Klaus Koch Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese
4. Auflage 1981
N eukirchener Verlag
© 1964- 4. Auflag...
67 downloads
689 Views
11MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Klaus Koch Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese
4. Auflage 1981
N eukirchener Verlag
© 1964- 4. Auflage 1981 Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung und grafische Darstellung auf Seite 323: Kurt Wolff, Düsseldorf Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel Printed in Germany ISBN 3 - 7887- 0683 -X
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Koch, Klaus: Was ist Formgeschichte?: Methoden der Bibelexegese I Klaus Koch. - 4. Aufl. - NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag, 1981. ISBN 3-7887-0683 -X
Dem Andenken Gerhard von Rads, in Dankbarkeit für Ratschläge und Ermunterungen, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre
INHALT XI
Vorwort
TEIL I: DIE METHODEN Erstes Kapitel: GRUNDLEGUNG
3
§ 1 Gattung und Formel .
3
A. B. C. D.
Eine Beobachtung am modernen Gebrauch der Sprache Neutestamentliches Beispiel: Seligpreisung . . . . Alttestamentliches Beispiel: Dekalog . . . . . . . . . . Gebundenheit an die Gattung, literarische Individualität und die Inspiration der Bibel . . . . . . . . . . . E. Das Gattungsproblem in der Literaturwissenschaft . F. Stilkritik . . . . . . . . . . . . . . . G. Gattungsbestimmung: Textgefüge und Abgrenzung
§ 2 Gattungsgeschichte A. B. C. D. E.
Wandel der Seligpreisung . . . . Wandel apodiktischer Verbotsreihen . . Ausblick auf andere Sprachen des Altertums Rahmen- und Gliedgattungen . . . . . . . . . . . . Versuche einer Oberschau über die alt- und neutestamentlichen Gattungen
§ 3 Sitz im Leben A. B. C. D.
Literatur und Leben . . . Hintergrund der Seligpreisung . . . . . Hintergrund der apodiktischen Verbotsreihen . . . . . . . Verwandtschaft mit der altorientalischen und hellenistischen Kultund Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . E. Trägheit der literarischen Gattungen und überwechseln zum anderen Sitz im Leben . . . . '
§ 4 über! ie f erun gs ge schieb te A. B. C. D. E. F. G. H.
Wandel des Einzelstückes Seligpreisungen Dekalog . . . . . . . • . . Ansatz zur Rückfrage hinter den Text Veränderungen von Rahmen-Einheiten . . . Die Frage nach der Historizität von Erzählungen Motivgeschichte . . . Traditionsgeschichte? . .
§ 5 Redaktionsgeschichte A. B. C. D.
Rückkehr zu den Endstufen der Überlieferung . Die Stellung der Seligpreisung in den Evangelien . Der Dekalog im Geschichtswerk und im Gesetzbuch Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . .
3 6 10 13 16 18 20 21 21 23 25 29 31 34 34 36 37 42 43 49 49 50 55 64 66 67 70
71
72 72
74 78 80
VIII
Inhalt
Zweites Kapitel: DER WEITERE UMKREIS
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte A. Quellenscheidung . . . . . . . . . . . . . B. Das Geschichtsbild der neueren Literarkritik . . . /. C. Erweiterung der Methoden durch die Formgeschichte . D. Die Veränderung des Geschichtsbilds . . . . . . E. Entdeckung des kerygmatischen Charakters . . . . F. Literarkritik als Teil der Formgeschichte . . . .
§ 7 D er S t r e i t um d i e m ü n d I ich e Üb e rl i e f e r u n g
§
8
§ 9
84 84 87 89 91 94 94 97 98 100 101
A. Die Traditionshistorische Schule . . . . . . . . B. Mündliche Tradition nach alttestamentlichen Texten . . . C. Die Rolle schriftlicher Aufzeichnungen im Alten Testament . . . D. Zuordnung von mündlicher und schrifllicher Überlieferung beim Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . E. Mündliche und schriftliche Tradition in der Umwelt des Urchristentums . . . . . . . . . . . . F. Mündliche Tradition im Neuen Testament G. Allgemeine exegetische Folgerungen . .
104
Kennzeichen hebräischer Poesie.
113
1\. Parallelismus membrarum
. . . . B. Aufbau von Gedichten und Liedern . C. Kurzvers-Reihen . . . . . D. Die Rolle der Poesie in Israel . E. Metrik . . . . . . . . .
114 116 118 119 120
Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
123
A. überlieferungsgeschichtliche Erkenntnisse in der kirchlichen Praxis B. Das Programm einer biblischen Literaturgeschichte . C. Auslegungs- und Sprachgeschichte . . . . . . .
123 125 130
106 108 110
TEIL II: AUSGEW.i\HL TE BEISPIELE Erstes Kapitel: AUS DEN ERZ.i~.HLENDEN BÜCHERN
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau . .
135
A. Abgrenzung der Einheit . . . . . . B. Gattungsbestimmung: Ethnologische Sage C. Überlieferungsgeschichte . . . . . . D. Sitz im Leben . . . . . . . E. Redaktionsgeschichte . . . . .
136 145 149 155 158
David und Sau! in der Wüste.
163
A. Abgrenzung der Einheit . . . . . . . . . . B. Gattungsbestimmung und Sitz im Leben: Heldensage C. Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . D. Redaktionsgeschichte .
168 169 173 176
§ 11
§ 12 Sagen in der Bibel? A. Allgemeine Formmerkmale . . . . . . B. Die zwei Stufen israeiitischer Sagendichtung C. Sage als eigenständige Geistesbeschäftigung . D. Theologische Beurteilung . . . . . . .
182 182 185 188 190
IX
Inhalt
Zweites Kapitel: AUS DEM LIEDGUT
195
§ 13 Hymnus: Psalm 135. 146. 47 A. Gattungseigentümlichkeiten B. Sitz im Leben . . . . . C. Gattungsgeschichte . . . . . D. Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte .
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel: Psalm 5. 6. Jeremia 15, 13-21 A. Bestimmung der Gattung . . . . . B. Sitz im Leben . . . . . . . . . C. Gattungsgeschichte . . . . . . . D. Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte
. . . .
198 200 203 205 209 211 215 218 222
Drittes Kapitel: AUS DEM PROFETISCHEN SCHRIFTTUM
§ 15 Ahasjas Unfall (2. Kö. 1). A. Die Profetenlegende B. Gattungsgeschichte . . . C. Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . D. Offizielle Rede zwischen Nichtgleichgestellten und Botenspruch . E. Unheilsprofezeiung an den Einzelnen . F. Redaktionsgeschichte
§ 16 Legenden . .
223 225 228 228 230 233 237 239
A. Die politische Legende und die Kultlegende B. Geistesbeschäftigung
239 240
§ 17 Das Joch des Königs von Babel (Jer. 28).
245
§ 18
A. Profetenlegende und Profetenbiografie B. Unheilsweissagung an den Einzelnen C. Unheilsweissagung an das Volk D. Heilsweissagung . . . . E. Aufnahme einer Weissagung . F. Eine profetische Reflexion . . . . . G. Der Spruch zur symbolischen Handlung
246 251 252 254 255 256 257
Gattungsgeschichte der Profezeiung.
258
A. Aufbau der Unheilsprofezeiung B. Aufbau der Heilsprofezeiung . C. Außerisraelitische Parallelen D. Vergleich mit dem Botenspruch E. Sitz im Leben . . . . . .
258 261 264 265 266
LINGUISTIK UND FORMGESCHICHTE. Ein Nachwort . . . . . A. Das Ungenügen der klassischen Grammatik und Lexikografie und die Überwindung durch Formgeschichte und Linguistik B. Sprachverwendung (parole) und Einzelsprache als Sprachkompetenz (Iangue) . . . . . . . . . . C. Doppelaspekt des sprachlichen Zeichens: Ausdruck und Vorstellung. Die theologische Antithese von Form und Inhalt . D. Laut, Wort, Satz. Die Ebenen der Sprache E. Wort- und Morphem-Ebene F. Satz- und Syntax-Ebene . . . . .
271 272 276 278 281 282 284
.,
X
Inhalt G. Text- oder Gattungsebene H. Seitenblick auf Sprach- und Literatursoziologie I. Semantik . J. Linguistische Versuche in der Exegese K. Besitzt das Hebräische eine besondere Weltansicht? . L. Programm einer Sprachgeschichte .
286 296 298 312 315 318
Anhang : Ausgewählte Bibliografie zur alttestamentlichen Formgeschichte .
325
Verzeichnis der Abkürzungen in den Literaturangaben . Verzeichnis der erwähnten biblischen Gattungen und ihrer Elemente . Verzeichnis der Bibelstellen .
329 331 333
VORWORT zur ersten Auflage Zugleich Anleitung zum Gebrauch
Am 30. Oktober 1954 fragte G. v. Rad brieflich bei mir an, ob ich nicht "für unsere Studenten ein kleines Handbuch der Formgeschichte schreiben" könnte. Die Aufforderung fiel deshalb auf fruchtbaren Boden, weil ich in mehrsemestriger Proseminar-Praxis eine zusammenfassende Schrift über alttestamentliche Formgeschichte schmerzlich vermißt hatte. So gewann denn einige Monate später bei einem Besuch von Rads im Pfarrhaus zu Jena-Prießnitz der Plan festere Umrisse. Hätte ich gewußt, wie das Unternehmen sich ausweitete, hätte ich wohl die Hände davon gelassen. Nachdem ich aber begonnen hatte, wollte ich das Werk zu Ende führen-trotzvieler Unterbrechungen durch meine Wanderungen kreuz und quer durch Deutschland. Aus dem "kleinen Handbuch" ist inzwischen ein richtiges Buch geworden. Jetzt endlich übergebe ich es dem geduldig wartenden Verleger- wohlwissend, wieviel noch daranzutun wäre! Ein Handbuch ·für den Studenten sollte es werden und eine Einführung in,die formgeschichtliche Forschung, die sich gerade auf alttestamentlichem Gebiet in zahllosen, teilweise schwer erreichbaren Aufsätzen niedergeschlagen hat. Je mehr ich die Literatur studierte, um so mehr methodische Fragen tauchten auf und machten längeres Nachdenken nötig. Unter dem Stichwort Formgeschichte schießt manches Kraut gewaltig in die Höhe, so daß der Leser bisweilen den Eindruck hat, es täte not, diesen exegetischen Garten ein wenig zu beschneiden. Kein Wunder, daß eine Anzahl von Exegeten eine distinguierte Zurückhaltung übt. So verschob sich das Gewicht meiner Studie mehr und mehr auf die methodischen Fragen, die denn auf den folgenden Seiten im Vordergrund stehen. Es erscheint mir in der gegenwärtigen Lage nicht geraten, eine inhaltliche Zusammenfassung aller formgeschichtlichen Untersuchungen zu geben. An vielen Stellen sind wir von überzeugenden Ergebnissen noch weit entfernt, ja manche biblischen Gebiete sind kaum unter diesen Gesichtspunkten erschlossen. So habe ich mich auf Beispiele beschränkt und nur die Brennpunkte der Forschung ausgewählt: die frühen Erzählungen, Hymnen und Klagelieder aus dem Psalter, die profetische Weissagung und- eingesprengt in die ersten Paragrafen - den Dekalog und die Seligpreisungen aus dem Neuen Testament. Um die Zusammenhänge klarer zutage zu fördern und zu erweisen, daß die in Frage stehenden Methoden keineswegs nur das Alte Testament und die hebräische Sprache betreffen, habe ich mir im
XII
Vorwort
ersten Teil einige Abstecher in das Neue Testament erlaubt. Sie beanspruchen nicht, erschöpfend zu sein, sondern sollen die Basis der Argumentation verbreitern, die vom Alten Testament allein her zu schmal geraten wäre. Für die Ausdehnung auf das Neue Testament gibt es zudem ein gewisses historisches Recht. Di~rste_!!_y_~!~e~r
Vorwort
XIII
sein schien. Dabei ist der Einfachheit halber so verfahren, daß Literatu;,di;-~~ Kopf eines Kapitels, Paragrafen oder Unterabschnitts erscheint, in deren weiterem Verlauf nur mit Verfassernamen zitiert wird. Ich bitte, gegebenenfalls unter den einschlägigen Überschriften nachzusehen. Für die Abkürzungen findet sich am Schluß ein eigenes Verzeichnis. Mancher Leser wird fragen: Wozu neue Wege der Bibelexegese? Sind denn die alten, seien es die exakten der Literarkritik, seien es die erbaulicheren der "positiven" Richtung des letzten Jahrhunderts, nicht hinlänglich genug? Ist Formgeschichte nicht eine müßige, ästhetisch angehauchte Spielerei? Allein, die abendländische Bibelwissenschaft hat in jeder Epoche sich das Verständnis der Heiligen Schrift neu erringen müssen. Und es war nie zu ihrem Schaden. Man denke an die Reformation und ihre Auswirkungen auf evangelische wie katholische Exegese! ~~ELngLa..~_l:b___d,_as g~g~nwärtige__~e_JJJ.i.ihen u111. Erfassung .der. formgeschich te biblischer .Tex:te. keiner .N euerun,gssucht, die sich leichthin- überdas Hergebrachte hinwegsetzt, sondern der Erkenntnis, daß sich hier eine Sicht auftut, die die alten Texte tiefer verstehen lehrt und die Begegrmng mit ihne11 für unsere Gegenwart fruchtbar werden läßt. Und das meiner Ansicht nach vor allem deshalb, weil Formgeschich~~ di~ Ve~l~nüpfung von Literatur ulld Leben, von biblischem Text und Geschichte des Gottesvolkes in einer vordem ungeahnten Weise an den Tagb~ingt. Meine Frau und mein Assistent Vikar W. Klatt nahmen mir die Mühe des Korrektureulesens ab. Herr Klatt erstellte auch die Register. Einige wichtige Hinweise zu neutestamentlichen Problemen verdanke ich meinem Kollegen U. Wilckens. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Hamburg, 31. August 1963
Klaus Koch
Zur zweiten Auflage
Knapp zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches forderte der Verlag mich auf, eine zweite Auflage vorzubereiten. Ich nehme das als günstiges Zeichen, daß die Diskussion um die historischen und theologischen Folgen formgeschichtlicher Forschung wieder in Gang kommt. An der grundsätzlichen Einstellung hat sich wenig geändert. Die Textbeispiele sind jedoch stellenweise stark umgestaltet, so daß das Buch in seiner neuen Gestalt zugleich ein eigenständiger Beitrag zu den Seligpreisungen und zum Dekalog geworden ist. Die Korrekturarbeit nahm mir wieder weitgehend Pfarrer W. Klatt ab. Das Gattungsverzeichnis erstellte Vikar R. Hölzel. Beiden sei Dank. Klaus Koch
XIV
Vorwort
Zur dritten Auflage Inzwischen hat die Methodendiskussion in der Exegese sich erfreulich belebt. Das für den Studenten vorzügliche Hilfsbuch von H. BARTH0. H. STECK: Exegese des AT- Leitfaden der Methodik (11971), das auch die nicht spezifisch formgeschichtlich ausgerichteten exegetischen Arbeitsgänge der Textkritik und Einzelexegese skizziert, ist vor allem anzuführen (wenngleich ich ein wenig bedaure, daß "Formgeschichte" auf Gattungsgeschichte eingeengt und der Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte im Arbeitsvorgang nachgeordnet wird, was m. E. zu spekulativen Abwegen führen kann). Daneben sind die von J. C. RYLAARSDAM und D. 0. VIA herausgegebenen Guides to Biblical Scholarship zu nennen, welche die formgeschichtlichen Arbeitsschritte anschaulich darstellen (auch wenn sie ebenfalls Tradition History und Redaction Criticism von Form Criticism absondern). ~.Q~kus~~-~t!.!?~R~- h~t. ~icJl JE~.
Klaus Koch
Vorwort
XV
Zur vierten Auflage Der Verlag will erfreulicherweise den Preis des Buches nicht nur halten, sondern durch eine Paperback-Ausgabe senken. Das nötigt dazu, auf Korrekturen zu verzichten, die auch nur Details betreffen würden und nicht die methodischen Grundfragen der formgeschichtlichen Paragrafen. Nur der abschließende Teil über Linguistik und Formgeschichte wurde als eigenerTeil vor Bibliografie und Bibelstellenregister eingestellt, so daß sich ab Seite 271 die Seitenzählung verändert hat. In der Methodendiskussion der Formgeschichte sind im letzten Jahrzehnt kaum Fortschritte erzielt worden. Dagegen ist die Dis_lui~~im1 !liTL~j!_~e >Strategien« fiir di~_Bil:>elwi~~~n. &~4a_ft i_n diesem, ~eitraumheftig_re_tation C\_llS_~irken, _f~hre ich_exemplaris_ch a_11s _in. einem 13"eitrag: v_om_pmf~!_j.schen_.J.!..l}Q_~q_~~lY.P!.i§chen__ Visj~_s_!>~ri_c_l!!_(in: 12~ AJ!.Q~~~ im Mittel_meerraum_1!f.!4 Ül:!._YQ!"derell_Qr~!lJLhg,_ VQil_:Q_.
r
Hellh~L1!!1..!übin~~_!~_8Jl.
20. August 1981
Klaus Koch
TEIL I
DIE METHODEN
Erstes Kapitel: Grundlegung Zur Methodenfrage beim Alten Testament: H. GuNKEL: Die Grundproblerne der israelitischen Literaturgeschidue, RuA 29-38 = Deutsche Literaturzeitung XXVII, 1906, 1797-1800. 1861-1866 - K.-H. BERNHARDT: Die gattungsgeschichtliche Forschung arn Alten Testament als exegetische Methode, Aufsätze und Vorträge zur Theologie und Religionswissenschaft H. 8 o. J. (1959) - G. M. TucKER: Form Criticisrn of the Old Testament 1971 Zum Neuen Testament: Die Einleitung bei M. DrBELIUS: Die Formgeschichte des Evangeliums 1 1919 6 1971 und R. BULTMANN: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT NF 12 1 1921 B1970. Zum seither viel verhandelten Für und Wider in der synoptischen Forschung: M. DrBELil!S: Zur Formgeschichte der Evangelien, ThR NF 1, 1929, 185-216 sowie G. IBER: Zur Formgeschichte der Evangelien, ThR NF 24, 1957/58, 283-338 - E. V. McKNIGHT: What is Form Criticisrn? 1969
§ 1 GATTUNG UND FORMEL A. Eine Beobachtung am modernen Gebrauch der Sprache ~-"-·-....
Was ist Formgeschichte? Das Wort Formgeschichte tauch~um erstenmal terminologisch in dem Buchtitel von M. DIBELIUS "Die Formgeschichte des Evangeliums" aufl und hat sich schnell für eine bestimmte Weise der Bibelexegese eingebürgert. DrBELIUS wurde zu seiner Arbeitsweise durch B~M~B~_G!J~K.EL
Von "Formen" der Literatur hatte man freilich schon lange geredet, nicht aber im geprägten Sinn. So verfolgte H. EwALD "die geschichte der fassung (form) von geboten" (Geschichte des Volkes Israel II, 31865, 239). F. ÜVERBECK konnte schreiben: "Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen, eine Formengeschichte wird also jede wirkliche Literaturgeschichte sein" (Über die Anfänge der patristischen Literatur, Historische Zeitschrift 1882, 417-472, Nachdruck 1954 S. 12). Der Altphilologe E. NoRDEN gab seinem Buch Agnostos Theos den Untertitel "Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede" 1913. - Das ~P!!l&i!l!lige -~1m<:Pe" ~ f'or11l~s_cil,ic;!ge" ~- bezric;hnet sowohl dif jeder sprad:Ilichen Form eigene Geschichte wie c!ie_ historliehe Untersuchung dres~"r Gesehid:ite_ Eiltdeutiger," weil nur auf das zweite bezogen, das englische "form criticisl!l~.
§ 1 Gattung und Formel
4
Wir nehmen an, daß Sie auch in diesem Jahr eine Unkrautvertilgung auf den Wegen und Plätzen in den von Ihnen betreuten Gartenanlagen vornehmen lassen wollen. Wir empfehlen Ihnen hierfür unser auf Chloratbasis hergestelltes, seit vielen Jahren bewährtes, radikal wirkendes Unkrauttod Muramor. In diesem Frühjahr sehr zeitige Unkräuterkeimung, deshalb sofortige Muramor-Bestellung und Unkräuterbekämpfung dringend zu empfehlen! Unsere starkermäßigten Preise sind jetzt wie folgt: Wir bitten um Ihre Bestellung unter Benutzung der beiliegenden Bestellkarte und begrüßen Sie hochachtungsvoll! N.N. Wer ein solches Blatt ansieht, weiß sofort, daß es sich um einen Rek 1a m e b rief handelt, wie er in ähnlicher Aufmachung dutzendfach in die Briefkästen geworfen wird. Die~~ll!!~~i~_nenden Merk~ mal~ lassen sich schnell aufzählen. Ein Reklamebrief zeichnet sich in jedem Fall aus durch einen besonders höflichen Stil, der die notwendig unpersönliche Anrede wettmachen soll ("Wir nehmen an, daß Sie in diesem Jahr ... " "Wir bitten um Ihre Bestellung"). Natürlich wird nachgewiesen, daß ich, der Empfänger, den angepriesenen Artikel unbedingt und schnellstens nötig habe ("In diesem Jahr sehr zeitige Unkräuterkeimung"). Die wissenschaftlich erprobte Art der Herstellung läßt, so betont die Firma, den Erfolg sicher erscheinen ("Unser auf Chloratbasis hergestelltes, seit vielen Jahren bewährtes, radikal wirkendes ... "). Endlich, aber nicht zuletzt wird der überaus günstige Preis hervorgehoben. Diese Merkmale lassen sich an Hunderten solcher Briefe nachweisen. Damit erweist sich der Reklamebrief als eine 1i t er arische Gattung, die heute im Schwange ist und trotz aller Abwandlungen im Einzelfall in einer so geprägten Form einhergeht, daß sich ihr keiner entziehen kann, der seine Ware brieflich anpreist. ~Jiterarisch~n fQ!:m_~mspJ.:.icb:t.
Der Name wurde ausgewechselt.
Moderne Gattungen
5
nennenden Schriftstücken wie einer Rechnung, kurz; ~.fl allein, was geschrieben und gedruckt wird,lassen sich geprägte -F,o~Qi~ merrmäle im inneren Aufbau oder der äußeren_Aufmachung nach:weisen: wer mit -dem, was er schreibt, etwas erreichen will, muß sich einer h~rgebrachten Gattung bedienen. Der Werbetexter einer Firma wählt deshalb einen Stil, dessen Wirkung erprobt ist. Will ein Dichter sein Werk auf der Bühne aufgeführt sehen, muß er ihm die übliche dramatische Form geben und kann es nicht in der Art einer wissenschaftlichen Studie dem Theater anbieten. Genauso wenig wird es einem Beamten einfallen, für sein Bittgesuch an seine vorgesetzte Dienststelle die Art eines Gedichtes zu verwenden, vielmehr gebraucht er selbstverständlich die amtliche Diktion. Selbst ein so privates und intimes Erzeugnis wie ein Liebesbrief ist immer auch gespickt - nicht nur in der Anrede_ und .. im..~~
3 GuNKEL,
6
§ 1 Gattung und Formel
Formung und Sonderung der Sprache nach Gattungen geschieht nicht nur dort, wo geschrieben oder gedruckt wird, auch das feierliche und alltägliche Reden der Menschen ist geprägter Art, sofern es sinnvoll sein soll. Dem Theologen liegt nahe, auf das Beispiel der Predigt zu verweisen. Der Anfang mit dem sogenannten Kanzelgruß, dem Verlesen eines Bibeltextes und der Anrede an die Gemeinde sind für die Gattung ebenso charakteristisch wie das Amen am Schluß. Aber die Predigt ist kein Sonderfall. Jede öffentliche Rede bedient sich hergebrachter, der jeweiligen Veranstaltung angepaßter Ausdrucksformen. Ein Märchen, das Kindern erzählt wird, wird eingeleitet: "Es war einmal." Der Formenzwang bestimmt selbst so gewöhnliche Vorgänge wie Begrüßung oder Verabschiedung. Wir sagen: "Guten Tag, Herr Soundso, wie geht es Ihnen?" "Auf Wiedersehen!" u. ä. Freilich sind für das nichtoffizielle Sprechen von Mensch zu Mensch weniger geschlossene Gattungen kennzeichnend - die alltäglichen Gesprächsgattungen fließen oft ineinander und sind schwer fixierbar' - als vielmehr Formeln. Eine Formel ist eine Gattung in~. Oft wird die Formel zur Ein=" leitungoder zum Gliederungsmerkmal einer umfassenderen Gattung. Mit" Wie geht es Ihnen?"kann ein langes Gespräch beginnen. ~!_)!.I). g_ l!~n11en wir also _das üb e_r in <:E-..:i_d u e 11 e (typische) Gepräge selbständigersprachlicher Einheiten, Formel da~~je~~-g:pr~I~!~~-'W~~!~~if4ungen, die zwar ein_e.s~nnvolfe Eifi= he1t erg~ben, aber me1st nur aus emem Satz be~tehen und emer (größeren) Gattung zugeordnet werden. Der Übergang vom einen zum anderen ist st:lbstverst1\p.dlic;h fließend 5• Welchen Nutzen hat das Ergebnis, daß alles Schreiben und Reden sich hergebrachten Gattungen einfügt, daß es in der Praxis nie Literatur oder Sprache schlechthin gibt, sondern beides immer nur nach den Umständen gesondert und gegliedert- welchen Nutzen hat das für die Exegese der Bibel? Frühere Zeiten haben unbesehen dieses ' Berechtigt diese Beobachtung aber zu der literaturwissenschaftliehen These: ,.Ein loses Gespräch, bei dem ein Wort das andere gibt, strebt keiner Einheit zu" (W. KAYSER: Das sprachliche Kunstwerk, 101964, 156)? Ohne Einheit und Form ist nur jenes Gerede, das die deutsche Sprache abschätzig ,.quatschen, schwätzen" u. ä. nennt. 5 So nützlich die Unterscheidung von Forme 1n und Gattungen ist, so sinnlos ist ~ndrers_e!~- das, .~:;Je beneinander von ,.Formen und Gattung~;äas Siall'il Dilldemen deutschen Nachschlagewerken einbürgert (RGG 3 ; BiblischHistorisches Handwörterbuch I 1962). Was heißt hier Form?· Ist eine Gattung keine Form? Oder gibt es über Gattung und Formel hinaus noch andere Formen literarischer Einheiten? Weiche sollen das sein? ,.11 n'y a pas de distinction adequate entre cforme• et cgenre litteraire•. La seule difference est qu'une «forme• designe un moyen d'expression concret, une formule de style plus ou moins fixee par l'usage, tandis qu'un genre litteraire se caracterise par un certain nombre de ces moyens d'expression ... La cforme• est ce par quoi un materiau evange!ique se rattache un cgenre• litteraire determine; ce sera clone en precisant !es cformes• d'un texte qu'on parviendra definir le «genre litteraire• auquel il appartient«. J. DuPONT, Les Beatitudes2, 20 f. u. A.
a
a
Seligpreisungen
7
Buch - genauer: diese Büchersammlung - samt und sonders der Gattung des kanonischen Buches und damit der dogmatischen Lehre zugewiesen. Das bedeutete, daß jedes Buch des Alten und Neuen Testaments, ja jeder Textvers gleichartig neben anderen stand. Die historische Forschung hat in den letzten 250 Jahren aufgewiesen, daß die Bibel keine vorgegebene gleichförmige Einheit ist und der Begriff des Kanons sehr differenziert werden muß. Was steht in dieser Sammlung nicht alles beieinander! Da gibt es Erzählwerke-urwüchsig die einen, höfisch verfeinert die anderen -, profetische Reden, Weisheitssprüche, Kultgesänge, lange Briefe, apokalyptische Schau. Wortgebrauch, Stil und Aufbau fo!g_c,:~j!!"'Y.~iJ§_~iQ~ ..!lJ!Q~!:~n.R~gel. Darauf hat der Exeget zu achten, ehe er sich mit dem besonderen Sinn eines Textes befaßt. Dann treibt er Formgeschichte.
B. Neutestamentliches Beispiel: Seligpreisung Eine eingehende Untersuchung des M a k a r i s m o s in der Bibel fehlt noch. Einzelnes bei L. BRuN: Segen und Fluch im Urchristentum, SNVAO 1932 No.1, 39-48; BuLTMANN: Tradition, z. St.; J. ScHNIEWIND: Das Evangelium nach Matthäus (NTD) z. St.; ThW IV 366-373; M. DIBELIUs; Botschaft und Geschichte I 1953, 79 ff. Bei dem großangelegten Werk von J. DuPONT, Les Beatitudes I 2 1958 ist leider der Teil über "Ia forme des beatitudes dans !es mondes juif et grec" noch nicht erschienen. - Zur alttestamentlichen Vorgeschichte: W. }ANTZEN: 'ASRE. in the 0. T., Harvard Theol. Review 58, 1965, 215-226- ThWAT I 481-485- THAT I 257-260.
Als neutestamentliches Beispiel greife ich die Se 1i g preis u n g e n heraus, die im Matthäusevangelium als Einleitung der Bergpredigt Jesu voranstehen (Matth. 5, 3-12). Die kirchliche Tradition hat in ihnen jahrhundertelang die grundlegende Bestimmung jener Tugenden gesucht, die ein Christ im Alltag zu üben hat. Stimmt das zur formgeschichtlichen Erhellung? Selig sind die geistlich Armen; denn ihrer ist das Reich der Himmel. Selig sind die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde besitzen. Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Söhne Gottes heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Reich der Himmel.
§ 1 Gattung und Formel
8
Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Arge wider euch reden um meinetwillen und damit lügen. Freut euch und frohlockt, weil euer Lohn groß ist in den Himmeln. Denn ebenso haben sie die Profeten verfolgt, die vor euch gewesen sind. Daß die Seligpreisungen eigenständig sind und ohne Rücksicht auf den Zusammenhang betrachtet werden können, lehrt der kirchliche Gebrauch. Das dabei zum Ausdruck kommende Empfinden, eine geschlossene Einheit vor sich zu haben, bestätigt sich exegetisch durch den Blick auf die Parallele im Lukasevangelium. Dort werden die Seligpreisungen ebenfalls berichtet (6, 20-23), aber in ganz anderer Umgebung. W~!ULdie Evangelisten diese Worte Jesu an verschiedeIlen Stellen aufnehmen,_ haben sie den Abschnitt als selbständig angeseh~n. Auch dieForm dermeJufac:h wiederholtet;t ~Selig sinct"-,Einführungen hebt sich deutlieb aus dem Kontext heraus. Nicht daß ein solcher Anfang sonst völlig unbekannt wäre! Solche Heilrufe sind vielmehr an vielen Stellen der Bibel und darüber hinaus anzutreffen. Der Grieche besitzt für diese Form ein eigenes Wort: (M:ilirTs_m_Qi!J!ll i~~3:~~itl~c:h:Elchri.s.tlic:hen Umkn:is ist eine._ Se li gpreis u n g eine poettsC:h6 gefaßte Wendung,. die in verschiedenen Zusam~enhängen auftauchen kann -_wenngleich nicht beliebig - , also genaudas, was wir ein!! Formel nennen. Den biblischen Makarismos gibt es ·1n zweierlei Ausprägungen. Einmal taucht er in der alttestamentlichen Sprucilweisheit auf, dort gern als "Ausgangsthese" von Sentenz-Ketten (~.Y0.13 z. B.; vgl. den berühmten Eingang von Ps. 1) oder als logischer Zielpunkt weisheitlicher Beweisführung (z. B. ~~--~' 32 f; ?_ir. 4?...__~ !; SO.-~-~). Bei dieser Art geht es um das diesseitige Wolilergellen des Menschen. Der weis h e i tl ich e Segenswunsch des Menschen gilt dem, der verständig lebt gemäß den von Gott geschaffenen und von den Weisen aufgewiesenen Ordnungen des Lebens. Ande~ der ~.P.ok~J..YlUÜs;b_e.Mak.a.ri~mQ~,<:{~r_.sich _auf die P~_r,s_~I?-~11 ri_chtet;1 qie_ im.let_zten Weltgericht _gerett~t :vv:erd~I1- und an der ~~1;1-~~ ~~l~__.t\n_~~il erb~l~I1· :vr~il_sie hieE.
8
S. § 8 Abs. C.
---
--
Seligpreisungen
9
52, 1- ~.§.). Der Makarismos in solchen Reihen hat gelegendich eine Begründung bei sich: Selig ist, wer den Samen der Gerechtigkeit ausstreut, denn er erntet siebenfähig (2. Hen. 42, 11). Wo er auch benutzt wird, stets ist er mehr als eine blumige Floskel, nämlich feierlicher Zuspruch des Heils, "eine schwächere Form de~ Segens" 7 • Was ergibt sich von da für die Seligpreisungen der Bergpredigt? Je s u s benutzt offensichtli_<:!J._E.~-G~~~.!;!:!!K,_
7
10
§ 1 Gattung und Formel
C. Alttestamentliches Beispiel: Dekalog Formgeschichtlich epochemachend war A. ALT: Die Ursprünge des israelitischen Rechts 1934 = ALT I 1953, 278 ff. bes. S. 315-332- H. Graf REVENTLOW: Gebot und Predigt im Dekalog 1962 - E. GERSTENBERGER: Wesen und Herkunft des "apodiktischen Rechts" WMANT 20, 1965 - E. NIELSEN: Die Zehn Gebote, Acta Theologica Danica VIII 1965 - W. RICHTER: Recht und Ethos 1966 cap. 3 - Eine übersieht gibt J. J. STAMM: Dreißig Jahre Dekalogforschung, ThR NF 27, 1961, 189 ff., 281 ff.
Genauso ist es bei unserem zweiten Beispiel aus dem Alten Testament. Ich wähle einen berühmten Abschnitt, den Dekalog, die Zehn Gebote, nach der Katechismus-Kurzfassung: Ich bin der Herr ( = Jahwä), dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. (Du sollst dir kein Bild noch irgendein Gleichnis machen weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf der Erde, oder des, das im Wasser unter der Erde ist, bete sie nicht an und diene ihnen nicht, denn ich der Herr (= Jahwä), dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat ... ) Du sollst den Namen des Herrn (= Jahwä), deines Gottes, nicht unnützlich führen, denn der Herr ( = Jahwä) wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Du sollst den Feiertag heiligen( ... denn in sechs Tagen hat der Herr ( = Jahwä) Himmel und Erde gemacht ... und ruhteamsiebenten Tag). Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist. Daß wir hier eine Einheit vor uns haben, ist selbstverständlich. Dem entspricht die kirchliche Praxis, die in der Regel die Zehn Gebote ohne Rücksicht auf ihren biblischen Textzusammenhang darbietet. Das weckt die Frage nach der Gattung. Die traditionelle Ansicht hat hier eine Zusammenfassung der vornehmsten moralischen Pflichten aller Menschen gesucht und den Dekalog mit dem allen Menschen eingeborenen Naturrecht gleichgesetzt. Was ergibt eine formgeschichtliche Untersuchung? Die gleiche Art von kurzen, verneinten Gebotsreihen, in denen ein Du angeredet wird, ist auch sonst zu belegen. In gleicher Form wird unerlaubter Geschlechtsverkehr Lev. 18, 6 tf. verboten und Ex. 23, 1-9 ein Richterspiegel gegeben. Das Verhältnis zu Personen, denen mit Scheu oder Abscheu zu begegnen ist,
Dekalog
11
regelt ebenso Ex. 22, 17. 20 f. 27. Andere Reihen mit derartigem Aufbau wenden sich gegen die Aufnahme ungeeigneter, vor allem fremdvölkischer Personen in die israelitische Volks- und Kultgemeinschaft Dtn. 23, 1-8 oder gegen ungerechtes Verhalten in der Ortsgemeinde Lev. 19. Der Dekalog gehört also zu einer häufig verwendeten Gattung, einer Gattung, die keineswegs auf allgemeine sittliche Grundsätze und Forderungen des Naturrechts aus ist: Denn ein Verbot wie das, keinen Ammoniter in die jahwäische Kultgemeinschaft aufzunehmen (Dtn. 23, 4), ist gewiß nicht naturrechtlich zu motivieren. Gegen diese Deutung spricht auch die Se I b s tvorstellungsformel: "Ich bin Jahwä, dein Gott." Die Eingangsformel zielt betont auf den allein mit Israel verbundenen Gott ab. Was besagt die Verbotsform, welchen Sinn gibt sie dem Dekalog? Die deutsche Übersetzung "Du sollst nicht" ist nur ein Notbehelf. Der hebräische Text mit der stets voranstehenden Partikel t6 und nachfolgendem Imperfekt drückt eine besonders nachdrückliche Verneinung aus, die im Deutschen etwa sachgemäß zu umschreiben wäre: "Es ist schlechterdings unmöglich, daß du das und das tust!" Der Hebräer setzt solche Formulierung einer indikativischen Aussage über die Zukunft gleich, also der Aussage "Du wirst das und das nicht tun" 9 • Apodiktisches Recht hat ALT die Gattung genannt, was sich schnell eingebürgert hat. Aber wieweit es sich· um Recht handelt, ist umstritten; auch begreift ALT andere Formen mit ein10 • Besser ist es, den Dekalog und Verwandtes apodiktische Verbotsreihen zu nennen. Es gibt dafür einen eigenen hebräischen Namen: debarim "die Worte" Ex; 20, 1; Dtn. 5, 22 (= 19); Ps. 50, 17; vgl. Ex. 34, 1. 28 11 • Nun meint freilich das hebräische i~1 mehr als die deutsche Wiedergabe. Nicht jeder Ausspruch ist in diesem Sinn" Wort", sondern i?1 gibt es nur dort, wo ein göttlicher oder menschlicher Ausspruch Kraft hat, eine Wirklichkeit hervorzurufen. Die Vokabel heißt nicht von ungefähr auch "Sache, Begebenheit". Die Gattungsbezeichnung sagt also: zwin9
10
11
Der normale verneinte Imperativ lautet bekanntlich im Hebräischen C,N mit nachfolgendem Jussiv. Es ist zu beachten, daß die Verbotsreihen nie in-dieser Form auftauchen. Deshalb ist es ein Verzicht auf formgeschichtliche Untersuchung, wenn E. GERSTENGERGER solche verneinte Jussive (die es im Alten Testament auch im Munde Gottes gibt) den apodiktischen Geboten gleichsetzt und aus beidem eine abstrakte Form des allgerneinen Prohibitivs konstruiert (so auch JBL 84, 1965, 38-51); ähnlich S. GEVIRTZ, VT XI, 1961, 156. Dagegen RICHTER 68-78. Zum apodiktischen Gottesrecht zählt ALT auch die apodiktischen Tötungsbestimmungen (wie Ex. 21, 12: "Wer einen Mann zu Tode schlägt, wird gewißlich sterben") und Fluchreihen wie Dtn. 27, 15-26. Trotz inhaltlicher Berührungen mit den apodiktischen Geboten handelt es sich jedoch um drei verschiedene Gattungen, die zunächst je für sich zu untersuchen sind und bei ALT vielleicht zu schnell in eins gesehen werden. Zehnerreihen werden als Cl~?~0 l'l~~~. von anderen apodiktischen Verboten abgehoben (Ex. 34, 28; Dtn. 4, 13; 10, 4), 0. GRETHER: Name und Wort Gottes, 1934, S. 79-82; ErssFELDT, Einleitung 3 93 f gegen ALT I, 323 A. 1, der die Vokabel als zu blaß (sie!) empfindet.
12
§ 1 Gattung und Formel
gende Worte, die Zukünftiges bewirken. Offenbar wird durch solche Gebotsreihen nicht nur ein sittlicher Appell an die mit Jahwä verbundenen Menschen gerichtet, sondern ihnen zugleich durch wirksames Wort die Fähigkeit zum Tun des Geforderten übermittelt. Knappe Verbote ohne Strafbestimmung sind also das erste Merkmal. Das zweite ist die Selbstvorstellungsformel12 "Ich bin Jahwä, dein Gott (Ich, Jahwä, bin dein Gott?) der dich aus dem Lande Kgypten geführt hat". Sie steht als Hoheits- und Huldaussage des aus der Geschichte des Volkes vertrauten Gottes den Geboten voran. Dieser Eingang paßt für modernes Sprachgefühl wenig zu den strikten Verboten. Aber Formgeschichte setzt voraus, daß man sich von der eigenen Sprache distanziert und auf das Gefüge der fremden Sprache eingeht. Die Formel taucht so stereotyp bei den Verbotsreihen auf, daß sie zur Gattung gehören muß: Ex. 20, 2; Dtn. 5, 6; Lev. 18, 6; 19, 4 ff; Ps. 50, 7; 81, 11 vgl. Ex. 34, 6. Grammatisch ist sie ein Nominalsatz, eine Art Umstandssatz zu den folgenden Verbalsätzen. Man könnte übersetzen: "Indem ichJahwä bin, dein Gott,- ... ist es ausgeschlossen, daß bei dir andere Götter mir gegenüber auftauchen" 13 • Apodiktische Verbote sind demnach Gottesrecht und das in so strengem Sinn, daß sie nur von der Verbindung mit dem Gott Israels her sinnvoll und gültig sind. Ein drittes Merkmal sind oft BegründungskIaus eIn, die mi,t einem "denn" das Verbot von Jahwäs vergangenem oder zukünftigem Geschichtshandeln her einsichtig machen (Ex. 23, 7-9; 22, 20; Lev. 18) 14 • Sie erscheinen hier nur bei Verboten, welche die Gottesbeziehung direkt betreffen15 • - So erlaubt die Gattungsbeobachtung, das Gefüge eines Abschnitts durchsichtig 12
Man hat vermutet, daß diese Ich-bin-Formeln ursprünglich die Selbstvorstell u n g eines Gottes im polytheistischen Umkreis darstellen, da sie auch sonst im alten Orient gebraucht werden. Wie es auch um die Herkunft stehen mag, der Israelit kannte seit alters keinen anderen als den Gott Jahwä und wird die Formel entsprechend anders verstanden haben. Vgl. K. ELLIGER: Ich bin der Herr - euer Gott, in: Theologie als Glaubenswagnis, Festschrift f. K. HEIM, 1954, 9-34; W. ZrMMERLI: Ich bin Jahwe, in: Geschichte und Altes Gottes Offenbarung, ThB 19, Testament, Festschrift ALT 1953 S. 179-209 1963, 11-40; R. RENDTORFF in: Offenbarung als Geschichte, Beiheft zu Kerygma und Dogma, 1, 1961, 32-38. REVENTLOW 26-28 versucht den Nachweis, daß der Satz von den anderen Göttern nicht als Gebot, sondern noch als Aussagesatz zu verstehen sei. Ist er doch in der dritten (nicht in der zweiten) Person formuliert (vgl. Ps. 81, 10 und das Fehlen in Ex. 34, 14 ff.). Die Gebotsreihe beginne erst mit dem Bilderverbot. Der Versuch ist deshalb interessant, weil er zeigt, wie die der indogermanischen Grammatik entnommene Unterscheidung von Indikativ der Zukunft und verneintem Imperativ nicht ausreicht, um den Sinn eines hebräischen "Tempus" zu erfassen. Zum konstatierenden Charakter RICHTER 77. B. GEMSER: The Importance of the Motive Clause in 0. T. LAw, VTS I, 1953, 50-66, wo allerdings dieses Gattungselement auch dem "profanen" kasuistischen Recht zugewiesen wird. Dagegen W. BEYERLIN: Die Paränese im Bundesbuch .•. , in: Gottes Wort und Gottes Land, Festschrift HERTZBERG 1965, S. 19. Ein weiteres Merkmal apodiktischer Verbotsreihen ist die Zehnzahl (so einst auch Ex. 34; Lev. 18, 6-17; 19; Hes. 18), deren Symbolik nicht mehr durchsichtig ist (NIELSEN 13-15).
=
13
14
16
Gattung und individuelle Eigenart
13
zu machen und die Weichen für eine fundierte Exegese zu stellen. Was von diesen beiden biblischen Texten gilt, gilt von allen. Das schwierige Geschäft der Interpretation wird ohne formgeschichtliche Besinnung notwendigerweise daneben geraten. "Wer einen Schriftsteller untersucht, ohne die von ihm gebrauchte Gattung zu kennen, beginnt den Bau des Hauses mit dem Dach" 18• Die Formgeschichte wirkt nicht nur als Regulativ bei vieldeutigen Stellen, sie erlaubt darüber hinaus, den oft beklagten Mangel an Zusammenhang in den biblischen Schriften (Tetrateuch, Psalter, Profetenbücher17, synoptische Evangelien, Offenbarung des Johannes) von ihrer Entstehung her zu begreifen und ältere sinnvolle Einheiten dahinter aufzuspüren. In solchen Büchern sind nämlich ursprünglich selbständige Gattungen nachträglich zusammengestellt worden, und dabei wurde der rote Faden undeutlich.
D. Gebundenheit an die Gattung, literarische Individualität und die Inspiration der Bibel Ist schon für die Interpretation moderner Literatur das Beachten der Gattung wichtig, so gilt das für die Bibel in noch viel stärkerem Maß. Das nicht nur deshalb, weil der zeitliche Abstand das Verständnis des Alten und Neuen Testaments schwieriger macht als das eines zeitgenössischen Dokuments, sondern auch weil dieJ>rägung von Schrift ~4,Rede im AI t er tu m viel stärker .. war als in unseren Ta-: gen. Dem Belieben des Einzelnen war im vorchristlichen Israel, aber auch im Urchristentum- überhaupt in den altorientalischen und hellenistischen Kulturen - eine viel engere Grenze gesetzt als bei uns Westländern des 20.Jahrhunderts. Das gesamte Leben war damals von der Geburt bis zum Tod d_:!:!!d! ~rauchtu~J!ll4_Sitte strenggeregelt18• 18
17
18
GuNKEL, SA'f! II, 2 S. XXXV f. LuTHER über die Profetenbücher: ,.Sie haben eine seltzame weyse zu reden, als die keine ordnunge halten, sondern das hundert yns tausent werffen, das man sie nicht fassen noch sich dreyn schidten muge" (WA XIX. S. 350). - Bekannt ist Goethes Bemerkung über eine ,.höchst traurige und unbegreifliche Redaktion" im Pentateuch. Wie stark noch heute die alltägliche Sprache bei den Arabern des Vorderen Orients geprägt ist, beweist der Bericht W. THESIGER's, der 1945-1950 Südarabien durchstreifte, über eine Begegnung in der Wüste (Die Brunnen der Wüste 1959 S. 103): ,.Nun rief Mahsin, den ich an seinem Hinkebein erkannte: ,Salam Alaikum.' Und wir antworteten im Chor: ,Alaikum al-Salam.' Dann kamen sie im Gänsemarsch an uns vorüber und begrüßten jeden mit dem dreifachen Nasenkuß, wobei die Nase die des anderen rechts, links und noch einmal rechts berührt, und stellten sich uns gegenüber auf. Tamtaim sagte zu mir: ,Frage sie nach Neuigkeiten.' Ich aber antwortete: ,Nein, tu du das. Du bist der älteste.' Tamtaim rief: ,Was habt ihr Neues zu berichten?' Mahsin antwortete: ,Nur Gutes/ Wieder fragte Tamtaim: ,Ist einer gestorben? Ist einer fortgegangen?' Sofort kam die Antwort: ,Nein! Sag so etwas nicht!' Frage und Antwort waren so unveränderlich wie die des Wech-
14
§ 1 Gattung und Formel
"Und nun muß man weiter erkennen, <;!~ß gie Gattungen in dem Schrifttu]]} eines alten Volks eine bei weitemgrößere Rolle spieleri als Qeg!2;Utage, -und daß die einzelnen Schriftsteller-Persönlichkeiten, die i,n _der modernen Literatur Ein und Alles_ sind _oder _Zl.l sein scheinen, i~I1{!l!!_b.ltequm in ~i.I!~l!nS_2;!l_fl:ä_chst befr~m.dlichen_W~ei_se zurii~~ tre_ten. Diese Erscheinung ist begrüna-et in der Eigenart des Geisteslebens einer älteren Kultur. Damals waren die einzelnen Personen bei weitem mehr durch die Sitte gebunden und viel weniger voneinander unterschieden, als es gegenwärtig der Fall ist" 18 • Fehlt auf Grund solcher Bindungen so etwas wie das freischaffende, schöpferische Individuum in jener Zeit, so ergibt sich andererseits auch kein breitgestreutes lesendes Publikum, das nach Lust und Laune zur Lektüre greift. An seiner Stelle stehen feste Tradi tionskre ise, die von Berufs wegen Literatur aufnehmen und weitergeben, etwa die Profeten oder die Jünger Jesu. Dem widerspricht nur scheinbar, daß im Alten_ und Neuen Testament nur wenige auftauditen. Vermutlich hat es auch längst niclit ffir-jede damals gebräuchliche Gattung eine Bezeichnung gegeben. Im Altertum werden viele solcher Formen ebenso unreflektiert und unbezeichnet gebraucht wie die grammatischen Formen, für die man auch keinen Namen hatte.
~Gattungs b e z eichriü.i1i~ !L
Hat man die Differenzierung des biblischen Schrifttums erkannt, so überrascht es nicht, daß sich darunter Gattungen finden, die im engeren Sinn "religiöse" Literatur darstellen, und andere, die dem religiösen Bereich verhältnismäßig fernstehen. Ein Weisheitsspr:uch aus dem Proverbienbuch, der sich auf gutes Benehmen bei Tisch bezieht, hatte selbstverständlich mit religiösen Dingen viel weniger zu tun als das Psalmenlied eines Todkranken oder ein Spruch Jesu. Ebenso steht es mit den Annalen des Jerusalemer Hofes, von denen ein Teil in die Königsbücher aufgenommen ist; sie standen dem Bekenntnis zum Gott Jahwä ferner als etwa eine Profetenrede. Das_ ist bei der Auslegung zu beachten. Es wäre aber ein Mißverständnis, wenn der Theologe sich nur mit den religiös gehaltenen Gattungen beschäftigte; denn irgendwo steht alle Literatur des Alten und Neuen Testaments in Beziehung zur Religion, weil sich sowohl Israel wie das Urchristentum in allen Lebensäußerungen von Gottes geschichtlicher Leitung umgriffen wissen. Das Neue Testament ist in dieser Hinsicht einheitlicher, weil es sich nicht um die Geschichte eines Volkes, sondern um die Geschichte Jesu Christi und seiner Gemeinde handelt, von der die Bücherzeugen. Immerhin gibt es auch hier, z. B. in den Briefen,
1D
selgesangs einer Litanei. Ganz gleidt, was sich tatsächlich ereignet hatte, sie änderten sich nie. Die Ankömmlinge hätten mit Räubern gekämpft, die Hälfte ihrer Leute verloren und nodt immer unbestattet haben können, ihre Kamele hätten geraubt sein, jederlei Unglück, Hunger, Durst oder Krankheit hätte sie getroffen haben können, und dodt hätten sie bei dieser ersten offiziellen Begrüßung niemals etwas anderes gesagt als: ,Nur Gutes.'" GUNKEL, SATZ II, 2 s. XXXV.
Gattung und individuelle Eigenart
15
Abschnitte, die keine religiösen Gedanken vortragen wollen, sondern private Mitteilungen enthalten (z. B. 2. Tim. 4, 9-13). Die um den Aufweis der Gattung bemühte Forschung sieht sich allerdings dem schwerwiegenden Einwand gegenüber, sie mißachte das In d i v i du e 11 e in der Literatur überhaupt und in der Bibel im Besonderen20. Treten die Gemeinsamkeiten einer literarischen Gattung bei solcher Betrachtung nicht über Gebühr hervor und verdecken die Eigenart der großen Schriftsteller-Persönlichkeiten von Profeten und Aposteln? Lassen sich die Sprüche eines Jesaja oder Jeremia oder gar die LogienJesu wirklich begreifen, wenn man sie von den damals gängigen Redeformen her deutet? Die kritische Frage ist insofern berechtigt, als selbstverständlich die Eigenart eines biblischen Schriftstellers keineswegs in der Allgemeinheit der Gattung völlig verschwindet. Freilich kommt es dabei auf die geistige Kraft des Verfassers an. Ein Roman in unseren Tagen, z. B. von Günter Grass geschrieben, geht sehr viel stärker über das hergebrachte Gattungsschema "Roman" hinaus als ein 50-Pfennig-Roman, der am Kiosk feilgeboten wird. Vergleichbare Unterschiede gibt es selbst unter den biblischen Schriftstellern, bei denen ein Jesaja unter den älteren Schriftprofeten, ein Johannes unter den Evangelisten und ein Paulus unter den Aposteln an Originalität über andere weit hinausragen. Dabei spielt nun auch die Art der Gattung, der sie sich bedienen, eine gewichtige Rolle. Es gibt Gattungen, in denen das Individuelle kaum zum Vorschein kommen kann; in anderen dagegen hat die Eigenart des Verfassers weiten Spielraum, vor allem in den neutestamentlichen Briefen oder in den Profetenbüchern; ein Gegenbeispiel wären alttestamentliche Weisheitssprüche und Rechtssätze. Nach all dem ist das Entweder-Oder: Interpretation des individuellen Ausdrucks oder Interpretation der literarischen Gattung, falsch gestellt. Der individuelle Anteil in einem Schriftwerk läßt sich vielmehr gerade dort überzeugend herausarbeiten, wo der Hintergrund, die aus der Gemeinschaft von Kultur und Sprache überkommene Gattung, erkannt worden ist. So leugnet formgeschichtliche Forschung keineswegs die individuelle .Eigenart, grenzt sie freilich gegenüber einer einseitigen Überschätzung der "schöpferischen" Persönlichkeit ein, wie sie im vergangeneo Jahrhundert gerade auch in der Bibelwissenschaft üblich war. Der Theologe, der nach der Wahrheit der biblischen Aussage fragt, mag angesichts so einschneidender gattungsmäßiger Gebundenheit altund neutestamentlicher Texte erstaunt, vielleicht sogar erschreckt sein, und das um so mehr, als die Gattungsforschung anscheinend die unumgängliche Voraussetzung für eine richtige Exegese ist. Bisher hatte er nur von Profeten, Evangelisten und Aposteln gehört, jetzt vernimmt er etwas von Makarismen und apodiktischen Geboten. zo Vgl. die Stimmen bei
IBER
S. 325.
§ 1 Gattung und Formel
16
Die b i b 1i s c h e n Schriftsteller erscheinen eingefügt in literarische Muster, die vor ihnen da waren. Ist ein solches Ergebnis aber der Wahrheit dieser Texte abträglich? Zeigt sich nicht umgekehrt in der Vielfalt der aufgenommenen Gattungen etwas von der Weite der Bibel, die sich keineswegs auf die graue Uniformität von Lehrsätzen beschränkt? Wird darin nicht offenbar, wie tief das göttliche Reden die menschliche Sprache angenommen und aufgenommen (und in der Aufnahme erweitert und umgewandelt) und sich zu eigen gemacht hat? Was die Theologie "Inspiration" nennt, betrifftrecht verstanden - nicht nur die individuelle "Erleuchtung" der biblischen Schriftsteller, sondern auch den umfassenden sprachgeschichtlichen Vorgang der Entstehung und Entfaltung jener Gattungen, welche die besonderen bibli sehen Aussagen allererst ermöglichen. Das Dogma von der Bibel als dem Wort Gottes, das seit Jahrhunderten zu versteinern droht, kann gerade von formgeschichtlichen Erwägungen her wieder Blut und Leben erhalten21 • E. Das Gattungsproblem in der allgemeinen Literaturwissenschaft. I. BEHRENS: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16.-19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Beih. z. Zeitschrift f. roman. Philologie 92, 1940. - ,Der eindrucksvollste Versuch "formgeschichtlicher" Besinnung außerhalb der Bibelwissenschaft ist A. ]oLLES: Einfache Formen 1 1956; dazu' vgl. R. PETSCH: Die Lehre von den "einfachen Formen•, DVfLG X, 1932, 335 ff. - Aufschlußreich auch der Aufsatz zur Eröffnung des 3. Congres International d'Historie Litteraire von P. VAN TrEGHEM: La questiondes genres litteraires, Helicon I, 1938, 95-101. Die Rede von der literarischen Gattung (lateinisch genus, griechisch eidos oder charakter) reicht bis ins A 1t er tu m zurück. In der Lehre von der Dichtkunst, der Poetik, begannen griechische Grammatiker bald nach Aristoteles, an Hand des Versmaßes Gattungen zu unterscheiden, Tragödien vom Epos und anderem abzuheben. Ahnlimes geschieht in der antiken Rhetorik 22 • Bis ins 19. Jahrhundert hinein redete und schrieb man in der Literaturwissenschaft von Gattungen, beschränkte sich aber dabei streng auf den poetischen Bereich; Prosaisches galt nicht als Dichtung und deshalb auch als gattungsmäßig nicht zu erfassen. Noch bei Schiller ist der Romanschriftsteller nur der "Halbbruder• des Dichters. Erst die Romantik schuf einen grundlegenden Wandel, indem sie nicht nur bewußt geformte Prosa, wie den Roman, sondern auch Erzeugnisse der Volksdichtung, wie Sagen und Märchen, in die Untersuchungen von Gattungen einbezog. Aber auch hier blieb der Gattungs11
12
Auf Folgerungen für die heiß umkämpfte Problematik um die Objektivität des Erkennens weist ZrMMERLI hin: "Die Erkenntnis, daß der Mensch in seiner Aussage nie nur ein Sachliches aussagt, sondern immer auch etwas von seiner Situation und Fragestellung mitgibt, die Fragwürdigkeit der Annahme ,objektiver' Aussagen, die nicht irgendwo schon vom sprechenden und formulierenden Subjekt her bestimmt wären, kündet sich hier (bei GuNKEL) von ferne an•. Das Alte Testament als Anrede 1956, S. 11. CICERO: " ... poematis enim tragici, comici, epici, melici etiam ac dihyrambici ... s u um c u i u s q u e es t, diversum a reliquis (bei BEHRENS S. 19).
Kunstgattungen und prosaische Formen
17
begriff auf den Umkreis von Dichtung beschränkt, nur daß dieser erheblich ausgeweitet wurde. Wie die antike Philosophie auf die Ausbildung der christlichen Dogmatik, so hat die hellenistische Literaturbetrachtung auf die Exegese durch die Jahrhunderte hindurch eingewirkt. Es verwundert daher nicht, daß der Gattungsbegriff in der Auslegung der Heiligen Schrift häufig auftaucht, und zwar dort, wo biblische Bücher als "poetisch" angesprochen werden. Beda Venerabilis weiß z. B. von drei Gattungen: der dramatischen, die in den Eklogen Vergils ebenso greifbar wird wie im Hohenlied, der erzählenden bei Lukrez oder in den Sprüchen Salomos; beim Prediger und in den Psalmen endlich vom genus micton, das durch Homer ebenso repräsentiert wird wie durch die historia beati Job 23 • Luther "trägt kein Bedenken, das Buch Hiob als echtes Drama anzusehen wie die Komödien des Terenz" 24 • Auch nach Aufkommen der historischen Schriftauslegung gab es immer noch Leute, die nach den Gattungen der hebräischen Poesie suchten, wie J. G. ErcHHORN 25 • Unter dem Einfluß HERDERs beginnt man, sogar nach Volksdichtungen im Alten Testament zu suchen. Erst um die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts verschwinden solche literaturwissenschaftliehen Bemerkungen aus der exegetischen Literatur, die unter dem Bann des positivistischen Historismus nur noch darauf aus ist, "Quellen" auszugraben, Quellen für die Geschichte Israels oder Quellen für das Leben Jesu. Poetische Bücher wie die Psalmen treten demgegenüber in den Hintergrund 26 • Erst GUNKEL hat nach dürren Jahrzehnten den Gattungsbegriff in der Exegese wieder zu Ehren gebracht, nun aber gleich in seiner romantischen Ausweitung, so daß die Frage nach Gattungen auch im Blick auf die erzählenden, prosaischen Partien selbstverständlich wird. Durch ihn wird nachgewiesen, daß die Berücksichtigung der Gattung für stichhaltige exegetische Aussage unerläßlich ist. Gleichzeitig gelingt es ihm, die Untersuchung von Gattungen aus den Fesseln der antik-mittelalterlichen Literaturkunde frei zu machen. Welche Gattungen sich im Alten und Neuen Testament finden, das läßt sich nicht von allgemeinen literaturwissenschaftliehen Erwägungen aus bestimmen, von anscheinend selbstverständlichen Formen wie Epos, Ode, Elegie her, sondern nur durch ein geduldiges Beobachten der biblischen Formensprache 27 • Vor allem aber hat GuNKEL - fast ohne es zu merken jene Schranke eingerissen, die bis dahin den Gattungsbegriff auf Formen der Dichtkunst, sei es der individuellen, sei es der Volksdichtung, beschränkt hatte. GUNKEL bezieht auch Rechtssätze, Laienbelehrung durch den Priester und Stammbäume in die formgeschichtliche Arbeit ein. Es wird ihm selbstverständlich, daß a 11 e Teile des Alten wie des Neuen Testaments gattungsmäßig gegliedert sind, der Mensch sich immer in geprägten Formen äußert, sei es nun schriftlich oder mündlich. Es geht also letztlich nicht b 1o ß um Kunstforme n. Was ein Dichter bewußt gestaltet, ist vielmehr ein abkünftiger Modus von Gattung. Ursprünglich sind Gattungen jene Formen, in die alle sprachlichen Xußerungen notwendig eintreten, wenn sie verständlich werden wollen28 • Indem GuNKEL so den ästhetischen Kreis der 23
24
25
28
27
28
ßEHRENS, S. 36 f. H. BoRNKAMM: Luther und das Alte Testament, 1948, S. 30. Einleitung ins Alte Testament I, 1780, S. 13. Vgl. auch: J. M. ScHMIDT: Kar! Friedrich Stäudlin- ein Wegbereiter der formgeschichtl. Erforschung des A. T., EvTh 27, 1967, 200-218. Man denke an die beispiellose Abwertung des Psalters bei einem so hervorragenden Literarkritiker wie B. DuHM. Wie jede einschneidende theologische Wende, so ist auch GUNKELS Programm nicht ohne Vorläufer entstanden, wie er öfter betont, z. B. Guß S. 8 oder KdG 99. Der einzige wirkliche Vorgänger aber, E. MEIER: Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer 1856, wird GUNKEL erst spät bekannt. In seinen frühen Schriften kann GUNKEL zwar gelegentlich noch sagen, es ginge allein um "die Schöpfung von Kunstwerken durch das Wort" KdG 55; aber das ist wohl mehr eine Konzession an das Zeitbewußtsein, viel-
18
§ 1 Gattung und Formel
Kunstdichtung überschritt, hat er eine Schranke niedergelegt, die heute in der Literaturwissenschaft weithin noch selbstverständlich ist. Die Nachfolger GuNKELS sind ihm darin so einhellig gefolgt, daß die meisten Formgeschichtler heute gar nicht mehr wissen, wie sehr der Begriff der Gattung ursprünglich auf die Dichtkunst beschränkt gewesen ist2B•. Freilich hat sich seit GuNKELs Tod auch die Literaturwissenschaft weiterentwickelt. Vor allem hat }OLLES in seinem Buch über die einfachen Formen, nämlich Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen und Witz, die Eigenart dieser Gattungen morfologisch herauszuarbeiten versucht. Dieses hat die alttestamentliche Formgeschichte in vieler Hinsicht befruchtet (etwa bei G. v. RAD oder H. W. WoLFF). Bei }OLLES wird der Schritt über die Kunstgattung hinaus auch in der Literaturwissenschaft getan. Ebenso bei PETSCH: ,.Unsre bekannten ,Dichtungsgattungen' sind späte, verwickelte und hochgezüchtete (nicht selten vereinseitigte) Aus- und Umprägungen solcher sprachlichen Gebilde (der einfachen Formen)" 29 • VAN TIEGHEM fordert sogar eine ,.Genologie" als literaturwissenschaftliche Disziplin. Freilich ist seit dem zweiten Weltkrieg eine gegenläufige Tendenz unverkennbar. Unter dem Einfluß der phänomenologischen Philosophie sucht man nur noch das reine, in sich geschlossene Sprach-Kunstwerk und benutzt den Gattungsbegriff- wenn überhaupt- dann nur noch für die drei (angeblichen) Naturformen der Dichtung: Lyrik, Epik und Dramatik. Die Frage nach Formmerkmalen, Aufbau und Gefüge solcher sprachlicher Formungen wird gegenstandslos, es wird statt dessen nach der inneren Stimmung gesucht30 • Aufgeschlossener für die formgeschichtlichen Probleme scheint augenblicklich die englische Literaturwissenschaft zu seinu.
F. Stilkritik Mit der Lehre von der poetischen und rhetorischen Gattung war seit der Zeit ,des Hellenismus die Lehre von den Redefiguren oder Redeblumen verbunden. Darauf baut noch heute die moderne Stilkritik auf32 • Auch in der biblischen Exegese hat man seit jeher auf solche Figuren geachtet. Man stellt die Stellen heraus, wo die Alliteration, der Stabreim, gebraucht wird33 , man hat kunstvolle Weisen der Wiederholung aufgefunden34 und vor allem im Alten Testament das Mittel des Wort-
18"
ID 30
•1
12
18 34
leicht auch an das eigene ästhetische Gemüt. In Wirklichkeit geht GuNKEL schon in dem Werk, aus dem das Zitat stammt, über den engen Rahmen der Poetik weit hinaus. Für seine Schüler unter den Neutestamentlern gilt als selbstverständlich: ,.Darum behandeln wir die Evangelien nicht mehr, als seien sie poetische oder philosophische Schriften", M. DIBELIUS: Botschaft und Geschichte I, S. 83. GuNKEL hat auch auf die Erforschung der altorientalischen und ägyptischen Literatur eingewirkt, s. v. SoDEN, ZDMG 89, 1935 S. 146: "eine babylonische Literaturgeschichte muß im wesentlichen Gattungsgeschichte sein" und H. BRUNNER: Grundzüge einer Geschichte der altägyptischen Literatur 1966 S. 8. S. 336. So E. STAIGER: Grundbegriffe der Poetik 1946, 8 1963, bes. S. 8-10. 219f. S. d. Zitat aus der Cambridge History of English Literature bei W. KAYSER: Das sprachliche Kunstwerk 1 1948, 101964, S. 16: Literaturwissenschaft schließt in sich ,.the Iiterature of science and philosophy, and that of politics and economics ... the newspaper and magazine ... domestic lettres and street songs; accounts of travel and records of sport." S. W. KAYSER a.a.O. S. 100-155. 0. S. RANKIN: Alliteration in Hebrew Poetry, JTS 31, 1930, 285-331. J. MmLENBURG: A Study in Hebrew Rhetoric: Repetition and Style, VTS I, 1953, 97-111 - H. A. BRONGERS: Merismus, Synekdoche und Hendiadys in der Bibel- Hebräischen Sprache, Oudtestamentische Studien XIV, 1965, 100-114.
Stilkritik
19
spiels untersucht, wo die Lautung eines Wortes zum Sinnspiel führt. Daneben gibt es viele andere Arten, etwa die Litotes: die positive Aussage durch doppelte Verneinung, oder die Metapher: der übertragene Gebrauch von Worten und Wendungen34•. Die Figuren der traditionellen Stilistik hat E. KöNIG in seinem eigenwilligen und unhistorischen, aber materialreichen Werk zusammengestellt: Stilistik, Rhetorik, Poesie, 1900 35. In der Gegenwart fehlt es auch nicht an Untersuchungen, die über das Schema jener Stilistik hinausgehen, die an Hand der indogermanischen Sprachen ausgebildet wurde. Man beginnt, semitische Eigenheiten zu untersuchensG. In welchem Verhältnis steht solche Stilistik zur Gattungsforschung? Gegenüber der herkömmlichen Weise, stilistische Betrachtungen anzustellen, muß zunächst eine Einschränkung vorgenommen werden. Solche Redefiguren sind nämlich nicht gleichmäßig über das Neue und Alte Testament hin verstreut, und sie sind nicht überall, wo sie auftauchen, von gleichem Gewicht. Ein undifferenziertes Vorgehen ist deshalb ungenügend. Ein Wortspiel in einem Profetenspruch, beispielsweise die Baurnvision Jerernias, wo der Profet äußert: ,.Einen Wacholder sehe ich", und die göttliche Stimme erwidert: ,. Wachhalter bin ich über mein Wort" (1, 11 ff.), hat einen anderen, zwingenderen Charakter als das spöttische Wortspiel des Apostels von der Zerschneidung für Menschen, die sich der Beschneidung unterzogen haben (Phi!. 3, 2) 37 • Stilkritische Beobachtungen dürfen also nicht von der Beobachtung der Gattung absehen, sonst sind sie auf Sand gebaut. Die Gattungsforschung ihrerseits hat allerdings ein großes Interesse daran, Wortwahl, Ausdrucksweisen und Satzkonstruktionen zu untersuchen, die für die jeweilige literarische Form oder für ganze Gattungsgruppen, wie die profetischen Einheiten, bezeichnend sind38 • Ein großer Teil des von der traditionellen Stilistik zusammengetragenen Materials ist deswegen für die Formgeschichte sehr bedeutsam, weil es bei genauerern Hinsehen Gattungsmerkmale herausstellt. Es gibt also einen Gattungs s t i I. Vielleicht empfiehlt es sich aber, solche Untersuchungen, die die Redefiguren einer Gattung behandeln, nicht mit dem Begriff Stil und Stilistik zu belasten 39 • Andererseits gibt es Ausdrucksweisen und Konstruktionen der Sprache, die von der Gattung mehr oder weniger unabhängig sind und der Schriftstellerpersönlichkeit eignen. Es gibt auch in den biblischen Büchern zweifellos einen Persona1st i 1, der unverkennbar ist bei so sprachgewaltigen Autoren wie Jesaja und Paulus, aber auch bei vielen anderen. Diesen Personalstil zu untersuchen ist eine lohnende Aufgabe, wenn dabei die Bestimmung der Gattungen vorangeht40• In der modernen Literaturwissenschaft ist man von einer einseitiger. Hervorhebung des Personalstils abgerückt und tendiert zur Deutung des Werkst i I s als eigent34• 35
11 37
38 39
40
Dazu M. WEiss, ThZ 23, 1967, 1-25. Die in der modernen Stilistik wichtige ,.Erlebte Rede" hat M. WEISS: Einiges über die Bauformen des Erzählens in der Bibel, VT XIII, 1963, 456-475, im A. T. aufgewiesen. Mir ist nur nicht sicher, ob die alttestamentlichen Erzähler dieses Stilmittel ,.ganz bewußt" (S. 469) angewandt haben. W. M. W. RoTH: The Nurnerical Sequence X/X + 1 in the 0. T., VT XII, 1962, 300-311. H. v. CAMPENHAUSEN: Ein Witz des Apostels Paulus, in: Neutestamentliche Studien f. R. BuLTMANN, BZNW 21, 1954, 189 f. Gewiß ist auch Paulus noch weit entfernt vorn modernen Empfinden, das ein Wortspiel immer als scherzhaft empfindet und dem Witz zuordnet, s. F. H. MAuTNER: Das Wortspiel und seine Bedeutung, DVfLG IX, 1931, 679-710. Vgl. v. RAo, Theologie II 492 f. ALoNso-ScHÖKEL: Die stilistische Analyse bei den Propheten, VTS VII, 1960, 154-164. Es führt irre, wenn unter Stil nur die "Vortragsart ... , die ... konstitutiv für die Gattung" ist, verstanden wird (so DIBELrus: Formgeschichte S. 7; K. L. ScHMIDT in: RGG 2 li, 639). Vorbildlich L. KOEHLER: Deuterojesaja (]es. 40-55) stilkritisch untersucht, BZAW 37, 1923.
20 licher Aufgabe der Stilkritik. Das Dichtwerk soll letztlich verstanden werden abgelöst von der Persönlichkeit des Autors als ein in sich geschlossenes Sprachgebilde, hei dem alle Stilzüge auf eine zugrunde liegende innere Haltung schließen lassen41 • Diese Art von Stilkritik stößt allerdings gegenüber biblischen Büchern (und altorientalischen Schriften überhaupt) auf ihre Grenzen; denn die vorausgesetzte, in sich geschlossene Individualität eines dichterischen Werkes ist hier nirgends zu finden. Zwar sind stilistische Untersuchungen von biblischen Abschnitten durchaus möglich und nützlich42, sie werden aber niemals zu so hohen stilkritischen Zielen gelangen, wie sie den Germanisten vorschweben. Andere haben versucht, den "Stil" streng historisch als Stil einer Zeit zu verstehen, wie das in der Kunstwissenschaft geschieht. Die Suche nach dem Epochen s t i I ' 3 ist gewiß auch im Blick auf das vorexilische und nachexilische Israel, auf die palästinensische und hellenistische Urgemeinde bedeutungsvoll. Aber dafür werden Vorarbeiten nötig, von deren Vollendung, ja, von deren Inangriffnahme wir noch weit entfernt sind. Darauf wird unten noch einmal im Abschnitt über die Literaturgeschichte einzugehen sein.
G. Gattungsbestimmung: Textgefüge und Abgrenzung Um bei biblischen Texten die Gattung zu bestimmen, ist zunächst die Abgrenzung einer geschlossenen literarischen Einheit durch Suche nach sinnvollem Anfang und Ende nötig. Dann ist das Gefüge zu bestimmen, nämlich Ein- und Ausleitung wie Gliederung anhand syntaktischer und lexikalischer Eigenart (Wiederholung von Leitwörtern und Satzformen usw.). Erst der 3. Schritt führt über den vorgegebenen Text hinaus und sucht nach vergleichbaren Mustern des Textgefüges, zuerst synchron in der Literatur der gleichen Epoche, dann diachron in früheren und späteren Werken. Nur dann, wenn das gleiche Gefüge mehrmals zu belegen ist, kann eine Gattung erhoben werden (s. o. bei Seligpreisung und Dekalog) 44 • Bei der Gattungsbestimmung haben formale Beobachtungen (am griech. oder hehr. Urtext) stets den Vorrang vor inhaltlichen Erwägungen. Andrerseits läßt sich keine sprachliche Einheit allein mit formalen Beobachtungen einer Gattung zuweisen 45 •
So bei E. STAIGER und W. KAYSER. G. GERLEMAN: The Song of Deborah in the Light of Stylistics, VT I 1951, 168-180. - L. ALoNso-ScHÖKEL: Erzählkunst im Buche der Richter, B 42, 1961, 143-172. 43 P. BöcKMANN nennt dies Unternehmen "Formgeschichte" in seiner Formgeschichte der deutschen Dichtung 1949. u TucKER S. 11. 45 Anders W. RICHTER: Exegese als Literaturwissenschaft 1971; s. dazu das Nachwort unten. - Zu den Kriterien für poetische Textgefüge s. § 8.
41
41
21
§ 2 GATTUNGSGESCHICHTE
A. Wandel der Seligpreisung Vgl. § 1 B - A. GEORGE: La ,Forme' des Beatitudes jusqu'a Jesus, in: Melanges bibliques ... A. Robert o.J. (1958), 398-403.
Blicken wir auf den Reklamebrief zurück, so zeigt er sich dem Betrachter als eine zwar gegenwärtig gängige, aber keineswegs zu allen Zeiten und in allen Sprachen übliche Gattung. Das ist leicht erklärlich, setzt er doch nicht nur die moderne Massenversendung von Druckschriften, sondern das ganze ausgedehnte Wirtschaftsgefüge unseres Jahrhunderts voraus. Die Gattung ist nicht viel älter als hundert Jahre. Sie hat sich in diesem Zeitraum gewandelt. Der Werbetext hat sich immer stärker psychologischen Erkenntnissen angepaßt. Aber auch Gattungen, die schon seit Jahrhunderten gepflegt werden, zeigen heute nicht mehr die gleiche Gestalt wie ehedem. So unterscheidet sich, wie jeder weiß, das moderne Drama von dem, was in der Zeit Goethes und Schillers, und erst recht von dem, was im antiken Griechenland als Tragödie oder Komödie gedichtet und aufgeführt wurde. Über die beiden Beispiele hinaus läßt sich schnell entdecken, daß keine Literaturform einen längeren Zeitraum hindurch sich unverändert behauptet. Wenn ein Profet des 8. Jahrhunderts anders spricht als einer des 6., wenn eine alttestamentliche Apokalypse andere Züge zeigt als eine neutestamentliche, so liegt das nicht nur an der Eigentümlichkeit der Schriftsteller, sondern weithin an der Veränderung der Gattung. Gattungen und Gattungsgruppen (Erzählungen, Lieder) wandeln sich nämlich "nach gewissen immanenten, nicht lediglich von schriftstellernden Personen abhängenden Gesetzen" (DIBELIUS). Gattungsbeobachtung führt somit notwendig zur Gattungsgeschichte. Selbst die so einfache Form der neutestamentlichen Seligpreisungen hat ihre deutlich erkennbare Spur in der Geschichte. Zunächst liegt auf der Hand, daß die Gattung heute verschwunden ist. Keiner von uns trägt mehr solche Sätze vor, es sei denn als Bibelzitat. Zwar sind sie schon vor der Zeit Jesu in Israel zu belegen. Aber Makarismen fehlen in den frühen Schichten des Alten Testaments und sind darüber hinaus den altorientalischen Kulturen fremd 1". Als sie in der israelitischen Welt entstehen, treten sie zunächst als Einzelsätze auf, nicht als Reihen. Sie preisen ein Leben, das gemäß den Regeln der Weisheit geführt wird, in einem partizipialen Satz oder einem Relativsatz. In weisheitlieh beeinflußten Psalmen wird entsprechend die 1"
[Neuerdings sind Seligpreisungen in Ägypten nachgewiesen; J. DuPONT, B 47, 1966, 185-222. Sie gehören dort der kultischen Sprache zu und preisen den, der die Wege Gottes wandelt. Da 600fo der Seligpreisungen des AT. in den Psalmen sich finden, ist zu fragen, ob nicht auch in Israel der kultische Gebrauch der ursprüngliche (und der weisheitliehe abkünfrig) ist].
§ 2 Gattungsgeschichte
22
stetige Haltung des Vertrauens auf Jahwä gerühmt: "Selig alle auf ihn Vertrauenden" wird zur geprägten Wendung (Ps. 2, 12; 34, 9 vgl. 84, 6; ]es. 30, 18). Dieser Gebrauch reicht übrigens bis in neutestamentliche Zeit (Luk. 1, 45; Joh. 20, 29). Gern wird eine Seligpreisung zur Begrüßung unter weisen Männern benutzt (Ps. 127 f., 133)1. Als in spätisraelitischer Zeit die Seligpreisungen zu neuer Blüte kommen, werden sie breiter ausgeführt, es entstehen Makarismos-Reihen, zum Ausruf "Selig wer ... " tritt in der Apokalyptik eine ausdrückliche Begründung(Tob.13, 14; 1.Hen.58, 2; 99, 10; 2.Hen.42, 11); jetzt treten auch den Selig-Rufen gegensätzliche Wehe-Rufe gegenüber (2. Hen. 52 vgl. 1. Hen. 103, 5; 2. Bar. 10, 6 f) 2 • Nicht mehr um allgemeines Gottvertrauen geht es nun, sondern um das gläubige Warten auf das Ende dieser Weltzeit, um die eschatologische Hoffnung. Der derartig erweiterte Makarismos herrscht in den synoptischen Evangelien und in der Offenbarung des Johannes vor. Jedenfalls haben die eschatologischen Makarismen im Mund Jesu und seiner Zeitgenossen fast stets eine Begründung bei sich, gelegentlich sogar mit betontem "Wahrlich, denn" eingeführt (Matth. 13, 16f.; 16, 17;24,46f.; Luk. 1, 45; 12, 37. 43; 14, 14 usw.). Der Kontrast zu Wehe-Rufen wird Luk. 6, 20 ff. (auch 6, 5 [cod. D]) benutzt und in der Kompo• sition der Offenbarung Johannes ebenfalls, wo 14 Wehe-Rufe 7 Seligpreisungen gegenüberstehen (weiter Didache 1, 5). Im urchristlichen Makarismos setzt sich also ein Brauch spätisraelitischer Apokalyptik fort. Da; ist nicht nur von formalem Belang, vielmehr haben sich offenbar Jesus und seine Nachfolger das penetrante apokalyptische Bestreben, die endzeitliche Geschichte zu erhellen und von daher die Zeitgenossen vor ein begründetes Entweder-Oder zu stellen, zu eigen gemacht. Die Gattung des eschatologischen Makarismos ist allerdings auf christlichem Boden nicht lange verwendet worden; in der hellenistischen Urchristenheit scheint sie nicht Fuß gefaßt zu haben3 • So wird die Entstehungszeit der Seligpreisungen aus Matth. 5 durch gattungsgeschichtliche Überlegungen mit überraschender Deutlichkeit greifbar. Die synoptischen Makarismen führen insofern über die apokalyptischen Vorbilder hinaus, als sie mehrfach betonen, daß eschatologische Hoffnung paradox ist; die Weltvollendung führt eine völlige Umkehrung aller Verhältnisse herauf: wer hier arm, wird dann reich; wer hier hungert (nach Gerechtigkeit), wird dort gesättigt (das nicht H. ScHMIDT, HATz. St. und ThSK 103, 1931, 145 ff. Das Alte Testament bringt eine Begründung Prov. 3, 13 f. (sekundär); 8, 34 f. (Ps. 127, 5 f.?); vgl. aber die LXX in Gen. 30, 13; Jes. 31, 9; Sir. 28, 19 f.; 48, 11. Der Weheruf als Kontrast zum Makarismos ist völlig unbekannt (außer Qoh 10, 16 LXX). a BaUN a.a.O. 44.
1
!
Makarismos
23
nur in den Evangelien, sondern auch in den Sprüchen wie 1. Petr. 3, 14; 4, 14; Off. Joh. 14, 13). Neuartig ist auch die direkte Anrede, die sich bisweilen in den Evangelien (Matth. 16, 17; Luk. 6, 20 ff.) und im zweiten Teil der oben zitierten Seligpreisungen findet. In den alttestamentlichen Makarismen gibt es die Wendung zur Anrede nur rhetorisch, d. h. es wird nie der unmittelbare Zuhörer angesprochen, auch dann nicht, wenn einmal die zweite Person auftaucht'. Die gattungsgeschichtliche Umschau stößt auf die überraschende Beobachtung, daß es im alten Griechen 1an d eine ähnliche Gattung gab, die offenbar unabhängig vom alttestamentlichen Brauch entstanden ist. Auf Grabsprüchen, in Siegesliedern und bei Mysterienfeiern wird seliggepriesen (makar, olbios, eudaimon), wer über die alltäglichen Sorgen und Mühen erhaben ist5• "Inhaltlich spiegeln die Makarismen, die in Poede und Prosa durch die Jahrhunderte häufig sind, die Schmerzen und Nöte, Wünsche und Ideale des Griechentums wider"'. Gern steigert der Grieche den Ausruf, mit dem er den Glückszustand eines Menschen, aber auch eines Gottes, anerkennen kann: "Dreimal selig ist ... ", eine Steigerung, die auf alttestamentlichem Boden unmöglich ist. Dem griechischen Makarismos scheint auch eine Begründung fremd zu sein, so daß die synoptischen Seligpreisungen in ihrer Veränderung gegenüber dem alttestamentlichen Vorbild nicht vom Griechischen her beeinflußt erscheinen. Dagegen hat dort der hellenische Makarismos deutlich auf neutestamentliche Texte abgefärbt, wo Gott selbst selig gepriesen wird (1. Tim. 6, 15); stärker ist sein Einfluß auf die apostolischen Väter7. Mitten im sprachgeschichtlichen Vorgang des Entstehens und Vergehens der Gattung Seligpreisung haben also die Worte von Ma tth. 5 ihren Platz; in diesem großen Rahmen sind sie zu exegesieren. B. Wandel apodiktischer Verbotsreihen
Während der geschichtliche Ort der Seligpreisungen Matth. 5 zwischen spätisraelitischer Apokalyptik und hellenistischem Urchristentum durch eine Gattungsgeschichte eindrucksvoll bestätigt wird, ist der Nutzen solcher Besinnung für den obenangeführten Dekalog noch erheblicher. Vor dem Aufkommen einer formgeschichtlichen Exegese war es unmöglich, diese wichtige Verbotsreihe auch nur einigermaßen ' Dtn. 33, 29; Jes. 32, 20; Ps. 128, 3 vgl. V. 2); Qoh. 10, 17. 5 ThW IV 366f.; E. NoRDEN: Agnostos Theos, 1913, S. 100 f. ' ThW IV 366, 30-32. 7 BRuN 46 f. In den griechischen Beispielen findet sich öfter die Anredeform. Sollte diese von da in die entsprechenden synoptischen Stellen eingedrungen sein? Vgl. den auffälligen Übergang zur 3. Pers. bei der Seligpreisung in Luk. 1, 45, einem ehedem semitischen Traditionsstück (dazu DuPONT: Les Beatitudes 1 1958 s. 277).
