist angespannt wie nie zuvor, und wie Finanzminister Lamont immer noch wieder ein paar Cent aus dem Hut zaubert, um wenigstens das Notwendigste zu finanzieren, ist nicht nur mir unbegreiflich. Wenn Sie jetzt aber auch noch eine kostspielige intergalaktische Expedition ausrüsten wollen - verdammt, wer soll das bezahlen? Dafür ist einfach kein Geld da, Ren! Und«, er machte eine kurze Pause, »Sie scheinen vergessen zu haben, daß im November Wahlen anstehen.« »Und?« fragte Dhark. »Begreifen Sie nicht, Ren? Wenn Sie jetzt noch mal in den ohnehin leeren Geldtopf greifen, sind Sie weg vom Fenster. Die Opposition wird Sie schlachten.« , »Die Bevölkerung wird schätzen, daß sie dank unserer finanziellen Kraftanstrengung überleben kann, und sie wird auch begreifen, daß wir unsere Schuld zurückzahlen müssen - auch wenn es nicht die Absicht der Mysterious war, uns zu helfen, indem sie einen Haufen technischer Relikte zurückließen, als sie vor tausend Jahren verschwanden! Die Menschen...« »Die Menschen sind dumme Schafe, die hinter jedem herlaufen, der ihnen das Schlaraffenland verspricht. Und sie werden jeden verdammen, der ihnen das Geld aus der Tasche gezogen hat oder ziehen will. Das war immer so und wird auch immer so bleiben. Eine Wahl gewinnt man nicht, indem man auf Erfolge hinweist, sondern dadurch, daß man das Blaue vom Himmel lügt. Und vor allem dadurch, daß man ständig vor Ort präsent ist und dem politischen Gegner eine Ohrfeige nach der anderen verpaßt.« »Ohrfeigen zu verteilen ist nicht mein Stil«, sagte Dhark. »Aber der Stil der anderen, und Sie werden diese Ohrfeigen kassieren. Wenn Sie jetzt nach Orn fliegen, haben Sie keine Chance, wiedergewählt zu werden.« »Vielleicht will ich das gar nicht«, sagte Ren leise. »Vielleicht bin ich nicht der Politiker, den jeder in mir sehen will. Vielleicht will ich nur einfach die Wunder der Weltenschöpfung erforschen und für ein bißchen Frieden sorgen.«
»Glauben Sie im Ernst, daß man Sie das noch tun läßt, wenn Sie nicht mehr Commander der Planeten sind?« fuhr Trawisheim ihn an. »Dann sind Sie Privatmann. Dann fliegen Sie nicht mehr mit Ihrer POINT OF zu den Sternen, weil die das Flaggschiff der Ter-ranischen Flotte ist und nicht Ihre Privatyacht, auch wenn Sie das manchmal so sehen. Dann wird man Sie für viele Dinge zur Rechenschaft ziehen, wie zum Beispiel die Notstandsgesetze oder den Steuer-Deal mit Wallis Industries sowie Ihre verschiedentli-chen Kurzurlaube, die von Wallis Industries finanziert wurden... verdammt, Ren, Sie machen es sich zu einfach.« »Haben Sie Angst um Ihren Job?« »Ich?« Trawisheim schüttelte den Kopf. »Ich bin Cyborg. Mich wird man nicht einfach gehen lassen. Ich werde einen Verwaltungsjob erhalten, der mich unterfordert, aber ebensogut bezahlt werden muß. Nein, Dhark, ich habe keine Angst um mich. Ich habe Angst um Sie und auch um die Kontinuität unserer Regierungsarbeit. Dhark, erledigen Sie Ihren Wahlkampf auf anständige Art. Danach, wenn Sie als Commander der Planeten bestätigt wurden, können Sie gern wieder machen, was Sie wollen, dann kräht erst nial kein Hahn hinterher. Und dann können Sie, in zwei, drei Jah-rcn, wenn vielleicht endlich wieder etwas Geld in der Staatskasse ist, das abgezweigt werden kann, nach Orn fliegen, um Ihren Mysterious zu helfen. Aber jetzt bleiben Sie hier und schwören das Volk auf Sie und Ihre Arbeit ein!« Ren Dhark schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Henner, und Sie wissen es. Kandidieren Sie für das Amt des Commanders.« »Den Teufel werd' ich tun!« platzte es aus Trawisheim heraus. »Dann gelte ich überall als der Königsmörder!« »Wie Sie wollen«, sagte Dhark. »Ich weiß nur, daß ich etwas tun muß. Ich kann die Worgun nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Sie wissen, daß ich derzeit dafür niemandes Einverständnis einfordern muß. Die erste Stufe des Notstands ist immer noch in Kraft.« »Was die Opposition bereits gehörig ausgeschlachtet hat! Man macht Sie fertig, Ren! Dieser ganze politische Kram, dazu die Kampagne, die Intermedia wegen Ihres Privatlebens gegen Sie fährt... Sie gießen doch mit allem, was Sie tun, nur noch mehr Wasser auf die Mühlen!« Gisol hob die Hand. »Wenn ich auch mal was dazu sagen darf...« »Bitte«, schnarrte Trawisheim, dem unwohl war in der Nähe des Gestaltwandlers. Er befürchtete, daß Gisol ihn studierte, um ihn vielleicht zu kopieren. Wenn er dann als falscher Trawisheim an die
Öffentlichkeit trat und Dnarks Vorhaben unterstützte, war die Show endgültig gelaufen. Woher sollte er ahnen, daß sein Mißtrauen völlig unbegründet war? Daß Gisol nicht die geringsten Ambitionen hegte, in Terras Politgeschehen einzugreifen? »Dieser Notstand, was bedeutet das?« »Notstandsgesetze, die die Vollmachten der Regierung erweitem und die dafür sorgen sollen, daß in diesem speziellen Fall der finanzielle Kollaps verhindert wird. Befristete Sondersteuem können initiiert werden und...« »Ich verstehe«, sagte Gisol. »Es mangelt Ihnen an finanziellen und materiellen Ressourcen.« Trawisheim nickte. »In Zeiten der Rezession ist es nicht gut, repressiv zu agieren«, sagte der Mysterious. »Steuererhöhungen helfen nicht, wenn die Kaufkraft dadurch sinkt. Umgekehrt muß es sein. Der Bürger muß so viel Geld wie möglich verfügbar haben, um so viel wie möglich davon in Umlauf zu bringen. Das sorgt von selbst für höhere Steuereinnahmen.« »Klugscheißer«, murmelte Trawisheim fast unhörbar. Natürlich hatte Gisol recht. Aber mußte erst ein Worgun kommen, um es den Terranern zu erklären? Sicher nicht, nur ließen solche Dinge sich nicht ohne die Zustimmung der Opposition durchsetzen - nicht bei der derzeitigen Parteienkonstellation der Erde. »Und was die materiellen Ressourcen angeht«, fuhr Gisol unbeeindruckt fort: »Sie haben doch Kaso mit seinen industriellen Anlagen. Warum werden die nicht genutzt? Produzieren Sie, was benötigt wird, auf Kaso, und bringen Sie es nach Terra, um es dort zu verteilen. Sie...« »Was ist Kaso?« »Der Worgun-Name für Hope«, erklärte Ren, der als einziger die Sprache der Mysterious beherrschte. »Gisol, was meinen Sie mit Ihrem Vorschlag?« »Der Industriedom läßt sich doch umstellen und Ihren Bedürfnissen anpassen«, sagte der Worgun. »Es kostet Sie allenfalls den Transport. Wenn diese Waren auf Terra nahezu kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, haben Sie doch schon ein Versorgungsproblem weniger, und die Kaufkraft der Bürger wird nicht beeinträchtigt.« »Es wird mehr Arbeitslose geben...« »Nein«, widersprach Gisol. »Denn die Nachfrage ist größer als das bestehende Angebot. Warum nutzen Sie die Anlagen auf Kaso oder
Hope nicht? Die waren doch während des galaktischen Blitzes unter Intervallfeldschutz und sind in ihren Funktionen nicht beeinträchtigt.« »Das stimmt zwar«, erwiderte Dhark etwas überrascht. »Aber ^h muß gestehen, daß wir diese Anlagen noch immer nicht durchschaut haben. Außerdem wurden die Maschinen in zwei von drei Höhlen vernichtet.« »Das muß ich mir genauer ansehen«, sagte Gisol. »Sie waren doch schon auf Hope«, sagte Trawisheim stimrun-zelnd. »Also müßten Sie doch wissen, wie es da derzeit aussieht.« Der Mysterious zuckte in einer von den Menschen übernommenen Geste die Schultern. »Als ich dort war, hatte ich andere Interessen. Ich habe mich um Daten gekümmert, nicht um die Technik. Wenn ich weiß, was noch funktioniert, kann ich helfen, es zielgerichtet einzusetzen.« »Da ist was dran«, sagte Dhark. Er sah Trawisheim an. »Wenn wir Alltagsgüter auf Hope produzieren und verkaufen, darf das allerdings nicht die Produktionsstätten auf Terra beeinträchtigen. Das heißt - wir müßten eine Art Mischkalkulation erstellen, die den Mittelwert der Transportkosten von Hope und den Verkaufspreis der heimischen Güter darstellt. Ansonsten fahren unsere eigenen Betriebe über kurz oder lang in die Pleite, weil die Menschen sich daran gewöhnen, Hope-Waren fast umsonst zu erhalten. Dennoch wird genügend Kaufkraft übrigbleiben. Die zusätzlichen Einnahmen werden den Staatshaushalt so lange entlasten, bis der Notstand aufgehoben wird.« »Sie können ja doch ökonomisch denken, Commander«, spöttelte Trawisheim gutmütig. »Nur so kann es gehen, denn wenn Hope einfach zum Billiglieferanten wird, gehen unsere Betriebe rasch den Bach 'runter. Sie haben ihre Fixkosten, die wir nicht subventionieren können. Hope kann und darf seine Waren nur zu Preisen anbieten, die den Markt nicht ruinieren.« »Und die Kosten der Hope-Waren werden allmählich die der TerraProdukte übersteigen.« Trawisheim nickte. »Richtig, aber so weit sind wir noch nicht. Ich werde diese Vorschläge dem Parlament vorlegen.« »Legen Sie los. Henner, und legen Sie vor«, sagte Dhark. »Allerdings werden wir nicht sofort nach Hope fliegen können. Die Mannschaft der POINT OF hat noch Urlaub und müßte umständlich zurückgerufen werden, was ich den Leuten aber nicht zumuten mag, nach allem, was sie in den letzten Monaten erlebt und geleistet haben. Ich habe aber auch kein gesteigertes Interesse daran, mit einem
beliebigen S-Kreuzer oder einem der Kugelrau-mer zu fliegen... ich geb's ja offen zu, ich bin vom Komfort der POINT OF verwöhnt...« »Den Komfort bietet Ihnen meine EPOY auch«, schlug Gisol vor. »Warum fliegen Sie nicht einfach bei mir mit, Commander?« »Und wo bekommen wir dafür eine terranische Besatzung her?« fragte Trawisheim. »Wer sagt, daß ich eine terranische Besatzung an Bord meines Schiffes nehme?« fragte der Mysterious etwas scharf. »Ich sage das«, erwiderte Trawisheim. »Ich kann es nicht zulassen, daß der Commander der Planeten ohne Schutz an Bord eines fremden Raumschiffs geht. Wenn Dhark mit Ihnen fliegt, werden Sie eine Mannschaft akzeptieren müssen.« »Abgelehnt«, sagte Gisol trocken. »Dann fliegt Ren Dhark nicht mit Ihnen nach Hope.« Der erhob sich. »Henner, Sie greifen in meine Entscheidungskompetenz ein.« »Die sie stets in meinen Händen belassen haben - zumindest fast immer. Sie sind die Nummer Eins der Erde. Ich rede mit Eylers. Er wird die Mannschaft eines GSO-Raumers freistellen, die Sie begleitet, um im Ernstfall einzugreifen und den Ringraumer mit Ihnen an Bord sicher zur Erde zurückzubringen.« »Meinen Sie, das könnte ich nicht?« warf Gisol ein. »Mister Trawisheim, ich werde keine terranische Besetzung meines Schiffes... keine terranische Besatzung an Bord meines Schiffes dulden. Allerdings, um Ihre Sicherheitsbedenken zu zerstreuen, mag Mister Dhark gern noch eine Begleitperson seiner Wahl mitnehmen. Weshalb mißtrauen Sie mir?« Trawisheim deutete auf Dhark. »Weil der Commander schon häufig sehr negative Erfahrungen mit den Hinterlassenschaften Ihres Volkes gemacht hat«, sagte der Cyborg. »Solange er sich im Weltraum herumtreibt, unerreichbar für die Erde, läßt sich das nicht vermeiden. Hier aber habe ich die Möglichkeit, Schutzmaßnahmen im voraus einzuleiten.« »Ich weiß mich sehr gut selbst zu schützen«, sagte Dhark. »Das dürfte Ihnen bekannt sein.« »Sie werden gebraucht. Für den Wahlkampf und als Ikone, als Lichtgestalt, als die wir Sie aufbauen müssen. Sie haben die Erde zwar immer wieder mit Ihrer Abenteuerlust in Gefahr gebracht, aber Sie haben auch dafür gesorgt, daß wir größer denn je geworden sind und besser
denn je da stehen - ausgenommen den Aspekt der Staatsfinanzen. Wer weiß, ob Ihrem Nachfolger Ihre verdammt großen Schuhe passen. Deshalb sollten Sie ein wenig zurückstekken. Am liebsten wäre es mir, wenn Sie aufTerra blieben. Mister Gisol kann auch allein nach Hope fliegen.« »Glauben Sie im Ernst, ich ließe mir einen Trip an Bord der EPOY nehmen?« fragte Ren etwas spöttisch. »Nein«, seufzte Trawisheim. »Leider...« Per Transmitter begab Dhark sich ins Brana-Tal im Himalaja. Dort befand sich die sorgfältig abgeschirmte Cyborgstation, das medizinische Zentrum der Erde, in dem nicht nur das Cyborgpro-jekt entwickelt worden war und immer weiter vorangetrieben wurde, sondern dem die Menschen auch darüber hinausgehende medizinische Innovationen verdankten. Die Cyborgstation war nicht öffentlich zugänglich. Viele Bereiche unterlagen der höchsten Sicherheitsstufe und Geheimhaltung. Deshalb war die Anlage, die von einem hochgespannten Energieschirm geschützt wurde, auch nur per Transmitter erreichbar. Ren Dhark gehörte natürlich zu den Privilegierten, die jederzeit Zutritt hatten. Ganz kurz durchzuckte ihn der Gedanke, daß es damit vielleicht vorbei sein könnte, wenn er als Commander der Planeten abgewählt würde. Aber dieser Gedanke war jetzt irrelevant. Es ging um anderes. Echri Ezbal, der über hundertjährige, aber gemäß dem Stand der aktuellen Medizintechnik immer noch geistig rege Leiter der Station, hatte immer Zeit für Ren Dhark. Ezbal, in seiner Jugend wegen seiner »utopischen« Ideen und Forschungen verlacht, hatte erst im hohen Alter den Durchbruch erzielt und den Prototyp des Supermenschen geschaffen, als das Cy borgprojekt, das bereits seit Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch die medizinische Forschung und Entwicklung spukte, heranreifte und zusätzlich auf dem Planeten Bittan im 404-System das Phant-Virus entdeckt wurde. * Ezbals Privaträume waren spartanisch einfach. Bis auf die Kommunikationseinheit war alles so eingerichtet, wie es in einer tibetischen Berghütte vor hundert Jahren ausgesehen haben mochte. Ezbal benötigte keinen Luxus. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle und zwei
Freßnäpfe für seine Tiere reichten ihm aus. Und trotz aller Einfachheit strahlte seine Behausung eine schwer zu beschreibende Gemütlichkeit aus. »Wie weit sind Sie mit der Behandlung von Amy Stewart mit der neuen Phant-Variante?« wollte Dhark wissen. Der alte Mann, der nie den Planeten Erde verlassen hatte, sah den jungen Mann an, der den Menschen den Weg ins Weltall gebahnt hatte, und lächelte. »Die Behandlung ist abgeschlossen«, sagte er leise und streichelte Urran, seinen Hund. Eifersüchtig pirschte sich Choldi, die Katze, an und verlangte ebenfalls gestreichelt zu werden. Dhark erbarmte sich ihrer, was Choldi aber nicht so recht gefiel, und deshalb zog sie ihm ein paar Krallenspuren über die Hand und schmeichelte sich schnurrend bei Ezbal ein. Urran fuhr ihr mit der weichen Hundezunge einige Male durchs Fell. »Die Behandlung ist abgeschlossen«, sagte Ezbal erneut. »Es sind keine Schwierigkeiten zu erwarten. Amy Stewarts Umwandlung zu einer Cyborg ist damit endgültig abgeschlossen.« »Das heißt, sie kann eingesetzt werden?« Ezbal hob beide Hände und legte sie unter seinem Kinn zusammen. »Das zu entscheiden, liegt nicht mehr in meiner Hand. Medizinisch gibt es keine Einwände. Sprechen Sie mit Ember To Yu-kan. Er ist jetzt für sie zuständig.« »Ich danke Ihnen, Echri«, sagte Dhark, erhob sich und neigte den Kopf vor dem genialen Wissenschaftler. Dann verabschiedete er sich. Amy Stewart war überrascht, Ren Dhark so schnell wiederzusehen. Dhark musterte die 1,75 m große, schlanke, aber muskulöse Frau eingehend. Sie war mit 18 Jahren der Terra Defence Force beigetreten. Vor zwei Jahren war Echri Ezbal auf ihre Akte aufmerksam geworden und hatte sie ins Brana-Tal geholt. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, Cyborg zu werden. Nach reiflichem Überlegen hatte sie zugestimmt und war damit als erste Frau ein vollwertiger Cyborg der neuen Generation. Sie besaß eines der neuen Programmgehirne, über das sie als Mensch ständig die Kontrolle behielt. Die früheren Programmgehirne ließen sich zwar über die Rückschaltungsphase deaktivieren, aber nicht während des Phant-Zustands, weil das zu riskant war. Und solange sie aktiv waren, dominierten sie die CyborgPersönlichkeit. »Sie sind doch sicher nicht hier, um einen tiefen Blick in meine wunderschönen blauen Augen zu werfen«, sagte sie. »Was liegt an,
Commander?« »Ich benötige Sie für einen Geheimauftrag, den nur Sie ausführen können. Miß Stewart«, sagte Ren. »Sind Sie dazu bereit?« »Moment mal«, wandte Ember To Yukan ein. Der aztekische ^yborg-Ausbilder, in dessen Büro das Gespräch stattfand, schüttelte den Kopf. »So einfach geht das nicht, Commander. Miß Stewart muß sich einem intensiven Trainingsprogramm unterziehen, bevor...« »Bevor man mich auf die Menschheit und den Rest der Galaxis loslassen kann«, vollendete Amy den Satz etwas anders, als To Yukan es beabsichtigt hatte. »Mister To Yukan hat recht«, fuhr sie fort. »Das Training ist nötig. Ich muß lernen, mit dem Phant-Virus zu arbeiten. Sie finden sicher jemand anderen für Ihren Geheimauftrag, Sir.« »Nein«, sagte Dhark. »Ich brauche Sie! Es geht um eine Sache, in die Sie bereits eingeweiht sind.« To Yukan spitzte die Ohren. In Amy erwachte Neugier. »Die verschneite Hütte?« fragte sie vorsichtshalber nach. Dhark nickte. »Das wäre von Interesse«, sagte sie gedehnt. Dhark wandte sich dem Ausbilder zu. »Stellen Sie Miß Stewart bitte vorübergehend vom Trainingsprogramm frei. Ich benötige sie wirklich.« »Ist das eine dienstliche Anweisung, Sir?« fragte der Indianer. »Die nehme ich eigentlich nur von Mister Houston entgegen.« »Mister Houston wird keine Einwände haben, To Yukan«, sagte Dhark. C. S. Houston, Chef der Cyborgtruppe, hatte tatsächlich keine Einwände. Erst als er Stewart offiziell für den Einsatz freigab und sie selbst ebenfalls zustimmte, informierte Dhark sie über diesen Einsatz. Von einem Moment zum anderen war sie Feuer und Flamme. Einen Flug mit Jim Smith alias Gisol in dessen Raumschiff mitlachen? Dafür hätte sie die Seele des Finanzministers dem Teufel Erkauft. Jetzt begriff sie auch, weshalb der Commander beim Gesprach mit To Yukan nicht so recht mit den Informationen herausgerückt war. Gisol war noch »geheime Verschlußsache«! Offenbar wollte Dhark
derzeit keine weiteren Personen über die Identität des My-sterious informieren. Somit blieb wirklich nur sie, Amy Stewart, übrig. Sicherheitsbegleitung für den Commander der Planeten... das klang gut und verschaffte ihr ein einmaliges Erlebnis. Daß sie in diesem Einsatz wirklich gefordert sein würde, konnte sie sich kaum vorstellen. Was sollte denn schon passieren? 9. In den Tagen nach seiner Bespechung mit Toppy Secret war Bert Stranger damit beschäftigt, Nachforschungen anzustellen. Zunächst beschritt er die üblichen Wege und warf einen Blick ins Handelsregister. Er fragte bei Wirtschaftsauskunfteien nach. Er plauderte mit Wirtschaftsbossen und klapperte alle seine Kontaktpersonen ab, die sich teilweise schon unter Druck gesetzt fühlten, wenn sie Stranger nur in der Nähe ihres Büros aufkreuzen sahen. Das waren Leute, die der Reporter sich verpflichtet hatte, indem er zwischendurch auch mal auf eine gute Story verzichtete, die dem jeweiligen Wirtschaftsmagnaten garantiert das Genick gebrochen hätte. Anderen wiederum hatte er mit Tips geholfen, und die zeigten sich dankbar, indem sie ihrerseits Stranger mit Informationen versorgten. Aber in diesem Fall kam er nicht weiter. Niemand wußte etwas über Sensorium Inc. Niemand kannte das Management, niemand die Geldgeber, die den Anlauf des Projekts und die Firma finanzierten, um später mit am Gewinn zu profitieren! Das machte ihn erst recht neugierig. Welchen Grund gab es für eine Firma, dermaßen anonym zu bleiben? Es sah geradezu danach aus, als versteckten sich die Leute, die hinter Sensorium Inc. standen! Aber warum? Gerade bei einer solchen Erfindung konnte es doch nur gut sein, wenn sich die Verantwortlich im Ruhm sonnten. Wenn sie darauf hinwiesen, daß sie es waren, die der Welt diese einmalige Technologie schenkten. Es würde ihnen Einfluß verschaffen und auch Macht! Wer Erfolg hat, bestimmt die Wegrichtung! Wer darauf verzichtete, verhielt sich doch nicht normal! Was stimmte an dem Projekt nicht? Stranger suchte das Patentregister auf und verlangte Einsicht in die Unterlagen. Aber zu seiner Überraschung gab es auch hier keine Hinweise auf die Firma selbst. Es gab nur den Namen und die postalische Adresse. Wer das Sensorium entwickelt hatte, ging daraus
nicht hervor. Die Firma hatte das Patent eingereicht. Stranger ging die Patentschrift dennoch aufmerksam durch. Er wünschte sich, das Gespür zu haben, aus der »Handschrift« des Konstrukteurs schließen zu können, wer dieser war. Er kannte es von Kunstobjekten; Experten konnten oft schon nach dem ersten Blick sagen, von welchem Künstler ein bestimmtes Objekt -Skulptur, Gemälde oder was auch immer - geschaffen worden war. Aber Bert Stranger war kein solcher Experte. Ihm fiel etwas anderes auf. In der Patentschrift war unter anderem davon die Rede, daß das Sensorium mit induzierten Deltawellen arbeitete. Dieser Begriff weckte etwas in ihm, aber er konnte nicht sagen, was da eben hatte erwachen wollen. Er verließ die Räumlichkeiten des Patentregisters wesentlich schlechtergelaunt als er sie betreten hatte. Induzierte Deltawellen! Wo hatte er diesen Begriff schon mal gehört? Er kannte ihn doch! Und dann begriff er plötzlich. Der Deltawelleninduzierer der Robonen! »Verdammt«, murmelte der Reporter. Sollten die Robonen hinter Sensorium Inc. stecken? Ziemlich unmöglich. Er erinnerte sich. Im vergangenen Jahr hatten die Robonen, die sich selbst die »wahren« oder »wirklichen Menschen« nannten, versucht, mit Hilfe des Deltawelleninduzierers Menschen suggestiv zu beeinflussen und zu willigen Sklaven zu machen. Diese Technologie war wesentlich subtiler als die der Giants, die ihre Opfer zu einer Art willenloser Zombies gemacht hatten, deren Gehirne so »umgeschaltet« worden waren, daß sie auf Funkimpulse reagierten. Mit diesen Funkimpulsen, die sich als unverständliche Buchstaben- und Zahlenketten darstellten, hatten die Giants den Menschen Befehle übermittelt - den Befehl zu essen und zu trinken ebenso wie den Befehl, bestimmte Dinge zu tun. Erst als es gelang, mit dem Encephalo-Commutator diese bedauernswerten Menschen wieder »zurückzuschalten«, war der Bann der Giants gebrochen, aber bis dahin waren Millionen Terra-ner verhungert und verdurstet, weil die Giants teilweise vergessen hatten, die entsprechenden Befehle auszustrahlen. Wie man ein menschliches Gehirn zu einem UKW-Empfänger machen konnte, war bis heute ungeklärt.
Man kannte nur die Wirkung, und man kannte die Technik, diesen Vorgang rückgängig zu machen. In der Zwischenzeit aber hatten die Giants, diese raubtierköpf i -gen Wesen mit gelblicher Haut und vier Armen, von denen das untere Paar verkrüppelt war, Menschen zum Planeten Robon gebracht. Die »Robonen« wußten nicht mehr, daß ihre ursprüngliche Heimat die Erde war. Sie glaubten, schon immer auf Robon gelebt zu haben; eine geschickte Manipulation der Giants, die sich hochtrabend »All-Hüter« nennen ließen und die in Wirklichkeit eine Rasse von biologischen Robotern darstellten, die einst von den Mysterious gezüchtet oder konstruiert worden war. Und diese Robonen, die sich der »Zurückschaltung« mittels des CE-Geräts entzogen hatten, infiltrierten in der Folge die Erde, um sie für sich zu erobern. Der Planet hatte ihnen zu gehören und nicht den »Verdammten«, eine Bezeichnung für die Terraner, welche die Robonen ebenfalls von den Giants übernommen hatten. Um ihr Ziel zu erreichen, griffen die Robonen zu nackter Gewalt. Der Gipfel war, daß sie mit dem Deltawelleninduzierer Menschen zu ihren Sklaven machten, so wie es vor Jahren die Giants getan hatten, nur waren damals die Menschen noch wesentlich einfacher davongekommen. Stranger schüttelte den Kopf. Die Robonen konnten nicht hinter dem Sensorium stecken! Am 13. September des vergangenen Jahres hatte der letzte von ihnen Terra verlassen, um nie wieder zurückzukehren. Wenn Stranger seiner Spürnase immer noch vertrauen konnte, dann waren Scholf und seine Leute längst irgendwo in Weltraumtiefen und schmiedeten an einem unbekannten Ort neue Pläne, für welche Aktionen fern der Erde auch immer. Aber auf Terra gab es keinen Robonen mehr! Und es gab sie auch nicht wieder. * Dessen war sich nicht nur Bert Stranger sicher. Die immer noch überall auf der Welt an neuralgischen Punkten installierten Robonenspürer der GSO zeigten keine Robonen mehr an, deren Gehimstrommuster sich in einem bestimmten Punkt erheblich von dem des Durchschnittsterraners unterschieden. Und über den langen Zeitraum von immerhin fast fünf Monaten hätte sich zumindest einer verraten müssen. Von dieser Seite her drohte keine Gefahr mehr.