§ 2 Gattungsgeschichte
zuverlässig geschichtlim einzuordnen. Die Ansetzungen schwankten von vormosaischer bis zu spätnachexilischer Zeit, je nach subjektivem Ermessen des Forschers. Hier bringt die Gattungsgeschichte Hilfe. Apodiktische Verbotsreihen tauchen schon in den ältesten alttestamentlichen Werken, beim Jahwisten (um 900) und im Bundesbuch auf (Ex. 22, 17. 20ff.; 23, 1 ff.; 34). Solche Verbotsreihen reimen deshalb bis in die vorkönigliche Zeit (vor das Jahr 1000) zurück. Dagegen hält es schwer, sie in die Zeit vor der Landnahme in Palästina zurückzudatieren und sie etwa auf Mose zurückzuführen. Einmal ist unwahrsmeinlich, daß die nachmaligen Israeliten schon in der Wüste hebräism gesprochen haben; die Verbotsreihen sind aber eine ausgesprochen hebräische Gattung. Zum anderen setzen schon die ältesten Reihen die bäuerlichen Verhältnisse des Kulturlandes voraus (Ex. 22, 20. 24. 28; 34, 25).- Wie steht es nun mit dem Ende der Gattung? In der späteren Königszeit werden die Du-sollst-nicht-Sätze im Deuteronomium in übergreifende Gesetzespartien eingebaut und verlieren ihr Eigenleben (Dtn. 12, 4 f. 8 f. 17 f; 14, 3 ff usw); Anreden im Plural tauchen auf (Dtn. 1, 17 u. ö.). In nachexilischer Zeit entstehen, soweit wir sehen, keine solchen Reihen mehr. - Der klassische Dekalog, an Erklärungen reich, aber durch das Vorherrschen des apodiktisch verneinten Imperfekts noch deutlich gegliedert, steht offenbar den späteren Stufen nahe. Auch inhaltlich zeigt er sich bereits sehr durchreflektiert. Die zehn Sätze sind bestrebt, das gesamte alltägliche Leben abseits der großen kultischen 'Festzusammenkünfte zu regeln. Durch die umfassende Tendenz heben sie sich von den anderen apodiktischen Reihen ab, die nur ein bestimmtes Lebensgebiet erfassen. Der Dekalog als Zehnerreihe steht demnach nicht am Anfang der Gattungsgeschichte, wird also nicht in vor k ö n i g 1ich e Zeit hinaufreichen, steht aber auch nicht am Ende, wird also kaum erst in nachexilischer Zeit entstanden sein8 • Sind vielleicht einzelne von den zehn Verboten älter? Neben der Gattung der apodiktischen Verbotsreihen gibt es nämlich apodiktische Verbotsformeln mit einem einzigen Satz. So bringt das Bundesbum den alleinstehenden Satz: Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen (Ex. 22, 17)9 • Ähnlich altertümlich wirkende Verbotsformeln finden sich in anderen Gesetzessammlungen (z. B. Lev. 6, 6 P; Dtn. 14, 3 D). Gewöhnlim werden Verbotsreihen und -formeln als dieselbe Gattung angesehen. Eine genaue Gattungsforschung muß aber beides unterscheiden. Das 8
8
Dem Theologiestudenten versetzt es erfahrungsgemäß einen Schock, wenn er zum erstenmal erfährt, der Dekalog stamme nicht von Mose; gerät damit nicht die Wahrheit der Heiligen Schrift ins Wanken? Aber diese Wahrheit wird erst richtig _erfaßt als göttliche und menschliche Rede in einem, wenn der Leser ihre allmähliche sprachgeschichtliche Entstehung begreift. Erst dann lassen sich die Linien zur Gegenwart überzeugend ausziehen, s. u. § 9. Aus diesem Vers und anderen Einzelgeboten (V. 20. 27) eine alte Reihe zusammenzusetzen (so ALT), ist sehr hypothetisch.
Apodiktische Gebote
25
schließt nicht aus, daß die Gattung der Verbotsreihe aus solchen Formeln einmal für bestimmte Zwecke entstanden ist. Wie beim Makarismos wäre dann die straffe Uniformität der Reihe "Resultat einer längeren Entwicklung und Kultivierung" 10• Im klassischen Dekalog ist die Reihe der. Verbote beim Sabbat- und Elterngebot von positiven Formulierungen unterbrochen, also von Geboten. Sie werden nicht im üblichen Imperativ vorgetragen, sondern in der strengeren Fassung des Infinitiv absolutus (oder mit nachgestelltem Imperfekt). Auch das entspricht einer verbreiteten Form, vor allem bei kultischen Geboten wie z. B. Ex. 13,2: Alle Erstgeburt mir weihen11 ! Solche Formeln sind im Lauf der Zeit als positiver Abschluß an apodiktische Verbotsreihen angefügt worden (Lev. 19, 9 f. 35 f; Dtn. 25, 13-15; Hes. 18, 8 f. 17). Von da aus erhebt sich die Frage, ob das, was man herkömmlich als die "erste Tafel" des Dekalogs bezeichnet, die auf die Gottesbeziehung ausgerichteten Verbote, mit abschließendem positivem Elterngebot eine ältere Stufe darstellen, so daß die Verbote für die zwischenmenschlichen Beziehungen erst später hinzugekommen sind (s. § 4). Der Dekalog ist also nicht Einzelstück einer in Israel zu allen Zeiten gebräuchlichen Gattung, er gehört - wie die Seligpreisung - in eine sprachliche Bewegung hinein. Wie bei den beiden Beispielen, so läßt sich allenthalben im Alten und Neuen Testament nicht nur beobachten, daß Texte zu geprägten Gattungen gehören, sondern daß sie zugleich einem bestimmten Stadium in der Gattungsgeschichte zugehören. Ob es um Profetensprüche geht oder um kerygmatische Formeln, um alttestamentliche Geschichtswerke oder neutestamentliche Episteln: Der Unterschied zwischen biblischen Abschnitten gleicher Gattung, aber verschiedener Zeit, erklärt sich nur zum Teil aus der persönlichen Eigenart der Verfasser; zum großen Teil ist er bedingt durch den zeitgenössischen Stand der Gattung. Jeder Exegt muß deshalb, sobald er die Gattung seines Textes festgestellt hat, auch nach der Gattungsgeschichte fragen.
C. Ausblick auf andere Sprachen des Altertums Wie für die Seligpreisungen (s.o. S. 21 f), so ist es auch für die Untersuchung der Geschichte anderer biblischer Gattungen unerläßlich, sich in den damaligen Nachbarsprachen umzusehen. über den Ursprung der apodiktischen Verbotsreihen ist von daher ein lebhafter Disput im Gang. Ein Teil der Forscher möchte sie aus den in den altorientalischen 10 11
S. MowrNCKEL: Zur Gesc:hic:hte der Dekaloge, ZAW NF 14, 1937, 218-235. Abgewandelt Num. 3, 13 (mit Selbstvorstellung); Ex. 22, 28; 34, 19.
26
§ 2 Gattungsgeschichte
Kulturen verbreiteten Weisheitsrege 1n ableiten. Ein ägyptischer Weiser mahnt (Merikare, von 2000 vor Chr.): Beruhige den Weinenden! Bedrücke nicht die Witwe12 • Verdränge keinen Mann aus dem Eigentum seines Vaters ...13 Eine babylonische (weisheitliche?) Opfervorschrift lautet: Du sollst nicht essen das omentum, und Blut sollst du nicht trinken14 Gemeines sollst du nicht tun, Worte sollst du nicht fälschlich gebrauchen. Böses sollst du nicht tun15 • Aber diese Berührungen, die jeweils unlöslich in einem andersartigen Textzusammenhang stehen, können zufällig sein. Auch muß man sich der Suggestion der modernen Übersetzung bewußt sein. Für "nicht" und "du sollst" stehn in den Urtexten oft sehr verschiedene Wörter! Geprägte Verbotsreihen lassen sich nicht nachweisen. Andere haben auf das Formular der Staatsverträge hingewiesen, durch das die hethitischen Großkönige (im 2. Jahrtausend) mit Vasallen ein Bündnis schließen16 • Ein solches "Bundesformular" beginnt stets a) mit einer Titulatur. "So (spricht) die Sonne NN, der große König, König des Landes Hatti, der Held." Das erinnert an die Sel-bstvorstellung "Ich bin Jahwä (dein Gott)" bei apodiktischen Verbotsreihen. Es folgt b) ein geschich dieher Prolog, der die bisherigen Wohltaten des Großkönigs an der Dynastie des Vasallen breit herausstellt. Dem entspricht die - allerdings sehr knappe und nur beim klassischen Dekalog belegte - geschichtliche Apposition "der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Agypten". Danach steht c) eine Grundsatzerklärung mit daraus sich unmittelbar ergebenden Geboten: "Nun schütze die Eide des Königs und die Macht des Königs; ich, die Sonne aber werde dich, NN, schützen ... Und die Abgabe, die deinem Großvater und deinem Vater auferlegt war ... entrichte du ebenso." In diesem Zusammenhang stehen auch Verbote, die apodiktisch klingen: Richte deine Augen nicht auf einen anderen; deine Väter 12 13 14 15 18
Vgl. Ex. 22, 21. ANET 415. R. KrLIAN: Apodiktisches und kasuistisches Recht im Licht ägyptischer Analogien; BZ NF 7, 1963, 185-202. Vgl. Gen. 9, 4; Lev. 3, 17; 17, 12. 14. LAMBERT: Babylonian Wisdom Literature 1960, S. 247. G. MENDENHALL: Recht und Bund in Israel und dem Alten Vordern Orient, Theologische Studien, hg. v. K. Barth und M. Geiger 64, 1960, S. 9. D. J. McCARTHY: Treaty and Convenant, Analeeta Biblica 21, 1963; vgl. auch W. BEYERLIN: Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen, 1961, 59 ff.; K. BALTZER: Das Bundesformular, WMANT 4, 1960; E. v. ScHULER: Hethitische Königserlässe als Quellen der Rechtsfindung und ihr Verhältnis zum kodifizierten Recht, Festschrift J. Friedrich, 1959, S. 469 A. 70 u. S. 467.Der Begriff "Staatsvertrag" ist ein unangemessener Modernismus; der Hethiter spricht von "Eiden" und stilisiert das Ganze als Königserlaß, vgl. G. M. TucKER: Convenant forms and contract forms, VT XV 1965, 487-503.- Zur möglichen Vermittlung durch den vorisraelitischen Bundes-El von Sichern s. meine Ausführungen: Kerygma und Dogma 8, 1962 S. 111.
Bedeutung der Nachbarkulturen
27
haben Abgabe nach dem Lande Ägypten entrichtet, du aber entrichte sie nicht1 7 , Es schließen sich an d) Einzelbestimmungen über Waffen- und Rechtshilfe im kasuistischen Wenn-Stil, e) Anrufung göttlicher Zeugen und f) Fluch und Segen; drei Teile, die anderswo im Alten Testament ihre Entsprechung haben, für die apodiktischen Verbotsreihen aber nichts hergeben. Obgleich die hethitischen Verbotssätze fest im Kontext verwurzelt und keine eigenständigen Formeln sind, ist doch wegen der auffälligen Ähnlichkeit in der Folge von a-c eine Abkunft der alttestamentlichen Reihen von diesem Bundesformular hethitischer Staatsverträge nicht ausgeschlossen. Der Bundesgott Jahwä verpflichtet seinen "Vasallen" Israel mit gleicher Unbedingtheit wie seinerzeit der Großkönig. Die Gattung apodiktische Verbotsreihe scheint also durch außerisraelitische Vorbilder angeregt zu sein. Dennoch entsteht erst auf israelitischem Boden die Tendenz zur Reihenbildung. Nur hier treten Begründungsklauseln hinzu, um die Vorschrift einsichtig zu machen18. Ein eigentümliches Bestreben erwacht, möglichst viele Lebensgebiete durch solche Sätze von Verunreinigungen und damit von Störungen des Bundesverhältnisses frei zu halten. Die Geschichte der Gattung apodiktische Verbotsreihe erweist, wie Israel sich zu eigen macht, was in den altorientalischen Sprachen gedacht und geformt war, und auf diesem Boden seine einzigartige Gotteserfahrung zum Ausdruck bringt. So gibt die Geschichte dieser Gattung nicht nur wichtige Aufschlüsse über den Rang und das Alter des Dekalogs von Ex. 20, sondern läßt zugleich wichtige t h e o 1o g i s c h e Aspekte des J ahwäglaubens sichtbar werden. Vieles, was durch Ausgrabungen und Entzifferung ans Tageslicht kommt, hilft biblische Texte besser verstehen. Hier liegt der Beitrag der Orientalistik und Altertumswissenschaft, an dem der Formgeschichtler nicht vorübergehen darf. Näher noch als die Großreiche steht Israel die kanaanäische Kultur, wie es sie in SyrienPalästina vorgefunden und teilweise übernommen hat. Vor allem aus dem seit 1929 ausgegrabenen Schrifttum der alten kanaanäischen Stadt Ugarit (Ras Schamra) können wir uns ein Bild ihrer Literatur machen19, Bei den neutestamentlichen Gattungen lassen sich weithin 17
18 19
BALTZER 188; ANET 204 (vgl. 183 A. 24). Eine Liste bei McCarthy S. 49; auffallenderweise finden sich Reihen von Imperativen der 2. Pers. Sing. häufiger in Verträgen hethitischer als akkadischer Sprache, ebd. 35-37. S. o. S. 12. Begründungsklauseln gibt es höchstens noch in hethitischen Priesterinstruktionen ANET 207 ff. Deutsche Übersetzung der wichtigsten ugaritischen Texte bei J. ArsTLEITNER: Die mythologischen und kultischen Texte aus Ras Schamra, Bibliotheca Orientalis Hungarica, VIII, 1959 und A. ]IRKU: Kanaanäische Mythen und Epen aus Ras Schamra-Ugarit, 1962. - Das übrige altorientalische Vergleichsmaterial bei H. GRESSMANN: Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament 2 1926/7 und bei J. B. PRITCHARD: Ancient Near Eastern Texts, relating to the Old Testament 2 1955. - Vergleichstexte zum Neuen Testament: C. K. BARRETT: Die Umwelt des N. T., übersetzt von C. Colpe 1959.
28
§ 2 Gattungsgeschichte
hellenistische Parallelen aufweisen, vor allem aus der griechischsprachigen Kleinliteratur. Das nimmt nicht wunder. Beherrscht doch die Wertschätzung des Wundertäters als theios aner und der durch Wanderprediger verkündigten Popular-Philosophien und Mysterienlehren das damalige Geistesleben! Besonders aber ist das zeitgenössische ] u den tu m mit seinen Gattungen wichtig; war doch das Judentum weithin schon zur missionierenden Religionsgemeinschaft geworden, aus der sich das Urchristentum allmählich erst eigenständig herausschält. Ein Vergleich mit den Gattungen des Altertums zeigt freilich auch, wo und inwiefern Israel und das Urchristentum von allen seinen Nachbarn sich unterscheidet. So fällt das Gebiet der Magie mit Zauberritualen und -sprüchen, das in Kgypten, Babylonien und in den hellenistischen Papyri einen breiten Raum einnimmt, fast ganz aus. Riten um Tod und Grab werden weitgehend reduziert, wenn sie nicht völlig verschwinden. Von Mythen finden sich nur geringe Spuren, während sie anderswo zu großen epischen Dichtungen ausgestaltet und in hellenistisch-römischer Zeit breit dargeboten und interpretiert werden. Zeigt sich an diesen Punkten, daß der biblische Geist viele sonst gängige Literaturformen samt ihrem Sitz im Leben abgestoßen hat, so hat er auf anderen Gebieten völlig neue Gattungen ausgebildet. So entsteht im Alten Testament eine Geschich tsschreib u n g, 'wie sie im alten Orient nicht ihresgleichen findet. Um die Person Jesu ranken sich die kerygmatisch ausgerichteten Evangelien, die ohne Parallelen in der zeitgenössischen Literatur sind. Khnliches gilt für die Gattungen profetischer Rede (s. § 18 C) und natürlich noch stärker für die apostolischen Briefe, denen nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann. Wer nach der Israel eigentümlichen Sendung forscht, wird sie auf gattungsgeschichtlichem Gebiet am leichtesten und sichersten greifen können. Bei aller kulturellen und sprachlichen Verwandtschaft heb t sich dieses Volk in seiner Literatur im Lauf der Zeit immer deutlicher vom übrigen alten 0 r i e n t ab. Die Gattungsforschung schon weist auf, wie sehr Israel geprägt ist durch das seiner Zeit höchst eigenartige Bekenntnis zu dem einen Gott und der durch ihn gewirkten Geschichte. Nicht weniger aufschlußreich ist der Vergleich neu t es t amentlicher Gattungen auf dem Hintergrund hellenistischer Reden und Schriften. Es erweist sich, daß der Weg vom Alten zum Neuen Testament, als Weg von der geschlossenen Volksgemeinschaft zum freien Zusammenschluß religiöser Gemeinden, zwar der allgemeinen Lage in hellenistisch-römischer Zeit entspricht, daß aber die Botschaft von dem aus Israel geborenen Jesus von Nazareth als dem Kyrios und Gottessohn, die Botschaft von seiner eschatologischen Bedeutsamkeit, zu völlig neuartigen literarischen Prägungen führt.
29 D. Rahmen- und Gliedgattungen Die sprachlichen Gattungen sind nichts Statisches, sondern sie sind im steten Wandel begriffen. Sie veralten und fallen der Vergessenheit anheim, während andere an ihrer Stelle entstehen. Die Wandlungen betreffen aber nicht nur das Vorhandensein der Gattung überhaupt, nicht nur den inneren Bau, die Formensprache, Ein- und Ausleitung. Vielmehr kann sich auch die Se 1b ständig k e i t und Geschlossenheit einer Einheit verändern. Eine Gattung kann sich mit einer anderen verbinden oder in eine andere eingefügt werden. An dieser Stelle ist ein Nachtrag zum Begriff der Gattung notwendig. Bisher wurde er so verwandt, als ob es sich stets in gleicher Weise um eine abgeschlossene, unabhängige sprachliche Einheit handle. Doch die Sprache lebt nicht in einer Unzahl säuberlich voneinander geschiedener Gattungen. Vielmehr liebt sie es, literarische Formen in einen engeren oder weiteren Bezug zueinander zu bringen, sobald sie benutzt werden. Das gilt nicht schlechthin. Ein Reklamebrief z. B. steht auf sich; wo er auftaucht, ist er mit einem anderen Schriftgut kaum je verkoppelt. Auch ein lyrisches Gedicht findet sich in der Regel unverbunden vor; es sei denn, daß es zum lockeren Verband einer Gedichtsammlung gehört. Es gibt aber den Ausnahmefall, daß das Gedicht in einen Roman eingeschlossen ist. In diesem Fall besteht von vornherein die Zugehörigkeit zu einem größeren Zusammenhang; der Roman bildet die übergeordnete Einheit, der poetische Abschnitt ist nur Baustein in einem größeren Ganzen. Doch von der Gattung "lyrisches Gedicht" her gesehen, ist diese Zuordnung zufällig; sie entspricht weder dem Wesen des lyrischen Gedichts noch dem des Romans. - Anders ist das Verhältnis, wenn ein C h o r a 1 im christlichen Gottesdienst neben Gebet und Predigt seinen Ort findet und Teilstück innerhalb der umfassenden Gattung Liturgie wird. Hier ist das Einzelstück, der Choral, in gewisser Weise in sich abgeschlossen. Er ist wahrscheinlich auch unabhängig von den übrigen liturgischen Stücken gedichtet worden, hatte aber von vornherein zu diesen einen inneren Bezug; denn das Wesen des Chorals verweist auf den Gottesdienst und umgekehrt: zumindest zur protestantischen Liturgie gehört der Choral notwendig hinzu. Es gibt also in Schrift und Rede G 1i e d g a t tun g e n, die in umfassendere Rahmengattungen eingebaut sind. Insbesondere sind Formeln, die kleinsten Ausprägungen sprachlicher Einheiten, fast stets größeren Gattungen zu- oder eingeordnet. Die Beziehung einer Gliedgattung zu ihrem Rahmen mag sich im Lauf der Zeit ändern. Sie kann erst allmählich zustande kommen, kann auch mit der Zeit aufhören. So bestand vor einem halben Jahrhundert etwa die Tendenz, den deutschen evangelischen Choral aus dem Zusammenhang des Gottesdienstes
30
§ 2 Gattungsgeschichte
und damit der Rahmengattung Liturgie mehr oder weniger herauszulösen, ihn als religiöse Lyrik zu empfinden; während gegenwärtig die umgekehrte Neigung einer stärkeren liturgischen Verankerung des Chorals in kirchlichen Kreisen spürbar ist. Noch deutlicher lassen sich solche Beziehungen in der Bibel erkennen. Die P s a 1m e n, soweit sie kultbezogen sind, haben immer zu einer über ihren Vortrag hinausgreifenden Handlung und deshalb mit anderen kultischen Stücken - etwa einem Priesterspruch - zusammengehört. Sie sind also von vornherein, dem christlichen Choral vergleichbar, in eine Liturgie eingebaut gewesen, also in eine übergeordnete Rahmengattung. Als der Jerusalemer Kult 587 plötzlich aufhörte, sind wahrscheinlich viele Psalmen vergessen worden. Im Gedächtnis blieben die, die in P s a 1m e n s a m m 1u n g e n einen neuen Ort fanden. Damit sind sie in eine neue Rahmengattung eingefügt. An anderen Stellen wird erkennbar, daß ein solches Verhältnis sich nachträglich gebildet hat. So sind die ehedem selbständigen Einzelerzählungen aus der Frühzeit Israels allmählich zu Sagenkränzen zusammengefaßt worden und diese endlich bloße Abschnitte in den großen Schriftwerken geworden, die im ersten Teil des Alten 'Testaments vorliegen. Das jahwistische oder das priesterschriftliche Erzählwerk sind solche Rahmengattungen, durch die eine Vielzahl ursprünglich selbständiger Einheiten mehr oder weniger geschickt zusammenkomponiert worden sind. In ein solches Werk ist eines Tages auch der Deka 1o g von Ex. 20 als Untergattung eingegangen, während er Dtn. 5 in ein Gesetzbuch eingebaut wurde (s. § 5). - Die oben zitierten neutestamentlichen Se 1 i g preis u n g e n sind mit anderen Logien Jesu zunächst zu (einer Vorform) der Bergpredigt zusammengefaßt und damit zu einer Gliedgattung geworden, dann in der Log i e n q u e 11 e Q schriftlich niedergelegt und zuletzt in die Rahmengattung des Evangeliums aufgenommen worden (s. § 5). - Freilich können Gliedgattungen bei ihrer Aufnahme in ein Schriftwerk so durchgreifend bearbeitet werden, daß ihre früheren Formmerkmale fast ganz verschwinden und sie sich nur noch als besondere Vors t e 11 u n g sreihe oder als Traditionskomplex von ihrer Umgebung abheben. In solcher Art sind z. B. Schöpfungserzählungen in bestimmte Psalmen (74, 12-17; 139, 13-16) oder auch in neutestamentliche Briefe (Röm. 4, 17; Kol. 1, 16) als Anspielungen aufgenommen worden19. Bei jeder Exegese ist deshalb nicht nur die Gattung abzu19
Von Gliedgattungen scharf zu unterscheiden sind die Unterarten einer Gattung; z. B. die verschiedenen Ausprägungen beim Klagelied des Einzelnen: Bußklagelied, Vertrauenslied usw. (Dabei ist der Übergang von der Unterart zur Gattung gleitend und die Unterscheidung weithin bloß eine Frage der Terminologie. Ist das Volksklagelied oder das Königsklagelied eine selbständige Gattung oder nur eine Unterart des Klageliedes allgemein? Diese Fragen gehören jedoch nicht in unseren Zusammenhang. Vgl. GuB 251 ff.)
Rahmen- und Gliedgattungen
31
grenzen, sondern zu beachten, ob diese Gattung in einem Verbund mit andern, vielleicht rahmenden Gattungen steht. Das Problem von Glied- und Rahmengattung ist in der formgeschichtlichen Arbeit bisher vernachlässigt worden. GuNKEL hat es nur bei den kultismen Liturgien und bei den Sagenkränzen gesehen und behandelt. In beiden Fällen gab er die Entstehung einer umfassenderen Gattung für einen zeitlich sehr späten Vorgang aus 20 : "Einer fortgesmrittenen Zeit hat es dann nahe gelegen, ,Liturgien' zu bilden ... In solmer Kunstform der ,Liturgie' hatte man ein wunderbares und seinen Zweck nie verfehlendes Mittel, die mannigfachen Stimmungen eines reimer gewordenen Gesmlemtes darzustellen." Der Normalfall bleibt also für GuNKEL die einfache, urtümlime Gattung, die seiner Meinung nam völlig auf sim steht. Wird eine solme Simt aber der Vielfalt des Lebens und der sprachEdlen Formen geremt? Jener Begriff der absoluten Gattung führte auf neutestamentlichem Gebiet DrBELIUS dann zu der Folgerung: "Die Formgesmichte hat es bekanntlim nicht mit den abgesmlossenen literarischen Werken zu tun, sondern mit den kleinen Einheiten, die in mündlicher oder schriftlimer Überlieferung weitergegeben werden, deren Kenntnis wir aber freilich aus Bümern smöpfen, in die sie Aufnahme gefunden haben. Die formgesmichtlime Betradttung im strengen Sinn kann also überhaupt nur bei solchen Werken Platz greifen, die Sammlungen solcher kleinen Einheiten sind oder diese Einheiten in ihren Text einbauen" 21 • Solme Einseitigkeit lag zwar GuNKEL fern; er smloß auch Bücher in die gattungsgesmimtlime Untersuchung ein, sofern sie eine selbständige Verarbeitung darstellen, wenigstens relativ etwas Neues bringen und nicht einfam eine Zusammenstellung älteren Materials beinhalten22 • Inzwischen ist es aum in der neutestamentEdlen Formgesmimte selbstverständlich geworden, mit einer Gattung z. B. des Evangeliums zu rechnen, also auch umfassendere Gattungen in die formgesmimtlime Betrachtung einzuschließen. Das Problem, das sich für den Gattungsbegriff ergibt, wenn er in dieser Weise ausgeweitet wird, ist aber kaum grundsätzlim durmdamt worden. Soweit im sehe, hat allein v. RABENAU an Hand einer Untersumung des profetismen Zukunftswortes das Problem grundsätzlim formuliert: "Faßt man Gattung als den Begriff, der die Form einer Sinneinheit bestimmt, muß man z. B. die gleime Ausprägung des Zukunftswortes einmal ,Gattung', dann wieder ,Teil einer Gattung' ... nennen, weil die gleimen Sätze teils selbständig, teils in Redezusammenhängen gebraumt werden." Er smlägt vor, das Wort Gattung nur für die kleinen, gelegentlim abhängigen Einheiten zu verwenden; die größeren Gebilde aber - also das, was oben Rahmengattung heißt - als "Kombination" zu bezeimnenra.
E. Versuche einer Oberschau über die alt- und neutestamentlichen Gattungen Wie lassen sim die vielen alt- und neutestamentlimen Gattungen einander zuordnen? Das Problem liegt bislang auf alttestamentlimem Gebiet stärker zutage als auf neutestamentlimem, weil nom keine systematisme Zusammensmau aller neutestamentlimen Gattungen dargeboten worden ist 24 • Im Blick auf das Alte Testament hat dagegen smon GuNKEL eine zusammenfassende Darstellung versudtt. 10
Guß 28 f.
u ThR N F 1, 1929 S. 187. 12 KdG 54. za WZ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellsmafts- und sprachwissensmaftlime Reihe V, 1955/6 S. 673. 14 Die einzige Ausnahme stellen die schmalen Bümlein von M. DrBELIUS: Literaturgeschidtte des Urmristentums I und II, Sammlung Gösmen 934/5, 1926, dar.
32
§ 2 Gattungsgeschichte
Sein Abriß über die israelitische Literatur2 5 gliedert den Stoff folgendermaßen: I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller. II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750-540). III. Die Epigonen. GUNKEL gliedert also g es c h ich t 1 ich. Sein Leitgedanke ist, wie an anderer Stelle formuliert: "In der Disposition werden sich die Rücksichten auf die Gattungen und auf die Perioden der Volks- und Kulturgeschichte durchdringen müssen. Denn auch das ist selbstverständlich, daß es eine Literaturgeschichte nur geben kann, wenn sie imstande ist, zu zeigen, wie die Literatur aus der Geschichte des Volkes hervorgegangen und der Ausdruck seines geistigen Lebens gewesen ist" 28 • Spätere Forscher empfanden es als mißlich, daß durch eine solche Epochengliederung z. B. die Gattung Geschichtsschreibung an drei Stellen vorkommt, die einzelnen Schilderungen also weit auseinanderstehen. Deshalb hat sich im formgeschichtlichen Teil der "Einleitungen in das Alte Testament" eine rein s y s t e m a t i s c h e Gliederung durchgesetzt, die in der Regel aus zwei Teilen besteht B. Prosa A. Poesie So z. B. bei WEISER (1 1939, 4 1957) und SELLIN-RosT (9 1959) 27 • Als dritten Teil fügt ErsSFELDT "Sprüche" hinzu; BENTZEN (11948, 3 1953) dagegen einen Abschnitt: "From the smallest literary units to the great literary complexes". Auch innerhalb der so abgeteilten Kapitel wird rein systematisch vorgegangen, unter Prosa erscheinen z. B. bei ErssFELDT: 1. Reden, Predigten, Gebete, 2. Urkunden, 3. Erzählungen. Dabei wird jedesmal das Material eines ganzen Jahrtausends nebeneinandergestellt. Das Vorgehen hat den Vorteil, daß die bei manchen alttestamentlichen Büchern und Buchteilen schwierige zeitliche Ansetzung bedeutungslos wird. Außerdem kommt es den Neigungen der modernen deutschen Literaturwissenschaft entgegen, die von der Überzeugung getragen ist, "daß die Kräfte, die das sprachliche Gefüge der Dichtung wie ihre Form bilden, fast überall die gleichen sind" 28 • Deshalb sind schon bei ]OLLES die Einfachen Formen Ausdruck dessen, was sich zeitlos im Grunde bei allen Völkern und in allen Epochen findet. Die Gattungen ordnen sich hier - von aller zeitlichen Bindung gesäubert- aneinander wie Perlen an einer Schnur. Eine Wesensschau der jeweiligen Gattung wird möglich. Der Preis, den eine solche systematisierende Betrachtung zahlt, ist freilich der, daß die Gattungs g es c h ich t e nicht zum Tragen kommt. Daß es Gattungen in der Bibel gibt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden, aufgeblüht und dann abgestorben sind, wird belanglos. Doch gibt es kaum eine Gattung, die sich vom frühen Israel bis zum hellenistischen Urchristentum hindurch behauptet hat, abgesehen vielleicht von alltäglichen Formeln wie Begrüßung und Verabschiedung und "wertfreiem Schriftgut" wie dem Brief (aber wie wandelt sich gerade dieser!) 29 • Die großen Umbrüche in der Literaturgeschichte Israel wie der urchristlichen Zeit werden bei solcher Betrachtung übergangen. Das Auseinanderreißen der zusammengehörigen Gattungen dagegen läßt sich auch hier nicht vermeiden. So steht eine Gattung, die einmal poetisch, einmal prosaisch auftreten kann, in völlig verschiedenen 25 26 27 28
29
In KdG 56 ff. Entsprechend die Gliederung von SAT. RuA 37. Die von FüHRER bearbeitete 10. Auflage 1965 bringt nacheinander Geschichts-, Lieder-, Weisheits- und Profetenbücher. W. KAYSER a.a.Ü. 6. Nicht anders ist es im Bereich anderer Sprachen. Die griechische Gattung der Tragödie z. B. ist mitsamt dem Theater in der Spätantike untergegangen. Wenn man in der Neuzeit wieder auf sie zurückgegriffen hat, so war das ebensosehr eine Nachahmung wie eine grundlegende Veränderung der alten Gattung. Von einer zeitlosen, allgemein-menschlichen Form ,Tragödie' kann also keine Rede sein.
Zusammenfassende Oberschau biblischer Gattungen
33
Kapiteln, wie z. B. das (poetische) Fürbittegebet eines Psalmisten und das (prosaische) Fürbittegebet des Königs (z. B. 1. Kö. 8). Jede Weise der umfassenden Darstellung alt- und neutestamentlicher Gattungen hat also ihre Nachteile, wenngleich die Nachteile bei der systematisierenden schwerwiegender zu sein scheinen. Entscheidend ist aber in jedem Fall, daß in der Darstellung die Geschichte jeder einzelnen Gattung sichtbar wird und die -Zeit deui:ll.ch hervortritt, in der sie gebräuchlich war. Weiteres unten§ 9.
§ 3 Sitz im Leben
34
§ 3 SITZ IM LEBEN A. Literatur und Leben Wie kommt es, daß alle Literatur sich in Gruppen mit festen Formmerkmalen sondert? Woher rührt die Verschiedenheit der Gattungen? Der Grund dafür liegt in der Verschiedenheit der L e b e n s1a g e, in der sich der Schreibende oder Redende befindet. Wer schreibt, denkt an einen ihm bekannten Adressaten oder an einen mehr oder weniger festumrissenen Leserkreis. Wer redet, wendet sich an einen bestimmten Zuhörerkreis. Die geschichtliche Lage beider Partner spiegelt sich deshalb in der Form der Sprache wider. Ihr privates oder institutionelles Verhältnis erfordert eine jeweils verschiedene Art des Redens. j(!c:kr Gattung __entspricht somit ein besonderer Sitz im Leben, wie GuNKEL es treffend genannt hat. Die Bedürfnisse und Gesetzmäßigkeiten der einzeinen Lebensbereiche bestimmen und formen die dazugehörige Weise des Redens und Schreibens, wie umgekehrt die herkömmlichen sprachlichen Formen das Gesicht des betreffenden Lebensbereiches prägen. Nicht Wucherung einer üppigen Phantasie ist es also, wenn in der Literatur eines Volkes zahlreiche Formeln und Gattungen nebeneinander gebraucht werden, sondern J\u~~E_uck cier Vielfalt menschlichen Lebensvollzugs. Die gattungs- oder formgesChichtliche Methode "beruht auf der Einsicht, daß in jeder einzelnen Literaturgattung, solange sie ihr eigenes Leben führt, bestimmte Inhalte mit bestimmten Ausdrucksformen fest verbunden und daß diese charakteristischen Verbindungen nicht etwa erst v~n Schriftstellern nachträglich und willkürlich den Stoffen aufgeprägt sind, sondern von jeher, also auch schon in der Frühzeit volksmäßiger mündlicher Gestaltung und Überlieferung vor aller Literatur, wesenhaft zusammengehörten, da sie den besonderen, regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen und Bedürfnissen des Lebens entsprachen, aus denen die Gattungen je für sich erwuchsen" 1• So gehört der Reklamebrief, von dem ich ausgegangen bin, dem wirtschaftlichen Bereich der modernen Zivilisation zu. Innerhalb des westlichen Wirtschaftsgefüges, der Verflechtung von Angebot und, Nachfrage, ist so etwas wie der Reklamebrief unentbehrlich. Durch ihn sucht eine Firma einen Käuferkreis zu gewinnen. Die Marktwer b u n g eines Unternehmens ist also der Sitz im Leben eines Reklamebriefs. Er dient einem ganz bestimmten Zweck; diesem Zweck. werden seine Ausdrucksweise und seine Aufmachung angepaßt. Anders der Sitz im Leben der Predigt. Sie gehört auf die Kanzel, also in den christlichen Gottesdienst, und ist in diesem Rahmen jahrhundertelanger Tradition gewachsen. - Solche Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Wo sich literarische Formen nachweisen 1
ALT
i, 284 f.
Literatur und Leben
35
lassen, entspringen sie einem besonderen Lebensbereich. Wenn es keine neutrale oder gattungsfreie Schrift oder Rede gibt, so rührt das also daher, daß jeder Mensch, sobald er spricht oder schreibt, sich einem bestimmten Sitz im Leben einordnet, meist ohne sich dessen bewußt zu sein. Er übernimmt eine bestimmte Rolle, wie es die Gesellschaftswissenschaft nennt. Deshalb genügt es nicht, wenn der Ausleger literarische Formen und ihre Geschichte untersucht; er muß auch ihrem Sitz im Leben nachspüren. In der formgeschichtlichen Arbeit berühren sich Literaturwissenschaft und Soziologie, weil jede Gattung eine "soziologische Tatsache" darstellt2 • Diese Erkenntnis verwehrt eine allzu einfache Scheidung zwischen Geistesgeschichte und wirtschaftlich-politischer Geschichte. In der Regel ist es nicht einfach so, daß einem Sitz im Leben jeweils nur eine Gattung entspricht. Zur Marktwerbung eines Unternehmens gehören neben Reklamebriefen auch Plakate in den Schaufenstern, unter Umständen sogar an den Litfaßsäulen, oder mündliche Werbung durch Firmenvertreter bei Geschäftsleuten und Privatpersonen. Und der Sonntagsgottesdienst besteht nicht nur aus einer Predigt! Von der Verbindung mit dem Sitz im Leben her wird auch das Verhältnis von Rahmen- und Gliedgattungen verständlich. das oben entdeckt wurde. Die Liturgie z. B., die zum Sonntagsgottesdienst als ihrem Sitz im Leben gehört, besteht notwendig aus einer Anzahl von Gliedgattungen: aus Lied, Gebet, Segensformel, Predigt und anderen, weil die Haltung der Gemeinde im Gottesdienst wechselt. Einmal tritt die Gemeinde bekennend Gott gegenüber, dann wieder verharrt sie in Andacht beim Vortrag des göttlichen Wortes. Ein Sitz im Leben fächert sich also in eine Mehrzahl von Gattungen auf, die enger oder loser miteinander verbunden sind und je ihre besondere Funktion ausüben. Sitz im Leben meint eine gesellschaftliche Gegebenheit, eine typische Handlungsweise innerhalb einer Institution, die durch das Brauchtum der jeweiligen Kultur hergebracht ist und dem S p r eehenden samt den Hörern oder dem Schreibenden samt 2
K. L. ScHMIDT, RGG 2 li, 639, vgl. DrBELIUS, Formgeschichte S. 7 und BuLTMANN, Tradition, 2S. 4 5S. 6; ähnlich MowrNCKEL, Prophecy S. 43: "Every typical situation in life had its definite things that should be done and said." GRESSMANN zählt deshalb unter denen, die zur Formgeschichte angeregt haben, TArNE, RrEHL, NAUMANN, LAMPRECHT und WuNDT ·auf (A. Eichhorn und die religionsgeschichtliche Schule 1914). GuNKEL wollte freilich vom Sitz im Leben nur bei mündlichen Gattungen reden. Er meinte, daß die Gattungen diesen Mutterboden "in entwickelterer Zeit, als die Schrift zur Herrschaft über das geistige Leben emporstieg, . . . zugunsten des geschriebenen Buches mehr oder weniger aufgegeben haben" (ZA W NF 1, 1924, S. 183). Wenn er dem Buch den Sitz im Leben abspricht, hat er den modernen Büchermarkt mit Literatur aller Sparten vor Augen, nicht die traditionsgebundene Weise altorientalischer Schreiberpraxis. Selbst für das gegenwärtige Leben stimmt oolche Ansicht wohl nur bei flüchtiger Betrachtung.
J 3 Sitz im Leben
36
den Lesern eine so feste Rolle zu weist, daß der Gebrauch eigener sprachlicher Gattungen notwendig wird.
B. Hintergrund der Seligpreisung
Was heute gilt, gilt ebenso für das Urchristentum. Der briefliche Verkehr des Apostels mit seiner Gemeinde als Sitz im Leben erfordert die Gattung des Gemeindebriefs; die missionarische Verkündigung des Evangeliums vor den Heiden führt zum Typ der Missionspredigt. Ist der Sitz im Leben aber vielgestaltiger, fächert er sich in mehrere Gattungen auf. Feiert die christliche Gemeinde unter sich das Herrenmahl, benutzt sie feierliche Formen zum Vollzug des Sakraments, Gebet und Lieder. Teils genügt also eine einzelne Gattung, die für sich steht, wie beim Gemeindebrief; teils kommt es zum ausgedehnten Gefüge von Rahmen- und Gliedgattungen wie bei der Liturgie des Herrenmahls.- So hatten auch die Seligpreisungen gewiß ihren festen Sitz. Der ist zunächst in der christlichen Gemeinde nach Ostern zu suchen; denn von ihr hat der Matthäus-Evangelist (bzw. sein Vorgänger, der Verfasser der Logienquelle) dieseSpruchreihe übernommen. Leider ist nicht mehr erkennbar, bei welcher Gelegenheit in den urchristlichen Gemeinden die Seligpreisungen vorgetragen wurden. Gewiß bei einem feierlichen Anlaß, bei dem das bald hereinbrechende Reich Gottes gefeiert wurde. Geschah das aber im Rahmen eines Predigtgottesdienstes, etwa als Ausgangstext für eine Verkündigung an die Gemeinde? Der alttestamentliche Brauch, Seligpreisungen an den Anfang einer Weisheitsrede zu stellen, und die jetzige Stellung der Makarismen bei Matthäus am Anfang der Bergpredigt und bei Lukas (Kap. 6) am Anfang der Feldrede, läßt solche Vermutung aufkommen; beweisbar ist sie nicht 3 • Leider wissen wir auch über die Verwendung des eschatologischen Makarismos in apokalyptischen Kreisen vorchristlicher Zeit nichts. War der Sprecher dort eine besonders autorisierte Persönlichkeit, wie es einst bei der weisheitliehen Seligpreisung der Weisheitslehrer war? Steht dem eine Schar lernbeflissener Schüler gegenüber, die solche Sprüche auswendig lernen? Ist gleiches in der christlichen Gemeinde vorauszusetzen? Bei welcher Gelegenheit und zu welchen Leuten hat schließlich ] es u s selbst, von dem dieUrgemeindedieGattung übernommen hat, solche Selig-Rufe verkündet4 ? 3
4
An Verbindung zum kultischen Makarismos in hellenistischen Mysterien denkt ARVEDSON: Das Mysterium Christi, Arbeiten und Mitteilungen aus dem Neutestamentlichen Seminar zu Uppsala, 1937 S. 95 f. - G. BRAUMANN: Zum traditionsgeschichtlichen Problem der Seligpreisungen Mt V 3-12, Novum Testamenturn IV 1960,253-260, verbindet sie mit der Taufe. Der feierliche, dem Segen verwandte Charakter der Seligpreisungen läßt fragen, ob sie ursprünglich tatsächlich in der aramäischen Volkssprache - wie
Seligpreisung und Dekalog
37
Sitz im Leben meint nicht die besondere einmalige Gelegenheit, bei der Jesus die Matth. 5 überlieferten Seligpreisungen vortrug, sondern das typische Verhältnis zwischen ihm und seiner Anhängerschaft, das solche feierlichen Worte aus seinem Munde möglich machte5• Denn Seligpreisungen sind gerade nicht, wie es modernen Ohren scheinen mag, spontane Ausrufe, sondern nach ihrer Gattungsgeschichte überlegt formulierte Lehre, die gelernt und weitervermittelt werden will, sie setzen einen Tradentenkreis voraus, Schüler, JüngerS. Sieht man Matth. 5, 3 f. auf formgeschichtlichen Hintergrund, so erhält man ein gewichtiges Argument in der gegenwärtigen Auseinandersetzung unter den Neutestamentlern, ob Jesus nur ein vom nahenden Eschaton gepackter Volksprediger war und ihm jeder Gedanke an eine organisierte Jüngerschaft fernlag, oder ob er bewußt darauf aus war, einen Schülerkreis um sich zu sammeln.
C. Hintergrund der apodiktischen V erhotsreihen Vom Dekalog (und ähnlichen Verboten) wird häufig mitgeteilt, daß Mose diese debarim auf Steintafeln einritzte oder, wie es in einem anderen Strang heißt, daß Gott selbst die Worte eingraviert hatte und die beiden Tafeln Mose übergab. (Ex. 24, 4; 31, 18; 32, 5 f; 34, 1. 4 u. ö.) Das gibt einen ersten Hinweis auf den Sitz im Leben an die Hand. Wie die Historizität dieser Notiz auch zu beurteilen ist, nach den Gesetzmäßigkeiten israelitischer Erzählungen ist die häufige Erwähnung nur begreifbar, wenn noch in Gegenwart der Erzähler solche Steine zu sehen waren. Nach Dtn. 27, 1-4; Jos. 8, 32; 24, 25-277 standen am altberühmtenHeiligturn in Sichern solche Steine. Jüngere Nachrichten melden, daß die Tafeln in der Bundeslade ihren Ort fanden (Dtn. 10, 1-5), auch das deutet auf den kultischen Bereich als Aufbewahrungsort. Es genügt freilich nicht zu behaupten, wie es heute weithin üblich ist, "der Kult" sei der Sitz im Leben der apodiktischen Gebote. Die Vokabel Kult umreißt einen Lebensbereich Israels, der nur ungefähr gegen andere Lebensbereiche abzugrenzen
5
8 7
meist angenommen - oder ob sie nicht eher in der hebräischen Sakralsprache abgefaßt waren (wie die Beispiele aus Qumran bei STARCKY, RB 1956 S. 67). H. ScHÜRMANN: Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, hg. von RrsTow-MATTHIAE. 1960, 342-'-370. Es paßt zur Gattung, daß die Seligpreisung Matth. 13, 16; 16, 17; Luk. 10, 23f; 12, 37f. 43 mit besonderer Jüngerbelehrung verbunden wird. Nach dem jetzigen Zusammenhang von Dtn. 27 steht auf den Steinen das gesamte Buch Deuteronomium, was aber kaum auf Steinen unterzubringen war! Der Brauch war zweifellos einst auf die debarim beschränkt. Jos. 24, 25-27 schreibt Josua "die Worte" in ein Buch der Tora, daneben wird ziemlich unmotiviert ein Stein erwähnt, "der alle Worte Jahwäs gehört hat" und bezeugt. Vermutlich ist das Buch im Lauf der Zeit in Sichern an die Stelle der Steininschrift getreten.
38
§ 3 Sitz im Leben
ist, aber seinerseits aus einer Reihe scharf voneinander abgegrenzter Sitze im Leben wie z. B. Opferfest oder Orakelbefragung besteht. Die Bezeichnung "Kult" ist also eine höchst vorläufige Bestimmung.
Alle Stellen, die von solchen Steinen reden, setzen voraus, daß die Gebote nicht nur an heiliger Stätte eingraviert und aufgestellt, sondern daß sie auch der Kultgemeinschaft vorgetragen worden sind. Wo und wann geschah solcher Vortrag? Einmal oder öfter? MowiNCKEL, der das Problem als erster gesehen hat8, hat auf Ps. 15 (ähnlich Ps. 24) hingewiesen, wo verwandte Formulierungen auftauchen: Nicht hat er verleumdet mit seiner Zunge. Nicht hat er seinen Gefährten Bosheit angetan. Schändliches brachte er nicht über seinen Nächsten. (V. 3 f). Auch hier wird offenbar auf apodiktische Verbote angespielt. Der Sitz im Leben des Psalms ist eindeutig. Es handelt sich um einen Brauch, nach dem die zum Fest nach Jerusalem gekommenen Pilger in feierlichem Zug den Tempelberg emporsteigen. Vor Erreichen des Heiligtums werden sie von einem Priester (Chor) aufgehalten und nach ihrer Rechtschaffenheit gefragt: im Rahmen einer Tempeleinlaß- Liturgie oder, wie man auch zu sagen pflegt, einer Einzugstora. Das Ganze findet vor der eigentlichen kultischen Begehung statt, die dann innerhalb des Heiligtums anhebt, und ist eine unerläßliche Vorausset7.ung dafür. Hier meinte MoWINCKEL den Sitz im Leben der Dekaloge zu finden. Aber dagegen spricht mancherlei. Vor allem ein kleiner, aber gewichtiger formaler Unterschied. Während die apodiktischen Gebote in der Anrede gehalten sind und im Imperfekt, wird in der Einlaß-Liturgie durchweg unpersönlich und im Perfekt geredet. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Einlaß-Liturgien von den apodiktischen Gebotsreihen abhängig sind und jene anscheinend an einem anderen Ort beheimatete Gattung abkünftig verwenden 9•
Andere 'Psalmstellen hat v. RAo10 herangezogen, um den Ort des apodiktischen Gebots zu bestimmen. Er verweist auf Psalm 50. Nach einer Schilderung, wie Jahwä mit Feuer und Sturm zur Kultgemeinde herankommt, heißt es (V. 5. 7.): Versamm(!lt mir die Gemeinde I die den Bund mit mir über dem Schlachtopfer gesmlossen. Höre, mein Volk, im will zu dir reden I mich bezeugen, lstael, in dir. Ich bin ,Jahwä' dein Gott ... Der letzte Satz ist offenbar ein Zitat aus dem Anfang des Dekalogs; vermutlich ist er für den Psalmsänger das agendarische Stichwort, den bekannten Dekalog zu zitieren (nur so ist jedenfalls das im Zusammenhang auffällige Fehlen der Wechselzeile des Parallelismus membrorum zu erklären). Darauf folgt im Psalm eine paränetische Rede. Der Text spiegelt eine Begehung im Jerusalemer Tempel wider, bei der es offenbar um die Feier des Gottesbundes (vom Sinai) ging. Das gleiche Muster eines kultischen Ablaufs wird hinter Ps. 81 greifbar, wo ebenfalls nach einer Erinnerung an die Heilsgesdlichte die Gottesrede aufklingt (V. 9. 11. 10): 8 9
10
Le Decalogue. Etudes d'histoire et de philosophie religieuses 16, 1927. K. KocH, Tempeleinlaßliturgien und Dekaloge, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen 1961, 45-60. Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch BWANT IV, 26, 1938 = GS 9 ff.
Apodiktische Verbotsreihen
39
Höre, mein Volk, ich will mich in dir bezeugen/Israel, wenn du doch auf mich hörtest! Ich bin Jahwä, dein Gott I der dich aus dem Lande 2\gypten herausgeführt. Nicht sollst du einen fremden Gott haben I nicht dich niederwerfen vor einem ausländischen Gott. Die Anspielung auf den Dekalog ist unverkennbar. Auch hier folgt eine paränetische Rede. Die Psalmen lassen vermuten, daß der Dekalog regelmäßig bei einer kultischen Begehung, zu der das gesamte Volk versammelt war, feierlich rezitiert wurde. Läßt sich der Charakter der Feier näher bestimmen? 1) Ps. 50 setzt eine ebenso großartige wie erschreckende Theofanie Jahwäs an dem Kultort zu diesem Fest voraus. Auch Ex. 19 und Dtn. 5, 5. 22 f lassen eine Theofanie dem Dekalogvortrag vorangehen. Daraus erklärt sich der Eingang mit der Selbstvorstellung: Ich bin Jahwä. Auch die apodiktische Verbotsreihe Ex. 34 ist einem solchen Ereignis zugeordnet (V. 5 f). Die Verbindung mit der Theofanie ist also der Gattung eigen11 • 2) Ps. 50 läßt den Dekalog auf eine Bundesfeier folgen, bei der anscheinend der alte Bund zwischen Jahwä und Israel vom Sinai erneuert wird (vgl. 2. Kö. 17, 35; Jer. 22, 9; Dtn. 9, 9. 11. 15). Eben diesen Bund ordnen Ex. 20 (mit 24) und Dtn. 5 (V. 3) dem Erstvortrag des Dekalogs zu. Auch dort, wo nicht vom klassischen Dekalog die Rede ist, sondern von anderen debarim, wird kurz vorher oder nachher auf Bundesschluß verwiesen (Ex. 34, 10. 27 [24, 8]; Dtn. 27, 9; ]os. 24, 25). Solche Bundeserneuerungsfeiern mit Vortrag apodiktischer Verbotsreihen wi,!d es einst an den Heiligtümern von Sichern und von Jerusalem gegeben haben12 • Eine andere Verwendung der Gattung als beim Bundesfest ist nirgends zu erkennen18 14 • Nun sind gewiß nicht alle apodiktischen Reihen am 11
12
13
14
Wie die Theofanie sich abgespielt hat, die in Jerusalem nach vielen Belegen die Kultgemeinde bei großen Festen erlebt hat, ist noch ungeklärt; s. A. WEISER in: Festschrifl: für A. Bertholet 1950, 513-531; H.-P. MüLLER, VT XIV 1964, 183-191; J. ]EREMIAS: Theophanie, WMANT 10,1965. Später werden bei Bundesfeiern ganze Tora-Sammlungen verlesen 2. Kö 23, 1-3; Dtn. 31, 9-11; Neh. 8. Eine Ausnahme bilden einzig die fünf Regeln, die Jonadab ben Rechab als "Sektengründer" hinterlassen hat und in denen GERSTENHERGER den Beweis sieht, daß apodiktische Verbote letztlich aus dem Sippenethos stammen, Jer. 35, 6 f. Aber diese Stelle ist pluralisch formuliert und stammt aus junger Zeit. - Die Verbotsreihe über Geschlechtsverkehr mit Verwandten Lev. 18, 6-17 setzt voraus, daß die Großfamilie mit mehreren Generationen in derselben Behausung wohnt. K. ELLIGER ZAW 67, 1955, 1-25 fragt, ob das Zusammenwohnen der Sippe nicht aus der Nomadenzeit Israels stamme. Aber nicht im nomadischen Zelt, sondern in den engen Häusern altisraelitischer Städte wohnen so viel Menschen zusammen. Deshalb nimmt bis in die nachexilische Zeit hinein die Bedeutung der Sippe nicht ab, sondern zu (vgl. P und den Chronist) und bleibt stets für das Gottesverhältnis gewichtig. Damit entfallen die weitreichenden Schlüsse, die G. FoHRER, Kerygma und Dogma 11, 1965, 49-74 aus Lev. 18 und Jer. 35 ziehn will. Gegen einen Bezug der Zehn Gebote Ex. 20 zum Kult wird oft angeführt, daß
40
§ 3 Sitz im Leben
seihen Heiligtum und bei der gleichen Gelegenheit vorgetragen worden. So scheint der klassische Dekalog in Jerusalem nicht von Anfang an bekannt gewesen zu sein; was der jerusalemische Priester Hesekiel (Kap. 18) und die Einlaß-Liturgien der Psalmen (sowie das wohl Jerusalemer Heiligkeitsgesetz Lev. 18 f) an Verboten zitieren, stammt aus andern Reihen. Der klassische Dekalog stammt wohl - wie der "Jakob" und "Josef" anredende Ps. 81 - aus N ordisrael. Der nordisraelitische Profet Hosea ist der erste, der auf ihn anspielt (4, 2). Vielleicht ist diese Reihe im Zuge der josianisch-deuteronomischen Kultusreform 622/1 in Jerusalem eingeführt worden. 3) Bei der Feier tritt als Sprecher ein beamteter Ku 1t diene r 15 hervor und verkündet die Verbote als Gottes eigenes Wort. Die unmittelbare Gleichsetzung von kultischer und göttlicher Rede wird allerdings im Lauf der Zeit eingeschränkt. Aus der älteren Formulierung im göttlichen Ich Ps. 24, 4 "Du sollst nicht meine Energie (tU~~) benutzen zu unlauterem Zweck" wird (unter deuteronornisehern Einfluß) Ex. 20, 7 "Du sollst nicht den Namen Jahwäs (3. pers.!) benutzen zu unlauterem Zweck." Aus der Begründungsklausel (Ex. 20, 5) "Denn ich, Jahwä, . . . bin eine eifernde Gottheit" wird auf jüngerer Stufe Ex. 34, 14 "denn Jahwä ... ist eine eifernde Gottheit". 4) Angesprochen ist die Kultgemeinschaft, die erwachsenen und freien israelitischen Männer (apodiktische Verbote sind von Haus aus keine Kinderlehre I), die allein kultberechtigt sind16 • Was sich als Sitz im Leben der apodiktischen Verbotsreihen herausschält, gleicht in mancher Hinsicht dem Sitz im Leben der h e t h i t i s c h e n Bündnisformulare (Staatsverträge vgl. § 2). Auch diese stehen nämlich auf Tontafeln, die an einem Heiligtum a'ufbewahrt werden. Sie sind außerdem regelmäßig feierlich und öffentlich zu verkünden. Außerdem hat der Vasall ein- oder mehrmals jährlich vor dem Groß k ö n i g p er s ö n 1i c h zu erscheinen, wie es ähnlich dem Israeliten auferlegt wird (Ex. 23, 17; 34, 23). Doch sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Der königliche Charakter Jahwäs spielt beim Bundesschluß keine entscheidende Rolle. Und die der israelitischen Kult- und Volksgemeinschaft auferlegten Ge- und Verbote werden von dieser nicht durch S c h w ur übernommen, wie es für den hethitischen Vasall unabdingbar ist.
Dieser Sitz im Leben ist für die theologische Einordnung des Dekalogs natürlich von größter Bedeutung. Solche Verbotsreihen sind kein in sich
15
18
in diesen Sätzen keine kultische Vorschrift erscheine. Aber Gottesname und -bild wie auch Sabbat betreffen eindeutig sakrale Tatbestände. Von Opfern und Festen verlautet nichts, weil es dafür andere Reihen gab. "Vom Dekalog waren ja die Laien angeredet, und zwar auf ihren Alltag hin, auf ihr profanes Zusammenleben in ihren Verbänden draußen im Land, d. h. also auf das Leben hin, das sie nach vollzogenem Bundesschluß und nach ihrer Rückkehr in ihren heimischen Bezirken zu führen hatten" (v. RAn: Theologie I 4 206). ALT denkt an einen Priester, NoTH an den "Richter Israels" (Festschrift A. Bertholet 1950, 404 ff.), KRAUS an einen Kultprofeten und Träger des "mosaischen" Amts (Gottesdienst in Israel 2 1962 S. 128-133). Der Vortrag apodiktischer Reihen wurde vielleicht (von Anfang an?) durch genauere rechtliche Einzelbestimmungen (Ex. 21 f, Lev. 20 f ?) oder durch Paränesen (Ps. 50, 81; Dtn. 6 f) fortgesetzt. Die Feier scheint mit der Ver-
Notwendigkeit der Fragestellung
41
ruhendes Gesetz, das den Hörer mit absoluten göttlichen Forderungen konfrontiert und damit der Sünde überführen will. Vielmehr setzt der kultische Vortrag solcher Reihen voraus, daß die göttliche Heilstat der Bundesstiftung allem geforderten Tun des Menschen weit voraufging17 • Die negativen Sätze markieren nur die Grenze, jenseits derer ein bundesgemäßes Leben nicht mehr möglich ist. Zugleich vermitteln die debarim als kultisch verkündetes wirksames Wort dem Hörer das Vermögen18, diese Grenzlinie zu beachten und nicht zu überschreiten19• So sichern sie die Ordnung des Bundes durch ein fortwährendes gemeinschaftstreues Verhalten der einzelnen "Bundesgenossen". Die formgeschichtliche Arbeit ist erst wenige Jahrzehnte alt; dennodl lassen ihre Ergebnisse erkennen: kein biblischer Text ist zureichend zu erfassen ohne Blick auf den Sitz im Leben seiner Gattung, und umgekehrt: kein Lebensbereich des altenIsraelund der urchristlichen Gemeinde ist erschöpfend zu beschreiben ohne eingehende Berücksichtigung aller zugehörigen Gattungen. Um von einem Text zu seinem Sitz im Leben vorzustoßen, sind deshalb stets bei der Exegese die Fragen zu stellen: "Wer ist es, der redet? Wer sind die Zuhörer? Welche Stimmung beherrscht die Situation? Welche Wirkung wird erstrebt?" 20 • Daß es durch den großen historischen Abstand und die Spärlichkeit des Materials nicht immer möglich ist, die Verwurzelung biblischer Literaturformen eindeutig zu erheben, tut der Notwendigkeit dieser Betrachtung keinen Abbruch. Wo ein Lebensbereich besonders ausgedehnt ist und sich eigenständig entfaltet, entsteht eine Fachsprache, die dann alle seine Gattungen durchzieht. So hat z. B. der Kult des Jerusalemer Tempels seine eigene Ausdrucksweise, die sich von der des Rechtslebens z. B. unterscheidet. Ein und dasselbe Wort- etwa sädäq, heilskräftige Gemeinschaftstreue - kann sehr verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem ob es hier oder dort benutzt wird. Das Wort "eifersüchtig" im Blick auf Jahwä im Deka-
17
18
19
20
kündigung von Segen und Fluch geendet zu haben vgl. Ex. 23, 20 f; Dtn. 27 f; Lev. 26; Ps. 81, 14 f). Zum Bund als Voraussetzung israelitischen Rechts überhaupt: M. NoTH: Die Gesetze im Pentateuch 1940 = GS 9 ff. Die Funktion des apodiktischen Gebots ist, den Bund zu bezeugen ('n:V Ps. 50, 7; 81, 9; Jos. 24, 27 vgl. Ex. 31, 18; 32, 15 f). Was der Israelit darunter verstand, bedarf näherer Klärung, die vom formgeschichtlich ermittelten Sitz im Leben her möglich wird. Vgl. das akkadische ade als Bezeichnung der Staatsverträge. Die ältesten Überlieferungen vom Bund Gottes mit Israel (Gen. 15 urid der Grundbestand von Ex. 24) zeigen noch keine Spur von formulierten Verpflichtungen des Volkes. Anscheinend ist dieser Zusammenhang von Bund und Verbot erst allmählich - unter Einfluß des kanaanäischen el berit von Sichern? Israel bewußt gevorden. Vgl. K. KocH: Der Tod des Religionsstifters, Kerygma und Dogma 8, 1962 S. 110 f. GuNKEL, RuA 33; der Begriff Stimmung bedeutet in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts meist "Stimmung der Situation" und weniger einen psychologischen Zustand im engeren Sinn.
42
§ 3 Sitz im Leben
log meint anderes als der gleiche Ausdruck im Liebesleben. Bei jeder begriff sg es c h ich tl ich e n Untersuchung des hebräischen WortsdJ.atzes ist es deshalb widJ.tig, auf die Gattung und damit auf den Sitz im Leben zu achten, wo das zu untersuchende Wort beheimatet ist; eine Aufgabe, die bisher noch kaum in Angriff genommen worden ist. Genauso ist bei neutestamentlichen Begriffen darauf zu achten, inwieweit die palästinensische und die hellenistisdJ.e Gemeinde jeweils ihre eigene SpradJ.e ausgebildet hat, die sich von anderen LebensbereidJ.en deutlidJ. abhebt. Wenn Paulus bei der Verhandlung mit einer römischen Provinzialbehörde das Wort dikaiosyne gebrauchte, wird er damit etwas anderes gemeint haben, als wenn er in der Gemeindeversammlung das gleiche Wort benutzte. (Zu semantischen Methoden s. das Nachwort.)
D. Verwandtschaft mit der altorientalischen und hellenistischen Kultund Sozialgeschichte
Wer formgeschichtlich arbeitet, verwundert sich immer wieder, wie sehr die Lebensbereiche des vorchristlichen Israel und der urchristlichen Zeit von denen unseres Jahrhunderts unterschieden sind. Die moderne Wissenschaft und Wirtschaft waren damals so unbekannt, wie es heutzutage das Leben und Treiben eines altorientalischen Königshofes oder hellenistischer Mysterienkulte sind. Die Pflege der Weisheit z. B., der wir das Buch der Sprüche verdanken, ist verschwunden; der Tempel zu Jerusalem besteht nicht mehr, seine Verhältnis~e und Gattungen sind mit denen des modernen Kirchenturns kaum zu vergleichen. Die Funktion der Apostel hat mit dem Tod der ersten christlichen Generation aufgehört. Der Unterschied der Lehensbereiche damals und heute spiegelt sich im Unterschied der sprachlichen Formen. Literaturarten, die uns selbstverständlich sind, kannte man damals nicht, und viele Gattungen der Bibel sind uns nur noch schwer zugänglich. Wo eine biblische Gattung sich, wenn auch unter starken Wandlungen, bis in die Neuzeit durchgehalten hat, ist das Verstehen am leichtesten möglich. Das gilt vor allem für bestimmte Gesetzestexte oder neutestamentliche Abschnitte, die als Sitz im Leben die Predigt haben. Auch zu den Psalmen haben die christlichen Kirchen leichteren Zugang, weil sich in den christlichen Gesangbüchern vergleichbare Gegenstücke finden. Solche Gattungen bleiben lebendig, weil die tragenden Institutionen sich durchhalten. Aber solche Fälle sind verhältnismäßig selten. Meist sind zuerst gründliche historische Überlegungen über den Sinn der alten Gattung und ihres Sitzes im Leben notwendig, ehe ein Verständnis möglich wird. Selbst dann birgt jede Bezeichnung noch die Gefahr vonMißverständnissen in sich, da sienotwendig miteinermodernen Vokabel arbeitet. Nenne ich einen profetischen Spruch, im Namen Jahwäs vorgetragen, eine Gerichtsrede - welche Assoziationen rufe ich damit nur zu schnell beim modernen Betrachter hervor! Rede ich vom Sitz im Leben bestimmter neutestamentlicher Überlieferungen
Verwandtschaft mit altorientalischen und hellenistischen Kulturen
43
als Predigt - was ist damit nicht alles, insbesondere für einen protestantischen Leser, impliziert! Sind die altisraelitischen und urchristlichen Lebensbereiche samt den literarischen Formen, die sie aus sich herausgesetzt haben, von allem, was heute üblich ist, weit entfernt, so stehen sie den Institutionen des Altertums um so näher. Königshof und Tempel bestimmen in ähnlicher Weise für Agypter, Babylonier, Assyrer das alltägliche Leben wie für den Israeliten. Wanderprediger wie Paulus - und Jesus gab es in der spätisraelitischen Proselytenmission wie in der stoischen Popularphilosophie. Kein Wunder, daß viele alttestamentliche Gattungen sich in diesen Nachbarliteraturen ebenfalls nachweisen lassen. Ist die Sprache der Bibel die verläßliche Kunde von der Offenbarung des einen Gottes und der letzten Bestimmung des menschlichen Daseins, so haben dazu nicht nur die Sprachen des Altertums ihr Teil beigesteuert, sondern auch die kultischen und so z i a 1e n Ver h ä 1tnisse in den Völkern, die Israel und der Urchristenheit benachbart waren. Es genügt nicht hervorzuheben, wo Israel und die Urchristenheit sich von Nachbarvölkern und -religionen unterscheiden; es ist ebenso nötig herauszustellen, wo sie positiv anknüpfen, gedanklich wie institutionell. Erst dann wird die formgeschichtliche Erkenntnis über den Zusammenhang von Gattung und Sitz im Leben, von Sprache und äußerer Geschichte, theologisch ernstgenommen. E. Trägheit der literarischen Gattungen und Oberwechseln zum anderen Sitz im Leben
Kraft der engen Verbindung von Sprache und Leben wirken Veränderungen eines Sitzes im Leben und damit der Volks- und Wirtschafts-, Religions- und Kulturgeschichte bei dem Wandel der Gattungen mit. Den Zusammenhang hat GuNKEL treffend hinsichtlich der volkstümlichen Sagen in der Genesis formuliert: "Wenn ein neues Geschlecht gekommen ist, wenn sich die äußeren Verhältnisse geändert haben, oder wenn sich die Gedanken der Menschen verschoben haben, sei es die Religion oder die sittlichen Ideale oder der ästhetische Geschmack, so kann auch die volkstümliche Sage auf die Dauer nicht dieselbe bleiben. Langsam und zögernd, stets in gewisser Entfernung, folgen die Sagen den allgemeinen Veränderungen, die einen mehr, die anderen weniger. Hier also bieten uns die Sagen einen außerordentlich wichtigen Stoff zur Erkenntnis der Wandlungen im Volke; eine ganze Geschichte der religiösen, sittlichen und ästhetischen Urteile des alten Israelläßt sich aus der Genesis schreiben. 21 " !t
Genesis S. LXV.
44
§ 3 Sitz im Leben
Was hier gesagt wird, gilt aber nicht nur für die Sage, sondern für die Literatur schlechthin. überall wird die Verbindung literarischer mit außerliterarischen Veränderungen greifbar. Die Geschichte einer Gattung spiegelt die Geschichte ihres Sitzes im Leben. Das Zitat weist aber außerdem auf ein Verzögerungsmoment hin, das den Wandlungen der Rede und des Schrifttums im Vergleich mit dem Sitz im Leben, also dem außersprachlichen Geschehen, eigen ist. Das Verhältnis zeigt sich besonders deutlich dort, wo ein Sitz im Leben oder gar ein ganzer Lebensbereich zugrunde geht und damit Gattungen ihren Wurzelboden verlieren. In der Geschichte Israels gab es mehrmals solche Einschnitte. Während der Zeit Davids und Salomos, als die alte Organisation des Zwölfstämmeverbandes der neuen Einrichtung des Königtums weichen mußte, wurde ein beträchtlicher Teil sprachlicher Formen heimatlos, nämlich die, die in der vorköniglichen Verfassung gründeten; gleichzeitig brachte aber das Königtum eine große Anzahl von neuen Gattungen mit sich. Es läßt sich am Alten Testament zeigen, wie dennoch die alten kultgebundenen Erzählungen noch lange weitergegeben worden sind; ohne Hinweis auf die neue staatliche Ordnung und auf das neuentstandene Kultzentrum auf dem Berg Zion werden sie erzählt, als ob. der Zwölfstämmeverband noch gegenwärtige Wirklichkeit wäre. - Tiefgreifender waren die Zerstörungen von Samaria 721 und Jerusalem '587 und das Aufhören staatlicher Selbständigkeit. Mit den Königen und Beamten verschwanden der Tempel und der Kult, die Profeten verstummten, und die Weisen wurden selten. Aber die profetischen Worte über die israelitischen und judäischen Könige und die Lieder, die das Heiligtum auf dem Zion besangen, hat man im Gedächtnis bewahrt und weiter überliefert, ja aufs neue abgeschrieben, obwohl ihr Inhalt eigentlich sinnlos geworden war, ebenso ihre Form. Die Bundesfeiern hören auf, der Dekalog lebt weiter. - In einen ähnlichen Zusammenhang gehört das Aufhören der direkten Verkündigung Jesu nach seiner Hinrichtung. Obwohl Aufforderungen zur Nachfolge jetzt ihren konkreten Sitz im Leben verlieren, weil der irdische Jesus verschwunden ist, bleiben die entsprechenden Überlieferungen lebendig; ja, urchristliche Profeten haben vielleicht weitere Nachfolgesprüche kraft göttlicher Eingebung hinzugefügt. Die unmittelbare Belehrung der Jünger nimmt ein Ende, die Seligpreisungen bleiben bekannt. Genauso verhält es sich mit den Briefen des Paulus an seine Gemeinden. Auch nach dem Tod des Apostels werden sie weitergegeben und weiter verlesen, obwohl die besondere Lage, die Paulus voraussetzt, vergangen ist. Man schreibt darüber hinaus sogar neue Briefe im Namen des Paulus bzw. gestaltet solche um, wie die Pastoralbriefe erweisen. - Die Trägheit schrif dieher und mündlicher Gattungen, ihre Neigung, über das Verschwinden des Sitzes im Leben hinaus in Übung zu bleiben, darf also nicht ver-
Oberwechseln von Dekalog und Seligpreisungen
45
gessen werden. Nicht in jedem Fall darf von einer benutzten Gattung auf das g 1eichzeitige Bestehen des dazugehörigen Sitzes im Leben geschlossen werden. Nur der Schluß ist erlaubt, daß dieser einmal bestanden haben muß. Doch keine Gattung bleibt auf die Dauer lebendig, wenn sie derart heimatlos geworden ist. Irgendwann entschwindet sie dem Gedächtnis der Menschen, die Tradition erlischt. Einzelstoffe, die in der betreffenden Gattung ausgesagt waren, können höchstens dadurch erhalten bleiben, daß sie in eine andere Gattung übergehen und dann in veränderter Form weiterbestehen. Ein solches überwechseln von einer Gattung zu einem zweiten Sitz im Leben geschieht ungemein häufig. Am leichtesten ist es dort zu bemerken, wo eine von Haus aus mündliche Gattung in ein Schriftwerk eingeht. Grob gesprochen, geht sie damit von der Straße an den Schreibtisch über. Das ist beiden obenzitierten biblischen Beispielen widerfahren, dem Dekalog wie den Seligpreisungen. In beiden Fällen hat zunächst die Gattung in ihrem ersten Sitz im Leben (Bundesfeier oder eschatologische Verkündigung im Urchristentum), also auf mündlichem Weg, weiterbestanden. (Das überwechseln zur Verschriftung ist mit besonderen Problemen verbunden, auf die in den Paragrafen über die Redaktionsgeschichte und über die mündliche Tradition näher einzugehen ist.) Abgesehen von diesem speziellen überwechseln in einen Buchzusammenhang, haben sowohl Dekalog wie Seligpreisungen im Lauf der Zeit weitere Kreise gezogen und andere Sitze im Leben gefunden. Der Dekalog verliert spätestens mit dem Untergang des Tempels 587 seinen kultischenHaftpunkt; er erscheint in nachexilischer Zeit auf Synagogensteinen22, wird demnach im Synagogengottesdienst eine Rolle gespielt haben. Später wird er - und das bis in die Gegenwart hinein - ein Katechismusstück in der christlichen Gemeindeunterweisung. Die Se 1i g preis u n g e n begegnen uns als Inschriften über dem Eingang oder an den Wänden christlicher Kirchen, auch als Wandsprüche in christlichen Häusern und sogar auf Postkarten; also auf vielen Gebieten des kirchlichen Lebens mit vielfältigem Sitz im Leben. Das überwechseln kann durch die besonders eindrucksvolle Sprache einer einzelnen Einheit bedingt sein; sie verlockt, das Stück auch sonst zu verwenden. In solchem Fall wechselt meist nicht die Gattung über, sondern nur das Einzelstück. Es kann aber auch sein, daß ein bestimmter Sitz im Leben sich so ausweitet, daß nach neuen Formen gesucht wird und sie bei einem anderen Sitz im Leben entlehnt werden; dann wechseln die Gattungen als solche über, und es kommt zur Gattungsnachahmung. Wenn z. B. ein rühriger Verein zur Bekämpfung der Unfallgefahren "10 Gebote für den Straßenverkehr" zusammenstellt, wird die alttestamentliche Gattung nach22
ALT, VT Il, 273-276.
46
§ 3 Sitz im Leben
geahmt. Ähnliches geschieht, wenngleich auf einer ernsthafteren Ebene, wo das Kirchenlied Seligpreisungen verwendet: Selig, ja selig ist der zu nennen, des Hilfe der Gott Jakobs ist I welcher vom Glauben sich nicht läßt trennen ... 23 Auch innerhalb der Bibel selbst ist dergleichen zu beobachten: "Wie die christliche Gegenwart in der Erkenntnis, daß die altererbten Gattungen der Predigt und der Kinderlehre nicht mehr weit genug dringen, zu andren, ursprünglich nicht eigentlich religiösen Gattungen greift und christliche Kalender, Vorträge, Zeitschriften, selbst Zeitungen und Romane usw. herausgibt, ja, ganze ,christliche Buchhandlungen' gründet, so hat die Prophetie, als ihre ursprüngliche Redeweise nicht mehr genügte, andere Gattungen aufgenommen, durch die sie dem Volke näherzukommen hoffte" 24 • Das Entlehnen von Gattungen und das dadurch bedingte überwechseln einer Gattung zu einem anderen Sitz im Leben ist also ein dunhaus gewöhnlicher Vorgang, der keinesfalls abschätzig beurteilt werden darf, sondern zu den Bewegungen des Lebens selbst gehört25 • Beim Übergang von Einzelstücken zu einem andern Sitz im Leben kommt es bisweilen zu Mischgattungen, wenn jene nämlich noch teilweise das Kleid ihrer Herkunft tragen und sich dem neuen Platz noch nicht völlig augepaßt haben. Das .zeigt sich an formalen Unstimmigkeiten. So gibt es Psalmen, die noch der Gattung des Klageliedes zugehören, aber offenbar nicht mehr am alten Ort der Klagelieder gesungen wurden, sondern im Kreis der Weisen eine'Rolle spielten und deshalb weisheitliehe Einschläge zeigen (z. B. Ps. 119). So eng also das Verhältnis von Gattung und Formel zum Sitz im Leben ist, läßt es sich doch nicht auf einen einfachen Nenner bringen, sondern ist sehr vielgestaltig und tiefgreifenden Wandlungen unterworfen. Für den T h e o 1o g e n ist die Bindung der biblischen Gattungen an die Lebensbereiche des israelitischen und urchristlichen Menschen von besonderem Gewicht. Zeigt sich doch, daß die einzelnen Teile der Heiligen Schrift nicht in der Luft hängen, nicht zwischen Himmel und Erde schweben, sondern untrennbar mit der "heiligen" Geschichte verbunden sind, mit einer Geschichte, die freilich nicht in einem besonders ausgesparten Raum, sondern mitten im gewöhnlichen Lauf des Altertums vonstatten geht. Die Entdeckung des Sitzes im Leben ruft der christlichen Gemeinde, die sich an der Bibel als dem vornehmsten Zeugnis göttlicher Offenbarung orientieren will, ihre unlösliche Verbindung mit dem alten israelitischen Volk, dem (palästinensischen und hellenistischen) Urchristentum und der beide verbindenden Geschichte ins Gedächtnis. !8 24
25
Evangelisches Kirchengesangbuch Nr. 198, Strofe 3. GuNKEL, GrPro XL VI. Es sei denn, es handle sich um bewußte Fälschungen!
Allgemeine Literaturwissenschaft
47
Der Brückenschlag von der Gattungsbeobachtung zum Sitz im Leben war ein genialer Einfall GuNKELs. Er scheint sich ihm völlig unabhängig von der allgemeinen Literaturwissenschaft, allein auf Grund des biblischen Materials aufgedrängt zu haben. So verwundert es nicht, daß die Verflechtung von Gattung und Lebensbereich ihm erst allmählich klar bewußt wurde und der Begriff Sitz im Leben verhältnismäßig spät gebildet wird 26 • Bis heute wird in der Germanistik und Romanistik die Verbindung von literarischen Gattungen und soziologischen Verhältnissen noch kaum als Aufgabe angesehen. Ein Mann wie P. BöcKMANN erscheint als Ausnahme, der die These vertritt, daß z. B. die Erforschung der Barockdichtung erst fruchtbar wird, wenn deren Stellung im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft untersucht wird: "Nur eine solche Besinnung auf den Ort der Dichtung im jeweiligen Gesamtgefüge des Lebens kann der Frage nach. dem Zeitstil einen tieferen Hintergrund geben27 ." Selbst wo man über die rein zeitlos morfologische Betrachtung (so ]OLLES) hinausgeht und eine Gattungs g es c h ich t e anstrebt, wird doch auf die soziologische Komponente wenig Wert gelegt. So äußert z. B. K. VriiTOR anläßlich eines Programms gattungsgeschichtlicher Forschung im Blick auf den Übergang der Tragödie vom höfischen zum bürgerlichen Schauspiel28 : "Ich glaube, man kann sagen, daß solche Dinge mit den elementaren Gattungsbesonderheiten der Tragödie unmittelbar nichts zu tun haben. Der heldische Widerstand des Menschen unter dem Schicksal, der unheilbare Zusammenprall der Werte - diese Phänomene, an denen die tragische Grundbeschaffenheit des Lebens sichtbar wird, sie sind nur für die soziale Illusion der herrschenden Gesellschaftsschicht standesgemäß gebunden." Höchstens daß einmal ein Außenseiter, ein Historiker mit geistesgeschichtlichem Interesse, gelegentlich klagt, "daß es eine Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters nach soziologischen Gesichtspunkten noch nicht gibt" 29 • Einsichtiger sind anscheinend französische Literaturwissenschaftler: "Chaque goßt sentimental, chaque besoin social ou religieux est Ia racine d'un genre different qui s'epanouit plus ou moins heureusement" 30 .In der angelsächsischen Philosophie entspricht dem Verhältnis von Gattung und Sitz im Leben dasjenige von Sprachspiel und Lebensform beim späten WrTTGENSTEr~ 1 • Im deutschsprachigen Bereich überläßt man solche Fragestellungen der V o I k s kund e, die freilich nur mit gewissen einfachen Gattungen sich beschäftigt32 • Die Verkoppelung von Gattung und Sitz im Leben läßt noch einmal deutlich werden, daß Formgeschichte es keineswegs nur mit form a I e n Gesichtspunkten zu Vom "Sitz im Volksleben" verlautet zuerst 1906 etwas (RuA 33 cf. KdG 55), der Begriff "Sitz im Leben" wird anscheinend 1917 eingeführt (ThR 20 S. 269).Auf neutestamentlichem Gebiet ist zwar bei DIBELIUS und BuLTMANN der Begriff selbstverständlich, wird aber höchstens durch so allgemeine Vokabeln wie Predigt oder Apologetik abgedeckt. Mit Recht spricht K. STENDAHL: The School of St. Matthew, Acta Seminarii N. T. Upsaliensis XX, 1954, von einem "Iack of interest in a concrete understanding of the Sitz im Leben" (S. 14). 27 Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung DVfLG IX, 1931, 465. 28 Probleme der literarischen Gattungsgeschichte DVfLG IX, 1931 S. 436. 29 K. HAUCK in: Geschichtsdenken und -bild im Mittelalter, hg. v. W. LAMMERS, Wege der Forschung XXI, 1961, S. 166. ao v. TrEGHEM (s. o. S. 16) S. 97. - Nachdem ausgeführt wurde, daß jeder Autor bei der Wahl der Gattung einer pression interieure folgt, heißt es weiter (S. 99): "Mais n'oublions pas que l'reuvre d'art est due en general la collaboration de l'auteur et du milieu dans lequel, et le plus souvent pour lequel, il travaille. Le public est le second element essentiel qui fonde en raison la distinction des genres." at KoAPEL: Wittgenstein ... ZThK 63, 1966 S. 72 f. 3 2 Erfreuliche Ansätze von volkskundlicher Seite bei M. LüTHI: Volksmärchen und -sage 1961, 160-84. 26
a
48
§ 3 Sitz im Leben
tun hat, denen ein Inhalt neutral gegenüberstünde. Wo man die Formen eines Textes erfaßt, begreif!: man vielmehr schon ein gut Teil des Inhalts. GUNKEL hat mit Recht betont, "daß es eine literargeschichtliche Betrachtung durchaus nicht nur mit der Form, sondern ebenso au'Ch mit dem Inhalt ... zu tun hat" 33 • Ein terminologischer Gebrauch des Ausdruckes "Form" ist möglichst zu vermeiden, da er viel zu verschwommen ist34. Das Begriffspaar Form-Funktion wird von manchen Exegeten35 statt GattungSitz im Leben benutzt. Vorausgesetzt wird, daß jeder Form von Haus aus eine Funktion entspricht, beides sich voneinander lösen, und die Form in eine völlig andre Funktion eintreten kann. Das aber ist ein allzu einfaches Schema für komplexe historische Vorgänge. Auch sind die Begriffe zu vieldeutig. Was wird nicht alles als literarische Form bezeichnet 36 ! Und Funktionen haben Texte auch innersprachlich, jeder Teilabschnitt, jede Gliedgattung im größeren Rahmen 37 •
In jeder Kultur und Gesellschaft führen die Lebensbereiche und tragenden Institutionen zu einer Vielzahl von Sitzen im Leben und dafür geeigneten sprachlichen Ausdrucksmitteln. Jede Gattung entspringt also einem gesellschaftlichen Bedürfnis und dient vor aller individuellen Füllung schon einem festen Zweck. Will der Exeget den Zweck erkennen, muß er aus den vorliegenden Ausprägungen einer Gattung rückschließen. Da wir über die Institutionen alt- und neutestamentlicher Zeit nur lückenhaft Kenntnis haben, bleibt ein solcher Rückschluß oft hypothetisch. Dennoch muß er versucht werden. Denn ohne Wissen um den Sitz im Leben schwebt die Exegese eines Textes in der Luft, wird der Zusammenhang von Religion und Leben, von Glaube und Geschichte nicht verständlich.
33 Guß 23; vgl. MowiNCKEL, Prophecy S. 42-44. 34 Was wird nicht alles als literarische Form angesehen! Bei ]oLLES ist der Begriff gleichbedeutend mit Gattung, bei W. KAYSER mit den einzelnen Elementen einer Gattung - angefangen von den grammatischen Bildungen - , bei H. KEES bezeichnet er Schriftart und -material (HdO I 2, 1 ff.). 35 H. W. HoFFMANN: Form- Funktion- Intention, ZAW 82, 1970, 341-346 (dort A. 1 Lit.). 38 Bei ]oLLES ist Form gleichbedeutend mit Gattung, bei W. KAYSER mit den einzelnen Elementen einer Gattung - angefangen von den grammatischen Bildungen -, bei H. KEES bezeichnet er Schriftart und -material (HdO I 2, 1 ff.). 37 Sprachwissenschaftlich wird "Funktion" für den Bezug einer sprachlichen Ersd:ieinung zum Gesamtsystem der jeweiligen Sprache oder zu entsprechenden Größen in verwandten Sprachen benutzt; L. HJELMSLEV: Die Sprad:ie, dt. 1968, s. 13 f.
49 § 4 ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE
A. Wandel des Einzelstückes
Bisher sind die ersten Schritte formgeschichtlicher Exegese, nämlich a) Gattung, b) Gattungsgeschichte und c) Sitz im Leben zu bestimmen, dargestellt worden. Die drei Schritte exegesieren noch gar nicht das jeweilige biblische Ein z eIst ü c k, sondern klären erst einmal seine sprachliche Umgebung, die allgemeine literarische Form, in der es auftaucht. Was bisher über apodiktische Verbotsreihen und ihre Beziehung zur Bundesfeier oder über Seligpreisungen als solenne eschatologische Verkündigung gesagt wurde, gilt genausogut für andere Verbotsreihen im Alten und für andere Seligpreisungen im Neuen Testament. Formgeschichte bleibt aber nicht bei solcher Untersuchung des allgemeinen Hintergrundes stehen. Nachdem Gattung und Sitz im Leben geklärt sind, bewegt sie sich vielmehr in einem weiteren Arbeitsgang auf den Einzeltext zu, nämlich in der überlieferungsgeschichte1• Die Überlieferungsgeschichte untersucht das abgeschlossene Einzelstück einer Gattung, kurz "eine Überlieferung" genannt, auf seine eigentümliche Geschichte und seinen besonderen Sitz im Leben hin. Eine gesonderte Erhebung der Wandlungen der Einzelüberlieferung ist deshalb nötig, weil viele biblische Abschnitte lange Zeit hindurch schriftlich oder mündlich weitergegeben und dabei verändert worden sind, ehe sie ihre Endgestalt erreichten. Die Veränderungen erfolgten weithin im Rahmen der Gattungsgeschichte, also entsprechend den auch sonst zu beobachtenden Veränderungen der Gattung und ihres Sitzes im Leben. Es kommt aber vor - und damit ist stets zu rechnen -, daß ein begabter Denker oder Dichter dem Einzelstück ein so eigenwilliges Gepräge gibt, daß es aus dem üblichen Gang der Geschichte der Gattung herausfällt. Oder die in Frage stehende Überlieferung ändert ein- oder mehrmals die Gattung und den Sitz im Leben. Dann sprengt die überlieferungsgeschichte den Rahmen einer Gattung und ihrer Wandlungen. Ein bekanntes Beispiel aus der deutschen Literaturgeschichte: Goethes großes Drama Faust hatte bekanntlich im Urfaust eine Vorstufe dramatischer Art. Soweit verläuft die Überlieferungsgeschichte des Fauststoffes innerhalb der Gattungsgeschichte des damaligen Dramas. Doch der Stoff stammte auf einer früheren Stufe aus einem Volksbuch über den Dr. Faust, das seinerseits von volkstümlichen Schwänken und Sagen und letztlich von Gerüchten abhängig war. Dasselbe Einzelstück hat also im Lauf der Jahrhunderte mehrmals die Gattung und 1
Der Begriff schon bei GuNKEL: Schöpfung S. 209. Im Zeitalter GUNKELS und GRESSMANNs sprach man jedoch häufiger von Stoff g es c h ich t e oder Traditionsgeschichte (W. BoussET: Der Antichrist, 1895, S. 5). S. auch H.- J. KRAus: Zur Geschichte des Überlieferungsbegriffs in der alttestamentlichen Wissenschaft, EvTh 16, 1956, 371-387. W. E. RAsT: Tradition History and the 0. T. 1972.
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
50
damit auch den Sitz im Leben gewechselt. In der Fassung Goethes aber ragt es weit über den zeitgenössischen Stand der Gattung Drama hinaus. Wie läßt sich die Überlieferungsgeschichte eines Einzelstücks erhellen? Sie wird leicht greifbar, wo derselbe Stoff zweimal zu verschiedenen Zeiten festgehalten worden ist (Volksbuch - Goethes Drama). Ein formgeschichtlicher Vergleich läßt dabei in der Regel nicht nur den Weg der Überlieferung von Stufe 1 zu Stufe 2 mit ihren Zwischenstadien deutlich werden, sondern gibt Hinweise auf ältere Formungen, die noch vor Stufe 1 liegen. Aufweisbar wird Überlieferungsgeschichte auch dort, wo zwei selbständige Weiterbildungen einer verlorenen Vorlage vorhanden sind. Aus dem Vergleich der Stufen 2a und 2b läßt sich dann Stufe 1 rekonstruieren. Zur Erläuterung mögen die beiden bewährten biblischen Beispiele dienen. Sowohl der Dekalog vom Sinai wie die Seligpreisungen sind glücklicherweise zweimal überliefert. Darüber hinaus gibt es weitere Parallelen zu einzelnen Versen der beiden Einheiten.
B. Seligpreisungen 2 Matthäus 5, 3-10 3 Selig sind die geistlich Armen; denn ihrer ist das Reich der Himmel. 5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde besitzen3. 4 Selig sind die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. 6 Selig sind, die hungern und dürstennach derGerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 1
8
Lukas 6, 20 f. Selig seid ihr Armen; denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet gesättigt werden.
Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.
Literatur s. § 1 B. Mit alten Handschriften ist V. 5 vor V. 4 zu stellen. Die semitische Parallele ~~~ wurde von Griechen nicht mehr verstanden. DuPONT 252-255.
- 'tf
Seligpreisungen
51
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Söhne Gottes heißen. 1. Pe·trus 3, 14 10 Selig sind, die um der Gerech- Wenn ihr leidet um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; tigkeit willen, selig! denn ihrer ist das Reich der Himmel. Verwandtschaft wie Verschiedenheit beider Fassungen4 sind offenkundig. Die Lösung wird nicht so einfach sein, daß der eine Evangelist vom Text des anderen abhängig ist. Vielmehr gehen offenbar beide unabhängig voneinander auf eine ältere Vorstufe zurück, die sich vielleicht schon verschieden weiterentwickelt hatte, ehe sie von den Schriftstellern aufgegriffen wurde. Was ist über die Vorstufe zu erkennen? Ein auffallender Unterschied ist, daß Lukas die Anrede benutzt, Matthäus dagegen in dritter Person von denGlücklichen redet. Was ist älter? DIBELIUS entscheidet sich für die Anrede, da die Sätze "zu gläubigen Nachfolgern gesprochen" seien5 • Da jedoch die Gattung der Seligpreisung herkömmlicherweise die dritte Person benutzt, wie die alttestamentlichen Beispiele beweisen, und eine Änderung in die Anredeform sehr viel leichter denkbar ist als das Umgekehrte, die .1\nderung bei Lukas zudem durch Angleichung an den folgenden Spruch hervorgerufen sein mag, ist der Stil von Matthäus in dieser Hinsicht gewiß der ältere6 • Schwieriger ist die Frage, welche Sätze ursprünglich zu dieser Reihe gehörten. Matthäus gibt 8 Seligpreisungen wieder, Lukas nur drei. Die dritte lukanische entspricht derjenigen über die Trauernden bei Matthäus, die Lukas ausdrucksstärker und allgemeiner gestaltet, deshalb auch umstellt7 • Matthäus hat einzelne Sätze interpretierend aufgefüllt. So am Anfang, wo er zur Seligpreisung der Armen die Erläuterung "im Geist" hinzufügt. Ebenso in der Mitte, wo zum "Hungern" das "Dürsten nach Gerechtigkeit" nachgetragen wird8 • Vollständig von ihm stammen wird die Zusage für die Barmherzigen9 • Anderes sind Weiterungen, die Matthäus, nicht aber Lukas10, in der Vorlage schon fand 11 und die auf Grund eines Schriftzitats eingebaut ' Zu einer dritten Fassung in den Kerygmata Petri: H. WAJTZ, ZNW 4, 1903, 335-340. Eine vierte findet sich im neuentdeckten Thomasevangelium Spruch 54. 68 f. (7. 19. 49. 58. 103); K. ALAND: Synopsis Quattuor Evangeliorum 1964. 1 Botschaft: und Geschichte I 92. 104. • BuLTMANN: Tradition 114; ThW IV, 370 A. 43; besonders DuPONT 272-282. So auch die Kerygmata Petri. Doch wird das aram. Äquivalent ~~Ho oft mit der 2. pers. verbunden! 7 DuPONT 269-272. 8 Beide Zusätze fehlen im Thomasevangelium. 8 Auf Barmherzigkeit legt Matthäus Wert (vgl. 15, 22; 17, 15; 18, 33 mit den synoptischen Par.). Die Gleichheit des Verbs in Vorder- und Nachsatz fällt aus dem Rahmen. 10 DuPONT: Auslassung durch Lukas wäre unerklärlich. S. 256-258. 11 DuPONT schätzt den Anteil des Mt.-Evangelisten freilich höher ein.
52
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
worden sind. So ist V. 5 wohl Ps. 37, 11 nachgebildet, V. 8 klingt an Ps. 24, 4. 6 an; V. 9 hat 2. Hen. 52, 11 eine nahe Parallele. V. 10 jedoch war nach 1. Petr. 3 eine selbständige Seligpreisung, die nachträglich- aber vormatthäisch- der Reihe angefügt wurde, die dadurch symmetrisch mit der Verheißung des Reichs der Himmel beginnt und endet.Demnach lassen sich nur drei Seligpreisungen mit völliger Sicherheit auf die gemeinsame Vorstufe beider Evangelisten zurückführen: Selig sind die Armen, denn ihrer wird das Reich Gottes(?) sein. Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig sind die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Hinter diesen drei Sätzen mag eine Bezugnahme auf ]es. 61, 1-7 stehen: 1 Der Geist des Allherrn Jahwä ruht auf mir ... Den Armen frohe Botschaft zu künden, bin ich gesandt ... 2 Die Trauemden zu trösten ... 6 Ihr aber werdet Jahwäs Priester heißen, Diener unsres Gottes wird man euch nennen. Ihr werdet die Schätze der Völker genießen ... 7 Dafür, daß meines Volkes Schmach zwiefältig war und Schande ihr ,Erb'teil, deshalb sollen sie in ihrem Land Zwiefältiges besitzen. Trot~ der Anknüpfung an die alttestamentliche Weissagung wird diese doch implizit korrigiert. Die Hinweise auf die Vorherrschaft Israels über die Völker und die Nutznießung ihrer Güter fallen dahin. Stattdessen tritt die künftig ungebrochene Gemeinschaft mit Gott selbst in den Vordergrund. Der oben schon bei der allgemeinen Deutung der Gattung ausgesprochene Hinweis, daß die Seligpreisungen von Haus aus nicht Tugenden kennzeichnen wollen, wird dadurch bestätigt. Denn gerade in diesen drei Sätzen geht es weniger um den Aufruf zu einer bestimmten Haltung als vielmehr um Trost, um die Verheißung künftiger Entschädigung für die Leiden in der gegenwärtigen Endzeit der Welt. Diese drei Sätze gehen mit Gewißheit auf ] es u s s e 1b s t zurück, sind Teil seiner Verkündigung gewesen. Mit ihrem paradoxen Charakter: jetzt Arme - künftig Herrscher, hier Trauemde - dort Getröstete, hier Hungernde - dort Gesättigte, entsprechen sie dem Grundtenor jesuanischer Eschatologie. Die ursprüngliche Einheit wurde in jenem Oberlieferungsstrom, der auf das Matthäusevangelium hinführte, erweitert zu drei Doppelpaaren mit externem Parallelismus12 : I Selig sind die Armen13 , denn ihrer wird das Reich der Himmel sem. 12
13
s. § 8 B. Hebräisch c~~~~· aramäisch N~~.lV·
Seligpreisungen
li III IV V VI
53
Selig sind die Machtlosen14, denn sie werden die Erde besitzen. Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig sind die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Selig sind die Herzensreinen, den.n sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Söhne heißen.
Sowohl in denVorder-wie in den Nachsätzen herrscht jeweils in zwei aufeinander folgenden Sätzen strenge Entsprechung. Die poetische Ausprägung läßt vielleicht auf einen liturgischen Gebrauch schließen. Neben weiterer Bezugnahme auf Jes. 61 (in II und VI) sind offenbar eschatologisch verstandene Psalmenstellen aufgenommen worden: Ps. 37, 11 zu li, Ps. 24, 4-6 zu V. Ob diese Stufe noch den aramäischsprechenden palästinensischen Gemeinden oder schon griechischsprechenden "heiden"christlichen Gemeinden zuzuweisen ist, ist schwer zu entscheiden. Einerseits ist die geläufige alttestamentliche Parallele: ArmeMachtlose noch bekannt, andrerseits kann unalttestamentlich vom Gottschauen gesprochen werden. Im Lauf der Zeit ist unter dem Druck von Verfolgungen eine weitere Seligpreisung am Ende angefügt worden. Sie mag einst von Jesus bei anderer Gelegenheit geäußert worden sein. Indem sie an das Ende gestellt wird, markiert sie den Höhepunkt der Reihe: VII Selig sind die Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Aus den drei Doppelpaaren wird dadurch eine Siebenerreihe, bei der der Nachsatz im letzten Glied kunstvoll den des ersten wiederaufnimmt. Am vorläufigen Schluß dieser Überlieferungsgeschichte steht die Redaktion durch das Matthäusevangelium. Die im Fluß lebendiger Rede befindliche Einheit wird eines Tages niedergeschrieben, gefriert gleichsam und gewinnt ein unveränderliches Aussehen15 • Dennoch wandelt sich die Überlieferung auf anderer Ebene weiter16 • Spätere kirchliche Praxis führt bei Polykarp wieder zu einer Kurzfassung: Selig sind die Armen und die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Gottesreich. und Gnostiker prägen im Thomasevangelium 69 um: Selig sind die, welche verfolgt werden in ihrem Herzen! Jene sind es, die den Vater in Wahrheit erkannt haben. u Hebräisch C''~~· aramäisch 15
18
N'Jl'lllV·
Einen Vorgänger hatten Matthäus und Lukas in der Sprachquelle Q, von. der beide die drei ursprünglichen Seligpreisungen übernehmen. Es ist möglich, daß Matthäus in keinen andern Wortlaut vorfand als Lukas. Die erweiterte Form mag ihm aus mündlicher Tradition, aus der liturgischen Praxis seiner Gemeinde, bekannt sein. Die Zusage für die Barmherzigen fügt er aus eigenem hinzu, s. o. J. M. ROBINSON, ZThK 62, 1965 s. 314-316.
54
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
Wie hier, so setzt sich an vielen Stellen die Entstehungsgeschichte der Heiligen Schrift in ihrer Auslegungsgeschichte kontinuierlich fort. Anders sieht der zweite, ursprünglich selbständige Makarismos aus: Matthäus 5, 11 f. Lukas 6, 22 f. Selig seid ihr, wenn sie euch Selig seid ihr, wenn euch dieMenschmähen und verfolgen und alles sehen hassen und sie euch ausArge wider euch reden um mei- schließen und schmähen und eunetwillen und damit lügen. ren Namen als einen bösen ächten um des Sohnes des Menschen willen. Freut euch und frohlockt; weil Freut euch an jenem Tag und euer Lohn groß ist in den Hirn- springt; denn siehe, euer Lohn meln. wird groß sein im Himmel. Denn ebenso haben sie die Profe- Denn ebenso taten ihre Väter den ten verfolgt, die vor euch waren. Profeten. Die übereinstimmung ist wesentlich größer. Dennoch zeigt sich, wie die Evangelisten interpretieren 17 • Bei Lukas werden "die Menschen" als Subjekt der Bedrängnisse eingeführt (vgl. Luk. 5, 18. 20 u.ö.), die semitische Wendung "einen üblen Namen ächten" wird zu der griechischen "den Namen ächten als einen bösen". Der Evangelist setzt hinzu "an jenem Tag" (vgl. den Einsatz "jetzt" V. 21), um die Entstehung der Freude im Augenblick der Bedrängnis hervorzuheben. Am stärksten wird der Schluß verändert. Die unbestimmte Konstruktion "sie haben die Profeten verfolgt" widerspricht seinem griechischen Sprachempfinden; "die vor euch waren" stellt die Jünger Jesu den Profeten in einer Weise gleich, wie es der lukanischen Konzeption widerspricht. So formuliert er neu und läßt nur "die Profeten" stehen. - Matt h ä u s greift in den überlieferten Wortlaut weniger stark ein. Aus der bitteren Erfahrung der Urchristenheit heraus wird "Hassen" und "Ausschließen" zusammengezogen und gesteigert zu "Verfolgen"; der bedächtigen Art des Evangelisten entsprechend hinzugefügt "und damit lügen", so daß es um die üble Nachrede geht. Wo in der Spruchquelle stand "um des Sohnes des Menschen willen", läßt er Jesus eindeutiger sagen "um meinetwillen" (auch Matth. 10, 32 vgl. Luk. 12, 8). Was ergibt sich daraus für die Urgestalt des Spruchs? Er schilderte in Q die steigende Verfolgung der Jesusjünger: vom Haß über den Ausschluß aus der Synagoge bis zum Kchten des Namens. Je größer die Verfolgung, um so größer der Lohn im Himmel für diejenigen, die durch solches Geschick den Profeten Israels gleichgestellt werden. Wenn es heißt: "so haben sie die Profeten verfolgt, die vor euch gewesen sind", wird wohl vorausgesetzt, daß es jetzt wieder Profeten gibt, daß unter den christlichen Lesern neue Profeten sind, die ebenso 17
Zum folgenden DuPONT S. 227 ff.; 0. H. STECK: Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, 1967, 20-27.
Seligpreisungen, Dekalog
55
verfolgt werden18, die Profetie keine längst vergangene Epoche darstellt. Für rabbinische Ohren eine unmögliche Behauptung! Diese ausgedehnte Seligpreisung läßt sich nicht mit Sicherheit auf Jesus selbst zurückführen. Dagegen spricht nämlich die Anredeform dieses Makarismos, die bei dieser Oberlieferung offensichtlich ursprünglich, aber beim historischen Jesus nicht üblich ist19 , selbst wenn er sich unmittelbar an die Zuhörer wendet (Matth.11, 6; Luk.16, 23). Auch redete Jesus sonst nicht vom Ausschluß (aus dem Synagogenverband) um seinetwillen. Hier wird vielleicht die Bedrängnis der Urgemeinde von seiten ihrer jüdischen Gegner vorausgesetzt und durch ein Wort des (nachösterlichen erhöhten) Kyrios erklärt. Demnach kann es sich um eine Gemeinde b i I dun g handeln, wie die Formgeschichtler solche Sprüche nennen, die nicht auf den historischen Jesus zurückgehen. (Der Ausdruck ist mißverständlich, besser wäre: Bildung urchristlicher Traditionsträger20.) Doch ist jesuanischer Ursprung nicht völlig auszuschließen, da der Spruch in der urchristlichen Literatur auffällig weit verbreitet ist21 und 1. Petr. 4, 14 in verkürzter Form zitiert wird. -Die Seligpreisungen zeigen auf vorzügliche Weise: Der auf den ersten Blick flächig erscheinende biblische Text bekommt durch überlieferungsgeschichtliche Betrachtung eine Tiefendimension. Der formulierte Wortlaut der Evan-1 gelien erscheint als eine Spätstufe, die aber ihre Vorstufen deutlich zu erkennen gibt, sofern wir dieselbe Sprucheinheit in zwei Evangelien überlieferungsgeschichtlich vergleichen. .iThnlich aufschlußreich ist die Überlieferungsgeschichte beim
C. Dekalog22 Exodus 20, 2-17
Deuteronomium 5, 6-21
Ich bin Jahwä, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause. ta ScHNIEWIND, ThR 1930 S. 176. Matth. 16, 17; Luk. 14, 14 sind nicht jesuanisch. 20 Der Ausdruck "Gemeindebildung", den BuLTMANN und DIBELIUS eingebürgert haben, hat zahlreiche Kritik hervorgerufen. (Vgl. schon ScHNIEWIND, ThR 1930 S. 153). Es ist in der Tat die Frage, ob er sehr glücklich ist. Zwar ist es vorstellbar, daß in der urchristlichen Gemeinde wie im altisraelitischen Volksmund bestimmte Erzählungen entstehen und umgeformt werden. Aber kann eine so feierliche Form wie die Seligpreisung anonym "in der Gemeinde" entstehen, bedarf sie nicht berufener Sprecher und damit eines sehr viel engeren Sitzes im Leben? Weiteres § 8F. 21 W. NAucK: Freude im Leiden. Zum Problem einer urchristlichen Vertolgungstradition, ZNW 46, 1955, 68-80. - Ob Jesus sich als den gekommen-en "Menschensohn" bezeichnete, kann hier nicht verhandelt werden. 22 iit. s. § 1 C. N. LoHFINK: Zur Dekalogfassung von Dt. 5, BZ NF 9, 1965, 17-32. - A. ]EPSEN: Beiträge zur Auslegung und Geschichte des Dekalogs, ZAW 49, 1967, 277-305 - W. H. ScHMIDT: überlieferungsgeschichtliche Erwägungen zur Komposition des Dekalogs, VTS 22, 1972, 201-220. Lit. zu Einzelgeboten bei RICHTER (o. § 1C). 19
56
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
Es sollen dir keine anderen Götter sein mir ins Angesicht. Du sollst dir kein Gottesbild machen. (Und) nicht irgendeine Gestaltung von dem, was im Himmel droben und auf der Erde unten und was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich Jahwä, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der heimsucht die Schuld der Väter an den Kindern (und) am dritten und vierten Geschlecht bei meinen Hassern; der aberTreueerweist bis ins tausendste bei denen, die mich lieben und meine (seine) Gebote bewahren. Du sollst nicht benutzen den Namen Jahwäs, deines Gottes, zu nichtigem Zweck. Denn Jahwä wird den nicht frei dahin gehn lassen, der seinen Namen zu nichtigem Zweck ausspricht. 22 Im Gedenken " an den Sabbat- Im Hüten des Sabbattages, ihn zu tag, ihn zu heiligen heiligen wie Jahwä, dein Gott, dir befohlen hatSechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun; aber der siebente Tag ist Sabbat für Jahwä, deinen Gott. Du sollst keinerlei Werk tun, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und dein (Ochs und dein Esel und all dein) Vieh und dein Beisasse, der in deinen Toren ist. Damit ruhe dein Knecht und deine Magd wie du. Und gedenke! Denn sechs Tage lang hat Jahwä Denn du warst auch Knecht im gemacht den Himmel und die Land Kgypten und Jahwä, dein Erde und das Meer und alles, Gott, hat dich herausgeführt von was in ihnen ist, und er ruhte dort mit starker Hand und ausam siebenten Tag. Darum hat gestrecktem Arm. Jahwä den Sabbat gesegnet und Darum befahl dir Jahwä, dein ihn geheiligt. Gott, den Sabbattag zu machen. Ehre deinen Vater und deine Mutter. Wie dir befohlen hat Jahwä, dein Gott. Damit lang währen deine Tage (und damit dir wohl sei) auf dem Lande, das Jahwä, dein Gott, dir gibt. Du sollst nicht morden. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen.
2!•
Zur Übersetzung WATTS, ZAW 74, 1962, 141-145.
Dekalog
57
(Und) du sollst nicht aussagen gegen deinen Nächsten als lügnerischer Zeuge. als nichtiger Zeuge. Du sollst nicht begehren das Und du sollst nicht begehren das Haus deines Nächsten. Weib deines Nächsten. Du sollst nicht begehren das Weib Und du sollst nicht gierig sein deines Nächsten nach dem Haus deines Nächsten, und seinen Knecht und seine Magd seinem Feld und seinem Knecht und seinen Ochsen und seinen und seiner Magd und seinem Esel und alles, was deinem Näch- Ochsen und seinem Esel und alsten gehört. lern, was deinem Nächsten gehört. Zwischen beiden Wiedergaben gibt es über 20 Unterschiede. Nur die wichtigen sind oben kenntlich gemacht. 1) Das Sabbatgebot benutzt in der ersten Fasung "gedenken", in der beobachten". Offenbar ist im zweiten Fall zweiten dagegen "hüten das Verb strenger und später. 2) Bei den durch Sabbatruhe begünstigten Wesen wird neben dem Vieh im Dtn. ausdrücklich Rind und Esel genannt und außerdem der Satz angeschlossen: "Damit ruhe dein Knecht und deine Magd wie du." Besonders der letzte Satz entspricht der humanitären Tendenz des Buches Deuteronomium und wird hinzugesetzt worden sein, als der Dekalog in diesen schriftlichen Komplex aufgenommen wurde. 3) Die Begründung des Sabbatgebots wird im Exodus von der Schöpfung her, im Deuteronomium vom Auszug aus .Agypten her gegeben. Zwischen den Formulierungen besteht keine Berührung. Dieser Punkt zeigt, daß beide Fassungen unabhängig voneinander auf eine ältere verlorene Fassung zurückgehen, die noch keinerlei Begründungsklausel an dieser Stelle enthielt. So entstehen die Erläuterungen unabhängig voneinander. Die deuteronomischen Sätze haben wieder die erwähnte humanitäre Tendenz. 4) Die Erläuterung zum Sabbat- und Elterngebot: "Wie dir befohlen hat Jahwä, dein Gott" steht nur im Deuteronomium und ist deutlich ein Zuwachs nach dem Sprachgebrauch dieses Buches (1, 19; 4, 5; 5, 32; 10, 5), das den Gesetzesgehorsam einschärft23 • 5) Das Deuteronomium fügt beim Elterngebot hinzu: "Damit es dir gut gehe" - eine typisch deuteronornisehe Wendung (Dtn. 5, 29; 6, 18; 12, 25). 6) Das Verleumdungsverbot benutzt im Exodus den geläufigen Ausdruck: "Lügenzeuge" (Ps. 27, 12; Spr. 6, 19 usw.). Deuteronomium verschärft ihn: "nichtiger Zeuge" und stellt mit "nichtig" die Verbindung zum Gottesnamensverbot her.
=
23
Die Rede von Jahwä in 3. Person entspricht beim Dekalog dem Spätstadium der Gattung (s.o.S. 40).
58
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
7) Das Verbot des Begehrens stellt in der ersten Fassung das Haus des Nächsten voran und erläutert dann diesen Begriff im Sinn der alten Zeit durch Weib, Knecht, Magd und Vieh. Im Deuteronomium wird dagegen das Weib des Nächsten aus dem Zusammenhang des Hauses herausgenommen und vorangestellt. Die geschlechtliche Begierde wird von der Begierde nach Besitz unterschieden. Es ergibt sich also, daß die Erweiterungen des Deuteronomiums Züge der eigentümlichen Sprache gerade dieses Buches tragen, Züge, die also erst vom Deuteronomiker herrühren. - Ex. 20 zeigt an vielen Stellen Spuren einer älteren Fassung, ist aber von Zusätzen nicht frei; Zusätzen, die an einer Stelle, nämlich beim Sabbatgebot, vielleicht sogar jünger sind als das Deuteronomium. An dieser Stelle erinnert die Begründung in Ex. 20 nämlich an die erst im 6. Jahrhundert niedergeschriebene priesterschriftliche Schöpfungsgeschichte24 • In beiden Fassungen betreffen die Zufügungen nicht die Zahl und kaum den Inhalt der Gebote, sondern sie tragen vornehmlich B e g r ü n d u n g e n nach. Offenbar hat Israel es sowohl zur Zeit der ersten wie zur Zeit der zweiten Fassung für angebracht gehalten, die göttlichen Gebote in ihrem Sinn dem Hörer durchsichtig und verständlich zu machen. Was Jahwä als Gebot setzt, hat der einzelne Israelit nicht in Kadavergehorsam zu übernehmen, sondern soll er verstehend befolgen. War solche Tendenz schon beim Vortrag des Dekalogs in den frühen Bundeserneuerungsfeiern leitend, oder beginnt sie erst dort, wo neben den Vortrag des Gebots (wann?) eine priesterliche (lewitische) Auslegung tritt25 ? Hinsichtlich dieser Fragen nach dem Sitz im Leben solcher Weiterungen tappen wir noch im Dunkeln. Die beiden vorliegenden Fassungen des klassischen Dekalogs stellen zwei voneinander unabhängige Weiterbildungen (Stufen 2a + 2b) einer älteren verlorenen Grundlage {Stufe 1) dar, die sich verhältnismäßig leicht überlieferungsgeschichtlich erschließen läßt. Aber ist Stufe 1 schon die Urfassung? Auch der in Ex. 20 und Dtn. 5 übereinstimmende Text enthält noch eine Reihe von Wendungen, die eigentümlich deuteronomisch oder deuteronomistisch26 sind und sich leicht ausscheiden lassen. 24
25
28
Gen 2, 1-3. Eine lewitische Auslegung des Gesetzes vor der Kultgemeinde schließt G. v. R.An: Deuteronomium-Studien, FRLANT 58, 1947 aus der Entstehungsgeschichte des Dtn. und aus Neh. 8, 7 f. STAMM S. 203-206. - Die Begriffe deuteronomisch und deuteronomistisch sind scharf auseinanderzuhalten. Deuteron o misch ist, was dem Sprachgebrauch des deuteronomischen Gesetzes entspricht. Deuteron o m ist i s c h dagegen jene Sprech- und Denkweise, die in den sog. deuteronomistischen Kreisen der Exilszeit im Anschluß an das Deuteronomium entstanden ist, aber durch viele andere, insbesondere jerusalemische Traditionen angereichert ist. Sie findet sich vornehmlich im Rahmen des Richterbuchs und der Königsbücher. Deuteronomisch ist Dtn. 5, deuteronomistisch dagegen Ex. 20 sowie Dtn. 1-4, 43 (und Dtn. 5 auf einer späteren Stufe?). Vgl. die Einleitungen in das A. T.
Dekalog
59
1) Bei der Selbstvorstellungsformel das Attribut vom "Sklavenhaus", aus dem Jahwä herausgeführt hat (Ex. 13, 3. 14; Dtn. 6, 12; 7, 8 usw). Das Dekalogzitat Ps. 81, 11 (vgl. 2. Kö. 17, 38 f) hat einen etwas anderen Wortlaut: "Ich bin Jahwä, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Land .Agypten." Dieser kürzere Wortlaut ist gewiß der ältere27. 2) Der Ausdruck "andere Götter" ist im Deuteronomium sehr beliebt (13mal) und sonst kaum belegt. Auch hier findet sich Ps. 81, 10 die vordeuteronomische Formulierung: "Es soll unter dir keine andersartige Gottheit ('"1J ~~) sein (aufkommen)." 3) Die Erläuterung "irgendeine Gestaltung von dem, was im Himmel droben ... " hat Dtn. 4, 19. 23 nahe Parallelen. Das Bilderverbot erscheint ohne solche Erweiterung (Ex. 34, 17, vgl. 20, 23; Lev. 19, 4); und betrifft nur das aus Metall gegossene Gottesbild ( il~~~ '!:'~~ ), was sicher älter ist. Verboten war einst eine Darstellung ]ahwäs. Die Fassungen von (Ex. 20 und ?) Dtn. 5 kennen die Versuchung gar nicht mehr, den Gott Israels im Bild darzustellen, sie denken deshalb an Bilder fremder Götter und gliedern deshalb das Bilderverbot dem ersten Gebot ein. Ursprünglich stand das Bilderverbot wohl an späterer Stelle. 4) "Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen" ist jetzt auf die Bilder bezogen (ähnlich Dtn. 4, 19). Der Satzund vor allem seine feierliche Begründung - paßt aber besser zum Fremdgötterverbot, wo er auch in Ps. 81, 10 steht: "Du sollst keiner ausländischen Gottheit('"~~~ ~~wie Gen. 35, 2. 4; Jos. 24, 20. 23) Verehrung zollen." In dieser Formulierung hat das Verbot neben dem ersten Gebot seinen Sinn: geht es zuerst um eine Gottheit, die innerhalb des israelitischen Volkes neben Jahwä aufkommt, so geht es nunmehr um eine Gottheit fremder Völker, denen ein Israelit Verehrung zollen könnte. Die beiden Versuchungen gehören eng zusammen, so erhalten sie auch gemeinsam eine Begründungsklausel, die auf den eifersüchtigen Charakter Jahwäs verweist. 5) In der Begründung sind die Erklärungen "die mich hassen" und "die mich lieben" sowie "die meine Gebote halten" wiederum deuteronomisch formuliert und demnach Zuwachs27• (s. Ex. 34, 6 f; Num. 14, 18). 6) Die Rede vom Namen Jahwäs entspringt der deuteronorniseben Konzeption, daß Gott selbst im Himmel, sein Name aber auf Erden am Kultort wohnt (Dtn. 12, 11 u. ö.). Wieder hat der Psalter eine ältere Formulierung bewahrt, in der auch das "Ich" Jahwäs noch erhalten ist. Ps. 24, 4: "Du sollst nicht benutzen meine Energie (ttl!?J) zu nichtigem Zweck" 28 . Die Begründungsklausel wird danach gelautet 27 27• 28
il.,V hi. ist stärker liturgisch als N~' hi. WIJNGAARDS, VT XV, 1965, 91-102. ScHARBERT, B 38,1957,130-150: wehren Vorstellungen der Kollektivhaftung ab. K. KocH: Tempeleinlaßliturgien und Dekaloge (s. o. S. 38A9).
60
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
haben "denn Jahwä, dein Gott (s. LXX), läßt gewiß nicht frei dahingehen" (riR~~ ~6 rlj:!~ Ex. 34, 7; Num. 14, 18). 7) Beim Sabbatgebot ist die genaue Aufschlüsselung "du, dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und dein Vieh und dein Beisasse, der in deinen Toren ist" eine deuteronornisehe Aufzählung (Dtn.12, 12. 18; 16, 11.14). Im übrigen scheinen an dieser Stelle eine positive und eine negative Bestimmung zugrundezuliegen, nämlich "sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten Tage sollst du ruhn" (Ex. 34, 21, vgl. 31, 15a) sowie "du sollst am Sabbat keinerlei Werk tun" (vgl. 31, 15b) 29 . 8) Die Zweckangaben beim Elterngebot bringen im ersten Teil "damit lange währen deine Tage" wie im zweiten "auf dem Lande, das Jahwä, dein Gott, dir gibt" deuteronornisehe Sprache (Dtn. 4, 26. 40 u. ö.). Auch diese deuteronomisch gefärbten Wendungen sind gewiß Nachträge. So stößt die überlieferungsgeschichtliche Untersuchung auf eine Vorstufe, die noch vor der Ex. 20 und Dtn. 5 gemeinsamen Grundlage liegt und sich durch eine sehr einfache Form auszeichnet, die leicht zu behalten ist und sicher zum Auswendiglernen bestimmt war. Zahlreich waren in den letzten Jahrzehnten die Versuche, daraus die ursprüngliche, möglichst durchweg negative und metrisch gleichgebaute Gebotsreihe zu konstruieren, die am Anfang deJ;" Überlieferung stand3?. In der Gegenwart ist jedoch eine gegenläufige Tendenz zu beobachten. Entsprechend der MowrNCKELschen These vom apodiktischen Ein z e 1gebot als ältester greifbarer Ausprägung der Gattung neigt man dazu, eine Mehrzahl einzelner, verschieden gestalteter Gebote oder Gebotsgruppen als Vorstufen des Dekalogs anzunehmen31. In diesem Zusammenhang läßt sich jedoch ein anderes Dokument nicht übergehen, der r i tue 11 e Deka 1o g, der ebenfalls "Zehngebot" heißt (Ex. 34, 28). Er ist wieder in zwei Fassungen überliefert (Ex. 23, 10 ff und 34, ff), deren Vorlage sich mit den ersten Sätzen der Vorlage des klassischen Dekalogs eng berührt32. Die große Rolle des Sabbats in (nach)exilischer Zeit hat zu einer besonderen Erweiterung des entsprechenden Gebots geführt und aus dem "kopflastigen" Aufbau des Dekalogs einen zentralbetonten gemacht (LoHFINK). 30 HEMPEL: Literatur 71; ALT I, 317 f. 333 ff.; FoHRER, ZAW 66, 1954 S. 214.Vgl. K. H. RABAST: Das apodiktische Recht im Dtn. und im Heiligkeitsgesetz (o.J.) 35-38 oder NIELSEN 68. 31 GERSTENHERGER S. 86 f.; REVENTLOV S. 93; RICHTERS. 107; W. H. SCHMIDT S. 216-218. 82 Dem Problem des rituellen Dekalogs läßt sich nicht aus dem Weg gehen mit der Auskunft, Ex. 34 sei ein "sekundäres Mischgebilde" (ALT I 317 A. 1), denn dann ist sofort zu erklären: Woraus gemischt und wann? Auch die These befriedigt nicht, im jahwistischen Ex. 34 habe einst natürlich der klassische Dekalog gestanden, der nachträglich durch die rituelle Reihe verdrängt worden sei. 29
Dekalog
Ritueller Dekalog (Vorlage) 34, 6 f I - Jahwä ging an seinem (Moses) Angesicht vorüber und rief: Jahwä, Jahwä ist EI, gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Treue und Beständigkeit; der Treue erweist bis ins tausendste (Geschlecht) und aufhebt Schuld, Aufruhr und Sünde, aber er läßt gewiß nicht frei dahingehn, sucht heim die Schuld der Väter an den Kindern und am dritten und vierten Geschlecht ... 34, 10 I - Siehe, ich schließe einen Bund ,mit' deinem ganzen Volk. 33 ••• 34, 11b I 23, 23. 28 Siehe, ich34 vertreibe vor dir die Amoriter, Kanaaniter, Hethiter, Pheresiter, Hiwiter und Jebusiter.
I 34, 12 I 23, 32 f Du sollst nicht einen Bund schließen mit den Landesbewohnern, denn sie werden dir zur Falle35 • II 34, 13 f I 23, 24 Du sollst keine andere Gottheit verehren, denn du sollst ihre Malsteine zerbrechen (denn Jahwä ... ist eine eifernde Gottheit).
33 34
35
61
Klassischer Dekalog (Vorlage)
Ich bin Jahwä, dein Gott, der ich dich heraufgeführt habe aus dem Land .Agypten.
Ia Es soll unter dir keine andersartige Gottheit sein.
Ib Du sollst keine ausländische Gottheit verehren, denn ich, ] ahwä, dein Gott, bin ein eifernder Gott (der heimsucht die Schuld der Väter an den Kindern, am dritten und vierten Geschlecht, der aber Treue erweist bis ins tausendste).
Was um alles in der Welt soll zur Verdrängung geführt haben? (BEYERLIN 101 f versucht eine Erklärung). Nach V. 28 handelt es sich in Ex. 34 um "zehn Worte": Der jetzige Text enthält erheblich mehr, also ist der Exeget zur Überlieferungsgeschichte geradezu gezwungen. Das ist zwar schon öfter geschehen mit sehr verschiedenen Ergebnissen. M. E. kommt man nur zum Ziel, wenn man Ex. 23 als selbständige Variante daneben stellt. Die obige Übersetzung gibt den beiden gemeinsamen Text. Dabei sind leicht die 10 Sätze zu erkennen. Die Reihenfolge in 23, 10 ff ist sekundär umgestellt, um den Anschluß an das "Bundesbuch" 21, 1-23, 9 reibungsloser zu gestalten. Ich folge deshalb derjenigen von Kap. 34. Der Eingang (34, 6-10) ist in Kap. 23 ausgefallen, das in die Sinaitheofanie Kap. 19-24 eingebaut wurde. bzw. "mein Engel", "mein Schrecken". Da das Bundesverbot auch Dtn. 7, 2 auftaucht, gilt es meist als deuteronomisch. Doch ist die Entstehung des Verbots in so später Zeit nicht zu begreifen. So wird eher Dtn. 7 auf ältere Tradition zurückgreifen. (vgl. auch EISSFELDT, ThLZ 91, 1966 S. 3 f).
62
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
III 34, 1786 Du sollst dir kein gegossenes Gottesbild machen. IV 34, 18123, 15 Das Mazzenfest sollst du bewahren. Sieben Tage sollst du Mazzen essen, wie ich dir befohlen habe, zur festgesetzten Zeit im Khrenmonat, denn in ihm bist du aus Agypten gezogen. V 34, 20 I 23, 15 Nicht sollst du sehen meinAngesichtmit leeren Händen. VI 34,21123, 12 Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten Tag ruhen. VII 34, 22f I 23, 16f Das Wochenfest sollst du halten mit den Erstlingsfrüchten und das Lesefest zur Jahreswende37 (dreimal im Jahr soll alles Männliche das Angesicht des Allherrn Jahwä sehenSB). VIII 34, 25 I 23, 18 Du sollst nicht opfern über Gesäuertem mein Schlachtopferblut. IX 34, 25 f I 23, 18 f Es soll nicht übernachten bis zum Morgen das Passa,lamm' (?) (Das Beste der Frühfrucht deines Bodens sollst du in das Haus Jahwäs, deines Gottes, bringen39). X 34, 26123, 10 Du sollst nicht kochen das Böcklein in der Milch seiner Mutter. 38 87
38 89 '0
II Du sollst dir kein Bildnis machen. III Du sollst meine Energie nicht zu nichtigem Zweck benutzen, denn Jahwä, dein Gott, läßt nicht frei dahingehen.
IV Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten Tag ruhen. Du sollst am Sabbat keinerlei Werk tun.
V Ehre deinen Vater und deineMutter. VI Du sollst nicht morden. VII Du sollst nicht ehebrechen. VIII Du sollst nicht (einen Menschen40) stehlen. IX Du sollst nicht als lügnerischer Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten. X Du sollst nicht begehren das Haus deines Nächsten.
Fehlt jetzt Ex. 23, weil ein ähnliches Verbot 20, 23 vorangeht. Auf den Sabbat folgt das Wochenfest als Sabbat höheren Grades (7 x 7, wie 23, 10 f. das Sabbatjahr), was der Verfasser von Kap. 23 nicht mehr versteht. War die positive Reihe IV. VI. VII einst selbständig {RICHTER 96-101)? Das "du" der Anrede fehlt. Neben IV und VIII überflüssig. Die positive Vorschrift paßt nicht zwischen den bei Opfern zu beachtenden Tabus. "Das Haus Jahwäs" ist zudem eine junge Einrichtung. ALT I 333-340: Das Verbot des Diebstahls im Dekalog.
Dekalog
63
Die Übereinstimmungen liegen in den ersten Geboten auf der Hand, fehlen aber in der zweiten Hälfte völlig. Das führt zu dem Schluß, daß eine Urfassung zugrunde liegt, die nur drei oder vier Verbote für das besondere Verhältnis Israels ZU seinem Bundesgott enthielt und mit einem positiven Gebot für die Sabbatfeier abgerundet war; wahrscheinlich enthielt sie auch schon Begründungsklauseln für jedes oder jedes zweite Gebot" 1• Sie ist einerseits durch rituelle, andererseits durch ethische Forderungen so ergänzt worden, daß jeweils eine Zehnzahl41• entstand. So ergibt sich also folgendes Schema der Überlieferungsgeschichte: Urfassung (nur auf das Gottesverhältnis bezogen)
/ Vorstufe des rituellen Dekalogs Ex./ 34
"'
Ex.23
"'
Vordeuteronomische Stufe des klassischen Dekalogs I
deuteronomisierende Stufe
/
Ex.20
"'
Dtn. 5
Die Urfassung geht gewiß in die vorkönigliche Zeit (vor 1000 v. Chr.) zurück. Sie in die Wüstenzeit und auf Mose zurückzudatieren, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich. Das Verbot des Gußbildes gehört doch wohl in das Kulturland! Eine andere Frage ist es, ob die Idee, daß Jahwä ausschließlich Verehrung fordert und sein Kult bildlos ist, nicht schon in der Wüstenzeit selbstverständlich war; ihre Formulierung in einer Verbotsreihe wird dann mit der Übernahme des Bundesformulars in Sichern zusammenhängen. So führt die überlieferungsgeschichte nicht wie bei den Seligpreisungen zu einem Fixpunkt am Anfang, zur Erstformulierung durch eine historisch prüfbare Persönlichkeit, wie Jesus es war. Doch wie bei den Seligpreisungen, so war auch beim klassischen Dekalog mit der Niederschrift in den Büchern Exodus und Deuteronomium nicht der absolute Schlußstrich unter die Überlieferungsgeschichte gesetzt. Vielmehr beginnen bald Versuche - schon in vorchristlicher Zeit-, die beiden Fassungen zu harmonisieren. Zeugnis dafür ist vor allem der Papyrus Nash 42 • So setzt sich auch bei diesem Beispiel die Überlieferungsgeschichte in der Auslegungsgeschichte fort. Der Dekalog aber erscheint auf diesem Hintergrund als Ausdruck eines jahrhundertelangen lebendigen Ringens, dem göttlichen Willen über sein erwähltes Volk letztgültigen Ausdruck zu geben.
J. ScHARBERT: Formgeschichte und Exegese von Ex. 34, 6 f und seiner Parallelen, B 38, 1957, 130-150. 41 " Bei der Erweiterung des klassischen Dekalogs wurden die beiden ersten Gebote zu einem zusammengezogen. Die Verbote für das Verhältnis zum Volksgenossen VI-X bildeten einst eine eigene Reihe. 42 }EPSEN 277-281. 41
64
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
Wo der Werdegang solcher Überlieferungen, d. h. der Einzelstücke einer Gattung, wie der Werdegang vom Dekalog Ex. 20 oder der Seligpreisungen aus Matthäus 5 erforscht wird, wird Überlieferungsgeschichte betrieben. Die überlieferungsgeschichtliche Untersuchung geht vom Endstadium einer literarischen Einheit aus und erhellt zunächst die schriftlichen, dann die mündlichen Vorstadien. Während eine GattungsgesdJ.idJ.te nadJ. möglidJ.st vielen Einzelstücken einer literarisdJ.en Form sudJ.t, nidJ.t aber an den Einzelstücken selbst, sondern am Aufkommen und Untergehen der Gattung interessiert ist, geht die überlieferungsgesdJ.idJ.te von einem bestimmten, literarisdJ. gesdJ.lossenen Einzelstück aus und berücksidJ.tigt die GesdJ.idJ.te der Gattungen nur insoweit, als die Überlieferung in besonderen Gattungen ihre Gestalt gefunden hat.
D. Ansatz zur Rückfrage hinter den Text Nur in wenigen Fällen sind wir in der glücklichen Lage, von einem biblischen Abschnitt zwei Fassungen zu besitzen43 • Wie steht es mit der Masse der Texte, die nur einmal vorhanden sind und offenbar dennoch auf längere Überlieferung zurückgehen? Ist bei ihnen auch Überlieferungsgeschichte möglich? Durchaus; doch ist mit großer Vorsicht vorzugehen. Zunächst muß der Formgeschichtler sich an den Doppdüberlieferungen geschult haben, um solche schwierigen Abschnitte behandeln zu können. Außerdem ist Voraussetzung die Vertrautlheit mit der Geschichte aller in Frage kommenden Gattungen und ihrer Sitze im Leben. Die Untersuchung setzt am besten bei der Überlegung ein, "dass gewisse Züge, die einst in dem früheren Zusammenhange einen guten Sinn gehabt haben, in der neuen Relation weiter tradiert sind, in der sie indess den Zusammenhang· verloren haben. Solche alten Züge . . . verraten dem Forscher die Existenz und einzelne Züge einer früheren Gestalt" 44 • Wo eine längere Überlieferungsgeschichte vorauszusetzen ist, ist das Endergebnis, das der vorliegende Text bietet, also in der Regel in bestimmter Hinsicht uneinheitlich. Diese Uneinheitlichkeit ist der Ansatzpunkt für die Rekonstruktion der Wandlungen des Einzelstücks. Weitere Hinweise bietet die Gattungsgeschichte; denn es ist anzunehmen, daß der Weg einer Überlieferung in der Regel dem Weg seiner Gattung entspricht. Wie wenig die Ergebnisse, die auf solchem Weg gefunden werden, auf Sand gebaut sind, zeigt ein Zufallsfund aus den letzten Jahren. Aus 43
44
Für eine Reihe von alttestamentlidJ.en Stoffen lassen sidJ. Parallelen aus dem übrigen alten Orient anführen, die eine überlieferungsgesdJ.idJ.tlidJ.e ErforsdJ.ung ermöglidJ.en; etwa zu Gen. 1 ägyptisdJ.e und babylonisdJ.e SdJ.öpfungslehren oder zu Gen. 6-9 Sintflutepen des Zweistromlandes. GuNKEL: SdJ.öpfung S. 6. - Ausgangspunkt sind also vor allem stumpfe Motive in einem Text.
Ansatzpunkt der Untersuchung
65
mancherlei Gründen hatte man bei der Erzählung von Nebukadnezars Wahnsinn (Dan. 4) erschlossen, daß ursprünglich nicht Nebukadnezar, sondern der letzte neubabylonische König Nabonid im Mittelpunkt der Erzählung stand. Durch die Entdeckung eines Gebets des N abonid unter den Funden .von Qumran, wo ausführlich von einem jüdischen Seher berichtet wird, der dem König wieder zu Glück und Ehre verholfen hat, wird jene rein überlieferungsgeschichtlich erschlossene Vorstufe aufs glänzendste bestätigt45 • Die Wandlungen, denen ein Einzelstück im Verlauf seiner Geschichte unterworfen ist, sind kaum zu unterschätzen. Als Beispiel für einen Fall, wo der Sinn geradezu in das Gegenteil umschlägt, sei das Lamechlied aus Gen. 4, 23 angeführt: Ada und Zilla, hört meine Rede I ihr Weiber Lamechs, vernehmt meinen Spruch! Einen Mann erschlug ich für meine Wunde I und einen Jüngling für meine Strieme. Denn wird Kain siebenfach gerächt I so Lamech siebenundsiebzig Mal. Das war einstmals das Prahllied eines arabischen Stammes, der sich voll Stolz furchtbarer Rache rühmte. In die israelitische Kainssage eingebaut, wurde es zum verabscheuungswürdigen Beispiel menschlicher Selbstherrlichkeit, die sich über göttliche und menschliche Ordnung frevelhafthinwegsetzt. Wie weit ist die Oberlieferungsgeschichte eines Einzelstücks zurückzuverfolgen? In jedem Fall so weit als möglich; denn je weiter ich den Weg zurückverfolge, um so besser verstehe ich die Endgestalt, die ich zu exegesieren habe. In der Zeit GuNKELS pflegte man optimistisch zu äußern, die Formgeschichte verfolge die Stoffe bis zu ihrer ursprünglichsten Gestalt zurück. Ob man aber immer oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle zum Ursprung vorstoßen kann, ist billig zu bezweifeln. Immerhin ist dort, wo die Oberlieferungsgeschichte sich nicht über zu lange Zeiträume erstreckt, die Entstehung der Einheit oft noch aufzudecken 46 • Trotz der Überarbeitungen der profetischen Bücher läßt sich zumeist die älteste Form eines Profetenspruches noch herausschälen47 • Ähnlich steht es mit den Logien Jesu, R. MEYER: Das Gebet des Nabonid, Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-hist. Klasse 107, 3, 1962. 46 Zu beachten ist, daß Texte je nach Gattung sich verschieden schnell wandeln, prosaische z. B. schneller als poetische. - Die Sicherheit des Ergebnisses nimmt in jedem Fall proportional zur Entfernung vom vorliegenden Text ab. 47 Obwohl bei einer Reihe von profetischen Abschnitten nicht mehr erkennbar ist, ob und inwieweit sie auf ipsissima verba eines bekannten Profeten zurückgehen, schießt BIRKELAND mit. seiner grundsätzlich gemeinten Bemerkung: "Was dem Propheten und was der Tradition entstammt, kann nie sicher entschieden werden" (Vom hebräischen Traditionswesen 1938, S. 18), weit über das Ziel hinaus. 45
66
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
die sich aus den synoptischen Evangelien oft noch in ihrer Urgestalt ablesen lassen. Schon die wenigen Andeutungen geben wohl einen ungefähren Eindruck, welche reizvolle Aufgabe es ist, den Wandel bestimmter Einzelstücke zu verfoigen. Um einen bi blischen48 Text wirk lieh zu verstehen, ist es unumgänglich, hinter seine jetzige Gestalt überliefe rung sge schich tlich zurückzufragen, d. h. nach seinen Vorstufen zu suchen. Der widltigste Einschnitt bei allen ursprünglich mündlich weitergegebenen Stücken ist ohne Zweifel ihre Niederschrift, durch die der Wortlaut testgelegt und sehr viel schwerer änderbar wird. Sie verlieren dann in der Regel nicht nur die Selbständigkeit, sondern wechseln fast stets die Gattung unter Verlust bisheriger Formmerkmale. Aber darüber wird unten im Paragraf über mündliche und schriftliche Oberlieferung zu handeln sein. In der deutschsprachigen Bibelwissenschaft, vor allem auf alttestamentlichem Gebiet, besteht gegenwärtig die Neigung, den Begriff aOberlieferungsgeschichte" herauszustreichen und gegen die - bloß als Gattungsbeobachtung verstandene Formgeschichte abzusetzen. Demgegenüber wird hier - im Sinn GuNKELS - daran festgehalten, die überlieferungsgeschichtliche Methode als einen Zweig formgeschichtlicher Besinnung zu begreifen. Einmal deshalb, weil Form g es c h ich t e notwendig die Frage nach der Entstehung des literarischen Stücks einschließt, ·und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Gattung, sondern auch hinsichtlich der Einzelausprägung. Ohne Blick auf die Oberlieferungsgeschichte wird die Beobachtung von Gattung und Sitz im Leben leicht zu einer zeitlosen Abstraktion. Die Gefahren sind beim umgekehrten Vorgehen, nämlich bei der Verselbständigung der Oberlieferungsgeschiente gegenüber der Suche nach der Gattung und dem Sitz im Leben, noch größer. Die so verstandene Oberlieferungsgeschichte führt dann schnell zu willkürlichen Spekulationen. Nur die Geschichte der Gattung und des Sitzes im Leben gibt der überlieferungsgeschichtlichen Rückfrage einen gesicherten Rahmen.
E. Veränderungen von Rahmen-Einheiten
Überlieferungsgeschichte ist dort notwendig, wo eine literarische Einheit einen längeren Werdegang hinter sich hat; wo der Text also nicht so, wie er jetzt vorliegt, unmittelbar auf den schöpferischen Einfall eines bestimmten Verfassers zurückgeht, der in der Erstfassung schriftlich festgehalten ist, sondern im Lauf der mündlichen oder schriftlichen Weitergabe ein- oder mehrmals umgestaltet worden ist. Bei einem Annalenauszug des Jerusalemer Hofes z. B., der später in unsere Königsbücher aufgenommen wurde, oder bei den Grußpartien am Schluß der Paulusbriefe erübrigt sich in der Regel eine überlieferungsgeschichtliche Untersuchung, weil sie Schöpfungen einer bestimmten Stunde sind. Anders verhält es sich mit den größeren Komplexen, in denen jetzt diese Stücke stehen. Die Königsbücher sind all48
Natürlich gilt das auch für die nichtbiblische Literatur, s. S. HERRMANN: Untersuchungen zur Oberlieferungsgestalt mittelägyptischer Literaturwerke 1957.
Oberlieferungsgeschichte großer Einheiten
67
mählich entstanden, haben neben Annalen vieles andere Material aufgenommen und schon durch die Aneinanderreihung auch die Annalenstücke mit einer neuen Akzentsetzung versehen. Selbst ein Paulusbrief wie der Galaterbrief, der uns in seiner Erstgestalt erhalten ist (was schon beim Römerbrief und erst recht bei den Korintherbriefen umstritten ist), enthält an einigen Stellen vorpaulinische kerygmatische Formeln oder Material aus der hellenistisch-christlichen Missionspredigt, das zu einer überlieferungsgeschichtlichen Betrachtung herausfordert. überhaupt gilt die Regel, daß Überlieferungsgeschichte um so nötiger, aber auch um so aussichtsreicher zu betreiben ist, je größer die Einheit ist. Insbesondere jene Stücke, die in der Form der Rahmengattungen ursprünglich selbständige Oberlieferungen als Gliedgattungen sich einverleibt haben, sind die gegebenen Objekte. So fordern vor allem die großen Erzählwerke des Alten und Neuen Testaments eine überlieferungsgeschichtliche Betrachtung geradezu heraus. 1\hnliches gilt für die Profetenbücher oder die Offenbarung des Johannes. Je umfassender eine Einheit ist, desto ergiebiger ihre überlieferungsgeschichte, weil sie dann den Werdegang aller aufgenommenen, ehedem selbständigen Einheiten einschließt. So läßt sich nicht nur von einer Oberlieferungsgeschichte des jahwistischen oder priesterschriftlichen Werkes im Alten Testament reden, sondern auch von einer Oberlieferungsgeschichte der Komposition, in die beide später eingegangen sind, also zunächst des Tetrateuchs und dann des Pentateuchs, der in nachexilischer Zeit als Tora in der festen Gattung einer Heiligen Schrift ausgebildet wurde 49 • Die entsprechende Entwicklung zum großen umfassenden Komplex hat sich bei den neutestamentlichen Evangelien zwar nicht völlig durchgesetzt. Die Evangelienharmonien, wie sie schon in der Alten Kirche beginnen, sind nicht zur verbindlichen Endgestalt geworden, die die Einzelevangelien ersetzt hat. Immerhin schließt eine Oberlieferungsgeschichte des Matthäusevangeliums nicht nur die Entstehungsgeschichte der Einzelüberlieferungen, sondern auch das Werden des Markusevangeliums wie der Logienquelle- eine zweite Vorstufe des Matthäusevangeliums- ein.
F. Die Frage nach der Historizität von Erzählungen
Was trägt überlieferungsgeschichtliche Betrachtung aus? Sie läßt in jedem Fall den Hintergrund des Textes, mit dem sich der Ausleger zu beschäftigen hat, seine Gattung und deren Sitz im Leben, deutlich 49
Diese Ausweitung der formgeschichtlichen Arbeit wie überhaupt der engere Begriff von Überlieferungsgeschichte war der ersten Generation der Formgeschichtler noch fremd und ist besonders durch M. NoTH und G. v. RAD klärend in die Formgeschichte eingeführt worden.
68
§4
aberlieferungsgesmichte
hervortreten und verleiht ihm damit die für eine Auslegung nötigen historischen Konturen. Eine besondere Rolle nimmt aber die überlieferungsgeschichtliche Forschung im Blick auf jene erzählenden Teile des Alten und Neuen Testaments ein, die über die religiöse oder auch völkische Ge schichte Israels und der urchristlichen Gemeinde Aufschluß geben. Es geht hier also um den Bezug zu mehr oder weniger deutlich da tierbaren Geschehnissen. Durch die überlieferungsgeschichtlich ermittelten Vorstufen einzelner, vorher mündlich überlieferter Abschnitte der alttestamentlichen Geschichtsbücher, der neutestamentlichen Evangelien oder der Apostelgeschichte, lassen sich Aufschlüsse über jene Zeitläufe ermitteln, von denen keinerlei zeitgenössische Aufzeichnungen mehr verfügbar sind. Das ist von besonderer Bedeutung für die israelitische Frühgeschichte, also für die Zeit vor 1000 v. Chr. Es war ein naives und für unsere heutige Einsicht unmögliches Verfahren, wenn man im Zeitalter der Literarkritik von den Nachrichten über die Frühzeit Israels, wie sie in den ältesten ermittelten Quellenschriften vorlagen, sofort zu den Geschehnissen selbst übersprang. Denn die formgeschichtliche Betrachtung der Wandlungen der vorliterarischen Ober-' Iieferungen ist in diesem Zusammenhang unumgängliche Voraussetzung. Gegeben sind nicht die Tatsachen, sondern die Überlieferung; indem wir deren Welt rekonstruieren, nähern wir uns den Tatsachen50. Was beim Auszug der Ahnen Israels aus Ägypten am Schilfmeer sich ereignet hat, oder wie die Landnahme in Kanaan vonstatten ging, danach kann erst gefragt werden, nachdem die ä 1teste überlieferungsstufe der einschlägigen Texte erkannt worden ist. "Für die vergangene Epoche der kritischen Erforschung des A{lten) T(estaments), sonderlich der Anfänge Israels, stand - unbeschadet ihres Wissens um die Sagenhaftigkeit der alten und ältesten Oberlieferungen - die Frage nach dem Was, das jeweils berichtet wird, im Vordergrund, d. h. die Frage nach dem historischen Ablauf. Diese Frage hatte ihr gutes Recht, nur wurde sie ... zu früh an die Texte gestellt, denn vorher muß uns bei jeder Oberlieferungseinheit die Frage beschäftigen: Wer berichtet? Unter welchem Gesichtspunkt wird berichtet, wo ist der mutmaßliche geschichtliche und theologische Ort des Berichterstatters? Welche Absicht hat ihn dabei geleitet? Welcher Auffassung, welcher Tradition ordnet er sich ein?" 51 Von jenen Vorstufen ergeben sich gelegentlich verblüffende Verbindungen auch zu den Ergebnissen der A u s g r a b u n g e n in Palästina, während ein vorschneller Vergleich archäologischer Daten mit der Jetztgestalt der Texte oft unbefriedigend verläuft oder zu fragwürdigen Harmonisierungen führt. Erst die Oberlieferungsgeschichte bildet die 50
DrBELius, ThR 1929, S. 210.
51
v. RAo: Theologie I 1S. 14, 4S. 18.
Frage nach der Historizität
69
Klammer zwischen der Archäologie und den alttestamentlichen Nachrichten52. Wie wichtig es ist, jene Frühzeit zu erhellen, in der die israelitische Religion entstanden ist und die Eigenart dieses Volkes sich ausgebildet hat, darüber braucht kein Wort verloren zu werden. Dafür aber ist Oberlieferungsgeschichte unerläßlich. Selbst über die Zeit Davids oder später z. B. über die Reform Esras gibt erst das überlieferungsgeschichtlich geordnete Material sichere Kunde. Wer historisch nach Israel fragt und an datierbaren Ereignissen interessiert ist, kommt um überlieferungsgeschichtliche Arbeiten nicht herum. Martin NoTH hat den Zusammenhang beispielhaft für den Gesamtbereich der politischen Geschichte Israels aufgewiesen. Er hat vorgängig in seinen beiden Werken: Oberlieferungsgeschichtliche Studien I 1943 und Oberlieferungsgeschichte des Pentateuch 1948 die einschlägigen Texte auf ihre älteste Oberlieferungsstufe befragt und ist dann folgerichtig zu einer Gesamtdarstellung in seiner Geschichte Israels 1950 fortgeschritten 53. Am brennendsten wird die Notwendigkeit überlieferungsgeschichtlicher Untersuchung im Blick auf den historischen J esus. Von ihm gibt es keine eigenen Aufzeichnungen. Der Rahmen der Geschichte Jesu in den Evangelien, den man in der Zeit der Literarkritik unbesehen zur Grundlage der Leben-Jesu-Forschung gemacht hatte, stammt, wie sich inzwischen herausgestellt hat, von den Evangelisten54; er ist also erst Jahrzehnte nach den Ereignissen entstanden. Nur auf überlieferungsgeschichtlichem Weg ist es möglich, dem historischen Jesus nahezukommen, seinen Lebensweg einigermaßen zu erhellen und den Inhalt seiner Lehre und Predigt zu ermitteln. Merkwürdigerweise neigen einige Vertreter der formgeschichtlichen Arbeit beim Neuen Testament dazu, bei der Beschäftigung mit der überlieferungsgeschichte der Evangelien die Frage nach der Historizität der berichteten Begebenheit bewußt auszuklammern, ja, als unerlaubt abzutun55 . Man mag darüber streiten, ob die Behandlung der Historizität zur formgeschichtlichen Fragestellung unmittelbar dazugehört.
se M. NoTH: Der Beitrag der Archäologie zur Geschichte Israels, VTS VII, 1960, 262-282. sa Ahnlieh versuchte es schon GRESSMANN in seinem Buch: Mose und seine Zeit, FRLANT NF 1, 1913. 54 K. L. ScHMIDT: Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1919. 50 So M. DrBELrus, dem R. BuLTMANN: Tradition S. 6 mit Recht entgegengetreten ist. Aber auch bei BuLTMANN heißt Untersuchung der Historizität nur: stammt das Logion von Jesus oder nicht; im zweiten Fall gibt es die Zusatzfrage: palästinensische oder hellenistische Urchristenheit. - Gegen diese einfachen Lösungen jetzt G. ScHILLE: Der Mangel eines kritischen Geschichtsbildes in der neutestamentlichen Formgeschichte, ThLZ 88, 1963, 491-502 und H. ScHÜRMANN: Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, hg. von RrsTow-MATTHIAE 1960, 342-370.
70
§ 4 Oberlieferungsgeschichte
In jedem Fall schließt sie sich sachgemäß an die Herausarbeitung der ältesten überlieferungsstücke und ihres Sitzes im Leben an 56 • Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Irrtum, wenn Überlieferungsgeschichte nur als Hilfsmittel für die Ermittlung von "Fakten" betrieben würde. Wie wichtig die ältesten überlieferungsstufen auch sein mögen, gewichtiger ist wohl das, was im Lauf der Zeit in Israel oder im Urchristentum aus solchen Überlieferungen geworden ist. Je später die überlieferungsstufe, um so sicherer ist auch die Aussage, die darüber zu machen ist. Der eigentliche Wert überlieferungsgeschichtlicher Darstellung liegt darin, daß sie das Ge f ä 11 e des GI a u b e n s, Denkens und Verkündigens jener Menschen sichtbar werden läßt, die uns die Bibel überliefert haben. Schon GUNKEL konnte im Blick auf die Genesis formulieren: "Wir werden also, wenn wir das eigentlich Israelitische erfassen wollen, nicht sowohl auf den Sagenstoff selber, sondern auf das, was Israel daraus gemacht hat, oder auf die Geschichte, die er in Israel erlebt hat, zu achten haben57 ." Genau das gleiche gilt für die entsprechenden neutestamentlichen Texte. Ihre Überlieferungsgeschichte läßt den Weg urchristlicher Lehre und Liturgie deutlich werden. Der Begriff überlieferungsgeschichte, an Gattung und Sitz im Leben gebunden, ersetzt also für historische Betrachtung heute den verschwommenen Ausdruck" Tradition", wo immer es möglich ist, und läßt die Verbindung des göttlichen Handelns, der göttlichen Offenbarung, mit dem Reden und Schreiben des alten und neuen Gottesvolkes aufleuchtenss.
G. Motivgeschichte In diesem Zusammenhang ist eine Abgrenzung angebracht gegen das, was Motivgeschichte genannt wird. Bisweilen wird der Begriff einfach für überlieferungsgeschichtliche Forschung verwendet59 • Doch genaugenommen ist das Motiv "ein elementarer, in sich einheitlicher Teil eines poetischen Stoffes" 60 , wobei der Ton auf "Teil" zu legen ist. Das Motiv ist sozusagen das letzte Bauelement einer Überlieferung, kann nur im Zusammenhang einer literarischen Einheit, nie selbständig auftreten. In diesem Sinn lassen sich die Formmerkmale weithin als Motive bezeichnen. Aber neben solchen Gatt u n g s m o t i v e n, die mehr oder weniger notwendig der literarischen Form zugehören, finden sich in jedem sprachlichen Einzelstück besondere Motive, die sich einmal bei dieser, einmal bei jener Gattung ankristallisieren können; nennen wir sie gattungsfreie oder frei s c h w e i f ende MoSehr zutreffend J. DuPONT: Les Beatitudes 2 1958: "Avant de se demander ce que Jesus a dit ou fait, il faut prendre conscience des conditions dans lesquelles ses paroles OU ses actes Ont ete transmis par la tradition primitive puis rediges par les evangelites" (I S. 10). 57 GuNKEL: Genesis LXVIII. 58 R. RENDTORFF: Geschichte und Überlieferung, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen 1961, 81-94. 69 MowiNCKEL: Prophecy S. 25. eo GuNKEL: Genesis S. XX, A. 1. 58
Motivgeschichte
71
tive. Dazu gehören etwa bedeutungsvolle Zahlen-wie drei, vier, sieben, zwölf-, hinter denen sich im Alten Testament ein tiefer Sinngehalt verbirgt (so häufig auch im Neuen Testament z. B. in der Offenbarung Johannes) und die in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen. Untersucht man die Herkunft und Wandlung solcher Zahlensymbolik, so betreibt man Motivgeschichte, die aber in diesem Fall mit Formgeschichte nur eine lose Verbindung hat und mehr auf das Gebiet der Völkerpsychologie hinüberspielt61 • - Oder um ein anders geartetes Beispiel herauszugreifen - man verfolgt das Vorkommen der Vorstellung, daß Gott gerade den nach menschlichem Ermessen un tauglichen Mann herausgreift, zu seinem Werkzeug erwählt und den scheinbar viel geeigneteren übergeht (Ri. 6, 15; 1. Sam. 9, 21). Bei einem solchen Motiv läßt sich schon fragen, ob sein Platz nicht innerhalb der Berufungssage zu suchen ist; so zwar, daß es nicht notwendig zu deren Formenbau gehört - es taucht nicht überall auf, wo von Berufung gehandelt wird -, daß es aber andererseits auch nicht am völlig anderen Ort, etwa in einer Rechtsverhandlung, begegnen könnte. Noch stärker sind andere Motive gattungsmäßig gebunden. So gehört es zu bestimmten Arten von Sagen, typische Alltagsvorgänge im Haus und in der Familie zur Veranschaulichung heranzuziehen, z. B. das Verhältnis des Mannes zur geliebten oder un geliebten Frau (1. Sam. 1) oder das des Vaters zu seinen Söhnen (Josefsnovelle) oder das der Herrn zum Sklaven (Gen. 24). Taucht allerdings solm ein Motiv einmal im Profetensprum auf (Jes. 1, 2 f.), so kann es nur als gattungsfrei beurteilt werden. Es liegt an dem smillernden Gehraum des Begriffs Motiv, daß das damit Gemeinte teils in der Gattungs-, teils in der Oberlieferungsgesmimte eine Rolle spielt, teils aber aum in gewissen mit der jeweiligen Sprame verbundenen Vorstellungen gründet (wie die symbolismen Zahlen), so daß es weder hier nom dort zu behandeln ist. Die Grenze zwischen gattungsgebundenen und gattungsfreien Motiven ist zudem meist fließend 62 •
H. Traditionsgeschichte? Deutsche Exegeten neigen neuerdings dazu, von der Oberlieferungsgeschichte eine eigenständige Traditionsgeschichte abzusondern, welche "die aus mehreren Motiven geballten Traditionsströme durch das AT zu verfolgen trachtet" 03 • Es wird davon ausgega?gen, daß "feste geistig-sprachliche Komplexe in verschiedenen Texten konstant Wiederkehren ... ohne daß dieses Auftreten ... mit der Aufnahme eines bestimmten Oberlieferungsstücks oder einer bestimmten Gattung verbunden wäre"64. Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, daß es Vorstellungskomplexe unabhängig von Gattungen gegeben hat, - wir kennen die israelitischen Gattungen nur nicht meh: - is! der berechtigte Ausgang solcher Gedanken die Beobachtung, daß Lebensbereu;he w1; z. B. ~er !empe.l mehrere Sitze im Leben (Klagefeier, Herbstfest u. a.) aufwtesen, 1~den mtt emer Vtelzahl von Gattungen, und dom gleiche Ideen die verschtedenen Außerungen durchzogen. Hier handelt es sich aber weniger um Tradition" als um sondersprachliche Phänomene, für deren Erhellung semantische ':Methoden nötig sind (s. das Nachwort). Vgl. GRESSMANN, SAT2 II, 2, s. 74. Aus dieser Unbestimmtheit erklärt es sich, daß die Beurteilung der Motive unter den Formgesmichtlern sehr verschieden ist. GuNKEL hat die Motive als notwendige Formbestandteile angesehen (Genesis S. XX A. 1; Guß 25), während NoTH ihre Untersumung aus der Oherlieferungsgesmimte völlig ausschließen mömte (OGP 67-69). Die obige Unterscheidung versucht, eine mittlere Linie zu finden. Vgl. den Versuch BuLTMANNs, bei den Logien der Evangelien zwischen konstitutiven und ornamentalen Motiven zu untersmeiden (Tradition S. 73 ). 63 SELLIN-FOHRER: Einleitung in das AT, 101965, S. 27 f. 64 BARTH-STECK: Exegese des AT- Leitfaden der Methodik 11971 S. 71 und§ 8.
81 0
72 § 5 REDAKTIONSGESCHICHTE
A. Rückkehr zu den Endstufen der Oberlieferung ]. RoHDE: Die redaktionsgeschichtliche Methode, 1966 What is Redaction Criticism? 1970
N.
PERRIN:
Die Überlieferungsgeschichte - wie eben geschildert - geht vom Endstadium eines Einzelstücks aus und hellt dessen Weg durch die Zeiten auf (nach den Gesetzmäßigkeiten von Gattung und Sitz im Leben), um bis zur ältesten feststellbaren Vorstufe zurückzutasten. Doch liegt dem Exegeten ob, von daher wieder zurückzufinden zu dem Text, wie er heute vorliegt. Der Exeget sieht diese Endgestalt jetzt in einem neuen Licht. Bereichert durch die Kenntnis der überlieferungsgeschichtlichen Dimension, vermag er die Bedeutung der Literaturwerdung, der Verschriftung der jeweiligen Überlieferung, zu erfassen und näher zu erklären. Dieser - letzte - formgeschichtliche Arbeitsgang heißt Redaktionsgeschichte. Redaktionsgeschichtlich vorgehen meint, einen schriftlichen Text auf dem Hintergrund von Gattung, Sitz im Leben und Überlieferungsgeschichte zu interpretieren. "Redaktor" meint den überarheiter eines abgeschlossenen vorliegenden Schriftwerkes im Unterschied zum Schriftsteller oder Verfasser, der ein originales Werk gestaltet. Der Begriff Redaktor wurde vor einem halbep Jahrhundert in der Bibelwissenschaft in einem abschätzigen Sinn gebraucht. Redaktoren, so klagte man, hatten die großen Leistungen der biblischen Geschichtsschreiber, Profeten und Evangelisten nachträglich mit Zusätzen und - meist unzutreffenden und sehr prosaischen Erklärungen versehen und entstellt. Die Formgeschichte brachte eine grundlegende Umwertung des Verhältnisses Schriftsteller-Redaktor mit sich. Die Überlieferungsgeschichte der meisten biblischen Texte zeigt ein langes Wachstum in mündlicher Tradition, ehe es zur Verschriftung kommt. Der. Erstschrift s t e 11 er - sei er nun Geschichtsschreiber oder Evangelist - ist schon eine Art Redaktor, verfaßt keinen völlig eigenen Entwurf, sondern er samrrielt und stellt in eine mehr oder minder lose Ordnung, was er in seinem Lebenskreis als gültige. Überlieferung vorfindet. Der Stoff seiner Darstellung ist also längst vorgeformt, er entnimmt ihn nur dem lebendigen sprachgeschichtlichen Fluß der Weitergabe von Mund zu Mund, er läßt ihn · gleichsam gefrieren durch seine Feder und bannt ihn auf ein Stück Papyrus. Freilich halten die Erstschriftsteller die gesprochenen Einheiten nicht einfach nur fest wie ein modernes Tonband. Sondern sie leisten Kompositionsarbeit. Sie tilgen aus dem überkommenen Sprachgut - auch aus dem .Wortschatz -,was ihre~ Meinung nach nicht mehr aktuell oder gar irreführend ist und ersetzen es in ?er Sprache ihrer Zeit. Sie fügen klärende Erläuterungen ein, Hinweise auf örtliche und zeitliche Verhältnisse. Aus bestimmten Leitgedanken heraus lassen
Riickkehr zu den Endstufen
73
sie einen roten Faden durch das Gesamtwerk laufen. So die Erstschriftsteller.Aber es gibt- außer einigen neutestamentlichenBriefen-kein biblisches Buch, das uns noch in der Gestalt vorliegt, die ihm bei der ersten Verschriftung gegeben worden ist! Nachfolgende Generationen haben durch die Hand von Redaktoren die Arbeit des Erstschriftstellers ebenso aufgenommen und aktualisiert wie dieser seinerzeit die mündlichen Stoffe. Natürlich ist die Arbeit desjenigen, der umlaufende mündliche Überlieferungen zusammenfaßt und verschriftet, größer und schwieriger als die Arbeit der überarbeiter. Dennoch sind Grundtendenz und Arbeitsweise sich ähnlich1• Die Redaktions g es c h ich t e wendet deshalb ihre Aufmerksamkeit in gleicher Weise dem Erstschriftsteller wie den Redaktoren zu, sie verfolgt den Weg eines Textes von seiner Verschriftung bis zu seiner literarischen Endgest a 1t. Redaktionsgeschichtliche Betrachtung ist also überall da unerläßlich, wo mit einem längeren Werdegang des Einzelstücks auf schriftlichem Weg zu rechnen ist. In solchen Fällen ist vorgängig überlieferungsgeschichte notwendig. Nur daß die Arbeit jetzt gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen geschieht: von den frühesten Stufen wendet sich der Blick hin zu den letzten. Da Redaktionsgeschichte mit festem Wortlaut arbeitet, vermag sie mit anderer Intensität zu interpretieren, als es in der Überlieferungsgeschichte möglich ist, wo meist nur die Umrisse der Vorstufen sichtbar werden. Redaktionsgeschichtliche Aussagen sind deshalb von viel stärkerer Dichte als alle anderen formgeschichtlichen Betrachtungen. Sie münden kontinuierlich in die fortlaufende erläuternde Parafrase ein, also in die Einzelexegese des jeweiligen Abschnitts. Zumeist ist nicht nur auf einen einzigen Redaktor zu achten, sondern auf eine Folge von Redaktoren - deshalb Redaktions g es c h ich t e. Die meisten biblischen Schriften sind nicht das Werk einzelner Männer, sondern stammen aus Lehrinstitutionen, aus Sc h u 1e n, sei es nun von Profeten, Priestern oder Evangelisten1• Mehrfach werden die Werke abgeschrieben und bei der Abschrift zugleich umgestaltet und mit neuen Gedanken angereichert. Das schließt freilich die Einwirkung bedeutender Männer nicht aus.- Der Sitz im Leben bleibt bei den verschiedenen Redaktionen der gleiche. Er ist freilich auf der schriftlichen Stufe ein ar::derer als bei der mündlichen Weitergabe. In den Wie schwierig die Scheidung zwischen Erstschriftsteller und Redaktor ist, zeigt sich bei der Verschriftung des Tetrateuch. War der Jahwist (J) wirklich der erste, der zur Feder griff, oder fußt er auf einer älteren Grundschrift (G, so NoTH: ÜGP S. 40-42)? Ahnlieh stellt sich die Frage für das Matthäus- und Lukasevangelium hinsichtlich der von ihnen für die Reden Jesu benutzten Logienquelle (Q); war sie schriftlich oder mündlich im Umlauf? Waren Matthäus und Lukas in den Redepartien also Erstschriftsteller oder Redaktoren? z Bereits GuNKEL hat hinter den Tetrateuchquellen J + E solche Schulen vermutet (Genesis LXXXVI). In die neutestamentliche Diskussion wurde der Begriff vor allem durch K. STENDAHL eingeführt: The School of St. Matthew, Acta Seminarii Neotestamentici Upsaliensis XX, 1954. 1
74
§ 5 Redaktionsgeschichte
Redepartien der synoptischen Evangelien z. B. läßt sich deshalb ein dreifacher Sitz im Leben unterscheiden: der erste liegt in der Verkündigung des historischen Jesus, der zweite in der (mündlichen) gottesdienstlichen oder lehrhaften Rezitation der Urgemeinde, der dritte dann dort, wo der Evangelist selbst oder seine Schule am Werk ist. (Analog sind die Verhältnisse bei alttestamentlichen Profetenschriften und Geschichtswerken.) Dieser formgeschichtliche Arbeitsgang wird bei der Bibel dadurch erleichtert, daß die Schriftsteller meist in großer Ehrfurcht an die überkommenen Einzelstücke herangetreten sind. Was sie an Eigenem hinzusetzen, besteht in der Regel nur im Rahmen, mit dem sie den weithin disparaten Stoff mündlicher Überlieferung zusammenfassen. Dahin gehören die meist recht knappen Überleitungen von dem einen zum anderen ehedem selbständigen Einzelstück. Das geschieht durch einfache Wendungen wie: "Nach diesem aber geschah es" u. ä. 2" Oder sie verbinden Örtlichkeiten und Personen aus verschiedenen Überlieferungen. Vor allem geben sie dem Ganzen einen Aufbau, der bei näherem Zusehen durch klar abgegrenzte Teile gegliedert ist. Auch die Ein- und Ausleitungen der Bücher und der entscheidenden Unterabschnitte sind zu beachten. Weiter tun die Redaktoren ihre Meinung gern in Reden kund, die mehr oder weniger geschickt den Helden der Erzählung in den Mund gelegt werden. Das gilt für den Jahwi~en ebenso wie für den Kompilatoren des Jesajabuches oder den Evangelisten Matthäus. Wer redaktionsgeschichtlich vorgeht, fragt also zuerst nach Ein-und Ausleitung des betreffenden biblischen Buches, nach seinem Aufbau- und Anordnungsprinzip, um von da aus zur Interpretation der einzelnen Abschnitte weiterzugehen. B. Die Stellung der Seligpreisungen in den Evangelien
Die Se 1i g preis u n g e n der Bergpredigt sind nach fast allgemeiner Überzeugung der neutestamentlichen Forschung zuerst in der Spruchoder Logienquelle Q (schriftlich?) festgehalten worden sind, vermutlich in aramäischer Sprache. Die Gattung dieser Sammlung ähnelt der des Weisheitsbuchs des Jesus Sirach, den talmudischen Pirke Abot und dem gnostischen Thomasevangelium8 : Sentenzen eines autoritativen Lehrers werden in loser Anknüpfung aneinandergefügt. Da Q nicht mehr erhalten ist, sondern nur aus dem Matthäus und Lukas gemeinsamen Stoff erschlossen wird und außerdem anscheinend einer fortlaufenden Ergänzung und Umarbeitung unterworfen war, ist eine I. L. SEELIGMANN, ThZ 18, 1962, 315-324. Bei S. auch Darstellung der Wiederaufnahme eines fortlaufenden Quellenzusammenhangs nach Einfügung einer andersartigen Überlieferung, vgl. C. KuHL, ZA W 64, 1952, 1-11. 3 J. M. RoBINSON: Logoi Sophon, Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: Zeit und Geschichte, Festschr. R. BuLTMANN 1964, 77-96- D. LÜHRMANN: Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, 1969- N. WALTER: Die Bearbeitung der Seligpreisungen durch Matth., Stuciia Evangelica IV, 1968, 246-258. Weiter G. STRECKER, NTS 17, 1971, 255-275; H. FRANKENMÖLLE, BZ NF 15, 1971, 52--75.