Dennoch schien jemand für das Sensorium genau jene Technik zu verwenden, mit denen die Robonen gearbeitet hatten. Damals hatten terranische Forscher sich ebenfalls damit befaßt, um Abschirmmöglichkeiten zu entwickeln. Sollte etwa Wallis Industries dahinterstecken? Mit einem Interkontinentaljett flog Stranger nach Lyon in Frankreich. Dort mietete er einen schnellen Schweber und nahm Kurs auf den kleinen Ort Le Puy, der Firmensitz von Biotechnologique war. Wenn Wallis Industries tatsächlich die Finger im Spiel hatte, würde Stranger das hier am ehesten erfahren. Denn die WITochterfirma Biotechnologique hatte sich damals mit diesen robonischen Geräten befaßt. Per Vipho hatte er schon von Alamo Gordo aus um einen Gesprächstermin mit Veronique de Brun gebeten, der Leiterin der Firmenniederlassung. Der Termin war bestätigt worden. Stranger schmunzelte; sich vorher anzumelden entsprach nicht unbedingt seinen Gepflogenheiten. Normalerweise machte er »Überraschungsbesuche«. • Diesmal allerdings wollte er keinen Skandal aufdecken, sondern lediglich Informationen einholen. Wenn er die nicht einfach so erhielt, gab es immer noch andere, strangere Möglichkeiten... Le Puy lag im kargen und von immer mehr Menschen verlassenen Zentralmassiv Frankreichs, wo mit Biotechnologique ein neuer Arbeitgeber angesiedelt worden war, um wieder Bewohner in die karge Region zu locken. Doch das hatte sich ziemlich rasch als Fehlschlag herausgestellt. Die meisten Angestellten wohnten in Lyon oder in der Provence und kamen nur zum Arbeiten mit ihren schnellen Hoverjetts hierher. Der Gegensatz zwischen der düsteren, regenreichen, mittlerweile fast menschenleeren Gegend mit alten Industriebrachen aus der Zeit des Jahrtausendwechsels und dem hochmodernen Komplex von Biotechnologique war mehr als deutlich zu erkennen. Weniger leicht erkennbar waren die Konflikte der wenigen Alteingesessenen mit den Jungdynamikern, die nur zum reichlichen Broterwerb hierherfanden. Davon hatte Jos Aachten van Haag erzählt; Stranger fand nicht die Zeit und hatte auch kein Interesse daran, das nachzuprüfen. Pünktlich auf die Minute landete er seinen Schweber auf dem
Besucherparkplatz des Firmengeländes und wurde von Mitarbeitern des Werkschutzes in Empfang genommen. Man brachte ihn auf dem schnellsten Weg in den Verwaltungstrakt. Nicht, weil Bert es eilig hatte, sondern um zu verhindern, daß der Reporter zu viel von der Firma sah. Ein paar Minuten später stand er bereits in de Bruns Büro. Veronique de Brun war eine 30jährige, attraktive Brünette, die Stranger recht kühl empfing. »Meine Zeit ist knapp bemessen«, beschied sie ihm. »Womit kann ich Ihren Wissensdurst stillen?« »Erzählen Sie mir etwas über das Sensorium«, bat er. Sie sah ihn an, als sei er ein Gespenst. »Das was, bitte?« »Das Sensorium«, erläuterte Stranger geduldig. »Dieser Apparat, der momentan in der TV-Werbung angepriesen wird und den Benutzem ganz neue Dimensionen der Wahrnehmung bieten soll.« »Wie kommen Sie darauf, daß ausgerechnet ich etwas darüber wissen sollte, Mister Stranger?« »Das Gerät arbeitet laut Patentschrift mit induzierten Deltawellen«, fuhr Stranger fort. »Sagt mir nichts...« »Darf ich dann Ihrem Gedächtnis ein wenig nachhelfen?« bot der Reporter an. »Im vergangenen Jahr hat sich Biotechnologique mit diesen Dingen befaßt. Ein gewisser Doktor Pierre Seigle...« »Erinnern Sie mich nicht an den«, wehrte de Brun sich vehement. »Dieser Lumpenhund, der mit den Robonen paktierte...« »Doktor Seigle arbeitet nicht mehr bei Ihnen?« »Doktor Seigle ist tot«, erwiderte de Brun. »Hat Ihnen das Ihr Freund Aachten van Haag nicht gesagt?« Den GSO-Agenten, der besser unter seinem Vornamen Jos bekannt war, als seinen Freund zu bezeichnen, fiel Stranger doch ein wenig schwer. Sie kannten sich und hatten sich schon einige Male gegenseitig geholfen, aber schon von ihren Berufen her mußten sie wie Katze und Hund sein, wobei offen blieb, wer nun die Katze und wer der Hund war. Das variierte. Sie waren Bekannte, keine Freunde. Bert verzichtete darauf, de Brun diese Feinheit nahezubringen. Statt dessen rief ihm die Frau ins Gedächtnis, was damals geschehen war: Seigle, der Verräter, war maßgeblich an der geheimen Entwicklung eines Deltawelleninduzierers für die Robonen beteiligt und Mißbrauchte dazu auch heimlich Material und Kapazitäten von
giotechnologique. Der Deltawelleninduzierer war ein Gerät, das (ie besonderen Geisteskräfte der Robonen bündeln und großflä-|hig Teile der »normalen«, sprich terranischen Bevölkerung manipulieren konnte. Aber dies konnte entsprechend der Natur der Deltawellen nur im Ichlaf geschehen. Das machte Stranger nachdenklich, denn er iatte sich ja im Wachzustand befunden, als er die Chips abspielte. »Damit dürfte feststehen«, sagte de Brun, »daß diese Robonen-?chnik nichts mit dem Sensorium zu tun hat. Nachdem das geklärt st, können Sie ja nun ruhigen Gewissens nach Alamo Gordo zu-"rückkehren. Sagen Sie Ihrem Freund Jos, beim nächsten Mal kpnne er ruhig selbst hier herkommen, wenn er etwas erfahren | »Jos Aachten van Haag hat mich nicht hierher geschickt«, protefeierte Stranger. »Ich gehöre nicht zur GSO, ich bin Reporter der t'erra-Press, wie Sie ja wissen müßten. Ich recherchiere in deren Auftrag und nicht für die GSO.« »Als ob mich dieser Unterschied sonderlich interessierte«, murmelte de Brun düster. »Und deshalb stieß ich auf Sie, Mademoiselle de Brun«, fuhr fetranger ungerührt fort, »weil Biotechnologique damals mit den Forschungsarbeiten zu tun hatte.« »Welch ein Pech für Sie«, seufzte die Firmenleiterin. »Nun haben Sie die lange Reise hierher gemacht, um ohne Resultat wieder Heimzukehren... sorry, Mister Stranger, aber wir haben mit dem Sensorium nichts zu tun. Absolut nichts. Wir haben auch immer noch keine umfassenden Kenntnisse über die Manipulation von Deltawellen, da es sich beim Deltawelleninduzierer um eine roX)nische Erfindung handelte, die wir nicht weiter verfolgt haben. i^ozu auch? Die Robonengefahr besteht nicht mehr, und es gehört Glicht zur Firmenphilosophie von Biotechnologique oder unserer Mutterfirma Wallis Industries, sich mit Methoden zu befassen, Surch die Menschen dermaßen radikal manipuliert werden können. Darf ich sonst noch etwas für Sie tun, Mister Stranger?« »Sie könnten sich von mir zum Essen einladen lassen.« »Nein, danke«, wehrte de Brun ab. »Dazu fehlt mir die Zeit. Sie verstehen: geschäftliche Termine und Besprechungen, auch in den Mittags- und Abendstunden. In meiner Position kann ich nicht alles liegen und stehen lassen, nur weil offiziell Feierabend ist. Das können die Arbeiter und Angestellten, nicht aber die Chefin. Sonst noch etwas?«
Stranger zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich. Veronique de Brun sah ihm durch das Panoramafenster ihres Büros nach, bis er mit seinem Schweber abhob und die Firma endgültig verließ. Bert Stranger... Jos Aachten van Haag... die beiden gehörten doch irgendwie zusammen, und Jos hatte sie nicht vergessen, daß der einfach verschwand, als sein Fall abgeschlossen war. Vorher hatten sie einige interessante Nächte miteinander verbracht. Und dann - von einem Moment zum anderen: aus. Ohne Abschied. Sie trauerte Jos noch nach; der Sex mit ihm war geradezu sensationell gewesen. Aber er hatte sich äußerst unsensationell verdrückt. Das nahm sie ihm übel, und unterbewußt übertrug sie es auch auf seine Freunde, zu denen dieser Reporter ihres Wissens nach gehörte. Männer! Einer wie der andere! dachte sie. Mit einer Einladung zum Essen hatte es bei Jos auch angefangen. Sie waren nach Lyon geflogen, hatten im teuersten Restaurant diniert, waren dann in Veroniques Wohnung gelandet und... ... und ich bringe ihn um, wenn er mir noch einmal über den Weg läuft, beschloß sie. Trotzdem hatte sie Jos' Freund nicht belogen. Die Forschungsarbeiten am robonischen Deltawelleninduzierer waren tatsächlich eingestellt worden. Auf ihre Anweisung hin, denn sie sah keinen Sinn darin, hier weiter zu forschen oder gar zu entwickeln. So etwas brauchte Terra nicht. Und jetzt das Sensorium... | Sie kannte die Werbung. Aber erst Stranger machte sie neugie-'rig. Wenn sich ein Mann wie er dafür interessierte und eine Story daraus machen wollte, war vielleicht doch mehr dran als nur teures Teizeitvergnügen. Sie beschloß, auch ein Sensorium zu kaufen und es anzutesten. Bert Stranger war skeptisch. Sein Gefühl sagte ihm zwar, daß Veronique de Brun ihn nicht belog. Aber vielleicht wußte sie selbst nicht alles. Davon, daß Pierre Seigle zwar offiziell an der Entwicklung des Robonenspürers arbeitete, in Wirklichkeit aber den Deltawelleninduzierer zusammenbastelte und dafür auf die Ressourcen von Biotechnologique zurückgriff, hatte sie auch nichts gewußt, bis Jos alles aufdeckte. Vielleicht war es diesmal wieder so. 11 |; Vielleicht spinnst du
gewaltig, kritisierte er sich selbst. Vielleicht Imachte er sich mehr Gedanken um die Sache, als wirklich daran war. Aber zum einen hatte er seinen Auftrag, und zum anderen ein persönliches Interesse. Jetzt die Recherche abbrechen kam überhaupt nicht in Frage. Er lenkte seinen Schweber nach Paris. Dort hatte er einen Informanten, welcher ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Der Mann war ihm schon seit Jahren verpflichtet. Jetzt konnte er auch mal etwas tun. Natürlich wäre es effektiver gewesen, nach Lyon zurückzukehren und die Schnellbahn nach Paris zu nehmen. Aber Stranger entschied sich dagegen. Er folgte mit dem Schweber den alten Straßen, auf denen teilweise noch Räderfahrzeuge unterwegs waren, die im Lauf der Jahre immer weniger wurden und irgendwann, bis wenige gepflegte Oldtimer, ganz aus dem Blickfeld verschwinden würden wie einst die Pferdekutschen und Ochsenkarren. Stranger ließ sich Zeit. Er wollte die Fahrt nutzen, seine Gedanken ein wenig zu ordnen. Deshalb nahm er die Überlandstrecke. Immer wieder fragte er sich, wer fähig war, robonische Technik anzuwenden. Und er rätselte, weshalb laut Patentschrift mit Deltawellen gearbeitet wurde, die doch erst in der Schlafphase dominierten. Bei vollem Wachbewußtsein dagegen war der Alpha-Rhythmus aktiv. Mit ihm ließen sich unter anderem auch telepa-thische und teilweise auch telekinetische Tricks exerzieren. Aber, verdammt, Stranger hatte die Bilder, die die Chips ihm zeigten und die er aufgenommen und später noch einmal angeschaut hatte, im Wachzustand wahrgenommen und nicht während er schlief! Da stimmte doch etwas nicht! Irgendwann während der Reise von Le Puy nach Paris alarmierte ihn ein sechster Sinn, und er begann, auf seine Umgebung zu achten, statt seinen Gedanken nachzuhängen. Plötzlich hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Er überprüfte das und fand seinen Verdacht bestätigt. Tatsächlich folgte ihm ein anderes Schwebefahrzeug mit erstaunlicher Beharrlichkeit. Der Fahrer achtete auf einen größeren Abstand und war wohl sicher, nicht entdeckt zu werden. Aber Stranger hatte für so etwas einen Riecher. Er erhöhte die Geschwindigkeit seines Schwebers. Vorübergehend hatte er das Gefühl, sein Verfolger falle zurück, aber dann war der plötzlich wieder hinter ihm. Bert gab noch mehr Energie,
So viel, daß er in Bodennähe den Schweber kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Er mußte in höhere Zonen aufsteigen. Das erhöhte aber auch sein Risiko im Ernstfall. Solange der Schweber sich allenfalls einen Meter oder weniger, über dem Boden befand, war es kein besonders großes Problem, sich nach draußen fallen zu lassen. Nicht einmal für die Leibesfülle eines Bert Stranger. Aber wenn die Maschine in 30 oder mehr Metern [öhe flog, war ein Aufschlag entsprechend verheerend. Er hoffte, daß nichts dergleichen geschah. Vorsichtshalber schaltete er noch die Positionsleuchten seines Schwebers aus. Die .Maschine jagte mit enormem Tempo davon, und nach etwa einer 'halben Stunde, in der Stranger von dem Verfolger nichts mehr feststellen konnte, wich er abrupt von seinem bisherigen Kurs ab. Er flog einen weiten Kreisbogen, der seiner Berechnung nach hinter dem Verfolger wieder auf seinen alten Kurs führen mußte. - Aber da war niemand. Die Radareinrichtungen des Schwebers waren bei weitem nicht so gut, wie Bert es sich gewünscht hätte. Sie reichten gerade aus, andere Luftund Bodenfahrzeuge in der Nähe zu erfassen, um vor möglichen Kollisionen zu warnen. Eine halbwegs brauchbare Femortung war nicht möglich. So konnte Stranger nur rätseln, wo sich seine Verfolger jetzt befanden. Seiner Berechnung nach hätte er sie im Distanzradar vor sich haben müssen, aber vielleicht hatten sie auch zu einem Trick gegriffen... Er opferte noch einmal Zeit und flog einen weiteren Bogen. Danach konnte er sicher sein, daß er sie endgültig abgeschüttelt hatte. Er setzte seinen Flug nach Paris ungestört fort. Die Dunkelheit brach herein, bevor er die Stadt erreichte, und er hatte keine große Lust weiterzufliegen. Also machte er Zwischenstation in einem kleinen Landgasthof im Bourbonnais. Die hübsche Wirtstochter, die er auf kaum älter als 20 Jahre schätzte, nahm sich seiner an. »Ich möchte ein Abendessen mieten und ein Zimmer für die Nacht verspeisen - oder wie auch immer«, strahlte er sie aus seinen unschuldigen Baby äugen an. »Sicher können Sie mir dabei helfen.« Was die Nacht angeht, die kommt und geht auch ohne meine Hilfe«, vermerkte die junge Dame. »Was das Abendessen angeht -das vermieten wir nur langfristig. Und das Zimmer ist so alt, zäh und
ungenießbar wie Ihr Versuch, witzig zu sein, Monsieur.« »Ich versuche es doch gar nicht, ich beherrsche es in Perfektion«, grinste Stranger sie an. »Na schön. Welches Zimmer möchten Sie denn essen?«, erkundigte sie sich, während sie ihm die Speisekarte entgegenhielt. Er betrachtete sie und nickte. »Ja«, sagte er. »Was - ja?« »Alles.« Sie sah ihn ungläubig an. Stranger strich mit den Händen über seine körperlichen Rundungen. »Da paßt eine Menge hinein«, behauptete er. »Na, hoffentlich übernehmen Sie sich damit mal nicht«, winkte sie ab. »Ich zeige Ihnen dann mal den Nacht-Tisch.« »Mit Vergnügen. Folgen Sie mir voraus, Mademoiselle.« Das Zimmer befand sich im Obergeschoß des Hauses, zwei Treppen hoch, war klein, sauber und urgemütlich. Was der Reporter nicht erwartet hatte: Es gab sogar eine kleine Kammer mit Dusche und Toilette statt einer Etageneinrichtung für alle Gäste. Ein breites Doppelbett lud zum Ausruhen oder zu interessanteren Tätigkeiten ein, es gab einen Vipho-Anschluß und ein Holo-TV sowie die Möglichkeit, einen portablen Suprasensor ans Terranet anzuschließen. »Und der Zimmerservice?« wollte er wissen. »Nicht für Männer mit Bauch«, beschied ihm die Wirtstochter gelassen. »Eh, das ist kein Bauch, das ist mein Großhirn«, behauptete er. »Ich mußte es auslagern, weil es zu groß wurde und da oben«, er tippte sich gegen den Schädel, »neben dem ebenfalls stetig wuchernden Kleinhirn keinen Platz mehr fand.« »Gehirne sind nicht so mein Fall«, erwiderte sie. »Ich bevorzuge andere Dinge.« »Und welche, Mademoiselle?« "»Das sollten Ihnen Ihre beiden Gehirne doch selbst sagen könen.« Sie entschwebte abwärts. Stranger richtete sich rasch im Zimmer ein, ging wieder nach hinten und bezahlte Abendessen und Zimmer für eine Nacht im voraus. Eine Viertelstunde später wußte er, daß die junge Dame Diana ließ, und noch einmal eine halbe Stunde später war ihm klar, daß "aus einer Nacht mit ihr nichts werden würde. Entweder hatte er es falsch angepackt, oder er war einfach nicht ihr Typ. Jedenfalls blitzte er
gnadenlos ab. Als er später etwas enttäuscht sein Zimmer aufsuchte, fragte er ich, ob er mit seiner Witzigkeit übertrieben hatte, oder ob es, wie in vielen anderen Fällen, an seiner Figur lag. Schließlich gehörte .er nicht gerade zu den sieben attraktivsten Menschen der Welt. Er nußte um die Mädels kämpfen, die einem Beau wie Jos Aachten van Haag gleich dutzendweise nachliefen. »Wie die Blondine nach dem Jogging: dumm gelaufen«, murmelte er und ließ sich auf das Bett fallen, das genug Platz für zwei Jemand klopfte. Diana? War sie doch noch aufgetaucht, hatte sie vorhin nur mit ihm gespielt? Er schwang sich wieder aus dem Bett und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Aber draußen auf dem Gang stand nicht, wie erhofft, die hübsche Wirtstochter. Stranger sah als erstes zwei ihm unbekannte Männer und als zweites den Paraschocker in der Hand eines der beiden. Da feuerte der auch schon. Paralysiert brach der Reporter zusammen. jjAls er wieder erwachte, spürte er den typischen ziehenden Schmerz im Nacken, der ihm verriet, daß man mit schwächster Dosierung auf ihn geschossen hatte. Also konnte er nicht lange ausgeschaltet gewesen sein. Aber die Zeit hatte den beiden Männern gereicht. Stranger auf einen Stuhl zu binden. Er war gefesselt und geknebelt. Er befand sich immer noch in seinem Zimmer, aber die beiden Unbekannten gaben sich so, als sei es seine Gefängniszelle. Ihre Gesichter hatte er nie zuvor gesehen. Daß sie sie ihm so offen zeigten, ließ ihn Böses vermuten. Andererseits: Wenn sie ihn hätten töten wollen, warum hatten sie ihn dann nur paralysiert und gefesselt? Ein schneller Blasterschuß, als er arglos die Tür öffnete, und alles wäre erledigt gewesen. Was wollt ihr von mir, wollte er fragen, bekam aber außer einem unverständlichen Stöhnen und Knurren nichts hervor. Der Knebel saß so, daß er ihn nicht ausspucken konnte. Auch mit der Zunge konnte er ihn nicht lockern, und das verdammte Ding löste immer wieder Würgreflexe aus. Das fehlte ihm jetzt noch, daß er sich übergeben mußte und dabei erstickte! Er dachte an die Verfolger, die er abgeschüttelt hatte. Offenbar war ihm das doch nicht so gelungen, wie er dachte. Sie hatten sich wohl nicht täuschen lassen. Oder hatten sie ihn durch einen
Zufall wiedergefunden? Wer waren diese beiden Männer, und warum waren sie hinter ihm her? In welches Wespennest hatte er jetzt schon wieder gestochen? Einer von ihnen lehnte mit verschränkten Armen grinsend an der Wand. Der andere stand am Tisch, öffnete ein Paket. Auch er grinste böse. »Ihr Interesse an der Firma Sensorium Inc. geht eindeutig in die falsche Richtung, Mister Stranger«, sagte er. »Ich denke, wir sollten das korrigieren.« Natürlich erwartete er keine Antwort. Stranger konnte sie ihm ohnehin nicht geben. Aber er fragte sich, was das für eine Richtung sein sollte. Scheinbar hatte die Firma tatsächlich Dreck am ;cken, wenn sie zu solchen Methoden griff, um Nachforschun-en zu blockieren. Er wollte lieber nicht wissen, was sie als nächstes beabsichtigen. Er erfuhr es trotzdem. Der Grinsende am Tisch holte ein Sensorium aus dem Paket und es dem Reporter auf. Kommentarlos schaltete er es ein. Von einem Moment zum anderen wechselte die Umgebung. Bert Stranger befand sich nicht mehr in dem kleinen, gemütlichen Zimmer des Landgasthofs, sondern in einem ihm fremden |iaus. Und doch kannte er sich hier aus, denn zielstrebig bewegte ?r sich auf eine der Türen zu. Er hielt eine Champagnerflasche in äer einen, zwei Gläser und einen Öffner in der anderen Hand. Mit dem Fuß stieß er die Zimmertür auf, die nur angelehnt war. lautlos schwang sie nach innen und gab den Weg frei. Etwas war "anders: Er spürte den Kontakt des Türblattes mit seinen Zehenspitzen. Nach einigen Schritten blieb er stehen. | Ein breites Bett, mit Seide bezogen, dominierte in dem großzügigen Raum. An der Decke darüber hing ein riesiger Spiegel. Aus verborgenen Lautsprechern erklang dezente, leise Musik. Kerzen irannten; der Duft ihres Wachses und ihrer Dochte mischte sich lit einem anderen Duft, der von der Frau ausging. Es WQ.T die Frau! Das Höchstmaß an Attraktivität und lockender Verführung. |Stranger hatte nie eine aufregendere Frau gesehen als diese. Sie 'räkelte sich auf dem Bett und spiegelte sich an der Zimmerdecke. Weiche, sonnengebräunte Haut wartete darauf, gestreichelt und peküßt zu werden.
Stumm, aber erwartungsvoll sah die Schönheit Bert Stranger entgegen. Ihre Augen glänzten. Blondes, fast hüftlanges Haar fiel in wallenden Strähnen über ihre perfekt geformten Brüste, ohne sie wirklich zu bedecken. Es war normal, daß sie ihn völlig unbekleidet erwartete; jedes noch so kleine Fetzchen Stoff an ihrem wundervollen Körper hätte den Eindruck der Perfektion nachhaltig zerstört. Und sie genoß Strangers bewundernden Blick. Neben dem Bett stand ein kleiner, verchromter Rolltisch. Altmodisch in einer Zeit, wo alles auf Antigrav setzte und es mittlerweile in Nobelrestaurants schon A-Gravtabletts gab, die von den Kellnern per Minifemsteuerung an die Gästetische dirigiert wurden. Ein Eiskübel wartete darauf, die Flasche aufzunehmen, die Stranger aber zunächst zu öffnen hatte. Die Frau schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und sah zu. Sie war immer noch stumm. Erst als der Korken mit explosionsartigem Knall in die Höhe geschleudert wurde und den Spiegel über dem Bett nur um Zentimeter verfehlte, lachte sie und zuckte zusammen, fauchte und lachte wieder, als er den schäumenden Champagner über ihren Körper strömen ließ. Für die beiden Gläser blieb nicht viel übrig. Aber das spielte keine Rolle. Stranger fand ebenfalls seinen Platz auf dem breiten Bett, und er sorgte rasch dafür, daß der Champagner die weiche, warme Haut der attraktiven Frau nicht klebrig werden ließ. »He, deine Zunge kitzelt«, stieß sie hervor und wehrte sich spielerisch. Er überwand ihren schwachen Widerstand leicht, küßte sie und wunderte sich über das Glück, das ihm diese wunderbare Frau beschert hatte. Und er wunderte sich darüber, daß er dieses Erlebnis einfach so hinnahm. Sein Unterbewußtsein warnte ihn. Etwas stimmte nicht. Von seinem eigenen Gerät her kannte er die Bilder und Szenarien, welche das Sensorium anzubieten hatte. Er wußte, wie unglaublich intensiv die Eindrücke waren. Aber das, was er hier erlebte, war nicht nur unglaublich intensiv. Es war perfekt! Er sah nicht nur Bilder und hörte Töne, er war Itestandteil der Szene, mit sämtlichen Sinnen. Er spürte, wie sein Körper auf die Reize reagierte, die die Frau auf ihn ausübte. Jede |einste ihrer Berührungen durchzuckte ihn mit einem Schauer der
Immer wieder versuchte ihn sein Unterbewußtsein zu warnen, daß dies keine normalen Sensoriumsbilder waren, aber diese Warnungen wurden rasch von neuen Eindrücken überlagert und zurückgedrängt. Und schließlich achtete er überhaupt nicht mehr darauf. Er gab sich seinem Erlebnis hin. Es war wie nie zuvor. Bert Stranger erlebte den besten Sex seines Lebens. Die Traumfrau trieb ihn von einem Höhepunkt zum anderen. Sie schien unersättlich, und Bert fühlte sich ständig erneut herausgefordert. Er nahm und gab. Er genoß jede Sekunde, er gönnte sich und ihr keine Pause. Bis alles von einem Moment zum anderen abriß und er wie aus einem Glückstraum erwachte. Im ersten Moment hatte er Schwierigkeiten, sich zurechtzufin-|^en. Eben noch mit dieser wundervollen, beglückenden Frau auf dem Seidenlaken, saß er jetzt gefesselt auf einem Stuhl... »Was zum Teufel...« murmelte er. Dumpfe Erinnerungsbilder kamen. Zwei Männer. Ein Paralyseschuß. Das Erwachen, gefesselt und geknebelt auf diesem Stuhl. Den Knebel hatte er nicht mehr im tä_Mund. Sonst wäre er wohl in den letzten Stunden erstickt. Denn raußen graute bereits der Morgen. Und mir graut auch, dachte er. Vor den beiden Männern, die jetzt wieder in seiner Wahrnehmung auftauchten. Noch überlagerten sich die Bilder. Was das Sensorium ihm gezeigt hatte, wirkte nach. Nur langsam schob sich die Realität herein und verdrängte die virtuelle Welt. Bert erschauerte. Was hatte man ihm gegeben, Was hatte man ihm genommen? Er sehnte sich nach der Frau. Er wollte weiter mit ihr zusammen sein. Dabei war er völlig erschöpft. Er hatte sich in dieser Nacht total verausgabt. Und doch war da das Verlangen, weiterzumachen, nicht aufzuhören. Eine ganze Nacht voll mit berauschendem Sex! Bert wußte, daß er das unter normalen Umständen niemals durchgehalten hätte. Er hatte keine Sekunde lang geschlafen, sie hatten immer weitergemacht, immer weiter... ohne Pause. Und es war wunderbar gewesen! Jetzt dieser eschlafen, sie hatten immer weiterg furchtbare
Kontrast - er hätte schreien mögen. Aber der Rest Verstand, der ihn ihm war, warnte ihn davor. Die beiden Männer würden ihn sehr schnell wieder zum Schweigen bringen. Das Sensorium lag auf dem Tisch. Sie hatten es ihm abgenommen und damit diesen unendlichen Liebestraum jäh unterbrochen. Er haßte sie dafür. Er wollte weiter das Glück genießen, das ihm seine Traumfrau bescherte. »Geben Sie mir das Gerät zurück«, hörte er sich rauh krächzen und fragte sich, ob das wirklich seine eigene Stimme war. »Setzen Sie es mir wieder auf! Sie haben kein Recht...« Habe ich den Verstand verloren? fragte er sich. Ich winsele wie ein Junkie! Die beiden Männer lachten. »Sie haben wohl zum ersten Mal in Ihrem Leben eine richtige Frau erlebt, wie?« spöttelte einer von ihnen. »Na ja, wenn ich Sie mir so anschaue, Stranger... da wundert mich überhaupt, daß Sie jemals eine Frau hatten. Wer Sie 'ranläßt, läßt auch 'nen Hund 'ran...« »Ich bring dich um, du Scheißkerl!« keuchte Stranger in verzweifelter Wut. ' »Später vielleicht, wenn du dann noch kannst. Junge«, grinste ler Spötter. »Falls dir bis dahin deine Favoritin nicht den letzten lest von Hirn aus dem Schädel ge...« Stranger brüllte ihn an. Er schaffte es, trotz seiner Erschöpfung nitsamt dem Stuhl aufzuspringen. Da war der zweite Mann da, va.rf ihn wieder zurück. »Nur ruhig, mein Bester«, sagte er. »Sparen Sie sich Ihre Kraft, Sie werden sie noch brauchen.« Der Spötter öffnete das Sensorium und nahm den Chip heraus, ließ ihn in seiner Tasche verschwinden und grinste wieder. Der andere löste Strangers Fesseln. Als der Reporter aufsprang, sah er wieder in die Mündung eines Schockers. Der Abstrahlpol leuchtete bläulich. »Ganz ruhig, mein Junge«, sagte der Mann. »Sie bekommen leue Chips, wenn Sie aufhören, weiter nachzuforschen und Ihre Jase in Angelegenheiten zu stecken, die Sie nichts angehen.« »Was...« Aber da verließen die beiden das Zimmer bereits. Stranger taumelte ihnen nach. Aber jetzt machte sich seine Erschöpfung stärker bemerkbar. Er taumelte, wäre beinahe gestürzt. |Er war todmüde, und der Gedanke an die Frau tobte dennoch ilurch sein Bewußtsein. Er
mußte wieder mit ihr zusammen sein, mußte wieder... Er erreichte die Zimmertür, riß sie auf. Korridor und Treppe waren menschenleer. Die beiden Halunken waren längst verschwunden. Erschüttert wankte Stranger zu seinem Bett und ließ sich einfach iarauff allen. Er blinzelte und starrte das Sensorium auf dem Tisch an. Ohne den Chip nützte es ihm überhaupt nichts. Er brauchte diesen Chip. ^r mußte wieder... Ich bin süchtig geworden! erkannte er bestürzt. Süchtig nach diesem falschen Erleben! Süchtig nach einer virtuellen Welt. Und jene/die dahinter steckten, hatten ihn genau an der richtigen Stelle gepackt. Wie eine Versuchsratte im Labor, die mit elektrischen Stromstößen stimuliert wird, um bestimmte Dinge zu tun - nur besaß er im Gegensatz zu dieser Laborratte noch die Fähigkeit, zu begreifen, was da mit ihm geschah. Sich dagegen wehren konnte er trotzdem nicht. Er brauchte die Stimulanz! So fertig, wie er war, so sehr sehnte er sich auch nach einer Wiederholung des Glücksgefühls. Er würde es auskosten wollen bis zu seinem Tod. »Ich muß davon loskommen«, keuchte er bitter. Er versuchte zu analysieren, was geschehen war. Eine ganze Nacht über war der Chip gelaufen, hatte ihm suggeriert, mit der perfektesten aller Frauen zusammen zu sein und die gemeinsame Erfüllung zu finden. Verdammt, wer war diese Frau? Wer war das Vorbild? Aber war das nicht unwichtig? , Wichtiger war etwas anderes. Der Chip! Die kleinen Speicher, welche man ihm zusammen mit dem Sensorium verkauft hatte, liefen bei weitem nicht so lange wie dieser, der Stranger eine komplette Liebesnacht vorgegaukelt hatte. Und es konnte kein Zeitraffereffekt gewesen sein, denn es war tatsächlich die ganze Nacht vergangen! Das hieß, daß es zwei verschiedene Chiptypen gab. Die »normalen«, die für eine Menge Geld nur über eine relativ kurze Zeit liefen, und diese »langen«, die für... Ja, wofür? Für Erpresserzwecke, wie man sie gegen ihn, Bert Stranger, an-
wandte? Oder...? Er verstand es nicht. Das Denken fiel ihm ohnehin schwer. Er brauchte Entspannung. Er mußte sich beruhigen, indem er wieder mit jener Traumfrau zusammen war. Aber dazu benötigte er den Chip! Den aber hatten die beiden Männer mitgenommen. Sie hatten ihm weitere Chips versprochen, wenn er seine Nase ns der Angelegenheit heraushalte. Er stöhnte auf. Er brauchte eine Fortsetzung seines Erlebnisses. Dabei ahnte er, aß er sich dabei über kurz oder lang selbst zerstörte. Aber auf lern Höhepunkt des erfüllenden Glückes zu sterben, was konnte man sich besseres wünschen? Er mußte wieder einen Chip bekommen. In der Tat, er war hochgradig süchtig nach den Sensoriumserlebnissen geworden... Er haßte sich dafür, aber noch mehr haßte er die beiden Männer, lie ihm das Paradies gezeigt und ihn wieder daraus vertrieben latten. Aber dieser Haß konnte sein Problem auch nicht lösen. 10. Am Montag, dem 17. Februar 2059, startete die EPOY vom Raumhafen Cent Field. An Bord befanden sich Gisol, Ren Dhark, Amy Stewart und Juanita Gonzales. Die Elfjährige nahm die blonde Amy gleich bei der Hand und begann ihr das Schiff zu zeigen und zu erklären. Schmunzelnd sah Dhark den beiden nach. Er fand es gut, daß die beiden sich verstanden. Das hatte sich schon im Landsitz in den Bergen gezeigt. Er selbst blieb in der Zentrale und verfolgte, wie Gisol mit den Möglichkeiten der Automatik geradezu spielte. Der Mysterious nutzte die technischen Einrichtungen des Ringraumers virtuoser als Ren es sich jemals hätte träumen lassen. Sie begeisterten ihn. »Im Prinzip können alle Ringraumer, die über eine Gedankensteuerung verfügen, von einem Mann allein geflogen werden«, erläuterte Gisol zwischendurch. Dhark nickte. Das war ihm bekannt. Er hatte die POINT OF auch
schon einige wenige Male im Alleingang geflogen. Allerdings war da immer noch die Mannschaft im Hintergrund gewesen, um notfalls eingreifen zu können. Gisol war völlig allein - und er machte es besser als Dhark, wie dieser sich eingestehen mußte. . Allerdings gab es zwischen der POINT OF und der EPOY geringfügige Unterschiede in der technischen Ausstattung. Der Commander hatte den Eindruck, daß die EPOY zwar wesentlich jünger war, die POINT OF dagegen, obgleich tausend Jahre alt, ein wenig ausgereifter. Er sprach Gisol darauf an. »Ich erfuhr, daß Margun und Sola, die beiden größten Genies, die das Volk der Worgun jemals hervorgebracht hat. Ihre POINT OF unvollendet auf Kaso zurückließen«, sagte der Mysterious. »Sie, Commander, haben das Schiff mit Ihren Leuten erst fertiggestellt.« Dhark nickte. »Das ist richtig«, bestätigte er. »Aber es ist uns nicht sonderlich schwergefallen. Das Mentcap-Archiv in der Ringraumerhöhle war uns dabei eine große Hilfe.« »Mentcap«, murmelte Gisol. »Sie meinen die Informationsträger?« »Ja. Eine geniale Entwicklung, Wissen in kleinen Kapseln zu speichern und durch das Verschlucken dieser Kapseln im Gehirn freizusetzen...« »Es ändert nichts am umständlichen Lernprozeß«, sagte Gisol. |»Es erleichtert ihn nur, und es spart bisweilen den Lehrer. Dhark, haben Sie durch die Informationsträger... die Mentcaps... auch Informationen über Margun und Sola erhalten?« »Nein.« Ren schüttelte verblüfft den Kopf. »Warum?« »Ich hätte gern mehr über die beiden erfahren«, sagte der Mysterious. »Kaum jemand weiß etwas über sie. Nur daß sie existierten und seit der Flucht aus Nai, wie wir Ihre Galaxis nennen, verschwunden sind. Inzwischen müssen sie längst tot sein.« »Sie wissen nichts über Ihre größten wissenschaftlichen Genies?« staunte Dhark. »Bedauerlicherweise. Mir und anderen ist nur bekannt, daß sie auf Kaso eine der geheimnisvollsten Forschungsstätten errichteten, über die unser Volk jemals verfügte. Ich hatte gehofft, ich könnte mehr von Ihnen erfahren.« »Da muß ich passen«, gestand Dhark. »Aber wenn ich mir Ihre EPOY ansehe, vermute ich immer mehr, daß meine POINT OF so etwas wie ein Prototyp gewesen sein muß. Ein Raumschiff, in das