2•
Seligpreisungen
75
redaktionsgeschichtliche Interpretation der Seligpreisungen aus dem Q-Zusammenhang heraus kaum möglich. Dagegen liegt die Redaktionsstufe auf der Hand, wie sie einerseits im Matthäus-, andererseits im Lukasevangelium vorliegt. Die Seligpreisungen gehen damit in eine Rahmengattung ein, in die des Evang e I i ums, einer original-christlichen Schöpfung, die nur in wenigen Einzelstücken4 aus der ersten nachapostolischen Generation erhalten ist und vermutlich in der griechisch sprechenden Ur c h r ist e n h e i t entstanden ist. Die Gattung Evangelium stellt jeweils die Reden und Taten Jesu sowie sein Leiden, kurz sein Geschick als frohe Botschaft und göttliche Offenbarung zum Heil der Menschen dar. Die Besonderheit dieser Gestalt sprengt so sehr alles herkömmliche Maß, daß zu ihrer Darstellung eine neue literarische Form erfunden werden muß 5 • Das geschieht wohl zuerst durch Markus und wird dann bei Matthäus und Lukas weitergeführt. "Das irdische Wirken Jesu wird zur Veranschaulichung der Christusbotschaft erzählt6 ." Der Sitz im Leben der Evangelien ist - vorsichtig ausgedrückt - dort zu suchen, wo die Vorstufen christlicher Theologie liegen7• Die zweite Generation der Christenheit blickt auf die begeisterte und begeisternde Verkündigung Jesu und der Apostel zurück; die führenden Köpfe beginnen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen altem Gottesvolk (Israel) und neuem Gottesvolk (Christenheit) zu reflektieren. Aber auch das Verhältnis von Christusgeschichte und bevorstehender Endzeit der Welt. Jeder Evangelist hat seine eigene charakteristische Blickrichtung. Dem Matthäusevangelium geht es im besonderen darum, Jesus als den im Alten Testament verheißenen Heilskönig und als messianischen Verkünder des "Himmelreichs" darzustellen, der rätselhafterweise vom alten Gottesvolk abgelehnt wird. Deshalb wird ständig auf alttestamentliche Weissagungen zurückverwiesen. Die Ablehnung Jesu durch Israel führt zur Gründung der Kirche, deren Verfassung ein besonderes Anliegen des Evangelisten ist. Matthäus sieht seine Aufgabe darin, das Verhältnis von Messias, Ekklesiologie und Enderwartung zu klären 8• 4
5
6 7
8
Die Gattung ist freilich nicht nur in den vier kanonischen Evangelien vertreten, sondern darüber hinaus in der apokryfen Evangelienliteratur des 2. und 3. Jahrhunderts. Dem entspricht, daß das Wort euangelion von Haus aus kein Gattungsbegriff ist, sondern erst allmählich- im zweiten Jahrhundert - dazu wird. G. BORNKAMM, RGG3 II, 749. K. STENDAHL: The School of St. Matthew, 1954, vermutet Schulen christlicher "Lehrer", die den Rabbinen zu vergleichen sind, als Träger der Evangelienstoffe. G. BORNKAMM in: Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangeliurn, WMANT 1, 1960 6 1970, 13 ff. Zur Redaktionsgeschichte weiter: W. TRILLING: Das wahre Israel. Studien z. Theol. d. Matth. Erfurter Theol. Studien 7, 1959 31964- G. STRECKER: Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchungen z. Theol. d. Matth. FRLANT 82, 1962 3 1971 - R. HuMMEL: Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judenturn im Matthäusevangeliurn, Beitr. z. ev. Theol. 33, 1963 2 1966.
76
§ 5 Redaktionsgeschichte
Das wird schon an der Ein- und Aus 1e i tun g des Buchs ersichtlich. Matthäus beginnt: "Das Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams" und schließt daran einen Stammbaum an. Er verknüpft schon am Eingang wie kein anderer Evangelist die Jesusgeschichte mit der Geschichte Israels und lehnt sich an den Stil alttestamentlicher Geschichtsbücher (Gen. 5, 1 u. ö.; Chron. 1-9) an. Sein Evangelium endet mit dem Auftrag an die Jünger, die Völker zu gewinnen und zu taufen, d. h. die Kirche auszubreiten; "und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt". Damit wird die eschatologische Begrenzung sichtbar. - Der Aufbau des Evangeliums ist deshalb nicht leicht zu erkennen, weil der Aufriß der beiden Vorlagen, nämlich des älteren Markusevangeliums und der Logienquelle, miteinander verflochten werden. Markieren die fünf gleichförmigen Redeabschlüsse "und es geschah, daß Jesus diese Reden vollendet hatte" o. ä. die Zäsuren zwischen den einzelnen Teilen des Buches (7, 29; 11, 1; 13, 53; 19, 1; 26, 1)? Deutlich ist jedenfalls, daß die Seligpreisungen Matthäus bereits als Eingang einer größeren Jesus-Rede überkommen waren, wie die Lukas-Parallele beweist. Matthäus aber baut diese Rede durch a11dere Jesuslogien zur Bergpredigt aus (Kap. 5-7) und läßt mit den Seligpreisungen die erste und grundlegende Verkündigung Jesu beginnen. Nachdem er vorher kurz berichtet hatte, daß Jesus das Nahen des R.eiches der Himmel kündete (4, 17) und seine Vollmacht durch erste Wunder unter Beweis gestellt hatte (4, 24 ), erscheinen nunmehr die Seligpreisungen als "Proklamation der von Gott verfügten Einlaßbedingungen" zum Reich der Himmel9 • Dadurch bekommen die überkommenen Jesus-Sätze einen neuen Akzent. Während auf der mündlichen Stufe - gemäß der Gattung der apokalyptischen Makarismen - die Verheißungen betont waren, also das "glückselig" und die zweite Hälfte der Sätze, werden jetzt die Ver h a 1t e n s weisen der Menschen stärker herausgestrichen: das Armsein im Geist, das Demütigsein, das Verfolgtwerden. (Zu diesem Zweck werden vom Evangelisten die beiden nachfolgenden Logien vom Salz und Licht sowie vom Licht, das auf den Leuchter gehört, angeschlossen V. 13-16). Die Jüngerschaft der christlichen Gemeinde soll sich vor der Welt durch ihre bessere "Gerechtigkeit" (V. 20) beweisen. Der Hinweis auf die Gerechtigkeit wird deshalb V. 6. 10 in die Seligpreisungen eingeschoben. Zugleich wird vielleicht durch eine eigene Seligpreisung zur Barmherzigkeit aufgerufen 10• Die Bedeutung der Bergpredigt stellt Matthäus durch eine einfache Überleitung heraus. In der Vorlage Q galten die Seligpreisungen 9 10
BoRNKAMM ebenda S. 14 nach WrNDISCH: Der Sinn der Bergpredigt 2 1937 S. 9, wo die Wendung freilich für die gesamte Bergpredigt gilt. Die Zahl von 9 Seligpreisungen mag auf ein Schema 3 X 3 abzielen. Matth. liebt symbolische Zahlen (7 in Kap. 13. 23).
Seligpreisungen
77
vermutlich nur den Jüngern (Luk. 6, 20). Der Evangelist verknüpft diese Notiz mit einem Abschnitt im Markusevangelium, wo von der Menge um Jesus die Rede war und es abschließend hieß (Mark. 3, 13a) "und er stieg auf den Berg". Matthäus kombiniert beide Angaben: "Als er aber die Mengen sah, stieg er auf den Berg. Während er sich setzte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf und lehrte, indem er sprach ... " Die Volksmenge um Jesus wird von Matthäus häufig herausgestellt (4, 25 f; 7, 28 usw). Gleichzeitig aber tritt die Sonderstellung der Jünger hervor, die Jesus umstehen, wie die Lewiten bei der Gesetzesverkündigung von Neh. 8, 4 Esra umstehen11 • Die Jünger gelten als Keimzelle der Kirche und der eschatologischen Menschheit. Der Berg aber läßt erkennen, daß Jesus ein Gegenbild zu Mose ist; wie einst auf dem Berg Sinai wird eine neue Gottesweisung (Tora) verkündet. Doch zeigen gerade die Seligpreisungen, wieviel verheißungsvoller der Ruf Gottes jetzt lautet, wo der Messias gekommen und das eschatologische Himmelreich12 nahegerückt ist. Auch das Lukaseva n g e 1i um hat die Seligpreisungen übernommen. Lukas beschränkt sich nicht wie die anderen Evangelisten darauf, die Christusgeschichte nur zu erzählen, sondern schildert sie als Mitte der Zeit 13 , der nach Ostern die Zeit der Kirche notwendig folgt, was Lukas in der Apostelgeschichte darstellt, die den zweiten Teil seines Werkes bildet. Es ist bezeichnend, daß die Gattung Evangelium bereits zu seiner Zeit sich so verfestigt hatte, daß man beim Lesen - gegen den Willen des Autors - den ersten Teil des lukanischen Werkes für sich nehmen kann und hinter Lukas 24 nicht das Gefühl hat, eine Fortsetzung sei unerläßlich. Lukas denkt in geschichtlichen Epochen: Zeit des Alten Gottesvolkes, Mitte der Zeit, Zeit der Kirche, Ende der Welt. Das färbt selbst auf den kurzen Abschnitt über die Seligpreisungen ab. Zweimal setzt er im Vordersatz ein "jetzt" hinzu und hebt damit die notvolle Gegenwart scharf von dem Dereinst des Heils ab. - Während es in der Spruchquelle bei den letzten Seligpreisungen von den Gegnern hieß: So haben sie die Profeten verfolgt (Matth. 5, 12 nach Q), erweitert Lukas den Wortlaut: In der gleichen Weise sind ihre Väter schon mit den Profeten verfahren (6, 23). 11 12
13
LOHMEYER z. St. (MeyerK). Die Anderung des Ausdrucks "Reim Gottes" in "Reim der Himmel" Matth. 5, 3 (und 10) entsprimt rabbinismer Smeu vor dem Ausspremen des Gottesnamens. Das läßt vermuten, daß der Evangelist - wenn er eine Einzelgestalt war - von Haus aus jüdismer Smriftgelehrter war. Oder war der Ausdruck smon in seiner Gemeindetradition geändert? So der Titel jenes Werkes, das die Redaktionsgesmimte des Lukas eröffnet hat: H. CONZELMANN, BHTh 17, 1954, 5 1964.
78
§ 5 Redaktionsgeschichte
Die Hinzufügung "ihre Väter" zeigt, daß die Generationen scharf voneinander abgehoben werden. Die Zeit der Profeten ist vorbei. Die Gegner sind nicht die gleichen, obwohl eine unheilvolle Kontinuität besteht. Wenn Lukas von der ersten Reihe der Seligpreisungen nur die anführt, die die Armen, Hungernden und Weinenden betreffen, so mag es darin begründet sein, daß er in der Spruchquelle nur diese drei Sätze vorfand. Doch passen gerade sie zu seiner Armentheologie. Denn nach Lukas ist Jesus besonders für die Verachteten und sozial D e k 1a s sie r t e n erschienen, für die Zöllner und Sünder (7, 36 ff.; 8, 1 ff.; 12, 13 ff.). Eine andere Eigenheit besteht darin, daß die Seligpreisungen sich nicht mehr an die Menge, sondern allein an die Jünger richten und in die Anrede verwandelt sind. Wirkt hier der griechische Makarismos nach, der vornehmlich den hervorragenden Sterblichen gilt, oder meint der Evangelist, daß gerade die Jünger und künftigen Leiter der Kirche in Armut und Mangel, gehaßt von der Umgebung, leben müssen? - Die Redaktionsgeschichte weist also auf, daß die Evangelisten sich bei ihrem Werk etwas gedacht haben. Um ihren Zeitgenossen die Bedeutsamkeit der Jesusgeschichte vor Augen zu führen, scheuen sie sich nicht, Jesusworte zu erweitern und zu verändern. Da sie sich vom Geist des lebendigen K yrios erfüllt wissen, fühlen sie sich zu solcher redaktionellen Arbeit nicht nur verpflicht~t, sondern geradezu gezwungen. Ein wichtiger Beitrag zum Thema: Inspiration der Heiligen Schrift.
C. Der Dekalog im Geschichtswerk und im Gesetzbuch Genauso ergiebig wie bei den neutestamentlichen Beispielen ist die redaktionsgeschichtliche Betrachtung beim klassischen Deka 1o g. Er ist zweimal Literatur geworden, sowohl in Ex. 20 wie in Dtn. 5. An der ersten Stelle ist eine redaktionsgeschichtliche Einordnung nur sehr vage möglich. Die Gebotsreihe trägt in ihrer Jetztgestalt unverkennbar ein deuteronomistisches Gepräge: Wendungen wie "das Sklavenhaus" Kgypten, "andere Götter", "niederwerfen und dienen", "der Name Jahwäs, deines Gottes" sind dafür schlagender Beweis (s. o. § 4). Ex. 20, 1-7 gehört demnach zu den in den ersten vier Mosebüchern ganz selten auftauchenden deuteronomistischen Abschnitten (sonst z. B. Gen. 15, 1-6. 13 f; Ex. 13,3-10). Wie, wo und wann diese deuteronomistischen Zufügungen entstanden sind, ist noch ungeklärt. Sie fügen den Dekalog in ein Heilsgeschichtswerk ein; eine Rahmengattung, die nur in Israel entstanden ist und für dessen Glauben ebenso kennzeichnend ist wie die Evangelien für das Urchristentum. Sollte der Dekalog schon vor dieser deuteronomistischen Überarbeitung in den literarischen Zusammenhang der Sinaiperikope
Dekalog
79
gehört haben, dann vermutlich zu der nur bruchstückhaft überlieferten, aus altprofetischen Kreisen stammenden Tetrateuchquelle des Elohisten. Dafür spricht der Gottesname am Eingang: "Es sprach Gott (C~;:t',~) alle diese Worte." Außerdem paßt der Gebotsvortrag an dieser Stelle nicht in den jahwistischen oder priesterschriftlichen Faden der Sinaierzählung hinein, wohl aber in den elohistischenZusammenhang14 • Dort könnte er hinter 19, 19 gestanden haben: Es entstand eine Posaunenstimme, immer stärker werdend, Mose redete, und Gott antwortete durch die Stimme; oder aber - unter der Voraussetzung, daß der elohistische Zusammenhang durch spätere Redaktionen gestört wurde und 20, 18-21 vor 20, 1 gehört15 - als Fortsetzung von 20, 21: Das Volk stand von fern; aber Mose näherte sich dem Dunkel, darin Gott war. Welche Rolle der Dekalog im Rahmen der elohistischen Sinaiperikope gespielt hat, welches Verhältnis von Gebot und Bund nach Meinung dieses Schriftstellers in ihm zum Ausdruck kommt, welches Licht vom elohistischen Werk im Ganzen auf die Einzelgebote fällt, läßt sich angesichts des bisherigen Standes der redaktionsgeschichtlichen Forschung noch nicht klären. Deutlicher ist die Stellung des Dekalogs im Deuteronomium. Das Deuteronomium ist von Haus aus ein Gesetzbuch eigener Art, für einen kultischen Gesetzesvortrag geschaffen (vgl. 31, 10 f) und nach dem Schema des Bundesformulars (o. § 2) aufgebaut: Paränetische Ausdeutung der Heilsgeschichte (4, 45; 6, 4-11, 30)- Gesetz (12, 1-26, 15)- Bundesschluß (26, 16-19)- Segen und Fluch (27 f)1 6 • Dem kultischen Brauch entsprechend redet der ältere Deuteronomiker Israel mit "du" an, im Singular. Zu diesem Urdeuteronomium gehört aber der Dekalog von Kap. 5 noch nicht; obwohl auch hier der für die apodiktische Verbotsreihe althergebrachte Du-Stil beibehalten ist, gehört er doch unlöslich in einen Zusammenhang, der sonst die pluralische Anrede bevorzugt17 und also die einzelnen Volksgenossen und nicht das Volksganze im Auge hat (4, 46-6, 3). Damit gehört er dem jüngeren Deuteronomiker zu, der wohl im 6. Jahrh. v. Chr. das Gesetzbuch entscheidend überarbeitet und erweitert hat und das Gesetzbuch in die Gattung der Abschiedsreden überführt: Mose wird vor seinem Tod an der Grenze des Gelobten Landes noch einmal von eigenartiger 14
15 16 17
Freilich sind im Tetrateuch sonst die deuteronomistischen Abschnitte in das jahwistische Werk eingebaut; NoTH ÜGS 32 A. 106. Zudem lesen die alten Übersetzungen in 20, 1 "Jahwä." Die Vertreter dieser Meinung bei STAMMS. 218 A. 3. Den Nachweis hat v. RAD in mehreren Veröffentlichungen geführt; zuletzt: Das fünfte Buch Mose, Deuteronomium (ATD) 1964, Einführung. MrNETTE DE TrLLESSE hat VT XII 1962, 29-87 ansprechend vermutet, daß der jüngere, pluralisch schreibende Deuteronomiker mit dt:-m Verfa~ser des deuteronomistischen Geschichtswerks (Jos.- 2. Kö.) identisch sei.
80
§ 5 Redaktionsgeschichte
Hellsicht erfaßt und erläutert seinen Volksgenossen Gottes Willen in zusammenfassender Weise. (Zur gleichen Gattung gehört das Buch der Jubiläen.) Mit zwei die zeitlichen und örtlichen Umstände schildernden Oberleitungen (4, 46-5, 5; 5, 23-6, 3) wird der Dekalog in das ältere singularische Deuteronomium eingebaut. In Abhängigkeit von Ex. 19 bis 24 wird auf den Bundesschluß am Horeb verwiesen, der "heute" nachvollzogen wird. Damals hat das Volk den Dekalog unmittelbar aus Gottes Mund vernommen. Die Wirkung war gewaltiges Erschrekken, so daß es Mose bat, allfällige weitere Gottesworte allein aufzunehmen. Jetzt erst, wo der Tod bevorsteht und sein Volk vor der Grenze des Gelobten Landes steht, ist Mose befugt, weiterzugeben, was er am Sinai als Einzelausführungen zum Grundgesetz der Zehn Gebote vernommen. Durch den redaktionellen Rahmen verändern sich Wirkung und Inhalt der Sätze. Der Dekalog wird hier zum Gotteswillen, der den Menschen erschreckt und seiner Schwäche bewußt macht; er ist nicht mehr primär heilschaffendes Wort, das die Fähigkeit zum Tun des Guten übereignet. Er steht an herausgehobenem Platz vor dem paränetischen Teil Kap. 6-11 und dem eigentlichen Gesetzescorpus Kap. 12-26. Damit erhalten die Zehn Gebote eine überragende Stellung für das gesamte Buch. Die leitende Absicht ist, das gesamte deuteronornisehe Gesetz als Auslegung des am Horeb verkündeten Dekalogs darzustellen. Der Dekalog wird also für den Redaktor zum grundlegenden Gotteswort an Israel, unmittelbar mit dem Bundesschluß am Sinai gegeben. So erhält die apodiktische Gebotsreihe, einst eine Gebotsreihe unter vielen gleicher Art, einen neuen Sinn und ein ungemeines Gewicht für das Gottesverhältnis, wird zu dem Gotteswort schlechthin; das aber erst durch die Hand des (zweiten) Deuteronomikers. Mit den wenigen Bemerkungen zu den Seligpreisungen und dem Dekalog sind die Möglichkeiten redaktionsgeschichtlicher Erhellung der beiden Überlieferungen keineswegs erschöpft. Doch zeigen schon die verhältnismäßig knappen Andeutungen, wie entscheidend diese Arbeitsweise für das Verständnis biblischer Texte ist. Redaktionsgeschichte heißt, die Umgestaltung einer sprachlichen Einheit durch die Verschriftung und nachfolgende Redaktionen bis zur literarischen Endgestalt verfolgen. Damit endet die formgeschichtliche Untersuchung.
D. Forschungsgeschichte Liest man die programmatischen Außerungen aus der Anfangszeit der Formgeschichte, so entsteht der Eindru
A. Eichhorn und die religonsgeschichtliche Schule, 1914 S. 35
Forschungsgeschichte
81
daß man über der Sudle nam den Ursprüngen "niemals die spätere Entwicklung vergessen" darf. Bei GuNKEL heißt es von der Genesis: "Wir werden also, wenn wir das eigentlich Israelitisme erfassen wollen, nimt sowohl auf den Sagenstoff selber, sondern auf das, was Israel daraus gemamt, oder auf die Gesmimte, die er in Israel erlebt hat, zu amten haben 19." Noch deutlimer Bouss.ET über die Offenbarung des Johannes: "Freilim wird es immer wichtiger bleiben - es wird dieser Gesimtspunkt gar zu oft übersehen - festzustellen, was der Apokalyptiker selbst mit diesen (seinen Quellen) gemamt hat, als in dem Dunkel der hinter ihm liegenden apokalyptismen Tradition einige unsimere Smritte zu thun. - Aber aum diese Arbeit muß gethan werden, und zwar smon deshalb, weil eine genauere Erforsmung der Quellen und der der Apk. vorliegenden Tradition indirekt wieder einen klareren Einblick gerade in das eigentümlime und marakteristisme dieser selbst giebt" 20 • In der formgeschichtlimen Theorie ist also von Anfang an die redaktionsgesmimtlime Betrachtung miteinbegriffen. In der Praxis aber haben GRESSMANN und nom mehr GUNKEL darauf keinen Wert gelegt. Sie besmränken sim darauf, die Wandlungen von der ältesten erreimbaren Stufe einer Erzählung bis zu ihrer letzten Ausgestaltung in der mündlichen Weitergabe unmittelbar vor der Smriftwerdung zu untersumen. Diese relative Endstufe, bevor die Oberlieferung in einen anderen Aggregatzustand (den der Schrift) umsmlägt, wird von GUNKEL gern als der "hebräisme Erzähler" bezeimnet und ist der eigentliche Zielpunkt seiner Interpretation. Was danam folgte, das Werk des Jahwisten und der späteren Redaktoren, gilt als bloße Sammlertätigkeit21 • Die Smriftsteller des Tetrateums haben die Stoffe "im wesentlimen so übernommen ... wie sie sie vorgefunden haben", sie haben nimt "den Stempel ihres Geistes" aufgedrückt 22 • Nur eine gewisse "Vergeistlimung" der Erzählungen geht auf sie zurück, und es ist smwer zu entsmeiden, ob diese Knderung nicht zu bedauern ist23 • Nom weniger wird den Männern, die die profetismen Bümer in ihrer Jetztgestalt zusammengestellt haben, irgendwelme Bedeutungo beigemessen. Sie haben es hömstens - im Bum Hesekiel tat es der Profet selbst - zu einer zeitlimen und nicht zu einer sad!limen Anordnung gebracht24 • Bei einer solchen anti-literarismen Einstellung wirkt offenbar der Einfluß der deutschen Romantik und ihre Betonung des Volksmäßigen nach25 • (Vielleimt aum die zeitgenössisme Lebensphilosophie mit ihrer Homsmätzung des irrationalen Lebensstromes, des nicht Festgelegten, nom nicht Erstarrten?) Ahnlimes ist auf neutestamentlichem Gebiet zu beobamten. Wo die Gesmimte der synoptismen Tradition formgesmimtlim ersmlossen wird, wird die Sammlertätigkeit der E van gelis ten zwar erwähnt, ihr aber ein so geringes Gewimt beigelegt, daß z. B. bei BuLTMANN noch 1953 in seiner großangelegten Theologie des Neuen Testaments die Konzeptionen der einzelnen Evangelisten - abgesehen von Johannes - keine eigene Würdigung erfahren. Ausführtim kommen zur Sprame "die Verkündigung Jesu" wie "das Kerygma der Urgemeinde" und 19 20
21
22 23 24 25
Genesis S. LXVIII vgl. LXVI f, s. o. S. 60. Die Offenbarung Johannis 1896 S. 164 (MeyerK). Die Einschätzung dieses Umsmlags geht aus Bemerkungen wie dieser hervor: "Die schriftliche Fixierung wird ... mit dazu beigetragen haben, die nom vorhandenen Reste mündlimer Oberlieferung zu töten; so, wie das smriftlime Gesetz die Institution der Priestertora, und wie der neutestamentlime Kanon die urmrist!imen Geistesträger getötet hat" Genesis S. LXXX. Genesis S. LXXXII f. Genesis S. LXXXV. GuNKEL: GrPro S. XL f. L. UHLAND: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter S. 112: "Das Smriftwerk als solmes, das einzelne Gedimt, als Kunstganzes, die jeweiligen Verfasser und Ordner sind nimt von wesentlimem Interesse; sie gehen uns nur insoweit an, als uns die nähere Bekanntsmaft mit ihren Merkmalen für die kritische Würdigung der volksmäßigen Emtheit der in smriftgefaßten Sagen dargeboten wird."
82
§ 5 Redaktionsgeschichte
der "hellenistischen Gemeinde", "die Theologie des Paulus und des Johannes", nicht aber die der synoptischen Evangelisten28 . Bei DIBELIUS wird die Formgeschichte ausdrüddich auf die Zeit mündlicher Weitergabe beschränkt27 • Die Evangelisten sind Sammler28 , bringen nichts prinzipiell Neues 29 , es sind also keine Schriftstellerpersönlichkeiten. Ahnlieh ScHNIEWIND: "Die Rekonstruktion von Gedankengängen, um die sich der Exeget bei Paulus müht, ist bei den Synoptikern ein methodischer Fehler 30 ." Auf alttestamentlichem Gebiet zeigen sich Ansätze zu redaktionsgeschichtlicher Betrachtung schon in MowiNCKELS Untersuchungen der pro f e ti s c h e n Bücher und ihres Aufbaus 31 • Mowinckel bekennt dabei ausdrücklich, daß er ohne GuNKEL auf solche Studien nicht verfallen wäre 32 . Doch bleiben seine Versuche zu skizzenhaft und noch viel zu sehr literarkritisch ausgerichtet, als daß sie zu einer wirklichen Neuorientierung hätten führen können. Sehr viel stärker geht MoWINCKEL in seinem späteren Werk Prophecy and Tradition, 1946, auf redaktionsgeschichtliche Fragestellungen ein; aber das zu einer Zeit, als diese Betrachtungsweise schon längst auf anderen Gebieten des Alten Testaments ausgebildet und heimisch geworden war. Die Wendung geschah durch GERHARD VON RAD mit seinem Buch: Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch 33 • Energisch wird das Steuer herumgeworfen ·und von der Erkenntnis des weiten überlieferungsgeschichtlichen Weges der meisten Hexateuchs t o f f e her gefragt, wieso es eigentlich zu so geschlossenen Endstadien wie dem jahwistischen Werk kommen konnte. Hier wird endlich die formgeschichtliche Befragung bis zu ihrem Endziel hin durchgeführt. Der Rahmen dieses Schriftwerkes, der den so disparaten Stoff verbindet -:- so entdeckt v. RAD - , ist nicht bloß eine schriftstellerische Notlösung. Er stammt vielmehr aus einem uralten kultischen Brauch, die Heilsgeschichte - von den Erzvätern an oder vom Auszug aus Agypten an bis zur Landnahme in Palästina - regelmäßig an einem Fest feierlich zu rezitieren und sich preisend zu ihr zu bekennen. Das hergebrachte Glaubensbekenntnis wird zum Rahmen der ersten Tetrateuchquelle, eben des Jahwisten. Von der Rahmenkonzeption her empfangen die einzelnen Teilstücke ihr besonderes Gewicht, erhalten die einstmals selbständigen Oberlieferungen völlig neue Akzente. Was v. RAD an den ersten Büchern der Bibel begann, hat Martin NoTH mit seinen überlieferungsgeschichtlichen Studien 1943 für das deute ro no m i s ti s c he und chroni sti sehe G eschich t s werk, mit seiner Oberlieferungsgeschichte des Pentateuch 1948 fortgeführt. Was hier unter der Oberschrift Überlieferungsgeschichte abgehandelt wird, behandelt im Grunde nur jenen Teil dieser formgeschichtlichen Betrachtungsweise, der sich auf den schriftlichen Weg jener Texte bezieht, also die Redaktionsgeschichte. Dieser Begriff ist freilich erst nach dem zweiten Weltkrieg aufgekommen, und zwar in der Synoptikerforschung durch W. MARXSEN~ 4 • MARXSEN wie CoNZELMANN35 in dem Parallelwerk über die Entstehung des Lukasevangeliums übertragen die Methoden v. RADs und NoTHs auf die neutestamentlichen Evangelien. Die Synoptiker werden nur in dem Abschnitt "Paradosis und historische Tradition" gestreift (1464-473. 4471-480.) !7 Formgeschichte S. 4. !8 DIBELIUS: Formgeschichte S. 2. zu BuLTMANN: TraditionS. 347. 3° ScaNIEWIND, ThR 1930 S. 164. 31 Zur Komposition des Buches Jeremia, SNVRO 1913, 5; Die Komposition des Jesajabuches Kap. 1-39, AcOr 11, 1933, 267-292. 82 Buch Jeremia S. 67. 33 BWANT IV, 26, 1938 = GS 9 ff. Vgl. aber schon H. W. HERTZBERG: Die Nachgeschichte alttestamentlicher Texte innerhalb des A.T., BZAw 66, 1936, 110-121 = Beiträge zur Traditionsgeschichte und Theol. des A.T., 1962,69-80. 34 Der Evangelist Markus, FRLANT NF 49, 1956. Ansätze schon bei R. H. LIGHTFOOT (s. PERRIN 21-24). 35 S. S. 66 A. 11. !ß
Forschungsgeschichte
83
Der redaktionsgeschichtliche Gesichtspunkt der Formgeschichte ist noch jung. Längst nicht alle biblischen Schriften sind bisher auf diese Weise untersucht worden. Redaktionsgeschichte ist aber unabdingbar, wo die Formgeschichte wirklich durchdacht betrieben wird. Erst durch redaktionsgeschichtliche Untersuchungen wird der Boden für eine wirklich historische Einzelexegese erschlossen.
Der überblick über die verschiedenen Gesichtspunkte, die zu formgeschichtlicher Untersuchung notwendig hinzugehören: Beobachtung von Gattung und Sitz im Leben, Erforschung von Gattungs-, Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte, zeigt die Breite dieser Forschungsrichtung und läßt ihre Bedeutsamkeit für die Interpretation aller biblischen Schriften erahnen. "Demnach ist die Gattungsforschung . . . nicht eine Liebhaberei, die man nach Belieben betreiben oder vernachlässigen könnte, sondern sie ist die grundlegende Arbeit, ohne die es keine Sicherheit in allem übrigen geben kann36 ." Wie die Beachtung der grammatischen und syntaktischen Formen jedem ernsthaften Interpreten selbstverständlich ist, muß es auch die Beachtung der literarischen Formen, genauer der sprachlichen Gattungen, werden. So ist die Formgeschichte im Grunde eine Art "höherer Grammatik". Wie von den Verfassern des Alten Testaments selbstverständlich gilt: "Jenen Antiken waren die Gesetze der literarischen Formensprache von Kindesbeinen an ebenso vertraut wie etwa die Regeln der hebräischen Grammatik" 37, so gilt entsprechendes für die neutestamentlichen Schriftsteller. Die Kenntnis der formgeschichtlichen Grundbegriffe ist deshalb für jede saubere Exegese unerläßlich3B.
36
37
88
GuB 8. GuNKEL RuA 32. Die herkömmliche Beschäftigung mit der Grammatik sieht den Satz als Grundeinheit und wesentlichen Ausdrulk des Gedankens an. Aber die organischen Einheiten der Sprache sind Formeln und Gattungen, nicht Sätze. Der Satz ist eine logische Abstraktion, nichts ursprünglich Gewachsenes; den Molekülen der Physik vergleichbar, nicht dem physikalischen Körper. "Aber es gilt andererseits, daß wir gar nicht in Sätzen und nicht in aneinandergereihten Sätzen sprechen, sondern in ,Reden'. Tatsächlich stößt eine genaue Analyse von Abschnitten nicht nur auf eine bestimmte Art der Satzverbindungen, sondern auf Gebilde, die verhältnismäßig geschlossene Einheiten der Rede darstellen" (W. KAYSER: Das sprachliche Kunstwerk S. 150). Wenn auch die Gesetzmäßigkeiten der Gattungen den Israeliten und frühen Christen - wie jeder Sprachgemeinschaft - in Fleisch und Blut übergegangen waren, so bedeutet das selbstverständlich nicht, daß wir jene noch erschöpfend aus den biblischen Schriften erheben können. Insofern gibt es in der Tat "Grenzen" für die Formgeschichte, genau wie für die Grammatik der hebräischen Sprache oder des Koine-Griechisch. Sie beginnen dort, wo eine Gattung in zu wenig Einzelstülken vertreten ist und außerbiblische Parallelen fehlen oder wo der· Sitz im Leben nicht mehr ausfindig zu machen ist; s. BERNHARDT: Die gattungsgeschichtliche Forschung S. 30 (s. o. bei § 1).
Zweites Kapitel: Der weitete Umkreis § 6 LITERARKRITIK UND FORMGESCHICHTE H. GRESSMANN: Albert Eidiliorn und die Religionsgesmidltlime Sdtule, 1914 - Ders.: Die Aufgaben der alttestamentlidten Forsdtung, ZAW NF 1, 1924, 1-33 - W. BAuMGARTNER: Zum 100. Geburtstag von Hermann Gunkel, VTS IX, 1963, 1-18 - H.-J. KRAus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des A. T. 1956, §§ 74-78. 80. 83 f. 89-92 - W. KLATT: Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode. FRLANT 100, 1969 - J. ScHNIEWIND: Zur Synoptiker-Exegese, ThR NF 2, 1930, 129-189 - W. G. KüMMEL: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Orbis Academicus 111, 3, 1958, 177-230. 310-393. 417-438 - R. H. LrGHTFOOT: The Gospel Message of St. Mark 1950, 98-105.
A. Quellenscheidung
Ein Student, der sim zum erstenmal an die Exegese eines biblismen Absmnitts wagt und zu einem älteren Kommentar greift, stellt in vielen Fällen verwundert fest, daß gar nimts oder nur sehr wenig über Gattung und über Sitz im Leben, dagegen sehr viel über Quellen, Redaktionsarbeit und Glossen zu lesen ist; kurz, jener Gesimtspunkt im Vordergrund steht, den man Literarkritik nennt. Wie verhält sim die ältere literarkritisme zur neueren formgesmimtlimen Untersumung? Es gibt heute nom Forsmer, die die Formgesmimte der Literarkritik unterordnen und sie nur als Hilfsdisziplin dieser erhabenen Smwester gelten lassen. Es gibt andererseits Versume, die lirerarkritische Arbeit überhaupt auszubooten und nur die Formgesdlimte zuzulassen; und es gibt dazwischen viele hilflose Studenten, die sim nimt im klaren sind über Untersmiede und Zuordnungen der beiden Arbeitsweisen. Klärung ist nur von einem Rückblick auf die Forschungs g eschichte her möglim. Die formgesdlimtlime Arbeitsweise, deren Methoden das erste Kapitel entfaltet hat, ist heutzutage in der Bibelwissensmaft fast allgemein anerkannt1• Selbst an den Lehrstätten, wo sie nimt praktiziert 1
Aus dem katholismen Bereidt sei die Enzyklika "Divino afflante spiritu" vom 30. September 1943 zitiert: Wer einen rid!.tigen< Begriff von der biblismen
Inspiration hat, wird sidt nic:ht wundern, daß "trotzdem audt bei den biblismen Sdtriftstellern wie bei den anderen alten Autoren gewisse Formen der Darstellung und Erzählung vorkommen, gewisse Eigenheiten, die besonders den semitismen Spramen angehören." Ausdrüddidt wird darauf verwiesen, daß sidt dieser Gesichtspunkt in den letzten Jahrzehnten zu Recht geltend gemamt habe. - Dazu J. DuPONT: "Le Souverain Pontife fait de l'etude des genres
85
Quellenscheidung
wird, erfreut sie sich doch stillschweigender Duldung. Ausdrückliche Ablehnung findet sich selten. Wo im Blick auf die Evangelien ihre "Grenzen" betont und bestimmte Folgerungen abgewiesen werden, handelt es sich nicht um eine Leugnung der Formgeschichte als solcher, sondern gewisser Arten ihrer Anwendung2 • Daß diese Forschungsrichtung in der Bibelwissenschaft sich durchsetzen konnte, ist aber ungemein erstaunlich, ist sie doch erst ein halbes Jahrhundert alt und hat sie doch in ihrer Anfangszeit wütende Angriffe von seiten der damals herrschenden Wissenschaft erfahren, und zwar sowohl von deren "liberalen" wie "positiven" Vertretern. Die am Ausgang des letzten Jahrhunderts allgemein anerkannte Arbeitsweise war die sogenannte Literarkritik. Der hervorragendste Vertreter auf alttestamentlichem Gebiet - und darüber hinaus war J. WELLHAUSEN. In der neutestamentlichen Wissenschaft gab es keine vergleichbar überragende Gestalt, am ehesten wäre hier H. J. HoLTZMANN zu nennen. Worin besteht der Unterschied zwischen Literarkritik und der aufkommenden Formgeschichte? Die literarkritische Methode geht von der Erkenntnis aus, daß die biblischen Schriften nicht nur hinsichtlich ihrer Entstehungszeit oft Rätsel aufgeben, sondern daß auch die Verfasserverhältnisse durch einen vielschichtigen Redaktionsprozeß höchst undurchsichtig geworden sind. Ehedem selbständige Quellen wurden miteinander verbunden, ja ineinandergearbeitet oder auseinandergerissen und zu verschiedenen selbständigen Büchern gestempelt3 • Der Literarkritiker versucht deshalb, die Originalwerke wieder herauszulösen, ihre Abfassungszeit genau zu bestimmen und die Pers ö n I ich k e i t des Verfassers möglichst scharf zu erfassen. Das führt dazu, daß er gleichsam mit einem Seziermesser an die Texte herangeht, vor allem auf Risse
a
2
3
et des formes litteraires la tftche primordiale qui s'impose !'heure actuelle aux exegetes catholiques." Les Beatitudes I 2 5. 25. Lateinischer Text: H. DENZINGER: Enchiridion Sympolorium 32 1963 Nr. 3830. Vgl. die Instruktion der Päpstl. Bibelkommission vom 21. 4. 1964 über die historische Wahrheit der Evangelien (s. auch: J. HELEWA DE LA CRorx, Ephemerides Carmeliticae XVI, 1965, 371-383). Vgl. die Arbeit von H. RrEsENFELD: The Gospel Tradition and its Beginnings, mit dem Untertitel "A Study in the Limits of ,Formgeschichte' ", 1957. Allerdings muß ich gestehen, daß ich den Untertitel nicht begreife. Denn wenn R. die Frage nach dem Sitz im Leben der Evangelientraditionen stellt, so wendet er damit gut formgeschichtliche Argumente an; auch dann, wenn er die Meinung DIBELrus' zurückweist, daß der Traditionsursprung in der Predigt zu suchen sei, weil dies zu protestantisch gedacht und der formgebundenen Art urchristlicher Missionsverkündigung und Gemeindeunterweisung nicht entsprechend sei. Der formgeschichtlichen Arbeitsweise widerspricht freilich, daß die Beobachtung der Gattungsunterschiede durch R. völlig übergangen wird, und zwar in dreifacher Hinsicht: im Blick auf 1. den Evangelienstoff, 2. die Literatur des zeitgenössischen Israelitenturns und 3. die damalige Einschätzung des Alten Testamentes (stand die Tora mit den Profeten und gar den Hagiografen auf einer Linie?). Die Unordnung mancher biblischer Bücher hatten die Theologen schon seit langem bemerkt; vgl. das Lutherzitat oben S. 13 A.17.
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte
86
im Zusammenhang achtet, also auf fehlende Gedankenverknüpfung, auf störende Doppelungen und sachliche Widersprüche, auf Unterschiede im Sprachgebrauch, die in anderen Zeitumständen und religiösen Vorstellungen wurzeln. Das literarkritische Geschäft führt zur Q u e 11 e n scheid u n g. Die ursprünglichen Quellen (schriftlicher Art) werden mehr oder weniger hypothetisch wiederhergestellt, in ihrem einstigen Wortlaut rekonstruiert und alle späteren verdeutlichenden oder uminterpretierenden Zufügungen als Arbeit von Redaktoren und damit als unwesentlich ausgeschieden. Diese seit dem 18. Jahrhundert aufgekommene und gegen Ende des 19. Jahrhunderts .sich weithin durchsetzende Arbeitsweise hat zweifellos imponierende Ergebnisse zutage gefördert. Bei den alttestamentlichen geschichtlichen Büchern (vor allem im Tetrateuch) wie in den profetischen Büchern (Entdeckung von Deuterojesaja u. ä.) und in den neutestamentlichen Evangelien (Markus ältestes Evangelium; daneben Spruchquelle Q) haben ihre Ergebnisse heute allgemein Anerkennung gefunden. Die Probleme und Resultate solcher Forschung sind in den "Einleitungen" in das Alte und Neue Testament zusammengefaßt. In der Meinung, vorurteilslos zu sein, setzten die Literarkritiker voraus, daß die Bibel im Grunde die gleiche Art von Schrifttum enthalte wie der moderne Büchermarkt. Die israelitisch-urchristlichen Schriftsteller sind also mit gleichen Maßstäben zu messen wie neuzeitliche Verfasser. Von einer Tetrateuchquelle, einem Profeten, einem Evangelium oder einem Apostelbrief erwartete man die gleiche straffe und logisch durchdachte Ordnung wie von einigermaßen begabten Zeitgenossen. Gewiß war nicht zu übersehen, daß die biblischen Schriften nicht nur die Sprache der Zeit verwendeten und insofern von ihrer Umgebung beeinflußt waren, sondern auf weite Strecken vorgeformte Tradition übernommen hatten; doch erschien das unerheblich. So heißt es z. B. von den Erzählungen über die ägyptisw,.en Plagen: "Die älteste Gestalt dieser Tradition lässt sich freilich nicht mehr feststellen, und interessirt uns auch nicht weiter" 4 • Der berühmte WELLHAUSEN bemerkt im gleichen Sinn zur Apokalypse Johannes, daß sie tatsächlich an gewissen Stellen einen Stoff übernimmt, "der von der Conception des Autors nicht immer völlig durchdrungen ... ist ... ; woher jedoch dieser Stoff ursprünglich stammt, ist methodisch ganz gleichgiltig"5. Mit einem staunenswerten Eifer hat sich die Generation unserer Großväter auf die biblischen Schriften gestürzt, mit peinlicher Genauigkeit jeden Riß im Zusammenhang und jeden Widerspruch entdeckt, um Exodus (HKATI/2 1903) S. 57.- Ahnlieh noch heute amerikansiche Alttestamentler der Albright-Schule: "' ... Nor is there any objective m~thod by which the history of the traditions may be traced", ]. BRIGHT: A H1story of Israel, 1960, S. 69. s Skizzen und Vorarbeiten 6, 1899, S. 233. 4 BAENTSCH
Literarkritik
87
dann mit dem literarischen Seziermesser Quellen und Redaktionen zu trennen. Wer sich in diese subtilen Einzelanalysen nicht einmal hineinversenkt hat und von ihnen hingerissen wurde, ist nicht wert, ein Exeget zu heißen. Li t e r a r k r i t i k h e i ß t : B i b I i s c h e B ü c her analysieren unter Beachtung von fehlender Gedankenverbindung, Doppelungen, Widersprüchen und individuellem Sprachgebrauch mit dem Ziel, den Anteil der einzelnen Verfasser und Redaktoren sowie Ort und Zeit der Entstehung genau abzugrenzen.
B. Das Geschichtsbild der Literarkritik WELLHAUSEN hat die literarkritischen Methoden nicht erfunden, sondern nur meisterhaft gehandhabt. Seine eigentliche Leistung war die Verbindung von literarkritischen Ergebnissen mit einem völlig neuen Bild der Geschichte Israels (und des Urchristentums), welches das traditionell-kirchliche Bild der Biblischen Geschichte über den Haufen warf. Dabei verfuhr er so, daß er von der zeitlichen und örtlichen Ansetzung einer Quellenschrift oder einer Redaktorenhand unvermittelt zum Verlauf der äußeren Geschichte überging. Die biblischen Verfasser waren stets von der jeweiligen staatlichen oder religiösen Tagespolitik inspiriert, reflektienen nicht etwa über alte Traditionen als solche. Sie wollen auf eben diese gegenwärtigen Verhältnisse mit ihrer Schrift einwirken. Die unvermittelte Verklammerung von Quellenscheidung und Geschichtsdarstellung kennzeichnet WELLHAUSENS Behandlung der verschiedenen Geschichtsbereiche. Ein paar Beispiele für a) die Literatur g e'schichte : Die alttestamentlichen Gesetzeskorpora sind erst in nachprofetischer Zeit niedergeschrieben worden. Also, folgern die Vertreter der reinen Literarkritik, ist die Vorstellung von einem göttlichen Gesetz in Israel vor den Profeten nicht vorhanden gewesen. Im Neuen Testament bringen erst die paulinischen Schriften dogmatische Aussagen über den Christus, demnach war die älteste christliche Gemeinde ohne jede Christologie und vor allem Jesus selbst völlig "undogmatisch'". Für diese An von Geschichtsschau, rein von der Literarkritik her, fußt jeder biblische Schriftsteller ohne irgendwelche Zwischenglieder auf den Ausführungen seines Vorgängers. Bei den alttestamentlichen Gesetzesbüchern sah das Ergebnis etwa so aus: das älteste war das Bundesbuch (Ex. 21-23), im siebten Jahrhundert ist es vom Deuteronomium aufgenommen bzw. ersetzt worden; die Priesterschrift wiederum in nachexilischer. Zeit negiert das Deuteronomium und ersetzt es durch ein neues Werk8 • Oder im Neuen Testament: Jesus gründet mit seiner Verkündigung im alttestamentlichen Schrifttum und entwickelt von da aus seine Lehre. Auf der Lehre Jesu bauen die Spruchquelle und das Markusevangelium auf, auf diesen beiden wieder Matthäus und Lukas. Der eine Verfasser übergibt sozusagen sein Werk in die Hände des nächsten. Dazwischen schiebt sich nichts außer ein paar unwesentlichen Glossen. (Nur die Einordnung des Paulus in eine solche geschlossene Kette bereitete wachsendes Unbehagen; er erscheint mehr und mehr als zweiter Stifter des Christentums.) Noch stringenter wird von der Quellenscheidung her das Bild derb) äußeren und c) r e 1i g i ö s e n Ge schichte Israels und des Urchristentums. WELLHAUSEN hat seinen Schülern unauslöschlich eingeprägt - unter den Neutestamentlern war F. C. BAuR in gewisser Weise schon vorangegangen - , daß jede biblische Schrift von der Tendenz ihres Verfassers her bestimmt und also zunächst als Geschichtsquelle der 5
Vgl. die Hypothesen über die Obernahme der babylonischen Sintflutsage bei GUNKEL, Genesis S. 72 ff.
88
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte
Zeit ihrer Abfassung zu werten ist. Was Paulus über Jesus schreibr, ist zuerst ein Dokument der Christologie dieses Apostels und seines Lebensweges. Was die Priesterschrift über Mose berichtet, spiegelt die Erfahrungen des priesterlichen Verfassers mit Kult und Gesetz in der exilischen oder nachexilischen Zeit wider7 • Was freilich an geschichtlichen ·Angaben übrigbleibt, nachdem die Tendenz des Schriftstellers abgestrichen ist, das darf in der Regel nach Abzug von allfälligen Unwahrscheinlichkeiten als dokumentarischer Bericht über jene Zeit gewertet werden, von der die Quelle zu berichten beansprucht. So entspringt z. B. die Erzählung vom Bundesschluß und von der Gesetzgebung am Sinai der Tendenz der Pentateuchquellen, ist also nur für die Geschichte ihrer Abfassungszeit auszuwerten. Dagegen läßt sich von einer solchen Tendenz her nicht erklären, daß Jahwä am Sinai im Dornbusch Mose erschienen sein soll und Mose daraufhin nach Xgypten gewandert ist; dies also ist eine glaubwürdige Nachricht aus der Mosezeit". Für die Feststellung, was als jünger und was als älter zu gelten hat, benützte man außerdem das einfache Evolutionsschema aus dem 18. Jahrhundert, nach dem die Religion sich in der Stufenfolge: Fetischismus (später: Animismus) - Polytheismus - Monotheismus entwickelt hat. Von diesen simplen und eingängigen Voraussetzungen her ist WELLHAUSENS "Israelitische und jüdische Geschichte" geschrieben 9, ein Vorbild für zahlreiche ähnliche Werke über die israelitische und urchristliche Zeit. Nur im Blick auf die synoptischen Evangelien ist das Programm von den meisten Literarkritikern nicht konsequent durchgeführt worden. Nach WELLHAUSENS Ansicht war das meiste, was Markus über Jesu Lehre schrieb, eigentlich Lehre des Markus, insbesondere die eschatologischen und christologischen Aussagen; das historische Evangelium Jesu gilt ihm als "unmessianisch" und "uneschatologisch". Mit der Ausklammerung des Eschatologischen waren die Fachgenossen zwar einverstandent!), daß Jesu messianisches Selbstbewußtsein aber für den Historiker hinfallen sollte, war für die Vertreter der liberalen Leben-Jesu-Forschung zuviel. - Doch bestand Übereinstimmung, daß alles, was nicht der Tendenz der Evangelisten entstamme, direkt von den Aposteln oder Jesus herrühren müsse. Die Methpde der Literarkritik und ihr unvermittelter Obergang von der literarischen Quelle zum Geschiehtsahlauf war so einleuchtend und überzeugend entwickelt und bewährte sich so sehr an der Fülle des Materials, daß anscheinend nur dogmatische Voreingenommenheit dagegen protestieren konnte. Das Drängen auf Exaktheit in dieser Epoche der Bibelforschung drängt geradezu den Vergleich mit der klassischen Physikauf, die in den gleichen Jahrzehnten auf den Höhepunkten ihrer Geltung stand. Es ist verständlich, daß es heute noch Alt- und Neutestamentler gibt, die die literarkritischen Methoden für die einzig wahren und ob j ek ti ven Methoden halten10• 7
8 8 10
So läßt sich auch von den Tagesereignissen her unvermittelt auf die Textentstehung schließen, z. B. beim Deuteronomium, denn "in allen Kreisen, wo überhaupt auf Anerkennung wissenschaftlicher Resultate zu r6chnen ist, wird anerkannt, daß es in der Zeit verfaßt ist, in der es entdeckt und der Reformation des Königs Josias zu grunde gelegt wurde." WELLHAUSEN, Prolegomena z. Gesch. Isr. 6 1927 S. 9. WELLHAUSEN: Geschichte S. 11 (s. nächste Anm.) 1 1894, 9 1958. Dabei nahm und nimmt man in Kauf, daß die fortschreitende literarkritische Forschung zu einer zunehmenden Atomisierung der herkömmlichen Bücher führte, weil immer neue Widersprüche und Unzusammenhänge auftauchten und nach weiterer Zerlegung schrieen. Immer mehr Halb- und Viertelverse wurden auseinandergeschnitten und den verschiedenen Quellen oder Redaktoren zugewiesen. So werden in Jos. 5 die V. 4-8 von einem namhaften Vertreter der literarkritischen Schule, nämlich H. HOLZINGER (KHCAT VI, 1901), nicht weniger als fünf verschiedenen Händen zugewiesen, wobei nur V. 8 einer wirklichen Quelle zugehören soll. Von den übrigen Versen heißt es: "Es ist das
89 C. Erweiterung der Methoden durch die Formgeschichte 11 Die literarkritische Methode war in sich schlüssig. Wie aber, wenn manche ihre angeblich objektiven Voraussetzungen so objektiv nicht sein sollten, sondern allzu neuzeitlich gedacht? Eine der wesentlichsten Einsichten GuNKELS, die seine Freunde und Schüler aufnahmen12 , bestand darin, daß der Gedanke der literarischen 0 riginali tä t, der in unseren Tagen eine so große Rolle spielt und zu den selbstverständlichen Voraussetzungen der Literarkritik gehört, den alt- und neutestamentlichen Schriften völlig unbekannt war. Die schöpferische Persönlichkeit spielte hier eine viel geringere Rolle. So entsteht der Einwand, die Literarkritik kümmere sich "zu ausschließlich um die großen Persönlichkeiten" und pflege sie, "durch Nichtwissen verleitet, zu sehr als Originale auszugeben, ohne die geschichtliche Verknüpfung mit der Vergangenheit und ohne die Verflechtung in die zeitgenössische Umwelt gebührend zu berücksichtigen" 13 • Die
11
12
13
Natürlichste V. 5 Ri", V. 6a JE 8 ••• , V. 6b D 8 , V. 4. 7 einem Glossator aus der Schule P ... zuzuweisen" (die unterschiedlichen Siglen bedeuten verschiedene, zeitlich auseinanderliegende Bearbeitungen). Mit solchen allzu minutiösen Einzelaufschlüsselungen machte sich die reine Literarkritik der Haarspalterei verdächtig. Der Weg der neu testamentliehen Formgeschichte läßt sich gut an den ForsdJ.Ungsberid!.ten der "Theologisd!.en Rundsd!.au" verfolgen. Zu den bei § 1 genannten Sammelberid!.ten von DIBELIUS und IBER siehe nod!. M. DIBELius: Zur Formgeschichte dd N. T. (außerhalb der Evangelien), ThR NF 3, 1931, s. 207-242. Zum Kn;is um GuNKEL gehörten vor allem die Mitarbeiter an dem Auslegungswerk "Die Schriften des AT in Auswahl neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt" und der Monografienreihe: Forsd!.ungen zur Religion und Literatur des A. und N. T. sowie der RGG 1• Das waren unter den Alttestamentlern vor allem der einfalls- und kenntnisreiche, aber ein wenig unkritische Hugo Greßmann, dann Willy Staerk, Paul Volz, Hans Sd!.midt und Max Haller. Zur zweiten Generation gehören vor allem der Gunkel kongeniale Sigmund Mowinckel, weiter Joad!.im Begrid!., Kurt Galling, Emil Balla, Walter Baumgartner, Otto Eißfeldt, Johannes Hempel, Friedrid!. Horst, Curt Kuhl und Christian Johannes Lindblom. Unter den Neutestamentlern stimmte zunäd!.st nur Wilhelm Bausset der formgesd!.id!.tlichen Behandlung - und das allein im Blick auf die Apokalypse - zu (zur Anwendung auf die Evangelien entsd!.loß er sid!. nur zögernd; KüMMEL, 316f., 344 f.). Der Durd!.brud!. gesd!.ah erst in der zweiten Generation, vor allem durd!. Martin Dibelius und Rudolf Bultmann; daneben sind Martin Albertz, Georg Bertram, Lyder Brun, Paul Fiebig, Ernst Lohmeyer, Karl Ludwig Schmidt und Julius Sd!.niewind zu nennen. Nad!. Gunkels Tod wurde es um die Formgesd!.ichte stiller. Sie wurde im Alten Testament fast nur im Kreis um Albred!.t Alt gepflegt, zu dem aud!. Gerhard v. Rad und Martin Noth gehörten, die im Grundsätzlichen weitere Klärung gebrad!.t haben. Auch hinsichtlid!. des Neuen Testamentes trat eine Stagnation ein. - Nach dem zweiten Weltkrieg entfaltete sid!. die formgesd!.id!.tlid!.e Arbeit in vordem ungeahnter Breite. Hier alle Forsd!.er zu nennen, die in den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern, z. T. aber auch in Amerika auf diesem Gebiet tätig sind, ist unmöglich. In England hat Robert Henry Lightfoot der Formgeschichte Bahn gebrochen. GRESSMANN: A. Eichhorn S. 38; vgl. GuNKEL, RuA S. 30 f. und Genesis LXXXII; ScHNIEWIND, ThR NF 2, 139 sowie die Feststellung auf S. 152, "daß schon Papias' und Justins Anschauung von den Evangelien durd!. ein analoges Mißverständnis getrübt ist".
90
~ 6 Literarkritik und Formgeschichte
geschichtlichen Bücher des Alten wie des Neuen Testaments sind nicht von "Verfassern" gestaltet, sondern tragen überlieferungsgut zusammen, das einen langen Werdegang hinter sich hat. Ohne Erhellung dieses übernommenen Stoffes ist ein zutreffendes Verständnis etwa der Evangelisten überhaupt nicht zu erreichen. Woher der Stoff stammt, wie er auf mündlicher Stufe gestaltet war, ist also, entgegen dem commonsenseder damaligen Bibelwissenschaft, keineswegs "methodisch ganz gleichgiltig". "Will man die Bedeutung einer Persönlichkeit richtig einschätzen, so muß man zuvor wissen, wie weit ihre Gedanken von vergangenen Generationen oder von der Umwelt abhängig sind" 14 • Es genügt die Annahme nicht, daß ein biblischer Schriftsteller dem nächsten sein Werk unvermittelt weiterreicht zur Anregung und Umgestaltung. Vielmehr stehen die biblischen Verfasser in einer vielgestaltigen Bewegung religiösen Sprechens und Denkens, in der keineswegs nur schriftliche Quellen ausschlaggebend sind. Wer dem nachgehen will, muß sich über die Produktivität anonymer Kreise, der religiösen Gemeinden oder des Volksmundes Gedanken machen. Eine der ersten Entdeckungen in dieser Hinsicht war, daß in der Regel mündlich nur kurze Überlieferungen weitergegeben werden. Also wird man den Rahmen (der Evangelien, der Tetrateuchschriften) den Schriftstellern, die in sich geschlossen wirkenden Einzelabschnitte aber der mündlichen Tradition zuzuweisen haben. Die Abgrenzung älterer, kleinerer Einheiten aus den vorliegenden Schriftwerken wird zum Einsatzpunkt formgeschichtlicher Forschung. Waren solche Überlegungen noch mit der herkömmlichen Weise der Quellenscheidung notdürftig zu vereinen, so ließ doch die nächste Erwägung eine unreflektierte Weiterführung der konsequenten Literarkritik fragwürdig werden. Hatten die Schriftsteller ihr Material aus einer einzigen Tradition? Das ist bei so verschiedenartigen Gattungen, wie sie hinter den biblischen Büchern weithin erkennbar werden, kaum anzunehmen. Es besteht Grund zur Annahme, daß die geschichtlichen Bücher Überlieferungen aus manchen Orten und von vielen Personen aufgespürt und dann schriftlich zusammengefaßt haben. Wo aber Stücke verschiedener Art und Herkunft gesammelt werden, bleibt nicht aus, daß es zu notdürftig verkitteten Rissen im Erzählungsfortgang und zu gewissen Doppelungen und Widersprüchen kommt. Ein straffer logischer Aufbau, wie wir ihn von einem modernen Roman oder gar einer wissenschaftlichen Studie erwarten, ist also von vornherein aus g es c h 1o s s e n. Längst nicht jeder Riß im Zusammenhang berechtigt zur Quellenscheidung, vielmehr sind die Sprünge im Textzusammenhang oft ein Hinweis auf das Zusammenfließen verschiedenartiger über~ Iieferungen auf der mündlichen Stufe der Erzählungen. Doppelungen 14 GRESSMANN,
ebd. S. 32 f.
Die Veränderung des Geschichtsbilds
91
werden bei mündlicher Weitergabe absichtlich benutzt, um bestimmte Aussagen dem Gedächtnis einzuprägen. Ein weiterer Punkt des GuNKELsehen Programms war die mit Hilfe der Gattungs- und Überlieferungsgeschichte erst mögliche Erschließung des gewaltigen altorientalischen und hellenistischen Verg I e i c h s m a t er i a I s für die biblische Exegese. Nicht von ungefähr gehörte GuNKEL zugleich der "Religionsgeschichtlichen Schule" als führendes Mitglied an. Die Literarkritiker wußten mit den durch die Ausgrabungen in steigendem Maß zutage geförderten außerisraelitischen Texten wenig anzufangen und waren dort hilflos, wo diese von gegnerischen Kreisen gegen die Theologie ausgespielt wurden, wie es im sogenannten Bibel-Babel-Streit15 geschah. Erst im Zeichen der Formgeschichte wird eine methodisch besonnene Weise des Vergleichs biblischer Texte mit altorientalischen und hellenistischen entwickelt 16 , die viele bis dahin dunkle Stellen in der Bibel zu erhellen vermag und gerade auf dem Hintergrund der Nachbarkulturen die Besonderheit Israels und seines Geschicks erkennen läßt wie auch die Einzigartigkeit der Person Jesu. Zugleich wird durch die oft Jahrhunderte älteren außerbiblischen Dokumente bewiesen, einen wie langen Weg viele alt- und neutestamentliche Überlieferungen hinter sich haben, ehe sie in die Quellen aufgenommen wurden. Durch solche Einsichten verändert sich notwendig die Einstellung des Exegeten zum Text. Zugleich wird auf den je verschiedenen Sitz im Leben geachtet; soziolo gisehe Faktoren vedangen ständige Beachtung. Das flächige Aufteilen auf Quellen und Redaktionen trat mehr und mehr zurück hinter der gleichsam dreidimensionalen Erfassung einer langen Sprachgeschichte. D. Die Veränderung des Geschichtsbilds Dadurch wird a) das Bild der Literatur g es c h ich t e komplizierter. Der Exeget hat nicht mehr eine geschlossene Kette vor sich, wo eine Schrift sich ohne "Zwischenraum" an die vorhergehende reiht und auf ihr aufbaut; sondern er hat damit zu rechnen, daß z. B. beim Übergang vom Markusevangelium und der Spruchquelle zu Matthäus zahlreiche uns unbekannte, mündliche (und schriftliche?) Oberlieferungen mit eingeströmt sind, die Vorstellungen und Verhältnisse einer anderen Gemeinde einwirken. Es genügt also nicht, die Tendenzen des letzten Schriftstellers abzustreichen, um bei der jeweiligen Vorlage zu landen. Entsprechendes gilt erst recht, wenn von Markus und Q aus auf die Lehre Jesu zurückgeschlossen wird. Ziehe ich die "Tendenz" der beiden ab, gelange ich erst zur palästinensischen oder hellenistischen Urgemeinde mit ihren mündlichen Jesus-überlieferungen, noch lange nicht zu Jesus selbst. Ebenso erscheint b) die religiöse Ge schichte Israels und des Urchristentums mit einem Schlage ungemein verzweigt und nicht mehr einfach von den Fixpunkten der Quellen und Redaktionen her zu erreichen. Für die Literarkritiker bot das frühe Israel eine primitive Religion, die sich dann schnell und aus sich selbst entwickelte. Jetzt wird erkannt: "In Wirklichkeit ist sie (die Religion) schon in der für uns äl15 18
RGG !3, 822 f. Sie hebt an mit GuNKEL: Schöpfung, 1895.
92
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte
testen Zeit das Product einer Geschichte, sie hat entscheidende Motive aus der Religion Kanaans aufgenommen; sie ist deshalb schon zu der Zeit, wo unsere Quellen einsetzen, eine cornplicierte Erscheinung" 17• Die bisherige Sicht der biblischen Religionsgeschichte entpuppt sich als allzu naiv: "Wenn man festgestellt hatte, wann und bei wem eine Anschauung zum ersten Male nachweisbar sei, knüpfte man daran im allgerneinen den Fehlschluß, daß· die betreffende Idee aus eben jener Zeit und von eben jenem Schriftsteller stamme, bei dem sie zuerst bezeugt sei. Daß eine Vorstellung oder ein Stoff auch eine Vorgeschichte haben könne, kam den Forschern selten genug in den Sinn. So gelangte man zu Folgerungen, die uns heute schon ganz unmöglich erscheinen: Zephanja sollte zuerst den Gedanken der Weltkatastrophe gedacht, Amos das Prädikat ,Jahve Zebaoth' geschaffen und Sacharja den Teufel erfunden haben. Auf neutestamentlichem Gebiet stand es nicht besser: Reich Gottes galt selbstverständlich als ein von J esus geprägter Begriff ... das Einswerden mit Gott war ein Zeichen spezifisch paulinischer Mystik, die Gegensätze von Wahr7 heit und Lüge, Licht und Finsternis waren johanneischen Ursprungs18." Der neue Grundsatz für die Geschichtsschreibung lautet nun: "Der Satz, daß eine religiöse Vorstellung nicht erst aus der Zeit ihrer Kodifizierung datiert, der auf dem Gebiet des Alten Testaments allmählich Axiom zu werden beginnt, muß auch für die urchristliche Geschichte seine Geltung behaupten19." Das althergebrachte Evolutionsschema zerbricht, das die israelitische Religion in nicht viel mehr als 1000 Jahren von einer primitiven Naturreligion zum monotheistischen Höhenflug gelangen ließ20 • Aber es ist nicht nur so, daß für die Forrngeschichtler u n zäh 1i g e b i b 1i s c h e Angaben mit einem Mal sehr v i e 1 ä 1t er erscheinen, als die Literarkritiker annahmen, weil das Datum der Niederschrift überlieferungsgeschichtlich gleichsam weit nach rückwärts zu verlängern ist, bis man zum Datum der Historizität gelangt. Es gibt ebensooft den umgekehrten Fall. Bei jenen Angaben über c) die äußere GeschidJte nämlich, die die reine Literarkritik nicht von der Tendenz eines Schriftstellers abzuleiten wußte und deshalb nach Abzug von unwahrscheinlichen und unglaubhaften Zügen für historische Wahrheit nahm. Hier wird durch die Formgeschichte zunächst einmal die Geschichte der Gattung und des Einzelstücks studiert und mit dem Sitz im Leben verglichen, um zu sehen, was im Lauf der Zeit alles während der mündlichen Weitergabe zugewachsen ist. Dadurch erweisen sich manche Einzelheiten von Erzählungen als jünger denn bislang angenommen. Vieles entpuppt sich als Deutung, was die reinen Literarkritiker für Tatsachenbericht nahmen. So erweist sich der übergreifende zeitliche Rahmen sowohl im Tetra-(bzw. Hexa)teuch wie in den Evangelien als "theologisches Programm einer späteren Generation21 • Für die Klärung der Historizität einer Erzählung z. B. über Mo s e bleibt dann zumeist wenig übrig. Diese kritisChe Betrachtung der Zeitspanne mündlicher Oberlieferung hat vor allem bei den Je s u s -Überlieferungen zu einer revolutionären Umgestaltung des Geschichtsbildes geführt, ja geradezu das Ende der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts heraufbeschworen. Nicht nur, daß statt ein paar einigermaßen eindeutig datierbarer Quellen plötzlich eine Fülle von zumeist schwer datierbaren Oberlieferungss tu f e n zu berücksichtigen ist und das historische Bild verwirrt. Neben diese Ver17 18 19 20
21
GuNKEL: SchöpfungS. 157. GRESSMANN: A. EichhornS. 31. DrBELIUS 1911 bei KüMMELS. 334. WELLHAUSEN dagegen ging mit naiver Selbstverständlichkeit von einem "Volksglauben" aus, der "den Israeliten mit den [sie!] Heiden gemeinsam" war, Skizzen und Vorarbeiten 6, 1899 S. 232 f. v. RAD über die literarkritische Schule: "War man sich auch der Sagenhaftigkeit vieler Einzelüberlieferungen durchaus bewußt, so glaubte man doch, in dem großen dispositioneilen Rahmen (Väterzeit - Bedrückung in Kgypten Exodus - Sinaioffenbarung - Wüstenwanderung - Landnahme) eine einigerrnaßen verlässige Andeutung des geschichtlichen Ablaufs sehen zu dürfen" Theologie I 4 19).
Die Veränderung des Geschichtsbilds
93
breiterung in der Vertikalen tritt eine weite Streuung in der Horizontalen insofern, als statt des undifferenziert vorausgesetzten Lebensbereichs "Literatur" plötzlich eine Menge von Sitzen i rn Leben auftauchen, die zu berücksichtigen sind. Hinter der Weitergabe biblischer Stoffe tauchen Lebensbereiche wie die kultischen Feste aus Altisrael und die Gottesdienste der Urgerneinde, Rechtspflege und volkstümlicher Erzählungsbrauch auf; Bereiche, von denen man vorher keine Ahnung hatte; Bereiche, über die wir keine direkten Nachrichten besitzen, sondern die erst aus Andeutungen in den Texten zu erschließen sind, damit von daher wieder Licht auf die Texte selbst zurückfällt. In der Ebene WELLHAUSENscher Geschichtsbetrachtung tauchen mit einem Mal Senken und Schluchten auf, die vorn Historiker erst mühselig erforscht werden müssen, ehe er zu einer fortlaufenden Darstellung fähig ist. Kein Wunder, daß es der ersten Generation der Forrngeschichtler weder auf dem Gebiet der literarischen noch auf dem der politischen noch dem der religiösen Geschichte gelang, einen neuen Gesamtentwurf vorzulegen. Wer in der strengen lirerarkritischen Schule groß geworden war und gemäß dem Ideal positivistischer Objektivität diese Methoden handzuhaben sich angewöhnt hatte wie der Chirurg sein Operationsrnesser, mußte vor solchen Folgerungen entsetzt zurückschrecken. Die lirerarkritische Schule fühlte sich ihrer Sache so sicher, daß sie für GuNKELs und seiner Freunde Gedanken höchstens Spott übrig hatte. Als er GuNKELs erstes überlieferungsgeschichtlich angelegtes Werk "Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit" las, hatte WELLHAUSEN den Eindruck, "dass dagegen nur zu protestiren sei" 22 • Der zweite große Mann alttestamentlicher Literarkritik, B. DuHM, konterte: "Dass es kritischer und historischer sei, weltumwandelnde Gedanken aus einer halb unbewusst erfolgten Ansammlung von Ansichten und Reflexionen zu erklären, das Grosse nicht durch grosse Männer gethan, sondern durch die namenlose Masse oder durch die Gährung der Stoffe selber ausgebrütet zu denken, das ist ein Satz, der aus dem Neid des geistigen Proletariats entsprungen ist23." Der Neutestamentler B. WErss unternahm, was er nur vermochte, um GuNKEL von der Berliner Universität fernzuhalten, damit seine kühnen Hypothesen nicht die Studenten verwirrten. Mehr noch als eine solche ausdrückliche Ablehnung hat GuNKEL verbittert, daß die meisten Exegeten seine Thesen stillschweigend links liegenließen24 • Höchstens, daß einmal der Vorwurf mangelnder Objektivität erhoben wurde 25 • Zweifellos war das Bild der alt- und neutestamentlichen Literatur wie das Bild der israelitisch-urchristlichen Geschichte im Zeitalter der reinen Literarkritik geschlossener als heutzutage, nachdem formgeschichtliche Gedanken in die Forschung eingesickert sind. Das liegt aber nicht an den diffusen Theorien der Forrngeschichtler, sondern an dem so komplexen Charakter der historischen Wirklichkeit. 22 23 24
25
Später milderte er sein Urteil; Skizzen und Vorarbeiten 6, 1899 S. 225 f. Jesajas (HKAT) S. 99 zu 14, 26. Guß 21. "Ein auf dem Boden der Literarkritik aufgebautes Geschichtsbild, das jede Erscheinung erst für den Zeitpunkt in Anspruch nimmt, in dem sie literarisch bezeugt ist, mag den Vorwurf verdienen, daß es sich in sklavische Abhängigkeit begibt von der literarischen Tradition, die doch mit tausenderlei Zufälligkeiten behaftet ist; aber man wird ihm zugestehen müssen, daß es bis zu einem hohen Grade den Charakter der Objektivität für sich in ·Anspruch nehmen kann. Die mit der stoffkritischen Methode arbeitende Geschichtsbetrachtung aber entfernt sich, je mehr sie glaubt, sich über die Resultate der Literarkritik erheben zu können, um so mehr von dem Boden der Objektivität." 0. ErssFELDT Preußische Monatshefte 23, 1919 S. 175 = Kleine Schriften I, 1962 S. 35. Den Satz führe ich an, weil er symptomatisch für die damalige Stimmung ist. ErssFELDT würde sich vermutlich heute anders äußern. - Der überlieferungsgeschichtliche Standpunkt stellt mit Verwunderung fest: "Es gibt wirklich Leute, die glauben, die älteste uns erkennbare Überlieferung mit dem geschichtlichen Vorgang selbst identifizieren zu müssen." (Eichhorn bei KüMMEL 320).
94
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte
E. Entdeckung des kerygmatischen Charakters
Wenn die Forrngeschichtler bei alt- und neutestamentlichen Erzählungen vieles der Deutung zuweisen und vorsichtig sind hinsichtlich der Historizität dessen, was über Mose oder auch über Jesus geschrieben steht, so hängt das mit der Erkenntnis zusammen, daß solche Erzählungen und Erzählungskomplexe seit alters kerygmatischer Art sind. Kerygma heißt: Proklamation einer Gottestat, die zum Glauben ruft. Der kerygmatische Charakter wurde zuerst an den Evangelien entdeckt. "Die erste Einsicht, zu der die formgeschichtliche Betrachtung gelangt, ist diese: es hat nie ein ,rein' geschichtliches Zeugnis von Jesus gegeben; was von Jesus an Worten und Taten berichtet wurde, war immer schon ein für Predigt und Mahnung bestimmtes Zeugnis des Glaubens, formuliert, um Ungläubige zu gewinnen und Gläubige zu festigen " 26 • Später stellte sich heraus, daß auch die alttestamentlichen Geschichtswerke kerygmatisch ausgerichtet sind. v. RAD erkannte, daß Jahwist und Elohist dem Schema eines alten, im Kult beheimateten Credo folgen und nichts anderes wollen, als es interpretieren und anschaulich machen (vgl. auch unten § 12). Demnach sind die biblischen Oberlieferungen durch Glauben und Bekennen geformt und alles andere als "objektive" Darstellungen im Sinne moderner historischer Wissenschaft. Es ist ein Wahn, wenn man sich einbildet, an dieser Ausrichtung der Oberlieferung leichthin vorübergehen und zu den historischen Fakten unbefangen vorstoßen zu können. Der Exeget und Historiker muß sich vielmehr dem Geschäft des wirklichen Verstehens zunächst unterziehen, sich dem israelitischen oder urchristlichen Glauben und Bekennen gewissermaßen stellen, ehe er auf allfällige Fakten zurückschließen kann 27 • Was diese Verbindung von Geschichte, Bekenntnis und Glaube für die christliche Theologie heute bedeutet, ist eine in den letzten Jahrzehnten heiß umkämpfte Frage, von deren Klärung wir noch weit entfernt sind 27 ". F. Literarkritik als Teil der Formgeschichte
Ist die literarkritische Methode erledigt, nachdem sich Formgeschichte als unumgänglich erwiesen hat? Nur wenige radikale Außenseiter haben diese Folgerung gezogen. Rufen doch einige biblische Schriften, wie die Königsbücher, das chronistische Werk oder das Lukasevan20 27
27'
DrBELius: Formgesd:tichte, S. 295. Die formgesd:tichtliche Entdeckung des Kerygmas hatte eine gewaltige Auswirkung auf die dogmatische Theologie in Deutschland nad:t dem ersten Weltkrieg, s. RGG IIP 1251-1254. S. die Kontroverse CoNZELMANN - v. RAD EvTh 24, 1964, 113-125 und 388-394 oder den programmatisd:ten Entwurf: Offenbarung als Gesd:tid:tte, hg. von W. PANNENBERG 31965.
Bleibende Bedeutung der Literarkritik
95
gelium, geradezu zur Quellenscheidung auf, indem sie ausdrücklich auf ihre Vorlagen verweisen 28 . Für so eingefleischte Formgeschichtler wie BULTMANN und DIBELIUS ist die Zweiquellentheorie in den synoptischen Evangelien selbstverständliche Voraussetzung, und GUNKEL war geradezu ängstlich darauf bedacht, in der Genauigkeit literarkritischer Analysen hinter keinem der Schüler WELLHAUSENS zurückzustehen29. Einer der hervorragendsten modernen Vertreter der Formgeschichte, MARTIN NoTH, hat gerade das Paradepferd der literarkritischen Schule, nämlich die Tetrateuchforschung, um ein ganzes Stück vorwärtsgetrieben. Allerdings ist der Geltungsbereich der Literarkritik im Vergleich zur Praxis früherer Zeiten gewaltig zusammengeschrumpft. Recht verstanden, kann Literarkritik nur ein Zweig der Formgeschichte neben anderen sein, nämlich jener, der sich auf die Überlieferung von Büchern bezieht und deren Werdegang so weit zurückverfolgt, als er in der Form umfangreicher schriftlicher Quellen vor sich ging30 • Die Spanne schriftlicher Weitergabe bis hin zur kanonischen Endgestalt ist bisweilen verhältnismäßig kurz gegenüber der vorgängigen langen Spanne mündlicher Tradition. So verstanden, ist Literarkritik ein Teil redaktionsgeschichtlicher Forschung oder zumindest eine Vorstufe dazu. Es darf bei literarkritischen Untersuchungen nie vergessen werden, daß der schriftlichen Weitergabe in der Regel eine mündliche voraufging. Auch wird der literarkritische Aspekt nur schlüssig, wenn er mit anderen formgeschichtlichen Arbeitsgängen, also mit der Bestimmung von Gattung und Sitz im Leben sowie dem Aufweis der vorliterarischen überlieferungsgeschichte, in eine eindeutige Beziehung gesetzt wird (Beispiele§§ lOE. 11C). Aus p r a k t i s c h e n Gründen empfiehlt es sich meist, bei der Exegese eines Abschnitts zuerst von der jetzigen Endgestalt auszugehen und bis zur literarischen Erstgestalt an Hand 1i t e r a r k r i t i s c h e r Überlegungen zurückzugehen, um sich danach erst den übrigen formgeschichtlichen Gesichtspunkten zuzuwenden. So sind heute auch die Kommentare angelegt, die sich auf formgeschichtliche Fragestellung einlassen31 • Aber das geschieht, wie gesagt, aus praktischen Gründen 28
29
30
31
MowiNCKEL, Prophecy 20 f. Es ist ein Beweis für GuNKELS kritischen Sinn, daß er in diesem Punkt den Ressentiments seines Freundes EICHHORN gegen die Literarkritik keine Minute lang anheimgefallen ist; wie denn überhaupt EICHHORNs Einfluß auf die r e I i g ionsgeschichtlichen Theorien GuNKELS stark, aber auf die Ausbildung der formgeschichtlichen Methode wohl sehr gering war (anders H.-J. KRAUS: Zur Geschichte des Oberlieferungsbegriffs in der Alttestamentlichen Wissenschaft, EvTh 16, 1956 S. 379-383 ). Schon unsre Würdigung der Literarkritik beruhte auf den Gesichtspunkten, die durch die formgeschichtliche Betrachtung eröffnet sind: Literarkritik bedeutete, genau besehn, Geschichte der Traditionen." SeHNtEWIND 161. So schon GuNKEL im Genesiskommentar. Heute vor allem die Bände des Biblischen Kommentars (Neukirchen).
96
§ 6 Literarkritik und Formgeschichte
und bedeutet keineswegs, daß der Literarkritik eine gewichtigere Stellung zukäme. Vielmehr muß jedes vorläufige literarkritische Ergebnis nach der Bestimmung von Gattung, Sitz im Leben und Uberlieferungsgeschichte noch einmal überprüft werden unter dem Gesichts~ punkt, ob nicht manche literarkritische Scheidung sich von der Geschichte der mündlichen Tradition her erübrigt. So richtig die Ausgangsbeobachtungender Literarkritiker meist sind, so werden die Folgerungen doch oft hinfällig, sobald man den größeren Rahmen der Formgeschichte gewahr wird32 • Zur Verdeutlichung ein Hinweis auf das obenangeführte Deka I o g beispiel. Dem hergebrachten literarkritischen Argument, daß Ex. 20, 1 ff im Werk des Elohisten durch nichts vorbereitet ist und ihm auch keine Nachwirkungen zeigt, wird man kein Gewicht mehr beilegen, sobald erkannt ist, daß die Tetrateuchquellen in hohem Maß bislang selbständige Oberlieferungen verkoppeln. Andererseits ist es aber doch wohl bedenklich, wie schnell heute manche Forscher im Namen der Formgeschichte über die durch die Literarkritik zwingend aufgewiesene deute r o n o m ist i s c h e Schicht in Ex. 20 hinweggehen und frisch-fröhlich einen elohistischen Grundbestand behaupten. Wäre nicht zuerst schlicht literarkritisch zu klären, ob auch sonst deuteronomistische Zusätze beim Elohisten aufzuweisen sind und welcher Zeit und welchem Anliegen andere deuteronomistische Partien des Tetrateuchs entspringen33 ? Gerade bei diesem wichtigen Beispiel ist ohne Literarkritik nicht auszukommen. Aber es geht auch nicht an, die Literarkritik zu verabsolutieren und etwa im Elohisten den Verfasser des Dekalogs zu sehen34 • Derartige religiöse Dokumente werden im alten Israel nicht von einem Mann "gemacht." Von manchen Theologen wird die aus literarkritischen Beobachtungen hervorgegangene Q u e 11 e n scheid u n g im Pentateuch oder bei den Synoptikern als Spekulation der Kritiker verdächtigt, weil in den modernen Literaturen sich keine Gegenstücke für eine Zusammensetzung "mit Schere und Kleister" finden. Doch ist die Sachlage im Altertum eine andere. Außerhalb der Bibel ist die Zusammenarbeitung schriftlicher Vorlagen sowohl in Babylonien35 wie bei den Geschichtsschreibern über Alexander den Großen 36 ausdrücklich belegt, was Quellenscheidung bei biblischer Literatur völlig rechtfertigt.
32
33 34
35 36
"Die heute Mode gewordene literarkritische Forschung wird sich eine starke Beschränkung gefallen lassen müssen. Man muß endlich aufhören mit dem Messer zu schneiden und mit roher Hand die Quellen zu zerreißen. Es wird ... vor allem auf eine viel genauere Erkenntnis des stofflichen Zusammenhangs ankommen, ehe man mit der Kritik beginnen kann." BoussET: Der Antichrist, 1895, s. 5. Nach NoTH, UGP 32 A. 106 sind die deuteronomistischen Stücke "vorzugsweise speziell an ]-Elemente angeschlossen" und gerade nicht an E. Anders G. FoHRER, Kerygma und Dogma 11, 1965 S. 66: "Am nächsten liegt freilich die Annahme, daß E es war, der den Dekalog in Ex. 20- wie J denjenigen in Ex. 34- zusammengestellt hat." H. HuNGER: Babylonische und assyrische Kolophone, 1968, Nr. 292; LAMBERT, Journal of Cuneiform Studies 11, 1969, S. 8 f. J. SEIBERT: Alexander der Große. Erträge der Forschung, 1972, S. 25-42.