alles an Neuentwicklungen eingebaut wurde, was zur Verfügung stand, das Neueste vom Neuen.« l »Das ist richtig«, sagte Gisol. »Die Ringraumer, die wir heute bauen, basieren nicht mehr auf den veralteten Schiffen, die Sie als S-Kreuzer bezeichnen und die meine Vorfahren im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr ausmusterten, um sie zu automatisieren und nur noch von Robotern fliegen zu lassen, die von Kommandosternen aus ferngelenkt wurden, wie Fände einer ist und wie es noch aber Tausende von Planetenbasen überall in Nai gibt. Zum Beispiel besitzen diese veralteten Raumer noch keine Gedanken-Steuerung, sie sind weniger einfallsreich bewaffnet... die modernen Typen, zu denen auch die EPOY gehört, basieren samt und sonders auf dem Prototyp, der auf Kaso entstand.« »Was ich allerdings in Ihrem modernen Typ vermisse«, stellte Ren Dhark fest, »ist ein Checkmaster, wie wir ihn in der POINT OF haben.« Gisol seufzte. »Ihren Checkmaster kenne ich nicht. Vielleicht war er eine Einzelfertigung, ein einmaliges Unikat wie vieles, was von Margun und Sola entwickelt wurde. Hinzu kommt, daß unsere Raumer später nicht mehr nennenswert weiterentwickelt wurden. Seit der Niederlage gegen die Zyzzkt stagniert die Entwicklung der Worgun.« »Auf einem Planeten, den wir Dockyard nannten und auf dem seit dem Galaktischen Blitz auch nichts mehr funktioniert, fanden wir Fabriken mit Bandstraßen, auf denen Ringraumer gefertigt -und schließlich wieder abgewrackt wurden, weil niemand kam, um sie abzuholen. Diese Raumer waren vom Durchmesser her kleiner als die POINT OF oder die EPOY. Wissen Sie etwas darüber?« fragte Dhark. »Diesmal bin ich es, der passen muß, um Ihren Sprachgebrauch zu verwenden«, sagte Gisol. »Von diesen kleineren Räumern weiß ich nichts. Vergessen Sie nicht, Dhark, daß ich nicht in Nai aufwuchs, sondern in Orn, und das Jahrhunderte nach der Flucht und der Niederlage. Sehr viel Wissen wurde einfach verschüttet, ist verlorengegangen... und ich bin hier ebenso nur ein Suchender und Forscher wie Sie.« Ren Dhark lächelte. »Schade«, sagte er. »Schade, daß wir beide nicht genug wissen. Sonst hätten wir uns jetzt gegenseitig prima ergänzen können.« Gisol, nach wie vor in seiner Jim-Smith-Gestalt, erwiderte das
Lächeln nicht. Aber in seiner Mimik glaubte Ren Dhark so etwas wie Trauer festzustellen. Gisol bevorzugte den »gemütlichen« Flug, wie es auch Ren Dhark bisher fast immer getan hatte. Keine Kette von Transitionen, sondern ein linearer Überlichtflug mit Sternensog zwischen Terra und Hope. Der dauerte etwa drei Tage; genug Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Dhark berichtete von den Angriffen, welchen die POINT OF in der Anfangszeit gerade auf dieser Route ausgesetzt gewesen war. Schon vom ersten Flug von Hope in Richtung Erde an war der Ringraumer immer wieder von Schiffen der unterschiedlichsten Völker attackiert worden, manchmal in Flottenstärke. Einige dieser Raumertypen waren später niemals wieder irgendwo in Erscheinung getreten, aber damals hatten sie stets alles daran gesetzt, die POINT OF zu vernichten. Dabei hatten sie mit einer selbstmörderischen Verbissenheit gekämpft und waren größtenteils auch zerstört worden, speziell dann, wenn der Checkmaster die Kontrolle über das Schiff an sich riß und mit all seiner Macht gnadenlos zurückschlug. »Die Utaren erzählten uns später, daß es hier eine Ortungsstrek-ke im Hyperraum gab, von der aus die POINT OF stets angemessen wurde, aber irgendwann sei dieses Alarmsystem abgeschaltet worden, als sich herausstellte, daß die POINT OF nicht von Grakos geflogen wurde...« Gisol sah an Dhark vorbei. »Wie verbittert müssen all diese Völker gewesen sein«, sagte er leise. »Wir Worgun wurden nie geliebt, unserer Arroganz wegen, aber die Grakos, die eroberte Ringraumer flogen, haben uns dann erst richtig in Verruf gebracht. Und heute... heute fliegen die Zyzzkt unsere Schiffe.« Er hieb mit der Faust auf das Kontrollpult. »So viel Lüge und Betrug! Gut, wir waren niemals das, was ihr in euren Mythologien als Engel bezeichnet. Aber wir waren auch nie die Grausamen, als die wir hingestellt wurden. Damals wie heute. Vielleicht haben meine Vorfahren Schuld auf sich geladen, in welcher Form auch immer. Aber die Zyzzkt bestrafen uns jetzt noch immer dafür. Sie unterdrücken uns, unterjochen uns. Das muß anders werden. Die Galaxien müssen erfahren, daß wir Worgun, wir Mysterious, oder wie auch immer wir genannt werden, nicht die Ungeheuer sind, als die man uns darstellt.« »Es wird ein langer Weg, Gisol«, sagte Dhark leise. »Ein sehr, sehr langer Weg voller Domen und Schmerzen.«
»Werden wir ihn gemeinsam gehen, Terraner?« »Ich weiß es noch nicht«, gestand Dhark offen. »Mein Herz sagt ja, mein Verstand sagt, prüfe zuerst! Und Terra sagt, stürze uns Menschen nicht von einer Katastrophe in die andere! Gisol, was wir jetzt am wenigsten gebrauchen können, ist ein Krieg gegen die Zyzzkt. Wir würden ihn ebenso verlieren, wie ihr ihn verloren habt. Uns fehlen die Ressourcen. Wir sind ausgeblutet durch den Krieg gegen die Grakos. Und ich bin für die Menschheit verantwortlich. Ich darf keinen Fehler machen. Und«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »vielleicht wird es so kommen, wie Trawisheim sagte, und man wird mich nicht wiederwählen. Dann kann ich nichts mehr für Ihr Volk tun, Gisol, und es wird Ihnen schwererfallen, andere zu überzeugen als mich.« »Ich danke Ihnen für die Ehrlichkeit«, sagte Gisol. »Und ich hoffe immer noch. Denn die Hoffnung darf niemals sterben.« Über dem Inselkontinent Deluge spannte sich nach wie vor das weite Intervallfeld, und nach wie vor akzeptierte die automatische Kontrolle der Mysterious-Anlagen die EPOY nicht. Aber auf einen Funkspruch hin wurde das Intervallum kurzfristig manuell abgeschaltet, so daß der Ringraumer einfliegen konnte. Liebend gern hätte Dhark die EPOY selbst gesteuert, aber Gisol ließ nur zu, daß der Commander ihm kurze Anweisungen gab. Wenig später parkte die EPOY auf ihren 45 Auslegerpaaren dort, /o einst die unfertige POINT OF gestanden hatte, um tausend Fahre auf ihre Vervollständigung zu warten. Optisch gab es nur einen Unterschied: die POINT OF besaß auf ihrer Außenhülle eine entsprechende Beschriftung, die sie als Flaggschiff der TF auswies, die EPOY zeigte blankes Unitall. Guliver Bligh, der Sicherheitschef des Höhlensystems, zeigte sich nicht sonderlich begeistert von dem hohen Besuch, und am wenigsten gefiel ihm, daß sich dieser Jim Smith in Dharks Begleitung befand. Der hatte eine Menge Unruhe gestiftet, den To-Ringaumer EUROPA geklaut und stand jetzt plötzlich nicht mehr auf ier Fahndungsliste? Bligh übte keine offene Kritik, aber er zeigte sich von seiner Zironenseite. Chefwissenschaftler Gerd Dongen und Leute wie Tim Acker "oder Raoul Pelletier, die von Smiths und Juanitas Aktivitäten persönlich betroffen gewesen waren, zeigten Smith ebenfalls die kalte Schulter,
aber sie ließen auch Ren Dhark spüren, daß sie diesen Besuch als Belästigung empfanden. »Verbrechen zahlt sich aus«, knurrte der beleibte Tim Acker, der längst bedauerte, damals in eine körperliche Auseinandersetzung mit Pelletier geraten zu sein, die in Wirklichkeit durch die beiden »Unsichtbaren« Juanita und Smith provoziert worden war; daß dies ungewollt geschah, wußte er nicht, noch spielte es für ihn eine Rolle. »Dieser Lump bringt hier die ganze Welt durcheinander, |Nind jetzt spaziert er Seite an Seite mit dem Commander durch das Höhlensystem, als sei überhaupt nichts geschehen!« * Raoul Pelletier, der seinem Kollegen längst nichts mehr übelnahm, winkte ab. »Der Commander wird schon wissen, was er tut, aber ob ich ihn im Herbst noch einmal wähle, steht auf einem anderen Blatt...« Andere beachteten Jim Smith überhaupt nicht. Die wenigsten hatten ihn jemals gesehen. Durch Juanitas Parafähigkeit hatten er und das Mädchen sich der Wahrnehmung durch die Menschen weitgehend entzogen. Erst durch den Einsatz von Überwachungskameras waren sie entdeckt worden. Dhark und Gisol benutzten eine Antigravplatte, um sich durch den ausgedehnten Höhlenkomplex zu bewegen. Der Pullman, der ein bequemes und komfortables Transportmittel darstellte, funktionierte nur im Industriedom. Wohlweislich verschwieg Gisol, daß er bei seinem ersten Hope-Besuch dieses Gerät so manipuliert hatte, daß es auch in der Ringraumerhöhle einsetzbar war. Um vom Industriedom in die beiden vorgelagerten Höhlen zu gelangen, mußten sie einen unter dem Bodenniveau angelegten Tunnelschacht benutzen. Der war Ren Dhark und seinen Begleitern einst auf der Flucht vor Roccos Spreng- und Mordkommandos beinahe zum Verhängnis geworden, weil sich plötzlich energetische Sperren aufbauten, aber die gab es inzwischen nicht mehr. Mit der AGravplatte erreichten sie die beiden vorgelagerten Höhlen, und Dhark steuerte die Platte bis hinaus ins Freie, wo es einst die tote Stadt gegeben hatte, durch die die vom Diktator Rico Rocco nach Deluge deportierten Menschen erst auf das Höhlensystem aufmerksam geworden waren. Die Grundrisse der zerfallenen Häuser waren stets ein regelmäßiges Siebeneck gewesen. Damit erwiesen sie sich als eine Ansiedlung der Mysterious außerhalb des Höhlenkomplexes, denn die Sieben war für
dieses Volk typisch. Sogar die Supermathematik der Mysterious beruhte darauf, mit ein Grund, weshalb sie für an das Dezimalsystem gewohnte Menschen so unverständlich war. »Welche Bedeutung hat die Zahl Sieben für Sie, Gisol?« wollte Dhark wissen. Der betrachtete die Grundrisse, die übriggeblieben waren, nachdem Roccos Sprengkommandos auch die Ruinenstadt zerstört hatten; terranische Archäologen waren dabei, die Reste wieder auszugraben. »Ich weiß es nicht«, sagte der Worgun. »Falls es einen Mythos gibt, ist er mir nicht bekannt. Ich sagte ja schon, daß sehr viel Wissen verlorenging.« [ Sie kehrten um in die erste Höhle, die durch ein riesiges, unzer-stört gebliebenes Unitalltor von der zweiten, der sogenannten Ma"schinenhöhle, getrennt wurde. In beiden gab es nur Staub. Aber in der zweiten Höhle hatte es anfangs noch Maschinen gegeben, fast so gigantisch wie im Industriedom, doch diese Maschinen waren plötzlich zu Staub zerfallen, während unter der Höhlendecke das Bild einer goldenen Galaxisspirale rotierte. Und diese Spirale war Dhark später noch oft auf anderen Planeten und in anderer Darstellung aufgefallen, sie war eine Art Standardemblem der Mysterious. »Das ist richtig, Commander«, sagte Gisol, »aber Ihnen ist sicher nie aufgefallen, daß diese Spirale nicht Ihre Milchstraße abbildet, sondern Orn.« Dhark pfiff durch die Zähne. »Allerdings nicht«, gestand er verlüfft. »Daraufhat wohl niemand geachtet.« Gisol stiefelte durch den Staub der Maschinenhöhle und nahm einige Proben. Zusammen mit Dhark kehrte er dann zur Ringraumerhöhle zurück, um in den Labors der EPOY diesen Staub zu untersuchen. »Was sich an Maschinen in jener Höhle befunden hat, kann ich nicht herausfinden«, gestand er einen Tag später. »Der Staub besteht aus einer Mischung aus Unitall und anderen Metallarten, die von uns verwendet wurden. Somit bleibt es auch ein Rätsel, weshalb diese Geräte so zerfallen konnten. Wir kannten eine Waffe, die Perr genannt wurde und Unitall zu Staub verwandelte, aber anderes Material nicht angriff, doch diese Waffe sowie Unterlagen darüber gibt es nicht mehr, und der Duststrahl zerpulvert jedes andere anorganische Material, aber dann hätte auch Ihre Kleidung
Kunstlicht erhellt gewesen, wechselte das Licht jetzt in schnellem Rhythmus über Gelb zum Grün, zurück zum Blau, wieder über Gelb zum Grün... und als Dhark instinktiv den Blick nach oben richtete, sah er unter der Decke der Ringraumerhöhle die große, goldene Galaxisspirale, die langsam rotierte... Die Farbe Grün bedeutete bei den Mysterious dasselbe wie Rot bei den Menschen: Alarm! »Was ist passiert, Smith?« zischte Dhark dem Worgun zu. Der trat einen Schritt von den Geräten zurück, an denen er bisher gearbeitet hatte, und streckte Dhark die offenen Handflächen entgegen. »Ich muß eine Sicherungsschaltung übersehen haben«, sagte er. »Keine Sorge. Das kriege ich wieder hin.« »Sicherungsschaltung?« erwiderte Dhark. »Schauen Sie sich das da an.« Er deutete auf die rotierende Galaxisspirale. »Das ist mehr als eine Sicherung. Smith, diese Spirale kreiste über uns, als damals in der Maschinenhöhle alles zu Staub wurde...« »Was aber nicht bedeutet, daß genau das hier erneut geschehen wird!« protestierte Gisol. »Lassen Sie mich machen, ich arbeite dran...« Dhark ließ ihn machen. Aber es gab einige, die ihn nicht machen lassen wollten. Roboter! Von einem Moment zum anderen waren sie da und griffen an! Kugelroboter! Zu Dutzenden jagten sie aus einem Maschinenblock hervor, der in all den Jahren sein Geheimnis noch nicht preisgegeben hatte. Plötzlich entstand eine große Öffnung an der Frontseite; eine vorher fugenlos dichte und daher nicht erkennbare Luke schwang nach innen zurück, und der Maschinenblock spie die Robotkonstruktionen aus, die sich auf A-Gravfeldern blitzschnell bewegten und in ihren ausgefahrenen Armen Waffen hiel;n, mit denen sie unverzüglich das Feuer eröffneten. Gisol und Dhark reagierten blitzschnell. Beide ließen sich fallen, als neben ihnen Wissenschaftler und Hilfskräfte im Strahlbeschuß zu Boden gingen. Dhark riß seinen Biaster aus dem Lederfutteral am Gürtel und schoß. Ein blaßroter Nadelstrahl fauchte aus der Mündung der Waffe, die der Commander im Zentrum des getarnten Planeten Zwitt in der Kabine des Mysterious Ma-Soor gefunden hatte, des letzten Kommandanten der Stemenbrücke.
In einem grellen Aufblitzen wurde der getroffene Kugelroboter in Energie umgewandelt. Die anderen Maschinen waren davon nicht zu beeindrucken. »Deckung suchen!« schrie Dhark den anderen zu. Plötzlich tauchten Sicherheitskräfte auf. Guliver Bligh mußte sehr schnell reagiert haben. Männer mit schweren Biastern feuerten auf die Kugelroboter, die bei jedem Treffer auseinanderflogen und glühende Sprengstücke durch die Luft jagen ließen. Eines verfehlte Ren Dhark nur knapp. Auch Gisol, der vorher unbewaffnet gewirkt hatte, hielt jetzt einen Biaster in der Hand, wie ihn Dhark noch nie gesehen hatte. Auch er schoß auf die Kugelroboter, ohne die schier endlose Flut aufhalten zu können, die nach wie vor aus der Öffnung im Maschinenblock hervorströmte. In der Schleuse der EPOY tauchte Amy Stewart auf, in jeder Hand eine Strahlwaffe. Sie war dermaßen schnell, daß ihre Bewegungen kaum zu erkennen waren. Sie hatte auf ihr Zweites System geschaltet und kämpfte als Cyborg gegen die Robotkugeln an. Innerhalb weniger Augenblicke verwandelte sich die Ringraumerhöhle in eine Hölle. Die Strahlschüsse und die Explosionen setzten ungeheure Hitze frei. Neben Dhark ging einer der Sicherheitsleute zu Boden. Verblüfft sah der Commander, daß der Mann nicht verletzt war. Die Robs setzten Paralysewaffen ein? Sie töteten die Menschen nicht? Immer noch signalisierte die Höhlenbeleuchtung Alarm. Jetzt kamen auch terranische Alarmsignale hinzu. Und trotz der entschlossenen Abwehr der Terraner wurden es immer mehr Kugelroboter, die aber nicht nur in der Ringraumerhöhle auf alles schössen, was sich bewegte, sondern auch in den Industriedom vordrangen. Dhark sah, wie sich einige von ihnen an den paralysierten Terra-nem zu schaffen machten. Je zwei Kugelrobots hoben einen Menschen an und versuchten mit ihm die Ringraumerhöhle zu verlassen. Stewart raste zwischen den Landestützen des Raumers hin und her, nahm hier und da Deckung hinter Geräten und feuerte immer wieder auf die Roboter, aber die ließen sich immer weniger leicht abschießen, weil sie zwar erstklassige Ziele boten, aber sich zu nahe an den Menschen bewegten, die mit schweren Verletzungen rechnen mußten, wenn in ihrer unmittelbaren Nähe ein Rob abgeschossen wurde.
Gisol zerrte Dhark hinter die abgenommene Verkleidung des Mentcap-Archivs. In den letzten Minuten hatte er sich nicht mehr an dem Feuergefecht beteiligt, sondern sich wieder um die Schaltungen gekümmert. »Meine Schuld, Dhark«, sagte er und wies auf die Galaxisspirale, die nach wie vor unter der Höhlendecke langsam rotierte. »Ich habe mit meinem Schaltfehler eine Selbstvemichtungsauto-matik ausgelöst.« »Na klasse!« fuhr der Commander ihn an. »Das hätten wir auch ohne Sie hinbekommen, Mister Mysterious! Können Sie sie deaktivieren?« »Ich arbeite ja schon dran, brauche aber noch Zeit. Wenn diese verdammten Defensiven nicht...« »Wieviel Zeit?« drängte Dhark, ohne nach dem von Gisol genannten Begriff zu fragen. »Ich weiß es nicht, wie ich auch nicht weiß, wann die Selbstvernichtung eintritt! Sie müssen damit rechnen, daß dann hier nicht nur alles in Staub zerfällt, sondern möglicherweise der ganze Kontinent abgesprengt und in den Weltraum geblasen wird!« Prachtvolle Aussichten, dachte Dhark. Das war nicht die Art, ien Weltraum zu erreichen, wie er sie sich vorstellte. Was annähernd acht Jahre lang keiner der manchmal leichtsinnig agierenden Forscher und »Knopfdruck-Hausierer« fertiggebracht hatte, schaffte einer aus dem Volk der Erbauer mit einer Handbe||iivegung: den Höhlenkomplex von Deluge zu zerstören! Nicht einmal den Schergen Roccos, die schwerste Waffen zum Einsatz gebracht hatten, als sie Dhark und seine Freunde in den Höhlen tagten, war das gelungen. ( »Wir müssen mit der EPOY verschwinden!« rief Amy Stewart den anderen zu. Sie achtete nicht mehr darauf, Deckung zu finden. Auch sie hatte erkannt, daß die Roboter mit Paralysewaffen schössen, und solange sie auf ihr Zweites System geschaltet hatte, war sie gegen diese Strahlen immun wie jeder Cyborg. Ihr Programmgehirn riet ihr, diese Tatsache zu nutzen und so viele betäubte Menschen wie möglich zu bergen und in die EPOY zu bringen, ehe pie von den Robotern fortgeschleppt werden konnten. Sie schoß nicht mehr auf die Robots, weil das ohnehin sinnlos geworden war, sondern versuchte, im Blitzgewitter der Lähmstrahllen den Kugeln Menschen zu entreißen. »Wir verschwinden nicht!« rief Dhark zurück. »Wir können die Menschen im Industriedom nicht im Stich lassen!«
»Das ist Wahnsinn«, entfuhr es Gisol. »Ich versuche diese Selbstvemichtung abzuschalten, aber wenn mir das nicht gelingt, bleibt uns tatsächlich nur noch die Chance, mit der EPOY zu verschwinden!« »Es ist nicht Wahnsinn, sondern humanitäre Notwendigkeit aber davon versteht ihr Worgun wohl nicht sonderlich viel«, blaffte Dhark ihn an. »Gisol, Ihre Vorfahren haben darauf verzichtet, Menschen und andere Intelligenzen aus der Milchstraße zu evakuieren, aber ich werde nicht darauf verzichten, diese Menschen hier möglichst zu retten!« Er sprang auf. »Warten Sie«, rief Gisol ihm nach. »Sie...« Da mußte er doch noch mal seinen Biaster benutzen, weil gleich drei Roboter sich auf Ren Dhark einschossen, der in weiten Sprüngen durch die Halle davonhetzte. Einen zerstrahlte er, die beiden anderen wurden von Amy Stewart erledigt. Der Druck der Explosionen traf Dhark und schleuderte ihn meterweit durch die Luft vorwärts und aus dem Schußbereich eines vierten Robots, auf den keiner von ihnen geachtet hatte. Im nächsten Moment schaltete Stewart auch diese Maschine aus. Sie hetzte hinter Ren Dhark her und holte ihn in Sekundenschnelle ein. »Bleiben Sie hier! Sie können sich nicht zur Zielscheibe machen!« Dabei riß sie ihn in Deckung. Weitere Paralyseschüsse verfehlten sie beide nur knapp. »Ich muß wissen, was im Industriedom los ist!« In den strömte die Flut der Roboter. Es war fast kein Durchkommen, denn auch hier schössen die Robots auf alles, was sich bewegte. Dhark sah, wie sie auch im Industriedom paralysierte Menschen einsammelten, um mit ihnen zu verschwinden. Wohin? Das mußte er in Erfahrung bringen! Gisol wußte, daß Ren Dhark keine Chance hatte. Selbst wenn der Cyborg ihn schützte, würde er nicht weit kommen. Es war sinnlos. Ebenso sinnlos schien es dem Worgun, gegen die Selbstvemichtungsschaltung zu arbeiten. Er fand den Fehler nicht, den er gemacht hatte, und somit auch keine Möglichkeit, ihn rückgängig zu machen. Ein direktes Abschalten war unmöglich. Zumindest nach Gisols Kenntnisstand. Aber was wußte er schon von den Raffinessen, die Margun und Sola in ihre Entwicklungen hatten
einfließen lassen? In der Ringraumerhöhle gab es keine Menschen mehr, die sich im Wachzustand befanden. Da riskierte Gisol es, seine wahre Geistalt anzunehmen. Er floß förmlich aus der terranischen Kleidung heraus und zeigte sich dann als Worgun. »Ich bin Gisol«, rief er den Robotern in seiner Sprache zu. »Ich bin ein Erbauer. Ihr gehorcht mir.« / Und von einem Moment zum anderen war alles anders. Sie erkannten ihn an seiner Gestalt. Sie gehorchten ihm! »Stoppt die Angriffe auf die... die Salter«, stieß er hervor, weil ihm kein anderer Begriff einfiel, mit dem die Defensiven etwas anfangen konnten. Die Salter, jenes Hilfsvolk, das die Worgun einst auf dem längst vergessenen Kontinenten Lemuria auf Terra herangezogen hatten, mußten den Robotern bekannt sein, und da die Menschen hier von Terra stammten, war auch das optische Erscheinungsbild gleich. Vielleicht, schoß es durch Gisols Bewußtsein, wurde den Terranern nur deshalb so viel Bewegungsfreiheit in diesen und anderen Anlagen gewährt, weil die Automatiken sie mit Saltern verwechselten. »Es sind keine Angriffe, Thendar Gisol«, widersprach eine der Maschinen, die nach dem Zufallsprinzip als Kommunikationspartner geschaltet wurde. »Es ist Schutz. Wir folgen dem Programm, das die Thendaren Margun und Sola in uns initiierten. Im Falle einer Selbstzerstörung des Komplexes sind so viele Individuen wie möglich per Transmitter zu retten. Im Falle einer irrationalen Gegenwehr ist angemessene Gewaltanwendung erlaubt. Thendar, du solltest uns nicht an der Erfüllung unserer Aufgabe hindern. Uns bleibt wenig Zeit. In...«, es folgte eine Angabe, die etwa acht Minuten terranischer Zeit entsprach, »... tritt die Selbstzerstörung in Kraft. Wir müssen unserem Programm gehorchen. Du kannst es nicht außer Kraft setzen, Thendar. Dein Befehl kollidiert mit dem Programm.« Gisol war mehr als überrascht. Der Angriff durch die Defensiven als Rettungsmaßnahme? »Dennoch werdet ihr keine Salter mehr angreifen«, ordnete Gisol an. »Redet zu ihnen in ihrer Sprache. Sie werden den Transmit-ter freiwillig benutzen.« »Welchen Transmitter?« fragte Ren Dhark.
Er war in die Ringraumerhöhle zurückgekehrt. Amy Stewart hatte ihn geschützt, soweit es ihr möglich war. Sie hatte einige Dutzend Robs abgeschossen. Die Explosionen hatten die Ortungssysteme der Robs wohl so gestört, daß sie dann jeweils den Terra-ner nicht exakt erfassen konnten. Und plötzlich war eine Pause eingetreten. Keine der Maschinen schoß mehr! Dhark ging davon aus, daß Gisol dafür verantwortlich war, und mit ihm wollte er reden, bevor er weitere Schritte unternahm. »Dieser ist ebenfalls ein Thendar«, hörte er Gisol sagen, der auf Dhark zeigte. Der Commander begriff. Thendar war eine Ehrenbezeichnung, sie ließ sich am ehesten mit »Erhabener« übersetzen. »Welchen Transmitter?« wiederholte er seine Frage, diesmal in der Sprache der Mysterious, die er als einziger Mensch perfekt beherrschte. Teilweise durch die Mentcaps und seine anschließende intensive Geistesarbeit, sich diese Sprache zu verinnerlichen, teilweise aber auch dadurch, daß er in der Station im Zentrum von Zwitt vorübergehend zum Checkmaster der Station gemacht worden war, um unter diesem Zwang die Invasionsflotte der Tel unter ihrem Kommandanten Girr-0 per Hy-Kon zu vernichten. »Der Transmitter verbringt die zu Rettenden auf den Kontinent...« es folgte eine blumige Bezeichnung, die unübersetzbar war. »Die zu Rettenden?« »Noch fünf Minuten, Dhark«, sagte Gisol. »Bis dahin muß es |eschafft sein - und der letzte Salter das Höhlensystem verlassen haben, von uns mit der EPOY mal ganz abgesehen! Denn dann zündet die Selbstvemichtungseinrichtung.« »Salter«, murmelte Ren Dhark, begriff aber, weshalb Gisol diese Bezeichnung gewählt hatte. »Gisol, Sie müssen es schaffen, diese Automatik abzuschalten!«, drängte er. »Es sieht so aus, als gäbe es keinen einzigen Ter... Salter mehr, der auf eigenen Beinen steht. Wir können sie nicht alle retten.« »Die Defensiven können es«, widersprach der Mysterious. »Geht und handelt, wie euer Programm es befiehlt!« In die Robots kam wieder Bewegung. »Defensive?« echote Dhark. »So haben wir diese Maschinen genannt, die für Verteidigungsund Rettungsaktionen konzipiert wurden«, erklärte Gisol knapp. »Bei diesen Aktionen ist auch begrenzte Gewalt erlaubt.«
»Für so was haben wir hier Zylinderroboter kennengelernt, die fünf Arme besitzen«, erinnerte sich der Commander. »Kann sein, daß die hier auch eingesetzt wurden, weil sie billiger herzustellen sind«, brummte Gisol und beugte einen Teil seines amöbenähnlichen Körpers wieder über die Schaltungen. »Noch drei Minuten, und ich glaube nicht, daß ich es schaffe.« »Sie müssen es schaffen, Gisol. Welche Schaltungen haben Sie hier vorgenommen? Erzählen Sie es mir, schnell.« »Welchen Sinn...« »Machen Sie!« fuhr Dhark ihn an. Ihm kam ein Verdacht. Er hatte einmal miterlebt, wie Arc Doorn eine ähnlich verhängnisvolle Fehlschaltung ausgelöst hatte, auf einem anderen Planeten, aber Doorn hatte dann auch rechtzeitig die Lösung gefunden. Gisol begann zu erklären. Langatmig und ausführlich, wie es seine Art war. Unterdessen verstrich wertvolle Zeit ungenutzt. Stewart war bereit, die beiden so unterschiedlichen Wesen im Blitztempo in die EPOY zu schaffen, aber ob Gisol es dann noch rechtzeitig schaffte, das Intervallfeld einzuschalten und den Ringraumer dadurch zu schützen, blieb eine offene Frage. »Das Wesentliche, Gisol!« drängte Dhark. Noch eine Minute... »Wir müssen weg!« warnte die Cyborg. »Kommen Sie. Schnell!« Dhark hob abwehrend die Hand. »Nicht jetzt! Gisol, schalten Sie Fing3 auf Terz 7. Das müßte klappen!« »Aber dann muß ich erst den Garan-Trill neutralisieren...« »Tun Sie's, Mann!« brüllte der Commander. »Sofort!« Da flogen Gisols Hände über Sensortasten. »Garan-Trill neutralisiert - ihr Sternengötter! Jetzt wird nicht nur Deluge in den Weltraum geblasen, sondern der ganze Planet gesprengt...« Wie W-4 im Ika-S- 3'-System, durchzuckte es Dhark, als die Planetenbombe gezündet wurde! Und an Gisols Tentakeln vorbei griff er zu, um Fin-g3 auf Terz 7 zu schalten. Aber da erwachte der Worgun aus seiner panischen Starre. »Stop, Dhark! Das geht jetzt so nicht...« Er nahm eine andere Schaltung vor. Terz 7 war danach nicht mehr ansprechbar. Dhark stöhnte auf. »Noch zwanzig Sekunden«, warnte Stewart und wollte Dhark und den 100Kilo-Klumpen Gisol packen, um beide ins Raumschiff zu tragen. Noch länger zu warten konnte sie nicht riskieren. Lieber hätte sie nur Dhark mitgenommen, aber allein der Myste-
rious war in der Lage, die auf ihn abgestimmte Gedankensteuerung zu benutzen. Gisol holte mit einem Tentakel aus und stieß Stewart zurück, die trotz ihrer verstärkten Cyborg-Kraft diesem Stoß nichts entgegenzusetzen hatte. Mit zwei weiteren Pseudopodien manipulierte der Worgun die Schalteinheit. Dann sprang er zurück und schrie auf. »Geschafft!« Dreizehn Sekunden vor Ablauf der Frist war es Gisol gelungen, das Selbstvernichtungsprogramm zu deaktivieren. Von einem Moment zum anderen erfüllte wieder das kalte Blaulicht die Höhlen, und die rotierende Galaxisspirale an der Decke war nicht mehr zu sehen. »Ihr Hinweis auf Fin-g3 war richtig, Dhark«, erklärte Gisol, Bonur Terz 7 konnte hier nicht funktionieren. Woher hatten Sie das Wissen?« Ren sagte es ihm. »Sie sind wirklich ein Wahnsinniger«, seufzte Gisol, der wieder menschliche Gestalt annahm und in aller Gemütsruhe seine Kleidung anlegte, während Amy Stewart seine Anatomie recht interessiert betrachtete. »Sie hätten es damit fast noch schlimmer gemacht als ich, weil die 7-Sequenzen situativ variabel sind. Farr 7 war in diesem Fall richtig. Ihren Arc Doorn würde ich übrigens sehr gern kennenlernen.« »Kein Problem bei unserem Flug nach Orn«, sagte Dhark und fügte in Gedanken hinzu: Wenn er denn stattfindet. Trawisheims Warnungen hatte er nicht vergessen. Aber zunächst gab es Wichtigeres. Die Kugelroboter hatten ihnen den Transmitter zu zeigen, über den sie paralysierte »Salter« -Menschen in Sicherheit brachten. »Margun und Sola müssen ganz besondere Philanthropen gewesen sein, weil sie im Gegensatz zum Denken Ihres Volkes mit dieser Programmierung auch andersartige Wesen vor der Zerstörung zu retten versuchten«, bemerkte Dhark trocken. Gisol zuckte mit den Schultern, eine von vielen Gesten, die er sich von den Terranern abgeschaut hatte. Absolute Notwendigkeit, weil er unerkannt zwischen ihnen leben mußte, als er auf Datensuche war. Wenig später standen sie vor einem Transmitter, der bislang unbekannt war. Auch Gisol kannte ihn nicht, obgleich er bei seinem ersten Aufenthalt als Datendieb im Höhlensystem Apparate benutzt hatte, die die Terraner auch jetzt noch nicht kannten. Hunderte von Kugelrobotern schwebten in der Nähe dieses Transmitters, der sich weitab von der Großtransmitteranlage im
Zentrum des Industriedoms befand. Sie alle hielten paralysierte Terraner bereit, um sie durch den Transmitterring an ein unbekanntes Ziel zu schicken. Dhark riskierte es, den Transmitter zu benutzen. Von einem Moment zum anderen befand er sich auf Kontinent Vier! Piranha-Gebrüll ließ ihn zusammenzucken, und gerade noch rechtzeitig konnte er den Bolas ausweichen, die das Biest auf ihn abgeschossen hatte, dessen Spezies ihren Namen den riesigen Gebissen verdankte, welche sie aufzuweisen hatte. Dabei handelte es sich nicht um Fische, sondern um säugende Landbewohner, die aber um vieles gefährlicher waren als die irdischen Piranhas. Dhark schoß mit seinem M-Blaster auf den Piranha, sah ihn auflodern und zu Asche zerfallen, um im nächsten Moment von zwei weiteren dieser Biester angegriffen zu werden. Eine Bola erwischte ihn und riß ihn zu Boden. Irgendwie schaffte er es noch, dennoch den Biaster abzufeuern und mit dem Nadelstrahl einen Pi-ranha zu erwischen. Den zweiten erwischte Amy Stewart, die in diesem Moment aus dem Transmitterring kam und beidhändig aus Biastern schoß. Nicht nur auf den zweiten Piranha, sondern auf Dutzende andere, die sich versammelt hatten, um leichte Beute zu machen. Als der fünfte Piranha tot zusammenbrach, ergriffen die anderen die Flucht. »Danke«, murmelte Dhark und befreite sich von der Bola. »Keine Ursache«, konterte Stewart kühl. »Irgend jemand muß ja den Retter des Universums retten.« Die Distanz zwischen ihnen war unüberhörbar. Eine Distanz, die Ren nicht gefiel, der gern ein entspannteres Verhältnis zu der jungen Frau aufgebaut hätte. Aber es sah so aus, als mache Stewart diesen Einsatz nur mit, weil sie an der M-Technik interessiert war, die sie in der EPOY kennenlernen konnte. Der Commander der Planeten schien für sie nur als Amtsträger zu existieren, nicht als Mensch. »Diese Piranhas sind wohl einfach nicht auszurotten«, brummte E- und steckte seinen Biaster wieder ein. »Erlegt man einen, tauschen drei weitere auf. Die vermehren sich wohl durch Zellteilung. Die reinste Plage...« »Zellteilung als Fortpflanzungsart ist bei höher entwickelten Spezies wie diesen Raubtieren unlogisch«, erklärte Stewart und signalisierte Dhark damit, daß sie immer noch auf ihr Zweites Sylistem geschaltet hatte. !i »Das hier ist Kontinent 4«, erklärte Ren unverdrossen. »Scheinbar
der einzige Ort auf Hope außerhalb von Deluge, wo noch Transmitter funktionieren. Der hier arbeitet wohl nicht auf subatomarer, sondern auf Schwerkraftbasis, sonst wäre er nach dem Galaktischen Blitz ebenfalls ausgefallen wie der Rest der M-Technik, die nicht wie das Höhlensystem von Deluge durch ein Intervallfeld geschützt war. Hier wird übrigens auch...« »Tofirit abgebaut«, vollendete Stewart seinen Satz. »Sorry, Commander, aber ich habe in der Schule aufgepaßt.« Dhark winkte ab. ; Er sah die Menschen, die hier aufgereiht lagen. Säuberlich korrekt in der Seitenlage, so daß sie keine Probleme mit der Atmung bekamen. Die Robs, die nach jedem »Rettungstransport« wieder nach Deluge zurückgekehrt waren, hatten erstklassig gearbeitet, nur mußten sie bei ihrer Rettungsaktion die Piranhas ignoriert haben. Die waren schon über einige der Paralysierten hergefallen und hatten ihnen mehr oder weniger starke Verletzungen zugefügt. l »Die müssen zuerst in die Medo-Station«, erkannte Dhark. »Amy, kehren Sie um und informieren Sie Gisol, damit der Roboter herschickt, die die Verletzten und überhaupt alle zurück nach Deluge holen. Und einen Haufen Roboter, die hier aufpassen, daß die Piranhas nicht zurückkommen!« Sie widersprach. »Ich halte hier die Stellung, weil ich als Cyborg dafür besser geeignet bin, Commander. Gisol sollten deshalb besser Sie selbst unterrichten.« Er beugte sich dem Argument und kehrte nach Deluge zurück. Die »Geretteten« wurden zurückgeholt und medizinisch behandelt. Dabei erwies es sich zunächst als Problem, daß die Robots ganze Arbeit geleistet hatten und außer Dhark, Gisol, Stewart und Juanita alle Terraner paralysiert worden waren, mithin auch das medizinische Personal! Die Ärzte und Helfer mußten zuerst einmal aus ihrer Paralyse geweckt werden. Das übernahm Amy Stewart. Ihr Programmgehirn schöpfte aus dem gespeicherten Wissenspool und verriet ihr, was sie zu tun hatte. Dann endlich konnten die Ärzte sich um die Verletzen kümmern. »Diese Piranhas auf Kontinent 4 entwickeln sich mehr und mehr zu einem Riesenproblem«, behauptete Guliver Bligh nach seinem Erwachen. »Wir werden wohl, um dort sicher arbeiten zu können, einen ziemlich großen Ausrottungsschlag führen müssen. Weiß der Teufel, woher die verdammten Biester immer wieder kommen. Alle
paar Tagen säubern Sonderkommandos die Insel zumindest im unmittelbaren Bereich des Transmitters und der Abteufstelle von diesen gefräßigen Ungeheuern, und alle paar Tage sind wieder neue Piranhas da.« »Von einem solchen Radikalschlag halte ich nichts«, sagte Dhark. »Wer weiß, was wir da an Schaden in der Ökologie des Inselkontinents anrichten. Wie wäre es. Energiezäune zu errichten?« »Womit, Commander?«, knurrte Bligh. »Seit mehreren Jahren stelle ich Anträge, aber bis heute ist nichts bewilligt worden.« »Ich werde dafür sorgen, daß die Finanzmittel bewilligt werden«, versprach Dhark. Auf die paar tausend Dollar kam es beim derzeitigen Finanzfiasko der Erde sicher auch nicht mehr an. Glaubte er. Finanzminister Lamont war da ganz anderer Ansicht. .. Unterdessen befaßte sich Gisol-Smith wieder damit, das Archiv imzuprogrammieren. Danach gab es die bisher geschützten Informationen über die Anlage auf Deluge preis. Erstaunliche Dinge kamen dabei ans Tageslicht. Zum Beispiel, daß in den beiden damals vernichteten Höhlen -der »Maschinenhöhle« und der »Vorhöhle« - Bandstraßen zum Bau von Kampfraumem und Waffensystemen existiert hatten. Die waren allerdings unwiederbringlich verloren. Alles war zu Staub zerfallen, und wer sollte es jemals wieder neu errichten? Selbst wenn die Terraner nun erfuhren, was sich in den beiden Höhlen befunden hatte, fehlten ihnen die Kenntnisse und das Material, diese Maschinen und Bandstraßen nachzukonstruieren. Der Industriedom dagegen mit seinen Wolkenkratzer-Maschinen, die Hunderte von Metern emporragten, konnte Güter des täglichen Bedarfs produzieren. Speziell Tim Acker hatte einmal miterlebt, was alles hergestellt und per Großtransmitter in Weltraumtiefen verschickt worden war. Bis heute wußte niemand, welche Welten die Empfänger dieser Industriegüter waren. Mochten die Mysterious auch vor tausend Jahren die Milchstraße verlassen haben, ihre vollautomatisierte Technik arbeitete weiter bis zum jüngsten Tag - oder hatte bis zum Galaktischen Blitz weitergear|beitet, wo sie nicht durch Intervallfelder geschützt war. Smith besprach sich mit den Hope-Experten. Nach den anfänglichen Animositäten kam es bald zu einer intensiven Zusammenarbeit. Smith programmierte die Produktionsgiganten des Industriedoms auf irdische Bedürfnisse um. Woher er sein Wissen darüber nahm, verriet
er nicht - nach wie vor wußte kein Außenstehender, daß es sich bei ihm um einen Mysterious handelte. Und in den Minuten, als er sich den Kugelrobotern in seiner wahren Gestalt gezeigt hatte, war kein uneingeweihter Zuschauer zugegen gewesen. Es gab auch keine Holo-Aufzeichnungen, da durch die Explosionen der Roboter und Fehlschüsse ein großer Teil der Überwachungsanlage der Ringraumerhöhle zerstört worden war. In einem Punkt blieb das Archiv nach wie vor enttäuschend. Es fanden sich in den Mentcaps nur sehr spärliche Informationen über die Forschungsanlage von Margun und Sola. Die letzten Salter hatten seinerzeit erwähnt, daß die Anlage auf Kaso, mithin Hope, nur eingerichtet worden war, um diesen beiden Mysterious ein schier unglaubliches Forschungszentrum zu schaffen, aber jetzt sah es so aus, als wäre dieses Forschungszentrum nur ein kleiner »Nebenbetrieb« der gesamten Anlage von Deluge gewesen. Mehr nicht... Mitte März begannen die Lieferungen von Hope nach Terra. Ein erster Frachtraumer brachte Haushalts-Energieerzeuger. Danach landete jeden zweiten Tag ein Frachter, der neue technische Geräte anlieferte. Was der Handel bestellte, wurde baldmöglichst gefertigt und geliefert. Nur die Frachtkosten fielen an - und so teuer ein Raumflug auch war, bei der Menge des produzierten Materials verloren sich die Kosten in marginalen Bereichen. Hope-Waren konnten sich auch von hohen Steuern gebeutelte Durchschnittsverdiener leisten, und trotzdem kam frisches Geld in die leeren Kassen der Regierung. Die Versorgungslage Terras verbesserte sich dank dieser Lieferungen schlagartig. »Wir können den Notstand aufheben«, drängte Henner Trawis-heim, als er sich mit Dhark, dessen engstem Freund Dan Riker und Gisol im »Los Morenos« traf, einem exklusiven spanischen Restaurant, das längst zu Rens Stammlokal geworden war. »Wir stecken zwar immer noch bis zur Oberkante Unterlippe in der...« Er hüstelte. »In der Tinte«, vervollständigte Dan Riker mit süffisantem Grinsen. Der nominelle Chef der Terranischen Flotte war kein Freund allzu drastischer Ausdrucksweisen. »Wir haben immer noch mehr als zwei Milliarden Arbeitslose«, nahm er
Trawisheim die Redewrweg. »Aber die können wir nun immerhin ausreichend versor-(gen und somit >ruhigstellen<. Mit den Einnahmen für die Hope-pGüter können wie die Unterstützungszahlungen erhöhen, so daß die Menschen in der Lage sind, Passagen zu Kolonialwelten zu finanzieren. Und auf denen gibt's Arbeit genug... das gibt uns auf Terra weitere Luft und spart zusätzliche Kosten. Lamont ist der Ansicht, daß wir es in fünf oder sechs Jahren schaffen können, zumindest das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.« »Falls uns der Commander der Planeten nicht wie gewohnt weitere Probleme beschert«, brummte Trawisheim mißgelaunt. »Diese Expedition nach Orn - wer weiß, was da auf uns zu kommt!« »Finanziell?« fragte Dhark. »Finanziell ist sie mittlerweile bestimmt abzusichern, aber sie ist olitisch unklug!« beharrte Trawisheim. »Versuchen Sie den Menschen doch einfach begreiflich zu manchen, daß uns ein Kontakt mit den Mysterious noch mehr >Vor-sprung durch Technik< verschafft«, verlangte Dhark. »Allein das Erbe der Verschwundenen hat uns unglaublich viel gebracht, was mag da erst der Kontakt mit den Lebenden bringen?« »Jede Menge Ärger«, prophezeite Trawisheim. |i »Machen Sie trotzdem was draus«, verlangte Dhark. »Ich werde auf jeden Fall nach Orn fliegen. Und wenn ich zurückkehre, habe »ich Material, das uns jeden Wahlkampf gewinnen läßt.« | »Wenn Sie zurückkehren«, unkte Trawisheim. »Und vor allem rechtzeitig...« »Das«, erwiderte Dhark, »lassen Sie ruhig meine Sache sein.« 11. Am Horizont war das Meer in flüssiges Feuer getaucht. Einer Münze gleich, nur noch zur Hälfte sichtbar, markierte die von Zirruswolken umflorte untergehende Sonne den Punkt, an dem nach altem Glauben die Welt geendet hatte. Uraltem Glaube aus einer Zeit, als der Mensch noch überzeugt gewesen war, die Erde sei eine Scheibe, deren Enden von gewaltigen Wasserfällen gesäumt wurden... Diese Sicht der Dinge war lange überholt. Das hinzugewonnene Wissen hatte das Verständnis von Natur und Kosmos korrigiert. Und dennoch, an Abenden wie diesem und nach all den Ereignissen, die hinter ihnen lagen, fühlten die beiden Männer, die bei einer Flasche
Wein auf der Terrasse des Ferienbungalows zusammensaßen, eine lange nicht mehr empfundene Demut vor den Wundern des Universums, in dem sie lebten. Zumal ein neuer, schicksalhafter Aufbruch in unbekannte Weiten unmittelbar bevorstand. Für Ren Dhark, der gedankenverloren durch das erhobene Weinglas hindurch in die Ferne starrte, bereits beschlossene Sache. Sein Freund Dan Riker hingegen, dem das schmucke Feriendomizil am Golf von Mexiko zusammen mit seiner Frau gehörte, wußte dies noch nicht. Ein Kleintransmitter im Keller des Hauses hatte die diskrete Anreise ermöglicht. Dan hatte darauf gedrungen, sich für ein paar Stunden abzuseilen, nur er und Ren, und einfach mal wieder zu reden, wie sie es früher oft getan hatten. Selbst Anja war in Alamo Gordo geblieben. Sie hatte es selbst angeboten, wollte die »Männerrunde«, wie sie es nannte, nicht stören. Beim ersten Glas hatten sie noch krampfhaft vermieden, über Politik zu diskutieren. Privates war zur Sprache gekommen. Dharks nach wie vor angespanntes Verhältnis zu Joan Gipsy beispielsweise, der Mutter seines Kindes. Oder Dan Rikers nach wie vor blendend harmonische Beziehung mit Anja, die eine Bilderbuchpartnerin in jeglicher Hinsicht zu sein schien - wenn man Rikers Schwärmereien alle für bare Münze nahm. Da Dhark Anja seit den historischen Tagen der Strandung auf Hope kannte, wußte 'er, daß die Liebe seinen Freund nicht einfach blind machte - Anja war eine patente Frau, die es offenbar spielend fertigbrachte, die Kumpelund Geliebtenrolle unter einen Hut zu bringen und dabei noch, als Sahnehäubchen quasi, eine selbständige, emanzipierte Frau zu sein, die mit beiden Beinen fest im Berufsleben stand. Dhark konnte nicht umhin, ein wenig neidisch auf dieses partnerschaftliche Idyll zu blicken. Aber er gönnte seinem Freund den »Volltreffer« von ganzem Herzen, zumal auch Anja zu seinen engsten Freunden gehörte. Rein platonisch natürlich - aber genau das war in Zeiten wie diesen gar nicht hoch genug einzuschätzen. Freundschaft. Vielleicht hob gerade das den Menschen im Orchester der anderen galaktischen Völker hervor - die Fähigkeit zur Freundschaft untereinander. Weder Amphis noch Nogk noch Tel oder wie sie alle hießen, schienen fähig, diese Bande innerhalb ihrer eigenen Spezies zu knüpfen. Vielleicht hatten die Salter einst eine Ausnahme gebildet,
ganz bestimmt sogar, wie Dhark seinen »Erlebnissen« innerhalb des Chronisten auf Salteria hatte entnehmen können, aber die Salter waren auch Kinder desselben Planeten wie die Terraner. War die Erde, dieses Staubkorn an den Gestaden des kosmischen Ozeans, also doch etwas... Besonderes? Und falls ja, waren ihre Bewohner damit nicht automatisch auch etwas sehr Außergewöhnliches...? Stopf bremste er seinen Gedankenflug. Seine Überlegungen bewegten sich in gefährliche Gefilde. Die Menschen hatten in ihrer Vergangenheit oft genug - zu oft! - bewiesen, daß sie einen gewissen Hang zum Größenwahn besaßen, und diesen in den Weltraum hinauszutragen wäre das Fatalste gewesen, was man hätte tun können. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt, beruhigte sich Dhark. Sein Blick kehrte aus unbestimmter Ferne zurück. Der Zauber des Moments war erst einmal verflogen. Er räusperte sich. Dan Riker, der entspannt und ebenfalls träumerisch übers Meer geblickt hatte, wurde aufmerksam. »Es gab Augenblicke«, ergriff er das Wort, »da hätte ich keinen Cent mehr darauf gegeben, noch einmal so friedlich hier sitzen zu können. Wir haben Unglaubliches erlebt...« »Und geleistet«, stimmte Dhark ihm zu. Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück, den ein begnadeter Steinmetz aus der Umgebung aus nacktem Fels geschaffen hatte. Der Träger der Tischplatte erinnerte an eine der riesigen Mollusken, wie sie einst die Urmeere bevölkert hatten. Auch die Sitze waren aus Felsblöcken gearbeitet, allerdings mit einer bequemen Polsterung versehen. Riker nickte. »Was wohl aus den Galoanern, den Shirs und Ra-him wird? All den Völkern, die wir in Drakhon kennenlernten... ob es vielleicht doch irgendwann einmal ein Wiedersehen mit ihnen gibt?« Dhark schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich nicht zählen. Die Schranke zwischen den Universen ist wieder dicht. Und ich persönlich hoffe, daß sie es auch für alle Zeiten bleibt. Ich möchte nicht noch einmal mit einer Gefahr konfrontiert werden, die imstande ist, ganze Galaxien aufzureiben.« Lächelnd erwiderte sein Freund: »Wer weiß, was nach uns kommt. Wir sind nun mal beide sterblich. Auch wenn wir hie und da mit Zeitabständen wie Jahrmillionen jonglieren, wenn wir uns bemühen, kosmische Zusammenhänge zu erklären, sollten wir nie vergessen, daß wir selbst höchst vergängliche Lebensformen sind. Wir altern,
Ren... verrückt, überhaupt daran zu denken, wir sind beide erst dreißig - aber auf die Zukunft betrachtet, von der wir so gerne reden, sind wir bereits Geschichte.« »Ein Jungbrunnen wäre nicht schlecht.« Auch Dhark schmunzelte. Stolz mischte sich in dieses Lächeln mit ein. Stolz über das, "was sie beide in jungen Jahren bereits erreicht hatten. Und angesichts der Fülle dessen, was hinter ihnen lag, konnten sie durchaus optimistisch in ihre persönliche Zukunft blicken. Es gab noch viel ', zu erleben, vieles zu bewegen. Unvermittelt wechselte Dan Riker das Thema, und großer Ernst schimmerte in seinen Augen. »Traust du Gisol wirklich so bedingungslos, wie es für mich den Anschein hat?« Dhark war keineswegs überrascht über die Frage. Sie hatten sie indirekt bereits mehrfach erörtert. ; »Er ist ein Mysterious«, sagte er ausweichend. | »Ach ja, und alle Mysterious tragen diesen... wie nennt man es 'doch gleich... Heiligenschein!« Unerwartet heftig reagierte Dan Riker auf die scheinbare Verklärung, die Ren Dhark da betrieb. fe »Das habe ich nie behauptet. Aber seine Geschichte klang plausibel gerade weil sie nicht unseren Erwartungen entsprach, we-^der deinen noch meinen, oder irre ich mich da?« »Dahinter könnte pures Kalkül stecken.« »Mit welcher Absicht?« Riker hob die Hände. »Das weiß ich nicht. Aber wir sollten ihm mit mindestens ebensoviel Mißtrauen begegnen, wie wir es täten, wenn ihm nicht der Stempel >Mysterious< auf die Stirn gebrannt wäre.« »Worgun«, erinnerte Dhark ihn an den tatsächlichen Namen jener Spezies, die vor rund tausend Jahren unter dem Druck ihrer Feinde und ihrer eigenen Fehler aus der Milchstraße geflohen war. fe- »Hölle, ja - daran muß man sich ja erst einmal gewöhnen!« ' »Wir werden nichts überstürzen, gar nichts, keine Bange. Nichts, was die Menschen einer neuen Großgefahr aussetzen könnte, werden wir tun - aber etwas müssen wir tun, um ausschließen zu können, daß am Horizont eine neue Bedrohung heranwächst.« Riker ließ die Hände wieder sinken. »Ein guter Anfang wäre meines Erachtens gemacht, wenn du Gisol um ein paar technische ; Geheimnisse der Worgun...« er betonte das Wort über Gebühr, »... bitten würdest. Ich denke dabei an die Konstruktionsunterlagen für Intervallum, Sternensog, diverse Waffensysteme... all die netten Finessen, die unsere geschätzte POINT OF ihr eigen nennt, die wir aber auch nach all den Jahren noch nicht in der Lage sind,
nachzubauen, um Schiffsneubauten damit auszurüsten.« »Erstens will ich Terra zum jetzigen Zeitpunkt nicht in seine Schuld bringen, und zweitens: Selbst wenn Gisol diese Pläne besäße, wovon ich nicht zwangsläufig ausgehe, würde ich an seiner Stelle kaum damit um mich werfen.« »Willst du damit sagen, er hat mehr Grund, uns gegenüber mißtrauisch zu sein, als wir ihm gegenüber?« Auf Rikers Kinn bildete sich ein hektischer Fleck ab. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« »Versetz dich in seine Lage.« »Das kann ich nicht - und offengestanden will ich es auch nicht.« »Das ist ein Fehler.« »Auch du machst nicht immer alles richtig.« Dhark lachte auf. »Womit du unzweifelhaft recht hast. Einigen wir uns auf einen Kompromiß.« , Riker wiegte argwöhnisch den Kopf. »Und wie sollte der aussehen?« »Laß uns Gisols Aussagen überprüfen, bevor wir ihn enger an uns oder uns enger an ihn binden. Ich denke dabei an eine mehr oder weniger inoffizielle Aufklärungsmission.« Riker schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast dich also entschieden...?« »Ich will nach Om«, bestätigte Ren Dhark mit einem Glanz in den Augen, den sein ältester Freund bestens kannte - und nicht selten fürchtete... Die Galaxis Orn lag rund zehn Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt und gehörte zum Sculptorhaufen - eine geradezu unvorstellbare Entfernung selbst für einen weltraumerfahrenen Hau.degen wie Dan Riker. Sculptor gehörte wie die Milchstraße zum Virgo-Superhaufen und war, wenn Gisols Geschichte stimmte, die Heimat der Mysterious/Worgun. Beziehungsweise ihr Gefängnis. Denn sie lebten unter der Knechtschaft und dem Regime der Zyzzkt, ihrer Erzfeinde. Und dieses Leben glich nach allem, was man gehört hatte, eher einem E Dahin vegetieren. Was für ein Schicksal, was für eine Tragödie für ein Volk, das einst die Salter »gezüchtet«, die Sternenbrücke und die Erron-Stationen erbaut und die hiesige Galaxis regiert hatte. Es sollte uns eine Lehre sein, dachte Dan Riker. Wer hoch steigt, fällt
um so tiefer. Die Menschheit ist davor nicht gefeit. Ein Grund mehr zum Mißtrauen. l Aber genau dieses Mißtrauen sah er plötzlich auch in den Augen seines Freundes. Keines gegen Gisol als Person - aber eine gehörige Portion Zurückhaltung und Skepsis, was die Verhältnisse in Orn betraf und die Geschehnisse, die zur Unterjochung der Worgun geführt hatten. W r" Nein, Ren schloß nicht automatisch von Gisol, dem er offenbar Vertrauen schenkte, auf die Worgun als Ganzes. Aber wie so oft in der Vergangenheit brannte er auch jetzt darauf, die Wahrheit herauszufinden. Die ganze Wahrheit, nicht nur, wie sie sich aus Gisols Schilderungen ergab, sondern auch, wie sie sich in Orn selbst darstellte. Wo die Zyzzkt regierten. Die sich vielleicht auf Dauer nicht damit zufrieden geben würden, der Milchstraße den Rücken gekehrt zu haben... Als errate er Dans Gedanken, sprach Ren Dhark in diesem Moment offen aus: »Wir prüfen die Lage vor Ort - mit Gisols Hilfe dürfte die Distanz kein unüberwindliches Hindernis darstellen, immerhin hat er selbst sie auch überwunden. Aber wir werden uns größtmögliche Zurückhaltung auferlegen. Ich möchte Terra in keinen intergalaktischen Krieg hineinziehen. Bisher wissen nur eine Handvoll Menschen von Gisol - und mit ihm kennen wir erst einen einzigen Worgun. Von Gisol auf ein ganzes Volk zu schließen, erscheint selbst mir, der ich zugegeben >mysterioussüchtig< bin, etwas zu blauäugig. Aber ebenso wie von diesem Umstand bin ich auch davon überzeugt, daß wir uns nur vor Ort ein unverfälschtes Bild der Verhältnisse machen können... was meinst du?« Riker mußte sich eingestehen, daß sein Freund doch sehr viel kritischer und besonnener zu Werke ging als befürchtet. »Wann genau hast du vor aufzubrechen - und wer soll uns auf der Expedition begleiten?« fragte er. Während Arc Doorn den Monteuren beim Einbau der neuen Feldgeneratoren zusah, hatte er ein flaues Gefühl in der Magengrube. Das, was die Männer und Frauen vor seinen Augen mit Feuereifer verrichteten, kam ihm fast wie ein Sakrileg vor. Wie eine Entweihung. Immerhin betrafen die Veränderungen, die in Ren Dharks Auftrag vorgenommen wurden, nicht irgendein Schiff, sondern die POINT
OF. Und die POINT OF war, auch wenn Doorn dies nie laut ausgesprochen hätte, sein Schiff - irgendwie jedenfalls. Seit den frühen Tagen ihrer Entdeckung in der Ringraumer-Höhle auf Hope identifizierte er sich mit diesem Fund, der alles verändert und die Menschheit vor der Unterjochung durch fremde Intelligenzen bewahrt hatte. In Doorns Augen war die POINT OF schon von dem Moment an perfekt gewesen, als sie zu ihrem Jungfernflug im Schutz des Doppelintervallums abgehoben hatte - durch das massive Gestein des Gebirges hindurch, in dem sie erbaut worden war. Von Margun und Sola, rief er sich in Erinnerung, den beiden Mysterious-Genies... ... über die bis heute noch kaum etwas bekannt war. Für Doorn war dennoch klar, daß es Außenseiter gewesen sein mußten, geniale »Einzeltäter«, die im Schutz der Höhle auf Deluge ein Unikat geschaffen hatten, das vielleicht einmal der Prototyp für eine ganze Flotte von Spezialringraumern hatte werden sollen <- doch dann hatten die Ereignisse dies verhindert. Welche Ereignisse? Was ist aus den Mysterious geworden? Wohin verschwanden sie dem Anschein nach als Volk in seiner Gesamtheit fast gleichzeitig vor rund tausend Jahren? Werden wir es je erfahren? Er kratzte sich an seinem leicht gestutzten Bart, der - seit er mit Doris zusammen war - nicht mehr ganz so verwildert und verwahrlost wucherte wie früher. In die Augen des Sibiriers trat ein stiller Glanz, und seine oft betont mürrischen Züge glätteten sich. Dann wurde er abgelenkt. Schritte erklangen hinter ihm, und als er den Kopf wandte, sah er Ren Dhark auf sich zukommen. | »Commander...« »Es tut Ihnen in der Seele weh, habe ich recht, Are?« begrüßte ihn der Mann, mit dem Doorn durch dick und dünn gegangen war - und jederzeit wieder gehen würde. So wie Dhark umgekehrt keinen seiner Leute im Stich gelassen hätte. Obwohl der weißblonde, immer noch unendlich jugendlich wirkende Mann ein Idol für weite Teile der Terra-Bevölkerung geworden war, hatte er sich seine Natürlichkeit bewahrt. Und letztlich war es diese Eigenart, die Doorn am meisten an ihm schätzte. Seine Menschlichkeit und seine Fähigkeit, selbst in kriegerischen Auseinandersetzungen Terraner als das in die Waagschale zu werfen,
was sie nunmal waren: Menschen. Denkende, fühlende Menschen, Individuen, von denen ein jeder seine ganz eigene Geschichte hatte. »Ich frage mich nur...« Doorn räusperte sich beinahe verlegen, »... ob es wirklich nötig ist. Wir sind bislang immer ganz gut ohne solchen Schnickschnack zurechtgekommen. Dieses Schiff...« sein Ton wurde fast zärtlich, und als er es merkte, räusperte er sich erneut, um seine Gefühlsduselei zu überspielen, »... besitzt genügend eigenes Potential, um sich in jeder Lage zu behaupten.« »Ich wäre enttäuscht, wenn Sie das anders sehen würden, Are.« Dhark lächelte, berührte Doorn kurz am Arm und lenkte ihn näher an das Geschehen heran. »Aber ich finde, wir sollten überzeugenden Konzepten eine Chance geben - und ich halte den KFS für ein sehr überzeugendes Konzept. Er macht uns ein klein wenig unabhängiger vom Doppelintervall.« Das Kürzel KFS stand für »Kompaktfeldschirm«. Dahinter verbarg sich galoanische Hochtechnologie, deren Grundlagen Wallis Industries dem Nareidumsmitglied Shodonn abgekauft hatte. Obwohl es sich dabei um einen eigentlich konventionellen Energieschild handelte, war sein Feld doch so dicht »gepackt«, daß sich seine Abwehrkapazität durchaus mit der eines Intervallums messen konnte. Doorn nickte, und sein Körper straffte sich unmerklich, als er seinen Blick in den des Commanders versenkte. »Hatten Sie schon Gelegenheit, über mein Anliegen nachzudenken?« Dhark nickte und wirkte plötzlich distanziert, ohne unfreundlich zu erscheinen. »Ich wäre ohnehin darauf zu sprechen gekommen.« Doorn nickte abwartend. »Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, Are?« Ren Dhark verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte matt. »Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich persönliche Erfahrung in diesem Punkt gesammelt habe.« »Bei allem Respekt, Sir...« »Ich weiß, ich weiß, es geht mich nichts an, und -« »Nein, das meine ich nicht. Aber es gibt auch ein Beispiel, daß es funktionieren kann.« Fast entschuldigend zuckte er mit den Achseln. »Die Rikers...« Die Rikers. Das Argument stach. Doorn sah, wie Dharks Widerstand, der ohnehin kein sehr ernsthafter gewesen zu sein schien, vollends dahinschmolz. »Einverstanden -
meinen Segen haben Sie. Wenn ich mir dafür erkaufe, daß Sie mit von der Partie sind, Are... ich brauche Sie!« »Und Doris«, erinnerte das sibirische Kraftpaket sanft. »Und Doris.« Ren Dhark reichte ihm die Hand, um ihre Abmachung zu besiegeln. Noch jemand inspizierte etwa zur selben Zeit ähnliche Nachrüstarbeiten, wie sie auf der POINT OF stattfanden: Janos Szardak, ein weiterer von Ren Dharks Weggefährten der ersten Stunde. Sie kannten einander seit den turbulenten Tagen an Bord des Kolonistenraumers GALAXIS, der unter Sam Dharks - Rens Vater - Befehlsgewalt zum Deneb hatte fliegen sollen, dann aber in einem damals unbekannten Sektor der Milchstraße gestrandet war - im Doppelsonnensystem Col. Und dort hatte alles seinen Anfang genommen. ,, Alles. Ich stünde heute nicht hier, wenn wir damals nicht auf das Erbe der Mysterious gestoßen wären, dachte der ehemalige Zweite Offizier Szardak, der kürzlich zum Generalmajor befördert worden war. Niemand könnte sich mehr frei unter Terras Sonne bewegen. Wahrscheinlich würde heute kein Mensch mehr leben. Die Giants hätten die Erde in einen gigantischen Friedhof verwandelt. Die Städte wären in Schutt und Asche versunken. Seuchengestank würde die Straßen füllen... Ihn fröstelte. Zu genau hatte er das Bild in Erinnerung, das Terra seinerzeit auch noch nach der Befreiung geboten hatte. Nie wieder wollte Szardak seinen Heimatplaneten so sehen, nie wieder! Er verscheuchte die unguten Gedanken. Eine neue Expedition, dachte er. Und Ren macht ein Riesengeheimnis aus den Hintergründen... was könnte mir Besseres passieren? Auch wenn das Kommando über ein eigenes Schiff das Größte war, was einem Raumsüchtigen wie Szardak passieren konnte, vermißte er doch manches Mal die »beste Zeit seines Lebens«, wie er es engsten Freunden gegenüber nannte. Damals, als Zweiter Offizier unter Ren Dharks Vater, später dann in gleicher Position aufderPOINTOF... Du bist ein ganz schön sentimentaler Knochen geworden, verspottete er sich selbst. Wie war's, wenn du mal wieder in der Gegenwart leben würdest? Überhaupt: leben! Wann hattest du eigentlich zum letzten Mal eine Frau?
Das reichte! Szardak lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Bilder, die von der Außenoptik in die Zentrale der RHEYDT übertragen wurden. Ein gewaltiges Aufgebot von Technikern und Montagerobotern war an der Außenseite der Ringröhre damit beschäftigt, die erste von insgesamt acht Wuchtkanonen vom Kaliber 5 Zentimeter an der Uni-tallhülle zu installieren. Ein enormer Zuwachs an Offensivkraft! Aber nur, wenn die Kanonen im Ernstfall richtig eingesetzt werden, schränkte Szardak ein, nun wieder ganz in seiner Verantwortung als Raumschiffskommandant aufgehend. Für ihn stellte die Nachrüstung, die momentan an allen für die Expedition vorgesehenen S-Kreuzem durchgeführt wurde, ohne Wenn und Aber eine Optimierung dar. Zumal neben den Wuchtkanonen auch gleich die neuen KFSFeldschirme als ergänzender Defensivschutz eingebaut wurden. In den kommenden Wochen sollten alle S-Kreuzer Terras auf diese Weise nachgerüstet werden. Wo werden wir dann wohl sein, in ein paar Wochen? dachte Szardak. Bei allen Sternklabautern, bislang ist noch nicht einmal der Hauch eines Gerüchts durchgesickert, was unser Ziel angeht. Ich verwette meine Netzhautimplantate, daß wir uns auf einiges gefaßt machen können... Die Kontaktlinsen hatte er schon seit geraumer Zeit ausgemustert. Die neuen Sehhilfen bedurften keiner besonderen Pflege mehr. Sie waren zum natürlichen Bestandteil seiner Augäpfel geworden. Keine fünf Minuten hatte die dafür notwendige Operation in Anspruch genommen. Szardaks Blick wechselte vom Bildschirm, der die Außenarbeiten zeigte, zur Zentralebesatzung der RHEYDT - allesamt Freiwillige, von denen viele dem Irrglauben erliegen mochten, daß ihr Kapitän mehr über das Ziel der bevorstehenden Expedition wissen müsse. Was aber keineswegs den Tatsachen entsprach. Ren Dhark hatte lediglich verkündet, daß er »eine längere, geheime Mission« ^ plane. Daß diese diffuse Angabe ausgereicht hatte, um innerhalb weniger Stunden mehr Bewerber für den Flug ins Ungewisse zu mobilisieren, als an Bord der neun S-Kreuzer gebraucht wurden, sprach eindeutig für den Ruf, den Dhark genoß, für seinen unangefochtenen Status. Auch die breite Öffentlichkeit war logischerweise nicht über Sinn und Zweck der bevorstehenden Expedition informiert - und | noch
schienen die Medien auch nicht auf das Vorhaben aufmerksam geworden zu sein. Dies war um so erstaunlicher, da es normalerweise überall, wo Menschen involviert waren, auch undichte Stellen gab. Informationslecks, sozusagen. Toi, toi, toi, daß es so bleibt. Es kann der Sache nur dienlich sein... In Gedanken ging Szardak die Liste der anderen Schiffe und ihrer Kommandanten durch; viele ihm bekannte Namen und Gesich-|ter befanden sich darunter, was ihn freute. Da war die WALLAROO unter der Führung von Balthasar Neep, l der diese Position in Anbetracht seiner großen Erfahrung im Um-s gang mit Fremdvölkem zweifellos verdient hatte. l Ma-Ugode befehligte die MITO, und der frühere Oberleutnant und jetzige Kapitän Roder die CHARLESTON. Für die CALAIS und die INVERNESS waren ursprünglich Leon Bebir und Hen Falluta vorgesehen gewesen - für viele überraschend hatten diese das Angebot jedoch einhellig ausgeschlagen. Szardak nickte zu sich selbst, als er daran dachte. Eine kluge ^Entscheidung. Erster und Zweiter Offizier auf der POINT OF zu Item, kann bedeutungsvoller sein als ein eigenes Kommando... Verdammt, hör auf dich selbst zu bemitleiden. Dazu besteht nicht der geringste Grund. Du magst dich manchmal zurücksehnen, aber bereut... bereut hast du es nie, den Schritt getan zu haben! Für Bebir und Falluta eingesprungen waren John Martell, einst Leiter der inzwischen legendären Terra-Basis T-XXX, die während der Giant-Herrschaft erfolgreichen Widerstand geleistet hatte, und der von seinem Schreibtischjob bei der Rauminfanterie die Nase vollhatte, sowie Ralf Larsen, der wie Szardak schon unter Ren Dharks Vater auf der GALAXIS gedient hatte. Später hatte er unter anderem den SKreuzer ARROW befehligt. Blieben noch die BUDVA unter Charlie Jana, vormals Kommandant der FO-XVII, die TIENTSIN unter Kapitän Saros und die DENIA unter Captain Caruso. Mit Genugtuung nahm Szardak zur Kenntnis, daß sich etliche neue Captains unter den Schiffskommandanten befanden, deren Erfolge in der jüngeren Vergangenheit damit ganz offenkundig von Dhark honoriert worden waren. Das Bewußtsein, daß der selbst schon halb zum Mythos verklärte
Commander der Planeten entweder über einen exzellenten Beraterstab verfügte, der ihm die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt antrug, oder daß er deren Befähigung zu Höherem aus eigener Betrachtung erkannte, würde eine gute Stimmung innerhalb der Expeditionsflotte erzeugen, davon war Szardak überzeugt. Wohin würde die Reise sie führen? Bis auf die Information, daß die Expedition sich über eine längere Zeitspanne erstrecken würde, fischten alle dafür Rekrutierten bislang völlig im Trüben. Auch Szardak. Und wie jeder andere Teilnehmer hungerte er nach ersten, aussagekräftigeren Enthüllungen seitens des Commanders -vor allem, was das Expeditionsziel anging. Es war bezeichnend, daß die kleine Flotte binnen kürzester Frist kadermäßig komplett gewesen war - trotz dieser Hinhaltetaktik seitens der Expeditionsleitung. Der bloße Name Ren Dhark »zog« noch immer, vielleicht sogar mehr denn je. Abzuwarten blieb, wann der Commander die Katze aus dem Sack lassen würde. Und zu hoffen blieb, daß all die Freiwilligen ihren Entschluß nicht eines Tages bitter bereuen mußten - falls sich ihre Nibelungentreue als fataler Fehler erweisen sollte. l Aber daran, an diese katastrophalste aller Möglichkeiten, wollte Szardak nicht glauben - nicht eine Sekunde lang! Er widmete sich wieder den Rüstarbeiten an seiner RHEYDT. Der erste von insgesamt acht vollautomatischen Waffentürmen wurde just in diesem Moment an einem der imaginären »Eckpunkte« eines gedachten Quadrats auf der Oberseite des Ringkörpers fertig installiert. Die A-Gravschlepper und Montagerobots sanken auf unsichtbaren Polstern zur Unterseite. Je vier Türme oben und unten bildeten eine Schlagkraft, die kein SKreuzer jemals zuvor aufzubieten vermocht hatte. -; Zusammen mit den neuen Kompaktfeldschirmen ließen all diese Aufwendungen eigentlich nur einen Schluß zu, und das wußte Ja-nos Szardak so gut wie jeder andere betroffene Ringraumerkom-mandant: Offenbar rechnete Ren Dhark fast sicher damit, daß dort, wohin er mit seiner Flotte vorstoßen wollte, alles andere als eine Region des Friedens auf sie wartete. Im Gegenteil: Alles deutete auf schwer abschätzbare Risiken |Nn. Auf Gefahren, gegen die er gewappnet sein wollte....