97
§ 7 DER STREIT UM DIE MüNDLICHE ÜBERLIEFERUNG Der Vorrang der mündlichen vor der schriftlichen Oberlieferung bei der Entstehung des Alten Testaments wird herausgestrichen von H. BrRKELAND: Zum hebräischen Traditionswesen, ANVO 1938: 1 und I. ENGNELL: Gamla Testamentet, en traditionshistorisk inledning I, 1945 sowie Methodological aspects of 0. T. study, VTS VII, 1960, 13-30; weiter bei E. NrELSEN: Oral Tradition, StBTh 1954. Kritisch stehen dazu J. v. d. PLOEG: Le r8le de Ia tradition orale dans Ia transmission du texte de I'A. T. RB LIV, 1947, 5-41 G. WmENGREN: Literary and Psyd1.0logic:al Aspec:ts of the Hebrew Prophets UUA, 1948 : 10 - Ders.: Oral Tradition and Written Literature among the Hebrews in the Light of Arabic Evidence, with Special Regard to Prose Narratives, AcOr (H) XXIII, 1959, 201-262A. H. J. GUNNEWEG: Mündliche und schriftliche Tradition der vorexilischen Prophetenbücher als Problem der neueren Prophetenforschung, FRLANT 73, 1959. Vermittelnd: S. MowrNCKEL: Prophecy and Tradition, ANVo 1946: 3 - H. RrNGGREN: Oral und Written Transmission in the 0. T., StTh 111, 1950/1, 34-59. - R. C. CuLLEY: An approach to the problern of oral tradition, VT XIII, 1963, 113-125. Die Bedeutung der mündlichen Tradition für die Entstehung des N. T.s hat zuerst H. RmsENFELD: The Gospel Tradition and its Beginnings, 1957, angedeutet und dann B. GERHARDSSON: Memory and Manuscript, Acta Seminarii Neotestamentici Upsaliensis XXII, 1961 und: Tradition and Transmission in Early Christianity, Coniectanea Neotestamentica XX, 1964 umfassend nachzuweisen versucht. Vermittelnd: W. D. DAVIES: Reflections on a Scandinavian Approach to ,The Gospel Tradition', in: Neotestamentica et Patristica, Festschrift 0. Cullmann 1962, 14-34; Kritisch ebd. A. N. WILDER 3-13 und M. SMrTH, JBL 82, 1963, 169-176.
Schon GuNKEL hat die Erkenntnis ausgesprochen, daß die alttestamentlichen Gattungen "fast sämtlich ursprünglich nicht geschrieben, sondern gesprochen bestanden haben" 1 • Er hat als erster daraus die Folgerungen gezogen, daß die Exegese sich nicht nur mit den verschiedenen schriftlichen Stufen der Texte, sondern auch mit ihrer mündlichen· Vorgeschichte zu beschäftigen hat. Inwiefern man aus schriftlich Fixiertem auf mündliche Vorstufen rückschließen kann, hat sein großer Genesiskommentar (HKAT) beispielhaft gezeigt. Doch wird bei GuNKEL ein durchgehender Unterschied der mündlichen von der schriftlichen Überlieferung und dementsprechend der Gattungen der Schrift von den Gattungen der Rede2 nur selten hervorgehoben und kaum zum Gegenstand besonderer Überlegungen gemacht. In der neutestamentlichen Formgeschichte hat ScHNIEWIND früh schon versucht, RuA 33 vgl. Schöpfung 135. z "Rede" ist hier umfassend gebraucht, so daß nicht nur das öffentliche Reden
1
vor einem bestimmten Personenkreis, sondern alles alltägliche Gespräch einbegriffen ist. -
98
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
die Quellenbenutzung bei den Synoptikern von der besonderen Art vorangegangener mündlicher Tradition her zu klären 3 • Die Gattungen der Rede werden von den Exegeten meist vor li t er arisch genannt. In diesem Begriff schwingt nun, eingestanden oder uneingestanden, ein Werturteil mit, die Oberzeugung nämlich, daß das, was Literatur geworden ist, gleichsam eine höhere "Seinsweise" erreicht hat als das, was nur mündlich umläuft. Die Bezeichnung vorliterarisch wird also nicht nur zeitlich verstanden als die schriftlichen Texten vorangehende mündliche Oberlieferungsstufe, sondern auch "in dem Sinne des Unterliterarischen", das "aus dem Untergrund des Volks- und Kultlebens" immer wieder "in die Sphäre der Literatur empor" sich bewegt4 ; als sei es das höchste Ziel des Gedankens, papieren zu werden. Warum soll aber das Sagen und Sprechen nicht sein Eigenrecht neben (nicht nur vor!) allem Geschriebenen haben? Die frühen Gattungen der hebräischen Sprache und die in den neutestamentlichen Evangelien belegten Gattungen sind fast alle vorl i t er arisch im Blick auf unsere Erkenntnis. Wir können uns nur vom vorliegenden Schrifttum aus zu jenen mündlichen Gattungen vortasten. Aber man sollte die methodische Vorordnung des Schriftlichen nicht zu einer grundsätzlichen machen. Vielleicht ist es ratsam, den Begriff ,. vorliterarisch" tunliehst zu vermeiden.
A. Die Traditionshistorische Schule Die gängige abschätzige Beurteilung des mündlich überlieferten macht wohl den Kampf so erbittert, der über den Rang der auf diese Weise weitergegebenen Gattungen und Einheiten in der Bibelwissenschaft geführt wird. Er ist nicht von formgeschichtlichen, sondern von textkritischen Überlegungen her entbrannt. Der schwedische Semitist H. S. NYBERG wollte mit seinen "Studien zum Hoseabuch" 5 die unbedingte Zuverlässigkeit des masoretischen Textes erweisen und alle bisher geübte Textkritik in Grund und Boden verdammen. Dabei ging er von der Voraussetzung aus, daß das Alte Testament in vormasoretischer Zeit hauptsächlich mündlich tradiert wurde und daß auch nach der Schriftwerdung - das geschriebene Alte Testament ist für ihn eine Schöpfung des nachexilischen Judentums (S. 8) - die mündlime Überlieferung weiterhin maßgebend blieb. Eine Geschichte von' mündlichen Überlieferungen aber ist nicht mehr aufzuhellen. Doch ist mit Sicherheit anzunehmen, daß in ihr unter den gegebenen altorientalischen Verhältnissen sim viel weniger geändert hat als in der nachfolgenden schriftlichen Überlieferung. Die von NYBERG zum Sturm auf die landläufige Auffassung entrollte Fahne wurde von BIRKELAND weitergetragen, der von arabischm o h a m m e da n i s c h e n Überlieferungspraktiken her auf Israel zurü~schließt. Noch heute ist es so, daß kein islamismer Gelehrter je eine Stelle in seinem Koran nachschlägt; er zitiert vielmehr ausa ThR 1930, 141 ff. ErssFELDT: Einleitung 18, a10 f (Sperrdruck von mir). 5 UUA 1935:6.
4
Die traditionshistorische Schule
99
wendig. In dem mittelalterlichen Streit um abweichende Lesarten in Koran und l:fadi!s (sagenhaften Oberlieferungen aus der Frühzeit des Islams) galt das, was die Gelehrten auswendig im Gedächtnis hatten, als entscheidend. Bezeichnend für das Mißtrauen gegenüber Geschriebenem ist die Mahnung eines arabischen Historikers aus dem 13. Jahrhundert6 : Mein Freund! strebe eifrig (Traditionen) zu erlangen . . . ohne Unterlaß. Empfange sie nicht aus geschriebenen Aufzeichnungen, damit sie nicht von der Krankheit der Textverderbnis getroffen werden. BIRKELAND schließt aus dem mohammedanischen Beispiel, daß es auch in Israel feste Uberlieferungsträger, "Traditionskreise", gab, die die maßgebende religiöse Oberlieferung mündlich von Generation zu Generationen weitergaben. Soweit es und sobald es daneben schriftliche Aufzeichnungen gab, wurden sie von dem her, was man auswendig wußte, ständig neu überprüft und verbessert. Seine These wurde von der Traditionshistorischen Schule übernommen, die sich nach dem 2. Weltkrieg in Skandinavien bildete (vor allem ENGNELL in Uppsala; doch gehören dazu auch Norweger, wie A. KAPELRUD, und Dänen, wie NIELSEN). Von der Überzeugung aus, daß in vormasoretischer Zeit die mündliche Oberlieferung a 11 ein maß g e b I ich war und daß es zwecklos ist, die verschiedenen Stufen mündlicher Überlieferung nachträglich aufzuhellen, wird nicht nur die übliche Textkritik, sondern auch - und das mit besonderer Schärfe - die Literarkritik der WELLHAUSEN-Schule und schließlich ebenso (wenngleich unausgesprochen!) die seit GuNKEL aufgekommene Erforschung der Uberlieferungsgesmichte biblischer Einheiten als null und nichtig abgetan. Bei einem Profetenbuch beispielsweise zu fragen, welche Worte auf Jesaja oder Jeremia selbst zurückgehen, also nach der sogenannten ipsissima vox zu suchen, heißt Hirngespinsten nachjagen. In jüngster Zeit sind die Konsequenzen dieser Betrachtungsweise auch auf das Neue Testament übertragen worden, vor allem auf die Erzählungen und Reden der Evangelien. Besteht diese Behauptung einer alles überragenden Rolle mündlicher Überlieferung in Israel und im Urchristentum und die damit verbundene Behauptung tragender autoritativer Traditionskreise zu Recht? Die Verhältnisse der arabischen Kultur, von denen BIRKELAND ausging, hat WIDENGREN einer eingehenden Nachprüfung unterzogen und ist zu einem weithin entgegengesetzten Ergebnis gekommen. Smon zur Zeit Mohammeds war der Schriftgebrauch weit verbreitet. Die Versuche, mündliche Tradition der schriftlichen vorzuordnen, kommen erst in späterer Zeit auf und werden keineswegs allgemein 8
Abu-1-Qäsim ihn 'Asäkir
(BIRKELAND
S. 11).
100
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
anerkannt. Selbst arabisme Dimter ermahnen ihre Zuhörer, ihre Gedimte alsbald aufzusmreiben, etwa mit den Worten: A book does not forget or alter words or phrases whim have taken the poeta long time to compose7 • Die Traditionshistoriker haben seitdem darauf verzimtet, sim auf die islamismen Verhältnisse zu berufen. Dom ist damit, wie sim zeigen wird, das Problem hinsimtlim des Alten wie des Neuen Testaments keineswegs erledigt. B. Mündliche Tradition nach alttestamentlichen Texten
BIRKELAND und seine Namfolger haben in der Tat rimtig gesehen, daß die Orientalen, die alten wie die modernen, über eine andere Ge d ä c h t n i s k r a f t verfügen als wir Westländer. Nom heute wird in vielen mohammedanismen Smulen der gesamte Koran auswendig gelernt. Ein alttestamentlimes Beispiel: Der Profet Jeremia hatte nom nam 20 Jahren die Profezeiungen seiner Anfangszeit im Gedämtnis8 • Aum war die Kultur Israels in weit geringerem Maß durm die Smrifl: bestimmt als die neuzeitlime Zivilisation seit der Erfindung der Bumdruckerkunst. Heute wird das meiste, was gesmrieben und gedruckt wird, nie gespromen. Was dagegen im Alten Testament steht, ist fast alles vor der Niedersmrifl: lange Zeit mündlim vorgetragen worden, ob es sim um die Erzählungen des Tetrateums, um Psalmen oder um Profetenreden handelt9 • Sobald solme Stücke smrifl:lim fixiert wurden, gesmah es zum Zweck, sie bei nämster Gelegenheit wieder laut herzusagen, sei es im Kreis der Profetenanhänger oder am Jerusalemer Tempel (Jer. 36,6) oder später in der Synagoge. Die Hochschätzung des mündlichen Vortrags war unvergleimlim größer. Hält heutzutage ein Professor eine Vorlesung, so ist das, was er vorträgt, zwar seine wissensmafl:lime Meinung; aber er mömte auf diese gespromenen Worte dom nimt in gleimer Weise festgelegt werden wie auf das, was er unter seinem Namen drucken läßt. Was "smwarz auf weiß" dasteht, gilt als das Simere und Wertvollere. Mündlime Weitergabe, die es im begrenzten Umfang nom gibt etwa bei einem Gerümt mit der typismen Frage: "Hast du smon gehört?"-, solmer mündlimen Weitergabe haftet der Verdamt des Ungenauen, Fragwürdigen an. Für die Israeliten ist ein völlig anderes Bewußtsein vorauszusetzen. Diese Mensmen des Altertums redlneten mit fest geprägter, unveränderlimer mündlimer Überlieferung. Man 7
8 0
Qu-1-Rummah (Omajjadenzeit) WIDENGREN 1948 S. 24. Jer. 3~, 4. Allerdings sdleint Jeremias Anhänger Barud!. die Sprüd!.e nid!.t auswendig zu kennen, sondern muß sie sidl neu diktieren lassen. V. d. PLOEG 36. Wenn die Männer Hiskias Weisheitssprudle Salomos sammeln, sind diese offenbar bis dahin mündlidl umgelaufen; Pv. 25, 1.
Mündliche Tradition nach dem A. T.
101
schlage Stellen wie Ex. 12, 24-27; 13, 7 f. 14 f.; Num. 21, 27; Dtn. 4, 9 f.; 6, 6 f. 20-25; 11, 19; 32, 7; Jos. 4, 7-22; 22, 24-28; Ri. 6, 13; Ps. 44, 2; 78, 2-6; ]es. 38, 19 auf! Wie diese Sätze zeigen, herrschten schon im Familienkreis strenge Maßstäbe bei der Weitergabe religiöser Formeln und Überlieferungen, für deren Richtigkeit der Hausvater verantwortlich war. Leute, die von Jugend an solche Übung kennen, werden zeitlebens gegenüber mündlichem Vortrag jene wache Vorsicht zeigen, mit der sich Kinder noch heute gelegentlich eine Geschichte erzählen lassen, die sie schon kennen und bei der sie genau darauf achten, daß an entscheidenden Stellen der ihnen vertraute Wortlaut wiederkehrt10• Die Beständigkeit mündlicher Überlieferung mag ein Beispiel verdeutlichen: Amos droht einmal (4, 11) seinem Volk einen Untergang an, gleichwie "Elohim einst Sodom und Gomorrha umgestülpt hat". Die Gottesbezeichnung Elohim ist überaus auffällig, weil der Profet sonst stets Jahwä sagt. Anscheinend gehörte es aber zu der SodomGomorrha-Überlieferung, wie sie zu seiner Zeit umlief, daß von Elohim und nicht von Jahwä gesprochen wurde. Dem kann sich selbst der Profet nicht entziehen. Vielleicht ohne daß er es merkt, bindet ihn der Zwang des ihm mündlich überkommenen. Auch das Wort "umstülpen" ist fester Bestandteil jener Überlieferung und taucht wohl nur deshalb an dieser Stelle bei dem Profeten auf (vgl. Gen. 19, 21. 25. 29; Dtn. 29, 22). Angesichts soleher Nachrichten im Alten Testament selbst ist es erklärlich, daß die Vertreter der Traditionshistorischen Schule auf der Meinung beharren, daß vor dem Exil nur ein Bruchteil des heutigen Kanons niedergeschrieben wurde und auch nach der Schriftwerdung bis in die Zeit nach Christi Geburt hinein die mündliche überlieferung noch lange neben der schriftlichen einherlief und in strittigen Fällen sogar ausschlaggebend blieb.
C. Die Rolle schriftlicher Aufzeichnungen im Alten Testament Neben den Hinweisen auf die Wichtigkeit mündlicher Weitergabe gibt es jedoch auch Stellen, die auf die Bedeutung der Schrift hinweisen. Zunächst ist unbestreitbar, daß die Welt des a 1t e n 0 r i e n t s , in die Israel eintrat, bereits seit zwei Jahrtausenden den Gebrauch der Schrift kannte und in vielen Lebensbereichen benutzte, wie Tau10
Solche Haltung Erwachsener gegenüber mündlicher Erzählung wurde noch vor einigen Jahrzehnten in einer abgelegenen deutschen Landschaft (Westeifel) beim Vortrag von Märchen und Schwänken beobachtet. V. d. PLOEG 30 f.
102
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
sende von Inschriften und Tontafeln zeigen. Von mündlicher Überlieferung ist in Ägypten oder im Zweistromland viel weniger die Rede als im Alten Testament11 • Auch das vorisraelitische Palästina ist durch. eine ausgeprägte Schriftkultur gekennzeichnet, wie vor allem die diplomatische Korrespondenz der dortigen Kleinfürsten mit dem Pharao im Archiv von El-Amarna und die zahlreichen Tontafeln mit politischem, religiösem und wirtschaftlichem Inhalt aus den Ausgrabungen von Ugarit beweisen, wo man zudem eine regelrechte Schreiberschule in der Nähe des Tempels entdeckt hat. Auch der Name der kanaanäischen Stadt Qirjat-sefär, "Buchstadt", spricht für sich. Nicht nur in der eigenen angestammten Sprache wurde geschrieben, man pflegte sogar einen internationalen Austausch. "An jedem der kleinen Herrschersitze hin und her im Lande (Palästina) ... saß wenigstens ein Beamter des Fürsten, der Babylonisch zu schreiben und zu lesen vermochte. "12 Zwischen den Verhältnissen des 2. Jahrtausends, zu denen Ugarit und El-Amarna gehören, und denen des 1. Jahrtausends und damit Israels besteht freilich insofern ein gewaltiger Unterschied, als in Schrifta r t und - m a t er i a 1 ein tiefgreifender Wandel eingetreten ist. Statt Tontafel und Keilschrift oder Hieroglyphe, die eine mühselige Schulung und umständliche Handhabung erfordern, wird die leicht erlernbare Alfabetschrift auf Papyrus oder Ostrakon üblich. Damit wird es weiten Kreisen der Bevölkerung möglich, sich der Schrift zu bedienen. Daß man in Israel davon Gebrauch machte, zeigen die Ostraka von Samaria oder die Briefe von Lachisch13, die von zivilen oder militärischen Beamten stammen. Dieser Unterschied spricht eher für eine größere als für eine geringere Bedeutung der schriftlichen Oberlieferung in der israelitischen Zeit, wenngleich die literarische Hinterlassenschaft des (vorisraelitischen) 2. Jahrtausends wegen des beständigeren Materials vergleichsweise besser erhalten ist14 • So verwundert es nicht, daß es ausdrückliche Zeugnisse über die Niederschrift bestimmter Einzelstücke im Alten Testament gibt. Es wur11
12
13 14
Die wenigen Belege aus dem Zweistromland, die NrELSEN 19f. für die mündliche Oberlieferung anführt, sind kaum beweiskräftig. Das Au s w end i g1er n e n eines schriftlichen Textes, um das es zumeist dabei geht, hat mit dessen Weitergabe auf mündlichem Weg nicht unbedingt etwas zu tun; diesen Brauch gibt es auch im modernen Schulunterricht. HEMPEL: Literatur 12. - In Agypten gibt es schon im alten Reich V o rl e s e priester, die mit einer Papyrusrolle im Kult auftreten; S. ScHOTT: Mythe und Mythenbildung im Alten Agypten 1945 = Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Agyptens XV, 1964, S. 1. ANET 321 f; GALLING: Textbuch zur Geschichte Israels 1950, 63 ff. Verglichen mit den Tontafeln ist der Papyrus sehr viel vergänglicher. ENGNELLS Argument, daß in dem archäologisch so durchforschten Palästina so gut wie keine Texte gefunden worden sind gegenüber anderen orientalischen Kulturen (The Call of lsatah, UUA 1949 : 4), ist deshalb für die Alleingeltung mündlicher Weitergabe nicht beweiskräftig.
Schriftliche Aufzeichnungen nach dem A. T.
103
den Gebotsreihen wie der Dekalog aufgeschrieben oder in Stein gemeißelt (Ex. 24, 4; 32, 15; Jos. 24, 26; Jes. 10, 1; Jer. 8, 8; Hos. 8, 12), und mindestens seit dem Deuteronomium, d. h. seit dem 7. Jahrhundert, gibt es Gesetzbücher (Dtn. 17, 18; 31, 24; Jos. 8, 31 f.). 15 Von schriftlichen Urkunden bei Rechtsgeschäften (Dtn. 24, 1; 1. Sam. 10, 25; Jer. 32, 10 vgl. Ri. 8, 14) ist ebenso die Rede wie von einem geschriebenen kultischenFluch text (Num. 5, 23). Wichtige historisme Begebenheiten werden auf einer Inschrift (Ex. 17, 14) oder in uralten, leider verlorenen Werken wie dem Buch der Kriege Jahwäs (Num. 21, 14) oder dem Buch des Wackeren (Jos. 10, 12) festgehalten. Seit Jesaja schreiben Profeten kurze Orakel nieder, um ihnen "Fernwirkung" zu geben (Jes. 8, 1 f.; 30, 7 f.; Jer. 51, 60; Hab. 2, 2). Bald darauf hören wir vom umfangreichen Profetenbuch, das Jeremia 36 (u. 30, 2) noch besonderen Umständen seine Entstehung verdankt, aber doch Hesekiel 2, 9 f. schon als bekannte Gattung vorausgesetzt wird (vgl. Hes. 43, 11 f.). Am nordisraelitismen wie am judäischen Hof hat es selbstverständlich Annalen gegeben, und Weisheitssprüche werden nach ägyptischer Art niedergeschrieben (Pv. 22, 20). Bei wichtigen Anlässen werden Briefe abgesandt (2. Sam. 11, 14 ff.; 1. Kö. 21, 8 ff.; 2. Kö. 10, 1 f.). Später entstehen breiter angelegte Chroniken, die Bücher der Tage der Könige, auf die sim die Königsbücher mit einer anscheinend geprägten Zitationsformel mehrfam berufen (1. Kö. 11, 41; 14, 29 usw.). Es gab also in bestimmten Lebensbereichen geradezu einen Zwang, sich smriftlich zu äußern. Die Niederschrift hatte zumindest in vorexilismer Zeit ihren Grund z. T. darin, daß dem geschriebenen Wort eine besondere Mächtigkeit zugetraut wurde. Wurde die Wirksamkeit der Buchstaben auch längst nicht mehr so magism empfunden wie in den altägyptischen Pyramideninschriften, wo besonders gefährliche Hieroglyphen, die z. B. das Bild einer Schlange zeigten, nicht völlig ausgeschrieben wurden, um dem Leser nicht zu schaden, so war die Schriftlichkeit von Texten doch auch in Israel keineswegs belanglos im Blick auf mögliche Auswirkungen. War ein Ordalspruch oder ein Orakel in Buchstaben niedergelegt, so eignete ihm besondere Kraft (Num. 5, 11 ff.; ]es. 8, 1; 30, 7 f.). Auch in Jeremia 36 wird es erkennbar: Der König Jojakim zerstört die Schriftrolle mit dem profetismen Unheilsworten, um deren Wirkung einzudämmen, wenn nicht gar zum Verschwinden zu bringen. Jeremia aber smreibt die Rolle neu, um das Gewicht der Worte wiederherzustellen16•
15
16
Zu den textlichen Hinweisen kommt der archäologische: in Qumran wurden mehrere Fragmente aus Gen. - Dtn. in vorexilischer Schrifl:art gefunden. GuNNEWEG 33 ff. 38 f.
104 D. Zuordnung von mündlicher und schriftlicher Oberlieferung beim Alten Testament
Wie ist angesichts so widersprechender Nachrichten die Entstehung und Weitergabe der biblischen Schriften vorzustellen? Offenbar läßt sich hier nicht mit einem einfachen Entweder-Oder antworten. Mündliche Überlieferung und schriftliche Weitergabe laufen vielmehr nebeneinander her, greifen auch seit frühester Zeit vielfach ineinander. "Die israelitische Literatur ... ist wurzelhaft aus zwei Elementen zusammengewachsen, aus der lebendigen, mindestens zum überwiegenden Teile mündlichen, Tradition der in das Land einbrechenden Stämme und aus dem kanaanäischen Schrifttum, in das man, wenn auch in verschiedenem Maße hineinwuchs17 ." Es gehört zur Eigenart Israels, daß es auch nach der Seßhaftwerdung im Kulturland noch lange beides nebeneinander gelten ließ, die mündliche wie die schriftliche überlieferungsweise. Ausschlaggebend waren dafür Gattung und jeweiliger Sitz im Leben18. Bestimmte Gruppen göttlicher Gebote wurden sehr früh niedergeschrieben und an den Heiligtümern aufbewahrt. Vielleicht sind auch die "Heiligen Erzählungen" an den Te m p e 1n schriftlich fixiert gewesen, die dort in kultischen Begehungen vorgetragen wurden19. Doch ist gerade bei liturgischem Sprachgut zu bedenken, daß es selbstverständlich auswendig vorgetragen wurde (Dtn. 31, 28). Das schließt aber keineswegs aus, daß die schriftliche Überlieferung schon lange die maßgebende war. Auswendiglernen bedeutet nicht schon Vorrang mündlicher Tradierung20 • Verbreiteter war das Schreiben gewiß am Hof. Was von daher stammt, wird im Zweifelsfall schriftlich vorzustellen sein. Aufgeschrieben werden, mindestens seit der Zeit Jeremias, auch Sammlungen profetischer Sprüche. Um die gleiche Zeit beginnt man, Erzählungen über das Leben von Profeten schriftlich zu fixieren, ohne daß das für alle derartigen Erzählungen gilt21 . Vor allem aber sind die volkstümlichen Erzählungen, wie sie von Genesis 17 18
19
20 21
HEMPEL: Literatur 11. Vgl. V. d. PLOEG 24. GuNNEWEG, 78 ff geht wohl zu weit mit der Annahme, daß alle am Heiligtum tradierten israelitischen Oberlieferungen schriftlicher Art waren. Vollends, daß schon vor der Landnahme Gesetzessammlungen und Berichte über entscheidende Geschehnisse schriftlich vorlagen (S. 28 ), wäre erst überlieferungsgeschichtlich zu beweisen. WIDENGREN 1959 S. 214; V. d. PLOEG 27. Als Jeremia (26, 18) wegen seiner Unheilsverkündigung sich gerichtlich verantworten muß, nennen die 1\ltesten nicht nur einen Spruch d e s P r o f e t e n Mich a, der sich tatsächlich im Michabuch (3, 12) findet, sondern wissen auch von Begleitumständen, von denen dort nichts vermeldet ist. Und das, obwohl der Vorfall 100 Jahre zurückliegt! Hier stoßen wir wahrscheinlich auf lebendige mündliche Tradition. - Die Eingangsnotiz zum Jeremiabuch, 1, 1-3, wahrscheinlich geraume Zeit nach dem Tod des Profeten verfaßt, weist darauf hin, daß Jeremia Priestersohn war, was nirgends sonst im' Buch berichtet wird, der Verfasser also vom Hörensagen weiß (ähnlich Hes. 1, 3).
Bede11tung der
Exil~zeit
105
bis Samuel zu finden sind, erst verhältnismäßig spät niedergeschrieben worden22 , und mit der Niederschrift hat die lebendige mündliche Weitergabe keineswegs aufgehört. Ähnliches wird für die Psalmen gelten. Bestimmungen über kultische Handlungen wie Opfer und ähnliches scheinen bis in die Zeit der Priesterschrift, also mindestens bis in das 6. Jahrhundert hinein, nur mündlich im Umlauf gewesen zu sein. Vielfach ist bei ein und derselben Gattung mündliche und schriftliche Weitergabe verbreitet gewesen, sowohl bei Gesetzestexten wie bei Profetentexten. Der Befund ist also außerordentlich vielschichtig, zumindest bis zur Zeit des babylonischen Exils. Die Frage, ob und wie lange mündlich oder schriftlich überliefert, ist bei jeder Literaturart, ja im Grund bei jeder literarischen Einheit neu zu stellen. Außerdem ist mündliche Tradition und mündliche Tradition keineswegs dasselbe. Die Art der Weitergabe ist sehr verschieden je nach Gattung und Sitz im Leben. Alles, was "mündliche Literatur" ist (CULLEY), besonders poetische Stücke, werden mit Sorgfalt und mit geringen Änderungen durch einen festen Personenkreis weitergegeben. Anders Sagen und Sprichwörter, die der Volksmund geschaffen hat und unbedenklich wieder und wieder verändert! Die Exilszeit in der Mitte des 6. Jahrhunderts stellt einen gewaltigen Einschnitt in der israelitischen Literaturgeschichte dar. In nachexilischer Zeit sind die maßgebenden religiösen Überlieferungen selbstverständlich schriftlich. Für die vorexilischen Verhältnisse gilt das nur zum Teil, wie sich gezeigt hat. Bei diesen älteren Schriften erhebt sich zudem die gewichtige Frage, auf welche Weise sie das Exil überstanden haben. In welchem Ausmaß ist mit der Zerstörung des judäischen Staates 587 auch die vorhandene Literatur zugrunde gegangen? Waren die Verhältnisse von Ort zu Ort verschieden? Sind die meisten Vorexilischen Schriften nur dadurch erhalten geblieben, daß man sie auch auswendig wußte und neu niederschrieb, sobald die Lage sich beruhigte? Der Deuteronomist, der während der Exilszeit vermutlich in Palästina die Bücher Josua bis 2. Könige verfaßte, hat einige Quellen zur Verfügung, aber anscheinend nur einige23 • Konnten die nach 22
23
Das Zeugnis einer Stelle wie Ps. 78, 3 darf kaum zur Seite geschoben werden, wie GuNKEL es tut: ,.Für seine Kunde von der Vergangenheit beruft sich der Verfasser in seiner feierlichen Einführung auf die münd 1ich e Überlieferung ... ; in Wirklichkeit aber ruht das Wissen des Psalmisten von der alten Geschichte auf den auch uns vorliegenden schriftlichen Quellen" (Psalmen HKAT S. 341). Andererseits ist freilich zu fragen, ob die Überlieferung von Erzählungen in geschlossenen Traditionskreisen geschah. ,.Where do we find in the 0. T. a passage mentioning a circle of traditionists faithfully preserving by means of oral traditions some prose narratives of the character found in the pentateuch?" WmENGREN, 1958, S. 229. Das deuteronomistische Werk erzählt öfter vom Auftreten der Profeten und ihrer Verkündigung, kennt also entsprechende Überlieferungen, erwähnt in solchen Fällen aber nie (wie liei Nachrichten über Könige) eine Quelle. Profetisches Schrifttum lag ihm also anscheinend nicht vor (NoTH 'OGS 97 f.).
106
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
Babel deportierten Judäer Schriftrollen mit sich nehmen, oder zehrten sie nur von dem Schatz religiöser Überlieferungen, den sie im Gedächtnis hatten? Die Frage, wie und wo das Vorexilische Schrifttum "überwintert" hat, wird angesichts der gegenwärtigen Diskussion besonders brennend24 • Jedenfalls hat, soweit wir es erkennen, während des Exils und kurz danach ein intensives planmäßiges Bestreben eingesetzt, religiöse Tradition schriftlich niederzulegen. Davon zeugen nicht nur die deuteronomistischen Überarbeitungen und die Priesterschrift, sondern auch die wohl bald darauf folgende Kompilation des Pentateuchs und des Psalters. Das spricht für die These ENGNELLs25, daß der Übergang zur schriftlichen Weitergabe oft einer Vertrauensk r i s e entspringt, angesichts der drohenden Gefahr zustandekommt, daß Oberlieferung abbricht. Ähnlich war der Fall schon beim (Ur-) Deuteronomium, wenn es - wie heute teilweise angenommen - bereits nach dem Ende des Nordreichs verfaßt und niedergeschrieben wurde. (Gleiches gilt für das Zweistromland: dort bringt das Aussterben des Sumerischen als gesprochener Sprache einen großen Verschriftungsprozeß in Gang26 • Und selbst im 19. nachchristlichen Jahrhundert lassen sich ähnliche Zusammenhänge bei der Verschriftung der europäischen Volksmärchen beobachten27 .) E. Mündliche und schriftliche Tradition in der Umwelt des Urchristentums
Das Zeitalter des Hellenismus, in das die werdende Kirche hineingehört, war eine Zeitausgedehnterliterarischer Produktion. Nichtsdestoweniger gibt es im nächsten Umkreis der Urgemeinde eine Strömung, in der die mündliche Weitergabe schulmäßig gepflegt und nach so strengen Gesetzen geregelt wird wie sonst nirgends, nämlich bei den Rabbinen, den geistigen Vätern des Talmud. Hier ist neben unablässigem Abschreiben auch die Heilige Schrift des Alten Testaments in erstaunlichem Maß mündlich weitergegeben worden. Anders wäre die Textbearbeitung der Masoreten, denen wir u. a. die Vokalzeichen der alttestamentlichen Bücher verdanken, gar nicht denkbar.Das Gedächtnis der Rabbinen beherrscht aber nicht nur die Heilige 24
25
28 27
Der Verweis auf Qumran, wo man zahlreiche Rollen versteckt hatte- GUNNEWEG S. 50 -, ist nicht durchschlagend, da die dortige Sekte ständig mit Verfolgungen rechnete und in ganz anderer Weise auf Vorsichtsmaßregeln sann. Gamla testamentet S. 42. FALKENSTEIN - v. SoDEN, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete 1953 s. 12 f. "Als im Europa des 19. Jahrhunderts die mündliche Erzählkultur dahinschwand, retteten die Brüder Grimm und ihre Nachfolger Märchen und Sagen ins Buch. Zwar beschleunigte ihr Werk den Zerfall der mündlichen Oberlieferung nur noch mehr. Trotzdem darf man von Rettung sprechen, denn der Untergang der alten Erzählgemeinschaften und damit der mündlichen Tradition war unvermeidlich." M. LüTHI: Volksmärchen und Volkssage 1961 S. 7 f.
Mündl. und und schrifll. Tradition d. Urchristentums
107
Schrift, sondern ebenso ihre Interpretation und Weiterführung durch Haggada (Erzählungsgut) und Halacha (gesetzliche Regeln). Mit besonderer Sorgfalt werden die Sätze der Mischna, der mündlichen Tora, weitergegeben, über die sogar die Bestimmung verbreitet ist, daß sie niemals niedergeschrieben werden darf28 • Von dem eigentlichen Begründer der rabbinischen Schultradition, Jochanan ben Zakkai, berichtet die Legende, daß er in der Gefangenschaft im Lager Vespasians ohne weiteres die Tageszeit bestimmen konnte, weil er wußte, wieviel Zeit die Rezitation der einzelnen Mischnaabschnitte in Anspruch nahm 29 • über die rabbinisch-pharisäischen Kreise hinaus war das Auswendiglernen von Bibelabschnitten für jeden frommen Israeliten selbstverständlich. Im Synagogengottesdienst war es üblich, die Tora aus dem Gedächtnis vorzutragen und nicht vorzulesen80 • Vielleicht darf man darüber hinaus fragen, ob jede kleine Gemeinde in der Diaspora eine Rolle der Tora- oder gar das gesamte Alte Testament - sich finanziell überhaupt leisten konnte. Daneben gibt es jedoch Nachrichten von einer ausgedehnten religiösen Literatur in damaliger Zeit bei nichtpharisäischen Kreisen. Die kleine Sektengemeinde von Qumran mit schätzungsweise 200 Einwohnern besaß ein eigenes Scriptorium und hat uns über tausend Handschriften hinterlassen (Bibelmanuskripte, Gemeindeordnungen und Lieder)! Die damals so verbreitete apokalyptische Bewegung mit ihren z1Var weithin verlorengegangenen, aber ebenso zahlreichen81 wie umfangreichen Büchern ist nicht ohne eifrige schriftstellerische Tätigkeit dieser israelitischen Weisen zu erklären. Gewiß, Bücher wie Daniel up.d 1. Henoch, beides Apokalypsen, verarbeiten wohl weithin mündliche Tradition, aber die Weitergabe sowohl auf dem mündlichen Weg wie nachher auch in der schriftlichen Überlieferung war offenbar sehr viel anderer Art als bei den sorgfältig gehüteten rabbinischen Traditionssätzen. Jeder "Geistträger" steuerte vermutlich neues Gut bei und veränderte anscheinend vollmächtig das überkommene82 • Wie es bei den anderen Gruppen des Israelitenturns in dieser Zeit war, läßt sich höchstens erahnen. Die Sadduzäer haben vielleicht nur schriftliche überliefenmgen neben der Tora gelten lassen88 • Das Alter der Bestimmung ist freilich umstritten; es könnte sich auch um eine spätere dogmatische Theorie handeln. 28 Midrasch Echa I, 31 (bei G. DALMAN: Aramäische Dialektproben 2 1927 S. 19 f). so MowiNCKEL, Prophecy S. 17. 3 1 4. Esra 14, 44-46 nennt siebzig Geheirnbücher. 32 GERHARDSSON 1961 S. 30 leugnet, daß bei diesen Gruppen eine "technique of transmission substantially different from that of the Pharisees was applied" fügt freilich hinzu, daß er nur "a superficial check" angestellt hat. Wie erklärt er dann aber die Entstehung des vielschichtigen apokalyptischen Schriftturns? - Ebenso kühn sein Verdikt S. 20 A. 1: "The thesis put forward by D. RössLER, Gesetz und Geschichte (1960), that the Apocalyptic groups had a quite different conception of Torah than the Pharisaic Rabbis is exaggerated. • 33 GERHARDSSON 1961 S. 24. 28
108
F. Mündliche Tradition im Neuen Testament Seit Beginn der formgeschichtlichen Forschung in den Evangelien war deutlich geworden, welch eminente Bedeutung der mündlichen Tradition von Jesu Worten und Taten zuka.m. Es liegt auf der Hand, daß die Einzelstücke jahrzehntelang auswendig weitergegeben wurden und die Verschriftung verhältnismäßig spät eingesetzt hat. Es ist sogar zu fragen, ob die Logienquelle Q je schriftlich umlief, ob sie nicht vielmehr eine mündliche Sammlung gewesen ist34 • Falls sie schriftlich abgefaßt war, werden daneben mündliche Oberlieferungen von gleicher Autorität weiterbestanden haben. Welches aber war der Sitz im Leben solcher mündlicher Weitergabe, und welche Strenge der Bewahrung des Wortlautes war damit verbunden? Die These von DIBELIUS lief darauf hinaus, daß die Predigt in ihrer zwiefachen Gestalt als Missions- und Gemeindepredigt Sitz der meisten JesusOberlieferungen war und infolgedessen der charismatischen Umgestaltung der Tradition von Anfang an ein breiter Spielraum eingeräumt war. BULTMANN differenzierte stärker, sah neben der Predigt auch die Unterweisung und die Auseinandersetzungen mit jüdischen Gegnern als Sitz im Leben der synoptischen Tradition; ja, er erkannte hinsichtlich Jesu selbst: "Angesichts des Gesamtbestandes der Oberlieferung wird man kaum bezweifeln, daß Jesus als Rabbi gelehrt, ,Schüler' gesammelt und disputiert hat35 ." Welche Folge diese Lehrtätigkeit Jesu aber hatte, ob sie sich unter Umständen bei seinen Jüngern fortsetzte, wird nicht untersucht. Auf besondere Traditionsträger achtet BuLTMANN sowenig wie DIBELIUS. Beidereden vielmehr sehr allgemein von der Gemeindetheologie, die produktiv die Jesus-Oberlieferung von Generation zu Generation weitergegeben habe. Gegen eine solche Verallgemeinerung haben in den letzten Jahren besonders schwedische Forscher protestiert. Neben der Predigt, die keineswegs so ungebunden und protestantisch war, wie DIBELIUS wähnte 36, gab es im Urchristentum andere und mindestens ebenso wichtige Lebensäußerungen der Gemeinde, wie Gebet, sakrales Mahl, 34
35
36
Von daher ist es nom leimter denkbar, daß die Untersmiede in den beiden Makarismos-Reihen Matth. 5 und Luk. 6 nimt nur in der jeweiligen Konzeption der beiden Smriftsteller gründen, sondern zu einem Teil darin, daß den beiden Evangelisten Q in versmiedener Gestalt bekannt war. Dom ist ebenso möglim, daß der Matthäusevangelist neben der Q-Schrifi eine mündlich überlieferte (liturgisme?) Reihe von Seligpreisungen kannte. Denn die sems (oder sieben) Sätze, die Matth. vermutlim vorgegeben sind (s. o. S. 47), sind so knapp und einprägsam gehalten, daß sie sim aufs beste für mündtime Weitergabe eignen. Tradition S. 52. Die zerstreuten Hinweise im Neuen Testament auf die urmristlime Predigt ergeben: "Of anything whim recalls the materials from whim our Gospels were constructed we have, alas! not the least trace", RIESENFELD S. 12.
Mündliche Tradition im N. T.
109
Exorzismus, Kirchenordnung; alles Bereiche, die bei der Frage nach dem Sitz im Leben nicht übergangen werden dürfen. Vor allem aber gab es geprägte Lehre. Von der Benennung Jesu als Lehrer, didaskalos, und seiner Tätigkeit als lehren, didaskein, ausgehend, rechnen RIESENFELD und GERHARDSSON nach Analogie der rabbinischen Schulen mit einer strengen Trad1tionskette, von Jesus angefangen über die Zwölf als "Lehrautoritäten" 37, zu denen später Paulus hinzutritt, bis hin zu den frühen Kirchenvätern, wo besonders IRENÄUS seine Schulung durch mündliche Unterweisung des Apostelschülers PAPIAS betont. Die festgeprägten Ausdrücke von Traditionsempfang (paralambanein) und -weitergabe (paradidonai), wie sie die kerygmatischen Formeln in den Briefen des Paulus einleiten {1. Kor. 11, 23 ff.; 15, 1 ff.), gehen auf solche in Jerusalem gehütete Apostellehre zurück. Gelegentliche Notizen in jungen neutestamentlid:ten Sd:triften, die Jesus und seine Jünger als ungelehrte Männer hinstellen (Joh. 7, 15; Apg. 4, 13), erscheinen als spätere dogmatische Konstruktion38 • Gab es fest umrissene Traditionsträger, so ist nach rabbinisd:tem Beispiel anzunehmen, daß der Wortlaut der Sprüd:te und Erzählungen eifrig gehütet wurde; die charismatisd:te Umgestaltung, von der DmEuus und BULTMANN ausgehen, spielte also eine sehr geringe Rolle. Der gesamte synoptisd:te Stoff einsd:tließlid:t der Erzählungen über die Taten Jesu ist von dieser Sid:tt her wohl auf Jesus selbst zurückzuführen. Was ist zu dieser traditionshistorischen These zu sagen? Sie ist gewiß im Recht gegenüber dem allgemeinen blassen Schemen der "Gemeindetheologie". In der Tat wird mit einer gewissen Lehrtradition seit Jesus zu r.echnen sein39 • Der paradosis-Begriff der Urgemeinde fordert eine Erklärung. Dom werden zwei wid:ttige Probleme von den Traditionshistorikern allzuschnell beiseite gesd:toben. Darf der gesamte synoptische Stoff solcher strengen Lehrüberlieferung zugewiesen werden? Sind nicht gerade unter diesem Aspekt die Verschiedenheiten von Gattung und Sitz im Leben sorgfältig zu bead:tten? Bei Stücken wie den Seligpreisungen und dem Vaterunser leuchtet eine sold:te Bestimmung des Haftpunktes am ehesten ein (obwohl die Abweid:tungen der Matthäus- von der Lukasfassung zeigen, wie stark trotzdem die Abänderungen sein können). Aber bei anderen Sprud:tgattungen sind die Verhältnisse sd:ton fraglicher, und gar alle synoptischen Heilungserzählungen von solcher geprägten und gestalteten Oberlieferungsweise her zu verstehen, ist reichlid:t gewagt. Zum anderen: Ist es erlaubt, die rabbinische Art der Traditionssid:terung und -vergewisserung ohne weiteres in die urd:tristlichen Verhältnisse zu 37
88 3t
Den Aposteln ist "das Wort Gottes" anvertraut, d. h. die Auslegung des Alten Testaments und der Jesus-überlieferung, vgl. Apostelgeschichte 2, 42; 6, 2. 4. "Distinctly dogmatic", GERHARDSSON 1961 S. 13. s. o. s. 37.
110
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
übersetzen? Ist es von ungefähr, daß in der Urchristenheit nie eine Traditionskette nachzuweisen ist? Liegt es nicht näher, die apokalyptische Art der Traditionsweitergabe mit stark charismatischem Einschlag40 zum Vergleich heranzuziehen41 ? In diesen Fragen steht freilich die neutestamentliche Formgeschichte noch ganz in den Anfängen. G. Allgemeine exegetische Folgerungen
Es gehört zu der alltäglichen Erfahrung, daß die Menschen sich in der Schrift anders ausdrücken als beim Reden. Das geschieht ungewollt. Wer sich einmal selbst beobachtet, wird wahrnehmen, wie er schon in einem Brief andere Wendungen gebraucht und bedächtiger die Worte setzt, als wenn er dem Adressaten gegenübersteht. Solche Verschiedenheit ist selbstverständlich auch für die biblische Literatur vorauszusetzen. Die durch die traditionshistorische Schule aufgeworfene Frage sollte dazu führen, ganz anders als bisher auf die Unterschiede in der Gattungs- und Oberlieferungsgeschichte alt- und neutestamentlicher Einheiten zu achten, die aus der verschiedenen Weise der Weitergabe entspringen. Vor allem ist daran zu erinnern, daß der Ums c h 1a g von der mündlichen zur schriftlichen Weitergabe nicht genug betont werden kann. Die Niederschrift einer bis dahin nur mündlichen Einheit verändert sie in der Regel grundlegend. Das Einzelstück wird dadurch zumeist in einen größeren Zusammenhang eingefügt. Dazu ist es notwendig, die Ein- und Ausleitung der bisher selbständigen Gattung abzuschleifen, damit sie einem komplizierteren Gedankengang im größeren Ganzen dienstbar wird 42 • So haben wir z. B. Grund zu der Annahme, daß ein Profetenspruch beim ursprünglichen mündlichen Vortrag stets mit der sogenannten Botenformel »So hat Jahwä gesprochen" eingeleitet war. In den Profetenbüchern fehlt die Wendung jedoch häufig, weil sie infolge der Buchüberschrift sich erübrigt und die ehedem unabhängigen Stücke nun einen fortlaufenden Gedanken wiedergeben. Solche wiederholte Formeln würden nunmehr trennend wirken. Stücke, die in einprägsamer Form zum Auswendiglernen abgefaßt waren, werden bei der Schriftwerdung mit prosaischen Erläuterungen versehen, werden z erschrieben. Die gleichförmige Art und die sich wiederholenden Wendungen werden als allzu monoton emp40
41
•=
GERHARDSSON 1961 verweist selbst darauf, wie frei die Jesus-überlieferun:g bei den apostolischen Vätern zitiert wird S. 198. Die grundsätzliche Frage, wie weit das talmudische Material über rabbinische Traditionsweise für die Zeit vor 70 n. Chr., d. h. für die Zeit vor Jochanan ben Zakkai, überhaupt verwertbar ist, sei hier zurückgestellt. Ohne die soziologischen und wirtschaftlichen Verschiebungen durch den Untergang des israelitischen Gemeinwesens in den beiden Aufständen, die 70 und 135 n. Chr. mit der Auflösung des geschlossenen ethnischen Verbandes endeten, ist die rabbinische Praxis in ihrer Strenge überhaupt nicht denkbar; SMrTH, JBL 1963. GuNKEL, RGG 2 111, 1679.
Allgemeine exegetische Folgerungen
111
funden und abgeändert. Es entstehen neue schriftliche Gattungen, die umfangreicher sind und deren Formmerkmale nicht so deutlich zutage liegen wie die der mündlichen Gattungen48• Für den Exegeten, der überlieferungsgeschichtlich zurückfragt und nach den kürzeren Gattungen der mündlichen Stufe sucht, entstehen dadurch besondere Schwierigkeiten. Nicht überall mehr ist die Abgrenzung der ursprünglichen Einheit infolge ihrer nachträglichen Verschriftung eindeutig erkennbar. Besondere Not bereitet das der Synoptiker-Exegese". Auch die nachfolgende Überlieferungsgeschichte des einmal Niedergeschriebenen ist anderer Art als vordem. Zwischen Überlieferungsträger und -empfänger tritt ein "unpersönliches dingliches Medium", das jederzeit unabhängig vom Urheber und ursprünglichen Empfänger reproduzierbar ist45. Das Problem der Aus 1e g u n g taucht auf, weil jetzt beim Lesen über die Sätze länger nachgedacht werden kann als beim bloßen Anhören und die Sprache des Geschriebenen im Lauf der Zeit ver a 1t e t, während sie bei mündlicher Weitergabe jeweils unbewußt der eigenen Gegenwart angeglichen wird. Geschahen Änderungen bei der mündlichen Weitergabe vorwiegend unabsichtlich und fließend, so ist der kleinste Z u s a t z zu einer Schrift ein bewußter Akt48 . Nicht, daß die Änderungen des bereits Niedergeschriebenen selten wären! Da der Gedanke der literarischen Originalität in Israel und der ältesten Christenheit unbekannt ist, wird das Schrifttum wieder und wieder überarbeitet und für eine neue Generation jeweils a k tu a 1i sie r t. Doch die schriftlichen Überarbeitungen nehmen den bisherigen Stoff zumeist in seinem gesamten Wortlaut auf; sie ändern ihn nur, ordnen ihn anders und erläutern dieses oder jenes Wort. So wird es dem Ausleger leicht, hinter den jüngeren Überarbeitungen noch die ältere schriftliche Vorlage mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zu erkennen; mit anderen Worten: Das Geschäft der Literarkritik wird möglich. Dagegen war das Maß der Veränderung bei mündlicher Überlieferung erheblich stärk'er. Dort wirkte jede Generation wie ein "Schmelzofen" 47 , ja, jeder einzelne Traditionsträger änderte ein klein wenig4B. Zudem fand eine ständige Auslese statt. Was unverständlich wirkte oder den überlieferungskreis nichts mehr anging, vielleicht auch nicht mehr unterhaltend war, wurde ausgeschieden und vergessen49. (So ist z. B. von der Verkündigung der Profeten und noch mehr von den Erzählungen über ihr Leben vieles verlorengegangen. Festgehalten wurde, was sich von ihren Weissagungen erfüllt hatte oder - u. U. durch nachträgliche Umdeutung- aktuell blieb.) Das Zusammenwachsen selbständiger Einheiten vollzieht sich bei der Verschriftung durch Kompilationen, die dem Exegeten zum Anlaß für Quellenscheidungen werden können. In mündlicher Überlieferung geschah das Zusammenwachsen ebenso häufig, aber nahtloser5o. Der Inhalt früherer Dieser Umbruch wird von den Traditionshistorikern freilich geleugnet. Die entscheidenden Teile des Alten Testamentes seien "definitely modelled and fixed already at the oral stage, the taking down in writing itself thus meaning nothing absolutely new or revolutionary•. ENGNELL: The Call of Isaiah S. 57. " IBER, ThR 1957 s. 288-290. 45 NIELSEN S. 34; GuNNEWEG S. 72. 48 GUNNEWEG S. 73. 47 BIRKELAND 23. 48 GUNKEL: Genesis XXX. 49 BIRKELAND spricht von einem "sozialgeschichtlich bestimmten Kampf ums Dasein" und einem "survival of the fittest" (16). - "Oralliterature depends for its existence upon its acceptance. Unless at least one person is willing to receive and pass on the work, the traditionwill end." CuLLEY S. 121 f. 50 Europäisches Beispiel: Eine englische Forscherin hat ungefähr 300 Varianten vom Aschenbrödel-Märchen gesammelt. Dabei stellten sich in großer Zahl 41
112
§ 7 Der Streit um die mündliche Oberlieferung
Stufen biblisdter Einheiten läßt sidt deshalb für die mündlidte Oberlieferungsgeschidtte nur nodt ungefähr erhellen und nur noch in seltenen, meist poetisdten Fällen im genauen Wortlaut51• RINGGREN hat die Stücke untersucht, die im Alten Testament doppelt ersdteinen (2. Sam. 22 = Ps. 18; Ps. 14 =53; ]es. 2, 2-4 =Mi. 4, 1-3 u. a.), und festgestellt, daß von den Abweidtungen, die sich in diesen einstmals gleidtlautenden Texten jetzt zeigen, zwar· eine Anzahl aus einfadten Versdtreibungen, der größte Teil jedoch aus Veränderungen mündlicher Weitergabe herrührt51• Wenn MoWINCKEL redtt hat58, daß die prosaischen Partien des Jeremiabudtes im Untersdtied zu den poetisdten auf längere mündlidte Oberlieferung zurückgehen, dann sind jene Absdtnitte ein besonders schlagender Beweis für die starke Umsdunelzung bei der Weitergabe von Mund zu Mund. übrigens bestehen schon zwischen mündlicher Tradition und mündlidter Tradition große Unterschiede. Psalmen und Profetensprüdte des Alten Testaments werden nicht nur ihrer poetisdten Form wegen, sondern audt weil sie sakrale Worte sind, viel sorgfältiger weiterüberliefert als Erzählungen oder Liebeslieder. Im Neuen Testament sind die Seligpreisungen und das Vaterunser, überhaupt die Logien Jesu, ganz anders geprägt geblieben als die Erzählungen von den Taten des Herrn oder gar Erzählungen über die Erlebnisse der Apostel.
Wieweit ein biblischer Text durch die Eigenart mündlicher, wieweit er durch die Eigenart schriftlicher Weitergabe geprägt ist, hängt von Gattung und Sitz im Leben ab. Das ist bei jeder Gattungs- und Überlieferungsgeschichte im Auge zu behalten.
51
52
51
Vermisdtungen mit den Märdten von Allerleirauh, Sdtneewittchen, Rapunzel u. a. heraus. So leidtt verbinden sidt mündliche Erzählungen! Vgl. v. d. LEYEN: Das Märdten, 2 1917 S. 32. Die stärkere Veränderung durdt die mündlidte Oberlieferung wird nidtt nur von islamisdten Gelehrten (s. o.), sondern audt von ENGNELL und seinen Freunden bestritten, die mit einer viel größeren Zuverlässigkeit gerade dieser Art der Weitergabe redtnen. Aber daß selbst im Orient die mündlidte Oberlieferung unzuverlässiger ist als die sdtriftlidte, wird nidtt dadurdt widerlegt, daß man sidt auf moderne Reisende beruft, die im Nahen Osten außerordentlichen Gedädttnisphänomenen begegnet sind. So erzählt NIELSEN S. 24 von einem blinden Vedastudenten, der an Hand der gedruckten Vadaausgaben nadt jeder einzelnen Stelle gefragt werden konnte und sie stets genau wiedergab. NYBERG S. 57 f. weiß von einem parsistisdten Priester, der den Yasna, obwohl (oder gerade weil!) er ihn nidtt verstand, von A-Z auswendig rezitierte. Soldte Lernakrobaten gibt es selbst nodt im gedädttnisschwachen Europa! Als die üblidten Träger von geprägten Oberlieferungen kommen sie kaum in Betradtt; für diese gilt vielmehr das Wort des oben zitierten arabischen Didtters (o. S. 87). Um den Standpunkt der Traditionshistoriker einzunehmen, bedarf es sdton eines unverbrüchlidten "faith in the reliability" der mündlidten Oberlieferung (NIELSEN, S. 39 f.). Die Herkunft der Abweichungen läßt sich deshalb feststellen, weil die Feh 1erq u e 11 e n in mündlicher oder schriftlidter Weitergabe ver s c h i e den sind. Verwedtslungen von ähn~idt geschriebenen Budtstaben, Auslassungen oder Verdoppelungen gleidter oder ähnlidt gesdtriebener Worte sind bezeidtnend für Verschreibungen. Dagegen wird bei der Weitergabe von Mund zu Mund leicht ein Wort verhört und durch ein ähnlich lautendes ersetzt, ein veraltetes Wort ausgetausdtt oder die Stellung einzelner Satzteile oder Verse verändert (solche Fehler können freilich auch durch Diktat entstehen und sind kein unbedingter Beweis für mündliche Überlieferung; WIDENGREN, AcOr 1959 S. 213). Erweiterungen, soweit sie mündlich vorgenommen sind, fügen sich organisdt in den Zusammenhang ein und madten sidt nidtt als Glossen bemerkbar, die den Zusammenhang stören. Prophecy 21.
113
§ 8 KENNZEICHEN HEBRKISCHER POESIE Gute Obersidtten über die Forsdtungslage mit reimen Literaturangaben bei J. BEGRICH: Zur Hebräisdten Metrik, ThR NF 4, 1932, 67-89 und F. HoRsT: Die Kennzeichen der hebräisdten Poesie, ThR NF 21, 1953, 97-121. Letzte ausführlidte Behandlung durdt MoWINCKBL: Psalms II 1962, 159-175.
Bevor wir in den Schlußparagrafen des methodischen Teils eintreten, empfiehlt es sich, ein Gebiet kurz zu streifen, das zwar in der gegenwärtigen Bibelwissenschaft nicht so heftig umstritten ist wie der Rang der mündlichen Überlieferung, dessen Bedeutung für die alt- und neutestamentliche Formgeschichte aber kaum geringer ist. Es geht um die poetischen Abschnitte, die sich durch eine gehobene und rhythmische Sprache herausheben und die ganz bestimmten Gattungen und Sitzen im Leben zugehören. Seitdem die alten Griechen zum erstenmal begonnen haben, über das zu reflektieren, was wir Literatur nennen, ist der Unterschied von Poesie und Prosa, also zwischen rhythmischen Dichtungen und der gewöhnlichen Umgangssprache, zur Grundvoraussetzung aller Literaturwissenschaft geworden. Wer einmal in das hebräische Alte Testament hineingeschaut hat, weiß, daß dort schon durch den Druck der KITTELsehen Biblia Hebraica sich die poetischen Abschnitte deutlich abheben. Das verschiedene Schriftbild ist bereits in, den alten Bibelhandschriften nachzuweisen, wenngleich es da nicht folgerichtig angewendet wird1• Schwieriger sind die poetischen Stellen im Neue n Testament zu erkennen. Immerhin sind die Lieder in der Vorgeschichte des Lukasevangeliums oder in der Offenbarung Johannes in NESTLES Novum Testamenturn Graece deutlich von den erzählenden Partien abgesetzt. An anderen Stellen, etwa bei dem Christuslied Phil. 2, 5-11, entdeckt der schlichte Leser den poetischen Bau jedoch nicht. überhaupt sind die Formgesetze der neutestamentlichen Poesie schwer bestimmbar; das erklärt sich einmal daraus, daß es in der Urchristenheit keine so ausgesprochene Kunstdichtung gab wie am Jerusalemer Hof und Heiligtum; zum andern daraus, daß die neutestamentlichen Schriften teilweise übersetzungsliteratur sind, so daß die Struktur der Logien Jesu z. B. weithin verwischt wurde2; überdies ist selbst dort, wo eine neutestament1
2
Zu den Qumranhandsdtriften s. P. SKBHAN, RB 63, 1956 S. 59. - Außerhalb der Bibel gibt es die Absetzung poetisdter Zeilen auf aramäischen Grabinsdtriften und Tontafeln, B. MEISSNER: Die babylonisdt-assyrisdte Literatur 1928 s. 25-27. Der Versudt von C. F. BuRNEY: The Poetry of Our Lord, An Examination of the Formal Elements of Hebrew Poetry in the Discourses of Jesus Christ, 1925, ist deshalb unbefriedigend, weil er auf jede überlieferungsgesdtidttlidte Untersudtung verzidttet. Die Bedeutung des Problems wird durdt unzureidtende Behandlung nidtt gesdtmälert. Vgl. DmBuus, ThR NF 3, 1931, 219 bis 225.
114
§ 8 Kennzeichen hebräischer Poesie
liehe Dichtung von Haus aus schon in griechischer Sprache abgefaßt wurde, der semitisierende und psalmodierende Stil der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) Vorbild gewesen, so daß die Regeln griechischer Poesie nur sehr beschränkt befolgt werden. Auch für das Verständnis der urchristlichen poetischen Gattungen ist es also unerläßlich, von den Gesetzmäßigkeiten der alttestamentlichen Poesie auszugehen, auf die ich mich deshalb in diesem Paragrafen beschränke.
A. Parallelismus membrarum HEMPEL: Literatur 21-23. - J. BEGRICH: Der Satzstil im Fünfer, Zeitschrift für Semitistik 9, 1933/4, 169-209 = Ges. Studien 1964, 132-167. Zur nahverwandten ugaritischen Dichtung s. UT I § 13. 107-170 und C. I. K. STORY: The Book of Proverbs and Northwest Semitic Literature, ]BL 64, 1945, 321-324. über die vorisraelitische palästinensische Poesie: F. M. Th. LIAGRE-BÖHL: Hymnisches und Rhythmisches in den Amarnabriefen aus Kanaan, Opera minora, 1953, 375-379.
Das hervorstechendste Merkmal europäischer Dichtung, der Reim, ist in der Bibel nur selten und beiläufig (z. B. Jer. 1, 5) zu finden. Damit entfällt hier der Zwang, mindestens zwei (klanglich aufeinander abgestimmte) Zeilen als poetische Grundeinheit anzusetzen. Vielmehr genügt eine einzige Zeile für eine Dichtung, und zwar die durch eine Zäsur gegliederte Sinnzeile, der La n g v e r s. Im hebräischen Vers spielt bisweilen das (auch in der germanischen Dichtung beliebte) Stilmittel der A 11 i t er a t i o n, des Stabreims, eine Rolle. Er taucht in parallelen Takten auf, so Pv. 13, 14 CIIIJ
i~p~ C~J;111iH1
oder auch als Chiasmus, d. h. übers Kreuz wie Pv. 13, 3 UO!l~ i~tO N~ i~J
Aber das eigentliche Grundmerk m a 1 poetischer Abschnitte, auf das der Engländer LowTH3 schon vor 200 Jahren aufmerksam gemacht hat, ist der Parallelismus membrorum. Gemeint ist damit die für einen Europäer höchst merkwürdige Doppelung der poetischen Aussagen, ein Gedankenreim, wie man gesagt hat. 1. Seine einfachste Form soll durch Num. 21, 28 belegt werden:
Feuer ging aus von Hesbon/Flammen aus Sihons Stadt. Das Wort "Feuer" findet in der zweiten Hälfte in "Flammen" sein Wechselglied, der Name "Hesbon" in "Sihons Stadt". Die Inhalte der Halbverse (auch Zeile, Halbzeile, Reihe, Stichos, Kolon genannt) entsprechen sich also; der poetische Vers (auch Periode, Distichon, a Praelectiones de sacra poesia Hebraeorum 1753, deuts
Parallelisml4s membrorum
115
Bikolon) entsteht durch Variation desselben Gedankens. Diese einfache Art pflegt man synonymen Parallelismus zu nennen4 • Bei genauerem Hinsehen lassen sich zwei Unterarten unterscheiden. Im obigen Beispiel werden nur zwei Satzteile variiert, während ein dritter, nämlich das Verb, nur einmal erscheint (neben einem Verb ist es häufig ein Adverb, das über beide Reihen reicht: Pv. 6, 21). Das ist BEGRICHS "Form 3" (a-b-c/a'Cl'-cz')5. Es können jedoch auch alle Glieder wiederkehren, also zwei gleichgebaute Sätze im Vers versammelt sein (a-b-cfa'-b'-c' vgl. Ps. 27, Sb): BEGRICHS "Form 4".
2. Eine altertümliche Form ist der stufenartige oder klimaktische oder tautologische oder repetierende Parellelismus wie Ps. 29, 1: Gebt Jahwä, ihr Gottessöhne I gebt Jahwä Ehre und Macht. Hier werden nicht ähnliche Ausdrücke als Wechselglieder nebeneinandergestellt, sondern zwei Glieder wörtlich wiederholt, um mittels des ausgetauschten dritten Glieds den Gedanken weiterzuführen (a-b-c/a-b-d). Er findet sich im Alten Testament selten (Ri. 5; Ex. 15; Hab. 3; Ps. 29; 68), ist aber in Ugarit häufig6 • 3. Häufig kommt es vor, daß die zweite Zeile den Gedanken durch eine gegenteilige Aussage vertieft, etwa Pv. 10, 1: Ein weiser Sohn erfreut den Vater/ ein törichter Sohn aber ist der Mutter Kummer. In soldlern Fall spricht man vomanti thetischen Parallelismus. 4. Komplizierter ist der Bezug beider Stichen aufeinander in Beispielen wie Ps. 30, 7: Einst dachte ich im ruhigen Glück:/Nie komme ich zu Fall. Hier wird nicht wiederholt, der Gedanke aber auch nicht weitergeführt, sondern verdeutlicht. Dem Hinweis auf das sorglose Nachdenken in der ersten Reihe folgt dessen konkreter Inhalt in der zweiten. Auch in diesem Fall läuft das Gedicht nicht weiter, sondern tritt auf der Stelle, aber nicht durch Variation, sondern durch Auffüllung der Aussage. Das ist der s y n thetische Parallelismus7 • Er kann auch so gefaßt werden, daß der Satz in der zweiten Halbzeile kontinuierlich weiterläuft, also der rhythmischen Zäsur keine logische entspricht (Enjambement) 8 ; so eine beliebte Form von Seligpreisungen in der Spätzeit (Ps. 127, 5): Neutestamentlich Matth. 10, 16: "Seid klug wie die Schlangen/und ohne Falsch wie die Tauben." - In den Psalmen gibt es feste Wortpaare als häufig gebrauchte Wechselglieder, bei denen das zuerst benutzte Wort ausschlaggebend ist; R. G. BoLING, Journal of Semitic Studies V, 1960,221-255. 5 Im zweiten Halbvers ist das Wechselglied häufig doppelt so lang: c entspricht er samt C2 1• (UT §_!3, 116 "ballast variant".) 8 UT § 13. 111. 7 Im NT z. B. Matth. 6, 34; "Sorget nicht für den morgigen Tag/denn der morgige Tag wird seine eigene Sorge haben." s Bestrittenvon RoBINSON, ZAW NF 13,1936 S. 30: "Where there is a break in the sense, there must be also a break in the metre." Dagegen MELAMED, Scripta Hierosolymata 8, 1961 S. 115; M. DAHOOD: Psalms III S. 413 f.
4
116
§ 8 Kennzeichen hebräischer Poesie
Selig der Mann, der seinen Köcher I mit ihnen ( = mit Söhnen) gefüllt hat. Im letzten Fall redet BEGRICH von "Form 1", im vorigen von "Form 2" (Zuordnung verschiedenartiger Sätze, die logisch verbunden sind).
5. Eine Abart des synthetischen ist der p a r ab o 1i s c h e Parallelismus, der einen Vergleich so zum Ausdruck bringt, daß in der ersten Reihe das Bild, in der zweiten die Sache erscheint: Wie die Höhe des Himmels über der Erde/ ist seine Treue ,hoch' über seinen Frommen (Ps. 103, 11). In solchen Parallelismen redet nicht nur die israelitische, sondern auch. die kanaanäische, ägyptische und akkadische Dichtung. Es handelt sich also um einen gemein-altorientalischen Brauch. Für unser Empfinden hemmt solche Doppelung der Gedankenführung nicht nur den Fortschritt der Aussage und macht sie langweilig, sondern beeinträchtigt auch ihre Klarheit und Eindeutigkeit, da sich ja zwei Wörter nie völlig im Sinn decken. Wenn aber diese Weise des Dichtens sich durch Jahrtausende erhalten hat, so läßt sich das nur aus einer besonderen Denkweise heraus erklären, die nicht die unsere ist. Dahinter steht die unausgesprochene Überzeugung, daß letzte Wahrheiten über das menschliche Dasein sich nie in einem einzigen Gedankengang ausdrücken lassen, sondern allein in mehreren, variierenden Aussagen erfaßt werden können 9 • Auf diesen Hintergrund sei kurz verwiesen; ihn näher zu untersuchen, führt über das Geschäft der Formgeschichte hinaus. Für die Erkenntnis der Gattungen und ihrer Geschichte wäre es nützlich, über die Entstehung und vor allem über die Wandlung des Parallelismus Näheres zu wissen. Aber an diesem Punkt steht die Forschung noch ganz am Anfang.
B. Aufbau von Gedichten und Liedern Ein Langvers ist häufig eine geschlossene Einheit. So meist im Weisheitsspruch (s. oben Pv. 10, 1), aber auch in den apodiktischen Tötungsbestimmungen des Gottesrechts (Ex. 31, 15 b): Wer immer am Sabbattag eine Arbeit unternimmt/ muß vom Leben zum Tod gebracht werden (M~~~ 111!:1) 10 • 9
10
Zu dieser Denkweise vgl. die Beschreibung der "Vielfalt der (gedanklichen) Annäherung" (multiplicity of approaches) bei H. FRANKFORT u. a.: Frühlicht des Geistes, Urban-Bücher 9, 1954 S. 24; Ders.: Ancient Egyptian Religion 1948 S. 4. - Diese Denkart war der griechischen Sprache so fremd, daß die Septuaginta sich zu weitgehenden Anderungen gezwungen sah; s. G. GERLEMAN: Studies in the Septuagint, LUA N. F. Avd. 1. Bd. 52: 3, 1956 S. 18. Alt I 307 ff hat hinter diesem und anderen partizipialen Rechtssätzen aus dem Bundesbuch und dem Heiligkeitsgesetz eine alte Reihe "todeswürdiger Verbrechen" vermutet. Aber die Zusammenstellung von Sätzen, die zwar der
Aufbau von Gedichten und Liedern
117
So noch in vielen Sprüchen Jesu. Bisweilen wird der Vers durch eine dritte Reihe erweitert, wird also zumTri k o Ion: Wie Essig für die Zähne/und Rauch für die Augen/ist der Faule für den, der ihn ausschickt (Pv. 10, 26) 11 • Schon in der Weisheitsdichtung findet sich daneben aber die Verbindung zweier Verse zu einer Doppelperiode. Besonders gern geschieht das bei synthetischem Parallelismus (der dadurch erst im strengen Sinn Parallelismus wird), z. B. Ps. 40, 17: Es werden noch frohlocken und deiner sich freuen/ alle, die dich suchen; die dein Heil lieben, werden allezeit sagen:/ Jahwä ist groß. Viele der Weisheitssprüche in Pv. 25-27 sind als Doppelperioden gestaltet. Es entsteht dadurch ein übergreifender, "externer" Parallelismus12 oder parallelismus versuum. Für größere poetische Einheiten reicht auch die Doppelung der Parallelismus-Zeile nicht aus. Die Gedichte werden dann je nach der Gattung anders gegliedert, was unten bei den Psalmenbeispielen im zweiten Teil zu zeigen ist; für die Gliederung wird eine sinngemäße Gruppierung entscheidend. Freilich gibt es ein paar Züge an größeren Gebilden, die nicht auf bestimmte Gattungen beschränkt zu sein scheinen. Das ist einmal der schwere S c h 1u ß : Am Ende des, Gedichts oder eines Abschnitts erscheint eine längere Periode13 oder ein Trikolon. Auch eine Halbzeile ohne Parallelismus kann als Ausleitung dienen (Ps. 2, 12b) 14• Eine andere Eigenheit hebräischer Dichtung ist die Anakrusis (Einschiebsel außerhalb des Rhythmus): Einleitungsformeln oder Anreden werden ohne Rücksicht auf den Parallelismus eingeschoben11i. So in Gebeten (Ps. 13, 1): Wie lange- o Jahwä- willst du meiner so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? oder in der profetischen Verkündigung (]er. 2, 9): Darum muß ich wieder mit euch rechten- raunt Jahwä- / muß rechten mit euren Kindeskindern. Endlich gibt es die Gliederung gewisser Liedgattungen durch das A k rostich o n, d. h. durch den Anfang der Zeile mit einem Buchstaben nach der Folge des Alfabets. So beginnen in Ps. 9 f. die ersten beiden Zeilen mit Alef, die zwei nächsten mit Bet usw.; in gleicher Weise werden je drei Zeilen Klag. 1-3 zusammengefaßt, in Ps. 119 sogar acht. Dasselbe Stilmittel ist aus babylonischen Hymnen zu belegen16•
11
12
18 14 15 16
gleichen Gattung, aber sehr verschiedenen literarischen Werken angehören, zu einer ursprünglichen Einheit ist höchst gewagt (wie auch die Verbindung der partizipialen Sätze mit apodiktischen Geboten). Vgl. unten S. 134. MowiNCKEL: Real und Apparent Tricola in Hebrew Psalm Poetry, ANVAO 1957, 2. Th. H. RoBINSON: Some Principles of Hebrew Metrics, ZAW 54, 1936, 28 bis 43. - Diese Art findet sich auch bei den Seligpreisungen auf einer bestimmten Stufe, s. o. S. 52 f. Vgl. UT 13. 110. Zu ägyptischen Parallelen: HdO I, 2 (Agyptologie) S. 28. Th. H. RoBINSON in: Werden und Wesen des AT., BZAW 66, 1936, 37-40. FALKENSTEIN - v. SoDEN: Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, 1953 S. 42. - Oft wird behauptet, solche akrostichischen Lieder seien nur für
118
§ 8 Kennzeichen hebräischer Poesie
An einigen Stellen taucht auch ein Kehrvers auf, der deutlich einen Abschnitt beendet: Ps. 42, 6. 12 und 43, 5; 46, 8. 12; 80, 4. 8. 20. Da Zahl und Rhythmus der zu solchen Abschnitten gehörigen Perioden aber wechselnd ist, redet man besser nicht von "Strofen"17.
C. Kurzvers-Reihen G. FoHRER: Ober den Kurzvers, ZAW 66, 1954, 199-236- S. MoWINCKEL: Marginalien zur hebräischen Metrik, ZAW 68, 1956, 97-123.
In jüngster Zeit ist die Frage aufgetaucht, ob es in der hebräischen Dichtung nicht neben dem schon lang entdeckten Langvers auch einen Kurzvers ohne Zäsur und ohne Parallelismus membrorum gegeben habe, der freilich nie für sich, sonders stets in Kurzvers-Ketten auftauche. FüHRER hat die Frage mit Nachdruck bejaht, MüWINCKEL sie nicht weniger nachdrücklich verneint. Worum es geht, zeigt am einfachsten der Dekalog, besonders in seiner zweiten Hälfte: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst kein falsches Zeugnis reden ... Diese Gebote wurden einst gewiß in gehobener Sprache bei den Bundesfeiern vorgetragen (o. § 3), wenngleich der nunmehr vorliegende Text besonders im Anfang der Gebotsreihe weithin zerschrieben ist. Angesichts dieser Reihe hat FüHRER ohne Zweifel recht. Apodiktische Gebote sind in Israel gern in Reihenform verbunden und in gehobener Sprache vorgetragen worden, ohne daß sie der Kunstdichtung mit Parallelismus membrorum angeglichen worden wären. Wenn MüWINCKEL einwendet, daß diese Zusammenstellung künstlich sei und auch die Sätze des Dekalogs einstmals jeder für sich umliefen, so ist diese These zwar nicht ausgeschlossen, beweist aber nichts; denn es geht darum, welche Stilkräfte die Reihenbildung - früher oder später- bewirkt haben und ob deren Vortrag vor der Kultgemeinde auf eine feierliche Wirkung Wert legt und als gebundene Sprache empfunden wurde. Das ist zweifellos zu bejahen. Solche Reihen sind insofern dem Parallelismus ·membrorum ähnlich, als in ihnen Sätze erscheinen, die verwandte Gedanken "synthetisch" aneinanderreihen, allerdings ohne Rücksicht auf die ZweizahL In der Begeisterung über diese EntdeckunglS ist FoHRER wohl allzuweit gegangen. Er möchte in allen möglichen profetischen Texten ebenfalls Kurzverse erkennen. das Auge des gelehrten Lesers, nicht für das Ohr des Hörers bestimmt. Dabei wird wohl übersehen, daß der Semit in ganz andrer Weise in der Sprache die Konsonanten und viel weniger die Vokale wahrnimmt als der Europäer. 17 EISSFELDT: EinleitungS S. 85 nennt durch Kehrverse getrennte Abschnitte eines Gedichts "Wenden." 18 Sie stammt, genau genommen, von Fohrers Lehrer BALLA.
Rolle der Poesie in Israel
119
Einen schlüssigen Beweis hat er dafür kaum erbracht. Doch das Vorhandensein von Kurzversen ist nicht zu bestreiten. Das ist für das Neue Testament von hohem Belang, beweist es doch, daß z. B. die Makarismen von Matth. 5 und Luk. 6 poetischer Art sind, obwohl ein Parallelismus membrorum fehlt.
D. Die Rolle der Poesie in Israel Die gebundene dichterische Sprache hat zweifellos in Israel eine erheblich größere Bedeutung besessen als in unserem nüchternen Jahrhundert. Dichtung diente keineswegs nur zur privaten Lektüre und zum Vortrag im Liebhaberkreis, sie ist nicht Kunst im Sinn eines Spiels, das man auch lassen kann; sondern sie nahm vielmehr einen notwendigen, geradezu lebenswichtigen P 1atz im Volksleben ein. Es besteht Grund zu der Annahme, daß ein Priesterspruch arn Heiligturn oder eine Profetenrede an die Gemeinde, ja sogar politische Parolen in der Regel rhythmisch gefaßt waren und rhythmisch gefaßt sein mußten. Während für uns öffentliche Rede und Dichtung zweierlei sind, war es für die Israeliten offenbar anders19. Während die moderne westliche Gesellschaft letzte Wahrheiten prosaisch zur Sprache bringt, sei es in einer philosophischen Schrift oder in kirchlicher Ver:.. kündigung, und Gedichte nach unsrer Meinung nur sinnbildlich davon reden, vermag der alte Orient die tiefen Fragen des menschlichen Daseins nur poetisch zu erörtern. Poesie entsteht weithin nicht durch absichtliches Komponieren nach ästhetischen Regeln, sondern aus spr~ch lichern Gefühl (wie die grammatisch richtigen Formen in der Urngangssprache)20. Wahrscheinlich traute man darüber hinaus der gebundenen Sprache eine größere Wirkungskraft zu als der gewöhnlichen21 . Weiter ist zu bedenken, daß der Semit viel schneller von Prosa zur Poesie überwechselt als unsereiner. Von den Beduinen berichtet z. B. ein Reisender, der vor zwei Jahrzehnten die Wüste im Süden Arabiens durchstreift hat: "Die Araber sprechen leicht in Versen, wenn sie etwas bewegt. Ich habe einen jungen Burschen spontan das Weideland, das er gerade entdeckt hatte, in Versen beschreiben hören: so gab er seinen Gefühlen auf natürliche Weise Ausdruck22 ." Bei den alten Israeliten wird es nicht anders gewesen sein. Aus dem Alten Testament läßt sich ersehen, daß auch der umgekehrte Vorgang leicht eintrat, vor allem bei der Verschriftung dichterischet Stücke. So sind in den Profetenbüchern die interpretierenden Zusätze ohne Scheu prosaisch in die rhythmischen Sprüche eingefügt. Solche Beobachtungen lassen es nicht ratsam erscheinen, bestimmte sprachliche Beobachtungen in überwiegend poetischen Büchern des Alten 19 GuNKEL: GrPro 20 ROBINSON, 21 Guß 15.
21
W.
XLI.
ZAw 54, 1936 s. 29.
THESIGER:
Die Brunnen der Wüste 1959 S. 87.
§ 8 Kennzeichen hebräischer Poesie
120
Testaments einfach auf eine "poetische Sprache" zurü
E. Metrik Gute Obersicht mit Literaturangabe bei ErssFELDT: Einleitung § 6. Wichtiger neuer Ansatz bei S. SEGERT: Problems of Hebrew Prosody, VTS VII, 1960, 283-291.
Jede gebundene Sprache zeichnet sich durch einen markierten Rhythmus vor der Alltagssprache aus. Viele der am Parallelismus membrorum erkennbaren alttestamentlichen Dichtungen sind ausweislich der Psalmenüberschriften gesungen und durch Instrumente begleitet worden, besaßen also eine feste M e Iod i e. Demnach muß es in der israelitischen Poesie metrische Gesetzmäßigkeiten gegeben haben. Lassen sie sich noch rekonstruieren? Soviel Fleiß auch in den letzten 100 Jahren auf dieses Problem verwendet wurde, sowenig gelang es bisher, zu einem allerseits anerkannten Ergebnis zu gelangen, weil jede direkte Nachricht aus dem Altertum fehlt. Zu Sondersprachen in sumerischer Dichtung s. FALKENSTEIN - v. SoDEN S. 28 f. s. 25 f. 15 inKdG. 18 So auch HEMPEL: Literatur und die oben S. 25 genannten Einleitungen. 17 GRESSMANN, ZAW NF 1, 1924 S. 20 nach LrTTMANN. Ahnliches in skandinavischen und altirischen Dichtungen, GuNKEL: Genesis XXVII f. 13
24
s. o.
Metrik
121
Immerhin sind zwei Feststellungen mit Sicherheit möglich, die wenigstens einen groben Aufschluß über hebräische Metrik geben. Einmal ist seit 50 Jahren allgemein anerkannt, daß in bestimmten Gattungen eine uns y m metrische Versbildung, bei der die erste Halbzeile um ein Glied länger ist als die zweite ("hinkender Vers"), gebräuchlich ist: das Qina-Metrum, so genannt, weil es stets bei Leichenliedern (Mtl~i?) auftritt. Es ist darüber hinaus in andem Gedichten nachzuweisen, so z. B. im Büchlein der Klagelieder. Als Beispiel diene die profetische Nachahmung des Leichenlieds in Am. 5, 2: ;~~lf~ n?~nf c~p lJ~I?1M·H; n?~~ Daneben hebt sich das Maschal-Metrum heraus, dem diese Bezeichnung von MowiNCKEL deshalb beigelegt worden ist, weil die weisheitliehen Sprüche (c~?~~) diese Bildung benutzen. In diesem Fall sind beide Vershälften symmetrisch, was die Länge anbetrifft. So Pv. 2, 1: :'iJ~~ )!':l~f:l ~t~,~t?~ ~~'t~ n~f:!-c~ ~~f
Die Periode (der Vers) ist bei dieser Art verhältnismäßig umfangreich. Neben diesen beiden hat es gewiß noch andere Metren gegeben, die sich jedoch nicht so deutlich erkennen und besonderen Gattungen zuordnen lassen. Läßt sid,l außer über den Umfang auch noch etwas über die innere Gliederung der Metren sagen? Lassen sich die Versfüße (Takte) no~ erkennen, die jeweils einer Halbzeile zugrunde liegen? Hier streiten gegenwärtig zwei Ansichten miteinander. Die einen setzen im Hebräischen· ein a k z e n tu i erendes Schema voraus, bei dem jeweils eine betonte Silbe mit einer oder mehreren unbetonten den Versfuß bildet, die betonte aber allein für die Periode gezählt wird; ihre Hebung fällt mit dem Wortakzent zusammen. Das Beispiel Am. 5, 2 ist demnach zu skandieren: nafelä lo' tösif qum betulat jisra'el + + = I + = I + = I+ + = I ++ = I Gefall'n ohn Aufstehn ist/die Jungfrau Israel. Da nur die betonten Silben (durch = gekennzeichnet) gezählt werden, ergibt sich ein Metrum von 3 + 2 Betonungen, also ein Fünfer. (Das Maschal-Metrum gilt entsprechend als 3 + 3 oder Doppeldreier.) Diese Deutung wurde (nach dem Vorgang von LEY) durch den Germanisten E. SIEVERs28 zu fast allgemeiner Anerkennung geführt. Eine Minderheit allerdings tritt mit HöLSCHER29, MowiNCKEL30 und HoRST für ein alternierendes Metrum ein. Entsprechend dem zs Metrische Studien I-III 1901-1907. 28 Elemente arabischer, syrischer und hebräischer Metrik, BZAW 34, 1920 (Festschrift f. K. BuDDE), 93-101. ao Zum Problem der hebräischen Metrik, Festschrift f. A. BERTHOLET, 1950, 379-394.- Zur hebräischen Metrik. Il, StTh VII, 1954,54-85.