... so er sie überhaupt absehen konnte...! Was ich bezweifele, dachte Szardak. Aber ihn graute vor diesem eigentlich besorgniserregenden Gedanken in keiner Weise. Im Gegenteil: Er fieberte dem Moment des Aufbruchs mehr denn je entgegen... Die Erinnerung an die tiefste Krise seines Lebens steckte Bram Sass noch immer tief in den Knochen. Die Gefahr, die durch die Entartung des Phant-Virus entstanden war, mochte inzwischen beseitigt sein, die Taten aber, die er und andere Cyborgs unter dessen unseligem Einfluß begangen hatten, ließen sich nicht einfach verdrängen. Er hatte getötet, und dies nicht etwa im Krieg, nicht während eines befohlenen Einsatzes, dessen Sinn und Zweck er hätte nachvollziehen können... o nein! Das warst nicht du. Das war etwas... völlig Fremdes. Etwas. Etwas, womit nicht einmal Echri Ezbal, der Mentor und geistige Vater aller Cyborgs gerechnet hatte... Bram Sass stieg in sein Trainingsgerät und stellte das Programm auf höchste Belastung. Es war eine Mär, daß Cyborgs nichts mehr für ihre Kondition und Fitneß tun mußten; gerade ein Cyber neue Organism bedurfte der ganz besonderen Pflege... Bram Sass wollte gerade mit den einleitenden Dehn- und Aufwärmübungen beginnen, als das Vipho anschlug. Durchaus dankbar für die Ablenkung, wuchtete er sein muskulöses »Gesamtkunstwerk« aus Naturgegebenem und Künstlichem aus der speziell den Cyborg-Erifordernissen angepaßten TrainmgsVorrichtung. Geschmeidig erreichte er das kombinierte Sende- und Empfangsterminal, das in seinen Schreibtisch integriert war. Anhand der eingeblendeten Identifikationsnummer erkannte er sofort, daß es sich um eine Nachricht von höchster Dringlichkeit handelte. Während sein Blick durch die gläserne Front seines Quartiers hinaus in die Gebirgslandschaft schweifte, in die das Brana-Tal eingebettet lag, ging er auf Empfang. »Sir - was verschafft mir die Ehre...?« Es war ein klarer Morgen. Die schneebedeckten Gipfel des HimalajaMassivs berührten einen blaßblauen Himmel, von dem ein nächtlicher
Wind jedes Wölkchen gefegt hatte. Ren Dharks Konterfei schimmerte auf dem leicht konkaven Schirm. Der Commander der Planeten wirkte auf eine Weise ernst, die nichts mit negativen Vorzeichen zu tun hatte - einfach konzen/,. ' triert und von dem überzeugt, was er in diesem Moment als Botschaft zu transportieren versuchte. ^»Ich brauche Sie, Bram. Sie und Ihre Kameraden. Ich hätte mich an Ezbal wenden können, damit er Ihnen Bescheid gibt, aber ich püelt es in dieser Situation für angebrachter, mich mit jedem eineinen persönlich in Verbindung zu setzen. Ich plane einen Einsatz • einen ganz speziellen Einsatz.« »Hier auf der Erde?«, fragte Sass. »Nein, wir werden uns sehr weit von Terra entfemen.« »Welche Seite der Galaxis?« »Später«, wich der weißblonde Mann mit den für sein geringes Alter auffallend energischen Gesichtszügen aus. Er ist in den Jahren, die ich ihn kenne, geradezu unheimlich gereift, dachte Sass. ! »Nicht einmal eine kleine Andeutung?« Dhark schüttelte den Kopf. »Nicht einmal das - Sie erhalten nähere Informationen, sobald ich es für vertretbar halte; frühestens nach dem Start.« Sass nickte. »Sie haben sicher Ihre Gründe. - Wann geht es los?« »Sobald alle Vorbereitungen technischer Natur abgeschlossen sind. Die POINT OF wird gegenwärtig etwas aufgemöbelt.« »Bei allem Respekt, hat unser Schiff das nötig, Sir?« Dhark lächelte. »Man sollte sich nie zu sicher sein oder auf seinen Lorbeeren ausruhen, Bram. Mit besonderen Schiffen ist es wie mit besonderen Menschen. Kennen Sie den Spruch: >Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden« »Nein, Sir.« »Nun, was ich sagen will, wissen Sie sicherlich selbst: Es gibt keine Perfektion im Universum und wir, als klitzekleiner Bestandteil desselben, sollten stets bemüht sein, uns fortzuentwickeln. Stillstand bedeutet Rückschritt. Aber ich gebe zu, daß ich unlängst zuerst auch etwas erbost war, als mir jemand sinngemäß auf den Kopf zu sagte, daß unser feines Schiff in Wirklichkeit ein ziemlich veralteter Kahn sei...« Sass, zumindest in dieser Hinsicht wieder ganz der Alte, war nicht aus der Ruhe zu bringen. Fast emotionslos erwiderte er:
»Würden Sie mir verraten, wer einen solchen Unsinn verzapft?« »Ein anderes Mal«, wich Dhark diesem Ansinnen ebenso souverän aus, wie Sass' vorheriger Frage nach dem Einsatzziel. »Aber machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, daß die Bemerkung, die auch ich selber zunächst als Verunglimpfung aufgefaßt habe, möglicherweise nicht völlig an den Haaren herbeigezogen ist...« »Sie sprechen in Rätseln, Sir.« Dhark nickte. »Und das ist erst der Anfang.« Er lachte. »Was ich Ihnen aber sagen kann und will, ist, daß wir uns nicht allein auf die POINT OF verlassen werden. Zusätzliche neun Ringraumer begleiten uns auf die Expedition.« Expedition... auch das klang nach einem wirklich fernen Ziel. »Ich werde auf der POINT OF fliegen?« »Sie gehören zur Stammbesatzung, wußten Sie das nicht?« »Sagen wir, ich habe es gehofft.« Das war untertrieben: Alles andere wäre für Bram Sass eine herbe Enttäuschung gewesen. »Noch etwas, Bram...« »Ja?« »Bewahren Sie strengstes Stillschweigen in der Öffentlichkeit. Ich möchte das Unternehmen so diskret wie möglich abwickeln.« »Auf mich können Sie bauen, Sir.« Dhark nickte - sowohl zur Bestätigung, daß er davon überzeugt war, als auch zum Abschied. Der Viphoschirm erlosch. Unmittelbar nach Bram Sass erhielten auch noch neun weitere Cyborgs einen persönlichen Anruf von Ren Dhark: Lati Oshuta, Holger Alsop, Jan Burton, Ole Cindar, Jes Yello, Mark Carrell, Rog Alsan, Henk Brack und, last but not least, Amy Stewart. Er nahm sich Zeit für jeden einzelnen. Warum genau er diese Aufgabe nicht delegierte, wußte er selbst nicht präzise zu sagen. Irgendwie war es wohl das Gefühl, es diesen Männern, die soviel Schweres hatten durchstehen müssen, »schuldig« zu sein - aber der tatsächliche Grund blieb zu diffus, zu nebulös, als daß er ihn in Worte hätte kleiden können. Die letzte auf seiner Liste war Amy Stewart - aus gutem Grund. Sie war eine von insgesamt fünf Terranern, die über die Hintergründe der bevorstehenden Expedition informiert war.
Dhark hielt große Stücke auf ihre intellektuellen Fähigkeiten. Trotz ihrer gerade erst 22 Lebensjahre lag bereits eine beachtliche Karriere hinter ihr. Mit gerade einmal 18 Jahren hatte sie als einzige Frau erfolgreich die Ausbildung als Einzelkämpferin bei der Terra Defence Force absolviert. Darüber hinaus besaß sie die Gabe, komplexe Situationen intuitiv zu erfassen und richtig zu beurteilen. Die alte Redensart »rauhe Schale, weicher Kern« durfte bei ihr getrost auf den Kopf gestellt werden. Sie besaß eine überaus ansprechende »Schale« um so verblüffender wirkte ihr si-tuationsangepaßt knallhartes Auftreten. Ihre Umwandlung zum Cyborg hatte erst vor knapp anderthalb Jahren stattgefunden; inzwischen besaß auch sie eines der neuartigen Programmhime, die den Cyborgs die jederzeitige Kontrolle über ihr Tun und Handeln beließen. Ein großer Fortschritt, für den Dhark beinahe ebenso dankbar war wie die Betroffenen selbst. Die Vorstellung, daß Cyborgs unter dem Einfluß ihres Programmhirns im Grunde zu besseren Robotern degradiert wurden, hatte ihm schon immer Bauchschmerzen verursacht... Außerdem war Amy Stewart der erste Cyborg einer völlig neuen Generation, aufgerüstet mit den mutierten Phant-Viren aus dem sogenannten »Snide-Stamm«. Er zwang sich, seine Gedanken von Amy und den anderen Cyborgs zu lösen, mit denen er gesprochen hatte. Ich habe es lange genug hinausgeschoben, dachte er. Jetzt muß es sein. Ich bin nicht mehr lange hier, und vorher... Er schloß die Augen, und vor seinem geistigen Auge tauchte das Bild einer Frau auf, die ihn immer noch beschäftigte, obwohl er keine Liebe mehr für sie empfand. Joan Gipsy. Er hatte nie bereut, sich von ihr getrennt zu haben. Aber die Geburt des Kindes, das sie gemeinsam gezeugt hatten, verhinderte, daß er aufhören konnte, sich Gedanken um sie zu machen. Nicht um die Frau Joan Gipsy, sondern ganz allein um ihre Rolle als Mutter. Und natürlich um das Kind selbst, seinen Sohn. Er hatte sich nach langem Hin und Her zu einer Entscheidung durchgerungen - und diese wollte er Joan nun so schnell wie möglich mitteilen. Er hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, aber das durfte ihn nicht abhalten. Er hatte eine Verantwortung. Das fällt dir früh ein, dachte er selbstkritisch, aber wie immer, wenn
er in letzter Zeit an ihn dachte, durchströmte es ihn warm. Ich kenne dich nicht, Ion, aber ich kenne die Pflichten eines Vaters, eines guten Vaters. Und ich weiß, was es einem Kind bedeutet, einen zu haben — ich hatte ja auch mal einen... den besten, den man sich nur wünschen kann... Mit einem tiefen Seufzer strich er sich über das Gesicht und rieb die Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich hoffe, sie läßt mit sich reden. Ich hoffe, sie ist vernünftig genug, auf meinen Vorschlag einzugehen - immerhin dient er einzig Ions Wohl... Mit diesen Gedanken verließ er seine Wohnung, stieg in den bereit stehenden Schweber und nahm Kurs auf die belebte Innenstadt von Alamo Gordo. Die Siedlung schien noch zu schlafen. Ein Idyll am Rande einer Millionenstadt. Vom wenige Kilometer entfernten Raumhafen Cent Field stieg fast lautlos ein großer Frachtraumer in den Himmel. Er verdeckte kurz die Sonne und warf einen riesigen, bedrohlich wirkenden Schatten über jenen Teil des urbanen Komplexes, über den sich Ren Dharks Fahrzeug gerade bewegte. Ein Omen? Kopfschüttelnd steuerte er den Schweber mit dem Regierungsemblem tiefer. Er war nicht gewillt, sich auf Rituale des Aberglaubens einzulassen. Wenig später parkte er sein Fahrzeug in der Zufahrt eines hübschen kleinen Vorortbungalows. Er hatte seinen Besuch absichtlich nicht angekündigt, weshalb er damit rechnen mußte, Joan und den Kleinen nicht anzutreffen. Aber die Sonne war, im Gegensatz zum fernen Brana-Tal, in diesem Teil der Welt gerade erst aufgegangen, und Dhark hoffte, daß dies eine gewisse Wahrscheinlichkeit versprach, den Weg nicht umsonst unternommen zu haben. Schon bei der Landung würde der Haus-Suprasensor entsprechende Meldung an die Besitzerin des Anwesens gemacht haben. Es gehörte zum Sicherheitsstandard, daß sich niemand unbemerkt Privatbesitz nähern konnte - zumindest in einer »besseren« Gegend wie dieser, die Joan für »standesgemäß« erklärt hatte... Als er den Türsummer betätigte, antwortete eine gespeicherte Stimme (Joans Stimme): »Bedauerlicherweise sind wir nicht zu Hause. Versuchen Sie Ihr Glück zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.« Zunächst mißtraute Dhark der Behauptung. Sie will mich nicht empfangen, dachte er bitter - und versuchte es noch einmal. »Ich bin
es«, sagte er. »Hör zu, Joan: Falls du da bist, mach auf. Es ist wichtig. Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?« Sie reagierte nicht. Und das Haus antwortete nur abermals mit ihrer Stimme: »Bedauerlicherweise...« Dhark drehte sich brüsk um und kehrte zu seinem Schweber zurück. Bevor er einstieg, ließ er seinen Blick über die Nachbarhäuser schweifen und konnte nicht verhindern, daß er sich vorstellte, wie ein jedes von einer Familie bewohnt war - einer richtigen, kompletten Familie, in der sich Mann und Frau unter einem Dach um ihre Kinder kümmerten. Hättest du das gewollt?, fragte er sich, ehe er im Pilotensitz Platz nahm und sich die Luke wieder schloß. »Nein, zur Hölle...!« Die Instrumentenkonsole mußte seine Gefühlsaufwallung büßen. Er hieb mit geballter Faust gegen die silbrige Verkleidung. Ein Warnton erklang. Ein rotes Licht leuchtete auf. Dhark wiederholte den Schlag. Alle Anzeigen wanderten wieder in den grünen Bereich, der Ton verstummte. Irgendwie verschaffte ihm dies eine gewisse Genugtuung. Noch an Ort und Stelle nahm er Kontakt zu Bernd Eylers auf. »Sie müssen mir helfen«, begrüßte er den GSO-Chef, als sich dessen Konterfei auf dem kleinen Bildschirm im Armaturenbereich abbildete. »Wenn es mir mit meinen bescheidenen Mitteln möglich ist...« Eylers' Allerweltsgesicht verkniff sich jedes Lächeln. »Sie müssen mir helfen, eine Person zu finden - eigentlich sind es zwei Personen. Ich brauche ihren momentanen Aufenthaltsort. Es ist dringend.« »Davon gehe ich aus«, erwiderte der Mann mit der Armprothese. »Wie gesagt: Ihnen helfe ich jederzeit gerne - wenn ich kann.« »Ich bin überzeugt, daß sie können.« »Um wen dreht es sich?« Dhark nannte die beiden Namen - und schaffte es, Eylers in Verlegenheit zu bringen. Ein wenig zumindest. »Haben Sie es schon unter der Meldeadresse versucht?« »Ich parke in Joans Einfahrt.« »Vielleicht —« »Eylers!« Die Schärfe in Dharks Stimme ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Ansinnens mehr.
»Schon gut. Sie werden von mir nicht hören, woher ich den Aufenthaltsort einer Frau kenne, mit der Sie ein gemeinsames Kind verbindet. Die GSO hat kein offizielles Interesse an ihr...« »Schon gut. Ich bin kein gelangweilter Parlamentarier, der sich Sorgen um Datenschutz, Persönlichkeitsrechte oder dergleichen macht!«, unterbrach er ihn abermals. »Zumindest nicht im Moment. Wir kennen uns schon ein paar Jahre, und deshalb weiß ich, daß Sie Ihre Augen und Ohren überall haben... spucken Sie's schon aus!« »Die Frau, die Sie suchen, macht Urlaub.« »Wunderbar. Ein wenig Entspannung würde mir auch gut tun... und wo?« »Acapulco.« »Ist sie - allein? Ich meine, von meinem Sohn abgesehen...« »Nein«, erwiderte Eylers, »sie macht... wie soll ich es ausdrük-ken... kostenlosen Luxusuriaub...« Dhark hob die Brauen. Sie ist fixer als ich dachte. »Nicht, was Sie jetzt denken mögen«, beeilte sich Eylers anzufügen. »Kein neuer Freund...« Dhark zwang sich, so gleichgültig wie möglich die Achseln zu zucken. »Wer dann?« »Es wird Ihnen nicht gefallen.« »Lassen Sie das bitte mich entscheiden.« Eylers nickte. »Es handelt sich um ein Team von Intermedia.« Intermedia, dachte Dhark erstaunt. Die stärkste Terra-PressKonkurrenz.. Dann dämmerte ihm der Zusammenhang, und er fügte hinzu: Dieses Biest...! »Sie kennen Intermedia?«, fragte Eylers. »Nur vom Hörensagen. Ich schaue mir solche Kanäle nicht an.« »Die Leute verdienen ihr Geld mit Boulevardjournalismus der übelsten Sorte.« »Und weiter? Sollte mich das beruhigen?« »Im Gegenteil, es sollte Sie dazu bringen, nichts Unüberlegtes zu tun - Commander, ich kenne Sie!« »Dann wissen Sie ja, was ich jetzt tun werde?« »Ich ahne und befürchte es. Ich kann Sie nur noch einmal eindringlich warnen, sich mit diesen Medienhyänen anzulegen. Unterschätzen Sie nicht die Macht dieser Tatsachen verdreher!« »Wenn das gerade im Gange ist, was ich befürchte, erwarten Sie aber nicht ernsthaft, daß ich es mir tatenlos mit ansehe?«
»Ich bitte Sie nur, nicht überstürzt und vor allem nicht überzogen zu handeln.« Dhark schüttelte den Kopf. »Es geht mir nicht um Joan. Es geht mir nicht um offene Rechnungen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können...« In Eylers' Augen blitzte es auf. »Oh, ich hatte auch schon den einen oder anderen Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht...« »Ich wollte Ihnen nicht das Gegenteil unterstellen.« Dhark zögerte. Er spürte, wie Eylers regelrecht darauf wartete, daß er sich ihm auf einer privaten Ebene anvertraute, und für einen Moment spürte er selbst ein tiefes Verlangen danach - aber dann verzichtete er doch darauf. Wenn es nötig werden sollte, stand ihm sein Freund Dan doch um einiges naher... »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen.« Eylers schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß Ihnen mit Vernunft nicht beizukommen ist...« »Versuchen Sie es trotzdem immer wieder. Geben Sie nicht auf. Vielleicht, eines Tages...« »Eher herrscht Friede in der Galaxis«, erwiderte Eylers gespielt fatalistisch. »Ich überspiele Ihnen noch die genaue Adresse, damit Sie sich nicht zu lange mit Eigenrecherche aufhalten müssen.« »Sie sind ein wahrer Freund.« Er beendete die Verbindung sofort nach Erhalt der versprochenen Daten und dachte an Ion Alexandru. Offenbar war Joan Gipsy noch skrupelloser, als er es sich hatte vorstellen können, und versüßte sich auf Kosten ihres gemeinsamen Kindes das Leben mit Luxus, der ihr eigenes Portemonnaie nicht nur schonte, sondern, im Gegenteil, wahrscheinlich auch noch jede Menge Geld hineinspülte. Er war wildentschlossen, nicht nur ihr die Suppe zu versalzen, sondern auch der Kuh, die sie zu melken versuchte. Noch während des Flugs nach Acapulco informierte er sich, so gut es in der Kürze der Zeit eben möglich war, über Intermedia. Und begann zu begreifen, wovor ihn Eylers zu warnen versucht hatte... Unter Ren Dharks Fahrzeug zog die regenwaldbedeckte Halbinsel Yucatän vorüber - wie der Kopf eines überdimensionalen Leguans,
umrahmt von türkisblauem Wasser und weißen Korallensandstränden. Aus dem ehemaligen Land der Maya ragten die 1500 Jahre alten Steinpyramiden von Palenque auf. Vor 1500 Jahren, dachte Dhark, bestimmten die Worgun noch das Schicksal der Milchstraße. Aber schon damals lagen sie im Krieg mit einem erbarmungslosen Gegner... Er vertiefte den Gedanken nicht. Kurze Zeit später tauchte die Bucht von Acapulco auf - Mekka der Erholungssuchenden. Oft schon totgesagt, lebte, ne'm, pulsierte dieser Ort stärker denn je. Die Tage von Tod und Untergang im Schatten der terraweiten Gehirnwäsche durch die Giants waren scheinbar spurlos an ihm vorübergegangen. Der diskrete Privatjett, den Dhark gegen seinen regierungseigenen Kurzstrecken schweber eingetauscht hatte, näherte sich einem riesigen Apartmentkomplex und setzte wenig später auf der dazugehörigen Piste zur Landung an. Dhark öffnete die Kanzel und nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft duftete nach Hibiskusblüten, und sofort erwachte in ihm das Verlangen nach einer eisgekühlten Margarita. Du bist nicht hergekommen, um Urlaub zu machen, erinnerte er sich. Du hast verdammt noch mal mit einer gewissen Dame ein Hühnchen zu rupfen! Er verließ den Jett, sicherte ihn und ging auf einen uniformierten Hotelpagen zu, der ihn bereits erwartete. »Hatten Sie reserviert, Sir?« Der junge Mann schien ihn nicht zu erkennen, was Dhark durchaus wohlwollend zur Kenntnis nahm. »Nein«, sagte er. »Ich wollte nur jemanden besuchen, der gerade hier seine Ferien verbringt.« »Ein Hotelgast? Ich kann Sie zu ihm führen, wenn Sie so freundlich wären, mir seinen Namen zu sagen...« »Joan Gipsy und...« Er zögerte, doch dann gab er sich einen Ruck. »... und Ion Dhark.« Es war kindisch, aber in diesem Moment entsprang die Spitze einem tiefen Bedürfnis. »Einen Augenblick, bitte...« Der Page tippte die Namen in ein Display, das in seinen linken Ärmel eingearbeitet war, und schon Sekunden später sagte er: »Wenn Sie mir bitte folgen möchten...«
Kein Wort über das Baby, das garantiert nicht unter dem Nachnamen Dhark eingeschrieben war. Der äußere Eindruck hatte nicht getrogen - dies war ein Feriendomizil der Sonderklasse, in dem nicht nur der Gast selbst, sondern auch der Gast eines Gastes wie ein König behandelt wurde. Ren Dhark fühlte sich ganz als Herr der Situation und ahnte noch nicht, in welche hinterlistige Falle er im Begriff stand zu tappen... »Ah, Mister Eylers...« Das Gesicht des Mannes, der den Medienkonzem Terra-Press leitete, sprach Bände. Sam Patterson hätte im verdienten Ruhestand weilen können, doch wie viele alte Männer, die ihr Unternehmen im Stil von Patriarchen leiteten, hatte er den besten Moment für einen »Absprung« bereits versäumt. Er hatte drei Söhne, zwei Töchter, elf Enkel und vier Urenkel, und sogar letztere waren in einem Alter, daß sie bereits kurz vor dem Examensabschluß standen... ... und dennoch hatte ihn bis zum heutigen Tag noch niemand überzeugen können, die Geschicke des bedeutendsten terranischen Presseunternehmens, mit Filialen in weiten Teilen der Galaxis, in die Hände eines Nachfolgers zu legen. Einen Nachfolger, der ihm das Wasser reichen konnte, sah er weit und breit nicht. Auch eine Form von Altersstarrsinn, dachte Bernd Eylers. Darüber hinaus besaß er ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu dem greisen Medienmogul. »Ich fresse meinen antigravunterstützten Füllfederhalter - übrigens ein Geschenk meiner Lieblingsschwiegertochter - wenn Sie nicht auf einen Gefallen aus sind! Sie melden sich doch immer nur, wenn Sie meine Gutmütigkeit schamlos ausnutzen wollen...!« »Da haben Sie voll ins Schwarze getroffen, Patterson. Ich will auch gar nicht lange um den heißen Brei herumreden - wir beide kennen uns und wissen, worauf es ankommt. Getreu dem Motto >Eine Hand wäscht die andere< werde ich mich bei passender Gelegenheit auch gern erkenntlich zeigen.« »Och«, erwiderte Patterson, wie aus der Pistole geschossen und kniff seine Augen so eng zusammen, daß sich die buschigen, graumelierten Brauen berührten, »ich wüßte da zufällig etwas...« Kopfschüttelnd unterbrach Eylers ihn: »Wollen wir nicht erst auf mein
Anliegen zu sprechen kommen?« »Die Höflichkeit würde es eigentlich gebieten«, nickte Patterson, »aber wie Ihnen bekannt ist, bin ich kein höflicher Mensch. Damit hätte ich es nicht so weit gebracht. Das ist ja genau das, was ich an den Blutegeln, die sich meine Verwandten schimpfen, vermisse: Sie sind alle so furchtbar edel, legen Wert auf Fairneß und was weiß ich noch alles... aber damit gewinnt man keinen Blumentopf! Auf die gesunde Härte kommt es an, verstehen Sie?« Ich verstehe, daß Sie sich auf Ihre besten Tage nicht mehr ändem werden«, erwiderte Eylers ausweichend. »Ansonsten tun mir Ihre Familienangehörigen aufrichtig leid.« Er grinste. Patterson grinste zurück. Eylers hatte schon häufiger die Erfahrung gemacht, daß der alte Mann regelrecht aufblühte, wenn ihm zur Abwechslung mal nicht nach dem Mund geredet wurde. »Na, schön«, brummte er. »Legen Sie los. Was für einen Staatsstreich soll ich für Sie vorbereiten?« »Eigentlich sollen Sie nur Ihre Arbeit tun«, schwächte Eylers ab. »Das, wofür Sie ohnehin berühmt-berüchtigt sind.« In Pattersons Augen schlich sich ein Hauch von Hinterlist. »Sie wollen meinen besten Mann - aber ich muß Sie enttäuschen, Bert Stranger ist gerade hinter einer anderen Sache her... unabkömmlich...« »Ich bestehe nicht auf Stranger. Geben Sie mir irgend jemanden - nur fähig sollte er sein.« »Fähig wozu?« »Man könnte sagen, ich brauche einen versierten Babysitter.« Patterson schaute zweifelnd. »Sonst fühlen Sie sich aber noch wohl, Eylers? Ich könnte Ihnen da einen hervorragenden Seelenmasseur empfehlen...« Der GSO-Chef fuhr ungerührt fort: »Was die Sache erschweren wird, ist, daß wir es mit einem schon reichlich erwachsenen Baby zu tun haben, das außerdem nichts davon bemerken soll, daß auf es achtgegeben wird... meinen Sie, Sie hätten einen Mitarbeiter im Angebot, auf den diese Beschreibung zutrifft?« Sam Patterson dachte nach. Ernsthaft und lange. Schließlich grinste er schadenfroh, als wollte er sich noch einmal höchstpersönlich ins »Gefecht« begeben - und nickte... Das Sendersymbol von Intermedia prangte dreidimensional in der
rechten oberen Ecke des Wand-Holoschirms, und Bernd Eylers, der trotz fortgeschrittener Stunde immer noch nicht an Feier abend und Füße hochlegen denken konnte, lehnte sich erwartungsvoll in seinem Schreibtischsessel zurück. Er war allein in seinem Büro. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Kristallglas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Whiskey aus einer der feinsten terranischen Destillerien. Block Bushmill hieß die Marke, die dem GSO-Chef ans Herz gewachsen war. Sein Gaumen schmolz dahin, wenn er ihn auch nur mit einem Tropfen dieses paradiesischen Getränks netzte... Er wartete, bis die mit großem Tamtam angekündigte Sendung startete und die ersten marktschreierischen Videosequenzen das Spektakel einleiteten, ehe er den ersten Schluck nahm. »Willkommen zu unserer Sondersendung direkt aus dem Club Mariachi, Acapulco!«, leitete eine wohlklingende Frauenstimme aus dem Off die Sendung ein, begleitet von einer wahren Bilderflut, die Urlaubsidylle pur vermittelte: Strand, blaues Meer, Sonne, schöne Menschen - im Hintergrund ein luxuriöser Apartmentkomplex... Eylers genehmigte sich gleich noch einen Schluck, weil die kitschüberfrachteten Bilder die sonst so verläßliche Wirkung des zwölf Jahre lang in echten Eichenfässern gelagerten Whiskys auf geheimnisvolle Weise zu absorbieren schienen. Das Schreibtisch-Vipho summte. »Aye?« Das Gerät reagierte auf Eylers' Schlüsselwort und Stimmfrequenz. »Sir, entschuldigen Sie die Störung -« »Worum geht es? Wenn es Zeit hat bis morgen...« Jan Torr, einer seiner engeren Mitarbeiter, wirkte irritiert. Es kam selten vor, daß der GSO-Chef nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit für Rückfragen zur Verfügung stand. »Ich wollte nicht -« »Hat es oder hat es nicht?« »Es-hat...« »Dann bis morgen. Ende und over.« Ein schwaches Lächeln umspielte Eylers' Lippen. Dieses »Ende und over« hatte er aus einem alten Buch übernommen - einem Agententhriller. Es hatte ihm gefallen, und deshalb hatte er sein Büro-Vipho darauf ebenso programmiert, wie auf das einleitende »Aye«. Die Verbindung wurde unterbrochen. Eylers richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Wand-Ho-
loschirm. Im Text der Anmoderation fielen erstmals die Namen Joan Gipsy und Ren Dhark - in der gegenwärtigen Situation ein Quotenrenner, wie Eylers schätzte, und er konnte nicht umhin, einen leichten Zuwachs an Nervosität zu verspüren. Die Öffentlichkeit nahm Anteil an der privaten Misere des Commanders der Planeten. Zumindest jener Teil der Öffentlichkeit, der für Schlammschlachten dieser Art empfänglich war. Eylers hatte keine klare Vorstellung, was ihn von Seiten Inter-medias erwartete. Aber er ahnte, daß der Mann, den er überaus schätzte, der Mann, der für viele Terraner das personifizierte Versprechen auf eine rosige Zukunft darstellte, sich von seinen privaten Problemen den objektiven Blick hatte trüben lassen. Er ist eben auch nur einer von uns Normalsterblichen, dachte Eylers. Ein Mensch... den Intermedia ins Visier genommen hatte! Bernd Eylers sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Zur besten Sendezeit wurde der Mensch Ren Dhark einem Milliardenpublikum zum Fraß vorgeworfen und diskreditiert... »... versuchte sich die Mutter mit ihrem Neugeborenen von den zermürbenden Auseinandersetzungen mit dem Kindsvater in einem mexikanischen Urliaubsort zu erholen. Trotz mehrfacher Aufforderung sah sich Ren Dhark nicht veranlaßt, sich öffentlich zu seinem Sohn zu bekennen und - was noch wichtiger wäre - auch um ihn zu kümmern...« Die Kamera vollführte einen Schwenk auf eine sonnenbeschirmte Wiege, die gleich neben Joan Gipsy unweit des Pools stand. Der kleine Ion Alexandru schlief darin, genüßlich an einem } Schnuller nuckelnd. I Er ist Dhark wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte Eylers. {Aber er hat auch nie angefochten, daß es sein Sohn ist - und wenn Untermedia hier behauptet, er habe sich öffentlich nie zu ihm bekannt, dann ist das eine dreiste Lüge. Sie ist nur wahr, wenn man Intermedia als das einzige Sprachorgan der Öffentlichkeit sähe -was der Sender selbst fraglos gerne hätte. Im Grunde ist die Kampagne, die hier läuft, nichts anderes als eine Rache dafür, daß Dhark nie Dinge, die seine Privatsphäre betreffen, über den Sender gehen ließ. Oder gar lancierte... »Lancierte« war das Stichwort für den weiteren Verlauf der Sendung. Untermalt von polemischen Attacken der Sprecherin zeichneten die
Aufnahmen und Gesprächsfetzen, in denen Joan Gipsy interviewt wurde, das Bild eines desinteressierten Rabenvaters. Man kann über sie sagen, was man mag, dachte Eylers, aber die im Stich gelassene Alleinerziehende mimt sie kongenial. Oscarverdächtig... Die ganze Inszenierung gipfelte im plötzlichen Auftauchen Ren Dharks, der seinen Sohn offenbar gehalten hatte und mit den schroff klingenden Worten: »Ich muß jetzt weg!« in die Arme der Mutter zurückgab. Joan Gipsys Miene drückte Empörung aus - Dhark selbst war in dieser Einstellung nur von hinten zu sehen, infolgedessen war seinem Gesicht nichts abzulesen. Eylers hielt unwillkürlich den Atem an, und schon im nächsten Moment meldete sich wieder die Off-Stimme und kommentierte mit aller Schärfe: »... kam es heute - nicht zuletzt auf Drängen unserer Redaktion - dann doch endlich zu einem Zusammentreffen zwischen Ren Dhark und Joan Gipsy. Der Commander reiste eigens nach Acapulco und signalisierte dadurch, daß ihm an der gütlichen Einigung im Streit um das Sorge- und Umgangsrecht gelegen ist doch leider erfüllten sich diese beileibe nicht hochgesteckten Erwartungen doch nicht. Unter den Augen unseres Filmteams gab sich Dhark keinesfalls wie ein Vater, der Interesse an seinem neugeborenen Sohn hat. Im Gegenteil: So wie er in der kurzen Zeit der ersten Begegnung überhaupt mit dem kleinen Ion Alexandru umgegangen ist, kann selbst bei sehr viel Wohlwollen nur als völlig lieblos bezeichnet werden. Man gewann den Eindruck, daß der Junge nichts weiter als eine Last für den Mann darstellt, den wir bis dato doch als verantwortungsbewußten Menschen kannten und schätzten. Ganz offenkundig lehnt er das Kind ab, das ihn vielleicht zu stark an seine Liaison mit Joan Gipsy erinnert... wer weiß. Fakt ist, daß erwachsene Menschen eigentlich anders miteinander umgehen sollten und müßten, wenn ein Kind im Spiel ist. Miß Gipsy betonte mehrfach auch in diesem Beitrag, daß sie Ion Alexandru nicht zum Spielball in einem Kräftemessen mit dem vielleicht einflußreichsten Mann der Erde machen wolle -es ist ihr abzunehmen, denn im Gegensatz zum Vater kümmerte sich die Mutter im Beisein unseres Reporterteams geradezu rührend um den Kleinen...« Zu diesen Worten wurden Szenen eingeblendet, die Joan Gipsy beim Spielen mit Ion Alexandru und beim Füttern zeigten. Auch hierzu hatte die Sprecherin einen
passenden Kommentar parat: »... hätte sie ihn liebend gern mit ihrer Muttermilch gestillt, doch machte dies eine Entzündung leider unmöglich. Modernste Babynahrung sorgt jedoch dafür, daß es Ion Alexandru an nichts mangelt...« Direkt im Anschluß an diese Worte folgte die Einblendung eines passenden Werbeblocks über Babykost. Bernd Eylers schaltete angewidert ab. Der Whisky schmeckte ihm plötzlich nicht mehr. Er schloß die Augen und filterte das Gesehene und Gehörte noch einmal durch seinen Verstand. Danach stellte er eine Verbindung zu S am Patter-son her, der ihn wiederum mit einer gewissen »KC« verband. KC war das Kürzel für eine der erfolgreichsten Reporterinnen von Terra-Press: Klatschtante Claire. Diese auf High Society- upd VIPGeschichten spezialisierte Dame war am Morgen dieses Tages, gleich nach Eylers' erster Unterredung mit Patterson, mit einem Terra-PressTeam auf den Weg nach Acapulco geschickt worden - via sündhaft teurer Transmitterverbindung - und dort noch vor Ren Dhark in besagtem Ferienklub eingetroffen. »Wie ich hörte, waren Sie ebenfalls Zeuge der Begegnung zwischen Ren Dhark und seinem Sohn«, kam Eylers gleich auf das Wesentliche zu sprechen. »Und Sie haben sicher den Beitrag verfolgt, den Intermedia gerade verbreitete...« »So ist es, Mister Eylers. Es freut mich sehr, daß ein hochoffizielles Organ wie die GSO dem Boulevardjoumalismus endlich den Wert zubilligt, der ihm gebührt.« »Darüber wollen wir lieber nicht streiten«, erwiderte Eylers kühl. KC war eine mäßig attraktive Erscheinung Anfang Dreißig. Das Glitzern ihrer Augen war so unecht wie die moralische Instanz, zu der sie sich offenbar berufen fühlte. »Mich interessiert nur, wie Sie die Begegnung zwischen Dhark und Gipsy beziehungsweise ihm und seinem Sohn erlebt haben... falls sie nahe genug dran waren.« »Seien Sie unbesorgt, das war ich«, erwiderte KC, fast in ihrer Ehre gekränkt. »Und ich habe, in Absprache mit meinem obersten Chef, bereits eine Gegensendung fertiggestellt. Die Ausstrahlung wurde jedoch solange zurückgehalten, bis ich das offizielle Okay von ganz oben erhielt.« »Und das haben Sie jetzt?« »Das habe ich jetzt«, bestätigte Klatschtante Claire. Ihre Wangen waren gerötet, als sie kurz nach unten auf ihre Armbanduhr schaute.