122
§ 8 Kennzeichen hebräischer Poesie
einfachen Tanzschritt und der Akzentsetzung der Masoreten nehmen sie an, daß in der hebräischen Poesie in der Regel je eine unbetonte und eine betonte Silbe aufeinander folgen und zusammen einen Versfuß bilden. Doch kann die unbetonte Silbe auch von der vorhergehenden betonten verschluckt werden, so daß der Versfuß nur aus einer Silbe besteht. Für Am. 5, 2 ergibt sich dann folgendes Bild: nafeia: lo' tosif qum bCtßlat jisra'el + =1=1 +=I= 1+=1+ =I+ =I
Das Qina-Metrum besteht danach aus 4 + 3 Versfüßen. {Entsprechend wird das Maschal-Metrum 4 + 4 gezählt.) Es ist hier nicht der Ort, die beiden Theorien zu untersuchen31 • Ihre Schwäche liegt darin, daß wir über die Aussprache des Hebräischen zu der Zeit, als es noch lebendige Umgangssprache war, wenig Sicheres wissen. Beide Theorien stimmen nur zur U 1tim a betonung der t i b er i e n s i s c h e n Masoreten. Es gibt jedoch Anzeichen, daß die ältere Aussprache die vorletzte Silbe im Wort betonte32 • Einen bemerkenswerten Versuch, das metrische Problem zum ersten Mal historisch anzufassen, hat SEGERT unternommen. Unter Berücksichtigung der Sprachgebiete unterscheidet er drei Stufen: 1. in ältester Zeit war im Hebräischen jedes Wort eine poetische Einheit (wie im Ugaritischen und einem Zweig des Akkadischen} 83 ; 2. in der Königszeit herrscht ein akzentuierendes System; 3. in der Spätzeit unter dem Einfluß des Aramäischen ein alternierendes.
Der überblick zeigt, daß bislang für die Formgeschichte wie für die Exegese überhaupt metrische Theorien nur mit Vorsicht zu gebrauchen sind. Der Vollständigkeit halber wurde aber auf sie verwiesen. Einfacher ist die Lösung, durch Stichometrie, d. h. Zählung der (für semitisches Sprachgefühl allein entscheidenden) Konsonanten die Stichen = (Halb)Zeilen der Poesie abzugrenzen, wie sie 0. LoRETZ34 durchführt. Dabei wird eine bestimmte Streubreite in der Zahl der Konsonanten in parallelen Halbzeilen und Gedichten vorausgesetzt und von den (für das Bibelhebräische unsicheren) Vokalen und Akzenten abgesehen.
31
32
33 34
Die Singzeichen in babylonischen Epen sr.rechen für ein akzentuierendes System: FALKENSTEIN - v. SODEN S. 39 . - Die syrischen und arabischen Metren sprechen dagegen für Hölscher. P. KAHLE: Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch 1961 S. 10; Die Aussprache des Hebräischen in Palästina vor der Zeit der tiberischen Masoreten, VT X, 1960, 375-385.- Auf Grund der neuen Erkenntnisse über hebräische Sprachgeschichte strebt eine Verbesserung der akzentuierenden Deutung an D. N. FREEDMAN: Arehaie Forms in Early Hebrew Poetry, ZAW 72, 1960, 101-107. So auch für die Zeit bis zum Exil H. KosMALA, VT XIV 1964, 423-445 vgl. XVI 1966, 152-180. Studien z. althebräischen Poesie. 1. Das althebräische Liebeslied, 1971, bes. S. 55 f.
123 § 9 KANON, BIBLISCHE LITERATUR- UND SPRACHGESCHICHTE Der folgende Paragraf ist anderer Art als die bisherigen. Während es auf den voraufgehenden Seiten meine Aufgabe war, die Grundsätze formgeschichtlicller Forschung zu erheben, wie sie heute im Gebrauch sind, versuche ich nunmehr, auf wenig gebahnten Pfaden weiterzuwandeln. Es geht sozusagen um den Schlußstein im Gebäude formgesdlidltlidler Exegese, um die theologischen Konsequenzen. Die meisten Alt- und Neutestamentler, die formgeschimtlich arbeiten, berücksidltigen die Punkte nidlt, die im jetzt darstelle, und in der Regel vermißt niemand etwas bei ihren exegetismen Veröffentlichungen. Jedoch, je länger im mim mit Formgesdlicllte besmäftige, desto weniger bin im der Ansicht, daß diese Zusatzprobleme (oder Endprobleme!) zu umgehen sind, audl wenn bislang außer GuNKEL sidl nur wenige damit abgegeben haben. Vgl. dazu auch das Nachwort.
A. Oberlieferungsgeschichtliche Erkenntnisse in der kirchlichen Praxis Die bisher behandelten Themen lassen erkennen, wie v i e 1g es t a 1t ig das sprachliche Geschehen ist, das dem Werdegang der Bibel zugrunde liegt. Eine große Anzahl von Gattungen mit festem Bezug zu einem Sitz im Leben, aber mit einer an Wandlungen reichen Gesmithte taucht vor dem Blick des Exegeten auf. Poetische Stücke heben sich von prosaischen ab, und das nicht bloß als Unterschied der Form, sondern auch der Bedeutung. Hinter den meisten biblischen Abschnitten wird zudem eine lange Überlieferungsgeschichte sichtbar, die zunächst den Wechselfällen mündlicher Weitergabe unterlag, eines Tages niedergeschrieben wurde und nunmehr Redaktionen erfuhr oder mit andern Büchern zusammengearbeitet wurde. Das also ist das Bild, das die Formgeschichte von der Entstehung der biblischen Schriften entwirft. Während noch vor einem halben Jahrhundert für die Bibelwissenschaft die Zahl der "Verfasser" alt- und neutestamentlicher Schriften feststand und an den Fingern abzuzählen war, sind seitdem durch die formgeschichtliche Forschung die Personen und Traditionskreise, die an der Gestaltung des Alten und Neuen Testaments mitgewirkt haben, gleichsam zu einem unübersehbaren Chor angewachsen. Das Wort der Bibel erweist sich nicht als versteinerte, unveränderliche Wahrheit, sondern als eine im Fluß befindliche, stets neu aktualisierte Wahrheit. Für den, der in der kirchlichen Praxis tätig ist, entsteht dadurch eine eigentümliche Schwierigkeit bei der Auslegung biblischer Texte in Predigt und Unterricht. Während man früher von den inspirierten Psalmisten, Aposteln usw. ausgehen und das von ihnen Gemeinte der christlichen Gemeinde nahebringen konnte, erscheint jetzt die Ins p irat i o n nicht als ein einmaliges Geschehen an einigen wenigen, son-
124
§ 9 Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
dern als ein jahrhundertelanges Ausbilden und Umprägen sprachlicher Überlieferungen in den Formen hergebrachter Gattungen und festumrissener Sitze im Leben. Profeten und Evangelisten spielen dabei zwar eine gewichtige Rolle, sind aber doch nur jeweils ein Glied unter vielen. Falls der Prediger oder Katechet einen Text mit längerer Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte in die Situation der Gegenwart zu übertragen hat, steht er vor der Entscheidung, welche Stufe der Überlieferung als verbindlich und damit als kanonisch zu gelten hat. Denn es ist der Kirche aufgegeben, die Bibel als Kanon, als Richtschnur für Leben und Lehre, zu benutzen. Was ist bei einem Gleichnis Jesu z. B. kanonisch: was Jesus selbst gemeint hat oder die Auffassung der Urgemeinde oder die Deutung des Matthäus? Natürlich legt sich zunächst die Antwort nahe: was der Herr selbst sagen wollte, also die Ur g e s t alt. Abgesehen davon, daß das Gleichnis dann eigentlich aus dem Griechischen ins Aramäische rückübersetzt werden müßte, um den ursprünglichen Sinn eindeutig zu erheben wie wenig Theologen sind dazu in der Lage! - , schließt ein solches Vorgehen nicht in sich, daß die Wirkungen des Heiligen Geistes in der nachösterlichen Gemeinde übergangen werden? Ist der Wandel der Auffassung nicht weithin von den Erfahrungen der Gemeinde unter der Leitung des nachösterlichen Kyrios bestimmt worden? So erscheint es eher angemessen, die Endgest a 1t der Überlieferungen als ausschlaggebend anzusehen. Jedoch, auch das bereitet öfter Schwierigkeiten. Im Pentateuch- um ein alttestamentliches Beispiel herauszugreifen - ist die Endredaktion nur sehr sporadisch zu greifen und über ihre Auffassung des Stoffes wenig Sicheres auszumachen, während wir das Anliegen früherer Stufen, wie etwa der jahwistischen oder priesterschriftlichen, verhältnismäßig klar erkennen. Ist es nicht sinnvoller, sich an diese zu halten? M. E. läßt sich in dieser Hinsicht überhaupt keine bindende Regel aufstellen. Welche Stufe der Überlieferung die Leitgedanken für Predigt und sonstige Verkündigung abgibt, steht in der Freiheit des Einzelnen; die Wahl richtet sich nicht nur nach dem Maß exegetischer Klarheit, sondern auch nach dem, was der Gemeinde frommt. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis darüber, daß nicht bloß der vorliegende bib 1i s c h e Text, sondern auch seine überlieferungsgeschichtlichen Vorstufen vom Geist Gottes durchwaltet, mithin k an o n i s c h sind. Besonders ideal ist freilich, wenn es in Predigt oder Bibelstunde gelingt, in die Überlieferungsgeschichte und damit in die Bewegtheit eines Textes einzuführen1• Dazu ist selbstverständlich ein gewisses 1
Es gibt dafür gute Meditationen. Vorbildlich ist meiner Meinung nach z. B. H. W. WoLFF über Ps. 110 in: Herr, tue meine Lippen auf, hrsg. v. G. EICHHOLZ Bd. V 19611, 310-323. Vgl. meinen Versuch: Das Verhältnis von Exegese und Verkündigung anhand eines Chroniktextes, ThLZ 90, 19b5, 659-670.
Biblische Literaturgeschichte
125
geistiges und geistliches Niveau der Zuhörer erforderlich. Dann aber kann die Auslegung sehr lebendig und gewinnbringend werden. Damit nicht genug. Ist es richtig, daß die biblischen Aussagen nicht nur von ihrer überlieferungsgeschichte, sondern auch vom jeweiligen Sitz im Leben abhängig und allein von daher wirklich verstehbar sind, wird der Prediger auch darauf einzugehen haben. Er wird seiner Gemeinde erklären, inwiefern für sie z. B. die Kultbegehungen des Ziontempels oder die Agape-Feiern des hellenistischen Urchristentums belangvoll sind, inwiefern also unsre Gegenwart durch die Herkunfi aus solchen alt- und neutestamentlichen Institutionen geprägt ist.- Aber besteht überhaupt eine solche Verbindung modernen Kirchenturns mit der "äußeren" Geschichte Israels und des Urchristentums? Muß sie, ja darf sie über den Wortlaut der Texte hinaus in der Verkündigung zur Sprache kommen? Das sind heiß umstrittene und in der gegenwärtigen Theologie noch wenig geklärte Fragen. Sie tauchen aber notwendig dort auf, wo nach der Relevanz der formgeschichtlichen Methoden für die kirchliche Praxis gesucht wird.
B. Das Programm einer biblischen Literaturgeschichte GuNKEL s. zu § 1 - BuLTMANN-GuNKEL: Literaturgeschichte, Biblische in: RGG IIJ2 1675-16822 • HoRST-MARXSEN: Literaturgeschichte, Evang. Kirchenlexikon li, 1958, 1124-1128.
Fällt die Einheit der Heiligen Schrift nicht dort hin, wo man den Kanon überlieferungsgeschichtlich auffächert? GuNKEL versuchte einst, dieser Gefahr zu begegnen, indem er für das Alte und sinngemäß auch für das Neue Testament eine synthetische Literaturgeschichte forderte, eine Literaturgeschichte, die nicht auf einzelnen schöpferischen Persönlichkeiten, sondern auf der Geschichte der Gattungen und Einzelstoffe (Überlieferungen) aufzubauen sei. Gewiß sollen die Schriftsteller ihren gebührenden Platz erhalten, aber innerhalb des Raumes der durch die Sprache überkommenen Gattungen und Überlieferungen. Literatur g es c h ich t e wird also nicht im landläufigen Sinn als Literaturkritik verstanden noch als kongeniales Einfühlen in überragende literarische Werke, sondern als fortlaufende Ge s c h ich t serzählung, die die Literatur im weitesten Sinn, einschließlich des mündlichen überlieferungsguts, als Lebensäußerung einer menschlichen Gemeinschaft erfaßt. Im Blick auf das Alte Testament heißt das, "zu dem großen und in sich zusammenhängenden Bilde der 2
Es ist bezeichnend für die gegenwärtige Lage der Bibelwissenschaft, daß der Artikel in der neuen, dritten Auflage der RGG weggelassen wurde. - Nützliche Bemerkungen finden sich in dem Sammelbericht von W. BAUMGARTNER: Alttestamentliche Einleitung und Literaturgeschichte, ThR NF 8, 1936, 179 ff. besonders S. 219-222.
126
§ 9 Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
Geschichte der ganzen L(iteratur) Israels hindurchzudringen" 3 • Damit wird nicht nur ein literaturwissenschaftliches Bedürfnis befriedigt. Vielmehr: "Nach solchen Gattungen verläuft das geistige Leben Israels, so daß in unserer ,Biblischen Theologie' oder ,Religionsgeschichte Israels' bei der Disposition des Stoffes die Gattungsforschung ein Wort mitzusprechen hat". 3 Die Geschichte der israelitischen Literatur und die Geschichte dessen, was man heute gern alttestamentliches Kerygma oder alttestamentliche Verkündigung nennt, gehören also aufs engste zusammen, "kann es doch ein Eindringen in die Welt der religiösen Gedanken ohne das Verständnis der Stoffe und Formen nicht geben. Demnach haben Religions- und Literaturgeschichte beide keinen andern Zweck als den, den eigentlichen religiösen Inhalt der heiligen Schrift verstehen zu lehren"'. Gerade damit wird der praktischen Arbeit der Kirche gedient. Da nun freilich Literatur und Religion mit allen übrigen Lebensbereichen Israels untrennbar zusammengehören, "ist das letzte Wort der a(lt)t( estament)lichen B(ibel-) W(issenschaft) eine Geschichte des Volkes Israel auf allen seinen Lebensäußerungen " 5• Es war GuNKEL nicht vergönnt, sein Programm zu verwirklichen und den Zusammenhang zwischen "Literatur" und "Religion" näher zu entfalten. So bleibt bei ihm offen, wohin die Geschichte beider in Israel treibt; soll Literaturgeschichte zur fortlaufenden Geschichtserzählung werden, muß das Ganze doch ein bestimmtes Gefälle haben. Zwar formuliert er einmal als Zielpunkt: "Die (hebräische) Sprache stirbt als Volkssprache aus. Aber schon hat die Geschichte der Sammlung der Sammlungen begonnen: der Kanon entsteht6 ." Die Literaturgeschichte endet demnadt in der Bi 1dun g des alttestamentlichen Kanons, die GuNKEL mit dem Aufhören des Hebräischen als Alltagssprache und deshalb mit dem Verlöschen von dessen sprachlichen Gattungen verknüpft. Aber seine Äußerungen sind nicht eindeutig. Einerseits kann er gerade die Spätzeit als Zeit der Epigonen abtun7 , andr~rseits unterstreicht er den theologischen Rang des nachbiblischen Schrifttums der Apokryfen und Pseudepigrafen8. Insbesondere bleibt trotz der Überschrift "Biblische Literaturgeschichte" und trotz der Behauptung, daß sich die israelitische Literaturgeschichte ohne Bruch im Urchristentum und im Talmud fortsetze, der Zusammenhang von Altem und Neuern Testament ungeklärt. Diese Unklarheiten haben zweifellos mitgeholfen, daß RGG III 2 1677. Ähnlich schon E. MEIER: Geschichte der poetischen NationalLiteratur der Hebräer 1856 mit der Forderung, "daß an die Stelle des unklaren, unbestimmten Begriffs einer Einleitung vielmehr der einer Literaturgeschichte des alten Testamentes treten müßte und daß hiermit erst die wirkliche Aufgabe, die notwendige Begränzung sowie die einzig richtige genetische Methode für unsere Wißenschaft gegeben sei" (S. III). 4 RuA VII. s RGG J2 1073. 6 RuA 36. 7 Kurz vor dem eben angeführten Zitat heißt es: "Zum Schluß dann die Tragödie der israelitischen Literatur: der Geist nimmt ab; die Gattungen sind verbraucht; Nachahmungen häufen sich; an Stelle der selbständigen Schöpfungen treten die Bearbeitungen." B RGG J2 1090 verweist er auf die "Apokryphen und Pseudepigraphen, die früher von der b(iblischen) Th(eologie) ausgeschlossen wurden, nunmehr aber in die Darstellung miteinbezogen werden müssen, da in dem wirklichen Verlauf. der Geschichte der Religion kein so scharfer Abschnitt, der den Ausschluß dieser späteren Schriften rechtfertigen würde, gegeben ist." 3
Biblische Literaturgeschichte
127
das Unternehmen einer Literaturgeschichte mit GuNKELs Tod sang- und klanglos unterging und gegenwärtig völlig vergessen ist. Auch abgesehen von den Fragen um den Ausgang, hat das Programm grundsätzlichen Widerspruch erfahren. ErssFELDT9 hat zweierlei Bedenken angemeldet. Erstens meint er, die in den Bahnen der Formgeschichte laufende Literaturgesd;ichte fuße allein auf den kleinen Einheiten, versage aber gegenüber den großen Kompositionen und den vorliegenden Büchern. Zweitens: Der Gegenstand, mit dem es die alttestamentliche Forschung zu tun hat, "ist eben nicht einfach die Literatur eines Volkes oder der Rest einer solchen. Vielmehr ist das AT eine in einer bestimmten volks- und religionsgeschichtlichen Entwicklung gewordene Größe, die als solche und nicht bloß als Überbleibsel eines reicheren Schrifttums verstanden und gewürdigt sein will." Das erste Bedenken ist gegenüber der Praxis formgeschichtlicher Forschung in der Generation GuNKELs zweifellos berechtigt; nicht aber gegenüber den formgeschichtlichen Grundsätzen und der Praxis der Gegenwart, insofern diese redaktionsgeschichtliche Betrachtung notwendig einschließt. Was das zweite betriff!:, so ist GuNKELs Ansicht gerade nicht, den (alttestamentlichen) Kanon als bloßes Überbleibsel einer reicheren Vorgeschichte, sondern als Zielpunkt einer vielverzweigten Bewegung zu verstehen. Das gesamte Unternehmen einer Literaturgeschichte Israels und des Urchristentums soll aufweisen, wie es zur Bibel kam und wie diese zur "Lehrmeisterin der Menschheit" wurde10 • GuNKEL hat durchaus gesehen, daß das Alte Testament nicht einfach ein Kompendium israelitischer Nationalliteratur ist. Daß er dennoch aus dieser religiösen Sam ml un g im Rückblick auf eine Literatur ges c hi eh te schließen kann, begründet er aus zwei Be sonderh e i t e n Israels : einmal war hier zu allen Zeiten die Religion so eng mit Volkstum und Staat verbunden, daß eine Unmasse volkstümlid1er Literatur in die zur Erbauung des Judentums zusammengestellten Schriften aufgenommen werden konnte und mußte; zum andern war offenbar in allen Jahrhunderten die religiöse Literatur gegenüber der "profanen" dominierend 11 • Von da aus erscheint es ihm möglich, eine Literaturgeschichte - wenn auch bruchstückhaft - aus dem Kanon zu erheben, wie andrerseits die Literaturgeschichte ihrerseits auf diesen zuläuft. - ErssFELDTs Bedenken wiegen also nicht so schwer, daß damit das GuNKELsehe Programm widerlegt·wäre.
Eine neu t es t a m e n tl ich e Literaturgeschichte ist problematischer als_ eine alttestamentliche. Das ist schon an dem Abriß abzulesen, den M. DIBELIUS 1926 als Geschichte der urchristlichen Literatur veröffentlicht hat12 • Zwar umreißt er einleitend - gut formgeschichtlich - die Aufgabe: "Der Literarhistoriker des Urchristentums, der die Entstehung dieser Schriften verständlich machen will, hat also zu zeigen, wie es zu dieser schriftlichen Betätigung der ersten Christen kam . . . Indem er so die Formwerdung des Christentums nach der literarischen Seite darstellt, schreibt er Literaturgeschichte des Urchristentums." Dennoch hat BuLTMANN mit Recht bemerkt, daß auch diese Darstellung "überwiegend noch den Charakter der alten 9
10
11
12
Einleitung ss f. "Denn was können wir anders tun, als den Spruch der Geschichte, welcher die Bibel zur Lehrmeisterin der Menschheit erhoben und die andern orientalischen Religionen des Altertums in die Rumpelkammer verwiesen hat, in seiner inneren Notwendigkeit zu begreifen!" Ru A VII. KdG 53. Sammlung Göschen 934/5.
128
§ 9 Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
,Einleitungen"' zeigt, d. h. eine analytische Behandlung der Einzelschriften ohne stärkere Berücksichtigung des Sitzes im Leben und der übergreifenden Bewegungen innerhalb der aramäischen und griechischen Sprache des Urchristentums13 • Die Schwierigkeiten häufen sich auf diesem Gebiet deshalb, weil die christlichen Gemeinden sich sehr bald aus Gliedern verschiedener Völker und Kulturen zusammensetzen. Die aramäisch sprechenden Judenchristen in Palästina gehören in den Zusammenhang der israelitisch-jüdischen Literaturgeschichte, woher denn auch Gattungen der Schriftauslegung, Geschichtsbetrachtung, Liturgie und Apokalyptik übernommen werden (s. die Seligpreisungen). Die griechisch sprechenden Christen lehnen sich dagegen an die Sprachformen der hellenisierten israelitischen Diaspora an, die ihrerseits mit der allgemeinen hellenistischen Kleinliteratur eng zusammengehört; von daher stammen Gattungen wie die neutestamentlichen Briefe und ihre paränetischen Abschnitte samt Tugend- und Lasterkatalogen, aber auch die monotheistisch ausgerichtete Missionspredigt. Das eigentümliche, neue Sprachgut der Christenbei t zeigt oft Einflüsse beider Bereiche, so in den Gattungen der kerygmatischen Formeln, der Gemeindepredigt, des Christuslieds und nicht zuletzt der Evangelienbücher. Wer eine neutestamentliche Literaturgeschichte auf formgeschichtlicher Basis in Angriff nimmt, muß also die israelitische Literaturgeschichte kennen samt ihren Ausläufern in der Spätzeit, als das Hebräische zur heiligen Sprache geworden war, wie auch die Formenwelt der aramäischen Sprache zur Zeit Jesu, aber auch das umfangreiche Material der hellenistischen Kleinliteratur einschließlich des Griechisch sprechenden Israelitentums. Nicht genug! Nötig ist außerdem die Kenntnis des nachbiblischen christlichen Schrifttums, wo manche neutestamentliche Gattung wieder auftaucht und weiterentwickelt ist. Ein solches Unternehmen dürfte die Arbeitskraft eines Einzelnen übersteigen. Es verwundert nicht, daß es um die neutestamentliche Literaturgeschichte seit GUNKELS Tod ebenso still geworden ist wie um die alttestamentliche. Ist damit die Sache erledigt? Da es in diesem Buch um Methoden und Tragweite der Formgeschichte geht, läßt es sich nicht umgehen, das schwierige Thema wieder aufzugreifen. Drängen die zahlreichen formgeschichtlichen Einzelergebnisse nach einem übergreifenden Rahmen? Daß es dazu bislang noch nicht gekommen ist, ist keine Widerlegung der Aufgabe. Im Grunde geht es nicht nur um die Frage nach dem Sinn so ausgedehnter Untersuchungen, wie sie zu jedem Einzelabschnitt formgeschichtlich angestellt werden, sondern um die schlichte Frage nach dem Ziel der Auslegung der Heiligen Schrift überhaupt. Hat der Exeget mit der Interpretation des Einzeltextes sein Werk ge13
RGG III2, 1682. Der Mangel entspringt dem unzulänglichen Stand der Forschung. (Er zeigt sich auch in meiner populärwissenschaftlichen Darstellung: Das Buch der Bücher, Verständliche Wissenschaft 83, 1963!)
Biblische Literaturgeschichte
129
tan? Genügt es, wie man heute gern sagt, das Kerygma von biblischen Perikopen zu erheben? Oder liegt es dem Exegeten ob, darüber hinaus nach einem Zusammenhang der einzelnen Abschnitte und Bücher, nach dem Zusammenhang des Alten und Neuen Testaments und der Bibel insgesamt zu suchen ? Ein solcher Zusammenhang kann gewiß nicht mehr in der früheren Weise nach dem Schema von "Lehrbegriffen" hergestellt werden, die zu einem locus der christlichen Dogmatik Aussagen der verschiedensten biblischen Schriften mehr oder weniger gewaltsam zusammenstellen. Dergleichen kann vielmehr nur auf dem Weg einer Geschichtsdarstellung gesucht werden, indem ein roter Faden von den frühesten bis zu den spätesten Schichten aufgewiesen wird". Ist dann aber nicht eine Literaturgeschichte, wie GuNKEL sie geplant hatte, dringend erforderlich, wenn anders formgeschichtliche Überlegungen überhaupt sinnvoll sind? Es ist deshalb nichts weniger als erstaunlich, wenn in der Gegenwart ähnliche Bestrebungen in der alttestamentlichen Wissenschaft - ohne ausdrücklichen Zusammenhang mit dem GuNKELsehen Programm - sich bemerkbar machen. R. RENDTORFF15 auf evangelischer und N. LOHFINK16 auf katholischer Seite fordern, dem Zusammenhang der alttestamentlichen Literaturgeschichte - oder überlieferungsgeschichte, der Begriff in einem weiteren Sinn als oben -nachzugehen bis hin zu der Stufe, wo sie in die neutestamentliche einmündet. Der Graben zwischen historischer und christlicher Auslegung der Bibel läßt sich dadurch endlich überbrücken. Wie GUNKEL darauf drang, die Verkoppelung solcher Literatur mit allen andern Lebensäußerungen des Volkes Israellaufend herauszustellen, erkennt RENDTORFF die Notwendigkeit, den Graben zwischen der so verstandenen Oberlieferungsgeschichte und der politischen Geschichte Israels zu überbrücken, wie denn schon M. N OTH gelegentlich im Blick auf den Pentateuch geäußert hat: "Die Überlieferungsgeschichte ... ist selbst ein Stück Geschichte Israels17." Reicht es zu, die Geschichte der mannigfaltigen Gattungen und der zahlreichen biblischen Oberlieferungen unter sich und mit den übrigen Lebensbereichen Israels und des Urchristentums zu verbinden? Es bleibt dabei ein Gebiet unberücksichtigt, das in 14
15
11
17
In gewisser Weise hat G. v. RAD in seiner Theologie des AT. diesen Weg beschritten, wenngleich notgedrungen ohne den Boden einer Literaturgeschichte. S. auch G. v. RAD: Offene Fragen im Umkreis einer Theologie des AT, ThLZ 88, 1963, 401-416 und meinen Aufsatz: Neuorientierung der alttestamentlichen Theologie, Pastoralblätter 101, 1961, 548-599. Hermeneutik des AT als Frage nach der Geschichte, ZThK 57, 1960, 27-40; Geschichte und Überlieferung, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Oberlieferungen 1961, 81-94. Die historische und die christliche Auslegung des A.T., Stimmen der Zeit 178, 1966,98-112. OGP 272. LoHFINK S. 111 stellt die grundlegende theologische Frage: ,.Kommt es zum Glauben an Christus aus geschichtsunabhängigen Gründen, oder erwächst dieser Glaube ... im Umgang mit der Geschichte selbst? Es gilt wohl eher das Zweite.•
130
§ 9 Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
den letzten Jahrzehnten in der Bibelwissenschaft gewichtig geworden ist: die Untersuchung von einzelnen Wörtern und Wortstämmen auf ihren genauen Sinn, die sogenannte Begriffs g es c h ich t e, wie sie sich in KITTELs großangelegtem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament niedemhlägt. Wäre es nicht ratsam, sie mit der Formgeschichte sinnvoll zu verbinden? Zu fragen, in welchen Gattungen und an welchem Sitz im Leben das betreffende Wort gebraucht wird und seinen besonderen Inhalt erhält? Dadurch würde die Begriffsgeschichte von der Zwangsjadte etymologisch-semasiologischer Konstruktionen frei, die ihr weithin anhaften18• Die formgeschichtlich begründete Literaturgeschichte könnte aber dann zu einer wirklichen S p r a c h g es c h i c h t e werden. Sprachgeschichte nicht in dem äußerlichen grammatisch-lexikografischen Sinn, den sie heutzutage in der Sprachwissenschaft hat, sondern so, daß sie eine Geschichte des Denken s und Sprechen s beinhaltet. Das Denken und Sprechen erhebt sich aber aus vielfältigen Lebensvollzügen und wirkt auf sie wieder verwandelnd zurüdt.
In diesem Zusammenhang wäre es dann sowohl möglich wie nötig, für jede Epoche der israelitischen und urchristlichen Zeit nicht nur die Summe der Gattungen und Sitze im Leben zusammenzutragen, sondern darüber hinaus nach dem zu fragen, was die Literaturwissenschaft den Epochenstil 19 und von RAD die Geistigkeit eines Zeitalters nennt, nämliu1 jenen sprachlichen Hintergrund, aus dem heraus die Gattungen sich geradeso und nicht anders gestalten, die verschiedenen Lebensbereiche mit diesem oder jenem Akzent versehen werden. v. RAD hat für eine ganze Reihe von Gattungen, wie die heilsgeschichtlichen Werke in der Art des Jahwisten, die frühe Geschichtsschreibung (Thronnachfolgegeschichte im 2. Samuelbuch) und die ältesten weisheitliehen Sentenzen die Geistigkeit einer "salomonischen Aufklärung" als Quellort nachgewiesen 20 • Analog wäre nach der Geistigkeit der späten Königszeit, der nachexilischen Periode, der Zeit Jesu zu suchen und zugleich die Wandlungen begreiflich zu machen, die von der einen zur andern führten.
C. Auslegungs- und Sprachgeschichte 21 Die gewaltige Wirkungskraft der biblischen Bücher zeigt sich schon darin, daß sie ständig zu interpretierenden Zusätzen und Erweiterungen zwangen. Das Markusevangelium erhält nachträglich einen zusätzlichen Abschluß (16, 9 ff), der sog. westliche Text des Lukasevangeliums bringt neue Deutungen, Paulusbriefe werden überarbeitet, von den Glossen und Redaktionen alttestamentlicher Bücher ganz zu schweigen. In dieser bewegten literarischen Geschichte tritt die Lebendigkeit biblischen Glaubens zutage, der nie die göttliche Wahrheit als festen Besitz betrachtet, sondern stets neu die Aussagen der Schrift mit der Wirklichkeit des Lebens verbindet, um Gottes WahrHarte Kritik bei J. BARR: Bibelexegese und moderne Semantik 1965. Vgl. auch das Nachwort. 18 s.o. S. 20. P. BöcKMAHN bezeichnet gerade dies als Formgeschichte. so Theologie I 156-65, 462-70. 11 Wichtige Anregungen zu diesem Abschnitt verdanke ich Herrn Koll. Manin Elze. 18
Auslegungs- und Sprachgeschichte
131
heit zur Sprache kommen zu lassen. Die Kanonisierung markiert jedoch eine einschneidende Grenze. Bekanntlich ist die Kanonisierung stufenweise erfolgt. Zuerst wurden die Mosebücher (Pentateuch) als Gesetz im nachexilischen Israel kanonisch, zuletzt neutestamentliche Schriften wie die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes. Solange ein Teil der Bibel noch nicht zu kanonischem Rang erhoben war, wurden die aktualisierenden Deutungen innerhalb des Textes selbst vorgenommen, ohne daß hervorgehoben wurde, was Grundtext, was lnterpretament war. Der Sitz im Leben solcher vorkanonischen Zusätze sind die Jünger oder Anhänger des Erstschriftstellers, in der Regel kein offizieller religiöser Verband. Sobald ein Text kanonisch wird, wird der Text fest und unabänderlich. Doch Aktualisierung und Interpretation bleiben notwendig wie eh und je. Ein offizieller Stand von Lehrern und Schriftgelehrten wird von der Kirche oder Synagoge eingesetzt, um Auslegung zu treiben. Ihre Arbeit schlägt sich nicht mehr in Zusätzen innerhalb des Textes nieder, sondern - sofern es zur Verschriftung kommt - in selbständigen Kommentaren. Die Kanonisierung führt also zu einem tiefen Einschnitt in der überlieferungsgeschichte eines biblischen Buches. Der Text wird endgültig fe~t. Als geschlossener Gesamtkanon hat dann die Bibel ihre unvergleichliche Wirkung auf Glauben und Lebenzweier Jahrtausende ausgeübt. Dennoch ist die Geschichte biblischer Überlieferungen mit ihrer Kanonisierung nicht völlig zu Ende. Die Praxis der Schriftauslegung führt die Überlieferungsgeschichte unter veränderten Bedingungen weiter. Sie hat ihre eigenen Gattungen hervorgerufen: Kommentare, Florilegien, Wörterbücher. Der nie abgerissene Zusammenhang dieser Wirkungsgeschichte biblischer Sprache macht es möglich, daß die Bibel noch heute uns anspricht, dogmatische und ethische Überlegungen hervorruft und den Glauben bei unzähligen Menschen erhält. Der Theologe sollte der notwendigen Vermittlung durch die Auslegungsgeschichte eingedenk sein. Die Geschichte der biblischen Sprache ist noch nicht zu Ende. Aber die zum Kanon gewordene Bibel wirkt nicht nur, indem sie zur Auslegung zwingt. Bei formgeschichtlicher Betrachtung ist die Stellung dieser einzigartigen Büchersammlung innerhalb der menschlichen Literatur- und Sprachgeschichte überhaupt zu bedenken. Die Bibel ist nicht nur verbreiteter und auflagenstärker als jedes andere Buch. Sie ist nicht nur in soviel Sprachen übersetzt wie kein anderes Schriftstück, sondern sie hatte auch eine einzigartige Wirkung auf Kultur, Recht, Wirtschaft und Politik, kurz: auf die Sprache ganzer Volks- und Völkergemeinschaften. Einerseits erhalten die Worte der Heiligen Schrift einen anderen Klang, wenn sie in eine neue Sprache übersetzt werden (die Weltansicht von Luthers deutscher Bibel ist eine andere als die des hebräischen Urtextes, s. Ps. 46 als Beispiel). Andererseits wird eine Sprache verwandelt, wenn die Bibel in ihr vorliegt. Eine
132
§ 9 Kanon, Biblische Literatur- und Sprachgeschichte
Vertiefung und Erweiterung des Sprachschatzes ist die Folge, bisweilen auch das Absterben heidnischer Bräuche und sprachlicher Überlieferungen (so sind im germanischen Raum die Überlieferungen aus der Zeit vor der Christianisierung fast völlig verschwunden). Oft wird durch die Bibelübersetzung ein Dialekt zur Schriftsprache erhoben, Schulen werden gegründet, eine National-Literatur (und ein Nationalbewußtsein) entstehen. Wer eine Literaturgeschichte der Bibel anstrebt, wird nicht umhin können, ihren Rang innerhalb der Sprachgeschichte überhaupt zu untersuchen. Wer sich solchen Aufgaben unterzieht, wird schließlich den Gewinn haben, daß er seinen eigenen Standort wie den seiner Kirche und seiner Gesellschaft form- und sprachgeschichtlich verstehen lern t21a. Solche Überlegungen sind vorerst Arbeitshypothesen. Die Zukunft wird erweisen, ob sich auf diese Weise formgeschichtliche Forschung weiterführen läßt. Da jedoch in unsrer Zeit das Nachdenken über das, was es um die Sprache ist, sowohl in der Philosophie wie in der Theologie neu erwacht, erscheint es angebracht, die Frage nach der Verbindung formgeschichtlicher Ergebnisse und der "Sprachlichkeit des Daseins" zu stellen. Das um so mehr, als die Vertreter der modernen Sprachtheologie erstaunlicherweise selbst dann nicht nach solcher Verbindung suchen, wenn sie aus der formgeschichtlichen Schule BuLTMANNS herkommen. Ein Wort zum Beschluß. Altes und Neues Testament beanspruchen, Offenbarung des einen Gottes zu sein, dessen Wort und Tat für wahres menschliches Leben grundlegend sind. Die christliche Theologie hat seit zwei Jahrtausenden diesen Anspruch stets neu interpretiert, geprüft und für richtig befunden. Formgeschichte gibt die Mittel an die Hand, Interpretation und Prüfung noch sachgemäßer durchzuführen als bisher. Ist nun die These richtig, daß Formgeschichte in einer alle Lebensäußerungen umfassenden Sprachgeschichte (Literaturgeschichte, überlieferungsgeschichte) gipfelt, dann wird die Berechtigung jenes Anspruchs nicht vom Einzeltext her zu entscheiden sein, sondern allein von jener Gesamtgeschichte her, von der die altund neutestamentlichen Schriften je in ihrer Weise Kunde geben und die andrerseits diese Schriften umfaßt und trägt, in der Kirchengeschichte zudem sich fortsetzt. In diesem Rahmen wird erkennbar, warum die Urgemeinde in Jesus den Christus sah (und heute noch Menschen dieses Bekenntnis nachsprechen) 22 .
Vgl. das Programm einer Literaturgeschichte als Rezeptionsgeschi~hte bei H. R. ]Auss: Literaturgeschichte als Provokation, ed. Suhrkamp 418, 1970. n Das heiß umkämpfte kontroversthelogische Thema Schrift und Tradition ist von daher neu zu überdenken.
21 •
TEIL li
AUSGEWAHLTE BEISPIELE
Erstes Kapitel: Aus den erzählenden Büchern § 10 DIE GEFKHRDUNG DER AHNFRAU Was der hebräische Kanon unter den Sammelbezeichnungen Tora und Vordere Profeten enthält, also die Bücher Genesis bis 2. Könige, ist das älteste überlieferungsgut Israels überhaupt und überwiegend erzählenden Inhalts. Die Erzählungen aus diesen Eingangsteilen des Alten Testaments sind von ungeheurer Nachwirkung gewesen im jüdischen, christlichen und mohammedanischen Raum, ja weit darüber hinaus. Das erklärt sich aus ihrer erstaunlichen Schlichtheit, die noch heute nicht nur Gelehrte, sondern auch einfache Menschen unmittelbar anzuspredJ.en vermag und die dodJ. keiner primitiven, plumpen Einfalt entspringt, sondern voll unauslotbarer Tiefe im Blick auf die Problematik des menschlidJ.en Daseins ist1• Dieses Erzählungsgut ist jetzt als ein fortlaufender BeridJ.t über die Zeit von der SdJ.öpfung bis zum babylonisdJ.en Exil geordnet. Aber bei näherer BetradJ.tung wird sidJ. sehr sdJ.nell zeigen, daß die meisten AbsdJ.nitte aus selbständigen, kurzen Einzelerzählungen hervorgegangen sind, die zumeist in den SdJ.riftwerken nur lose verbunden aneinandergereiht sind. Die einstige Selbständigkeit zeigt sidJ. heute noch darin, daß in den gottesdienstlidJ.en Perikopen wie in der Jugendunterweisung der dJ.ristlidJ.en KirdJ.en, aber audJ. in der abendländischen Kunst, eine einzelne Erzählung über Abraham oder Mose oder Josua herausgegriffen und unabhängig von ihrem Zusammenhang dargeboten werden kann. Das ist keineswegs selbstverständlidJ.. Wo ein einheitlidJ.er sdJ.riftstellerisdJ.er Entwurf zugrunde liegt, wie etwa in der ApostelgesdJ.ichte des Lukas (oder audJ., um über die Bibel hinauszublicken, in den griechisdJ.en Tragödien), ist die Einzeldarstellung eines AbsdJ.nitts sehr viel sdJ.werer möglidJ.. Die formgeschidJ.tliche Forschung bemüht sich nun nicht nur um eine zuverlässige Abgrenzung der alten Erzählungseinheiten, sondern sudJ.t auch in deren besondere Art, ihren Sitz im Leben und ihre Wandlungen im Lauf der Zeit einzudringen, um von daher ein vertieftes Verständnis zu ermöglichen. Dabei empfiehlt es sidJ., um sidJ.eren Boden zu gewinnen, dort einzusetzen, wo der gleiche Inhalt zweioder gar dreimal auftaucht, also bei den Doppelüberlieferungen2. Dafür gibt es einige Beispiele, wenngleidJ. das Material lange 1 1
Vgl. die aufschlußreiche stilkritische Behandlung von Gen. 22 als Musterbeispiel hebräischer Erzählungen bei E. AuERBACH: Mimesis !1959, 9-27. GuNKEL: Genesis LXV.
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
136
nicht so umfangreich ist wie bei den neutestamentlichen ] esuserzähl ungen. Für die formgeschichtliche Untersuchung stellt die Erzählung von der Gefährdung der Ahnfrau einen besonderen Glücksfall dar, ist sie doch dreimal in der Genesis berichtet (12, 10-13, 1; 20; 26, 1 :ff.) und außerdem in der spätisraelitischen Literatur ausgesponnen. Das Folgende im Anschluß an GuNKEL: Genesis bes. S. 225 ff. Weniger überzeugend: C. A. KELLER: .,Die Gefährdung der Ahnfrau", ZAW 66, 1954, 181-191. Für die Redaktionsgeschichte aufschlußreich v. RAD, ATD z.-St.- R. KILIAN: Die vorpriesterlichen Abrahamsüberlieferungen, BBB 24, 1966, 190-221 - Zur späteren Ausgestaltung: E. ÜSSWALD, ZAW 72, 1960, 7-25 und Z. WACHOLDER, HucA 35, 1964, 43-56.
A. Abgrenzung der Einheit
A
B
c
12,9(Da brachAbram 20,1 (Da brach Abraauf ... in den Negeb.) ham von dort auf in die Landschaft Negeb.) 26,1 Es entstand (~n~l) 10 Es entstand (~n~U eine Hungersnot im eine Hungersnot zm Land Land, abgesehen von der früheren, die zu Abrahams Zeiten eingetroffen war. So zog Abram nach Zwischen Kades und So wanderte Isaak Kgypten, Sur ließ er sich me- zu Abimelech, dem Philisterkönig, nach der. Gerar. 2 Da erschien ihm Jahwä und sprach: "Zieh nicht nach Kgypten, wohne in dem Land (das ich dir nenne). um dort als Schutz- Als Schutzbürger 3 Bleibe als Schutzbürger zu blei- blieb er in Gerar. bürger in diesem b e n ; denn die HunLand, so werde ich gersnot lastete schwer mit dir sein und dich auf dem Land. segnen; denn dir und deinen Nachkommen werde ich alle ,diese' Länder geben und so den Schwur erfüllen,
Ubersetzung
12
11 Es geschah nun ), als sie nahe an Ägypten kamen, daß er zu Saraj, seiner Frau, sagte: "Ich weiß wohl, daß du ein sehr schönes Weib von Ansehen bist. 12 Wenn dich die Ägypter sehen, werden sie denken: Das ist sein Weib, und sie werden mich umbringen, dich aber am Leben lassen. 13 Sage doch, du seist meine Schwester, auf daß es mirumdeinetwillen wohl gehe und ich durch dich am Leben bleibe." c~n~l
20
137 26
den ich deinem Vater Abraham geschworen. 4 Zahlreich machen werde ich dein Geschlecht wie die Sterne des Himmels und deinem Geschlecht alle ,diese' Länder geben. Segnen werden sich mit (dem Namen) deines Geschlechts alle Völker der Erde. 5 (Das alles), weil Abraham auf meine Stimme gehört und bewahrt hat meinen Dienst, meine Gebote, Satzungen und Gesetze." 6 Darauf ließ Isaak sich in Gerar nieder. 2 Von Sara, semer 7 Als nun die Leute Frau, sagte Abra- des Orts nach seiner ham: Sie ist metne Frau fragten, sagte Schwester. er: "Sie ist meine Schwester." Er fürchtete sich nämlich, zu sagen: "Sie ist meine Frau", weil (er dachte): die Leute des Orts bringen mich (sonst) um Rebekkas wegen, da sie sehr schön ist.
138
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
B A 14 Es geschah nun (~i!,,), als Abram nach .Agypten hineinkam, sahen die .Agypter, daß seine Frau sehr schön war. 15 Auch die Beamten des Pharao sahen sie und rühmten sie vor ihrem Herrn, so daß die Frau in den Da sandte Abimelech, königlichen Palast ge- der König von Gerar, hin, um Sara zu hoholt wurde. len. 16 Dem Abram aber tat er Gutes um ihretwillen, er bekam Schafe, Rinder und Esel, Sklaven(?) und Sklavinnen(?}, Eselinnen und Kamele. 17 Doch Jahwä schlug 3 Doch Gott kam zu den •Pharao und sein Abimelech nachts im Haus mit schweren Traum und sprach zu Plagen wegen Saraj, ihm: "Fürwahr, du der Frau Abrams. bist des Todes wegen der Frau, die du genommen hast; denn sie ist bereits verheiratet." 4 Abimelech hatte sie aber noch nicht berührt. Er erwiderte: "Herr, willst du ein wirklich unschuldiges Volk umbringen? 5 Hat er nicht selbst zu mir gesagt: Sie ist meine Schwester? und auch sie: Er ist mein Bruder? Mit untadeligem Sinn und reinen Händen habe ich das getan."
c Es geschah nun (~i!~,), nachdem er längere Zeit dort gewohnt hatte, schaute einmal Abimelech, der Philisterkönig, zum Fenster herein, da mußte er sehen, wie Isaak seine Frau Rebekka koste. '8
Obersetzung
12
20
139 26
6 Und Gott antwor-
18 Da ließ Pharao den Abram rufen und sprach: "Was hast du mir angetan? Warum hast du mich nicht wissen lassen, daß sie dein Weib ist? 19 Warum hast du gesagt: Sie ist meine Schwester, so daß ich sie mir zur Frau genommen habe?
tete ihm im Traum: "Auch ich weiß, daß du es ohne böse Absicht getan hast; ich selber habe dich bewahrt, dich an mir zu versündigen, darum gestattete ich dir nicht, sie zu berühren. 7 Jetzt aber gib die Frau des Mannes zurück, denn er ist ein Profet. Er wird dann für dich bitten, daß du am Leben bleibst. Gibst du sie aber nicht zurück, so wisse, daß du mit all den Deinen sterben wirst." 8 Früh am andern Morgen rief Abimelech alle seine Knechte und erzählte ihnen alles, was sich zugetragen hatte. Die Männer aber fürchteten sich sehr. 9 Da ließ Abimelech den Abraham rufen und sprach zu ihm: "Was hast du uns angetan? Womit habe ich an dir gesündigt, daß du so großeSünde übermich und mein Reich gebracht hast? Wie man einander nicht behandelt, so hast du mich behandelt." 10 Und Abimelech fuhr fort zu Abraham: "Was hast du
9 Da ließ Abimelech den Isaak rufen und sprach: "Sie ist ja dein Weib/Wie konntestdudennsagen: Sie ist meine Schwester?" Isaakerwiderte ihm: »Ich dachte, ich stürbe sonst um ihretwillen." 10 Abimelech aber sprach: "Was hast du uns angetan? Wie leicht hätte einer aus dem Volk deiner Frau Gewalt angetan, und du hättest eine Schuld über uns gebracht!"
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
140 A
Jetzt aber, hier ist deine Frau, nimm sie und geh!" 20 Darauf bot der Pharao seinethalben Männer auf, die mußten ihn, seine Frau und alles, was er hatte, geleiten.
B beabsichtigt mit diesem Verhalten?" 11 Abraham antwortete: "Ich dachte eben, es gibt gewiß keine Gottesfurcht an diesem Ort; so werden sie mich umbringen wegen meiner Frau. 12 Auch ist sie wirklich meine Schwester, die Tochter meines Vaters, nur nicht meiner Mutter, so konnte sie meine Frau werden. 13 Es geschah (~il~l), als mich Gott aus meinem Vaterhaus in die Ferne ziehen ließ, sprach ich zu ihr: Das mußt du mir zuliebe tun, daß du überall, wohin wir kommen, von mir sagst, ich sei dein Bruder." 14 Da nahm Abimelech Schafe und Rin;.. der, Sklaven und Sklavinnen und schenkte sie Abraham. Seine Frau Sara gab er ihm zurück. 15 Dann sprach Abimelech: "Siehe, mein Land steht dir offen, bleibe, wo es dir gefällt." 16 Zu Sara aber sagte er: "Siehe, 1000 Lot Silber schenke ich deinem Bruder; das soll eine Ehrenrettung für dich sein vor allen, die bei dir sind,
c
11 Darauf gebot Abimelech dem ganzen Volk: "Wer diesen M~nn anrührt und seine Frau, ist gewißlich des Todes!" 12 Und Isaak säte in jenem Land und erntete in diesem Jahr tausendfältig; denn Jahwä segnete ihn. 13 So wurde der Mann reich und immer reicher, bis er über die Maßen reich war.
Abgrenzung der Einheit
12
20 ,so bist du vor jedermann gerechtfertigt'(?)" 17 Da betete Abraham zu Gott. Und Gott heilte Abimelech, seine Frau und seine Mägde, daß sie wieder Kinder bekamen. (13,1 So zog Abram (18 Jahwä hatte nämaus Ägypten herauf lieh jeden Mutterschoß ... nach dem N egeb.) im Hause Abimelechs fest verschlossen um Saras, Abrahams Frau, willen.)
141 26
Erste Aufgabe jeder formgeschichtlichen Untersuchung ist die genaue Abgrenzung der literarischen Einheit. Denn nur ein Stück, das wenigstens auf einer Stufe seiner Überlieferungsgeschichte selbständig und in sich abgeschlossen war, erlaubt eine sinnvolle Befragung. Besaßen die angeführten Erzählungen eine solche Selbständigkeit? Sie scheinen noch im jetzigen Kontext einen in sich ruhenden Sinnzusammenhang darzustellen. Um diesen Eindruck zu klären, sind vor allem Anfang und Ab s c h 1u ß näher ins Auge zu fassen. Eröffnen und beenden sie eine eigenständige Erzählung? (vgl. o. § 1F). Erzählung A beginnt: ,.Es entstand eine Hungersnot im Land. So zog Abram nach Ägypten, um dort als Schutzbürger zu bleiben; denn die Hungersnot lastete schwer auf dem Land." Für einen modernen Leser sind diese Sätze kein befriedigender Anfang einer selbständigen Erzählung. Welches Land ist hier gemeint? Wer ist Abram, der hier im Mittelpunkt steht? Der Hebräer jedoch liebt keine umfassende Exposition, steigt viel lieber gleich mitten in die Sache, wie am Anfang des Hiobbuches oder des Ruthbüchleins leicht zu erkennen ist. Außerdem war Abram für ihn eine selbstverständlich bekannte Gestalt. Drittens darf man Formgeschichte nicht am deutschen Text betreiben; wenn es in der Übersetzung heißt "das Land", mögen wir fragen: Was für eines ist gemeint? Heißt es aber l''tt~ ohne Näherbestimmung, so ist dem Israeliten klar, daß nur Palästina gemeint sein kann. Ebensowenig ist es für ihn etwas Unerhörtes, daß bei einer Hungersnot ein Palästinenser nach Ägypten hinabwandert; denn Ägypten ist mit seiner Wasserversorgung durch den Nil vom Regen unabhängig und hat deshalb auch dann Nahrung, wenn wie häufig - in Palästina infolge des ausgebliebenen Regens alles
142
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
am Hungertuch nagt 3 • Der Eingangssatz: "Es entstand (geschah) aber das und das C0~n" entspricht dem in der hebräischen Sprache beliebten Anfang von selbständigen Erzählungen (s. 26, 1. 14; aber auch 6, 1; 11, 1; 1. Sam. 1, 1 usw.). Die Wendung wird dann mit einer Zeitbestimmung bei Beginn einer neuen Szene wieder aufgenommen (V. 11. 14; 1. Sam. 18, 6. 10 z. B.). So ist also V. 10 für den Israeliten ein vollauf genügender Erz ä h 1u n g sauft a k t. Er bietet die gesamte Exposition. Der bekannte Ahnherr muß in ein fremdes feindliches Land überwechseln, wo er nur eine beschränkte Rechtsstellung, die des Schutzbürgers, beanspruchen kann. Damit ist die Basis der Verwicklung gegeben, die gleich im nächsten Satz beschrieben wird. Wie steht es mit dem Schluß? Indem der Pharao gebietet: "Jetzt aber, hier ist deine Frau, nimm sie und geh!" und der Erzähler danach fortfährt: "Darauf bot der Pharao seinethalben Männer auf, die mußten ihn, seine Frau und alles, was er hatte, geleiten," erhält das Ganze einen befriedigenden Abschluß. Der Israelit schließt Erzählungen gern mit einer Rede, die die Spannung löst, und einer nachfolgenden kurzen erzählenden Bemerkung über das weitere Schicksal des Helden als Erzählungsausklang (Gen. 2, 23 f.; 4, 15 f.; 11, 7-9 usw.). Daß A eine abgerundete Einheit bildet, bestätigt ein Blick auf den übergreifenden Zusammenhang, den Kontext. Kap. 12, 1-9, der unmittelbar vorherstehende Absatz, hatte berichtet, wie Abram auf Gottes Befehl hin und unter Gottes Verheißung seine Heimat verlassen hatte, um in eine unbekannte Ferne zu ziehen. Er war in Palästina angekommen und hatte dort in Sichern und Bethel zwei Heiligtümer gegründet. Daran schließt sich A nur notdürftig an. Denn nach diesen Sätzen wandert Abram aus Palästina ab und das kurz, nachdem er in Bethel von seinem Gott gehört hatte: "Dieses Land werde ich deinem Samen geben" (V. 7). Abram verläßt also nach der Folge des Textes ohne Zögern das eben feierlich ihm zugesicherte Land. Warum ein Schriftsteller dennoch beide Stücke hintereinandergestellt hat, wird uns später beschäftigen: hier genügt, daß die Verbindung locker ist. Noch deutlicher zeigt ein Blick auf das, was in Kap. 13 folgt, daß der Schriftsteller unsere Erzählung an ihrer jetzigen Stelle, so gut es ging, eingeflickt hat. Denn dort heißt es: Also zog Abram mit seinem Weib und all seiner Habe, mit ihm auch Lot, aus Ägypten in das Südland hinauf. Abram aber war sehr reich an Vieh, an Silber und an Gold, und er wanderte weiter von Lagerplatz zu Lagerplatz aus dem Südland (Negeb) bis nach Bethel, bis zu der Stätte, wo im Anfang sein Zelt gestanden hatte. 3
S. die Josefsgeschidue und AOT 97; ANET 259 sowie das berühmte Bild von Beni Hassan AOB 51; ANEP 3.
Abgrenzung der Einheit
143
Die Erzählung von der Wanderung Abrams durch das Gelobte Land, von der vor Beginn über die Gefährdung der Ahnfrau die Rede war (12, 5-9), wird also wieder aufgenommen und weitergeführt. Dazwischengestellt sind nur noch einige vermittelnde Sätze, die die Verbindung mit der uns beschäftigenden Episode ermöglichen sollen. An sich könnte die Geschichte von der Gefährdung der Ahnfrau ohne weiteres hier fehlen. Im Gegenteil; wenn sie nicht da stünde, wäre der Fortgang der Erzählung von den Wanderungen Abrams durch das Gelobte Land in Kap. 12 und 13 glatter und geschlossener. Das alles erklärt sich nur, wenn A einmal eine selbständig um1aufende Erzählung gewesen ist. Selbständig war sie natürlich auf der Stufe mündlicher Tradition. Solange sie von einem zum anderen auf diese Weise weitergegeben wurde, empfahl sich ihre Kürze; sie prägte sich dadurch fester ein, so daß sie jeder behielt. Erzählung B hebt an: "Da brach Abraham von dort auf in die Landschaft Negeb. Zwischen Kades und Sur ließ er sich nieder. Als Schutzbürger blieb er in Gerar." Der Anfang sieht noch weniger nach einem selbständigen Einsatz aus als der von A. Abraham zog "von dort"; das setzt eine vorhergehende Ortsangabe voraus und damit ein vorangehendes Erzählungsstück. Doch diese Verbindung erweist sich als eine nachträglich eingesetzte schriftstellerische Klammer; denn der Aufbruch "von dort" 4 wird nicht motiviert, ebensowenig der Aufenthalt in Gerar. Das pflegt aber sonst in den Notizen von Abrahams Wanderungen und in den Geschichten der Genesis zu geschehen. In A war die Hungersnot ein eindeutiger Beweggrund; da ein solcher hier fehlt, liegt der Verdacht nahe, daß der Schriftsteller die W anderung "von dort" nach dem Negeb kombinierend eingesetzt hat, um zum folgenden überzuleiten. Ebensowenig wird die zweite Wanderung vom Negeb nach Gerar begründet. Hier wird wahrscheinlich auch einmal eine Hungersnot erwähnt worden sein, die aber mit Rücksicht auf Kap. 12 (A) und Kap. 26 (C) ausgelassen worden ist, um nicht zu oft von Hungersnöten zu erzählen. Der Anfang der eigenständigen mündlichen Überlieferung, die wir auch hier voraussetzen, hat wohl einmal gelautet: "Es geschah eine Hungersnot ... Abraham blieb als Schutzbürger in Gerar." Der Schluß in V. 15 ist deutlich ein Ende; denn nach dem, was nun gesprochen und geschehen ist, ist alles wieder im Lot. Abraham erhält Aufenthaltsgenehmigung und braucht fernerhin nicht mehr fremde übergriffe zu fürchten; Sara erhält Genugtuung, und· Abimelechs Haus wird wieder gesund. Auch dieses Mal erfolgt der Erzählungsausklang nach zwei entscheidenden Reden (V. 15 f.). ' v. RAD erwägt, ob die Katastrofe von Sodom Anlaß zum Aufbruch war; das wäre eine schwache, deutlich nachträgliche Motivation, die frühestens beim Erstschriftsteller vorauszusetzen ist.
144
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
Der Blick auf den übergreifenden Zusammenhang ergibt, daß B ebenso aus dem jetzigen Rahmen herausfällt wie A. Voran geht nämlich die Erzählung vom Untergang Sodoms und Gomorrhas, die gewiß nichts mit der Gefährdung der Ahnfrau zu tun hat. (Freilich war der Zusammenhang beim Erstschriftsteller von Kap. 20 noch anders; es handelt sich bei ihm nämlich um den sogenannten Elohisten, während Kap. 19 vom sogenannten Jahwisten stammt, aber davon später. Im allgemeinen vermutet man, daß nach Analogie von Kap. 12 der Erzählung B im schriftstellerischen Zusammenhang ebenfalls die Verheißung großer Nachkommenschaft an Abraham vorausgegangen ist5 ; aber das ist gewiß eine nachträgliche Verbindung gewesen.) - Enger ist die Verbindung jedenfalls mit dem folgenden Kapitel, das vom selben Erstschriftsteller stammt (dem Elohisten) und von den Abrahamssöhnen Ismael und Isaak berichtet. Aber auch das ist kaum eine ursprüngliche Verbindung; denn die Gefährdung des Elternpaares setzt voraus, daß es noch keine Kinder hat. Kap. 20 (B) könnte im jetzigen Zusammenhang ebensogut fehlen, ohne daß der Fortgang der Darstellung leidet. Bei Erzählung C liegen die Dinge etwas verwickelter. Zwar ist c;ler Eingang deutlich der Beginn einer ehemals selbständigen Einheit: "Es entstand eine Hungersnot im Land •.. so wanderte Isaak zu Abimelech, dem Philisterkönig, nadt Gerar." Wie in A kennzeidtnet der Satz: ~Es entstand (gesdtah) das und das ... " den Beginn einer Erzählungseinheit. Der Zusatz: "Abgesehen von der früheren, die· zu Abrahams Zeiten eingetroffen war", der im Hebräisdten ungelenk wirkt, wird wohl der Absicht des späteren Sdtriftstellers entspredten, eine verbindende Brücke von A zu C zu sdtlagen. Der Sdtriftsteller kennt also Kap. 12. Sonst aber ist der Eingang als Exposition für hebräisdtes Empfinden vollauf befriedigend; allein das "Land" Palästina und Isaak werden als bekannt vorausgesetzt. Nicht so eindeutig ist der Abschluß der Geschichte; zwar bringt V. 11 eine gewichtige, die Spannung der Erzählung lösende Rede und V. 12 einen stilgerechten Ausklang. lsaak genießt mit seiner Frau von nun an Gottes und des Königs Sdtutz. Aber die starken Ausdrücke über Isaaks Reichtum in V. 12 f. sind doch wohl schon vom Schriftsteller aufgefüllt, um die folgende Erzählung vom Neid der Philister vorzubereiten. Wirft man ein Auge auf den übergreifenden Zusammenhang, so zeigt sich wie in A und B, daß eine Erzählung von der göttlichen Verheißung der von der Gefährdung der Ahnfrau vorausgeht. Dieses Mal aber ist die Verbindung nicht nur eine äußerliche; beide Geschichten sind vielmehr zusammengeflossen. Doch wird die überlieferungsgeschidtte zeigen, daß dieses Zusammenfließen nadt5
Kap. 15 in Spuren erhalten?
Gattungsbestimmung
145
träglieh geschehen ist. Sie zeigt ebenso, daß die enge Verbindung zur zweiten Hälfte des Kapitels von Haus aus nicht gegeben war. Doch ist C schon in der mündlichen Weitergabe in einen Isaak-Sagenkranz eingegangen, der über Isaaks Segnung in Gerar und Beerseba und den dadurch bei der Umgebung entstandenen Neid berichtet. Dieses Gesamtstück steht aber ziemlich verloren im Schriftwerk. In Kap. 25 war schon die Geburt der Zwillinge Esau und Jakob berichtet, deren Geschick erst in Kap. 27 fortgeführt wird. Hier aber in Kap. 26 sind die Eltern Isaak und Rebekka offensichtlich noch ohne Kinder; das widerspricht sowohl dem Vorangehenden wie dem Folgenden. Hätten sie schon Kinder, würde ihnen in Gerar niemand glauben, daß sie nur Bruder und Schwester wären. - Das Erzählungsbündel von Kap. 26, das sich um die Gestalt Isaaks rankt, mag schon im Volksmund zusammengewachsen sein, so daß der Schriftsteller es schon verbunden vorfand. Nichtsdestoweniger hat man Grund zur Vermutung, daß auf einer älteren Stufe die Einzelstücke selbständig waren. Die Segensverheißung schiebt sich am Anfang fast störend zwischen den Befehl: "Bleibe als Schutzbürger in diesem Lande" und seine Ausführung: "Darauf ließ Isaak sich in Gerar nieder." Loser noch ist die zweite Hälfte des Kapitels angefügt. Sie beginnt nicht nur mit einer selbständigen Einführung in V. 14: "Es entstand aber das und das", sondern setzt auch andere Schauplätze als die Stadt Gerar voraus. So ist zwar C (stärker als A und B) nur als Gliedgattung in einem größeren Rahmen greifbar; dennoch gibt es auch hier Anzeichen genug für ehemalige Selbständigkeit. A 11 e drei Erzählungen über die Gefährdung der Ahnfrau sind also einmal als selbständige Einheiten umgelaufen. B. Gattungsbestimmung: Ethnologische Sage
Wenn die Erzählungen einstmals selbständig waren, muß ihre Art, abgesehen vom jetzigen Buchzusammenhang, bestimmt werden. Welchem Typ von Erzählungen gehören sie zu? Offenbar zeigen die drei Beispiele die gleiche Gattung. Das christliche und jüdische Gemeinverständnis vergangeuer Jahrhunderte sah in ihnen historische Berichte. Dem stellen sich aber bei genauerem Zusehen gewichtige Bedenken entgegen. Für einen historischen Bericht ist Grunderfordernis, daß der Weg vom Augenzeugen zum Berichterstatter offen zutage liegt. Schon das bereitet hier Schwierigkeiten. Woher weiß der Erzähler, was im Harem eines fremden Königs geschehen ist? Ja, was diesem im Traum an göttlicher Weisung zuteil wurde? Weiter, kann man sich vorstellen, daß die Erzväter derart delikate Ereignisse ausführlich ihren Nachkommen erzählt haben? Abraham hätte das gleich zweimal getan! Solche Erlebnisse pflegen die Betroffenen sonst zu ver-
146
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
schweigen. Gerade Israeliten waren in dieser Beziehung sehr empfindlich. Solche Vorerwägungen mögen noch nicht ausschlaggebend sein. Wichtiger ist, daß jedes positive Merkmal eines historischen Berichtes fehlt. Es gibt nicht die Andeutung einer Datierung, während für die Historie die chronologische Einordnung unerläßlich ist. Es ist bezeichnend, daß später, als die Erzählung von der Gefährdung der Ahnfrau in eine Geschichtsdarstellung eingebaut wird, eines Tages die Datierung nachgetragen wird (Jub. 13, 10 f.). Es geht um keinen bedeutsamen staats- oder volksgeschichtlichen Wendepunkt; statt dessen stehen Familienbezüge im Vordergrund. Erzähler wie Hörer fühlen sich offensichtlich als Nachkommen dieses Abraham, dieses Isaak. Das Glück des Ahnherrn ist das ihre, die Schönheit der Ahnfrau berechtigt zum Stolz. Am Walten der Gottheit ist entscheidend, was zu Gunstendes eigenen Ahnherrn geschieht (wenigstens in A und B). Dagegen treten die politisch doch gewichtigeren Gestalten zurück. Vom ägyptischen König wird nicht einmal der Name mitgeteilt. Das Weltgeschehen derart aus Familienzusammenhängen zu begreifen, ist - wie später noch genauer begründet wird - bezeichnend für die Sage. Der Begriff Sage, auf biblisme Erzählungen angewandt, in denen die Kirme das Wort Gottes sieht, mag manmen Theologen erschrecken und manches fromme Gemüt entsetzen. Im bitte aber dringend, nimt sofort dem vulgären Mißverständnis von Sage als einer phantastismen, primitiven, deshalb "unwahren" Same zu verfallen. Daß biblisme Sagen durmaus Wahrheit in sim bergen und für die christlime Verkündigung gar nimt ohne Schaden zu missen sind, wird der übernämste Paragraf zeigen.
Zu den Einzelheiten der Gattung. Für eine Sage sprechen außer den bereits erhobenen Formmerkmalen der um die große Geschichte unbekümmerte Eingang: "Es entstand (geschah) das und das"; die Reden gegen Ende als Höhepunkt privater Auseinandersetzung; auch die Gliederung in einfache Szenen6 (durch "es geschah, als"), typisch ferner die abrupte Erz ä h 1weis e7 : Abraham befiehlt seiner Frau, sich als seine Schwester auszugeben; daß sie dem nachkommt, gilt als selbstverständlich. Was im Palast zwischen dem Pharao und Saraj geschah, wird in A nicht erzählt, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang von selbst. Ebensowenig wird in A darauf eingegangen, was Abram auf die Vorwürfe des Pharao geantwortet hat; auch fehlt, daß Pharaos Haus wieder gesundet nach Ende der Geschichte. Andererseits gibt es bezeichnend sagenhafte Ausschmückungen, so die lange Reihe von Schaf, Rind, Esel, Eselinnen und Kamelen, Sklaven und Sklavinnen, Dinge, die offenbar dem Erzähler und seinem Hörerkreis naheliegen, oder der humorvolle Zug, daß Abimelech e Zum Begriff der Szene als Erzählungsteil, der sim durm Wemsel der Personen, des Schauplatzes oder der Handlung vom vorhergehenden oder folgenden untersmeidet s. GuNKEL: Genesis XXXIV. 7 W. ßAuMGARTNER in: Eucharisterion I, Festsmrifl: für H. GuNKEL 1923 S. 146 f.
Ethnologische Sagt
147
die Sachlage entdeckt, als er zum Fenster seines Schutzbürgers hineinlugt. So jedenfalls liegen die Dinge in A und C, während B mit seinen langen Redepartien eine Besonderheit zeigt, auf die noch einzugehen sein wird. Nun ist mit dem sehr allgemeinen und etwas verschwommenen Begriff "Sage" noch keine exakte Gattung bezeichnet. Sage umfaßt vielmehr eine ganze Gruppe von Gattungen. Es ist in jedem Fall nötig, eine genauere Bestimmung hinzuzusetzen. Das bleibt bei so begrenztem Material wie drei Erzählungen freilich nur ein vorläufiges Unternehmen. Doch fällt bei diesen Geschichten immerhin auf, daß zwar eine zeitliche Einordnung völlig fehlt, dafür aber g e n a u e 0 r t sbestimmungen gegeben werden; vom Negeb geht es nach Ägypten bzw. nach Gerar. Großer Wert wird auf die Rechtsverhältnisse der Ahnen zu der fremdvölkischen Umgebung gelegt; das Schutzbürgerverhältnis wird betont, in C sogar durch einen GottesbefehL Ebenso wird das offizielle Geleit nach dem glücklichen Ende herausgestellt (A), die rechtfertigende Gabe (B) bzw. das Königsgesetz (C V. 11). Abram, der Stammvater, wird einer fremden Gesellschaft gegenübergestellt; er ist (mit den Seinen) als wandernder Nomade eine unterlegene und rechtsschwache Person, sobald er in das Gebiet eines "Staates" überwechselt;. es geht um sein Verhältnis nicht zu speziellen Individuen, sondern zu fremden Kulturvölkern. In B und C taucht zwar Abimelech, der König, als Gesprächspartner der anderen Seite auf, aber er ist nur Exponent des Verhältnisses zu den Philistern, zu "diesem Ort", zu "jenem Land". Wenn der Pharao in A ohne Namen bleibt, wird er damit als typischer Vertreter Ägyptens gekennzeichnet. In solchen Sagen spiegelt sich also das Verhältnis der nomadischen Abrahams- und Isaaks-Leute mit ihren auffallend schönen Frauen gegenüber den verweichlichten, lüsternen Kulturlandvölkern. GuNKEL hat deshalb für diese Gattung den Namen ethnologische Sage geprägt. Der Ton liegt für den Israeliten bei solchen ethnologischen Sagen darauf, daß sein Gott, der Gott Israels, bei den Völkerverhältnissen mit im Spiel ist, sich als Führungsgott zeigt. lndem um der ethnologischen Komponente willen auch andere Völker ins Blickfeld treten, wird zugleich deutlich, daß die Macht Gottes keineswegs auf den Raum des eigenen Volkes und Landes beschränkt ist. Der Gott des kleinen Volkes, ja der noch nicht Volk gewordenen Nomadensippen, lenkt den ägyptischen Pharao ebenso wie den König der Philister. Erzählungen dieser Gattung sind von besonderer Wich- · tigkeit für den späteren universalen Gesichtskreis des israelitischen Gottesverständnisses (von gleicher Art sind etwa Gen. 34, das Verhältnis der Jakobgruppe zu den Kulturlandbewohnern von Sichern, Gen. 9, 20ff., die Sage von Kanaans Verfluchung, u. a.). Die ethnologischen Sagen als Rahmengattung enthalten eine Reihe kleinerer G 1i e d g a t tun g e n. Einerseits zeigen sich Formen der Got-
148
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
tesrede. C bringt zunächst einen einfachen Gottesbefehl mit den dafür üblichen Imperativen (V. 2. 3a), daran schließt sich ein längerer Gottessegen (V. 3-5), der sich poetischer Sprache und dem paral1elismus membrorum zumindest nähert: Ich werde mit dir sein und dich segnen. Denn dir und deinen Nachkommen werde ich alle diese Länder geben. Ich werde den Schwur erfüllen/den ich deinem Vater Abraham geschworen. Ich werde zahlreich machen dein Geschlecht wie die Sterne des Himmels/ich werde deinem Geschlecht alle diese Länder geben. Segnen werden sich mit deinem Geschlecht alle Völker der Erde. (Das alles) weil Abraham auf meine Stimme gehört hat! und bewahrt hat meinen Dienst, meine Gebote, Satzungen und Gesetze. Der Stil solcher Gottessegnungen8 zeigt sich auch 12, 1-3 (ebenso mit einleitendem Befehl); 12, 7; 13, 14-17; 15, 17 usw. Ariders klingen Gottesmitteilungen innerhalb einer Traumoffenbarung (B V. 3. 6 f.), zwischen die eine Klage des Königs eingeflochten ist. Es werden aber auch Gattungen sichtbar, in denen Menschen untereinander verkehren. Geprägt ist die Rede eines Königs an einen Untergebenen, den er zur Rechenschaft zieht; sie beginnt gern mit einer barschen Frage (12, 18; 20, 9f. 15f. vgl. 26, 9): "Warum hast du mir das angetan?" (so auch 3, 13; 29, 25; Num. 23, 11 usw. 9 ). Die entschuldigende Antwort des Untergebenen mit einem "Ich dachte eben" wird 20, 11; 26, 9 ersichtlich. Entläßt der König einen Mann, so steht am Schluß wohl ein Befehl 12, 19; 20, 15. - Besonders interessant ist das Königsgebot an das Volk 26, 11: Wer diesen Mann anrührt und seine Frau, ist gewißlich des Todes! :11~~~ .nn~ 1f.1~~-?~ i1jtt ro~~~ p~:lliJ Ebenso beendet in Israel der König ein verpflichtendes Gebot in prekärer Lage, ebenso spricht auch die Volksversammlung (1. Sam. 14, 39; Ri. 21, 5). Vor allem aber finden sich in den alttestament-
J.
HoFTIJZER: Die Verheißungen an die drei Erzväter 1956; C. WESTERMANN: Arten der Erzählung in der Genesis, in: Forschung am AT., ThB 24, 1964 s. 11-34. ' "Formel des Vorwurfs" nach I. LANDE: Formelhafte Wendungen der Umgangssprache im AT., 1949 S. 99 ff.; "Beschuldigungsformel", die auf ein Gerichtsverfahren zielt, nach H. J. BoECKER: Redeformen des Rechtslebens im AT, WMANT 14, 1964 S. 26-31; besser "Vorwurf der gemeinschaftswidrigen Tat." B setzt V 9 eine Sündenbestreitung hinzu: "Womit habe ich an dir gesündigt, daß ... ", wie sie vor sakralen Personen (Abraham als Profet) und vor Königen gebräuchlich ist (1. Kön. 18, 9; Jer. 37, 18); R. KNIERIM: Die Hauptbegriffe für Sünde im AT, 1965 S. 20-25. 8
Oberlieferungsgeschichte
149
liehen Rechtssammlungen Beispiele dieser Form, z. B. Ex. 21, 12: Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, ist gewißlich des Todes! :l'l~l~ l'IH:'l l'll;;ll td~~ n~~ A. ALT hat solche "Aufzählungen todeswürdiger Verbrechen", die mit einem Partizipialsatz und dem dazugehörigen Objekt beginnen und mit einer Paronomasie enden (1'1~~~ 1'11~) dem apodiktischen Gottesrecht zugewiesen und damit jener Gattung, die in etwas anderer Form in den Gottesgeboten (Dekalog) begegnet10• Ob diese Einordnung zu Recht besteht, bleibe hier dahingestellt. Jedenfalls ist aber zu beachten, daß die Sage den fremden König in einer auch in Israel gebräuchlichen Rechtsgattung reden läßt. - Weniger geprägt ist die Rede des Mannes an seine Frau. Wie dergleichen auf Reisen lautet, läßt sich 12, 11-13; 20, 13 entnehmen. - Die Gliedgattungen zeigen, daß bei der Entstehung dieser Erzählung die verschiedensten psychologischen, religiösen und rechtlichen Bräuche und Motive einwirken. (Das bedeutet aber nicht - wie KELLER meint -, daß die bloße Addition solcher Motive die Erzählung verursacht haben.) C. Oberlieferungsgeschichte Bei der Abgrenzung der Einheit ergab sich die Vermutung, daß die drei Sagen längere Zeit mündlich überliefert wurden. Was aber mündlich weitergegeben wird, ändert unmerklich seine Gestalt. Lassen sich gedanklich störende Sätze ausmachen, die als Fossil eines früheren Stadiums anzusprechen sind? Zunächst ist zu klären, in welchem Verhältnis die drei Erzählungen zueinander stehen. Gehen sie etwa auf eine einzige Grunderzählung zurück? A und B handeln von den gleichen Hauptpersonen; wenn sie in A Abram und Saraj, in B Abraham und Sara heißen, so sind das dialektische Unterschiede, wie sie für gleiche Personen noch im Deutschland des 18. Jahrhunderts üblich waren11 • Es ist unwahrscheinlich, daß ein und dasselbe Ehepaar zweimal in eine so seltsame Situation gerät und der Mann auch beim zweiten Mal die gleiche Notlüge bzw. Mentalreservation vorschützt, obwohl er damit schon einmal hereingefallen ist12 • In C sind zwar die Ehegatten andere, aber der fremdländische Partner ist wieder derselbe, und es ist die gleiche Stadt. Isaak müßte doch wohl die Erlebnisse seines 10 11
12
Die Urs_prünge des israelitisdten Redtts, ALT I, 307-313, s. o. S. 11 A. 10. Im jetzigen Buchzusammenhang der Genesis wird freilich die Verschiedenheit der Aussprache des Namens von einem späteren Schriftsteller zu einer besonderen Theorie verwandt: 17, 5. SPEISER (Anchor Bible 1964) vermutet zu 12, 10 fJ das Nachleben einer hurritischen Rechtssitte, nach der die Ehebindung stärker war, wenn die Frau zugleich (u. U. durch Adoption) Sdtwester des Mannes war. Das mag bei der Entstehung der Sage eine Rolle gespielt haben. Den israelitischen Erzählern ist es nicht mehr bekannt s. 26, 10.
150
§ 10 Die Gefährdung der Ahn/rau
Vaters kennen, sollte er trotzdem die gleichen Dummheiten machen? Abimelech kennt doch die Sippe und die Art ihrer Aufführung, dennoch läßt er sich wieder täuschen? (Ebenso unwahrscheinlich ist- falls wir die Erzählung alsSage und nicht als historischen Bericht nehmen-, daß solche Doppelung der Peinlichkeiten den Vorfahren angedichtet ~ird.) Solche üherlegungen sprechen dafür, daß alle drei Versionen auf eine gemeinsame U rertähl ung zurückgehen. Das wird dadurch bewiesen, daß an den entscheidenden Stellen Übereinstimmung im Wortlaut herrscht. Jedesmal geht es darum, daß der Ahne im Ausland als "Schutzbürger weilt". Dreimal spricht er die Furcht aus, getötet zu werden. Immer verfällt er auf den Ausweg: "Meine Schwester ist sie." In jedem Fall entdeckt der fremde Herrscher, was los ist, und läßt den Erzvater zu sich rufen, um ihn mit dem Vorwurf zu empfangen: "Warum hast du mir (uns) das angetan?" Die Abweichungen in den drei Erzählungen machen nicht den Eindruck, bewußt oder absichtlich entstanden zu sein; sie sind eher im Verlauf der mündlichen Weitergabe aufgekommen, vermutlich in verschiedenen Gegenden, vielleicht zu verschiedenen Zeiten. Ist jene Urerzählung noch zu erheben? Dabei muß man. sich klar sein, daß bei solcher Rückfrage im Blick auf mündliche Überlieferungen niemals der Wortlaut der alten Erzählung, sondern bestenfalls ihr Inhalt sich ermitteln läßt. Da wir aber drei Parallelen zur 'Verfügung haben, bestehen gute Aussichten, hinter den jetzigen Text zurückzugelangen. ~) Es ist dazu nötig, aufzuhellen, was in den drei Erzählungen jeweils spätere Zutat ist. Kap. 12 erzählt knapp und flüssig. Alles Unwesentliche wird übergangen, nur äußeres Geschehen berichtet. Was Saraj empfunden hat oder wie Abram nach dem Verlassen .itgyptens gestimmt war, solche psychologischen Erwägungen liegen völlig fern. Dennoch zeigt die Erzählung ein feines Taktgefühl. Wie es Saraj im Harem erging, wird nur von ferne angedeutet. Das alles macht einen sehr altertümlichen Eindruck. Das Heikle der Situation wird hier am wenigsten vom Erzähler bemerkt; vielmehr wird bisweilen erzählt, wie man einen Schwank erzählt, mit dem Schalk in den Augen. Daß Abram seine Frau zur Lüge verführt, wird nicht als bedenklich betrachtet; zwar stellt ihn der Pharao zur Rede, aber Abram entschuldigt sidt nicht und zieht trotzdem, reich besdtenkt, von dannen. Der Erzähler freute sich anscheinend über die Schläue seiner Ahnen. Freilidt zeigt der jetzige Zusammenhang eine unklare Stelle. Zwar wird berichtet, daß der Pharao mit seinem Haus krank wird; aber es wird nidtt erklärt, wie er merkt, daß es um Abrams Frauwillen geschieht; dabei handelt es sich an diesem Punkt um die eigentlidte Peripetie der Erzählung, die in jeder gut israelitischen Erzählung besonders herausgestellt wird (vgl. die ausführliche Darstellung in B). Hier ist vermutlich etwas ausgefallen; vielleimt war es
Oberlieferungsgeschichte
151
auf einer späteren Stufe anstößig. Wie kann ein Pharao erkennen, woher sein Unglück rührt? Nirgendwo anders her als von seinen Göttern, durch die Vermittlung irgendwelcher Wahrsager; daß aber heidnische Götter dem Pharao die Wahrheit offenbart haben sollen, hat der Schriftsteller als verdächtig ausgelassen; deshalb klafft jetzt eine Lücke. Im übrigen aber ist der Grundstoff unversehrt erhalten, Weiterungen sind nicht zu bemerken. Kap. 20 hebt sich von A hauptsächlich durch lange Gesprächspartien ab. Durch ihr Reden geben sich die handelnden Personen gleichsam psychologisch zu erkennen. Etwa der zaghafte, aber durch und durch redliche Philisterkönig oder der "Profet" Abraham, der überall, wohin er kommt, nach Gottesfurcht fragt. Die Erzählung ist kunstvoller aufgebaut. Sie läuft nicht nur simpel den Gang der Begebenheiten entlang, sondern bringt an mehreren Stellen Nachholungen, blendet zurück, indem sie das tatsächliche Verwandtschaftsverhältnis zwischen Abraham und Sara z. B. erst in der Rede vor dem König zutage treten läßt. Die Krankheit in Abimelechs Haus wird erst am Ende des Stückes erwähnt; auch daß Sara nicht berührt wurde, wird verspätet (V. 4) berichtet, ebenso daß Gott es war, der vor Frevel bewahrt hat (V. 6). Abraham ist auch hier klug, wird aber seiner Klugheit nicht froh. Am Ende zieht er zwar beschenkt, aber doch zugleich beschämt von dannen. Jeder schwankhafte Zug fehlt. Statt dessen gibt es ernste Vokabeln wie .raddiq "untadlig in Gemeinschaftsverpflichtungen" (V. 4), "Ganzheit des Herzens und Reinheit der Hände" (5 f.), "große Sünde" (9), "Gottesfurcht" (11). Während Abram in A einfacher Beduine ist, ist er hier ein von Gott Gesegneter, ein Nabi (Profet), der für fremde Könige wirksame Fürbitte zu leisten imstande ist. Das alles ist Sicht einer späteren Zeit. Nirgendwo sonst in der Genesis tritt Abraham als Nabi auf. Auch lügt er hier nicht; er verschweigt zwar, daß Sara seine Frau ist, sagt nur, daß sie seine Schwester ist, aber das ist sie nach dieser Erzählung tatsächlich (V. 12). Es zeigt sich hier also weithin ein jüngeres Stadium als in A. Vor allem greift der Gott Israels nicht mehr unbesehen für seine Günstlinge ein. Die Geschichte ist religiös "aufgeladen... Gott wendet sich dem Menschen zunächst mit mahnenden Worten zu, wenn er im Begriff ist, sich zu vergehen; erst nachträglich mit spürbarer Tat, und so auch gegenüber einem Heiden. - Gewisse Anzeichen lassen jedoch auf eine andersartige frühere Stufe schließen. Der Zug Abrahams nach Gerar in V. 1 wird nicht motiviert, obwohl es um ein Verlassen des Gelobten Landes geht, was für den Israeliten ein schwerwiegender Schritt ist; ebenso wie in A wird einmal die Hungersnot Anlaß gewesen sein. Hier haben wir also einen Ausfall. Dann setzt V. 9 "Du hast eine große Sünde über uns gebracht" tatsächlich voraus, daß Abimelech einen Ehebruch begangen hat; der Schriftsteller hat es durch V. 6 abgeschwächt, nach dem Abimelech sich Sara nicht
§ 10 Die Gefährdung der .Ahnfrau
152
genähert hatte13 ; doch der betreffende Satz hinkt nach und zeigt damit seinen späteren Ursprung. Die Erzählung wurde also im Lauf der Zeit empfindlicher in sexuellen Dingen. Ebenso ist die Entschuldigung Abrahams, daß Sara doch wirklich seine Schwester sei, in V. 12 nicht nur nachholend, sondern offenbar auch nachträglich eingefügt. Wenn in dieser Erzählung nicht ausdrücklich gesagt wird, daß Sara eine besonders schöne Frau war, so ist das ausgefallen, weil nach dem jetzigen Genesiszusammenhang Sara schon weit über die Altersgrenze hinaus sein muß. Was sich also über den Inhalt der Vorstufen erheben läßt aus diesem Text, führt in eine RiChtung, die der Erzählung A erheblich nähersteht als der gegenwärtige Wortlaut. Erzählung C ist schon fast keine Erzählung mehr; so aufgerissen ist sie durch Reden. Der König von Gerar wird zum Philisterkönig, was anachronistisch ist, denn zur Zeit der Erzväter gab es in Palästina noch keine Philister. Voran steht die große Gottesverheißung V. 2-5, die den Abrahamssegen wiederholt und auf Isaak überträgt. Dann folgt das Zwiegespräch Abimelech/Isaak V. 9-11, das hier nicht wie A und B mit einem barschen Vorwurf beginnt, sondern mit einer verwunderten Feststellung. In der ganzen Geschichte passiert nichts Gefährliches mehr, außer daß Abimelech einmal neugierig durch das 'Fenster lugt und dort sieht, wie Isaak mit Rebekka scherzt. Die heikle Situation ist zu einer bloßen Möglichkeit geworden, sie droht nicht vom feindlichen König, sondern höchstens von seinen Leuten.' Von einem Eingreifen Gottes braucht deshalb nicht mehr ausdrücklich die Rede zu sein; es genügt das schützende Wort des Königs. Der Segen am Schluß kommt nicht von den Philistern, sondern von Jahwä und ist mit der Erzählung kaum verbunden. Alles zeigt, daß wir ein späteres Stadium der Sage vor uns haben, in der die Erzählung schon "zersagt" ist, wie der Fachausdruck lautet. Die große Gottesrede zu Beginn zeigt viele Erweiterungen. Die Rede in V.2 "Gehe nicht nach Ägypten ... " ist erst zugewachsen, als die Sage von Schriftstellern in den jetzigen Zusammenhang eingestellt wurde. Aber auch der Segensspruch V. 314-5 ist ein Einschiebsel; er läßt sich bis in den Wortlaut hinein in anderen Abschnitten desselben Schriftstellers wiederfinden. "Dir und deinem Samen gebe ich diese Länder" erinnert an 12, 7; 13, 15. "Zahlreich machen werde ich deinen Samen wie die Sterne am Himmel" war schon 15, 5 verheißen. "In dir werden sich alle Völker der Erde segnen" heißt es ähnlich 12, 3; 28, 14. Noch später scheint die Rede vom "Aufrichten des Schwures, den ich Abraham geschworen" hineingekommen zu sein (ähnliches erst Jer.11, 5) und der Hinweis auf die Erfüllung von "meinem Dienst, meinen Geboten, Satzungen und Gesetzen" (Dtn. 5, 26-28 [=29-31]; 10, 13; 11, 1 u. ö.). Die Zusage dieses Segens mit der Landverheißung ist in: Von Ugarit nach Qumran, F.estschrift Eissfeldt, BZAW 7 S. 39. Ab: ,.So werde ich mit dir sein.•
13 DAUBE 14
Oberlieferungsgeschichte
153
gerade in Gerar unpassend; denn die Philisterstadt ganz im Süden der palästinensischen Küste gehörte nicht zu dem alten Israel, dem Gelobten Land. Der gesamte Segensabschnitt ist demnach Zuwachs. Grob gesprochen, ist A die urtümlichste, .B die mittlere und C die jüngste Form der Erzählung. Doch bedeutet das nicht, daß A die mündliche Vorstufe oder gar schriftliche Vorlage zu den beiden anderen Abschnitten ist. Vielmehr ist das Verhältnis verwickelter. b) Das zeigt sich, wenn wir die drei Fassungen gegeneinander halten, um auf den ursprünglichsten Verlauf zu schließen. 1. Nach A wandert der Ahnherr nach K g y p t e n, nach B und C nur nach Ger a r; dementsprechend ist es dort der Pharao, hier der Stadtkönig Abimelech, der als Gegenheld auftritt. Was ist das ältere? Für Gerar und Abimelech spricht, daß sie an zwei Stellen vorkommen, Kgypten und der Pharao nur an einer. Außerdem ist leichter erklärlich, daß eine Erzählung von einem verhältnismäßig kleinen und unbedeutenden König und Gebiet auf ein allgemein bekanntes Land wie Kgypten und seinen Herrscher übertragen wird, als das Umgekehrte. 2. Nach Kap. 12 bleibt offen, ob Pharao die Frau berührt hat, nach Kap. 20 hat er es nicht getan; aber diese Verneinung ist deutlich hinzugewachsen. Nach Kap. 26 kommt es noch nicht einmal so weit, daß Rebekka den fremden Harem betritt. Die älteste Erzählung war vermutlich am unbedenklichsten; sie wird von einem tatsächlich, aber unwissend begangenen Ehebruch berichtet haben. 3. Die Aufdeckung der Verfehlung geschieht in C - wo es nur um eine mögliche Verfehlung geht - durch Zufall. In B durch den Gott Israels im Traum. Auf der Vorstufe von A dagegen durch eine fremde Gottheit oder einen Wahrsager. Weil die letzte Aussage am wenigsten zum späten Geist des Alten Testaments paßt, wird sie die ursprüngliche sein. 4. Nach Kap. 12 wird der Erzvater aus dem Land hinausgeführt; nach 20 und 26 darf er im Land bleiben. Was ursprünglich ist, ist nicht mehr auszumachen15. 5. Geschenke erhält Abraham in A, als Pharao die Frau übernimmt, in B erst nachträglich zur Aussöhnung und Ehrenrettung, in C dagegen wird der Segen nach der Begebenheit von Gott und nicht von Menschen geschenkt. In der Folge der Erzählungen zeigt sich die zunehmende Verfeinerung des sittlichen Urteils. 16 15 18
Nach Kap. 26 wird allerdings später Isaak von den Philistern gebeten, das Land zu verlassen; V. 16. Die Verschiedenheit ist überlieferungsgeschichtlich leicht erklärlich und zwingt nicht zur Annahme von KELLER, daß das Ende der Begebenheit in den drei Sagen völlig verschieden berichtet sei. - In A und B besteht das Geschenk in Schafen und Rindern, Sklaven und Sklavinnen. Zumindest die Rinder,
154
§ 10 Die Gefährdung der .Ahnfrau
6. Die Ausgestaltung der Grunderzählung erfolgt duf(hweg durch Reden; sie werden aber an verschiedenen Stellen in die Erzählungen eingefügt, sind also jeweils unabhängig voneinander entstanden. Ein Zwiegespräch zwischen dem Erzvater und seiner Frau taucht in A und B auf, aber an verschiedener Stelle, inAnachdem Ablauf der Ereignisfolge, in B aber nachholend bei dem Gespräch mit Abimelech. Die Vorladung des Erzvaters vor den fremden König ist in B und C zu einem Zwiegespräch geworden. In C ist das Gespräch Gottes mit Isaak hinzugekommen und ein Befehl Abimelechs an sein Volk. Den größten Umfang aber nehmen die Redepartien in B ein; außer den schon genannten findet sich hier ein Zwiegespräch Gottes mit dem fremden König und eine Rede Abimelechs an Sara. Außerdem wird ein Gespräch des Königs mit seinen Knechten angedeutet und eine Fürbitte Abrahams vor Gott. 7. Die Erzählweise ist in A äußerst knapp; Wesentliches muß der Hörer selbst ergänzen, wie oben gezeigt. In C wird alles Wichtige mitgeteilt in einem ausführlichen Stil. Die Erzählung B läuft dagegen nicht einfach der Ereignisfolge entlang, vielmehr arbeitet der Erzähler mit raffinierten Nachholungen. Hier ist gewiß A die früheste Stufe. A zeigt einen Stil alter Sagen, den GuNKEL den knappen Stil genannt hat, während der in Bund C sichtbare Stil den ausgeführten Erzählungen späterer Zeit entspricht. 8. Der größte Unterschied besteht im Namen des Haupthelden. War Abraham oder Isaak der, von dem die Erzählung zuerst berichtete? Hier wird nach einer allgemeinen Regel der Sagenüberlieferung die unbekanntere Gestalt die ursprüngliche sein (vgl. den Wechsel vom Stadtkönig zu Gerar mit dem Pharao in Kgypten). Demnach stand Isaak in der ältesten Überlieferung; an seine Stelle wird später der berühmtere Abraham gestellt, weil er der Typ des gottvertrauenden Israeliten schlechthin war. In diesem Punkt hat ausgerechnet die jüngste Version (C) das Ursprüngliche erhalten. Die Grunderzählung beinhaltete also: anläßlich einer Hungersnot sei Isaak aus der Wüste südlich Palästinas nach der nahen kanaanäischen Stadt Gerar gezogen, um dort als Schutzbürger zu weilen, d. h. auf stadteigenem Grund das Weiderecht zu erhalten. Von seiner Frau habe er gesagt, sie sei seine Schwester, um nicht in Todesgefahr zu geraten, falls die begehrlichen Ausländer ein Auge auf sie werfen. Die Schönheit Rebekkas habe aber nicht verborgen bleiben können. Der Stadtkönig Abimelech habe sie in seinen Harem geh o I t, Isaak aber habe er reich beschenkt. Da hier ein objektiver wahrscheinlich aber auch die Sklaven passen nicht zum Milieu der Kleinviehnomaden. Ihre Erwähnung stammt aus einer überlieferungsstufe, in der die seßhaften israelitischen Bauern sich ihre Vorfahren nach dem eigenen sozialen Stand vorstellen.
Sitz im Leben
155
Frevel vorlag, habe Gott17 die Bewohner des Palastes mit rätselhafter Krankheit gesmlagen. Durm Befragung seiner Götter oder Wahrsager habe Abimelem erkannt, was gesmehen war, und Isaak zur Rede gestellt: "Was hast du mir angetan?" Dann aber habe er ihm die Frau zurü
D. Sitz im Leben Wo wurde eine solme Erzählung vorgetragen? Ihre Derbheit paßt gut in den Kreis von Kleinviehnomaden, wie sie in der Wüste südlim Palästinas in vorisraelitismer Zeit gelebt haben und deren einer ja zum Held der Erzählung geworden ist. Bezeimnend, daß Smafe als hömster Besitz gelten. Es wird sim um Leute gehandelt haben, die die Verhältnisse der Stadt Gerarsehr genau kannten. Mit anderen Worten: so haben die Vorfahren Israels erzählt nom vor ihrer Landnahme, und zwar jene Vorfahren, die sim auf einen Stammvater Isaak zurü
Der erst in der "Mosezeit" übernommene Jahwäname (so A und C) dürfte in dieser alten Erzählung von Haus aus nicht gestanden haben. Die frühere Gottesbezeichnung ist jedoch unbekannt.
156
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
mit Kleinviehherden umherzogen. Die Gefährdung der Ahnfrau wird von Männern erzählt worden sein, etwa am Abend vor den Zelten, wenn die Herden versorgt waren und qie Kinder schliefen. Diese Leute waren gezwungen, in Dürrezeiten sich einer Stadt des Kulturlandes zu nähern und dort die Erlaubnis zu beantragen, auf der städtischen Gemarkung zu weiden. Sie waren einerseits den Kulturlandbewohnern unterlegen, die ganz andere Machtmittel besaßen; ihre Rechtsstellung ist die der Schutzbedürftigen. Andererseits aber fühlten sie sich den Leuten in festen Städten überlegen. Der eigene Ahnherr ist klüger als die Stadtleute. "Daß Abraham aber so außerordentlich gut gelogen, aus der Not noch eine Tugend gemacht hat, darüber frohlockt der Erzähler im stillen und erkennt in den klugen Praktiken seines Vorfahren in heller Freude sich selbst wieder" (GuNKEL). Ebenso sind sie sich mit Stolz bewußt, daß ihre Frauen schöner sind als die der Seßhaften. Der eigene Nomadengott ist stärker; er greift ein für seine Schar, wenn die Not am größten ist. Auch in sittlicher Beziehung weiß man um die eigene Überlegenheit; weiblichen Reizen gegenüber sind die Stadtbewohner schwach und hemmungslos (bei der Bevölkerung unserer ländlichen Gegenden ist heute noch bisweilen ein ähnliches Überlegenheitsgefühl gegenüber den Städtern zu verspüren). So schnellläßt sich ein Isaakmann nicht hinreißen! Dagegen fehlt ein Zug, der uns selbstverständlich ist, nämlich die Scheu, die Ehre der Frau dranzugeben, "damit es mir gut geht um deinetwillen". Zugleich ist man überzeugt, daß die Beduinenfrq.uen unbedingt ihren Männern ergeben sind und ihre Ehre gern drangeben, um das Leben ihres Herrn zu schützen. Alles das weist auf sehr frühe Verhältnisse. In einer späteren Zeit hätte man zudem an einer Ehe zwischen Halbgeschwistern (B) Anstoß genommen (Lev. 18, 9 u. ö.). Alt ist auch die Vorstellung von objektiver Schuld, die Ahndung erfordert, sobald sie entstanden ist, obwohl der Mensch sie unabsichtlich und unwissend begangen hat. Nachdem Überlieferungsgeschichte und Sitz im Leben so weit geklärt sind, wird es sinn voll, dieFrage nach der His t o r i z i t ä t. zu stellen und nach einer Verbindung mit Ergebnissen der Archäologie und palästinensischen Landeskunde zu suchen, um den Sitz im Leb~n noch deutlicher herauszuarbeiten. Dabei ist die Feststellung zunächst nötig, daß die Sage durchaus die Luft jener Zeit atmet, von der sie herichtet, also gewiß in die Zeit vor der Seßhaftwerdung der späteren israelitischen Stämme hineingehört. Historisch ist unbedingt das "Gehäuse" der Sage, das Lokalkolorit, die Stimmungen und Empfindungen von Isaakleuten in Palästina. Historisch wohl auch das Schutzbürgerverhältnis zur Stadt Gerar. Leider ist noch nicht sicher, wo diese anzusetzen ist. Die Archäologen streiten sich, ob auf dem tell dschemme, 14 km südlich Gaza (Fl. PETRIE), oder auf dem tell esch-scheria', 25 km südöstlich Gaza (ALT), oder auf dem tell abu
Sitz im Leben hur~re,
157
der 7 km vom letztgenannten entfernt ist18 • Von diesen Hügeln ist leider nur der erste ausgegraben, ohne ein spezifisches Ergebnis für unsere Sagen. Das widerlegt jedoch noch nicht, daß es tatsächlich einmal einen König Abimelech gegeben hat, über den vielleicht eines Tages eine archäologische Notiz auftaucht. Die Sage gibt jedenfalls ein zutreffendes Bild von einem kanaanäischen Stadtkönig des 2. Jahrtausends19 • Nicht bestätigen läßt sich dagegen auf archäologische Weise die Rolle Isaaks; denn die Überlieferungen der Genesis lassen es fraglich erscheinen, ob . Isaak und die Seinen der Schrift kundig waren, also sind keine schriftlichen Zeugnisse auszugraben. Da sie in Zelten wohnten, sind auch keine stummen Zeugnisse über sie von der Spatenforschung zu erwarten. Damit gelangt man in dieser Sage an den Punkt, wo sie sich nicht mehr historisch greifen läßt. Sie setzt Isaak als Ahnherrn der Leute voraus, die die Geschichte erzählen, er wird wohl einmal ein Häuptling dieses Verbandes gewesen sein. Daß ihm jemals zu Lebzeiten eine so heikle Begebenheit unterlaufen ist, wie die Sage voraussetzt, ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch im höchsten Maß unwahrscheinlich. Die Entstehung der Erzählung läßt sich besser aus den allgemeinen Stimmungen und Zuständen der Isaakleute als aus einem privaten Erlebnis Isaaks heraus erklären. Wer also nach einem historischen "Kern" sucht, findet ihn in dieser Sage nicht. Als dann die Isaakgruppe seßhaft wurde und, mit der Abrahamgruppe vereinigt, im Stamm Juda aufgegangen war, hat Isaak dem bekannteren Abraham weichen müssen. Zugleich hat der Sitz im Leben gewechselt. Aus den Kleinviehnomaden sind nun Bauern geworden, die in festen Dörfern zusammen wohnen. Nun wird unter den Gaben des Pharao auch Rindvieh erwähnt (A). Nach C wohnt Isaak in einem festen Haus; Saat und Ernte erweisen den Gottessegen. Noch später ist die Erzählung von profetischen Kreisen aufgenommen worden, wenigstens die Vorstufe von B. Es handelt sich hier um Leute, wie sie Elia und Elisa um sich hatten, etwa im 9. Jahrhundert; denn die düsteren Züge der späteren Schriftprofeten fehlen noch völlig. Dieser Sitz im Leben läßt Abraham zum Profeten werden, läßt ihn das Amt der Fürbitte üben. Nun geht es um die Fragen von Sünde und Reinheit, von Lüge und unwissentlichem Vergehen. Die Sage wird zu einer Profetenlegende (darüber unten). Zuletzt aber wird die Gefährdung der Ahnfrau zu einer Episode in einem größeren Schriftwerk. Damit aber stehen wir vor dem letzten Abschnitt. 18 19
Biblisdt-Historisches Handwörterbudt I, 1962, 547 f.; BRL 179 f. NoTH, ÜGP S. 170 f.
158
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
E. Redaktionsgeschichte Wozu die Mühe, den versmlungenen Fäden dieser Oberlieferung namzugehen? Einmal eröffnen sim wimtige Aufsmlüsse über Glauben und Leben der israelitismen Vorzeit. Zum anderen aber wird der Sinn der jetzigen Texte auf diesem Hintergrund in ungeahnter Weise durmsimtig. Namdem die überlieferungsgesmimte erhellt ist, läßt sim erst klären, worum es d,enQuellensmriften geht. Nun geht esnimtmehr um einen smlauen lsaak, der mit Gottes Hilfe alle Feinde übertölpelt, sondern jetzt um eine Etappe in Gottes großer Heilsgeschichte. Die Erzählung bleibt keine gesmlossene Gattung, sondern wird zu einem Baustein im größeren Ganzen. Längst smon hat die Forsmung festgestellt, daß das Bum der Genesis kein einbeidimer schriftstellerismer Entwurf ist, sondern auf drei oder vier parallellaufende Quellen zurückgeht, die den gleimen Zeitraum dargestellt haben und die jeweils in den Büchern Exodus und Numeri ihre Fortsetzung finden. Kap. 20 (B) gehört dem sogenannten Elo'histen zu, d. h. jener Quelle, die für die Zeit vor Mose nur die;: allgemeine Gottesbezeimnung elohim gebraumt. Die Wissensmaft benutzt abkürzend für ihn das Zeichen E. In unserem Kapitel sprimt dafür das Wort "Gott" in den Versen 3. 6. 11. 13. 17. Eine Ausnahme bildet nur V. 18, wo der Gottesname Jahwä benutzt wird, aber das deutlim in einem namhinkenden jüngeren Vers, einer erläuternden Glosse, die nimt dem Erstsmriftsteller zugehört. Elohistism ist in der Al:>rahamsgesmimte ebenso Kap. 21 und vielleimt Kap. 15 u. 22. Bezeimnend für diese Schirot ist, daß sie besondere sprachliche Eigenheiten zeigt, wie z. B. die Vokabel ill:lN •. für die Magd, wäh20 rend andere Quellen dafür ilJ;I~t; sagen • Zwar ist durmaus offen, ob der Elohist - von dem nur Spuren vorhanden sind - ein durmlaufendes Gesmimtswerk dargeboten hat und nimt vielmehr bloß eine Sammlung von Einzelerzählungen. Dom ist jedenfalls mit einem anderen Smriftsteller hier ZU remnen als in Kap. 12 u. 26. Daß es der dortige Smriftsteller gewesen sein sollte, der aum unsere Sage in dieser Form neben seinen eigengeprägten Stücken aufgenommen und eingebaut hat, ist deswegen unwahrsmeinlich, weil er dann die heikle Erzählung im ganzen dreimal und davon zweimal von Abraham berimtet hätte. Es ist aum nimt einzusehen, warum er in soldlern Fall den Stil des Absmnitts nimt seiner sonstigen Ausdrucksweise angepaßt hätte. Typism für unseren Smriftsteller Eist jene auffällig namholende Art der Erzählung, die nimt immer dem Lauf der Begebenheiten folgt, sondern ab und an zurückblendet; gleimes zeigt das elohistisme Kazo VT VIII, 1958,293-297 hat A.
jEPSEN allerdings gewichtige Argumente gegen die Verteilung der beiden Bezeichnungen auf verschiedene Quellen vorgebracht. - Für E bezeichnend ist auch, daß Gott sich im Traum dem Menschen mitteilt.
Redaktionsgeschichte
159
pitel 21. E liebt außerdem lange Reden (vgl. die elohistischen Abschnitte von Kap. 31 ). Da die elohistische Quelle nur in Bruchstü<:ken erhalten ist, hält es schwer, die leitenden Ideen dieses Mannes zu erheben. Immerhin ist an unserer Stelle durch die vielfache Ortsbestimmung21 am Anfang und durch den Hinweis in V. 13 "als Gott mich aus meinem Vaterhaus in die Ferne ziehen (wörtlich: in die Irre gehen) ließ" zu entnehmen, daß Abraham als Wanderer gezeichnet wird, und zwar als Wanderer profetischer Art. Deshalb hat er nicht einfach Angst vor dem fremden Land wie in der Grunderzählung, sondern konstatiert einen Mangel an Gottesfurcht, der bei Heiden vorauszusetzen ist. Sittlich ist er ohne Makel; er lügt nicht, Sara ist seine Schwester. Auf das Konto des Schriftstellers werden auch manche der oben hervorgehobenen "theologischen" Begriffe gehen. Aber sein Anteil ist schwer von der Stufe mündlicher Überlieferung, die er aus Profetenkreisen übernommen hat, abzuheben. Die Sage A gehört dagegen dem Werk des Ja h w ist e n zu. Es ist jener Schriftsteller, der in der Genesis ausschließlich, von der Schöpfung an, den Gottesnamen Jahwä gebraucht und für den sich das Sigel J eingebürgert hat22 . über den Jahwisten wissen wir erheblich besser Bescheid, weil sein Werk fast vollständig in den Tetrateuch aufgenommen wurde. Es reicht von den Anfängen der Welt und der Menschheit über die Väterzeit, den Auszug aus Kgypten samt der Wanderung durch die Wüste, bis hin zur "Landnahme" Israels in Palästina. Dabei kommt der Väterzeit ein besonderes Gewicht zu, weil sich in ihr das bis dahin unbegrenzte Verhältnis Jahwäs zu den Menschen überhaupt auf eine einzige Sippe und ein daraus entstehendes Volk konzentriert. Die Erwählung der menschlichen Gruppe geschieht durch den Auszugsbefehl an Abraham und vor allem durch die damit verbundene Segenszusage, die auf die Volkwerdung Israels, auf den Besitz des Gelobten Landes und auf eine Ausstrahlung des Segens über die anderen Völker sich erstre<:kt. So formuliert es zum erstenmal Gen. 12, 1-3. 7, die eigentliche Kernstelle des jahwistischen Buches; denn alles Geschehen, das bis zur Landnahme Israels nachfolgt, wird im Licht dieser Gottesrede verstanden. Es geht darum, wie der Segen aus dem Wort zur Tat wird. Das geschieht nicht schnell und einlinig, sondern in einer überaus verwi<:kelten Geschichte, in der die Verwirklichung der Segenszusage immer wieder gefährdet erscheint; einerseits durch 11
11
Dem Elohisten sind offenbar die Örtlichkeiten im südlichen Palästina nicht vertraut, sonst könnte er das bei Gaza liegende Gerar nicht zwischen Kadesch und Sur, zwei Orten auf der Sinai-Halbinsel, suchen (anders SPEISER z. St.). Vielleicht verwechselt er auch den Ort mit einem gleichnamigen auf jener Halbinsel, der im heutigen dscherur bei 'en qdes (Kadesch) weiterlebt. Aus solchen und ähnlichen Anzeichen hat man geschlossen, daß der Elohist in No r d i s r a e 1 und nicht in Juda beheimatet war. Dafür spricht auch der sonstige Sprachgebrauch. So ist z. B. das Wort ,:J:J in Verbindung mit Plagen - hier mit einer Hungersnot - eine jahwistische Eigentümlichkeit 43, 1; 47, 4. 13; Ex. 9, 3.
160
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
den Segensträger selbst, andererseits durch dessen menschliche Widersacher. Von diesem Leitgedanken her erhält die Gefährdung der Ahnfrau einen neuen Sinn23• Denn Saraj ist Abrams einzige legitime Ehefrau, nur von ihr kann der erwartete "Samen" kommen. Gerät Saraj in den Harem eines ausländischen Potentaten, ist Abrams Hoffnung zerstört und die göttliche Verheißung hinfällig. Es ist für den Jahwisten zweifellos wichtig, daß Abram, "als sie nahe an Kgypten kamen", den göttlichen Segen, der über ihm steht, offenbar vergessen hat. Wie könnte er sich sonst fürchten, getötet zu werden, und andererseits selbst darum Sorge tragen, "daß es mir um deinetwillen wohl gehe"? Jahwä verhält sich ganz anders als der Mensch! Obwohl Abram ihn vergessen hat, greift er ein und schlägt das Haus des Pharao "wegen Saraj, der Frau Abrams", also um der Vermittlung des Segens willen. Man sieht, wie die schwankhafte Stimmung der einstigen Sage "völlig ausgeblasen" ist (v. RAo). Aus der Sage wird ein Stück Geschich tserzähl ung! Um die bis dahin frei umlaufende Einzelsage an dieser Stelle in den Zusammenhang der Abrahamszeit einzubauen, sind s c h r i ft s t e 11 erische Klammern nötig. Der Anfang des Kapitels zeigte Abram auf dem Weg vom Zweistromland nach Sichern und Bethel, also nach Mittelpalästina. Alter Ausgangspunkt von A auf der mündlichen Stufe aJ;>er war der Negeb, also der südlichste Teil Palästinas. Deshalb wird die Entfernung vom Jahwisten überbrückt mit dem Satz: "Da brach Abram auf und zog in mehreren Tagesstationen in den Negeb." Ebenso muß am Schluß der Anschluß zur weiteren in Mittelpalästina spielenden Abrahamüberlieferung gefunden werden. Also setzt ] zunächst hinzu: "So zog Abram aus Kgypten herauf, er und seine Frau und alles, was mit ihm war, und Lot war (ebenfalls) bei ihm, nach dem Negeb." Damit ist zunächst die Ausgangsstation der alten Oberlieferung wieder erreicht, zugleich erneut Lot eingeführt, der-nach den voraufgegangenen jahwistischen Abschnitten ständig mit Abram wandert und dessen Name für die folgende Oberlieferung (13, 7 ff.) wichtig ist. Dann heißt es weiter (13, 2-5), daß Abram und Lot an Herden reich wurden und eines Tages wieder nach Bethel gelangten. Auf solche Weise wird die folgende Auseinandersetzung zwischen Lot und Abram bestens vorbereitet. Man sieht an dieser Stelle besonders schön, wie der Jahwist sein Werk komponiert und auf 23
=
H. W. WoLFF: Das Kerygma des Jahwisten, EvTh 24, 1964, 73-98 Ges. Studien z. AT, ThB 22, 1964, 345-373. Diese Sinndeutung triffi auch dann zu, wenn die vorangehenden Verse 12, 1-8 nicht vom Schriftsteller von A, also dem Jahwisten, stammen, sondern aus einer älteren Laienquelle (L). So hat es (im Anschluß an GuNKEL) ErssFELDT: Hexateuch-Synopse 1922 vermutet. Auch dann wird eine vorhergehende Segenszusage vorausgesetzt. Ob freilich das Argument für eine solche Quellenscheidung innerhalb von Kapitel 12, nämlich der Eindruck, daß es sich in V. 10 ff. um einen "störenden Exkurs" zwischen dem Aufenthalt in Bethel 12, 8 und 13, 2 handelt, nicht die sammelnde und kombinierende Arbeitsweise von J verkennt?
Redaktionsgeschichte
161
welche Weise es ihm gelingt, durch erläuternde Zusätze die ehemaligen Einheiten ihrer Selbständigkeit zu entkleiden und sie in seine große Rahmengattung einzubauen24• Auch Kap. 26macht einen jahwistischen Eindruck ausweislich der Gottesnamen V. 2. 12. Schwierig wird die Einordnung in diese Quelle freilich dadurch, daß J in 25, 22 ff. schon die Geburt der Kinder Isaaks und Rebekkas, nämlich Esaus und Jakobs, erzählt hatte, hier aber offensichtlich das Elternpaar noch kinderlos ist. Das läßt sich entweder dadurch lösen, daß man mit EISSFELDT25 eine zweite jahwistisc..~e Quelle annimmt, die sogenannte Laienquelle (L), und dort 26, 1 unmittelbar auf 25, 11 "es geschah aber nach dem Tode Abrahams, da segnete Gott (?) den Isaak, seinen Sohn, der (damals) bei dem Brunnen Lahaij-roi wohnte" folgen sieht. Oder aber man nimmt an, daß die Reihenfolge in J ursprünglich 25, 11 - 26 - 25, 22 ff. verlief26 und erst die Endredaktion der Genesis aus noch ungeklärten Gründen die jetzige Reihenfolge hergestellt hat. In beiden Fällen ist vorauszusetzen, daß der Schriftsteller die Sage von der Gefährdung der Ahnfrau Rebekka schon in Verbindung mit anderen Isaak-Oberlieferungen vorgefunden hat (26, 15 ff.), die gattungsmäßig anscheinend noch nicht so fest geprägt waren wie die anderen Oberlieferungen und deshalb einem größeren Komplex eher eingegliedert werden konnten. Wer das Kapitel 26 liest, hat den Eindruck eines Mosaiks. Um den lsaak-Kranz fester zu bündeln und unter einen durchgängigen Leitgedanken zu stellen, hat der Schriftsteller am Anfang von Kap. 26 eine Gottesoffenbarung vorausgesetzt und also eingesetzt. Zugleich wiederholt er die Segenszusage, die vordem Abraham erhalten hatte. Auf der Stufe mündlicher Oberlieferung wird die Sage einfach damit begonnen haben, daß lsaak wegen der Hungersnot auf göttlichen Befehl nach Gerar wanderte; eines Hinweises auf den Segen bedurfte es nicht. Von dem neuen Gesichtspunkt aus ist auch der Schluß der Ahnfrau-Episode umgestaltet und zum Hinweis auf verwirklichten göttlichen Segen geworden (V. 12-14). Der Gedanke des Schriftstellers in A, daß der Empfänger des Segens eigentlich sein größter Feind ist, weil Abram leichtsinnig die göttliche Zusage, kaum hat er sie erhalten, schon aufs Spiel setzt, tritt an dieser Stelle (C) nicht beherrschend hervor. Statt dessen geht es um das ProNoTH, ÜGP 40-44 hat die These aufgestellt, daß J wie E auf eine gemeinsame, entweder schriftlich oder mündlich sehr festgeprägte Grundlage (G) zurückgehen. Dann wäre aber wohl damit zu rechnen, daß G sich an verschiedenen Orten verschieden weitergebildet hat und E nicht im gleichen Wortlaut vorlag wie J. Jedenfalls erscheint es in unserm Beispiel schwierig, die großen Abweichungen zwischen A und B allein dem bewußten Eingriff der beiden Schriftsteller zuzuschreiben. 15 In der obengenannten Hexateuch-Synopse. " So schon WELLHAUSEN, Compositiona S. 28, zuletzt SIMPSON: The Early Traditions of Israel, 1948 S. 91 ff.
!4
162
§ 10 Die Gefährdung der Ahnfrau
blem der Sukzession des Segens. Der Segen läuft nach Meinung des J (oder L) nicht einfach durch die Erbfolge weiter, wie es die alte Zeit gemeint hat, sondern Segen muß jeder Generation neu zugesprochen werden. Dadurch wird er aufs neue kräftig (12-14). Um dies klarwerden zu lassen, wird die in der Isaak-Rezension schon ziemlich blaß gewordene Sage von der Gefährdung der Ahnfrau aufgenommen. Sie wird auf diesem Hintergrund zur Geschichte einer "beispielhaften Bewahrung" (v. RAD) auf dem Weg zur Volkwerdung Israels. · Auch hier ist die verflechtende Arbeitsweise des Schriftstellers deutlich. Sie zeigt sich vor allem am Anfang, einmal in dem Hinweis auf die frühere Hungersnot zu Abrahams· Zeiten; dann in der Deklarierung Abimelechs zum König der Philister, was gleichzeitig einen Hinweis auf die spätere Geschichte bedeutet, in der die Philister zu Erbfeinden Israels werden. Im übrigen ist der Segensspruch V. 3-4 Verflechtung genug27 • Wie wenig die Redaktionsgeschichte mit der Niederschrift im jahwistischen oder elohistischen Werk endet, zeigen die Zusätze, die die Abschnitte durch spätere deuteronomistische Überarbeitung (26, 5), im Samaritanus (12, 20) und in der LXX erhalten haben; noch deutlicher die Umgestaltungen im Jubiläenbuch und im GenesisApokryphon. An die letzten Stufen schließt sich dann eine lange Auslegungsgeschichte an (s.o.§ 9 C).
17
Die Umwandlung durch Leben wüßten.
J und E wäre deutlicher, wenn wir beider Sitz im
163
§ 11 SAUL UND DAVID IN DER WüSTE (1. Sm. 23 f. und 26) H. GRESSMANN SAT li, 1 1 1910, 2 1921 z. St.- H. J. STOEBE: Gedanken zur Heldensage in den Samuelbüchern, FS L. Rost: Das ferne und das nahe Wort, 1967, 208-218. Zum Erzählungsstil: A. ScHULZ: Erzählkunst in den Samuel-Büchern, Bibi. Zeitfragen XI 6/7, 1923.
Die Erzählung, wie der König Saul und sein entflohener Heerführer in der Wüste Juda zusammentreffen, ist zweimal überliefert. A (1. Sm. 23, 14 ff.; 24) 14 David setzte sich in der Wüste in unzugänglichen Felsenhöhen fest, er setzte sich auf dem Gebirge in der Wüste Sif fest. Saul suchte ihn die ganze Zeit; aber Gott gab ihn nicht in seine Hand. 15 David merkte, daß Saul ausgezogen war, ihm nach dem Leben zu trachten; deshalb hielt David sich in der Wüste Sif, in Chorescha, auf. 16 Da machte sich Jonathan, der Sohn Sauls, auf und ging zu David nach Chorescha und stärkte ihn, indem er ihn auf Gott wies (?). 17 Und er sprach zu ihm: "Fürchte dich nicht; denn die Hand meines Vaters Saul wird dich nicht erreichen; sondern du wirst König werden über Israel, und ich werde der zweite nach dir sein. Auch mein Vater Saul weiß das wohl." 18 Dann schlossen die beiden einen Bund vor Jahwä miteinander. Danach blieb David in Chorescha, Jonathan aber ging nach Hause. 19 Es stiegen Sifiter hinauf zu Saul nach Gibea und meldeten: "David hält sich bei uns verborgen auf den Felsenhöhen von Chorescha, auf dem Hügel Hachila südlich von der Einöde. 20 Nun denn, wenn es dir beliebt, o König, komm herab. An uns wird es (dann) sein, ihn dem König auszuliefern." 21 Da antwortete Saul: "Seid gesegnet von Jahwä, daß ihr euch meiner erbarmt habt! 22 Geht denn hin und gebt weiter acht, forscht und seht, an welchem Ort sein ,flüchtiger' (?) Fuß sich aufhält, denn man hat mir gesagt, daß er sehr schlau ist. 23 Seht und forscht nach
B (1. Sm. 26)
1 Es kamen die Sifiterzu Saul nach Gibea und meldeten: "Wisse, David hält sich verborgen auf dem Hügel Hachila vor der Einöde."
164
§ 11 Saul und David in der Wüste
B A allen Schlupfwinkeln, wo er sich versteckt, und kehrt zu mir zurück zum bestimmten Ort (?), damit ich mit euch ziehe. Ist er im Land, so will ich ihn aufspüren unter all den Tausenden Judas." 24 Da machten sie sich auf 2 Da machte Saul und gingen Saul voran nach Sif. David aber sich auf und zog und seine Mannen waren in der Wüste Maon, nach der Wüste Sif. in der Steppe südlich von der Einöde. 25 Als Saul mit seinen Mannen heranzog, ihn zu suchen, hinterbrachte man (es) David, und er zog zum Felsen hinab, ,der' in der Wüste Maon liegt. Saul hörte davon und jagte David nach in die Wüste Maon. 26 Saul bewegte sich (schließlich) auf der einen Seite des Berges, David und seine Mannen auf der anderen. Es geschah aber (~i!~l), während David davonhastete, Saul zu ~ntfliehen, und Saul und seine Mannen David und die Seinen umzingelten, 27 kam auf einmal ein Bote zu Saul mit der Meldung: "Komm eilends; denn die Philister sind plündernd in das Land eingefallen." 28 Da stand Saul von der Verfolgung Davids ab und marschierte gegen die Philister. Daher nennt man jenen Ort "Fels des Entschlüpfens (?)". 24, 1 David aber zog von dort herauf und weilte auf den Felsenhöhen von Engedi. 2 Es geschah aber, als ('1~~~ ~ry~l) Saul von der Verfolgung der Philister zurückgekehrt war, meldete man ihm: "Siehe, David ist in Und mit ihm 3000 der Wüste von Engedi." 3 Da hob Saul 3000 auserlesene Manauserlesene Mannen aus ganz Israel nen aus Israel, aus und zog hin, um Da v i d und seine Man- um Da vid zu sunen zu suchen östlich von dem Steinbock- chen in der Wüste felsen. Sif. 4 So kam er zu den 3 Saul lagerte sich auf dem Hügel Hachila, Schafhürden a m Weg. der östlich von der Einöde a m Weg liegt. Dort war eine Höhle, Da vid a her weilte in der Wüste. Als David und Saul ging hinein, nun sah, daß Saul ihm in die Wüste nachgeseineNotdurft zu ver- kommen war, 4 sandte er Kundschafter aus richten. Da vid aber und erfuhr, daß Saul zum bestimmten und seine Leute w e i 1- Ort(?) gekommen war. 5 Da machte sich Daten hinten in der vid auf und kam an den Platz, wo SaullagerHöhle. te. Als David den Platz sah, wo Saul mit sei-
165
Obersetzung
24
5 Da sprachen die
Leute Da v i d s zu ihm: "Das ist der Tag, von dem Jahwä dir gesagt hat: Siehe, ich will deine Feinde in deine Hand geben; du magst mit ihm machen, was dir gefällt." 7 Aber er sprach zu seinen Mannen: "Da sei Gott vor! Nie werde ich meinem Gebieter, dem Gesalbten Jahwäs, das antun, daß ich Hand an ihn lege; denn er ist der Gesalbte Jahwäs." 8a Danach schalt David seine Leute und duldete nicht, daß sie · sich wider Saul erhoben. Sb David stand auf und schnitt heimlich den Zipfel von Sauls Mantel ab. 6 Es geschah danach, daß David das Gewissen schlug, weil er Sauls Zipfel abgeschnitten hatte.
26 nem Feldhauptmann Abner, dem Sohn Ners, sich niedergelegt hatte - Saul lag nämlich in einem Lagerrund und das Kriegsvolk rings um ihn -, 6 da hob David an und sprach zu dem Hethiter Ahimelech und zu Abisai, dem Sohn der Zeruja, dem Bruder Joabs: "Wer kommt mit mir hinab zu Saul ins Lager?" Abisai antwortete: "Ich komme mit dir hinab." 7 So kamen David und Abisai nachts zum Kriegsvolk (?). Siehe, da lag Saul schlafend im Lagerrund, und sein Speer stak in der Erde zu seinen Häupten, Abner aber und das Kriegsvolk lagen rings um ihn herum. 8 Da sprach Abisai zu David: "Gott hat deinen Feind heute in deine Hand gegeben. So will ich ihn an den Boden spießen mit einem Stoß; ein zweiter wird nicht nötig sein."
9 David erwiderte Abisai: "Bringe ihn nicht um! Denn wer legte Hand an den Gesalbten Jahwäs und bliebe ungestraft?" 10 Und David sprach: "So wahr Jahwä lebt! Jahwä wird ihn vielmehr schlagen, oder es kommt sein Tag des Sterbens, oder er zieht in den Krieg und wird weggerafft. 11 Da sei Gott vor, daß ich Hand an den Gesalbten Jahwäs lege! Nun denn, nimm den Speerzu seinen Häupten und den Wasserkrug und laß uns gehn." 12 Da nahm David den Speer und den Wasserkrug zu Häupten Sauls, und sie gingen weg. Niemand sah und merkte es, keiner erwachte; denn sie schliefen alle fest, weil einen Tiefschlaf Jahwä auf sie hatte fallen lassen.
166
§ 11 Saul und David in der Wüste
A Sb Saul aber hatte die Höhle verlassen und war seines Wegs gegangen. 9Danach machte David sich auf, ging heraus aus der Höhle und rief hinter Saul her:
"Mein Herr und König!" Da schaute Saul zurück, und David neigte sein Angesicht ehrfurchtsvoll zur Erde. 10 David sprach zu Saul:" Warumhörst du auf das Gerede der Leute, die da sagen: Siehe, David sinnt auf dein Verderben?
B
13 David ging auf die andere Seite (des Tales) und stellte sich fernab auf den Gipfel des Berges, so daß der Raum zwischen ihnen groß war. 14 Dann rief David dem Kriegsvolk zu und Abner, dem Sohn Ners: "Gibst du keine Antwort, Abner?" Abner antwortete: "Wer bist du, der du den König (?) rufst?" 15 David erwiderte: "Du bist noch ein Mann, und deinesgleichen gibt es nicht in Israel! Warum hast du deinen Herrn, den König, nicht behütet? Denn es ist einer von den Leuten eingedrungen, den König, deinen Herrn, umzubringen. 16 Es ist nicht recht, wie du dich verhalten hast. So wahr Jahwä lebt, ihr seid des Todes, weil ihr euren Herrn, den Gesalbten Jahwäs, nicht behütet habt! Nun denn, sieh nach, wo der Speer des Königs und der Wasserkrug zu seinen Häupten ist." 17 Da erkannte Saul die Stimme Davids und sprach: "Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David?" David erwiderte: "Es ist meine Stimme, mein Herr und König." 18 und sprach weiter:" Warum verfolgt mein Herr seinen Knecht? Was habe ich denn getan, und was ist Böses an meiner Hand ? 19 Nun denn, es höre doch mein Herr und König die Worte seines Knechtes. Hat Jahwä dich wider mich gereizt, so mag er Gabeopfer riechen! Taten es Menschen - verflucht seien sie vor Jahwä, weil sie mich heute verstoßen, daß ich am Erbland Jahwäs nicht teilhabe, indem sie denken: Geh, diene andern Göttern! 20 Nun denn, so falle mein Blut nicht zur Erde fern vom Angesicht J ahwäs, wenn der König I sraels auszieht, auf einen einzigen Floh (so) Jagd zu machen, wie ,man' Rebhühner jagt auf den Bergen." 21 Saul antwortete: "Ich habe gefehlt. Komm zurück, mein Sohn David, ich werde dir kein Leid mehr tun, weil mein Leben dir heute teuer gewesen ist. Ja, ich
Obersetzung
24 11 Siehe, an diesem Tag hast du doch mit eigenen Augen gesehen, daß dich Ja h w ä heute in meine Hand gegeben hatte in der Höhle. Man (?) forderte dazu auf, dich zu töten, doch ,ich' schonte dein; denn ich dachte, ich will nicht Hand legen an meinen Gebieter, weil er der Gesalbte Jahwäs ist. 12 Mein Vater, sieh, sieh doch den Zipfel deines Mantels in meiner Hand. Daran, daß ich den Zipfel des Mantels abschnitt, dich aber nicht tötete, erkenne und sieh, daß meine Hand rein ist von Bosheit und Verrat und daß ich an dir nicht gesündigt habe. Du aber stellst mir nach dem Leben. 13 Jahwä richte zwischen mir und dir, Jahwä wird mich an dir rächen, meine Hand soll nicht wider dich sein. 14 Wie der Spruch der Altvorderen sagt: VomFrevler wird Frevel ausgehen, aber meine Hand wird nicht gegen dich sein. 15 Gegen wen ist ausgezogen der König Israels? Auf wen machst du Jagd? Auf einen toten Hund! Einen einzigen Floh! 16 So sei Jahwä Richter, er wird zwischen dir und mir entscheiden, er sehe darein und führe meine Sache und schaffe mir Recht gegen dich!" 17 Es geschah, als (f ~~~1) David diese Worte zu Saul gesprochen hatte, sprach Saul: "Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David?" Und Saul hob laut an zu weinen 18 und sprach zu Da v i d: "Du bist geremt - ich nicht; denn du hast mir Gutes getan, ich aber habe dir Böses getan. 19 Du hast heute kundgetan, wie freundlim du an mir handeltest, indem (?) Jahwä mich in deine Hände beschloß und du mich nicht getötet hast. 20 Wenn einer seinen Feind antrifft, läßt er ihn dann friedlich seiner Wege ziehn? Jahwä wende dir das Gute zum Heil, was du heute an mir getan hast! 21 Nun denn, ich weiß wohl, daß du König wirst und daß das Königtum über Israel in deiner Hand Bestand haben wird. 22 Nun denn, schwöre mir bei
167 26 habe töricht gehandelt und mich schwer verirrt." 22 David antwortete: "Hier ist der Speer des Königs, es komme einer von den Leuten herüber und hole ihn. 23 Jahwä läßt auf jeden zurückfallen sein gemeinschaftsgemäßes Verhalten und· seine Treue. Fürwapr, J ahwä hatte dich heute in ,meine' Hand gegeben; aber ich will nicht Hand an den Gesalbten Ja h w ä s legen. 24 Siehe, wie heute dein Leben mir wert gewesen ist, so möge mein Leben Jahwä wert seinundermögemim aus aller Not erretten!" 25 Da sprach Saul zuDavid: "Gesegnet seist du, mein Sohn David! Gewiß wirst du es vollbringen und ob.. siegen."
168
§ 11 Saul und David in der Wüste
A Jahwä, daß du meine Nachkommen nach meinem Tod nicht ausrotten und meinen Namen aus meinem Haus nicht austilgen wirst." 23 Und David schwur Saul. Dann zog Saul heim, David aber und seine Leute stiegen auf die Bergfeste.
B Darauf ging David seines Wegs, Saul aber kehrte zurück an seinen Ort.
A. Abgrenzung der Einheit
Die ErzählungAistim vorangehenden Abschnitt über Davids Kampf um Kegila durch nichts vorbereitet, auch die nachfolgende Erzählung über Nahals Torheit (Kap. 25) hat mit 23, 14-24, 23 nichts zu tun. A könnte also im Buchzusammenhang fehlen, ohne daß eine spürbare Lücke entstünde. Ist der Abschnitt in sich abgerundet, so daß auf eine ursprüngliche sprachliche Einheit geschlossen werden kann? Der Anfang ist nicht ausgesprochen typisch als Beginn hebräischer Erzählungen. Es mangelt an einem geprägten Eingang. Doch in V. 14 wird alles für einen Hörer der frühen Königszeit Wissenswerte angegeben: genaue Örtlichkeiten, die Person Davids und der Umstand, daß Saul ihn verfolgt; daß Feindschaft zwischen diesen beiden Personen besteht, wird als bekannt vorausgesetzt1• Wenn ein stilgerechter Eingangssatz fehlt, so mag das darauf zurückgehen, daß der (spätere) Schriftsteller hier tiefer eingegriffen hat als normalerweise in der Genesis. Wenn jetzt zweimal im seihen Vers steht "er setzte sich fest", so wirkt das ungeschickt und ist am ehesten aus dem Bestreben zu erklären, einen ehedem selbständigen Anfang mit dem Kontext zu verklammern. Für einstige Selbständigkeit spricht jedenfalls der volltönende Abschluß mit dem Höhepunkt einer Rede, die alle Verwicklungen löst, und einem Ausklang mit einer Doppel-Heimkehr: die beiden Antagonisten kehren je an ihren Ort zurück1" . - In ihrem Gefüge ist die Erzählung klar aufgebaut und in sich geschlossen. Die Szenen beginnen entweder mit Verben der Bewegung, denen eine Rede folgt, z. B. "es stiegen einige Sifiter herauf ... und meldeten" 23, 19; 24, 9. Solche Anfänge gab es auch bei der Gefährdung der Ahnfrau (Gen. 20, 1. 8). Oder es finden sich mehrere Verben der Bewegung, denen ein Nominalsatz nachfolgt 23, 24; 24, 42 • Eine andere Möglich1
1"
1
Die Entstehung der Feindsdtaft witd vielleimt ursprünglidt anders vorgestellt als im jetzigen übergreifenden Zusammenhang; denn wenn Sau! 23,22 darauf verweist, daß andere ihm gesagt haben, David sei sehr listenreidt, so setzt das offenbar keinen lang andauernden Aufenthalt Davids am Hof Sauls voraus (so jetzt Kap. 16 ff.), sonst würde Sau! p er s ö n Ii c h seinen Charakter gut genug kennen. Ebenso Num. 24, 25 u. ö.; SEELIGMANN, ThZ 18, 1962, 307-309. Zu soldten Nominalsätzen als Situationsangaben vor Wendepunkten der Erzählungs. HEMPEL: Literatur 84.
Gattung: Heldensage
169
keit ist es, das schon aus der Genesis bekannte "es geschah aber" ( \;:t~1) als Szenenanfang zu verwenden 23, 26; 24, 2. 6. 17. In B ist ebenfalls die Verknüpfung der Erzählung im jetzigen Zusammenhang nach vorn- zu Nahals Torheit- und nach hintenzu Davids Flucht zum Philisterkönig - äußerst lose. Der Anfang ist eigentlich noch unbefriedigender als in A. Da aber das Ende stilgemäß ist mit klärender Rede, Gegenrede und Doppel-Heimkehr, wird der für eine selbständige Erzählung ungeeignete Anfang vom Schriftsteller herrühren, der wegen des jetzigen Zusammenhangs die alte Exposition gestrichen hat. Sie wird wie in A von Davids Aufenthalt in der Wüste berichtet haben. Für eineursprüngliche Einheit der Erzählung spricht die fortschreitende, von der Verwicklung am Anfang bis zum Ende führende Kette der Szenen. Sind die Szenen auch umfangreicher als in A, so sind sie doch ebenso gegliedert; wiederum haben wir als Einsatz Bewegungsverbum mit anschließender Rede 26, 1 oder mehrere Bewegungsverben mit nachfolgendem Nominalsatz, der die erreichte Situation für einen Augenblick festhält 26, 2. 5. 13. Demnach ist anzunehmen, daß A wieBeinmal unabhängig voneinander und vom jetzigen Textzusammenhang umgelaufen sind, zweifellos als münd 1ich e Überlieferungen.
B. Gattungsbestimmung und Sitz im Leben: Heldensage Die beiden Erzählungen gehören ohne Frage der gleichen Gattung zu. Die Formähnlichkeiten mit der Gefährdung der Ahnfrau sind so augenfällig, daß wiederum die Zuweisung zu einer Sagengattung sich nahelegt, wenngleich gewiß nicht zur ethnologischen. Jedenfalls handelt es sich auch hier nicht um Geschichtsschreibung: chronologische Daten fehlen, und für den Verlauf der großen Geschichte ist das hier wiedergegebene Geschehen vergleichsweise uninteressant. Dennoch besteht eine gewisse Nähe zur Geschichtsschreibung, weil die Figuren der Erzählung - Saul und David - bekanntermaßen eine historische Rolle gespielt haben. Aber deren Verflechtung in die politische, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Konstellation der damaligen Zeit, die ihren historischen Rang allererst ausmacht, bleibt für die Erzählung auf ihrer mündlichen Stufe außer Betracht. Das Interesse konzentriert sich auf die beiden Männer in ihrer kriegerischen Begegnung, auf sie allein und ihre stark überhöhten Charaktere: auf den kühnen, edelmütigen, gottvertrauenden David und auf den vom Mißerfolg gezeichneten, aber gegen sein Schicksal verbissen anrennenden Saul. Das weist auf die Gattung der Heldensage, wie sie ähnlich aus dem germanischen Bereich bekannt ist - paßte eine Gestalt wie Saul nicht in eine Sage der Völkerwanderungszeit ohne weiteres hin-
170
§ 11 Saul und David in derWüste
ein?S Der Gattung entspricht die scharfe Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere, und das nicht nur bei den Hauptpersonen. Die Sifiter erscheinen als notorische Verräter; Sauls Mannen als wenig wachsam, ja als schläfrig. Sagenhaft sind auch die Überhöhungen, der "Zauberschlaf" von 26, 12 oder das Aufgebot von 3000 Mann, das für eine Wüstenexpedition viel zu groß ist. Der Heldensage eigen ist das Interesse an genauer örtlicher Festlegung4 • Nicht überall kann die Tat des Helden geschehen; eine bestimmte Landschaft gehört zu ihr hinzu. Hier die Wüste. Der Bezug zur Örtlichkeit ist so stark, daß 23, 28 eine Namenserklärung eingebaut wird. Der Fels des Entschlüpfens hält den großen Augenblick sozusagen für immer fest. Solche "etymologischen" Notizen sind häufig schon in die Genesissagen eingestreut (Gen. 2, 23; 11, 9 u. ö.), sie halten einer wissenschaftlichen Nachprüfung in der Regel nicht stand5• Die hebräische Wendung l'11i'?~~tl V?9 bedeutet bei genauerem Zusehen "Fels der Glätte", ein Name, der von einer auffällig glatten Oberfläche herrühren wird. Die Erzählung deutet ihn auf "glattes Entschlüpfen", sie will damit den Bezug zur Geländeformation gewiß nicht leugnen, aber sie vermag es als Sage, mit dem Lautanklang und der Wortbedeutung zu spielen. Sehen auch solche Heldensagen die Welt noch als Familienzusammenhang, wie es bei der Gefährdung der Ahnfrau offensichtlich war? Leider fehlen für die Samuelsagen genauere Untersuchungen. So sind hier nur einige Randbemerkungen möglich. Zwar ist wohl nicht zufällig Abisai der mutige Begleiter Davids, der als Sohn der Zeruja zugleich sein Vetter ist. Aber darauf wird nicht ausdrücklich verwiesen. Eher ist der Stammeszusammenhang dominierend und der völkische Gesichtspunkt. Saul will David unter den "Tausendschaften" Judas au.fspüren 23, 23; aber die Zusammengehörigkeit des Stammes Juda ist nicht selbstverständlich, denn auch die verräterischen Sifiter gehören zu Juda. Wichtiger mag der Zusammenhang von Mensch und Heimat sein. David sucht im Gebiet seines Stammes Schlupfwinkel; er möchte in der Auseinandersetzung mit Saul alles auf sich nehmen, nur nicht das Verlassen des Gelobten Landes und seines Erbbesitzes. Dazu tritt die völkische Betrachtung, die Feindschaft gegen die Philister 23, 27 f., die keiner Begründung bedarf. In Schon bei den Brüdern GRIMM wird die Heldensage von der üblichen Volkssage unterschieden. Die Erforschung der Gattung Heldensage im europäischen Sprachraum ist deswegen schwierig und für den Vergleich mit dem Alten Testament wenig nützlich, weil wir germanische Heldensagen z. B. nur noch in der verwandelten Form von Heldendichtungen oder deren modernen Nacherzählungen, nicht aber in ihrer ursprünglichen Prosafassung kennen. RöHRICH (s. u. zu§ 12) S. 668 A. 14a. ' GRESSMANN sieht freilich in den umständlichen Ortsbestimmungen in 26, 3 und 26, 13 Varianten und reduziert die Fülle der Lokalangaben. 5 Gegenstück in der deutschen Sage z. B.: Odenwald als "o du Wald", RöHRICH S. 677. 3
Sitz im Leben
171
diesen Zusammenhang gehört auch die hohe Einschätzung des Gesalbten, der von Jahwä über Israel gesetzt und deshalb unbedingt zu achten ist. Aber am stärksten dominiert doch wohl der Gedanke der Männertreue; wie Jonathan sich durch einen Bund David unbedingt verpflichtet hat, sind David und die ihm nachfolgenden Mannen eine unbedingte Einheit. 1\hnliches gilt für die Gegenseite; Abner steht mit seinem Leben für Saul ein, sollte es jedenfalls tun. Aber auch das Verhältnis Saul/David scheint von solchen Gesichtspunkten des Männerbundes bestimmt zu sein. Man vergleiche die gegenseitige Anrede als Vater und Sohn! Die Gattung Heldensage ist gegenüber den Genesissagen vergleichsweise jung. Sie taucht erst mit den Überlieferungen der Richterzeit auf (Ri. 3, 14-26 ist vielleicht das älteste Beispiel). Sie ist von Anfang an in der jüngeren Erzählweise, dem ausgeführten Stil, abgefaßt. Manches, was der ethnologischen Sage von der Gefährdung der Ahnfrau deutlich erst nachträglich zugewachsen ist, ist der Heldensage von Haus aus eigen; so die langen Reden oder die nachholende Rückb 1ende als erzählerisches Mittel, die dort nur in Genesis 20 auftauchte. Hier dagegen wird 24, 5 zur Nachholung berichtet, daß David ein Gotteswort empfangen hat, das den Sieg verhieß; 26, 1 erfährt Saul erst durch den Mund der Sifiter, wo David sich aufhält; 26, 5 wird nachgetragen, daß Sauls Lager in der Art eines Lagerrunds ("Wagenburg") angelegt ist. Der ausgeführte Stil ist so breit gehalten, daß in den Reden bisweilen wiederholt wird, was die Erzählung schon vorher brachte (23, 15. 19; 24, 1 f. 5 u. 7 vgl. mit 11 f; 26, 11. 15 f). Wichtige Reden sind überdies durch ein wiederhohes "und er sprach" gestaffelt 26, 10. 18; 24, 9 f. 17 f. vgl. Gen. 20, 10.
Wie kommt es, daß die Heldensage offenbar erst einige Zeit nach Landnahme und Seßhaftwerdung entstanden ist? Was ist ihr Sitz im Leben ? Offenbar wird eine solche Gattung von einer Gruppe getragen, für die der Krieg keine seltene Ausnahmeerscheinung, sondern eine Möglichkeit ist, mit der man ständig rechnet. Bei vielen Daviderzählungen ist die kriegerische Luft so selbstverständlich, daß sie auf Männer zurückzuführen sind, die Kampf und Schlacht gewohnt sind, also auf die Krieger im Dienst des Königs. Abends am Lagerfeuer oder in der Garnison nach Dienstschluß mögen sie solche Begebenheiten erzählt und damit ihren Feldherrn verherrlicht haben. Offenbar sind es Leute, die das Gelände in der Wüste Juda genau kennen, selbst durchstreift haben und mit den Ortsangaben6 genaue Vorstellungen verbinden. Dennoch ist der Sitz im Leben von der Zeit, über die erzählt wird, schon ein beträchtliches Stück entfernt. Durch A und B weht eine Atmosphäre, wie sie erst denkbar ist, nachdem David sein Königtum befestigt und seine Residenz in Jerusalem mit orientalischem Zeremoniell eingerichtet hat. Schon der Anfang, daß die Sifiter nach 8
Auf der Karte 1 : 100 000 Palestine Sheet 12 Hebron sind südöstlich Hebron die drei Plätze angegeben, die in der Erzählung eine Rolle spielen. Im Abstand von ca. 4 km liegen von Nord nach Süd Kh. Zif = Sif, Kh. Khureisa = Chorescha und Kh. Ma'in = Maon. Sie liegen auf der Wasserscheide, die den Übergang vorn bebaubaren Land zur Wüste Juda markiert.
172
§ 11 Saul und David in der Wüste
Gibea kommen und dort selbstverständlich Saul antreffen, paßt wenig zu der Unstetheit Sauls und den ständigen Kriegszügen, die er zu führen hatte. "Den geschichtlichen Saul traf man zu Hause nicht sicherer als einen vielbeschäftigten Arzt von heute in seiner Privatwohnung", formuliert CASPARI (KAT z. St. über die zu seiner Zeit übliche ärztliche Praxis). Die gemessene Art, mit der die Sifiter ihren König vor allem in 23, 19 ff. anreden, ist gewiß dem Jerusalemer Zeremoniell abgeguckt und nicht der einfacheren Ubung in Sauls Tagen. Damit stehen wir von den Gliedgattungen. Häufig vertreten ist die Rede an den König und ihre Beantwortung. 24, 2 u. 26, 1 ist sie sehr abgekürzt wiedergegeben (CASPARI wird recht haben, daß das voranstehende mehrere Sätze der Rede voraussetzt und zusammenfaßt). Immerhin ist aufschlußreich, daß die Sifiter an der letzten Stelle keine platte Aussage vorbringen, sondern nach dem hebräischen Text fragen: "Ist David nicht bei uns verborgen?" Dem König gegenüber vermeiden sie eine direkte Aussage, kleiden sie in eine rhetorische Frage, so daß dem Gebieter zukommt, den entscheidenden Schluß selbst zu ziehen, vgl. 26, 18. Knapp, gar mit Imperativen, darf nur ein Bote in höchster Not zum König sprechen, 23, 27. Ausführlicher ist die Rede 23, 19 f., die von der obligaten Höflichkeit etwas erkennen läßt: "Nun denn, wenn es dir beliebt, König ..." Wenn David über eine weite Entfernung hin einen Zuruf an den König wagt, so beginnt er mit der einem Untergebenen zukommenden Anrede "Mein Herr und König" 24, 9; 26, 17 und legt danach erst den Fall klar, nicht ohne nochmals den ehrenden Titel: "Mein Vater" einzuflechten 24, 12 vgl. 26, 19. Wo sich eine Rede von der Darlegung der Verhältnisse zvm Anliegen des Sprechenden wendet, markiert das Hebräische den Übergang allgemein durch ein "Nun denn" ( ill;ll!1 , vgl. Gen. 20, 7)1. Dem König gegenüber folgt danach sofort eine Höflichkeitsflosk~l23, 20 oder mindestens die abschwädiende Partikel N~ 26, 198 • Daß der König selbst an der üblen Situation schuld ist, vermeidet David absichtlich auszusprechen, obwohl es auf der Hand liegt 26, 19. Die A n t w orten des K ö n i g s sind ebenso geprägt. Erwidert er besonders huldvoll, dann mit einem Segensspruch 23, 21; 26, 25. Ansonsten steht es ihm zu, mit einer Fülle von Imperativen zu operieren 23, 22 f. vgl. 24, 22. Eine besondere Ausnahme8 ist es, wenn er einem anderen gegenüber beginnt: "Du bist rechtschaffen, ich bin es nicht" 24, 18 oder gar "Ich habe gesündigt10 " 26, 21. Damit kündet sich die Veränderung im Verhältnis der beiden Partner an, obwohl die Anrede an David "Mein Sohn" das bisherige Rangverhältnis bestehen läßt 24, 17; 26, 21. Man vergleiche, wieviel weniger förmlich das Zwiegespräch mit dem König bei der Gefähr-
,bN?
7
8
9
°
1
A. LAuRENTIN: We 'attah - Kai nun. B 45, 1964, 168-197 vergleicht die Wendung mit einem Scharnier (S. 192); s. auch H. A. BRONGERS: we •attäh im AT., VT XV, 1965, 289-299). So auch in der Rede an den Heerführer 26, 8. - Zur Situation passen die gewählten Vergleiche (Hund, Floh, Rebhuhn) vgl. 2. Sam. 14, 7. 14; 16, 9; 17, 8-13. Ausnahme, weil Annäherung an einen Rechtsstreit. 24, 13. 16 ist Apfellationsformel, 24, 18 Unschuldigerklärung, 26, 18 Beschwichtigungsforme nach H. J. BoECKER: Redeformen des Rechtslebens im AT., WMANT 14, 1964 S. 32. 48-50. Vgl. schon CASPARI zu 26, 18. Die juridische Begrifflichkeit führt freilich irre. Es tritt weder ein Forum zusammen noch wird ein Urteil erwartet. Das "Richten" Jahwäs meint einen direkten, wortlosen Eingriff zugunsten des Gemeinschaftstreuen. Formel des Sündengeständnisses, nur vor Gott oder dem König - hier dem künftigen!- gebräuchlich 2. Sam. 19, 21; 2. Kö. 8, 14; vgl. R. KNIERIM: Die Hauptbegriffe für Sünde im AT, 1965,20-26.
Oberlieferungsgeschichte
173
dung der Ahnfrau verläuft, und man ermißt den Wandel der Zeiten und erkennt den anderen Sitz im Leben! Der Hochschätzung des königlichen Amtes entspricht, daß A wie B mit einer Rede Sauls schließen, obwohl David die eigentliche Hauptperson ist. Andere Redegattungen zeichnen sich nur in Umrissen ab, so ein göttliches 0 r a k e l, das sehr abgekürzt wiedergegeben zu sein scheint 24, 5 (26, 8). Der Schwur mit seinen typischen Eingängen wird in Davids Worten 26, 10. 11. 16; 24, 7 (vgl. 24, 22 f.) erkennbar. Ein Fluch wird 26, 19 laut. Diese Häufung von Segen, Fluch und Schwur dürfte der Soldatensprache gemäß sein und damit den vermuteten Sitz im Leben bestätigen.
C. Vberlieferungsgeschichte Untersucht man A nach Zeichen früherer oder späterer Bildungen, so fällt zunächst der Besuch Jonathans bei David 23, 16-18 aus dem Tenor des übrigen heraus. Die Rede Jonathans nimmt der nachfolgenden Sage das spannende Moment, indem er als gewiß voraussagt: "Du wirst König werden." Die Szene bringt außerdem einen ausgesprochen frommen Ton in die zwar nicht unreligiöse, aber doch derbe Heldensage mit den Worten, daß Jonathan "ihn auf Gott wies". Außerdem setzt die Episode einen über die Einzelsage hinausreichenden übergreifenden Zusammenhang nach vorn und hinten voraus. Der Abschnitt stammt also aus einer Zeit, in der A bereits mit anderen Überlieferungen verschmolzen war; wenn er nicht gar erst vom Schriftsteller selbst verfaßt ist. ..i\hnliches gilt für 23, 26b - 24, 2, das Philister-Intermezzo. Auch das ist ein Seitenstrang, der nicht zur ältesten Einheit gehört und den Handlungsverlauf stört, wenngleich er nicht so jung sein wird wie der eben genannte. Der Abmarsch Sauls gegen die Philister ist hinzugekommen, um den Hinweis auf den "Fels der Glätte" (des Entschlüpfens) unterzubringen, zugleich aber auch, um der Erzählung ein steigerndes Moment einzufügen. Erst beim zweiten Anlauf gelingt es Saul, David nahezukommen. Auch B weckt an einigen Stellen die Vermutung, über die alte Gestalt hinausgewachsen zu sein. Die Reden im zweiten Teil sind gegenüber den kurzen im ersten Teil auffallend breit. Der Schwur in V. 10 ist vor dem gewichtigen Schwur von V. 11 nicht notwendig und sicher nachträglich. Der Zuruf an Ab n er, daß er des Todes sei, weil er seine Verantwortung nicht wahrgenommen habe, was ebenfalls durch einen Schwur bekräftigt wird, V. 16, geht weit über die Kompetenzen Davids in dieser Stunde hinaus und spiegelt allzusehr die Haltung eines Jerusalemer Königs und nicht die eines Heerführers in der Wüste; auch das mag zugewachsen sein. In 26, 11 f. wird gesagt, daß David neben der Lanze auch einen Wasserkrug mit sich genommen hat. V. 22 ist aber nur von jenem Gerät die Rede, der Wasserkrug ist also jüngere Ausschmückung, um durch Doppelung das Geschehen zu steigern.
174
§ 11 Saul und David in der Wüste
Sieht man von solchen Seitentrieben ab, werden die beiden Versionen sich noch ähnlicher, als sie es im gegenwärtigen Text schon sind. Nach dem Zusammenhang des 1. Samuelbuches handelt es sich um zwei getrennte Ereignisse. Aber bei näherem Zusehen entsteht die Frage, ob es sich nicht um zwei Varianten derselben Grunderzählung handelt; denn a) ist es unverständlich, wie David sich zum zweiten Mal in das Gebiet der Si fit er begeben haben sollte, nachdem sie sich kurz vorher so verräterisch erwiesen hatten; b) überraschend ist, daß die Mannen an David wieder mit Berufung auf den Gotteswillen das Ansinnen stellen, Saul zu töten, obwohl David das eben erst entschieden zurückgewiesen hat; c) in Kap. 26 wird mit keinem Wort auf den ähnlichen Vorgang in Kap. 24 angespielt. Zum zweiten Mal reut es Saul und gelobt er Frieden, ohne daß der schnelle Wortbruch irgendwie erwähnt und erklärt würde; d) der Anfang 23, 19 lautet wörtlich fast gleich wie 26, 1. Auch sonst gibt es eine Fülle von wörtlichen übereinstimm ungen11 • Erklären lassen sich alle diese Doppelungen nur, wenn beide Fassungen ·auf die gleiche Grunderzählung zurückgehen. Das Maß der Übereinstimmung ist in der Tat groß. Beide Male ist David vor Saul auf der Flucht in die Wüste Judas; beide Male bietet sich Gelegenh~it, den König zu töten. Es wird die Frage laut, ob es sich nicht um göttliche Fügung handelt. Die Versuchung zum Mord tritt an David heran; aber David wehrt es entschieden ab unter Berufung auf die Unverletzlichkeit des Gesalbten. Doch nimmt er in beiden Fällen ein äußeres Zeichen mit. Im nachfolgenden Gespräch erkennt Saul die Überlegenheit Davids an und zieht unverrichteter Dinge ab. All das bestätigt die Vermutung, daß es sich hier um ein und dieselbe Geschi~te handelt, die nur in mündlicher Überlieferung nach zwei Seiten hin sich verschieden ausgebildet hat. Was ist über die Grunderzählung durch einen Vergleich zu erschließen? Unterschiedlich sind 1. die handelnden Personen; in A werden die Sifiter, Saul und David genannt; die Mannen Davids und das Volk um Saul wirken anonym mit. In B sind die gleichen Personen vertreten; doch erhält Davids Gefolgsmann Abisai eine Nebenrolle, außerdem werden der Hethiter Ahimelech und der Feldherr Abner erwähnt. Die Vielzahl der benannten Personen in B ist sicher später gegenüber der Beschränu Im Zeitalter der reinen Literarkritik - so noch CASPARI - hat man sich bemüht, die Übereinstimmungen weithin als nachträgliche Angleichungen zu erklären und deshalb als sekundär zu streichen. Die Frage ist aber zu stellen, ob nicht der umgekehrte Vorgang eher qenkbar ist, daß der Bearbeiter nämlich möglichst differenzierte und die beiden Erzählungen voneinander absetzte. So jedenfalls ist es die Praxis der LXX, etwa in 26, 20.
Oberlieferungsgeschichte
175
kung auf die wenigen, für die Erzählung unbedingt notwendigen Personen in A. 2. BeideMale nähert David sich dem König unbemerkt. Aber in A sitzt dieser mit seinen Mannen schon in. der Höhle, als Saul herankommt; jener gerät also ohne eigenen Willen in die Gefahrenzone. In B dagegen schleicht David sich absichtlich nachts in das feindliche Heerlager, wozu er keineswegs gezwungen ist. Aus eigenem Willen begibt er sich in die Gefahrenzone. Sein Heldenmut steigt dadurch in den Augen des Hörers. Der vermehrte Heldenmut ist aber gewiß Absicht. Die Situation wird also im Lauf der Überlieferung aus der Höhle in das Heerlager verschoben, um Davids Größe genügend ins Licht zu stellen. 3. Ein Faustpfand nimmt David nach A wie nach B mit. Doch entwendet er in Kap. 24 nur einen Zipfel des Gewandes, in Kap. 26 dagegen die Waffe. Auch hier entpuppt sich B als die spätere Stufe. Die Geschichte klingt soldatischer, wenn dem Gegner die Waffe geraubt wird und nicht nur ein Gewandfetzen12 • 4. Auf ein früher ergangenes Gotteswort berufen sich in A die Mannen Davids. Dem Erzähler von B war ein solches älteres Gotteswort unbekannt, er gestaltet es deshalb zu einem Wort Abisais an David um. Offenbar ist dieser Erzähler der Zeit Davids ferner und weiß von jenem verschollenen Gotteswort nichts mehr. Kap. 26 (B) erweist sich also im großen und ganzen als die jüngere Stufe. Freilich läßt sich keine unmittelbare Linie von der einen zur anderen Erzählung ziehen. A und B haben sich unabhängig von der Grunderzählung herausgebildet; nur daß A der alten Gestalt nähersteht, ihr treuer geblieben ist. DodJ. zeigen sidJ. audJ. in Kap. 24 jüngere Stufen, wie der Blick auf den Anfang oben ergehen hat. In beiden Fassungen sind die Redepartien unbeeinflußt von der Parallele gewachsen und die Hinweise auf Jahwäs Handeln zahlreidJ.er geworden. Kommt in Ader Hinweis auf Jahwä, den RidJ.ter, hinzu (24, 13. 16), so in B der urtümliche Gedanke, daß Sauls Feindschaft daher rühren könne, daß Jahwä ihn gereizt habe (V. 19), außerdem wird hier der Tiefschlaf erwähnt, der von Jahwä hergeleitet wird (26, 12). Im Verlauf der Überlieferungsgeschichte wird also versudJ.t, den Hintergrund der Geschehnisse stärker zu erfassen, nämlidJ. die Gedanken der Menschen, die in den Reden zutage treten; aber auch das göttliche Einwirken, das im Grund erst die Gedanken der Menschen entstehen läßt. 12
GRESSMANN: Kap. 26 scheut sich, vom Gewandraub zu erzählen, weil das Gewand ein Teil der Person ist, die Person also durch David geschädigt würde, demnach ist 26 später; aber ist die Waffe für israelitische Auffassung nicht ebenso ein Teil der Person wie das Gewand? Zum Gewandfetzen als Rechtsbrauch: MALAMAT,. VTS 15, 1965 S. 225 f.
176
§ 11 Saul und David in der Wüste
Wie steht es um die Historizität? Historisch ist wieder das Gehäuse, der zeremonielle Umgang mit dem Gesalbten Jahwäs am Jerusalemer Hof, die aufrichtige Begeisterung der Krieger Davids für ihren Feldherrn. Aber auch die Charakterzeichnung des ebenso tapferen wie großmütigen David ist wohl richtig getroffen, der "für einen orientalischen Despoten erstaunlich anständig" war (GRESSMANN). Weniger verläßlich, aber im Ganzen durchaus wohl richtig, wird Saul dargestellt sein. In der Erfassung der Persönlichkeiten kann man hier geradezu von einem "kleinen Meisterwerk" reden (GRESSMANN). Da die Sage keine so langen Zeitläufte mündlich durchwandert hat wie eine Vätersage, kann man hier sogar an so etwas wie einen historischen Kern herankommen. Ohne Zweifel hat Saul als König den erfolgreichen Heerführer Da v i d ver f o 1g t. Die Erinnerung an dessen Versteck in der Wüste von Sif ist gewiß zuverlässig. Möglich ist auch, wenn auch nicht unbedingt sicher, daß Saul seinen Widerpart in der Wüste persönlich verfolgt hat. Daß aber beide sich dabei auf Tuchfühlung nahekamen und sich Davids Großmut sichtbar vor allem Volk erwiesen hat, ist wohl der plastischen Tendenz der Sagendichtung entsprungen, die hier eine Sprachgebärde erfunden hat.
C. Redaktionsgeschichte A. WEISER: Die Legitimation des Königs David, VT XVI, 1966, 325-354 - J. GR0NBAEK: Die Geschichte vom Aufstieg Davids, 1971.
Das Zeitalter der reinen Literarkritik hat hier, wie in der Genesis, ehemals selbständige Quellen gesucht und A und B auf zwei selbständige Schriftwerke verteilt. Man hat sogar gemeint, hier die Fortsetzung der Tetrateuchschriften (L) J und E greifen zu können13 • Aber im Unterschied zur Genesis lassen sich im Samuelisbuch keine sicheren Spracheigentümlichkeiten von Quellenschriften gegeneinander abgrenzen; auch der Wechsel der Gottesnamen (elohim 23, 16; jahwä 26, 19) läßt sich dafür nicht ausmünzen. So ist die Erwägung ebenso berechtigt, ob die Parallelität sich nicht daraus erklärt, daß eine Grundschrift und eine spätere überar bei tung literarkritisch zu sondern sind14• Ob das Entweder-Oder endgültig zu klären ist, bleibt dahingestellt. Immerhin läßt sich so viel sagen, daß A und B kaum von dem s e 1ben Schriftsteller aus der mündlichen Tradition übernommen und kaum zur gleichen Zeit erstmals niedergeschrieben worden sind. Ein solcher Vorgang gleichzeitiger Aufnahme zweier verwandter 13
14
Besonders 0. ErssFELDT: Die Komposition der Samuelisbücher 1931. Zuletzt H. U. NüBEL: Davids Aufstieg in der Frühe israelitischer Geschichtsschreibung, Diss. Bonn 1959. Seine These, daß ein späterer Bearbeiter den noch in der Grundschrift einheitlichen Bericht in die zwei Rezensionen in Kap. 24 u. 26 "zerpflückt" habe, ist freilim wenig überzeugend.
Redaktionsgeschichte
177
Oberlieferungen ist zwar bei der Gefährdung der Ahnfrau denkbar, sobald diese sich auf zwei verschiedene Erzväter bezieht (Gen. 12 u. 26 ), nicht aber bei zwei so gleichlautenden Heldensagen um dieselben Personen, wie sie hier vorliegen. Sollte ein Schriftsteller, der Geschichtsschreiber ist - dazu siehe unten -, sich tatsächlich so wiederholen, wie es z. B. 23, 19 und 26, 1 geschieht? Vor allem aber: Kap. 24 endet mit einem so feierlichen, von einem Schwur bekräftigten Friedensschluß, daß, falls Kap. 26 derselben Quelle zugehört, der Friedensbruch Sauls wenigstens mit einem Satz erklärt sein müßte. Noch deutlicher wird die literarische Verschiedenheit durch einen Blick auf den Zusammenhang der beiden Stücke. Schon lange hat man gesehen, daß 25, 1 die gegebene Fortsetzung zu Kap. 24 ist: Davids Beschützer Samuel stirbt, so weicht er in das südliche Ausland. 25, 2 f. jedoch ist David plötzlich wieder ohne Erklärung im Heimatland, in der Provinz Juda. Hier schreibt eine andere Feder, die von jener Flucht noch nicht berichtet hat. 25, 2 ff. ist aber die sinnvolle Vorbereitung zu Kap. 26 und auch zu Kap. 27, wo David sich (nochmals) ins Ausland begibt, dieses Mal aber ins westliche. So sind also zwei literarische Blöcke greifbar, von denen der erste (23, 14-25, 1) in den Zusammenhang der vorangehenden Kapitel über Davids Aufkommen leichter einzufügen ist als der zweite. Denn 23, 14 ist David an dem Ort, an den er 22, 5 gelangt war15, und der Bund Jonathans mit David 23, 14-18 weist auf Kap. 20 zurück. Die zweimalige Versicherung, daß David dereinst König wird (23, 17; 24, 21f.), ist ein geheimnisvoller Rückverweis auf eine Oberlieferung aus Kap. 16 oder 17, wo David an den Königshof gekommen war als geheimer Thronprätendent16. In Kap. 25, 2-17 sind dagegen solche zwingenden Rückverweise auf den vorhergehenden Buchzusammenhang nicht nachzuweisen. Es ist also möglich, zumindest A redaktionsgeschichtlich aus dem Zusammenhang einer Schrift heraus zu erklären, die spätestens mit Davids Kommen an den Königshof eingesetzt hatte und von dem roten Faden durchzogen war, wie er allen Widerständen zum Trotz die göttliche Bestimmung verwirklicht, König Israels zu werden. Damit ist zugleich über die Fortsetzung von A etwas gesagt. Die Quelle wird Davids Aufstieg mindestens bis zu seiner Inthronisation 2. Sam. 5 beschrieben haben. Der Schwur Davids 24, 22, den Samen Sauls nicht auszurotten und Sauls Namen nicht verschwinden zu lassen, wird wohl von der Erzählung über Mefibaal, den letzten 15 18
Zu seiner Namensform s. ErssFELDT a. a. 0. 16. ErssFELDT a. a. 0. 16 f. nimmt allerdings die zweimalige Versicherung, daß David König werden wird (zusammen mit der Doppelung, daß David an seinem Ort verblieb 23, 18; 24, 23), zum Anlaß, innerhalb 23, 14-24, 23 eine Quellenscheidung vorzunehmen und 23, 14b-18 als Bestandteil einer dritten Schrift herauszuschneiden. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Wiederholungen aber um absichtliche Akzentsetzungen desselben Schriftstellers.
178
§ 11 Sau! und David in der Wüste
direkten Nachkommen Sauls 2. Sam. 9 (16, 1-4; 19, 25-31), nicht zu trennen sein, ein Kapitel, das seinerseits in die Geschichte von der Thronfolge Davids 2. Sam. 7; 10 ff. jetzt eng hineingehört. Demnach gehört A vermutlich einem Buch zu, dessen Anliegen es ist, die Entstehung des davidischen Königtums zu erklären (und dessen Bewährung in der Sukzession David-Salomo?). Rahmengattung ist demnach eine Geschichtsschreibung. Denn Themen wie die Entstehung königlicher Gewalt in einem bestimmten Volk und ihre Durchsetzung gegen äußere und innere Gefahren verfolgt kein anderer als der Geschichtsschreiber. Der Verfasser hat, wie das Beispiel zeigt, in sein Werk Heldensagen aufgenommen. Der moderne Leser fragt sich: Wie reimt sich das zur Gattung ,Geschichtsschreibung'? Ist Sage nicht schon infolge ihres Ursprungs in einer anderen als der historischen Geistesbeschäftigung grundsätzlich unvereinbar mit einer Geschichtsschreibung? Jedoch im Altertum heißt Geschichte schreiben nicht, historische Wissenschaft treiben. Historische Kritik im zunftmäßigen Sinn, auf philologischen Quellenuntersuchungen aufgebaut, gibt es erst seit zweieinhalb Jahrhunderten. Auch Herodot und Thukydides tragen zahlreiches sagenhaftes Material zusammen. Dennoch sind sie- und vielleicht noch mehr die alttestamentlichen Geschichtsschreiber- zu Ahnen der modernen historischen Forschung geworden; denn eins ist schon begriffen: daß zur Geschichtsschreibung die sorgfältige Sichtung der, Quellen gehört sowie die Entdeckung eines roten Fadens, der sich durch die Ereignisse hindurchzieht und sie zu einem sinnvollen Zusammenhang verbindet, eben zu einer Geschichte. Weiter die Einsicht, daß nicht die Darstellung des Lebensweges eines Mannes, und sei er noch so groß, schon Geschichte beinhaltet, sondern erst der Bezug führender Gestalten zu den sie tragenden Gemeinschaften, die ihrerseits im ständigen Wandel sind. Da als Quelle für die Entstehung der davididischen Dynastie kaum etwas anderes als Sagen zur Verfügung stehen 17 , müssen israelitische Geschichtsschreiber solche Stoffe aufnehmen. Bei dieser Gelegenheit interpretieren sie diese aber und geben ihnen eine neuartige Ausrichtung. Das ist in A gut zu verfolgen. Alle die Stellen, die einen übergreifenden Zusammenhang der Davidund Saulgeschichte voraussetzen, stehen bei diesen ehemals selbständigen Heldensagen in Verdacht, vom Schrift s t e 11 er nachträglich eingefügt zu sein. Das wird dann für wahrscheinlich zu gelten haben, wenn sich die betreffenden Sätze herausnehmen lassen, ohne daß das Gefüge der alten Sagen Schaden leidet. In der Rede Jonathans 23, 17: "Fürchte dich nicht; denn die Hand meines Vaters Saul wird dich nicht erreichen, sondern du wirst König werden über Israel, und ich werde der zweite nach dir sein. Auch mein Vater Saul weiß das wohl" wird weit vorausgeblickt auf Bege17
Neben wenigen Annalen-Stücken wie 2. Sam. 10, 6-19; 12, 26-31 oder Listen wie 2. Sam. 3, 2-5; 5, 13-16.