Dann sagte sie: »Wenn Sie sich zur Abwechslung auch mal das Paradebeispiel für eine perfekte journalistische Arbeit ansehen wollen, schalten Sie in zwei Minuten auf den Terra-Press-Kanal. Die Hinweise auf die dann startende Sondersendung mit meinem Beitrag läuft bereits multimedial und sogar auf allen Kon-kurrenzsendem, ausgenommen Intermedia...« »Ich hoffe nicht, daß das Ansehen des Commanders danach noch mehr gelitten hat als ohnehin schon...« »Aber, aber, Mister Eylers, man merkt wirklich, daß Sie sich in diesem Geschäft nicht auskennen, sonst wüßten sie, daß der Kunde König ist - und Sie hatten den Beitrag doch mehr oder weniger bei mir bestellt...« Bestellt... Die Bemerkung KCs ging Bernd Eylers noch nach, als das Gespräch längst beendet war und er seine Aufmerksamkeit bereits dem TerraPress-Kanal widmete, wo zunächst nur die Frau, mit der er gerade eine höchst vertrauliche Unterredung geführt hatte, ins Rampenlicht rückte. Im Gegensatz zur Intermedia-Sendung war dieser Beitrag ganz auf seine Moderatorin zugeschnitten. Weniger die Meldung, sie selbst war der Star - und Eylers mußte ihr neidlos zugestehen, daß sie ihre Sache vorzüglich machte. Klatschtante Claire hatte das einnehmende Wesen eines professionellen Wanderpredigers. Vom ersten Satz an schlugen ihre Stimme und ihre Mimik die Zuschauer in den Bann. »Sie kennen das alte Sprichwort: >Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus Nun, liebe Zuschauer, wir von Terra-Press sehen uns nicht als Krähen. Aber für uns von Terra-Press war und ist es stets oberste Verpflichtung, Mißstände und Betrügereien aufzudecken. Es gibt so etwas wie einen Ehrenkodex unter Journalisten - dieser Kodex gebietet, mit klaren Fakten zu arbeiten, ohne die öffentliche Meinung durch billige Tricks, wie beispielsweise unzulässige Kürzungen oder dergleichen, zu manipulieren. Genau das aber ist am heutigen Tag geschehen.« Die rothaarige Frau hielt kurz inne, blickte ernst in die Kamera, die in der Totalen auf sie gerichtet war, so daß der Hintergrund zur Unkenntlichkeit verschwamm, und fuhr dann fort: »Die Rede ist reden wir nicht lange um den heißen Brei - von der hohe Wellen der
Entrüstung schlagenden Intermedia-Sendung vom heutigen Abend, in deren Sog das öffentliche Ansehen, das der Commander der Planeten, Ren Dhark, bislang zweifelsfrei genoß, aufs Schwerste beschädigt wurde. Die Rede ist von Vorwürfen, die sich gegen den Privatmann Dhark richten und die in engem Zusammenhang mit seiner unstrittigen Vaterschaft und seiner inzwischen beendeten Beziehung zu der Futurologin Joan Gipsy stehen. Die Rede ist, um auf den Punkt zu kommen, davon, daß Ren Dhark von Intermedia in einer schwer zu überbietenden, polemisierenden Weise verunglimpft wurde, sich nicht um seinen Sohn Ion Alexandru kümmern zu wollen. Er habe, so der Vorwurf, gar kein Interesse daran, seine Vaterrolle wahrzunehmen. Eine Behauptung, liebe Zuschauer, die ich gleich im Anschluß an meine Vorrede in allen Punkten widerlegen werde. Bilden Sie sich anhand der Aufzeichnungen vom heutigen Tag, die wir Ihnen hiermit an die Hand geben, Ihre eigene Meinung zu den Unterstellungen, die dem alleinigen Zweck dienten, aus einem Opfer den Täter zu konstruieren... ja, ich sage es ganz offen, und Sie können versichert sein, daß meine Empörung echt ist: Ich halte es für eine beispiellose Schande, wie ein einflußreicher Sender - ersparen Sie es mir, den Namen zu wiederholen - einen untadeligen, verdienstvollen Staatsmann wie Ren Dhark in den Schmutz zu zerren versucht. Den Mann, dem nicht nur Terra, sondern die ganze Milchstraße so vieles verdankt, nicht zuletzt die nackte Existenz, denken wir nur an die immense Gefahr, die uns von der Kollision mit Drakhon drohte... doch kommen wir nun zur Beweisführung. Traurig genug, daß das Opfer sich gegen haltlose Unterstellungen zur Wehr setzen muß. Ein Glück aber, daß ich mit meinem Team rechtzeitig zur Stelle war, um die verbrecherischen Machenschaften Intermedias aufzudek-ken. Hier mein Bericht, der - dies zur Erklärung für bisweilen ungewohnt amateurhaft anmutende Bildeinstellungen und Tonqualität - mit einem Richtmikrofon und hochauflösenden Teleobjektiven aus sicherer Entfernung aufgenommen wurde...« KC redete fast ohne Luft zu holen. Während des letzten Satzes nahm die Kamera Abstand von der Totalen. Die Umgebung, in der sie stand, wurde sichtbar. Palmen, Meeresrauschen, die Terrasse eines Hotelkomplexes. Für Bernd Eylers, der auch schon die Intermedia-Sendung verfolgt hatte, wurden Übereinstimmungen sofort sichtbar: Kein Zweifel, KC berichtete ebenfalls direkt aus dem Klub, in dem sich das
»Drama« zwischen Ren Dhark und dem angeblich verstoßenen Sohn abgespielt hatte. Dann erfolgte ein Schnitt, und der Betrachter fand sich wieder in die Pool-Kulisse versetzt. Hauptdarsteller: erneut Joan Gipsy im sündhaft knappen Bikini, der trotz gerade erst überstandener Schwangerschaft bereits wieder eine absolut makellose Figur präsentierte und... Ren Dhark. Von Sohn Ion Alexandru gab es weit und breit keine Spur. Nach kurzer Zeit setzte die Stimme von Klatschtante Claire aus dem Off ein: »Sie werden sich dasselbe fragen, wie all die Menschen, die sich vom faulen Intermedia-Zauber haben blenden lassen - wo in diesem Arrangement ist die eigentlich Hauptperson? Wo steckt Ion Alexandru? Ein Säugling in seinem Alter sollte in der Nähe seiner Mutter sein - selbst wenn er gerade sein Mittagsschläfchen hält...« KC klang, als wäre sie selbst eine Mutter und spreche aus purer Besorgnis um das Wohl des Jungen. Das Teleobjektiv zoomte näher an den Ort des Geschehens heran. Gleichzeitig drehte der Ton auf. Die Szene zeigte einen aufs Höchste erregten Ren Dhark, der Joan Gipsy offenbar gerade am Pool entdeckt hatte und nun zur Rede stellte: »Warum willst du verhindern, daß ich meinen Sohn sehe? Weißt du eigentlich, wie egoistisch dein Verhalten ist?« Joan selbst wirkte völlig perplex und überrascht, als hätte sie keinesfalls mit seiner Ankunft gerechnet - was allein schon im Widerspruch zur Intermedia-Behauptung stand, der Sender habe das Treffen arrangiert. Bevor sie etwas antworten konnte, trat plötzlich ein Mann auf den Plan, der die Situation sofort zu überblicken schien. Die Kamera zoomte eine Stickerei an seinem Kragen heran: Intermedia stand dort in eleganter Schrift zu lesen. »Kann ich helfen?« Eylers hatte selten einen arroganteren Tonfall gehört. Entsprechend eisig konterte Dhark: »Was mischen Sie sich ein? Wer sind Sie überhaupt?« »Nur die Ruhe...« Der spindeldürre Mann mit der spitzen Nase und dem schmallippigen Mund hob beschwichtigend die Hände. »Ich kann die Situation erklären. Sie sind Ren Dhark...« Er streckte die Hand aus. »Freut mich.« Dhark ignorierte die dargebotene Hand, was Eylers an seiner Stelle auch getan hätte.
»Ich bin Peter Sandford, Redakteur bei Intermedia...« Sandford ließ sich von der ausgeschlagenen Hand nicht im mindesten irritieren. »Sie kennen unseren Sender natürlich, wir sind in gewissen Unterhaltungssegmenten marktführend. Miß Gipsy und ihr Sohn wurden von uns eingeladen, ein paar unbeschwerte Tage in dieser traumhaften Kulisse zu verbringen. Wir drehen ein Porträt. Miß Gipsy ist durch die vorübergehende Bekanntschaft mit Ihnen selbst zu einer Person von öffentlichem Interesse geworden...« »Die Bekanntschaft war nicht vorübergehend«, unterbrach ihn Dhark. »Nur das etwas tiefere Gefühl. Wir kennen uns noch immer. Und inzwischen gibt es ein Lebewesen, das es angeraten erscheinen läßt, die Bekanntschaft auch längerfristig fortzusetzen.« Dhark nickte Joan Gipsy zu. Sie errötete leicht, senkte den Blick. »Wie dem auch sei - Sie fragen nach Ihrem Sohn. Ich weiß, wo er sich in dieser Minute befindet. Und Miß Gipsy s Einverständnis vorausgesetzt...«, er bedachte sie mit einem drängenden Blick, »... werde ich veranlassen, ihn sofort zu uns herunterbringen zu lassen.« Dhark schwieg. Er faßte Joan Gipsy ins Auge und wartete spürbar deren Reaktion ab. Schließlich erwachte sie wie aus einer vorübergehenden Starre und nickte. »Ja. Ja... meinetwegen...« »Wenn Sie erlauben, werde ich mich selbst darum kümmern.« Auch dazu gab sie ihr Einverständnis, immer noch spürbar um ihre Fassung ringend. In einer Großaufnahme fing die Kamera den Intermedia-Mitarbeiter ein, der ihr anbot, Ion Alexandru aus dem Zimmer holen zu lassen. Der Mann legte ein überaus selbstherrliches Gehabe an den Tag und erweckte den Eindruck, als tanze Joan Gipsy ganz und gar nach seiner Pfeife. Aus dem Off ertönte dazu KCs Kommentar: »Ja, sehen Sie ganz genau hin, liebe Zuschauer, trauen Sie Ihren Augen, trauen Sie Ihren Ohren. Nichts ist unbestechlicher und von überzeugenderer Beweiskraft. Wir zeigen Ihnen diese Begegnung ungeschnitten, um jeden Manipulationsversuch von unserer Seite auszuschließen. Am Ende spielen wir Ihnen noch einmal zum Vergleich die verfälschende Intermedia-Sequenz ein, mit der Ren Dhark vor nicht einmal einer Stunde aufs Verwerflichste diskreditiert wurde.« Als sie schwieg, sprachen die Bilder und Dialoge erneut für sich
selbst. Während sich der Intermedia-Redakteur entfernte, versuchte Ren Dhark erneut, sich mit Joan Gipsy zu verständigen. »Du bist mir nach der Trennung immer ausgewichen. Ich konnte nie ein klärendes Wort mit dir wechseln, das uns beide betraf - die Art und Weise, wie etwas schiefgegangen ist mit uns beiden. Ich habe dich einmal geliebt, und ich hätte gern Kinder mit dir gehabt. Aber der Moment war ungünstig. Das Überleben der gesamten Milchstraße stand doch auf dem Spiel. Ich konnte meine persönlichen Wünsche nicht über das Schicksal der Menschheit und der Bewohner zweier Sterneninseln stellen... warum wolltest du das nicht verstehen?« Der Intermedia-Mitarbeiter kehrte zurück - statt mit Ion Alexandru mit einem Kamerateam, das sofort auf Dhark »anlegte«. »Wo ist mein Sohn?«, fragte Dhark mit unverhohlenem Ärger. »Er wird gleich gebracht - das Kindermädchen ist unterwegs. Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir den historischen Moment im Bild festhalten?« »Könnte ich es denn verhindern?«, gab Dhark wütend zurück. Der Intermedia-Mann grinste süffisant, sparte sich eine Antwort. Sofort mit dem Auftauchen der Kamera ging eine unglaubliche Verwandlung mit Joan Gipsy vor. Hatte sie eben noch völlig eingeschüchtert gewirkt, blühte sie jetzt regelrecht auf. Ein spürbarer Ruck ging durch sie hindurch, und sie gab sich plötzlich ganz selbstbewußt - kämpferisch -, warf Ren Dhark vor laufender Kamera vor, er würde sich seit Monaten nicht um sie und seinen Sohn kümmern, hätte sie schon in ihrer Schwangerschaft ganz sich selbst überlassen... Nun war es an Dhark, seine Verblüffung verdauen zu müssen, was ihm wesentlich souveräner gelang als ihr. »Du bist eine durchtriebene Person - ich ahne, was du hier versuchst. Du weißt genau, daß ich meinen gerichtlichen Anspruch auf den Jungen seit letzten November durchgesetzt habe, du mir Ion aber trotzdem entziehst, vorenthältst! Bislang habe ich auf Rücksicht auf die Liebe, die uns einmal verband, und aus Rücksicht auf meinen Sohn, den ich nicht traumatisieren möchte, darauf verzichtet, meine Rechte notfalls mit Polizeigewalt durchzusetzen. Aber wenn du mir keine andere Wahl läßt...« In diesem Augenblick näherte sich, wie auf Stichwort, eine Frau mit einem Baby auf dem Arm - das Kindermädchen.
Dhark unterdrückte das, was er Joan Gipsy noch hatte an den Kopf werfen wollen. Er drehte sich dem Kind zu, und sein gerade noch verkniffenes Gesicht entspannte sich zu einem fast seligen Lächeln. In Joan Gipsys Richtung brummte er: »Laß es uns gütlich regeln - sei keine Närrin.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er auf Ion zu, zögerte kurz, als erwarte er, doch noch aufgehalten zu werden, und nahm ihn der Kinderfrau schließlich aus dem Arm. Behutsam. Als wäre es das kostbarste Ding, das er je berührt hatte. Ein zartes Pflänzchen, zerbrechlich und unersetzlich. Die Kamera zoomte Vater und Sohn heran, so daß nur noch sie beide das Bild ausfüllten. War das Schweiß oder waren es Tränen, was da auf Dharks Wangen glänzte? Eylers fühlte sich wie ein schäbiger Voyeur. Obwohl er von Berufs wegen geheimdienstliche Ermittlungen und Observationen gewöhnt war, die oft noch sehr viel weiter in die Intimsphäre eines Menschen eindrangen, sie verletzten, berührte es ihn mit ungeahnter Vehemenz, einen Freund so schutzlos einem riesigen Publikum ausgeliefert zu sehen. Genug, dachte er. Macht endlich ein Ende. Jeder konnte sehen, was wirklich in Acapulco geschah. Es ist nicht nötig, alles zu zeigen... »Okay«, sagte Joan Gipsy aus dem Hintergrund, »du willst es gütlich regeln. Das ist fein und kommt meinen Vorstellungen entgegen. Ich verlange eine monatliche Abschlagszahlung in Höhe von... sagen wir hunderttausend Dollar - dann kannst du Ion so oft sehen, wie du möchtest.« Dhark schien in seiner Bewegung zu erstarren. Dann fing er sich, ganz offenbar bemüht, es seinen Sohn nicht spüren zu lassen, was sich an negativer Emotion in ihm aufbaute. Gleichzeitig gab der Intermedia-Redakteur, der kurz zuvor noch sehr zuversichtlich gewirkt hatte, ein verzweifeltes Stöhnen von sich und murmelte etwas von »lauter nicht sendefähiges Zeug, was diese Verrückte hier von sich gibt...« und »... alles gegen unsere Absprachen...« Dhark machte, Ion Alexandru immer noch sanft umschmiegend und auf dem Arm schaukelnd, ein paar Schritte auf Joan Gipsy zu und sagte in erzwungener Zurückhaltung: »Wir können über das, von dem du meinst, es stünde dir zu, bei anderer Gelegenheit reden - ich glaube
nicht, daß wir uns unter den gegebenen Umständen hier einigen werden. Außerdem...«, er zögerte, »... plane icheine größere Unternehmung, in deren Zuge ich für längere Zeit Terra den Rücken kehren werde. Ich werde mich aber sofort nach meiner Rückkehr mit dir in Verbindung setzen. Kümmere dich einstweilen gut um unseren Sohn - ich bitte dich darum, hörst du? Sollten in meiner Abwesenheit Probleme auftauchen, kannst du dich direkt an Trawisheim wenden, er wird dir helfen. Auch in finanziellen Dingen, solange du das Geld für Ion benötigst und deine Forderungen nicht völlig überzogen sind.« Joan Gipsys Miene umwölkte sich trotz des eigentlich großzügigen Angebots. »Ja, ja«, lamentierte sie, »alles für Ion - und was ist mit mir? Deine Gedanken drehen sich einzig um den Kleinen, aber was aus mir wird -« »Du verdienst dir doch, wie ich feststellen kann, ein nettes Taschengeld über Exklusivstorys mit gewissen Sendern...« Er nickte in Richtung der Intermedia-Leute. »Am Bettelstab gehst du also nicht und wirst du auch nicht enden. Ich zahle bereits eine großzügig bemessene monatliche Summe an dich - hast du das vergessen?« »Das ist nicht einmal annähernd das, was ich von dir erwarte!«, fauchte sie. »Da wir gerade von Erwartungen sprechen: Ich hatte auch andere Vorstellungen davon, wie sich unsere Trennung gestaltet. -Aber lassen wir das.« Er gab seinem Sohn einen letzten, innigen Kuß auf die Stirn, lächelte ihn noch einmal an und streckte ihn dann Joan entgegen. »Ich muß jetzt gehen.« Er schritt davon, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Kaum lag der Junge im Arm seiner Mutter, begann er jämmerlich zu weinen. Joan Gipsy verzog das Gesicht und winkte das Kindermädchen herbei. »Da hat jemand die Windeln voll«, sagte sie. »Hier, nehmen Sie schon! Wofür werden Sie bezahlt?« Kaum hatte die Frau ihn übernommen und ihn ein paar Mal liebevoll hin und her geschaukelt, beruhigte er sich auch schon wieder, und ein Strahlen huschte über sein pausbäckiges Gesichtchen. Joan Gipsy geriet sich mit dem Intermedia-Team in die Haare und hatte keinen Blick mehr für ihr Söhnchen übrig. KCs Stimme aus dem Off beendete den Sonderbericht über die verleumderischen und ehrabschneidenden Methoden des Konkur-
renzsenders Intermedia. Eylers lauschte der tiefe Betroffenheit suggerierenden Stimme der Terra-Press-Reporterin noch kurz nach dann schaltete er den Holoschirm ab und stellte eine neuerliche Viphoverbindung zu KC her. »Kompliment«, eröffnete er ihr. »Saubere Arbeit - ich hätte es nicht besser machen können.« »Davon bin ich überzeugt«, versetzte die Reporterin spöttisch. »Im Ernst, Sie haben sich eine Belohnung verdient - über das Sümmchen hinaus, das Ihnen Ihr Chef für den Quotenrenner zahlen wird.« »Eine Belohnung? Wollen Sie mich etwa zum Essen einladen, Eylers? Ich fürchte. Sie liegen nicht ganz auf meiner Wellenlänge, und bevor wir uns nur anschweigen und tödlich langweilen...« Auch diese Frechheit garnierte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. Eylers war hart im Nehmen. »Ich kann Sie beruhigen, ich esse auch lieber in angenehmer Gesellschaft«, erwiderte er mit unbewegter Miene. »Nein, ich dachte an eine wirkliche Belohnung. Sie sind doch von Berufs wegen sicher ständig an Adressen geheimer Rückzugsorte von Prominenten interessiert - zufälligerweise liegt gerade eine seitenlange Abhandlung zu diesem Thema auf meinem Tisch. Es könnte sein, daß ich das Zeug nachher falsch einkuver-tiere, so daß es bei einer gewissen Reporterin landen könnte... ich bin in den profanen Dingen des Lebens manchmal ziemlich zerstreut und ungeschickt...« Die Sonne ging auf in Klatschtante Claires Gesicht. »Bingo, Eylers, ich revidiere hiermit sämtliche Äußerungen von vorhin -offenbar liegen wir doch exakt auf einer Wellenlänge. Wir müssen zusammen essen gehen. Ich habe Sie soeben unwiderruflich und wärmstens auf ewig in mein Herz geschlossen...!« 12. 31. März 2059, Cent Field. Der Tag des Aufbruchs Kaum jemand wußte besser um die schiere Notwendigkeit der bevorstehenden Reise als der Mann, in dessen Him das Wagnis gereift war. Und dennoch... Es ist fahrlässig, sich in eine solche Ferne zu begeben, dachte Ren Dhark. Wie kann ich Gisol vertrauen? Wie kann ich solch ein Risiko vor mir selbst rechtfertigen? Die Zuversicht und Souveränität, mit der er seinen Freund Dan Riker
beeindruckt hatte, war wieder von ihm abgefallen wie ein viel zu weit geratener Anzug. Er zweifelte. Bei allen Sternen der Galaxis, oh ja, natürlich zweifelte er! Vielleicht hatte seine Begegnung mit Ion ihn innerlich so aufgerüttelt, daß er nun seinen eigenen Entscheidungen mißtraute. Vielleicht war es aber auch einfach nur sein gesunder Menschenverstand, der davor warnte, letzte Grenzen zu überschreiten und sich in ein völliges Neuland vorzuwagen. Fremde Galaxien, dachte er. Der Sprung dorthin ist in seiner Dramatik wohl nur vergleichbar mit den Verhältnissen, wie sie seinerzeit beim ersten Aufbruch zu den Sternen herrschten damals, vor dem Time-Antrieb. Als der Kuipergürtel um das Sol-Sy-stem herum noch die Grenze markierte. Wir waren - mit Mühe -in der Lage, die Planeten und Monde unserer eigenen Sternenheimat zu erforschen - aber selbst der nächste Fixstern stellte für uns ein unerreichbares Ziel dar. Antriebe, die ein Schiff schneller als das Licht befördert hätten, blieben lange Zeit den Phantasien von Schriftstellern vorbehalten. Heute reisen wir wie selbstverständlich mit Sternensog, Transitions- und Wurmlochtriebwerken kreuz und quer durch die Milchstraße... aber der Sprung tiefer hinein in den GalaxienCluster blieb uns bislang verwehrt. Erst Gisol hat es uns vorgemacht, daß auch der gigantische Abgrund zwischen den Sterneninseln zu bewältigen ist. Wenn sich all seine Versprechungen bewahrheiten und die Expedition gelingt, stehen wir am Vorabend eines neuen Zeitalters. Der Mensch überschreitet die vorletzte klare Grenze -eine mögliche weitere Steigerung wäre nur noch der beliebige Übertritt in andere Universen... und davor möge Gott uns schützen. Nicht alle Schranken müssen überwunden werden...! Noch während er dies dachte, war ihm bewußt, daß es eines Tages nötig werden konnte, auch die letzte Grenze, die Geschöpfe dieser Dimension überhaupt wahrnehmen konnten, niederzureißen. Und dann würde es - vielleicht - ein Wiedersehen mit den Völkern Drakhons geben. Der Gedanke, in zwanzig, fünfzig oder noch mehr Jahren »drüben« vorbeizuschauen, nur um zu sehen, wie sich die Rahim, Ga-loaner,
Nomaden und andere Rassen, denen die Terraner bei ihrem Vorstoß in die Zweite Galaxis begegnet waren, weiterentwickelt hatten, war verlockend. \ Aber auch unrealistisch, befand Dhark. Er war in seine beste Uniform geschlüpft und versuchte, sich noch ein wenig zu sammeln, bevor er seine Kabine in der POINT OF verließ und sich zur Zentrale begab, wo sie ihn sicher schon ungeduldig erwarteten. Sie: Die Stammbesatzung. Die alten Freunde und Weggefährten. Dan. Vor allem Dan... Er gab sich einen Ruck. Der Spiegel neben dem Trennschott, das aus der Kabine hinausführte, zeigte einen Mann, dem seine Zweifel nicht anzumerken waren. Nicht einmal Dhark selbst konnte sie in seinen Augen entdecken. Was war das? Maskerade in Perfektion? Meisterhafte Selbstbeherrschung? Oder einfach nur der Wunsch, die Zeichen der Unsicherheit nicht wahrnehmen zu wollen? Konnte er auch andere täuschen? Wollte er das überhaupt? Er schüttelte den Kopf. Es war müßig, sich auch noch darüber Gedanken zu machen. Was mochte in diesem Moment in Gisol vorgehen? Welche Zweifel und Gefühle tobten in dem Worgun, der sich endlich in die Lage versetzt sah, in seine Heimat zurückzukehren... ... wo er, wenn es ungünstig lief, wieder der Gejagte sein würde? Und wir mit ihm, dachte Dhark. Ich spiele mit dem Feuer. Ich rühre an Kräften, die uns vernichten und den uralten Feind der Mysterious auf Terra und seine Menschen aufmerksam machen könnten. Vielleicht ist unsere gutgemeinte Mission der Auslöser einer Gefahr, die sich niemand von uns zum jetzigen Zeitpunkt auch nur annähernd realistisch vorstellen kann. Wer sind die Zyzzkt? Welche Motive leiten sie? Sind sie wirklich so unglaublich perfide und eroberungssüchtig, wie Gisol sie beschrieben hat? Sind die Worgun wirklich die Guten und die Zyzzkt die Bösen? Letztlich, begriff Dhark, konnte darüber nur diese Expedition Klarheit verschaffen. Natürlich war sie mit Risiken und Unwägbarkeiten behaftet - wie jeder andere Vorstoß ins Unbekannte auch. Angst, Furcht und Sorge - diesen Preis würden sie immer zahlen
müssen, wenn sie die Zukunft sichern wollten. Die Zukunft aller friedliebenden Völker... Ren Dhark kehrte seinem Spiegelbild den Rücken, sah sich ein letztes Mal in der vertrauten Umgebung seiner Kabine um - und trat dann hinaus auf den Korridor. Plötzlich waren um ihn herum Schritte und Stimmen, und auch das Summen der Energiemeiler, über die Miles Congollon wachte, umgab ihn wie ein freundliches Lüftchen. Hinter ihm schloß sich das Trennschott, und er schritt den Gang aus Unitall entlang, umgeben vom bläulichen Licht, das immer ein Markenzeichen der Mysterioustechnik gewesen war. Es war seltsam, aber der Puls des Schiffes weckte ein Wohlbehagen in ihm, an das er Sekunden vorher, allein in der Kabine, noch nicht zu glauben gewagt hätte. Es war gut, es war richtig, was er tat. Die Zyzzkt sollten sich schon mal warm anziehen...! Eine fast sakrale Stimmung empfing ihn beim Betreten der Bordzentrale - die bei aller technischen Prägung auch tatsächlich etwas von einem gewaltigen Kirchenschiff hatte. Erinnerungen wurden wach. Erinnerungen ans ferne Damals auf Hope, an das Höhlensystem von Deluge, als sie den noch namenlosen Ringraumer zum ersten Mal betreten hatten... Seinerzeit hatte Dhark ähnlich empfunden wie jetzt. Alles hier war neu und gewöhnungsbedürftig, auch respekteinflößend gewesen, vor allem aber hatte es sich so... neu angefühlt. Einen Moment glaubte er, sogar dieselben Gerüche wie damals aufzufangen. Und obwohl die Zentrale von Mannschaftsmitgliedern und ihren typischen Arbeitsgeräuschen erfüllt war, fühlte sich auch diese Stunde seltsam neu und trotz unzähliger Flüge nie dagewesen an. Dhark bekam eine Gänsehaut. Es war ihm nicht peinlich, Himmel , nein, er genoß es! »Ren...!« Dan Riker winkte ihm zu. Auch sein Gesicht schien zu leuchten, und Dhark begriff, was heute anders als bei Dutzenden und Aberdutzenden Starts war: Es fehlte die Routine, die sich über die Jahre eingeschlichen hatte. Nicht nur bei ihm, auch bei Dan... ... und sie wirdaus dem Bewußtsem jedes anderen Teilnehmers verschwinden, sobald sie erfahren, wo unser Ziel
liegt, dachte er. Das war seine feste Überzeugung. »Wir haben nur noch auf dich gewartet«, empfing der Freund ihn, neben dem Co-Sitz stehend. »Ich weiß.« Dhark lächelte. Er war jetzt völlig entspannt, ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen. Es war wie ein Nachhausekommen: Da waren Tino Grappa und Elis Yogan, da stand Anja neben dem Checkmaster, prüften Hen Falluta und Leon Bebir die letzten Werte aus dem Maschinenraum und den anderen Sektionen des Schiffes. Unsichtbar blieben eingespielte Mannschaftsmitglieder wie Mi-les Congollon, Arc Doorn und Glenn Morris. Und... und... und... Dhark hätte jeden einzelnen Namen aufsagen können - er verzichtete darauf. Er spürte ihre Anwesenheit, und das genügte ihm. Der Takt der tofiritbetriebenen Meiler schien sich dem Takt seines Herzens anzupassen. Tofirit... die Mysterious waren damals nicht zuletzt aus Mangel an diesem Rohstoff mit Fabeleigenschaften in ihrem Krieg gegen die Zyzzkt unterlegen. Zumindest daran wird unsere Mission nicht scheitern, hoffte Dhark. Die Frachträume aller beteiligten Schiffe sind randvoll davon. Bebir und Falluta gesellten sich zu ihnen. »Stellen Sie eine Verbindung zur EPOY her«, wandte sich Dhark an Bebir. Und an Fallutas Adresse ordnete er an: »Synchronisieren Sie die anderen neun Schiffe unseres Verbandes mit der POINT OF. Start in...« er blickte auf den Zentrale-Chronometer »... drei Minuten. Tower Cent Field ist, wie besprochen, zu informieren...« Der Mann, der in einem Fenster der Bildkugel sichtbar wurde, sah aus wie ein durchschnittlicher Terraner. Aber »Jim Smith« war alles andere als ein Mensch. »Ich grüße dich«, sagte Ren Dhark, als die kleine Flotte bereits die Mondbahn passierte und Kurs auf den freien Raum senkrecht zur Eklipse des Sol-Systems nahm. Die Flächenprojektoren der Ringschiffe erzeugten den nötigen Schub für SLE. Die Intervallfelder blieben deaktiviert, so daß sie eine Transition nicht behindern konnten.
»Ich grüße auch dich, Ren Dhark«, erwiderte Gisol. Alles an ihm sah echt, sah wirklich aus. »Ich übertrage jetzt die Koordinaten, über die wir gesprochen haben.« »Darum wollte ich dich bitten.« Dhark war sich darüber im klaren, daß sein Dialog mit Gisol für Kopfzerbrechen in seinem unmittelbaren Umfeld sorgte. Mit Ausnahme von Dan Riker war niemand an Bord über die wahre Identität des Worgun informiert. Hinter Gisol tauchte eine weitere menschliche Gestalt auf, schob sich in den Vordergrund der Aufnahmeoptik. Es handelte sich um ein Mädchen von elf Jahren: Juanita Gonzales begleitete Gisol an Bord der EPOY und kannte sein Geheimnis. Dhark wußte nichts über die mögliche Kompatibilität zwischen zwei grundverschiedenen Spezies und wenig über die Dinge, die zwei Angehörige grundverschiedener Rassen so stark verbinden konnten, wie es hier zu beobachten war - dennoch war es ihm von Anfang an leichtgefallen, die ungewöhnliche Beziehung zwischen Gisol und der jungen Waisen aus den Slums vonRio zu tolerieren. Weil ich nicht beurteilen kann, was genau sie verbindet, was sie zusammengeschmolzen hat. Es betrifft nur sie beide, keinen Außenstehenden. Außerdem ist es kein sexuelles Interesse, das sie aneinander kettet und gegen das ich etwas haben müßte. Es ist... Freundschaft... Freundschaft in Reinkultur... Juanita hob grüßend die Hand. Ren Dhark erwiderte die Geste lächelnd. »Alles in Ordnung?« Das Mädchen nickte. »Natürlich. Wir fliegen nach Hause.« Daß sie von Orn wie von etwas sprach, was sie nie wirklich gehabt hatte, paßte ins Bild. Dennoch fragte sich Dhark zum ersten Mal mit Beklommenheit, ob sie wirklich wußte, was sie im Begriff standen zu tun. »Dateneingang bestätigt«, meldete sich Falluta aus dem Hintergrund. »Der Checkmaster hat den Kurs soeben bestätigt. Wir sind transitionsbereit.« »Du hast es gehört«, wandte sich Dhark an Gisol, der seine EPOY ganz allein steuerte. »Wir sehen uns«, bestätigte der Worgun in der Maske eines Menschen. Kurz darauf erfolgte die Mehrfachtransition, die elf Schiffe zu einem
gemeinsamen Rematerialisierungsort nahe eines namenlosen Sterns im Randgebiet der Milchstraße peitschte, einem einsamen Stern, den ein einziger, einsamer Planet umkreiste... Auf neun terranischen Ringschiffen war die neue Wuchtkanone nachträglich installiert worden, nicht auf der POINT OF, die ja im Gegensatz zu den »altmodischen« S-Kreuzern über die Mix-Waf-fen verfügte. Was bis zu diesem Zeitpunkt fehlte, war ein Praxistest, der die einwandfreie Funktionsfähigkeit der Zusatz-Offensivvariante nach ihrer Montage bestätigte. Dhark wollte kein Risiko eingehen. Während sich die EPOY wie verabredet dem namenlosen Planeten näherte, nahm der terrani-sche Verband Kurs auf einen Asteroidenhaufen in knapp fünf Lichtstunden Entfernung zum Stern. Der Schwärm aus Fels- und Eisbrocken mochte sich aus den Überresten eines einstigen Planeten zusammensetzen - genau vermochten dies die Astronomen um Jens Lionel nicht zu sagen. Ebenso war es möglich, daß die Objekte über die Jahrmilliarden hinweg von der Gravitation der Sonne als Irrläufer eingefangen worden waren. In Hinblick auf den beabsichtigten Waffentest spielte es keine Rolle, welche Variante hier zum Tragen kam. »Wie lange benötigt Gisol für sein Vorhaben?«, fragte Dan Riker im Co-Sessel neben Ren Dhark. »Du hast mit ihm gesprochen. Was hat er im Detail vor? Wird er landen, oder...?« »Du irrst dich, wenn du glaubst, er hätte mir gegenüber sämtliche Karten auf den Tisch gelegt«, antwortete Dhark. »Ich habe ihn offengestanden auch nicht danach gefragt. Von hier aus geht es weiter nach Om. Dies ist eine Zwischenetappe, die er benötigt, um sein Schiff fernflugtauglich zu machen. Ob er noch einmal auf dem Planeten landen wird und Persönliches zu erledigen hat, bevor es losgeht, weiß ich nicht. Es könnte sein. Aber dann erfahren wir es vorher. - Laß uns jetzt unser Augenmerk auf den Test richten... Glenn - was melden die Schiffe?« Glenn Morris ließ sich nicht lange bitten. Aus der Funk-Z kam die Bestätigung, daß die neun Ringschiffe ihre Ziele angemeldet und mit der POINT OF abgestimmt hatten. Es wäre uneffizient gewesen, wenn zwei Schiffe durch Zufall denselben Brocken anvisiert hätten... Der Haufen unterschiedlich großer Asteroiden füllte die gesamte
Bildkugel aus. Die Größe der Objekte schwankte zwischen ein paar hundert Metern Länge und einigen Kilometern. Ihre Masse insgesamt, hatte der Checkmaster errechnet, entsprach ziemlich exakt der eines Planeten von Erdgröße. Vielleicht war es tatsächlich einmal eine blühende Welt, dachte Dhark, deren Bewohner die Vernichtung selbst verschuldeten. Wir haben auch lange mit Kräften gespielt, lange vor unserem richtigen Aufbruch ins All, die wir kaum beherrschen konnten. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand Terra kurz vor dem Ausbruch eines globalen Atomkrieges. Das damals schon angehäufte Zerstörungspotential hätte im ungünstigsten Fall vielleicht auch ausgereicht, den Planeten zu zerreißen. Und dann... ... dann hätte es nie die Begegnung mit dem Vermächtnis der Mysterious gegeben. Nie den Kontakt mit fremden Intelligenzen aus den Tiefen der Milchstraße...! Müßig, darüber nachzudenken. »Fangen wir an«, gab er den Befehl zum Zünden des Feuerwerks aus Tofiritkugeln. In der Waffensteuerung West saß ein Mann namens Bud »Baby-face« Clifton vor seinen Kontrollen und streichelte sie so andächtig wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal vor einer zischenden, spuckenden Dampfmaschine steht und gar nicht fassen kann, was sich vor seinen Augen alles tut. Seine sonst eher blassen Wangen waren gerötet, seine Stirn gefurcht, die Augen... nun, die Augen waren geschlossen, wozu er sich im Ernstfall nie hätte hinreißen lassen. Konzentriert ein- und ausatmend, rekapitulierte er, was er über das neue Schmuckstück terranischer Waffentechnik wußte: Die Wuchtkanone war eine von Robert Saams Erfindungen. In einem Linearbeschleuniger wurde eine Masse ihrer Trägheit beraubt und dadurch bis auf einen signifikanten Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Beim Austritt aus dem Beschleunigungsfeld gewann die Masse unter Beibehaltung ihrer Geschwindigkeit ihre Trägheit zurück und wurde so zu einem Geschoß, das alle bislang bekannten Schutzschirme mühelos durchschlug. Theoretisch war jede Materie für den Einsatz in der Wuchtkanone geeignet. Aber seit der Entdeckung des Achmed-Systems und dem Ende der Tofiritknappheit wurden hauptsächlich Kugeln aus diesem superdichten Erz in Kalibern zwischen einem und fünf Zentimetern eingesetzt.
»Feuer!«, kam der erwartete Befehl. Die gemeinsame Aktion wurde aus der Zentrale der POINT OF gesteuert, obwohl das Flaggschiff auf die neuartige Waffe verzichten konnte. Die Waffenoffiziere der S-Kreuzer gehorchten wie gutgeölte Maschinen. Das Verderben jagte durch die energetischen »Rohre« der Kanonen. Das Verderben erreichte einen Lidschlag später den Zielpunkt... ... löste eine unerwartete Kettenreaktion aus... ... und brachte die allzu sorglos operierenden Schiffe an den Rand des eigenen Untergangs...! Die freiwerdende Energie übertraf alles Erwartete, formte sich zum Schlund eines Höllendrachen, der seinen Feueratem nach allen Seiten gleichzeitig ausstieß. »Notenergie auf Intervalle!« Noch bevor der Schrei seinen Mund verließ, hatte Dhark den Befehl bereits an die Gedankensteuerung weitergegeben. Gedankenschnell. Und vielleicht bewahrte nur diese von den Mysterious erfundene zeitverlustfreie Umsetzung den immer noch synchrongeschalteten Verband vor der totalen Vernichtung. Etwas raste über die Schiffe hinweg, ließ sie wie welke Blätter in einem unbändigen Sturm durch blendendes Licht torkeln. Eine Welle. Eine Welle, die sich nach überall hin ergoß, ausgehend von dem Schwärm aus Asteroiden, der - im selben Moment aufhörte zu existieren, zu purer Energie und harter Strahlung umgewandelt wurde! Nicht nur Ren Dhark stand ein paar Herzschläge lang völlig unter dem Eindruck des Geschehenen. »Schadensmeldung!« Er schüttelte sich wie ein nasser Pudel, als könnte er damit die Betroffenheit bannen, die nur langsam in ihm abklang. »Kontakt zu den anderen Schiffen herstellen - auch zur EPOY! Lagebericht, sofort!« Bange Sekunden verstrichen, in denen ihm etwas die Kehle zuzuschnüren drohte. Angst. Angst, die Expedition könnte schon hier und jetzt aus... unerfindlicher Ursache gescheitert sein - lange bevor sie die Grenzen der Milchstraße auch nur ansatzweise verlassen hatte.
»Checkmaster!« Noch bevor ihm der Zustand der Schiffe übermittelt wurde, wandte sich Dhark bereits an jene Instanz des Schiffes, die vielleicht in der Lage war, aus den bislang bekannten Fakten eine Erklärung zurechtzu schneidern. Anja Riker gab ein Zeichen, daß sie bereits im Dialog mit dem Superrechner stand und ihn mit allen Daten fütterte, die vor und während der Totalvemichtung des Asteroidenfeldes ermittelt worden waren. Die POINT OF war, wie die anderen Schiffe, beträchtlich durchgeschüttelt worden, aber wie durch ein Wunder nicht nachhaltig beeinträchtigt. Die EPOY meldete sich. Ein besorgter Gisol sagte: »Wenn ich geahnt hätte, daß die Terraner über solche Waffen gebieten, hätte ich mich niemals mit ihnen angelegt...« »Ich kann dich beruhigen - die Waffe war nur der Auslöser. Wir analysieren gerade die Geschehnisse. Du kannst in deinen Vorbereitungen fortfahren, ohne dich um uns zu kümmern. Wir werden dich über die Resultate informieren.« »Einverstanden«, antwortete der Mensch, der keiner war. Die Ortung der POINT OF verriet, daß die EPOY gerade in einen Orbit um den namenlosen Planeten einschwenkte. »Achtung, übermittle erste Checkmaster-Analyse«, rief in diesem Augenblick Anja Riker. Ihre Stimme hallte von den hohen Wänden wider. Fast zeitgleich leitete sie die Daten in die Holokugel, die direkt vor Dhark und ihrem Mann über der Kommandokonsole schwebte. »Heilige Galaxis!« entfuhr es Dan Riker wenige Sekunden später. »Worauf haben wir mit unseren Tofiritkügelchen denn da gefeuert?!« Nach Auswertung aller eingeflossenen Daten ergab sich für den Checkmaster folgendes Bild: Da die Asteroiden vor dem Beschuß einer zwar oberflächlichen, aber doch aussagefähigen Femanalyse unterzogen worden waren, bei der nichts Verdächtiges hatte festgestellt werden können, mußte es irgendwo auf oder in den kilometergroßen Brocken gut verborgene Anreicherungen einer Substanz gegeben haben, die allgemein unter dem Oberbegriff »Antimaterie« bekannt war.
»Antimaterie...« Das bloße Wort zauberte tiefe Furchen auf Ren Dharks Stirn. »Ich brauche einen Experten. Jemanden, der mir das in verständlichen Worten erklären kann. Der Checkmaster läßt sich hier lediglich in kryptischen Formelkolonnen aus. Eine Erklärung für das Vorhandensein einer auf Antiteilchen basierenden Substanz in einem ansonsten aus Normalmaterie zusammengesetzten Umfeld gibt uns der Blechkasten auch nicht! - Anja?« Anja Riker stand schulterzuckend neben ihm. »Es schmeichelt mir, daß du mich als Expertin siehst, aber in diesem speziellen Fall... vielleicht solltest du dich lieber an Pal Hertog werden...« Dhark nickte, und drei Minuten später betrat ein aufgewühlter Physiker dieses Namens die Zentrale. Nachdem er sich eine Weile mit der Auswertung des Checkmasters befaßt hatte, verblüffte der Astrophysiker seine Zuhörer im Brustton der Überzeugung: »Für mich ist der Fall eindeutig.« »Dann lassen Sie uns an Ihrer Erleuchtung teilhaben«, verlangte Ren Dhark zurückhaltend. »Nach heutigem Kenntnisstand besteht unser Universum zum Großteil aus gewöhnlicher Materie. Wir sind zwar umgeben von Antiteilchen wie Positronen, Antiprotonen und Antineutronen, aber das ist keine wirkliche Antimaterie. Es gibt Theorien, wonach weit entfernte Galaxien komplett aus Antimaterie bestehen könnten - herausfinden werden wir es erst, wenn wir eines Tages Sonden dorthin schicken...« »... die aber wohl zwangsläufig vernichtet würden«, warf Anja Riker ein, »oder? Bei Kontakt von Materie und Antimaterie kommt es zur gegenseitigen Auslöschung beziehungsweise zur Umwandlung in Energie - wie wir es dem Anschein nach gerade in relativ kleinem Maßstab erlebt haben.« »Korrekt, Sie sagen es: In kleinem Maßstab. Hätte die Asteroidenmasse zu fünfzig Prozent aus Antimaterie bestanden, würden wir jetzt nicht mehr darüber diskutieren können. Ich wage die Behauptung, daß nicht einmal die Intervalle solch enormen Kräften hätten widerstehen können, wie sie dann freigesetzt worden wären. Aber der Antimaterie-Anteil muß relativ klein gewesen sein. Nicht nur aus diesem Grund tippe ich deshalb darauf, daß wir es mit künstlichen Ablagerungen zu tun hatten.« Dhark, der bislang schweigend zugehört hatte, sagte: »Sie meinen, irgendwo auf einem der von uns oder den anderen Schiffen beschossenen Asteroiden hat es eine Art... Depot mit Antimaterie
gegeben - angelegt von fremden Intelligenzen?« »Es ist die einzige annähernd vernünftige Erklärung für diesen Zwischenfall.« »Über Vernunft läßt sich trefflich streiten«, murmelte Dan Riker. Anja Riker hingegen nickte nachdenklich. »Da wir in keiner Umgebung leben, in der Antimaterie der Normalfall ist, würde ich diese These unterstützen. Vielleicht...«, sie nickte in Richtung der Bildkugel, die den äußeren Weltraum wiedergab, die namenlose Sonne mit ihrem einzigen Umläufer, »... hatten wir gerade einen überaus hitzigen Kontakt mit der Ursache dafür, daß es zwar ein gewaltiges Trümmerfeld in diesem System, aber nur noch einen Planeten gab. Ich betone >noch<. Vor Zeiten könnte dies anders gewesen sein, wie unsere Astronomen ja schon kurz nach der Rematerialisierung in diesem System anklingen ließen. Und falls die Asteroiden tatsächlich Trümmer eines einstigen zweiten Planeten waren, hindert uns nichts an der Spekulation, daß die Antimaterie, mit der wir es gerade zu tun bekamen, Schuld daran trägt, daß es diesen Planeten heute nicht mehr gibt...« »Du meinst«, hakte Dan Riker nach, »die Bewohner haben sich selbst vernichtet - sich und ihre Welt?« »Es spricht jedenfalls nichts gegen diese Theorie, oder?« »Eine«, sagte Ren Dhark, »die wir wahrscheinlich auch mit Checkmaster- und Hertog-Unterstützung...«, er lächelte dem Astrophysiker freundlich zu, »... nie hundertprozentig bestätigt bekommen werden. Dennoch schließe ich mich ihr an. Es scheint, als hätten die ehemaligen Bewohner des nun endgültig ausradierten spekulativen zweiten Planeten mit Kräften experimentiert, die ihnen schließlich zum Verhängnis wurden. Ihr Planet wurde womöglich bei einem Materie-Antimaterie-Kontakt regelrecht zerrissen. Danach blieb mindestens ein Depot mit Antimaterie erhalten - bis zum heutigen Tag. Diese Materie muß auf unbekannte Weise gegen ihre aggressive Umgebung abgeschirmt gewesen sein - unser Beschuß hat diese Panzerung unwissentlich zerstört. Es kam zur Katastrophe...« »Feine Zustände sind das«, übte sich Dan Riker in Sarkasmus. »Wenn man nicht mal mehr gedankenlos auf tote Steinhaufen ballern darf...« Nicht jeder, der es hörte, verstand es als geschmackvollen Scherz aber er schien damit leben zu können. Immerhin: Leben war das Stichwort. , Sie hatten es überstanden... was immer es letztlich auch gewesen sein
mochte... Gisol ging förmlich auf in seiner EPOY. Er wurde das Schiff. Er verschmolz mit dem Unitall und bildete für unbestimmte Dauer die Seele des Raumers - wurde eins mit der Gedankensteuerung, die seine Befehle so verzögerungsfrei umsetzte, wie es nur möglich war. Der Ruf verließ die im Unitall der Außenhülle verborgenen Antennen, und dann durchstießen die blauvioletten Ringe die Atmosphäre des Planeten und näherten sich zielstrebig der EPOY. Den Quellgeistern von Lore sei Dank, dachte Gisol. Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten. Ich werde heimkehren. Der Traum, den er seit dem Übereinkommen mit Ren Dhark träumte, konnte weitergeträumt werden... An Bord der POINT OF und der anderen Ringraumer wurden die Kommandobesatzungen Zeuge, wie sich Gisols Schiff hoch über dem Systemplaneten mit neun weiteren Ringschiffen vereinte und dabei eine Röhre formte, deren Spitze die EPOY markierte. Ein grandioses Bild - das die POINT OF im Begriff stand, nachzuahmen. Gemeinsam mit der WALLAROO, MITO, CHARLESTON, CALAIS, INVERNESS, BüDVA, TIENTSIN, DENIA und der RHEYDT. Vor Ren Dharks geistigem Auge rollten nicht nur die Namen der Begleitschiffe ab, sondern auch die ihrer Kommandanten. Er lächelte, während er das Manöver leitete, das alle zehn Schiffe zu einem einzigen Objekt zusammenfügte und zu einem Ebenbild dessen formte, was Gisol vorgegeben hatte. Jeweils zehn Ringschiffe bildeten eines von zwei Superraumschiffen nicht vergleichbar mit den Erron-Schiffen, von denen laut Gisol nur noch drei existierten, aber eindrucksvoll genug, um die Herzen all derer, die sich in diesen Mammutgebilden befanden, höher schlagen zu lassen. Dhark stand in ständigem Kontakt zu Szardak, Ma-ügode, Lar-sen und den anderen Einzelbefehlshabern. Obwohl nie geübt, gelang die schwierige Koppelung auf Anhieb, unterstützt von den Gedankensteuerungen der früheren Worgun-Raumer. Sobald alle Einzelsegmente festen Kontakt zu einander hatten und
angedockt waren, übernahm die krönende POINT OF die komplette Kontrolle über das Gesamtwerk. Was vor geraumer Zeit noch nicht einmal die kühnsten Geister zu spekulieren gewagt hätten, wurde nun enthüllt: Sämtliche Ringschiffe waren nicht nur autarke Körper, sondern auch Module, die je nach Bedarf zu (beliebig?) größeren Einheiten zusammengefaßt werden konnten. Und der Bedarf, so schien es, richtete sich in erster Linie nach der Entfernung, die diese Über-Schiffe zurückzulegen hatten. Die Flächenprojektoren aller gekoppelten Ringe waren nach dem Zusammenschluß in der Lage, ähnlich einem Staustrahltriebwerk eine um ein Vielfaches potenzierte Schubleistung zu erzeugen. Die Höchstgeschwindigkeit, hatte Gisol seinem Verbündeten verraten, betrug auf diese Weise l}.,2milliardenfache Lichtgeschwindigkeit. Das galt für seine Schiffe und die POINT OF. Die älteren S-Kreuzer brachten es im Verbund immerhin auch noch auf das 9,6milliardenfache der Lichtgeschwindigkeit. Ein unglaubliche Tempo. Und auch nicht ideal für Femreisen. Der Energieverbrauch und die mit ihm verbundene Belastung der Anlagen war viel zu gewaltig. Um die Gefahr des Verschleißes zu mindern und Treibstoff zu sparen, hatten sich Gisol und Dhark darauf verständigt, die beiden Schiffsverbände auf maximal 500millionenfache LG zu beschleunigen. Dies und einiges mehr eröffnete Gisol den terranischen Besatzungen noch vor dem Aufbruch ins Ungewisse. Zuvor aber war es an Ren Dhark, den Männern und Frauen, die ihm vertrauten - so sehr, daß sie ihm quasi blind in dieses Unternehmen gefolgt waren - reinen Wein über »Jim Smith« und die Mission einzuschenken... Auf zehn Schiffen hingen die Mannschaften dem Commander buchstäblich an den Lippen. Ganz gleich, ob im Dienst oder in der Freizeit - jeder wollte hören, was ihm Ren Dhark zu sagen hatte. Dies war der eigentliche Beginn der Expedition. Und Ren Dhark schien um die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, zu wissen, denn er redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern begann seine Erklärung mit den Worten: »Dies ist ein historischer Moment - zumindest für all diejenigen, die mit mir nicht müde wurden
daran zu glauben, daß wir das Rätsel um die Myste-rious eines Tages lösen werden.« Er setzte eine genau kalkulierte Pause, und in den Gesichtern seiner unmittelbaren Umgebung konnte er ablesen, daß seine Eröffnung »saß«. Dann fuhr er fort: »Seit ich zum ersten Mal auf Deluge in den Industriedom trat, seit ich die wolkenkratzerhohen Maschinengiganten in bläulichem Licht vor mir aufragen sah... und später, als wir die POINT OF fanden, halbfertig in einer allseits von Fels umschlossenen Höhle... wollte ich die Erbauer dieser technischen Wunder kennenlernen, ihnen begegnen.« Wieder machte Dhark eine Kunstpause. »Wir glaubten uns nahe dran, als wir die andere Galaxis, Drak-hon, fanden und dort auf dem Planeten der Shirs eine gute Hundertschaft von Humanoiden, die von sich behaupteten, diejenigen zu sein, nach denen wir zu diesem Zeitpunkt schon über Jahre hinweg suchten. Aber wie wir inzwischen alle wissen, haben die Salter gelogen - zwar stammten sie vom gleichen Planeten wie wir auch, von Terra, das sie Lern nannten, aber das Volk, die Spezies, die bei uns aus Mangel an Information >Mysterious< hieß, repräsentierten sie nicht. Sie waren vielmehr das Ergebnis eines genetischen Experiments der Mysterious, die sie die >Hohen< nannten.« Dharks Augen verengten sich um eine winzige Idee. Wie er da stand und sprach, den Rücken der Bildkugel zugewandt, in der sich das Weltall wie in einer dunklen Pfütze spiegelte, konnten ihn nicht alle Menschen an Bord des »Schiffwurms«, zu dem die Ringraumer sich zusammengeschlossen hatten, sehen. Aber alle konnten ihn hören hörten auch diesen eher ungewohnten Beiklang aus seiner Stimme heraus, der ihnen signalisierte, daß dies nicht nur eine Ansprache von vielen war, sondern daß ihnen eine Eröffnung bevorstand, mit der sie - wahrscheinlich - in dieser Form nicht gerechnet hatten - nicht hatten rechnen können. »Seit kurzem«, fuhr er fort, »kennen wir nun den Namen, den sich die Mysterious selbst gegeben haben, und ich will ihn den Teilnehmern an dieser Expedition nicht vorenthalten. Erfahren habe ich ihn von einem Mann, der sich John Brown und Jim Smith nannte, und der ebenfalls an diesem Flug teilnimmt. Er kommandiert das zweite >Multischiff<, das sich gerade im Orbit um den einzigen Planeten dieses Sternsystems zusammengesetzt hat.
Der echte Name dieses Freundes lautet Gisol, und er ist kein Mensch, sondern ein Worgun. Und die Worgun sind die... Mysterious.« Ren Dhark nickte, wie um seine letzten Worte zu unterstreichen. Aber dessen hätte es nicht bedurft, sie besaßen auch so schon die Brisanz einer Bombe, die in unmittelbarer Nähe eines jeden Zuhörers gezündet worden war. Bares Staunen lahmte all diejenigen, die bislang noch nicht in das Geheimnis um »Jim Smith« und die EPOY eingeweiht gewesen waren - und das waren die meisten. Aber es kam noch ärger. Ren Dhark setzte noch einen drauf, indem er »Klar Schiff« machte und verriet: »Die Worgun leben schon seit tausend Jahren nicht mehr in unserer Milchstraße, sondern in der weit entfernten Galaxis Om, die zum Sculptorhaufen gehört. Dorthin zogen sie sich vor den wütenden Angriffen ihrer Feinde zurück, die die Grakos als Hilfsvolk mißbrauchten - ein Feind, der sich die Zyzzkt nennt. Ein Zungenbrecher, ich weiß, ungewohnt wie vieles, an das auch ich mich erst werde gewöhnen müssen. Vor allem anderen aber an die Tatsache, daß die Worgun, die wir stets nur die Mysterious nannten, dort in Orn von den Zyzzkt schon vor langer Zeit besiegt wurden - und seither in völliger Unterdrückung leben. Gisol ist kein Gesandter der Worgun, der hier in der Milchstraße nach dem Rechten sehen wollte - Gisol ist ein Rebell, ein vom System Verfolgter, der in unsere Galaxis floh, weil er hier Verbündete in seinem Widerstand gegen die Siegermacht Zyzzkt zu finden hoffte.« Auch diese Eröffnung brauchte Zeit, ins Bewußtsein und Verstehen der Menschen zu sinken. Ren Dhark hatte ein natürliches Gespür dafür. Nach der dritten und längsten Pause setzte er seine Rede mit den Worten fort: »Ich konnte ihm diese Unterstützung nicht zusagen Gisol weiß und versteht, daß wir Terraner uns nicht auf das bloße Wort eines Einzelnen verlassen können. Für alles gerade Gesagte fehlen die letzten Beweise - meine Aussagen stützen sich ausnahmslos auf das, was ich von Gisol erfahren habe. Er weiß, wie ich darüber denke. Ich persönlich glaube ihm - aber ich trage eine Verantwortung für alle Menschen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, mit Gisol nach Orn aufzubrechen, um mich mit eigenen Sinnen von den dort herrschenden Verhältnissen zu überzeugen. Um herauszufinden, wer die Zyzzkt sind, ob es dieses Unterdrückungssystem, unter dem die Worgun leiden, gibt. Und Sie alle haben sich darauf eingelassen, mich dorthin zu begleiten. Kaum einer wußte, wohin unsere Reise
führen würde, aber jedem mußte klar sein, daß wir uns in Gefahr begeben. Das kann ich hiermit nur noch einmal unterstreichen. Wir brechen in Bereiche auf, die - das darf ich mit Fug und Recht unterstellen - noch nie ein Mensch zuvor betreten hat. Wir reisen zur eigentlichen Heimat der Mysterious - die zu ihrem Kerker geworden ist, zu ihrer Sträflingsinsel, auf der sie unter unwürdigsten Bedingungen ihr Dasein fristen müssen... wenn Gisols Angaben den Tatsachen entsprechen. Er weiß um meine Vorsicht und versteht sie selbst nicht als Mißtrauen - und so möchte ich es auch verstanden wissen. Überzeugen wir uns selbst von den Verhältnissen in Om. Lernen wir nicht nur das Volk der Worgun kennen, sondern auch das der Zyzzkt. Aber es wäre lächerlich, sich einzubilden, wir wären mit einer kampfstarken Flotte unterwegs zu einer 10 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxis. Realistisch betrachtet können wir uns allenfalls als Spähtrupp verstehen. Als einen Verband, der vor Ort möglichst unauffällig operieren muß. Doch damit will ich es vorläufig genug sein lassen von meiner Seite. Ich übergebe das Wort an denjenigen, von dem ich nun mehrfach gesprochen habe, und der sich bereiterklärt hat. Sie mit einer Reihe weiterer Informationen zu versorgen, die sich samt und sonders um unser Ziel Om drehen. Ich übergebe das Wort an Gisol, der uns von der EPOY aus zugeschaltet ist...« Die Mysterious sehen aus wie Menschen?! Wahrscheinlich war es das, woran viele - vielleicht die meisten zuerst dachten, als sich Gisol ihnen nicht nur akustisch, sondern auch visuell bemerkbar machte. Die Funk-Z der EPOY bediente sich dabei keines Überlichtfunks, sondern eines sehr viel »primitiveren« Verfahrens, das dem ähnelte, wie es in der Frühzeit terranischer Viphokommunikation üblich gewesen war. Diese Methode war abhörsicher und funktionierte nur über relativ kurze Distanz - nicht über kosmische Distanzen hinweg. Außerdem war das Verfahren kompatibel mit den Bildkugeln. Wo keine in Reichweite der Besatzungen stand, machte er sich ihnen immer noch über die Bordsprechanlage verständlich, so daß niemandem auch nur ein Wort entging. Wie zuvor beobachtete Dhark die Menschen in seiner unmittelbaren
Umgebung auch bei Gisols Rede sehr genau. Er wollte ihre Reaktion auf ihn und seine Eröffnungen sehen. Gisol begrüßte »die Terraner« - von seiner Warte aus zählte, abgesehen von Ren Dhark (und von Juanita, deren Bedeutung aber kaum einem bewußt war), das Individuum in diesem Moment und in dieser Situation wenig. Es waren die Terraner, die ihm nach Orn folgen wollten. »Orn liegt rund 10 Millionen Lichtjahre von dieser Galaxis entfernt«, teilte er mit wohlklingender Stimme mit. »Unsere beiden Schiff s verbände werden diese auf den ersten Blick unüberwindlich klingende Distanz binnen zwei Wochen hinter sich gebracht haben.« Die Menschen, die Gisol auch optisch wahrnahmen, sahen ihn nach dieser Eröffnung lächeln. »Zwei Wochen terranischer Zeit für 10 Millionen Lichtjahre sind nicht viel - aber ich darf versichern, es ginge noch schneller. Ich setze einen Überlichtfaktor von 500 Millionen an, um den Schiffsverbund zu schonen - machbar wären für die POINT OF und die EPOY und ihre Schwesterschiffe maximal die 11,2milliardenfache Lichtgeschwindigkeit, eure >altmodischen< Ringschiffe erreichen maximal 9,6milliardenfache. Doch weniger ist oft mehr, zumal wir auf die von mir genannte Weise auch enorme Mengen an Treibstoff einsparen. Tofirit«, er lächelte erneut, diesmal fast melancholisch, »ist für einen Worgun etwas beinahe Heiliges auch wenn es den Menschen gelungen zu sein scheint, ein bedeutendes Vorkommen zu erschließen. Bei uns herrschte und herrscht seit jeher Mangel an diesem einzigartigen Erz... Wir werden Om mit Beschleunigungs- und Bremsphasen also in etwa 14 Tagen, von heute an gerechnet, erreichen. Und dort können sich die Terraner dann vom Wahrheitsgehalt meiner Worte überzeugen und sich ein eigenes Bild von den Zyzzkt machen. Von den grausamen, perfiden Unterdrückern meines Volkes, das einst über Recht und Ordnung auch in dieser Galaxis wachte, wie noch heute die Wächter bezeugen, von denen ihr, wie ich hörte, einen kennenlernen konntet - genau wie ihr von Erron 2, dem wahren Erron 2, dem Stützpunkt der Wächterroboter, erfahren habt...« Inzwischen wußte Ren Dhark, daß die Erron-Stationen einmal Riesenraumschiffe der Worgun gewesen waren und die Ringrau-mer nur bessere »Beiboote«.
Von Gisol hatte er erfahren, daß Erron 2 erst unmittelbar vor ihrem Exodus aus der Milchstraße zur Basis der Wächter umfunktioniert worden war - offenbar aus der Absicht heraus, die Völker der Galaxis nicht völlig schutzlos sich selbst und möglichen weiteren Übergriffen seitens der Zyzzkt und deren Helfershelfer zu überlassen. Aber irgend etwas schien das Konzept der Wächter lange vor dem Einschlag des Weißen Blitzes gestört zu haben, denn zumindest in der Gegenwart agierten sie kaum noch merklich. So hatten sie nicht in den wiederentflammten Krieg gegen die Grakos eingegriffen, sich nicht um die Giants, das Nor-Ex und andere Gefahren von galaxisweiter Bedeutung gekümmert. Auf die noch existierenden Erron-Gigantschiffe der Worgun angesprochen, hatte Gisol lediglich erklärt, daß sie ihrer Antriebe beraubt seien und ihre kosmischen Positionen nicht mehr verändern könnten. Trotz mehrerer Anläufe hatte es Dhark nicht geschafft, dem Worgun mehr zum Thema Erron-Basen zu entlocken. Was »Jim Smith« bei seiner Ansprache nicht verraten hatte, war, daß er die Fähigkeit der Gestaltwandlung besaß. Außer Dhark hatten nur Dan Riker, Juanita Gonzales und Amy Stewart das »wahre« Gesicht des Worgun Gisol zu sehen bekommen. Spätestens in Om sollte sich dies ändern. Falls wir Orn je erreichen, dachte Dhark, von seiner eigenen, plötzlich auftauchenden Skepsis irritiert. Doch dann begriff er, daß Skepsis etwas völlig Normales war angesichts des Vorhabens, das sie im Begriff standen anzugehen. Die POINT OF und die anderen neun terranischen Ringraumer würden die Milchstraße mit Kurs auf ein fernes Staubkorn an den Gestaden der Unendlichkeit verlassen. Waren die Entfernungen innerhalb der heimatlichen Galaxis mitunter schon beklemmend, so grenzte das Ziel, das sie mit dieser Expedition ansteuerten, an schieren Größenwahn! Menschen von der Erde wollten den Abgrund aus Leere und Finsternis, in den alle Galaxien seit dem Urknall eingebettet waren, überwinden. Konnte dies gelingen? Würde der Verbund der zehn Schiffe es tatsächlich ermöglichen, die Kluft zwischen den Milchstraßen zu überbrücken? Ich werde es erst glauben, wenn wir dort sind, dachte Dhark. Und wie ihm, das wußte er, ging es allen Menschen an Bord. Das Wagnis, das sie bereit
waren einzugehen, war mit Worten nicht zu beschreiben. Wir werden uns weiter denn je von der Erde entfernen. Wir werden in fremde Himmel schauen und fremden Geschöpfen begegnen, wie wir sie uns vielleicht nicht einmal in unserer kühnsten Phantasie vorstellen könnten! So würde es kommen... ... falls sie Om jemals erreichten. Niemand konnte dies garantieren, auch Gisol nicht. Dennoch beschleunigten eine Stunde nach Gisols Rede die beiden aus jeweils zehn Ringen bestehenden Zylinder und starteten den Turbo in Richtung Unendlichkeit. 13. Ihr Name war Juanita. Juanita Gonzales. Sie war erst elf Jahre alt, aber sie hatte schon mehr erlebt, mehr durchgemacht, als manch anderer Mensch, selbst wenn er das Glück oder Pech hatte, hundert zu werden. Hundert wollte Juanita auch werden - aber erst, seit sie Jim kannte. Jim, der nicht Jim war. Sondern...? Sie überlegte, was sie über ihn wußte. Was sie wirklich über ihn wußte. Sie hoffte... nein, sie glaubte, daß es mehr war, als jeder andere Mensch über den Fremden hatte in Erfahrung bringen können, der ihr Freund geworden war. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben obwohl viele dachten, daß er gar kein Mensch war. Was nicht stimmte, absolut nicht. Denn Juanita reduzierte Menschlichkeit nicht auf das Aussehen. Sie hatte gelernt, daß dem Geschöpf »Jim«, obwohl es, wie ihr inzwischen klar war, nur die Maske eines Terraners trug, mehr Menschlichkeit innewohnte als den meisten »echten« Menschen, die sie kennengelernt hatte. Sie war neugierig aufJims Zuhause. Er hatte ihr viel Schreckliches darüber erzählt, wie die Zyzzkt sein Volk demütigten, kontrollierten, knechteten - und dennoch: Sie konnte es kaum erwarten, die Heimat der einzigen Person, für die sie bedenkenlos ihr so junges Leben geopfert hätte, zu erreichen und aus eigenem Erleben kennen zu lernen. »Om ist kein Paradies«, wiegelte der Rebell ab, wann immer sie darüber sprachen. »Jenes Om, zu dem die Zyzzkt es gemacht haben, ist eine Hölle. Ein Pfuhl der Verzweiflung. Sie hätten uns besser alle ausgerottet - ich bin sicher, die meisten von uns wären lieber tot als in ihrer Hülle gefangen. Eine Hülle, die nach Verwandlung schreit. Es ist ein tief verwurzelter Trieb in uns. Ihn dauerhaft zu unterdrücken,
heißt, die Seele zu ersticken!« Damit konnte Juanita nicht wirklich etwas anfangen. Aber sie fühlte die tiefe Erschütterung in Jim, sobald er von den Mechanismen der Unterdrückung sprach, welche die Zyzzkt bis zur Perfektion entwickelt zu haben schienen. »Wir sind jetzt eine knappe Woche unterwegs«, sagte sie, als sie ihn an diesem Morgen in der Zentrale der EPOY besuchte. »Wie weit sind wir noch von Om entfernt - haben wir die Hälfte der Strecke bewältigt?« Sie hatte fast acht Stunden geschlafen, fühlte sich aber nicht wirklich ausgeruht. Da gab es Träume, die sich fast jede Nacht wiederholten. Träume, die sie seit ihrer frühesten Kindheit quälten - sie gehörten zu ihren ersten Erinnerungen überhaupt. All das Elend, in dem sie groß geworden war... es hatte seine Spuren hinterlassen, sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. »Wo sind wir?« »Wie du sagtest: auf halber Strecke.« »Das heißt - fünf Millionen Lichtjahre liegen hinter, fünf Millionen vor uns.« »Nagele mich nicht auf ein paar tausend Lichtjahre fest.« Er grinste. Herrgott, er grinste, als wäre sein Gesicht nicht nur Maske, sondern das angeborene Wesen. Sein wahres Aussehen versteckte er sogar vor ihr. Immer noch, obwohl ihm klar sein mußte, daß sie schon gesehen hatte, wie er wirklich war - wie seinesgleichen war... »Bereust du es, mitgekommen zu sein?«, fragte er. Sie schüttelte vehement den Kopf. »Du wirst Geduld mit mir haben müssen«, sagte er. »Du kennst noch lange nicht alle Seiten von mir.« Die eigenartige Stimmung, in der sie sich befand, mißfiel ihr plötzlich. Sie lachte hell auf, wie um sie abzuschütteln. »Bildest du dir etwa sein, meine Seiten schon alle zu kennen? Und davon abgesehen: Ich will sie kennenlernen - jede winzige Miniseite davon!« Ihr Blick ging an ihm vorbei zu der Schwärze in der Bildkugel, die dort gähnte, wo sonst ein Weltall voller Sterne funkelte. Vieles war anders geworden, seit sie in den Leerraum außerhalb der Milchstraße vorgedrungen waren. Es gab noch Sterne, aber weit, weit entfernt. Die Schwärze dominierte. »Spürst du es auch?« fragte Jim. »Was meinst du?«
Er trat zu ihr und legte die Arme um sie, drückte sie an sich, wie ein väterlicher Freund. »Es ist kälter geworden. Nicht wirklich, aber dem Gefühl nach. Ich habe von Menschen gehört, die Angst bekommen, wenn sie auf engstem Raum eingesperrt sind. Etwas ähnliches empfinde ich hier.« »Du fürchtest die Leere?« Er nickte. Auch das eine Geste, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. »Warum fliegen wir dann nicht wenigstens ein bißchen schneller? Es war dein Vorschlag, fast mit angezogener Handbremse zu reisen...« »Ich weiß.« »Schön, aber wenn es dir so zusetzt, verstehe ich nicht, daß du es dir antust.« »Vielleicht gibt es einen Grund, der über die Treibstofferspamis hinausgeht und der mindestens so privat ist wie meine klaustrophobischen Ängste...« »Ich bin sicher, daß es den gibt. - Verrätst du ihn mir?« »Ganz einfach...« Er drückte sie noch fester an sich. »Ich leide im Leerraum, das stimmt. Aber es könnte sein, daß ich noch mehr als dieses Nichts das Ziel fürchte, zu dem wir unterwegs sind...« Als er schwieg, spürte Juanita sein Herz, das schnell schlug, durch den Stoff ihrer Kleidung hindurch. Die Maske war wirklich unglaublich perfekt. »Ziemlich dumm, nicht wahr?« sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Kein bißchen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin ja bei dir...« Beim Start hatte er es zu verdrängen versucht, aber in den folgenden Tagen hatte Ren Dhark immer öfter an seinen Abstecher nach Acapulco denken müssen. An die Beinahe-Falle, in die er nur dank Terra-Press nicht getappt war - vor allem aber an die Gefühle, die der kleine Junge in ihm aufgewühlt hatte, den er viel zu kurz in seinen Armen hatte halten dürfen. Es war schwer, sich unter den gegebenen Umständen als Vater zu fühlen. Es war nicht abzusehen, wann sie von ihrer Reise nach Orn zurückkehren würden; er hatte sich kein Zeitlimit gesetzt, konnte es nicht, bevor er sich keinen eigenen Eindruck von der Lage vor Ort verschafft hatte. Die Lage vor Ort. Die Worgun litten unter einem tyrannischen Regime der Zyzzkt - so
hatte Gisol es umschrieben. Die Realität konnte sehr viel tragischer sein, wußte Dhark aus bitterer Erfahrung, als es Schilderungen überhaupt zu übermitteln vermochten. Oder hatte Gisol übertrieben? Wie hätte ich in seiner Position gehandelt - allein in einer fremden Galaxis, auf der verzweifelten Suche nach Hilfe... ? Die Nachtphase lag über der POINT OF und damit auch über jedem anderen der angedockten Schiffe. Aber hier draußen herrscht immer Nacht. Ewige Nacht... Das Durchpflügen der Schwärze war mit keinem Flug davor vergleichbar. Innerhalb der Milchstraße gab es klare Orientierungsmarken; ein Schiff, mochte es im Verhältnis zum umgebenden All auch noch so mikroskopisch klein sein, war Bestandteil der Sternenfülle, die einem Reisenden den Halt verlieh, den er zumindest unterschwellig suchte. Hier, im Leerraum, war es, als befände man sich auf einem Ozeandampfer, der sich über Wochen und Wochen hinweg durch Wellen und nichts als Wellen bewegte - ohne Aussicht auf einen Landstrich oder auch nur ein winziges Eiland. Hatten sich so die großen Entdecker der Frühzeit gefühlt? Christoph Kolumbus? Magellan? Vasco da Gama? Dhark glaubte es nicht. Es war anders gewesen, mußte anders gewesen sein - damals. Auch wenn Wasser keine Balken besaß, wie man landläufig sagte, so bot es doch wenigstens die Illusion von Halt und Sicherheit. Hier draußen aber war nichts. Die Grenze der Milchstraße lag 5 Millionen Lichtjahre hinter ihnen - die Grenze Oms ungefähr die gleiche Strecke voraus. Und je bewußter er sich dies machte, desto mehr litt er unter der Einsamkeit, die sich fühlbar durch die halbmeterstarke Unitallwandung zu drücken schien. Die Leere, die Kälte und die furchtbare Verlassenheit dort draußen fand Wege, die Schale der Schiffe zu durchdringen und in die Körper der Besatzungen zu kriechen. Dhark konnte sich nicht erinnern, wann er vor dem Verlassen des Milchstraßen-Halos jemals in dieser Regelmäßigkeit von Alpträumen heimgesucht worden war. Es waren diffuse Gespenster, die ihn im Schlaf heimsuchten -nach dem Aufwachen ließen sie sich nicht mehr fassen. Aber er wußte, daß er litt - und im Gespräch mit anderen Mannschaftsangehörigen fand er heraus, daß er kein Einzelfall war.
Diese Leere, dachte er, würde uns verschlingen, wenn wir in ihr, aus welchem Anlaß auch immer, strandeten. Vielleicht würde sie langsam unseren Verstand zerrütten, uns töten, noch bevor die Vorräte an Nahrung, Trinkwasser und Luft zur Neige gingen... In ihm erwachte die Vorstellung eines lebensfeindlichen Molochs, eines Universums, in dem vergängliche Lebewesen wie der Mensch keine wirkliche Rolle spielten. Falsch! korrigierte er sich selbst. Du weißt, daß das nicht stimmt. Du selbst hast bewiesen, wozu Menschen imstande sind, als du mitgeholfen hast, den drohenden Untergang von der Milchstraße und von Drakhon abzuwenden! Er schenkte der Stimme gerne Glauben. Bis eine andere Stimme, sehr viel realer, außerhalb seines Kopfes sagte: »Entschuldigen sie die Störung, Sir, aber hier ist ein Widerspruch aufgetaucht, über den wir Sie gern informieren würden. Falls Sie...« Es war Hen Falluta, der sich über Bordsprech in Dharks Kabine geschaltet hatte. »Ich habe nicht geschlafen, Hen, was gibt es? Was meinen Sie mit Widerspruch?« »Ich würde es Ihnen lieber hier vor Ort erklären.« Dhark seufzte. Fallutas Verhalten zufolge war es nichts wirklich Akutes - keine Gefahrensituation jedenfalls. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich bin schon so gut wie unterwegs...« Das Schiff schlief nie. Erst recht nicht, seit es sich in die Spitze eines »Eisbergs« verwandelt hatte und aus der zehnfachen seiner sonst üblichen Masse bestand. Aber die Korridore lagen um diese Zeit fast verlassen vor Ren Dhark. Nach nordamerikanischer Standardzeit, an der sich die Schiffe orientierten, herrschte späteste Nacht, beziehungsweise früheste Morgenstunde: l .37 Uhr. Das Zentraleschott öffnete sich fauchend, und der Commander trat in die milde Helligkeit des zweistöckigen Raumes. Die sakrale Stimmung war verflogen. Ein Ort der Stille empfing ihn, den er unter anderen Umständen als angenehm empfunden hätte. Doch so wie die Situation war, kam ihm die Stille fast wie eine Vorstufe von Lähmung vor. Als wäre nach seinen Passagieren nun auch das Schiff selbst von dem »Virus« der Leere, der Stille und des eisigen Permafrosts befallen
worden. Der Mensch war nicht geschaffen für die Reise durch die Nacht. Aber sie würde vorbeigehen. Sie würden nicht stranden. Das Nichts würde sie nicht verschlingen... »Ah, Commander!« Hen Falluta kam mit raumgreifenden Schritten auf Dhark zu. Er wirkte ernst, aber nicht beunruhigt. »Also«, lächelte Dhark, »worum geht es?« »Das soll er Ihnen am besten selbst erklären.« »Er? Wer?« »Der Checkmaster.« Ren Dhark nutzte die Möglichkeit, in verbalen Kontakt mit dem Superrechner der POINT OF zu treten, mit dem ihn ein ambivalen-tes Verhältnis verband. Unvergessen die Momente, in denen der Checkmaster als ebenso ominöse wie oberste Instanz des Schiffes das Heft des Handelns an sich gerissen und die Besatzung aus schier ausweglosen Situationen gerettet hatte. Ebenso unvergessen aber auch Momente, in denen Dhark das kybernetische Gehirn, das im Verdacht stand, eine eigene Persönlichkeit zu besitzen, zum Teufel gewünscht hatte! »Welches Problem liegt vor?« »Es handelt sich um kein Problem. Jedenfalls kann es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht als solches spezifiziert werden.« »Genauer!« »Ich empfange ein Funksignal.« »Von der EPOY?« »Es stammt von keiner der Expeditionseinheiten.« »Sondern?« »Der Ursprung lag bei der Ersterfassung nur wenige Lichtjahre voraus, fast exakt auf unserem Kurs - inzwischen haben wir die Koordinaten hinter uns gelassen. Ich hielt es für geraten, die Schiffsführung über den Empfang der Sendung zu informieren. Die einzige Reaktion, die darauf bislang erfolgte, bestand darin, daß ich mehrfach gefragt wurde, ob ich sicher sei, das Signal zu empfangen.« Dhark wechselte einen Blick mit Falluta. »Was hat es mit diesem Signal und auch den Rückfragen auf sich? Konnte der Inhalt der Sendung entschlüsselt werden?«
Falluta schüttelte den Kopf. »Das Problem ist - und deshalb habe ich mir auch erlaubt. Sie hinzuziehen -, daß es dieses Signal nur für den Checkmaster zu geben scheint. Unsere Funk-Z empfängt keinen einzigen Pieps.« Dhark spürte, wie er innerlich verkrampfte. Die Erinnerung an die Rahim und den Vorstoß der POINT OF in das Sternenversteck der Para-Riesen war noch frisch.* Auch damals hatte allein der Checkmaster Funksprüche und andere Zeichen einer hochstehenden Zivilisation innerhalb der vermeintlich unbewohnten Dunkelwolke aufgefangen - später hatte sich herausgestellt, daß die Besatzung der POINT OF suggestiven Einflüssen ausgesetzt gewesen war, die eine Wahrnehmung über die bordeigenen Instrumente verhinderten. Konnte der Fall hier ähnlich gelagert sein? Gab es eine Para-Attacke aus dem Leerraum? Es war nicht auszuschließen, aber auch nicht sehr wahrschein-üch. »Wenn es dieses Signal gibt - kannst du uns etwas über seinen Sinn und Zweck verraten? Enthält es eine Nachricht?«, wandte er sich wieder direkt an den Checkmaster. Die Antwort erfolgte prompt: »Es handelt sich meiner Analyse zufolge um einen Peilstrahl.« Dhark überlegte nur eine Sekunde, dann befahl er: »Flugunterbrechung!« »Aber Sir...« »Kein Aber, Hen, verständigen Sie Gisol. Wir gehen auf Unterlicht.« Von Stemensog auf SLE. Die Andruckabsorber der Ringschiffe verhinderten, daß trotz der auftretenden extremen Bremskräfte auch nur die geringste Schwerkraftveränderung für die Besatzungen spürbar wurde, als die Schiffe in eine Bremskurve mit riesigen Ausmaßen gingen. Auf den Terra-Schiffen war l Gravo als Standardwert eingestellt - auf dem Worgun-Schiff mochte dies geringfügig variieren, aber da Gisol um das Wohlbefinden seines menschlichen Passagiers besorgt war, würde sich der mögliche Unterschied in Größenordnungen bewegen, die wahrscheinlich gar nicht spürbar waren. Gisols Reaktion auf Dharks Nachricht hatte nicht lange auf sich warten lassen. »Ich mißbillige dieses Verhalten!« erklärte er entschieden. »Meine Instrumente fangen keinerlei Signal auf, weshalb ich dazu neige, an eine Funktionsstörung deines Checkmasters zu glauben.
- Wie auch immer, wir sollten uns nicht damit aufhalten!« »Kommt es denn auf ein paar Stunden oder Tage an?« wiegelte Dhark ab. »Ich sehe uns nicht unter Zeitdruck. Die Knechtschaft der Worgun dauert deinen Angaben zufolge schon Jahrhunderte, da ist es irrelevant, ob wir Orn in einer Woche oder erst in acht, neun Tagen erreichen. Korrigiere mich, wenn ich dies falsch sehe.« »Ich rede nicht von einem Verzug, sondern von möglichen Gefahren, in die wir uns nicht unnötig begeben sollten.« »Ich dachte, du zweifelst an der Existenz eines Signals...« »Wir können auch in Gefahr geraten, wenn es kein Signal gibt -wir uns aber verhalten, als gäbe es ein solches.« Dieser Behauptung war die Logik nicht abzusprechen. Dennoch beharrte Dhark: »Es bleibt dabei. Du mußt uns nicht folgen. Du kannst weiterfliegen, und wir werden dir nach Klärung der Lage mit erhöhter Geschwindigkeit nachfolgen, bis wir dich wieder eingeholt haben.« »Ihr Terraner nennt ein Verhalten, wie du es gerade an den Tag legst, Starrsinn - interpretiere ich das richtig?« »Du hast eine ausgezeichnete Lehrerin.« Dharks Anspielung galt Juanita. »Falls es dir lieber ist, kannst du auch hier warten. Wir werden uns beeilen, die Hintergründe des Signals aufzudecken.« »Konnte der Checkmaster die Koordinaten der angeblichen Sendequelle ermitteln?« »Ja. Sobald du deine Ortungssysteme auf die nähere Umgebung richtest, wirst du die Quelle auch ohne Checkmaster-Daten finden. Es ist der einzige mögliche Fixpunkt - die einzige Sonne, die unsere Geräte überhaupt in diesem scheinbaren Nichts erfassen können. Dorthin fliegen wir - mit oder ohne dich. So habe ich entschieden, entscheide nun für dich selbst.« Gisol fluchte in der Sprache der Worgun. Dhark, der dieses Idiom nahezu perfekt beherrschte, gab sich unbeeindruckt. Es blieb dabei. Als erste Maßnahme entkoppelte er das »Zehnerschiff«. Die einzelnen Einheiten formierten sich zu einem lockeren Pulk, dem sich wenig später auch Gisols Raumer anschlössen. POINT OF und EPOY übernahmen die Spitze des Keils, der einer roten Riesensonne entgegenjagte - dem einzigen Stern, der den Leerraum über Lichtjahrmillionen bevölkerte - und ein ganz be-
sonderer dazu, wie sich bald herausstellen sollte... »Wiederholen Sie das!« Ren Dhark konferierte mit Jens Lionel. Der Chefastronom der POINT OF hatte gerade erklärt, daß etwas mit dem roten Stern, dessen System die Expeditionsflotte vor einer knappen Stunde erreicht hatte, »nicht stimmte«. »Diese Sonne tut was?« »Sie steht relativ zu den umgebenden Galaxien still«, wiederholte Lionel geduldig. Normalerweise besitzt jedes Objekt, auch hier draußen im sogenannten Leerraum - der, nebenbei bemerkt, ja nicht wirklich leer ist - eine eigene Drift oder umkreist ein naheliegendes oder auch fernes Gravitationszentrum... diese Sonne hingegen hängt da wie angekettet, wie fixiert...!« »Sie meinen, jemand hat sie hier positioniert?« »Das Spekulieren überlasse ich lieber anderen - ich halte mich an die Fakten, und diese sind neben dem gerade erwähnten Punkt: Wir befinden uns ziemlich exakt auf der Hälfte der Strecke Milchstraße-Orn, und die Sonne besitzt einen einzigen, etwa erdgroßen Planeten, der sich in der sogenannten >Lebenszone< um sein Muttergestirn bewegt.« »Und«, ergänzte Dhark, »das Peilsignal, von dem der Checkmaster spricht, geht von diesem Sternsystem, wahrscheinlich von seinem Planeten, aus. Das alles erweckt den Eindruck bei mir, als könnten wir es mit einem gewollt hier positionierten Doppelobjekt zu tun haben. Sonne und Planet könnten...« »... könnten künstlich hier installiert worden sein?« fragte Lio-nel zweifelnd. »Sie haben mich gerade selbst auf die Paktoren hingewiesen, die dieses Minimai-Sonnensystem zu etwas Außergewöhnlichem machen. Und bislang kenne ich nur eine einzige Spezies, die zu solch technischen Großtaten, wie wir hier eine vorliegen haben könnten, in der Lage ist... oder zumindest war.« »Die Mysterious.« Dhark nickte. »Gewöhnen wir uns an den Namen Worgun.« »Falls Ihre Vermutung zutrifft, Sir, müßte dann nicht...« »... Gisol darüber Bescheid wissen?« unterbrach Dhark den Astronomen in gleicher Manier, wie dieser es kurz zuvor getan hatte.
»Sie haben Recht. Ich werde ihn sofort kontaktieren. Und außerdem werde ich noch jemanden damit konfrontieren - eigentlich etwas...« Jens Lionel wußte sofort, wen - oder was - Ren Dhark damit meinte. Er nickte abwesend. Die Worgun geisterten durch seinen Kopf. Ein Volk, das Sonnen wie Figuren auf einem Schachbrett verschob...? Er hatte zuviel in Gesellschaft Ren Dharks erlebt, um dies ausschließen zu können... »Ich besitze keine Informationen über dieses System.« Gisols Antwort kam prompt. Der Worgun in der Jim-Smith-Maske wirkte dabei so glaubwürdig, wie es unter den gegebenen Umständen nur der Fall sein konnte. Sein Ärger über die Reiseunterbrechung schien verflogen zu sein. Die entdeckte Sonne und ihr Planet beschäftigten auch ihn, seit feststand, daß das System Abnormitäten aufwies. »Auch die Datenspeicher meines Schiffes beinhalten kein Wissen darüber...« »Es ist auch längst nicht sicher«, sagte Ren Dhark, der über Bildfunk mit der EPOY verbunden war, »daß dein Volk hinter dieser rätselhaften Konstellation stecken muß. Was traust du den Zyzzkt in dieser Hinsicht zu?« »Du meinst, ob sie in der Lage sind, kosmische Objekte dieser Größenordnung zu transferieren?« »Genau das meine ich.« Das Licht der roten Riesensonne, die in der holographischen Bildkugel vergrößert zu sehen war, wirkte schwach, als kämpfe der Stern trotz seiner enormen Größe gegen das Verlöschen. Dafür schüttete er um so mehr Wärme aus. Die Distanz des Planeten dazu war um ein Beträchtliches größer als die Entfernung Terra-Sol. Dadurch wurde die höhere Wärmeausschüttung ausgeglichen, gleichzeitig mußte es aber nur wenig dunkler auf dieser Welt sein, da die gewaltige Sonnenscheibe große Teile ihres Himmels bedekken mußte. Licht und Wärme waren wesentliche Faktoren zur Entwicklung und Förderung von Leben - die bisherigen Messungen hatten ergeben, daß der Planet alle Voraussetzungen für eine Flora und Fauna bot. Genauere Daten standen aber noch aus.
»Das sind sie - aber warum sollten sie?« fragte Gisol, der die Mentalität der Zyzzkt fraglos besser kannte als Dhark. »Das Universum ist voller Wunder. Nicht hinter jedem müssen die Worgun oder die tyrannischen Zyzzkt stecken.« Obwohl Gisol dies mit fester Stimme verkündete, glaubte Ren Dhark eine gewisse Besorgnis feststellen zu können. »Wenn wir schon mal da sind«, sagte er, »sollten wir es herausfinden. Der Urheber sollte sich ermitteln lassen, wenn wir dem Peilsignal folgen. Es führt, wie inzwischen feststeht, zur Oberfläche des Planeten.« »Ein hohes Risiko.« Dhark nickte. »Deshalb riskieren wir auch nicht alle Schiffe, sondern nur die POINT OF. Immerhin kann nur sie das Signal empfangen. Zunächst aber sammeln wir unsere sämtlichen Schiffe im Orbit und sondieren den Planeten von dort aus mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.« So geschah es. Zumindest dem Vorsatz nach. Doch rasch erwies sich, daß die Bordinstrumente von etwas in der Atmosphäre des Planeten gestört wurden. Sie lieferten keinerlei brauchbare Daten. »Es wird immer mysteriöser«, urteilte Dan Riker. »Du solltest es dir noch einmal genau überlegen, ob du die POINT OF einem kaum kalkulierbaren Risiko aussetzen willst. Warum gleich mit dem ganzen Schiff runtergehen? Laß es uns erst einmal mit Sonden versuchen, meinetwegen ein Flash-Kommando...« »Ein verrückter Planet«, erwiderte Dhark. »Er entzieht sich unserer Fernaufklärung völlig. Die dunstige Atmosphäre läßt auf großen Wasserreichtum, vielleicht auf eine Dschungelwelt mit ausgedehnten Sümpfen schließen. Durch die enorme Hitzeeinstrahlung durch das Muttergestirn kommt es zu Wolkenschichten, wie wir sie in dieser Intensität auf der Erde nicht kennen. Aber unsere Instrumente müßten den Nebel durchdringen - daß dies nicht der Fall ist, spricht ziemlich eindeutig für eine gewollte und gezielte Abwehr von Ortungsstrahlen.« »Demgegenüber gelangt der Peilstrahl, der uns anlockte, ungehindert durch die Atmosphäre ins All«, ergänzte Riker. »Du hältst es für eine Falle.« Riker schüttelte den Kopf. »Es kann alles sein. Was ich aber völlig ausschließe, ist, daß wir, wenn es keine Falle ist, diejenigen sind, die
eingeladen wurden.« »Anders ausgedrückt: Im Falle einer Falle sind wir die Adressaten, im Falle keiner Falle wird irgendeine Spezies angesprochen und hierher geleitet, vielleicht die Errichter dieser Sonnenstation selbst...?« »Es könnte eine Art Basis für Intelligenzen sein, deren Schiffe die gewaltige Entfernung zwischen den Galaxien nicht ohne Zwischenstop schaffen. Vielleicht gibt es auf dem Planeten Anlagen, um verbrauchte Rohstoffe zu ersetzen.« Dhark wiegte nachdenklich den Kopf. »Denkbar ist vieles. Arc Doorn hat mich bereits darauf hingewiesen, daß wir trotz >Schleichfahrt< in Orn ebenfalls >nachtanken< müssen - was aber kein Problem darstellen sollte, da wir ausreichend Tofiritvorräte an Bord unserer Schiffe mitführen.« Er schwieg kurz. In der Bildkugel schwebte der blaßgraue Planet, dessen Atmosphäre - wenigstens das wußte man inzwischen ziemlich sicher - aus einem auch für Menschen atembaren Gemisch bestand. Dann sagte er: »Sonden sind in Ordnung. Kümmere dich bitte darum. Sofort. Ich will mich hier auch nicht länger als unbedingt nötig aurhalten. Als unbedingt nötig erachte ich aber, daß wir das Rätsel des Peilstrahls lösen, den nur der Checkmaster aufzufangen imstande ist. Es kann gefährlich werden, aber uns vielleicht auch völlig neue, irgendwann einmal hilfreiche Erkenntnisse gewinnen lassen...« Die ausgesandten Sonden brachten keine neuen Erkenntnisse. Konkret ausgedrückt brachten sie gar keine Erkenntnisse. Ihre Instrumente versagten beim Versuch der Nahaufklärung ebenso wie die der Ringraumer selbst bei der Fernortung. Positiv zu vermelden war nur, daß die Sonden unbeschadet an Bord zurückkehrten. Antrieb und Steuerprogramm waren demnach nicht beeinträchtigt worden. Die Risiken für einen Vorstoß mit der POINT OF waren dadurch jedoch nicht geringer geworden. Ren Dhark entschied sich dennoch dafür und erhielt die Rückendeckung seiner Mannschaft. Niemand wollte ernsthaft weiterfliegen, ohne einen Versuch zu unternehmen, einen Blick auf das wahre Gesicht dieses einsam im Leerraum seine Bahn ziehenden Planeten zu werfen. Zur Überraschung aller bat Gisol kurz vor dem Aufbruch der POINT OF darum, an Bord kommen zu dürfen, zusammen mit Jua-nita. Dhark willigte bedenkenlos ein. Wenig später trat das ungleiche Paar
aus dem Zentrale-Transmitter. »Ihr wollt uns begleiten?« Dhark nahm die Ankömmlinge persönlich in Empfang, während ringsum bereits die Vorbereitungen zum Landeanflug auf Hochtouren liefen. Gisol nickte. »Ich bin genauso neugierig wie ihr Menschen«, sagte er. »Und warum mein eigenes Schiff dafür riskieren...?« »Du hast einen Humor, dem man nur schwer widerstehen kann willkommen.« Am 8. April 2059, 10.13 Uhr Terra-Standardzeit, löste sich die POINT OF aus dem Orbit um den verschleierten Planeten und drang vorsichtig in die wolkenverhangene Atmosphäre der etwa erdgroßen Welt ein. Die neunzehn restlichen Schiffe des Verbandes blieben unter dem Kommando von Janos Szardak zurück, sie hatten sich wie Nukleonen um einen Atomkern rings um den Himmelskörper verteilt. Gisol und Juanita befanden sich als Gäste in der Zentrale. Dhark steuerte das Schiff mit Unterstützung des Checkmasters auf den Ausgangsort der Peilsendung zu. Die Sinkgeschwindigkeit betrug knapp tausend Stundenkilometer - die mutmaßlich Entfernung bis zur Oberfläche gegenwärtig etwa dreihundert Kilometer, wobei sich die POINT OF nicht senkrecht nach unten bewegte, sondern in einem gemäßigten Winkel in die Luftschichten eintrat. »Schildstatus?« Dharks Stimme galt dem neuen Kompaktfeldschirm, der hier erstmals seine Feuerprobe bestehen konnte. »Hundert Prozent«, kam Leon Bebirs Antwort, der die entsprechenden Anzeigen im Auge behielt, während sich Dhark auf Gedankensteuerung und Bildkugel-Wiedergabe konzentrierte. »Irgendwelche Auffälligkeiten, außer den bereits bekannten? Tino?« Tino Grappa hatte noch nicht ganz verneint, als auch schon das Chaos über seine Instrumente hereinbrach - nicht völlig unerwartet, immerhin hatten sie nach den Erfahrungen der vorausgegangenen Aufklärungsversuche damit rechnen müssen. »Intervallum!« Dhark schrie den Befehl, den er auch in Gedanken an die Steuerung
schickte. Er hatte auf das Doppelintervallum verzichten, sich ganz auf den KFS verlassen wollen, weil innerhalb des Intervallums die Wahrnehmung der Außenwelt nur mittels verfälschendem Reizstrahl möglich war gerade unter den gegebenen Umständen hätte dies eine weitere Erschwernis bedeutet. Doch nun... ... ging es, schneller als erwartet, vielleicht schon um die nackte Existenz von Schiff und Besatzung! Die POINT OF geriet ins Trudeln. Die Navigation wurde von einem Augenblick zum anderen fast unmöglich! Es ist wie bei den Sonden, dachte Dhark - und versuchte, auf Sicht zu navigieren. In diesem Augenblick erreichte ihn die nächste Hiobsbotschaft: Aufbau des Intervallums unmöglich, meldete die Gedankensteuerung. KFS instabil. Schild erlischt. Die gleiche Meldung kam fast zeitgleich von Bebir. »Heilige Galaxis der Feldschirm bricht zusammen! Eben waren wir noch auf hundert Prozent, jetzt sind es noch vierzehn... Aus! Weg! Wir haben ihn verloren...!« »Beschuß?« fragte Dhark. »Negativ.« Das war Hen Falluta. »Aber etwas muß...« »Wir sollten umkehren«, riet Dan Riker. Er rutschte unbehaglich auf seinem Co-Sitz hin und her. »Solange noch Zeit ist!« Dhark hatte die Lippen fest zusammengekniffen. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. Er hatte die Mental Verbindung zum Checkmaster aktiviert, verlangte Daten über die Einflüsse, die nach dem Schiff griffen. Der Checkmaster war der große Trumpf, auf den er auch diesmal zu setzen bereit war. Keine der Sonden hatte über seine Möglichkeiten verfügt. Aber auch der Checkmaster hatte nicht verhindert, daß der KFS erlosch - oder es ermöglicht, das Doppelintervallum aufzubauen. Was ging hier vor? Was verbarg dieser Planet vor den Augen der Besucher aus der fernen Milchstraße? Was meinst du? Umkehren oder Augen zu und durch? wandte sich Dhark an die geheimnisvolle Schiffsinstanz.
Der Checkmaster schwieg. Dhark zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. Die POINT OF war fast blind und taub, aber sie war weiterhin voll manövrierfähig. Deshalb entschied er sich, das Risiko einzugehen. »Steht die Verbindung zur RHEYDT?« fragte er scharf. Glenn Morris bejahte. »Funk scheint unbeeinträchtigt - noch...« »Ich brauche Höhenangaben«, wandte sich Dhark an Grappa. »Was ist mit altmodischem Radar?« Die Mysterious hatten sich auf dergleichen nie verlassen müssen aber es hatte einige Anpassungen an Terra-Standard gegeben, und zu ihnen gehörten auch Radar- und Sonarabtastungen. »Ich versuche es...« Eine Weile schwieg Grappa, dann keuchte er befreit: »Höhe gegenwärtig acht Kilometer über der Oberfläche!« »So tief schon?« Dhark hatte noch nicht ausgesprochen, als die Wolkenschicht um die POINT OF plötzlich aufriß. Das Schiff bewegte sich durch düsteres Zwielicht. Und dann schrie Riker, der aus weit aufgerissenen Augen in die Bildkugel starrte: »Ausweichmanöver! Sofort! - 0 mein Gott...!« Wie aus dem Nichts tauchte das Hindernis vor ihnen auf. Acht Kilometer über dem Boden. Kein Berg - aber dennoch ein Gigant. »Das... das glaube ich nicht...!« Noch während Riker es stöhnte, riß Dhark die POINT OF in einem halsbrecherischen Manöver aus dem bestehenden Kurs, der geradewegs in der Kollision geendet hätte. Nur um Haaresbreite schrammte das Ringschiff an der gigantischen Statue eines Goldenen vorbei... Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Diese Welt gehörte den Wor-gun! Hatte ihnen zumindest einmal gehört und war somit auch aller Wahrscheinlichkeit nach von ihnen hier plaziert worden - inder scheinbaren Leere des intergalaktischen Abgrunds. Kein Indiz hätte dafür mehr sprechen können als die Existenz der Statue eines Goldenen... ... aber acht Kilometer hoch? So hoch wie die höchsten Gipfel des Himalaja-Massivs auf Terra...?
»Die Worgun hatten offenbar ein Faible für Rekorde«, knurrte Dan Riker, dem der Schreck immer noch in den Knochen steckte, während die POINT OF sich nach dem jähen Ausweichmanöver wieder durch dunstige Wolken bewegte, die jeden Blick trübten. »Höher, weiter, schneller... Gisol, wie sieht es in Om aus? Lebt ihr in Wolkenkratzern, hundert Kilometer im Himmel?« Gisol rang, das war unübersehbar, um seine Fassung. Juanita schrie leise auf. In der Bildkugel war eine Momentaufnahme jenes Monuments zu bestaunen, an dem die POINT OF fast zerschellt wäre. Es war die Rückansicht eines Goldenen - aber er entsprach ganz dem Bild, das sich die Menschen schon auf einigen Planeten der Milchstraße hatten machen können, wenn auch meist um ein Vielfaches kleiner. »Dhark?« Es hielt Gisol nicht mehr an seinem Platz. Er sprang auf und eilte neben den Leiter der Expedition, der auch Comman-der dieses Schiffes war. »Worauf wartest du? Wir müssen tiefer! Wir müssen -« Dhark gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Dann tat er, was er ohnehin beabsichtigt hatte: Die POINT OF sank auf Antigravpolstem dem Boden entgegen - in respektvoller Entfernung zu der gigantischen Statue, an der sie Minuten zuvor vorbeigeschlingert war. Der Planet würde sein Geheimnis nicht behalten können. Der Goldene war der erste Schritt zur Lösung... So sah es aus. Die Wolken schwanden, die POINT OF erreichte wieder eine Region klarer Sicht, deren Grenze fast identisch mit der Höhe des Monuments war... ... und alles war anders. Die Falle schnappte zu. Wir Narren, dachte Dhark - und bezog automatisch auch Gisol mit ein. Das Gefühl, gar nicht abschätzen zu können, worauf sie sich da eingelassen hatten, wurde übermächtig. Übermächtig wie die Zahl der Goldenen, die sich um die schwebende POINT OF nach allen Himmelsrichtungen erstreckten. Ein Achttausender neben dem anderen. Dhark zählte mehr als ein Dutzend... fünfzehn... zwanzig...! Aber es konnten auch hundert sein, tausend - jenseits des Bereichs,
den er zu überblicken vermochte! Goldene, so weit das Auge reichte. Zeugnisse der Mysterious, die sich in diesem Moment zu drehen begannen - viel schneller, viel geschmeidiger, als man es den vermeintlich starren Strukturen zugetraut hätte. Und dann richteten sie auch schon alle ihre ausgestreckten Arme auf die POINT OF. Bereit zum alles vernichtenden Schlag. Und wie man von dem Goldenen auf Babylon wußte, waren die Arme Waffen. Unwiderstehliche Waffen von fürchterlicher Vernichtungskraft...