Redaktionsgeschichte
179
benheiten, die erst im 2. Samuelbuch zu ihrem Ziel kommen; zugleich schlägt das Thema des Schriftstellers durch: das Königtum Davids. Aus dem Erzählungsfortgang läßt sich der Satz ohne weiteres ausklammern, er ist demnach bei der Niederschrift entstanden. In dem Befehl Sauls an die Sifiter ist zumindest 23, 23b 18 auffällig: "Ist er im Land, so will ich ihn aufspüren unter all den Tausendschaften Judas." Daß David im Land ist, ist nach der vorherigen Meldung der Sifiter sicher, ebenso, daß er mit irgendwelchen Tausendschaften Judas keinerlei Verbindung hat. Dem Schriftsteller kommt es aber auf den Bezug des Königs zu seinem Land und Volk an; außerdem weiß er um die Schwierigkeiten, die der aus Nordisrael stammende Saul hatte, sich bei den südlichen Judäern durchzusetzen. Er benutzt die Gelegenheit, das ins Gedächtnis zu rufen, und fügt den Hinweis auf die Tausendschaften Judas ein. - In der Schlußrede Sauls ist 24, 21 auffällig, weil es dieselbe Kehre der Rede ("nun denn") bringt wie V. 22 "nun denn, sieh, ich weiß, daß du gewißlich König wirst und feststehen wird in deiner Hand die Königsherrschaft Israels." Wieder wird also an einer Flickstelle das Königtum erwähnt wie der Bezug der Kontrahenten zur Gesamtheit des V o 1k es. Nicht um die beiden Männer geht es also letztlich, sondern um den Bestand der Gemeinschaft, der von ihnen abhängt. Hier äußert sich der Geschichtsschreiber. Aber nicht nur der Verweis auf das größere Ganze, dem die Helden untergeordnet sind, ist auf die Hand des Schriftstellers zurückzuführen, sondern wahrscheinlich auch ein Teil der Erwähnungen Gottes als verborgener Lenker des Geschehens. Zwar ist die Aussage der Mannen in der Höhle durch die mündliche Tradition vorgegeben, nach der Jahwä bereits verheißen hat: "Siehe, ich gebe deine Feinde in deine Hand" (24, 5 vgl. 26, 8). Aber das Motiv taucht auch an Stellen auf, wo es im Aufbau der alten Oberlieferung anscheinend keinen Ort hatte. So gleich am Anfang 23, 14 in der Verneinung "Gott gab ihn (David) nicht in seine (Sauls) Hand." Ebenso in der Rede Davids an Saul 24, 11a: "Es sehen deine Augen, wie Jahwä dich heute in meine Hand gegeben hat" (einst waren der Anfang des Verses und das Ende der ersten Vershälfte glatt zusammengefügt: "Siehe, an diesem Tage [...] forderte man, daß [ich] dich töte"; jetzt fällt das doppelte c1~;:r auf). Dann erwähnt Saul wieder den gleichen Bezug 24, 19 "daß Jahwä mich in deine Hand beschlossen hatte, und du hast mich nicht getötet"; auch hier wirkt der Satz überfüllt19 • Daß der allmächtige Gott Israels den einen Machthaber in die Hand des anderen beschließt, ist für den Schriftsteller offenbar der letzte Erklärungsgrund politischer Umwälzung. Der Geschichtsschreiber hat 18 19
Die Überfüllung der Stelle V. 22-24 hat schon BuooE (HKAT) angemerkt. Das doppelte 1~~ 1'1~ ist für mündliche Weitergabe viel zu schwerfällig.
180
§ 11 Saul und David in derWüste
also die Heldensagen nimt nur mit politismen, sondern aum mit religiösen Akzenten versehen, weil für ihn Gesmimte und Walten Gottes ein und dasselbe sind. Von daher ist zu vermuten, daß aum der wiederholte Wunsm, Jahwä möge "rimten" ~~~ 24, 13a. 16. 20b, bei der Niedersmrift hinzugesetzt wurde; denn ein so betont vorgetragener Wunsm muß nam einer solmen Auseinandersetzung in Erfüllung gehen. Der Leser erwartete ansmließend eine Namrimt über den endgültigen Sieg Davids, was die in sim ruhende Heldensage nimt geben konnte, was dagegen die Fortsetzung der Gesd:timtssmreibung im 2. Samuelbum bietet. Aum smieben sim die betreffenden Sätze so in den Fluß der Rede ein, daß man sie sim wohl gesmrieben, nimt aber gespromen in einer unbesmwert dahinsmreitenden Erzählung vorstellen kann. Für den Verfasser ist die Gesmimte zugleim eine Art Gottesgerimt.- Was bei der Niedersmrift hinzugesetzt wird, um aus der Sage Gesmimtssd:treibung ZU mamen, wird zumeist den bereits vorhandenen Redepartien eingefügt. Das gesmieht nimt nur hier so, sondern ist eine überall namweisbare Weise antiker Gesmimtssmreiber. Freilim lassen sim nimt alle Verweise auf einen übergreifenden Zusammenhang auf den Smriftsteller zurückführen. Manmes ist in den Gang der Handlung so sehr eingeflomten, daß es smon früher hinzugekommen sein muß, wenngleim es ausweislim der Parallele Kap. 26 der GruJJderzählung nom nimt zugehörte. Dazu gehört der Abmarsm Sauls an die Philisterfront, der möglimerweise den Zusammenhang eines Philisterkriegsberimts voraussetzt; vor allem aber der je~zt mit der Erzählung fest verwurzelte Schluß von dem Schwur Davids, den Namen Sauls nimt auszurotten, was auf ein Verhalten Davids zu den Kindern Sauls nam dessen Tod zielt. Vielleimt hängt damit die Jonathan-Episode 23, 14-18 zusammen. Diese Erzählungsglieder sind gewiß nom während der mündlimen Überlieferung hinzugewamsen, namdem sim die Parallelüberlieferung B bereits abgesondert hatte. Sie setzen voraus, daß die ehedem einzeln umlaufende Heldensage A schon vor ihrer Versmriftung mit anderen E'rzählungen zu einem Sagenkranz von Davids Aufstieg zusammengebündelt war. Smwieriger ist es, B in seinem jetzigen Sinn zu erhellen, da hier der größere Zusammenhang unbekannt ist. Die Verkoppelung nach hinten und vorn ist viel dürftiger als in A. Daß David zum König bestimmt ist, wird nirgends ausdrücklich gesagt. Deshalb ist smwer zu entscheiden, was bereits auf mündlimer und was erst auf smriftlimer Stufe hinzugewamsen ist. Während der zweite Smwur Davids für die Erzählung notwendig ist und ihr also stets zugehörte, könnte der erste in V. 10 vom Smriftsteller stammen, der damit die Oberzeugung aussprimt, daß es mit Saul irgendwie ein Ende nehmen wird. Weiter mag- die zweimalige Kehre in der Rede an Saul V. 19. 20 daraus zu
Redaktionsgeschichte
181
erklären sein, daß der Hinweis auf Jahwäs "Reizen" bei der Niederschrift hinzugekommen ist20 • Daher mag auch der sehr reflektiert klingende Satz V. 23 rühren, daß Jahwä dem Menschen seine Guttat zurü
20
Das Gottesverständnis dieser Stelle ist viel gröber als das des Schriftstellers in A. Daß Jahwä Menschen launisch reizt, läßt noch keine Einsicht in sein Wirken als Urheber einer sinnvollen Geschichte erkennen.
182
§ 12 SAGEN IN DER BIBEL? A. Allgemeine Formmerkmale Der Ausdruck .Sage" läßt das Interesse vieler Zeitgenossen an einer Erzählung sdllagartig erlösdten, weil sie durdt den Positivismus des 19. und 20. Jahrhunderts verdorben sind. Daß Sagen - aus weidlern Spradtenk.reis sie audt immer stammen - eine innere Wahrheit haben, die oft weit über der historisdter Beridtte steht, haben Germanisten seit den Tagen der Brüder Grimm wiederholt nadtgewiesen, wenngleidt die Wirkung auf die Allgemeinheit gering geblieben ist. Genannt sei die eingehende Darstellung bei A. ]OLLES: Einfadte Formen 2. Aufl. Halle 1956; 2. Aufl. Darmstadt-Tübingen 1958. Ein Oberblick über den gegenwärtigen Stand der Sagenforschung: Vergleichende Sagenforschung, hg. L. PETZOLDT, Wege der Forschung 152, 1969. Für die Formmerkmale wichtig ist A. ÜLRIK: Epische Gesetze der Volksdichtung, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 51, 1909, 1-12. -Auf biblischem Gebiet hat sich fast ausschließlich GuNKEL mit den Formen der Sage beschäftigt, vor allem in seiner großen Einleitung zum Genesiskommentar: Die Sagen der Genesis; kürzer in dem Artikel: Sagen und Legenden, RGG 2 V, 41-64 (mit W. BAUMGARTNER und G. BERTRAM) 1 • Einzelbeobachtungen zur Formensprache finden sich bei HEMPEL, Literatur S. 84-87 und bei A. ScHULZ (s. bei § 11).
Die Erzählungen von der Gefährdung der Ahnfrau und vom Zusammentreffen Davids und Sauls in der Wüste stimmen trotz inhaltlicher Verschiedenheit in vielen Merkmalen der Erzählweise überein. überraschenderweise treffen sich diese Übereinstimmungen nicht nur mit den Ergebnissen formgeschichtlicher Betrachtung anderer Stoffe in den Büchern Genesis bis 2. Könige, sondern weithin auch mit dem, was ÜLRIK als Gesetzmäßigkeiten der "gesamten europäischen Sagendichtung" aufgewiesen hat. Beginnen wir vom Ende her! Sowohl die Gefährdung der Ahnfrau wie Saul und David in der Wüste enden nicht schlagartig mit der Lösung der Spannung (in den Reden), sondern lassen einen Aus k 1an g nachfolgen, der die aufgeregte Stimmung besänftigt. Eben das nennt ÜLRIK das Abschlußgesetz2 europäischer Sagen, die z. B. nicht mit dem Tod des Liebespaares enden, sondern mit den beiden Rosen, die aus den Gräbern sprießen und deren Zweige sich verschlingen. Hier wie dort ist der vorangegangeneHandlungsverlauf auf ganz wenige Personen und Gegenstände beschränkt. Eigentlich treten nur drei handelnde Gruppen jeweils in einer Erzählung vor das Auge des Hörers. Etwa der Erzvater, seine Frau und der feindliche König im Genesisbeispiel oder Saul, David und dessen Mannen im Samuelbeispiel. "Nichts unterscheidet so deutlich 1
2
Siehe weiter den erheblich kürzeren Artikel: Sagen und Legenden in RGG 3 EISSFELDT: Einleitung3 50-56- C. WESTERMANN: Arten der Erzählung in der Genesis, Forschung am AT, ThB 24, 1964, 9-91 - LüTHI-RÖHRICH-FOHR.ER, Sagen und ihre Deutung, Evang. Forum 5, 1965. ScHULZ S. 35: "Beruhigender Schluß".
Europäische und israelitische Sagen
183
die große menge der volkspoesie von der modernen dichtung und von der würklichkeit, wie es die dreizahl tut" (ÜLRIK). Die Dreizahl der Handelnden wird ergänzt durch das Gesetz der szenischen Zweiheit. Nur zwei Personen-(Gruppen) treten auf einmal auf. Tritt eine neue hinzu, verschwindet eine andere. Steht David seinem König Saul Auge in Auge gegenüber, redet der Erzähler nicht mehr von den Mannen, mit denen David vorher verhandelt hatte. Redet der fremde König mit Abraham oder Isaak, tritt dessen Frau in den Hintergrund und wird zur stummen Statistin. (Wenn in Gen. 20, 15 f. Abimelech sowohl zu Abraham wie zu Sara spricht, so zeigt sich hier, wie an anderen Stellen in diesem Kapitel, daß die· Form der Sage bereits durchlöchert ist.) Trotz der Mehrzahl der Handelnden herrscht in solchen Erzählungen unverkennbar Konzentration um die Hauptperson: Davids und nicht Sauls wegen wird die Sage vom Zusammentreffen in der Wüste erzählt; der Erzvater ist der Mittelpunkt in der Genesis, nicht der fremde König. Alle Handelnden werden polarisierend dargestellt, d. h. in scharfen Gegensätzen. Neben dem heimatlos umherziehenden Erzvater steht der in seinem Gebiet allgewaltige Herrscher, neben dem edlen David der vom Verfolgungswahn besessene Saul. Solche Überhöhungen empfindet der moderne Leser als Übertreibung: Sie waren aber für den Sagenerzähler genaue Wirklichkeit, weil er das Leben nicht anders als unter solch starken Gegensätzen wie dem von gut und böse, mutig und feige, schön und häßlich erfuhr. Neben der erzählerischen Gruppierung und der besonderen Akzentsetzung ist im Blick auf das Ganze die Einsträngig k e i t kennzeichnend. Von der anfänglichen VerwiekJung geht der Erzähler Schritt für Schritt dem Geschehen entlang. Rebekka/Sara verschwindet im Harem, der König entdeckt die Verfehlung, stellt Isaak/Abraham zur Rede, gibt die Frau zurück. Das wird im einfachen Nacheinander vorgetragen und alles Zufällige und Beiläufige weggelassen (wiederum macht Gen. 20 mit seinen Rückblenden eine Ausnahme, die auf den Wandel der Gattung hinweist). Zwar wiederholt der Erzähler ähnliche Vorgänge gern zwei- oder dreimal, aber das um der Steigerung willen. In solchen Fällen gelingt erst der letzte Versuch. So zieht Saul zweimal gegen David aus, muß aber das erste Mal der Philister wegen umkehren 1. Sam. 23 f. David ruft zunächst Abner an, um dann zweimal mit einer Rede an den König anzuheben 1. Sam. 26, wovon die letzte ausschlaggebend wird. Im Traum des Nachts vernimmt Abimelech zwei Gottesreden, die erste läßt seine Lage aussichtslos erscheinen, die zweite eröffnet erst den Ausweg (Gen. 20). Bei solchen Wiederholungen herrscht also ein Achtergewicht vor: die letzte Stufe ist die entscheidende. Es erstaunt nach solchen Vergleichen europäischer und alttestamentlicher Sagen nicht, daß eine ganze Reihe alttestamentlicher Stoffe nicht
184
§ 12 Sagen in der Bibel
nur altorientalischen, sondern auffallenderweise auch griechischen Sagen ähneln. Offenbar sind im Alten Testament Wandersagen aufgenommen worden, die durch den Mund vieler Völker gegangen waren, z. B. Jephtas Gelübde Ri. 11 oder die Einkehr der drei göttlichen Männer beim Erzvater Gen. 183 • Das heißt freilich nicht, daß Sage hier und Sage dort sidt decken. Zwischen europäisdten und israelitisdten Sagen gibt es nämlidt bezeidtnende Unterschiede bzw. kennzeichnende Abwandlungen beim gleichen Sagenstoff4• Nicht alle Gesetzmäßigkeiten, wie ÜLRIK sie aufweist, passen für das Alte Testament. So fehlt dort das widttige Gesetz der Plastik, nach dem die Erzählung in der körperlichen Nähe der Kontrahenten gipfelt; statt dessen wird der Höhepunkt durdt eine Rede, in der Regel sogar durch ein Zwiegespräch markiert. Der fremde König gibt dem Erzvater das lösende Wort, Saul erkennt die innere Überlegenheit Davids an. Zwar kommt es (vorher) zu gefährlicher körperlidter Nähe, als David sidt an den Mantel bzw. den Speer Sauls heranmadtt, aber das ist nicht der Höhepunkt der Erzählung; ebensowenig ist es in der Genesis jener Augenblick, in dem die Ahnfrau in den Harem des fremden Königs eingegliedert wird; hier wird die Nähe der Kontrahenten noch nicht einmal ausdrücklidt. Die Hochschätzung des menschlichen Wortes, das geradezu "geschichts"wendend wirkt, ist eigentümlich israelitisch und ohne Zweifel mit der Wertschätzung des geschidttswirkenden Gotteswortes im Zusammenhang zu sehen. Audt die Verwicklung am Anfang,kann in der Sage durch eine Rede in Gang gebracht werden. So in gewisser Weise bei der Rede Abrams Gen. 12 (deutlidter nodt Gen. 2, 18; 6, 7; 18, 17 ff.; in solchen Fällen steht meist ein Monolog) 5 • Wie wichtig das Reden ist, ergibt sidt audt daraus, daß längere Gespräche vom Erzähler geteilt werden, indem die Wendung "und er spradt" mitten in der Rede noch einmal eingeflochten wird, Gen. 20, 9 f.; 1. Sam. 26,9 f. (Gen. 21, 10 f.; 1. Sam. 17, 10. 37 u. ö.) 6 - Verglichen mit europäischen, insbesondere germanischen Sagen, tritt das eigentlich Kriegerische auffallend zurück, selbst dort, wo die Parteien sidt mit Waffen gegenüberstehen. Zwischen Saul und David kommt es gerade nicht zum Zweikampf. Das ist ebenso israelitisch wie der vorherrschende religiöse Einschlag, der immer vom Ein-Gott-Glauben her bestimmt W. BAUMGARTNER: Israelitisch-griechische Sagenbeziehungen, in: Zum Alten Testament und seiner Umwelt, 1959, 147-178. ' Eine bemerkenswerte Parallelerscheinung ist in dieser Beziehung die christliche Umgestaltung vorchristlicher Sagen im deutschen Raum. Vgl. RöHRICH, Vergleichende Sagenforschung S. 233 ff. 5 Aufschlußreich N. BRATSIOTrs: Der Monolog im Alten Testament, ZAW 73, 1961, 30-70, der freilich irrt, wenn er den Monolog als eigenständige Gattung anspricht. 8 Die bedeutende Person spricht länger als die unbedeutende. Doch hebräische Reden sind stets wortkarg. J. HEMPEL: Geschichten und Geschichte im AT. 1964 s. 154-164. 3
Von der Väter-Sage zur bäuerlich-nationalen
185
ist. Es gibt kaum eine Erzählung, in der göttliches Eingreifen nicht entscheidend mitspielt, sei es beim Aufenthalt der Ahnfrau im fremden Land, sei es bei innerisraelitischen Auseinandersetzungen unter Männem wie Saul und David. Das göttliche Wort wirkt in solc4en Fällen einschneidend auf den Vorgang ein, und das nicht nur beim Hauptpunkt der Erzählung, so~dem auch bei einer untergeordneten Rede wie der der Mannen an David (mit dem Hinweis auf die Verheißung des Sieges über die Feinde 1. Sam. 24 u. 26). Immer ist es der eine, in Israel offenbare Gott. Deshalb fehlt nicht nur die bunte Palette des griechischen Pantheons, sondern auch die germanischeZwischenweit der Riesen, Zwerge, Trolle und Geister; mythische Züge sind rar; Gattungen wie Teufels- und Totensagen vom Glauben Israels her unmöglich. -Lassen sich also die ÜLRIKschen Gesetze auch nicht unbesehen auf das Alte Testament übertragen, so rechtfertigen dennoch gewisse Übereinstimmungen den Gebrauch des Begriffs Sage hier wie dort. B. Die zwei Stufen israelitischer Sagendichtung
Schon ÜLRIK hatte darauf verwiesen, daß Sagen nicht nur ihre formale Eigenheit, sondern auch ihre eigene Logik haben. ]OLLES hat dann auf Grund germanischer, griechischer und israelitischer Beispiele versucht, die besondere Geistes b es c h ä f t i g u n g zu erheben, die zum Entstehen von Sagen führt. Wie erwähnt, ist seiner Meinung nach die Welt als Familienzusammenhang die Grundlage jeder Sagendichtung. Kommen Stämme oder Völker in Blick, dann als Blutsverwandte. Heilsgeschichte wird in Familiengeschichte umgesetzt (auch im Blick auf die Götterwelt wird der Familienzusammenhang betont)7. Die Überlieferung von Stammbäumen ist deshalb eine notwendige Begleiterscheinung der Sagendichtung. Solche Kennzeichen herrschen weithin im Alten Testament vor. Die Genesis handelt z. B. nicht thematisch von Königen oder Fürsten, sondern von einer Einzelfamilie; bringt "Geschichten von Brunnen, von Tränkrinnen und aus der Schlafkammer" 8• Kollektive Mächte sind unbekannt; der Sieg eines Heeres wird zum Sieg des Familienhauptes. Die Helden der Erzählung sind jedoch keine auf sich selbst stehende Individuen; ihre Eigenschaften, seien sie gut oder böse, sind Kennzeichen der Sippe. Eine solche Geistesbeschäftigung blüht vor allem bei wandemden Stämmen, verkümmert dagegen, wo sich Staaten bilden, und erhält sich dann nur noch in bäuerlichen Kreisen. Der Staatsbegriff verdrängt die Sage in Israel so gut wie im alten Island. 7
8
Insofern besteht Verwandtsdtafl: zur Mythe, was ofl: zu Konstruktionen der Abhängigkeit geführt hat. Vgl. sdton J. GRIMM: ,.Aller Sage Grund ist nun Mythus ... Ohne solche mythische Unterlage läßt sich die Sage nicht fassen." Bei ]OLLES 2. Aufl. HalleS. 76. 2. Auf!. Darmstadt-Tübingen S. 92. GuNKEL: Genesis S. IX.
186
§ 12 Sagen in der Bibel
]oLLEs' Thesen sind nicht unbestritten geblieben. PETSCH9 hat eingewandt, daß die deutschen Sagen, z. B. vom Rattenfänger in Hameln oder den Sdlildbürgerstreichen, von einer Sicht der Welt als Familienzusammenhang weit entfernt sind. PETSCH meint, das Heldische im weitesten Sinn sei der eigentliche Hintergrund der Sagendichtung, sowohl als kämpferischer Mut wie als religiöse Heiligkeit, aber auch in dämonisch-grauenhafter Art, wie beim Rattenfänger von Hameln. Sage ist demnach "Sonderrede vom Heldischen". Während ]OLLES die Heldensagen ganz der Familiensage eingeordnet hatte: der Held ist nicht Individuum, sondern der heroische Vertreter eines Geschlechts, geht PETSCH den umgekehrten Weg und sieht in der Familiensage eine abkünftige Erscheinung der Heldensage10. Vom Alten Testament her gesehen, wird man PETSCH insofern gegen ]oLLES recht geben müssen, als die Sagen um David von einer Sicht der Welt als Familienzusammenhang wenig spüren lassen. Zwar ist es vielleicht nicht von ungefähr, daß David auf seinem gefährlichen Gang (1. Sam. 26) von seinem Vetter Abisai begleitet wird; aber unmittelbar daneben steht der fremdstämmige Hethiter. Wenn der Familienzusammenhang ungebrochen vorausgesetzt würde, müßten Jonathan und Saul konform handeln; .genau das Gegenteil ist aber der Fall. Für die Davidsagen reicht also eine Erklärung von jener Geistesbeschäftigung her, wie ]OLLES sie zeidmet, nicht zu. Andererseits ist im Blick auf die Genesissage unverkennbar, daß deren Grundlage nicht ein so allgemein gefaßtes Heldisches ist, wie PETSCH es will; sondern daß hier ]OLLES recht zu geben ist. Daraus ergibt sich, daß die israelitische Sage von der Zeit der nomadischen "Erzväter"-Leute bis hin zur beginnenden Königszeit, in der die Seßhaftigkeit selbstverständlich ist, sich tiefgreifend verändert hat. Es gibt zumindest in Israel keine gleichbleibende "einfache Form" Sage, die aus einer unveränderlichen Geistesbeschäftigung hervorgeht. Wie schon GUNKEL11 festgestellt hat, ist vielmehr mit zwei Stufen zu rechnen. Am Anfang steht die frühe Vätersage; später kommt die Sage vom Volkshelden auf, die man freilich besser bäuerlich-nationale Sage nennen sollte, weil sie die Seßhaftigkeit und ein gesamtisraelitisches Bewußtsein voraussetzt. Auch auf der zweiten Stufe ist die Sage beileibe nicht historisch ausgerichtet; auch hier werden alle politischen Motive zu persönlichen. David kommt als berühmter Krieger aus ehrenwertem Geschlecht an Sauls Tafel und nicht auf Grund politischer Entwicklung12. 9 10
11
12
Die Lehre von den "Einfadten Formen", DVfLG X, 1932, 335 ff. Ahnlidt sdtreibt GRESSMANN gelegentlidt von der Sage, "für die alle Begebenheiten nur das Postament sind, Persönlidtkeiten darauf zu stellen" SAT1 II, 1, S. 263. (In der 2. Auflage ist das Postament zum "Sdtemel" erniedrigt!). KdG 71. Der Übergang vollzieht sidt im Zwei-Strom-Land Jahrtausende früher. Sdton die sumerischen Epen setzen Heldensagen voraus.
N omadisehe Vätersage und bäuerliche Nationalsage
187
GuNKEL und- GRESSMANN waren freilidt nodt nicht in der Lage, der eigentümlidten Geistesbesdtäftigung nadtzugehen, die solchen Sagen zugrunde liegt. Man dadtte sidt die Entstehung der Gattung einfadt als eine bloße Addition von geschidJ.tlidJ.en Erinnerungen und altertümlichen poetischen Stoffen13• GuNKEL sieht bei der Gefährdung der Ahnfrau eine Wanderung Abrahams oder Isaaks ins Ausland als möglidten historischen Hintergrund, dem sei nur das Motiv zur Wiedergewinnung der Ehefrau aus anderen Quellen, nämlidt aus Märdtenmotiven, her zugewadtsen14 • Schon BAUMGARTNER15 hat diese Sidtt als zu einseitig getadelt, ohne jedodt eine andere Lösung vorzuschlagen.
Die Wandlung von der nomadischen Vätersage zur bäuerlichen Nationalsage zeichnet sich in der Formensprache ab durch den Obergang vom knappen zum ausgeführten Stil. Während die ältesten Überlieferungen nur das Notwendigste berichten, Reden sehr gedrängt wiedergeben und auf innerseelische Zustände nicht zti sprechen kommen- besonders bezeichnend Gen. 12,10 ff. -,werden auf der zweiten Stufe Reden breit ausgeführt. Die Handlung wird mit "novellistischen" Details ausgestattet und Stimmungen ausdrücklich gemacht durch einen Satz wie: "Hernach schlug David das Gewissen" (1. Sam. 24, 6; 2. Sam. 24, 10). Da die Sagen aus der Väterzeit in diesem zweiten Stadium lebendig bleiben und weiter überliefert werden, werden sie teilweise dem neuen Stil und der neuen Betrachtung angepaßt. Die Vätergestalten interessieren dann nicht mehr als Ahnherren von Sippen oder Stammeshäuptlinge, sondern als Repräsentanten Israels, wie vor allem an den Mose- und Josua-Sagen zu erkennen ist, aber auch an der Abrahamsgestalt in Gen. 20 16 • Die knappe Vätersage und die ausgeführte bäuerlidt-nationale Sage sind nur dann als Gattungen anzuspredten, wenn man den Begriff sehr weit faßt. Eigentlidt sind sie eher eine Geistesbeschäftigung, die sich in jedem konkreten Beispiel sofort in einer Unterart und damit einer Gattung im engeren Sinn ausprägt. Die Vätersage tritt auf als ethnologische (Gefährdung der Ahnfrau) oder ortsätiologisdte Sage (Sodom und Gomorrha z. B.), die bäuerlich-nationale Sage als Heldensage (Saul und David in der Wüste) oder als Sage vom Heiligen Krieg (so meist im Richterbudt). Besonders aufsdJ.lußreidJ. sind jene Gattungen, die sowohl auf der Stufe der Vätersage wie auf der bäuerlidt-nationalen Sage entstehen konnten. So gibt es z. B. die Kultgründungssage, die die Entstehung eines heiligen Ortes mit seinen verehrungswürdigen Gegenständen erklärt, im knappen älteren Stil (etwa Gen. 32, 23 ff: Jakob in Pnuel) wie im ausgeführten bäuerlidt-nationalen Stil (Ladeerzählung 1. Sam. 4-6 u. 2. Sam. 6).
Mit der fortschreitenden Königszeit hört die Sagenbildung in Israel auf. Jedenfalls enthalten die Bücher des Alten Testaments aus der 18
14
15
18
Statt "poetisdt" liebt man heute "mythisch" zu sagen, s. v. d. LEEUW: Phänomenologie der Religion2 1956 S. 472: "Die Sage ist ein Mythus, der unterwegs an irgendeinem Orte oder an irgendeiner historischen Tatsame hängen geblieben ist." GuNKEL: Genesis XXVI vgl. GRESSMANN SAT2 I, 2 S. 10-13. RGG2 V S. 43; anders ]ACOB, RGG3 V, 1302. - "Dieses ,Beiwerk' ist in allen Sagen . . . nidtt als eine fließende, sidt willkürlidt anheftende sekundäre Masse geringzusdtätzen" KRAus (s. u. zu C) S. 327 vgl. 323. Oder sie werden zu Beispielen mensdtlichen Grundverhaltens in der Familie; EISSFELDT: Einleitung3 S. 353; ders.: Stammessage und Menschheitserzählung in der Genesis 1964.
188
§ 12 Sagen in der Bibel
späteren Zeit keine Sagen mehr, und das wird kaum aus der Bruchstückhaftigkeit zu erklären sein, mit der uns die israelitische Literatur leider nur erhalten ist. Vielmehr scheint sich auch hier die These von ]OLLES zu bestätigen, daß jede Staatenbildung der Sage feindlich ist17. C. Sage als eigenständige Geistesbeschäftigung Auf beiden Stufen schildern die israelitischen Sagen Einzelpersoneii, deren Verhalten und Geschick über in d i v i du e 11 e Bedeutung haben. Was Isaak oder Abrahamangesichts der Kulturlandbewohner befürchten und erleben, faßt die Erfahrung ihres Sippen- oder Stammesverbandes in bestimmten" Sprachgebärden" (]oLLES) zusammen. Wie David edelmütig und unerschrocken ist, so fühlen sich die Mannen, die von ihm erzählen und ihm untergeben sind, edelmütig und unerschrocken; zumindest wünschen sie, so zu sein wie ihr König. Die Art und Weise, wie Gott dem Erzvater oder dem König beisteht, ist bezeichnend auch für das Verhältnis Gottes zum Erzählerkreis. Solche Verbindungen legen sich dem Israeliten nahe, weil für ihn eine bestimmte Auffassung vom Verhältnis des Individuums zur menschlichen Gruppe selbstv:erständlich ist. Das Individuum gilt nimt als freies, selbständiges Glied der Gesellschaft, von der es sim u. U. aus eigenem Entschluß lösen kann, sondern es ist gleimsam Zweig am Stamm der Gruppe. Die Gruppe- ob Familie, Stamm oder Volk- ist die eigentlim verantworttime und selbständige Größe, als "körpersmaftliche Persönlimkeit"18 tritt sie Gott oder anderen mensmlichen Verbänden in der Weise eines Groß-Ich gegenüber. Nirgends tritt im Alten Testament die Auffassung von der Corporate Personality so klar zutage wie in den Sagen, die von dieser Oberzeugung her so "personal" vom Schicksal ganzer Verbände berimten. Das gilt für beide Stufen der israelitischen Sagenbildung, nur daß in der Frühzeit stärker die Sippe (bei der Gefährdung der Ahnfrau), später stärker das Volk (bei Saul und David in der Wüste) als körperschaftlime Persönlichkeit betont werden. Der Oberblick an Hand von. zwei Beispielen muß naturgemäß skizzenhaft sein. Aber er verdeutlicht smon, warum die Sage eine durchaus ernst zu nehmende Geistesbeschäftigung im alten Israel und darüber hinaus ist. Die Sicht der Welt als Familienzusammenhang oder als Schauplatz von heldischen Männern hat ihr eigenständiges Recht neben anderen Geistesbeschäftigungen, wie z. B. der Historie. Deshalb geht es nicht an, Sagen durch Abstreichen des Obernatürlichen und vielleicht auch Unwahrscheinlichen auf einen historischen Kern schnell zu reduzieren und sie dann in historische Dar17 18
Aus der jüngeren Zeit Israels haben wir nur noch Legenden, dazu s. § 16. s. A. 28.
Historisches Gehäuse
189
stellungen einzubauen, als ob es sich um nichts anderes handele als um blumenhafte Ausschmückungen historischer Ereignisse. Sage ist etwas ganz anderes, sie ist mehr an der Gegenwart als an der Vergangenheit interessiert. Sie will dem Zuhörer seinen Platz in der Welt unmerklich bewußt machen, .indem sie begeistert, rührt, warnt und vor allem rühmt. Der Zuhörer wird mitgerissen, in die erzählten Geschehnisse hineingenommen. In der Sage spricht sich jeweils eine bestimmte Gemeinschaft aus, enthüllt unbewußt ihr Anliegen und ihre Ziele; es redet der Volksmund19 • Deshalb ist die "Verschriftung" der Tod der Sagengattungen. Sie leben allein in mündlicher Oberlieferung und damit in einer Vielzahl von Varianten. Obwohl sie - für historisches Urteil - Personen und Ereignisse überhöhen, halten sie sich dennoch an die Wirklichkeit der Welt, die unter einem ganz bestimmten Aspekt gesehen wird. Sie endet unter Umständen mit einem unentschiedenen Ausgang (Saul und David) oder gar mit Mißerfolg. Der Historiker kann solche überlieferungen durchaus verwerten. Aber er sollte sie zunächst als Zeugnisse für soziologische, kulturgeschichtliche, geistesgeschichtliche und religionsgeschichtliche Ver h ä 1t n iss e nehmen, indem er nach dem historischen Gehäuse fragt, in das die Sage eingebettet ist. Erst in zweiter Linie läßt sich u. U. nach einem historischen Kern, also einem mehr oder minder gut datierbaren Einzelereignis suchen20 • Der Forscher muß sich freilich bewußt sein, daß er mit solcher historischen Nachfrage "quer" zum eigentlichen Anliegen der Erzählung steht. Denn Sage bringt weniger objektive Erkenntnis als Dichtung. über das, was gut und böse, edel und gemein ist, enthält sich der Erzähler geflissentlich des eigenen Urteils, so sehr diese Aspekte zwischen den Zeilen gleichsam durchklingen. Die Sage wertet nicht ausdrück- . lieh und ist deshalb von jeder bewußten Tendenz viel freier als jede denkbare Geschichtsschreibung21 • Dichtung ist hier freilich nicht 19
20
21
"Immerhin gehört zur emten, ausgebildeten Volkssage zweierlei: Sie muß von Mund zu Mund gegangen, sie muß also wie das Volkslied von einer Gemeinsmaft zuremtgesdJ.liffen sein. Und zweitens: Sie muß aus der Freude am Erzä~len g~boren sein." M. LüTHr: Volksmärmen und Volkssage 1961 S. 46. "D1e metsten (deutsmen) Totensagen sind zugleim audJ. Remtssagen; sie sind Selbstaussagen des Volkes nimt nur über seine Glaubensvorstellungen, sondern audJ. über seine ethisch-rechtlichen Anschauungen." RöHRICH, Vergl. Sagenforschung S. 229. "Es ist also nimt so, daß nur der Kern der Sage gesdJ.ichtlidJ. ist; gesdJ.idJ.tlid:!. ist audJ. die Erfahrung, die bis in die Gegenwart des Erzählers reimt." So v. RAD, der zwismen "Primärerfahrung" und "Sekundärerfahrung" smeidet (ThLZ 88, 1963 Sp. 411). - Selbstverständlich kann die "Glaubwürdigkeit" des Kerns nimt Maßstab für die Einteilung von Sagengattungen sem; BENTZEN: Introduction 16 S. 233. "Wer aber den eigentümlichen poetischen Reiz dieser alten Sagen erkannt hat, der ärgert sim über den Barbaren - es gibt audJ. fromme Barbaren -, der diese Erzählungen nur dann würdigen zu können meint, wenn er sie für Prosa und Geschimte hält. Das Urteil, eine soldie Erzählung sei Sage, soll also dieser Erzählung bei Leibe nimts nehmen; sondern es soll ausspredJ.en, daß
190
§ 12 Sagen in der Bibel
in der unverbindlichen Weise der Unterhaltung zu begreifen (wie sie das Märchen darstellt) oder des kunstvollen Spiels (wie im Epos) 22 • Obgleich wir Spätgeborene also die Sage für bloße Dichtung ansehen, war sie für die Erzähler pure Wirklichkeit, weil sie die Welt sagenhaft erlebten2s. Im Unterschied etwa zu den Sängern homerischer Epen sind Sagenerzähler von der Wirklichkeit des Berichteten überzeugt. "Die Geschichten der Heiligen Schrift werben nicht, wie die Homers, um unsere Gunst, sie schmeicheln uns nicht, um uns zu gefallen und zu bezaubern - sie wollen uns unterwerfen, und wenn wir es verweigern, so sind wir Rebellen." Solche Sätze AuERBACHs gelten freilich für alle ursprünglichen Sagen24 • Sie zeigen, daß Sage eine durchaus ernst zu nehmende Geistesbetätigung ist. Dabei spielen selbstverständlich die alttestamentlichen Sagen eine besondere Rolle, die, schon literargeschichtlich gesehen, zu den "schönsten, erhabensten und anmutigsten, die es überhaupt in der Weltliteratur gibt", gehören25 •
D. Theologische Beurteilung H.-J. KRAus: Gedanken zum theologischen Problem der alttestamentlichen Sage, EvTh 8, 1948/49, 319-328.G.v.RAo: Hermeneutische Probleme der Genesiserzählungen in: Das erste Buch Mose (AID) 11949, 51958, 22-33.
Das bisher Ausgeführte bestätigt nachdrücklich die Sätze, die A. STOEKKER schon vor 60 Jahren geschrieben hat: "Ohne Zweifel hat die biblische Urgeschichte Sagen und sagenhafte Elemente; es ist vergeblich, sich dagegen zu sperren, und es ist Zeit, das der gläubigen Christenheit offen zu sagen" 26 • Damit wird an ein schweres Versäumnis kirchlicher Verkündigung gerührt, die sich bis heute nicht die Mühe
22
23 24
!5 18
der Urteilende etwas von der dichterischen Schönheit dieser Erzählung empfunden hat, und daß er die Erzählung so verstanden zu haben glaubt." GuNKEL Genesis XII. Das gilt selbst dann, wenn GuNKEL darin recht haben sollte (Gen. XXXI), daß es in Israel einen besonderen Erzählerstand gab, der bei öffentlichen Feiern zitierend auftrat. W.-E. PEUCKERT: Sagen 1965 zeigt, wie deutsche Sagen aus ernstgemeinten IchErzählungen entstehen können (S. 11 ff). Mimesis 2 S. 17. Es ist die Schwäche des sonst so großartigen Eingangskapitels in diesem Buch, daß es ein griechisches Epos mit einer alttestamentlichen S a g e , also zwei verschiedene Gattungen, vergleicht und dadurch manches für spezifisch alttestamentlich hält, was Eigenart von Sage überhaupt ist. Zutreffender hinsichtlich israelitischer Eigenart ist die Fortsetzung des obigen Zitates: .In ihnen inkarniert sich Lehre und Verheißung." Denn damit wird auf einen Punkt angespielt, der in der Tat a 1t t es t a m e n tl ich e n Erzählungen eigentümlich ist und selbst in der Heldensage von 1. Sam. 26 eine Rolle spielt, wenn es hier um den Aufenthalt Davids in dem von Jahwä zugelobten Land geht. GUNKEL, RGG2 V 49. Bei GuNKEL: Genesis XIII.
Das Verstehen von Sagen
191
gemacht hat, den Gemeinden klarzumachen, wo sich Sagen finden und was sie bedeuten. Stattdessen ist man lieber im Strom des ödesten Positivismus geschwommen und pochte auf die alleinige Wahrheit dessen, was angeblich exakte Historie sei. Man wähnte, um so gläubiger zu handeln, je bedenkenloser man auf diese Weise verfuhr. Es ist deshalb nicht hoch genug zu veranschlagen, daß in der Gegenwart kein geringerer als Karl BARTH sich eingehend mit dem theologischen Rang der Sage beschäftigt hat. "Es hängt mit der Natur und mit dem Gegenstand des biblischen Zeugnisses zusammen, daß es tatsächlich viel Sage (auch Legende und Anekdote!) enthält27 ." Die Erkenntnis, daß eine biblische Erzählung sagenhaft ist, bricht ihrem Rang nichts ab. Sage ist gedieh tete Wirklichkeit. Wie jeder weiß, gibt es· im Alten Testament große poetische Werke wie den Psalter oder das Buch Hiob, denn Dichtung ermöglicht Einsichten in die Wahrheit menschlichen Daseins, die der Wissenschaft weithin unzugänglich sind. Deshalb ist die Dichtung unentbehrlich, wo vom Menschen letztlich, d. h. im Blick auf Gott, die Rede ist. Warum soll dann nicht auch die V o 1k s dichtun g Mittel göttlicher Offenbarung sein? Wer maßt sich an, dem Herrn der Welt und Geschichte vorzuschreiben, daß er seinen Willen an Menschen nur durch historische Protokolle kundtun darf? Die Verbreitung der Einsicht, daß die ältesten Teile des Alten Testaments sagenhaft sind, ist nicht nur ein Gebot der Stunde, sie ist auch für den Christen (wie für den Nichtchristen) von positivem Gewinn. Zwar gibt es unstreitig im Alten Testament Geschichtsschreibung; 2. Sam. 7-1. Kön. 2 enthalten sogar das erste Geschichtswerk der Weltliteratur überhaupt, 400 Jahre vor Herodot. Dennoch ist der theologische Ertrag dieser und ähnlicher Stücke beschränkt, und ihre ~rauchbarkeit für Predigt und Unterweisung der Kirche ist noch germger. Das bedeutet für unseren Zusammenhang zunächst, daß die Sage ganz anders als die Geschichtsschreibung die Brücke vom gegenwärtigen Hier zum einstigen Dort schlägt, die heimliche A k tu a 1it ä t von scheinbar Vergangenern enthüllt. Erzähler wie Zuhörer finden sich im Tun und Leiden der Vorfahren selbst wieder. Göttliches Handeln an den Ahnen ist göttliches Handeln an ihnen selbst28 • Die Leute, die von der Gefährdung der Ahnfrau wissen, wissen dabei um die Gefahr, die ihnen selbst von den umwohnenden kanaanäischen Kulturlandbewohnern droht und trauen auf Behütung durch göttliche Füh27 28
Kirchliche Dogmatik III/1, 19472 S. 88. Der Israelit vermag deshalb in der Sage sein eigenes Leben mit dem des Helden gleichzusetzen, weil für ihn die Auffassung von der korporativen Pers ö n 1ich k e i t (corporate personality) selbstverständlich ist, s. H. WHEELER RoBINSON in: Werden und Wesen des Alten Testaments, BZAW 66, 1936, 49-62; J. de FRAINE: Adam und seine Nachkommen 1962.
192
§ 12 Sagen in der Bibel
ru:ng. Die Krieger, die von Davids Edelmut in der Wüste erzählen, sehen dabei ihren gegenwärtigen Anführer vor Augen, mit dem Jahwä "ist", wie er es vormals war. Deshalb kristallisieren sich im Zug der Überlieferungsgeschichte auch so selbstverständlich die Erfahrungen nachfolgender Erzähler mit Gott und Welt den Geschichten aus der Vorzeit an. Die Sage ist immer ein Lagerplatz wirtschaftlicher, geistiger und religiöser Erfahrungen unzähliger Generationen. Sie kontrahiert souverän die Zeiten, verdichtet die Ereignisse zu symbolträchtigen Sprachgebärden. - Ein weiterer Vorzug der Sage ist, daß sie die Dimension göttlicher Führung und Bewahrung unmittelbar mit Geschichtlichem verbindet29, und zwar nicht nur mit den Vorgängen bestimmter Einzelpersonen (durch einen historischen Kern), sondern gerade auch mit den schwer greifbaren soziologischen, ethnologischen, geistigen und religiösen Bewegungen (durch das historische Gehäuse). Die Sage vermag unbefangen von Segen und Fluch, Sünde und Gnade, Verheißung und Verwerfung zu erzählen30• Gott und die Geschichte in ihrem Zusammenhang zu erfassen, ist der israelitischen und später der christlichen Geschichtsschreibung längst nicht so eindrücklich gelungen wie der frühen Sage. Gerade die Sagen der Bücher Genesis bis Samuel haben eine viel stärkere missionarische Wirkung gezeitigt als dieGeschichtsschreibungetwa der Königsbücher. Und wie stark haben sie die bildende Kunst bestimmt! Die moderne ,Historie ist bis heute noch nicht imstande, die Frage nach dem Grund und dem Ziel der Geschichte, d. h. aber letztlich die Frage nach Gott, sinnvoll mit historischer Einzelforschung zu verbmden. So ist die alttestamentliche Sage gar nicht zu entbehren, wo das Dasein des Menschen als eines geschichtlichen begriffen wird und nach dem Sinn nicht bloß einer isolierten Geschichtlichkeit des Individuums, sondern nach dem Sinn von Geschichte überhaupt gesucht wird. Geschichte ist überdies ein so weites Feld, daß zu ihrer Erhellung neben der zünftigen Wissenschaft auch Dichtung unbedingt erforderlich ist. GUNKEL hat mit Recht hervorgehoben: "Die poetische Erzählung (Sage) ist viel besser als die prosaische im stande, Trägerin von Gedanken und auch von religiösen Gedanken zu werden31 ." Vermögen wir aber und unsere Zeitgenossen Sagen überhaupt noch zu verstehen? Ist es nicht unmöglich, sie heute anders denn als bloße unverbindliche Fabeln aufzunehmen? Ein Mann wie GUNKEL hat solche kritischen Fragen vielleicht zu leicht genommen, wenn er die28
30
31
"Zu der Sorge, ... Israel könnte in diesen Darstellungen seiner Frühzeit den Kontakt mit der Geschichte verloren haben, ist wenig Anlaß"; v. RAD, ThLZ 88, 1963 Sp. 413. Die starke Verbreitung der Sage hängt mit dem Fehlen eines abstrakten Denkens in Israel zusammen; dadurch werden alle denkerischen Aussagen in Form von Sagen laut. Die Allmacht Gottes oder die Tatkraft eines Führers vermag der Israelit nicht anders zu beschreiben als durch solche Erzählungen. Genesis VIII.
Das Verstehen von Sagen
193
sen Erzählungen gegenüber immer wieder zum reinen Hören und Versenken aufforderte. Hier taucht die Schwierigkeit einer Situation auf, der die Gattungen der Sage seit Jahrhunderten unbekannt geworden sind. Sage aber läßt sich nicht einfach in eine andere Gattung übersetzen. Sie will vorerzählt und gehört und im Hören empfunden werden. Alles Deuten und Erklären kann nur Vorbereitung dazu sein. Als solches ist es aber für uns unumgänglich. Der Hörer oder Leser muß zunächst zwar weniger von Isaak, wohl aber von den lsaakleuten und ihrer wenig beneidenswerten Lage vor Gerar erfahren, um die Erzählung von der Gefährdung der Ahnfrau sinnvoll vernehmen zu können. Der Hörer oder Leser braucht Kenntnis von der Art, wie das Verhältnis der Krieger Davids zu ihrem Herrn und seinem Gott gestaltet war, um den Konflikt beim Zusammentreffen Davids und Sauls in der Wüste in seiner Tragweite zu erfassen. Er benötigt eine Einführung in die Sicht der Welt als Familie, aber auch in die Art antiken Rühmens von Personen und Verhältnissen. Der Hörer wird nach all dem heute die Sage historisch vielfältig vermittelt, also reflektiert und gebrochen vernehmen und nicht mehr wie ein Israelit unmittelbar. Entscheidend aber ist, daß er sie überhaupt noch vernimmt. Wie weit solches Bemühen in die kirchliche Praxis Eingang findet, wird die Zukunft zeigen. An ihm aber hängt ohne Zweifel das sachgemäße Verständnis solcher alttestamentlicher Partien. Das Gesagte darf selbstverständlich nicht zu dem billigen Schluß verführen, als ob die Sage die einzig legitime Weise wäre, über die Geschichte theologisch zu reden. Sie ist nicht die kerygmatische Form, vom göttlichen Wirken unter den Menschen zu reden. Dagegen spricht schon ihr Vorkommen in vielen außerisraelitischen Kulturen. So gewiß kirchliche Verkündigung ohne dichterische Komponente heute und in alle Zukunft undenkbar ist, so gibt es andererseits doch keinen Weg mehr, diese frühe Weise des Dichtens aufs neue wachzurufen und neue Sagen zu produzieren. Der Weg, den das Alte Testament von der Vätersage über die bäuerlich-nationale Sage zur späteren Geschichtsschreibung gemacht hat, ist nicht wieder rückgängig zu machen. Es geht aber entscheidend darum, einen Zugang zu den vorliegenden alttestamentlichen Sagen neu zu gewinnen, weil sonst ein ausschlaggebendes Stück unserer Herkunft als Menschen des 20. Jahrhunderts wie als Christen undurchsichtig bleibt.
Zweites Kapitel: Aus dem Liedgut Die Grundlagen für die Gattungsbestimmung hat H. GuNKEL gelegt in seinem großen Psalmenkommentar von 1926 (HKAT) und dem mit J. BEGRICH zusammen herausgegebenen, materialreichen Kompendium: Einleitung in die Psalmen 1933. Für die formalen Strukturen der Gattungen hat C. WESTERMANN: Das Loben Gottes in den Psalmen 1953 2 1961 einiges nachgetragen; sein Versuch jedoch, die GuNKELsehen Gattungsbezeichnungen zu ändern, hat wenig Zustimmung gefunden. Den Sitz im Leben hat vor allem S. MowiNCKEL in seinen sechsbändigen Psalmenstudien 1921-1924 ausführlich bearbeitet; MoWINCKELS Forschungen sind in seinem neuen zweibändigen Werk: The Psalms in Israel's Worship 1962 endgültig zusammengefaßt. Einen kurzen überblick über die Psalmengattungen geben die alttestamentlichen Einleitungen, vor allem EISSFELDT; auch die Einleitung zuin Kommentar von H.- J. KRAus (BKA T) 31966; über den Forschungsstand unterrichtet mit eingehenden Literaturhinweisen J. J. STAMM: Ein Vierteljahrhundert Psalmenforschung, ThR NF 23, 1955, 1-68. Für die Gattungsgeschichte unentbehrlich ist der Vergleich mit den Psalmen des Zweistromlandes; FALKENSTEIN/V. SoDEN haben sie mustergültig herausgegeben und mit einer formgeschichtlichen Einleitung versehen: Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete (Die Bibliothek der Alten Welt) 1953.
§ 13 HYMNUS 1 : Psalm 135.146.47 F. CRÜSEMANN: Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, 1969.
Wer einmal versucht, das Buch der Psalmen fortlaufend zu lesen, wird bald ermüdet innehalten. Der unvorbereitete Leser stößt einerseits auf eine verwirrende Vielfalt von Aussagen, andererseits aber auf eine ständige Wiederkehr anscheinend gleicher typischer Wendungen. Was ist der Sinn solcher Lieder? Gerade hier hat die Formgeschichte, wie nirgends sonst, das Verständnis der alttestamentlichen Vorstellungen in einer unerwarteten Weise aufgeschlossen. Bei genauem Hinsehen zeigt sich eine Reihe festgefügter Gattungen im Psalter. Unverwechselbar ist zunächst der Hymnus. Dafür drei Beispiele: Psalm 135 Halleluja. A 1 Preiset den Namen Jahwäs I preiset ihr Knechte Jahwäs, 1
Da die Formgeschichte gerade in der Psalmenexegese Allgemeingut geworden ist (vgl. die neueren Kommentare), kann ich mich in den beiden folgenden Paragrafen kurz fassen.
§ 13 Hymnus
196
2 die im Hause Jahwäs stehn I in den Vorhöfen unseres Gottes. 3 Preiset Jah, denn gut ist Jahwä I spielt seinem Namen, denn er ist lieblich. B 4 Denn Jakob hat Jah sich erwählt I Israel als sein Eigentum, 5 denn ich weiß, daß Jahwä groß ist I und unser Herr über allen Göttern steht. 6 Alles, was Jahwä gefällt, führt er aus I im Himmel und auf Erden I in den Meeren und allen Urfluten.
C 7 Wolken heraufftihrend vom Ende der Erde I macht er Blitze zu Regen I Lebenswind herausführend aus seinen Schatzkammern. 8 Welcher die Erstgeburt 1\gyptens geschlagen hat I vom Menschen bis zum Vieh. 9 Er sandte Zeichen und Wunder I in die Mitte Ägyptens I unter den Pharao und all seine Leut~ 10 Welcher viele Völker schlug I und tötete mächtige Könige. 11 Sichon, den König der Amoriter I Og, den König von Basan und alle Könige Kanaans. 12 Der uns unser Land als Erbbesitz gab I als Erbbesitz für Israel, sein Volk. D
13 Jahwä, dein Name bleibt für immer I Jahwä, dein Gedächtnis in alle Geschlechter!
Bt E
14 Denn Jahwä richtet sein Volk I erbarmt sich aller seiner Knechte. 15 Die Götzenbilder der Heiden sind Silber und Gold I ein Werk von Menschenhänden. 16 Einen Mund haben sie und können nicht reden I Augen und können nicht sehen. 17 Ohren haben sie und vernehmen nichts I eine Nase, und doch ist kein Odem in ihrem Mund. 18 Wie sie sind, so ihre Schöpfer I und jeder, der auf sie traut.
D 19 Haus Israels, segne Jahwä I Haus Aarons, segne Jahwä. 20 Haus Levis, segne Jahwä I ihr Gottesfürchtigen, segnet Jahwä. 21 Gesegnet sei Jahwä von Zion aus I der in Jerusalem Thronende. Halleluja! Psalm 146. Halleluja (des Haggai und Sacharja). A
1 Preise Jahwä, meine Seele! 2 Preisen will ich Jahwä, solange ich lebe I meinem Gott spielen, solange ich bin. 3 Vertraut nicht auf Mächtige I auf den einzelnen Menschen, der keine Hilfskraft hat.
Psalm 146 und 47
197
4 Fährt sein Odem aus, fährt er zur Erde zurück I und es vergehen seine Pläne an jenem Tag. B 5 Selig, dessen Hilfe der Gott Jakobs I dessen Hoffnung zu Jahwä steht, seinem Gott!
C
D
6 Erschaffend den Himmel und die Erde I das Meer und alles, was darin ist. 7 Bewahrend die Treue ewiglich I schaffend Recht dem Bedrückten. 8 Spendend Nahrung dem Hungrigen I Jahwä! Freilassend Gefangene. 8 Jahwä! öffnend die Augen der Blinden I Jahwä! Aufrichtend die Gebeugten. Jahwä! Liebend die Gemeinschaftstreuen I 9 Jahwä! Bewahrend die Fremdlinge. Waise und Witwe richtet er auf I aber den Weg der Frevler krümmt er. 10 Jahwä herrscht für immer I dein Gott, Zion, von Ge. 1 schlecht zu Geschlecht. H a11eIuJa.
Psalm 47. Dem Menasseach. Für die Söhne Korahs. Ein Lied mit Musikbegleitung
A
2 Ihr Völker alle, klatscht in die Hände I jauchzt Gott zu jubelndem Schall!
B
3 Denn Jahwä der Höchste ist furchtbar I ein großer König über die ganze Welt.
C
4 Er zwingt Völker unter uns I Nationen unter unsere Füße. 5 Er erwählt uns unser Erbteil I die Herrlichkeit Jakobs, den er liebt. 6 Empor stieg Gott unter Siegesjauchzen I Jahwä beim Schall der Posaune.
A
7 Spielt Gott, spielt I spielt unserem König, spielt!
B
8 Denn als König waltet über die ganze Erde I Gott; spielt ihm ein machtvolles Lied!
C
9 König geworden ist Gott über die Völker I Gott hat sich niedergelassen auf seinem heiligen Thron. 10 Die Fürsten der Völker sind versammelt I als Volk des Gottes Abrahams:
D
denn Gottes sind die Schilde der Erde I hoch erhaben ist er.
198
§ 13 Hymnus
A. Gattungseigentümlichkeiten
So eigenständig jeder der drei Psalmen ist, die gewiß von verschiedenen Dichtern verfaßt wurden, so springen doch die Gemeinsamkeiten der Form ins Auge. Jedes Lied beginnt mit einer Aufforderung zum Lobpreis des großen Gottes Jahwä (A); einem Aufgesang, wie man es früher genannt hat, oder einer hymnischen Einführung, wie GuNKEL es zu nennen pflegte. In der Regel stehen mehrere Imperative im Plural voran, wie es das erste und dritte Beispiel zeigen. Mit ihnen verbunden ist ein Personenkreis, dem die Aufforderung gilt. Seien es nun die, die zu feierlicher Handlung sich im Vorhof des Tempels eingefunden haben (Ps. 135); sei es, daß der Blick weit darüber hinausschweift und die Völkerwelt umfaßt (Ps. 47). Gelegentlich hebt der Hymnus. aber auch mit einer .Selbstaufforderung an: "Preise Jahwä, meine Seele" (Ps. 146). Die Fortsetzung zeigt in solchem Fall aber, daß dennoch ein größerer Personenkreis angesprochen ist (V. 3), der Anfang demnach von einem Vorsänger stammt, der mit seinem Preis nur dem der Gruppe vorangeht. Als Teil B folgt eine thematische Überleitung, meist mit "denn" eingeleitet. Sie stellt die Preiswürdigkeit Gottes heraus. Dieses Stück ist das kürzeste im Hymnus. Offensichtlich streben die Dichter nach äußerster Prägnanz. Preiswürdig ist Jahwä als der Allerhöchste, dessen Macht keine andere Gottheit gleichkommt (135, 5 f.), als König des Universums (47, 3). Bisweilen kann auf indirekte Weise gesagt werden, wie mächtig Gott ist, indem nämlich der Mensch glücklich gepriesen wird, dessen unvergleichliche Hilfe Jahwä ist (146, 5); statt des begründenden "denn" steht dann eine Seligpreisung. Einzigartig ist Jahwä aber auch durch das besondere Verhältnis, das er zu Israel unterhält. So ist auch das Grund des Preises (135, 4) an dieser Stelle2. - Der thematische Satz hängt mit dem voraufgegangenen Aufgesang so eng zusammen, daß er schon an jener anfänglichen Stelle präludiert werden kann; zwischen beiden besteht also enge Entsprechung. Rät der Aufgesang - 146, 3 - vom Vertrauen auf Menschen ab, weil sie keine "Hilfskraft" haben, so wird damit schon auf die thematische Aussage V. 5 vora1.1sgeblickt: Jahwä als einzige Hilfe. Jauchzt die hymnische Einführung-Ps. 135 -über den Namen Jahwäs, der lieblich ist, so wird damit schon präludiert, was dann über die unerreichbare Hoheit Jahwäs und die Einzigartigkeit seiner Beziehung zu Israel thematisch ausgesprochen wird; beides liegt in der israelitischen Rede vom Namen Gottes beschlossen. In Ps. 47 leitet die Aufforderung zum Preis "unseres Königs" (V. 7) bewußt zum the2
Vgl. meine Ausführungen ZAW 67, 1955 S. 206-209 über den Zusammenhang von Zugehörigkeits- und Einzigartigkeits-Formel (besser: - Aussage!) bei der Rede von Israels Erwählung in den Hymnen.
Thematischer Satz und Hauptstück
199
matischen Satz über, daß Gott als König über der Erde waltet (V. 8). - Der thematische Satz ist für den Sinn der Hymnen von ausschlaggebender Bedeutung. Er ist geradezu der Brennpunkt solcher Lieder. An ihm wird sichtbar, wie die Feder des Psalmisten nicht nur von lyrischen Stimmungen bewegt wird, sondern auch von "theologischen" Überlegungen. Dieser Teil fehlt deshalb nur in ganz wenigen, anscheinend besonders alten Hymnen (Ps. 29; 104 z. B.). Es ist deshalb kaum berechtigt, wenn GuNKEL/BEGRICH darin "bloß" eine Überleitung von der hymnischen Einführung zu dem - gleich zu behandelnden....,... hymnischen Hauptstück sehen. In Wahrheit ist die Überleitung das gedankliche Gelenk solcher Psalmen. Am ausführlichsten ist Teil C gehalten, das hymnische Haupts t ü c k. Es entfaltet den thematischen Satz durch eine Aufzählung göttlicher Geschichtstaten. Das Wort "Geschichte" ist dabei weit zu fassen. Es umfaßt neben der Heilsgeschichte Israels im engeren Sinn (Ps. 135) und Jahwäs Walten über der Natur und dem Geschick des Einzelnen (Ps. 146} auch jenes (urzeitliche) Geschehen der Thronbesteigung Jahwäs (Ps. 47), das ihn einst zum König des Universums gemacht hat und das sich, wie andere heilsgeschichtliche Ereignisse, in der kultischen Begehung Israels aufs neue abspiegelt. Das Hauptstück ist bezeichnend für die israelitische ·Art, von Gott zu reden. Das Thema der Überleitung, die göttlime Einzigartigkeit gegenüber dem mensmlichen Dasein, kann der Israelit nimt anders entfalten, als indem er von einem Handeln Gottes in der Zeit berimtet. Gottes Wesen läßt sim gar nicht anders erfassen und besmreiben3 • Was von gesmimtlimen Taten mitgeteilt wird, ist aber stets nimt nur ruhmreim für Gott, sondern zugleim auch heilvoll für die singenden Mensmen. Syntaktism ersmeint das Hauptstück gern als eine Reihe von Partizipien, so Ps. 146. Oder es taucht wenigstens am Anfang ein Partizipium auf (135,7), während die folgenden Sätze dann in der seltenen Zeitform des Perfekts gehalten sind, die vielleicht den Charakter des Ereignishaften für israelitisme Ohren stärker betont. Die Teile A, Bund C sind für einen israelitischen Hymnus unabdingbar und tauchen stets in dieser Folge auf. Um die Aussage zu verstärken, können die drei Glieder zweimal gebramt werden, wie in Ps. 47.- Dagegen variiert der Schluß stark. In der Regel wird als Abgesang die Aufforderung zum Lob Gottes vom Anfang noch einmal aufgenommen (135, 19), gelegentlim nur mit einer einzigen knappen Wendung (146, 10). Ebensogut kann ein thematismer Satz den Hymnus besmließen (47, 10 b) oder er kann neben den Abgesang treten (146, 10a) u. U. erweitert durch einen Hinweis auf jene, schlägt statt "Hymnus" die Gattungsbezeichnung "Beschreibender Lobpsalm" vor, die er von der eines "Berichtenden" Lobpsalms (= Danklied) scharf abhebt; aber "Beschreibung" Gottes ist gerade im Hymnus immer "Bericht" von göttlichen Taten.
3 WESTERMANN
200
§ 13 Hymnus
die die einzigartige Beziehung zu dem einen Gott nicht haben (E 135, 15-18). Die drei Psalmen gehören also einer Gattung mit ausgeprägten Formmerkmalen an, die sich im Psalter etwa 35mal findet. GuNKEL hat dafür die Bezeichnung Hymnus eingeführt, als eine Übersetzung der hebräischen Bezeichnung T ehilla, die in späteren Überschriften durch das gleichbedeutende Halleluja ersetzt wird (z. B. 146 u. 135). Die hebräische Bezeichnung ist sehr aufschlußreich. T ehilla heißt nämlich nicht nur das Preislied über Jahwä, sondern n~ry~ ist Jahwä auch selbst (z. B. 148, 14), n~;:t~ sind seine preiswürdigen Taten. Daraus geht hervor, daß dort, wo Jahwä eingegriffen hat, die göttliche Tat gleichsam zwangsläufig den Preis durch die menschliche Zunge heraufführt. Zu den Taten Jahwäs gehört das menschliche Lob tintrennbar hinzu. Die Rühmung durch Israel ist also Abglanz göttlichen Wirkens, nicht dessen nachträgliche menschliche Interpretation. Infolgedessen kann es heißen, daß Jahwäs n~;:t~ über die gesamte Erde ausgebreitet ist (Hab. 3, 3; Ps. 48, 11). Diese allgemeine i1~;:t~ wird aber in Israel in besonderer Weise laut und das, wie die Psalmen zeigen, in festgeprägter Form. Wo der Hymnus von Jahwä redet, geschieht das in dritter Person. Nur selten streut der Sänger in seiner Begeisterung eine Anrede an seinen Gott ein (z. B. 136, 13). Das ist dann ein spontaner Ausruf, der das Grundgefüge nicht verändert. Der Hymnus wendet ·sich nicht an Gott, sondern an eine breite Öffentlichkeit. Er ist also-was den Bibelleser überraschen mag - kein Gebet. Er ist aber auch nicht gereimte Predigt oder Verkündigung als Anrede an bestimmte Menschen, wie der christliche Theologe vielleicht vorschnell deutet; sondern er ist ein Rühmen Gottes vor aller Welt, das trotz der Vermeidung der Anrede indirekt auf Gott und nicht letztlich auf die hörenden Menschen zielt. Hinter diesen Liedern steht unverkennbar eine :gewaltige Begeisterung der Sänger. Welch ein Enthusiasmus spricht aus einer Aufforderung an sämtliche Völker (Ps. 47), über die Taten des Gottes Israels vor Freude in die Hände zu klatschen! Wo hat derartiges im Leben Israels seinen Platz? B. Sitz im Leben
Nicht überall läßt sich ein Hymnus anstimmen. Zu solchem Lied gehört der festliche Rahmen. Aus den Auf- und Abgesängen läßt sich das deutlich entnehmen. Da wird gesagt, daß das Spielen der Instrumente den Gesang begleitet (47, 7; 146, 2). Nach der Überschrift gehört deshalb die Tehilla zur Gruppe des "'b~~. des mit Musikbegleitung vorzutragenden Liedes (47, 1; aber auch 29, 1; 48, 1 usw.).
Sitz im Leben
201
Weiter wird ein bestimmter Ort der Versammlung angegeben, nämlich das Haus Jahwäs, wo Gott thront, also der Tempel von Jerusalem. Die Gliederung der Kultgemeinde in aaronitische Priester, Ievitische Diakone und in Gottesfürchtige, nämlich Laien, wird vorausgesetzt (135, 1-3. 19. 20). Selbst die Gottestaten im Hauptstück haben bisweilen Bezug auf den heiligen Ort, auf kultisches Jauchzen und Posaunenschall, oder enden mit der Erwähnung der Versammlung auf dem Zion (47, 6. 10; vgl. 78, 68; Ex. 15, 1 ff.). Aus den anderen Hymnen lassen sich ähnliche Belege dutzendweise anführen4 , so daß der kultische Sitz im Leben über alle Zweifel erhaben ist. Das Halleluja am Ende von Ps. 146 und sonst (135?) zeigt wohl an, daß der Gesang des Sängers oder Sängerchores am Ende von der Gemeinde durch ein gewaltiges Echo aufgenommen wurde, wie es jedenfalls aus nachexilischer Zeit ausdrücklich belegt ist5 • Manche Hymnen sind in Liturgien eingebaut (so Ps. 24, 1 f.; 50, 1-15; 81, 2-6; 95, 1-7). Der Kult des alten Israel war reich an Feiern und Begehungen. Lassen sich einzelne kultische Gelegenheiten noch herausstellen, an denen der oder jener Hymnus gesungen wurde? Bei diesem Punkt versagt das sonst so großartige Kompendium von GuNKEL/BEGRICH, wo nur pauschal von israelitischen Festen als Sitz im Leben geredet wird. "Man hat bei den verschiedensten Gelegenheiten doch immer wieder 1\hnliches ausgesprochen6 ." Diese Meinung ist bei dem durch festes Brauchtum ausgezeichneten Israel noch viel unwahrscheinlicher, als wenn jemand behauptete, die christliche Gemeinde sänge an Weihnachten, Ostern und Pfingsten doch immer wieder Ahnliches. Es gibt Anzeichen, daß sich die Gattung Hymnus in Unterarten sondert, je nach den besonderen Begehungen. Untersuchen wir die drei obengegebenen Beispiele! Bei Ps. 47 ist leicht ein besonderer kultischer Sitz erkenntlich. Das Hauptstüc:k, das von einem Emporsteigen Gottes unter Siegesjauchzen und von einem sich Niedersetzen Jahwäs auf seinem heiligen Thron redet, kennzeichnet den Hymnus als Thronbesteigungslied (wie wir es weiter Ps. 93; 96-99 finden). Das verweist auf eine Feier der Thronbesteigung Jahwäs im Jerusalemer Herbstfest (MowiNCKEL) oder wenigstens auf die Feier einer besonderen Huldigung vor dem König Jahwä (KRAus), die mit der Erwartung einer Theofanie verbunden war7• Dieser Akt begann offenbar mit einer Prozession der Kultgemeinde von der Stadt Jerusalem auf den Tempelberg, wie sie 4
5 8
7
GuB 59 ff. 3. Makk. 7, 13; 1. Chr. 16, 36 vgl. Sir. 50, 18 f. s. 68. GuNKEL ist auf den sonderbaren Gedanken verfallen, die hier besungene Thronbesteigung Jahwäs als eine nom ausstehende, es c hat o I o g i s c h e zu deuten, obwohl nimt eine einzige Wendung in diesen Hymnen auf die Endzeit weist. Man wird diese Auslegung GuNKELs, die seinen formgesmimtlimen Grundsätzen widersprimt, kaum anders erklären können denn als unbewußte
202
§ 13 Hymnus
Ps. 24 zeichnet. Oben angelangt und in den Heiligtumsbezirk eingetreten, glaubte man, daß Jahwä zur gleichen Stunde herbeigekommen sei; so pries man seine Königsmacht im Tempel und auf dessen Vorhöfen. Es ist das Verdienst von MowrNCKEL, diese besondere Begehung herausgestellt zu haben 8• Freilich hat er seinen Fund gewaltig übertrieben, indem er von einem Thronbesteigungs/est in Israel redet, ja, das gesamte israelitische Herbstfest als Thronbesteigungsfest deklariert. Der Thronbesteigungsakt war zweifellos nur ein Teil eines sehr viel ausgedehnteren Zeremoniells. Am Tempel und auf dem Vorhof wird auch der Heilsgeschiehtsb y m n u s Ps. 135 angestimmt, aber offenbar bei einer anderen Gelegenheit. Es geht nicht um das Ergreifen der Königsmacht durch Jahwä, sondern um eine Feier der heilsgeschichtlichen Führungen Israels. G. v. RAD hat nachgewiesen9 , daß der Zeitraum vom Auszug aus Ägypten bis zum Einzug in das palästinensische Kulturland für Israel Heilsgeschichte im ausgezeichneten Sinn war, eine Heilsgeschichte, die seit der vorstaatlichen Zeit ihren festen Platz in kultischen Begehungen hatte. Auf einer jüngeren Stufe wird dieser kanonischen Heilsgeschichte die Urgeschichte vorgebaut; deshalb steht in unseren Psalmen die Schöpfung dem Ägyptengeschehen voran. Die wichtigsten Ereignisse dieses Zeitraums wurden durch Priester oder andere berufene Sprecher rezitiert, vielleicht sogar in Art eines Mysterienspieles aufgeführt. Die Gemeinde begleitet den Vortrag oder schließt ihn ab mit einem solchen Hymnus. Sitz im Leben ist also ein Festakt des Gedächtnisses an die Heilsgeschichte. Für Ps. 146 ist dagegen ein bestimmter Sitz im Leben nicht mehr auszumachen. Da das Material an Psalmen beschränkt ist, das uns überkommen ist, und wir außerdem über den israelitischen Kult nur spärliche und meist indirekte Nachrichten besitzen, läßt sich keineswegs überall der Hintergrund der Hymnen erkennen. Auch die nähere Bestimmung der Hymnengruppe, der wir Ps. 146 zuweisen könnten, muß unterbleiben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich um einen umgestalteten Heilsgeschichtshymnus handelt: das Hauptstück beginnt mit der Schöpfung, dann ist von der göttlichen Treue die Rede, was vielleicht die geschichtstragende Treue zum Bund mit Israel meint. Aber ebensogut kann man von der Herrschaft auf dem Zion aus (V. 10) auf ein verwandeltes Thronbesteigungslied schließen oder mit Hans ScHMIDT (HAT) aus der erweiterten Einführung der Verse
8
8
Nachwirkung der ihm überkommenen literarkritischen These, daß die Psalmdichtung später als die Profetie und deshalb von dieser abhängig sei. Psalmenstudien Bd. 2 - Der .heftige Streit um das Thronbesteigungsfest kann hier nicht im einzelnen diskutiert werden. (s. STAMM 46-50; KRAus [BK] zu Ps. 47; MoWINCKEL: PIW I 106 ff.) Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, BWANT IV 26, 1938 = GS 9 ff.
Kultfreie Hymnen?
203
2-4 an die Feier eines besonderen Gelübdedankes denken. Solche Erwägungen bleiben in jedem Fall Spekulation. Hymnen wie der 146. Psalm haben GuNKEL auf den Gedanken gebracht, daß längst nicht alle Stücke dieser Gattung, wie wir sie im Psalter vorfinden, noch lebendem kultischem Brauchtum entsprossen sind. Es sei vielmehr damit zu rechnen, daß die Gattung auch außer h a 1b des Ku I t es nachgeahmt worden ist, von Dichtern geistlicher Lieder zur privaten Erbauung als r e I i g i ö s e L y r i k 10• Dieser Gedanke GuNKELs hat weithin Anklang gefunden, und manche Alttestamentler entwickeln geradezu einen Wetteifer, möglichst vielen Hymnen den Bezug zum tatsächlich geübten Kult abzusprechen. Jedoch solchen Neigungen gegenüber, wie sie dem kultentwöhnten Menschen des 20. Jahrhunderts naheliegen, gilt es, auf der Hut zu sein. Die Gefahr liegt auf der Hand, "protestantische" Wunschträume in die altertümliche Sammlung des Psalters einzutragen. Angesichts der gegenwärtigen Lage der Forschung ist unbestreitbar, daß eine Reihe von Hymnen - so Ps. 135 - ihren kultischen Ort hatte. Noch die in nachexilischer Zeit hinzugetretenen Überschriften mit dem Hinweis auf Ievitische Sängergilden, wie die Korahiten in Ps. 47, oder mit dem Terminus "Lied zur Musikbegleitung" weisen auf eine kultische Handlung. Selbst im späten chronistischenWerk sind alle hymnischen Partien gottesdienstlichen Handlungen zugeordnet (1. Chr. 16, 8 bis 36; 29, 10.--12; 2. Chr. 6, 14 f.; Neh. 9). Dagegen ist es bis jetzt noch nicht gelungen, auch nur einen Hymnus im Alten Testament aufzuspüren, der zu einer kultischen Begehung nicht paßt oder eindeutig Züge privater Dichtung aufweist. Die Annahme kultferner Hymnen, sowenig sie grundsätzlich auszuschließen ist, ist von einem Beweis noch weit entfernt. C. Gattungsgeschichte
Wie alt ist der Hymnus in Israel? Wie lange ist er lebendig geblieben? Welche Wandlungen lassen sich erkennen? Um diese Fragen zu beantworten, ist über den engen Rahmen der obengegebenen Beispiele hinauszugehen. Da sie verschiedenen Hymnengruppen angehören, lassen sie sich zeitlich nicht vor- oder nachordnen. Aus der Frühzeit Israels sind uns glücklicherweise zwei vergleichbare Lieder erhalten11 • Einmal das Mirjamlied Ex. 15, 20 f., nach der Überlieferung unmittelbar nach dem Durchzug durch das Schilfmeer von den aus Kgypten Ausgezogenen angestimmt: 10 Guß 67. Zu Ägypten: S. MoRENZ: Gott und Mensch im alten Ägypten (o. J.) S. 11
101. Unberechtigt ist es, im Zusammenhang der gattungsgeschichtlichen Frage um den Hymnus ]es. 6, 3 heranzuziehen, wie GuNKEL und WESTERMANN es getan haben. ]es. 6, 3 ist zwar ein- wohl aus Ägypten stammender- Kultruf, aber eben gerade kein Hymnus.
204
§ 13 Hymnus
A Singt Jahwä! B Denn er ist ungemein hoch, C Roß und Wagenführer stürzt er ins Meer. Der Gesang wird mit Handpauken und Reigentanz begleitet. Unterdes führt die Profetin Mirjam die Frauen hinaus (wohin?). Das kurze, einprägsame Lied ist gewiß unzählige Male nacheinander gesungen zu denken. Es ist sicher auch bei späteren Anlässen noch oft angestimmt worden. So einfach seine Form ist - selbst der parallelismus membrorum, das unabdingbare Kennzeichen der späteren Poesie fehlt noch-, so sind doch im Kern bereits die Teile der hymnischen Gattung erkennbar: Aufgesang, thematische Überleitung, Hauptstück. Ausführlicher ist das zweite Beispiel, das vielleicht 100 Jahre jüngere Deboralied Ri. 5, 2 ff. Der parallelismus membrorum in seiner altertümlichen stufenartigen Form ist schon selbstverständlich: A 2 Indem Führer führten in Israel I indem sich willig zeigte das Volk- segnet Jahwä!3 Hört, ihr Könige I merkt auf, ihr Fürsten! Ich will (?) für Jahwä I ich will singen, spielen für Jahwä I den Gott Israels! C 4 Jahwä, indem du auszogst aus Seir I einhersduittst von Edoms Gefilde, erbebte die Erde I es troffen die Himmel I ja, die Wolken troffen von Wasser. 5 Die Berge wankten ... Der Aufgesang ist schon ausführlicher. Das Hauptstück schildert breit die Gottestat. Es fehlt die thematische Überleitung wie in den alten Psalmen 29 und 104. - Bemerkenswert ist, daß das Deboralied in manchem den älteren babylonisch-assyrischen Kultgesängen nähersteht als den meisten Hymnen des Psalters. Der Beginn von Aufgesang und Hauptstück mit einer Infinitivkonstruktion- oben mit "indem ... " wiedergegeben- findet sich nämlich auch im Zweistromland; er ist auch in eiriigen altertümlichen Hymnen des Psalters noch erhalten (114, 1; 68, 8)1 2 • Auch die Selbstauf f o r der u n g zu Beginn ist für jene außerisraelitische Psalmendichtung bezeichnend13 • Das Deboralied läßt vermuten, daß die Entstehung der Gattung in Israel durch Einflüsse aus dem Zweistromland gefördert wurde, die wohl über das vorisraelitische Kanaan vermittelt wurden. Es macht außerdem wahrscheinlich, daß die Selbstaufforderung die älteste Form des hymnischen Aufgesangs war. Von 12 13
Vgl. AOT 244 und WEsTERMANN 15. 67, 25. 71. Beispiele bei FALKENSTEIN/v. SODEN S. 235, 237 beginnen jedodJ. mit lmperat. Plur.
Gattungsgeschichte
205
der im Psalter vorliegenden klassischen Form des Hymnus ist das Deboralied freilich noch weit entfernt. Wir werden für den terminus a quo der eigentlichen Hymnendichtung noch gut 100 Jahre unter das Deboralied heruntergehen dürfen; d. h. aber, die eigentliche Hymnendichtung wird nicht vor der Königszeit, vor der Zeit des salomonischen Tempels und der Reichsheiligtümer in Bethel und Dan im Nordreich, entstanden sein. Läßt sich auch eine zeitliche Abgrenzung der Gattung nach unten vollziehen, also ein terminus ad quem bestimmen? Anhaltspunkte geben die chronistischen Bücher. Oben war erwähnt, daß sich in dem großen Sammelwerk Partien finden, die unverkennbar hymnisch gestaltet sind. Es ist jetzt hinzuzufügen, daß der Chronist einen Hymnus nirgends in seiner klassischen Form anführt. Vielmehr folgt den hymnischen Abschnitten stets (mit einer Einleitung "und nun") eine Bitte, die ganz aus dem Stil der aus dem Psalter bekannten Hymnen herausfällt (1. Chr. 29, 13; 2. Chr. 6, 16). Selbst da, wo der Psalter in extenso zitiert wird, wird die Wendung zum Gebet dem Zitat noch ausdrücklich hinzugefügt (1. Chr. 16, 35). Diese Spätstufe des hymnischen Gebets nähert sich damit wieder dem uralten Vorbild aus dem babylonisch-assyrischen Raum14 • In anderen Büchern der Spätzeit gehen dem hymnischen Hauptstück weisheitliehe Reflexionen voran oder folgen ihm nach (Sir. 39, 14b-35; 42, 15 bis 43, 33; Hiob 36, 22-37, 24; 38 f.). Um diese Zeit also- spätestens im 4. vordiristlichen Jahrhundert - ist die Gattung nicht mehr im Gebrauch, entstehen jedenfalls keine Hymnen nach dem alten Schema mehr. Zwischen 1000 und 400 v. Chr. sind also der Psalter und damit auch die. obenzitierten Hymnen anzusetzen·. Mehr läßt sich bislang nicht sagen. Für eine eigentliche Gattungsgeschichte, wie sie bei den Erzählungen des Pentateuchs möglich ist, reicht das erhaltene Material nicht aus. Gehören etwa die strengen partizipialen Sätze im Hauptstück (Ps. 146) der späteren oder der früheren Zeit an? Oder erklären sie sich aus der besonderen Hymnengruppe, in der sie stehen? Ist die Wiederaufnahme der Aufforderung zum Preis Gottes im Abgesang am Schluß Zeichen einer jüngeren Stufe? Beiall solchen Fragen tappen wir noch im Dunkeln. D. Vberlieferungs- und Redaktionsgeschichte C. WESTERMANN: Zur Sammlung des Psalters, Theol. Viatorum 8, 1961/2, 278-284 = Forschung am AT., ThB 24, 1964, 336-343.
Da eine Gattungsgeschichte des Hymnus noch nicht aufzuweisen ist, ist eine Überlieferungsgeschichte der Einzelstücke noch schwerer zu erkennen. Ps. 47 bietet keinen Ansatz zu überlieferungsgeschichtlicher 14
fALKENSTEIN/v. SODEN S. 43 f.
206
§ 13 Hymnus
Untersuchung.- Ps. 146 ist immerhin deutlich, daß in V. 4, wo vom Tod d€s Menschen gesungen wird, nachträglich ein "an jenem Tag" eingefügt wurde, das den Rhythmus sprengt; ein Zeichen einer "eschatologisierenden Redaktion", die in einer ganzen Reihe von Psalmen zu beobachten ist (und sich in der Septuaginta-Vorlage fortsetzt). Mehr ist bei Ps. 135 von der Überlieferungsgeschichte zu erkennen, weil Ps. 136 und Ps. 115 teilweise parallel laufen. Die Übereinstimmungen mit 136 betreffen den Grundbestand von 135, nämlich im Hauptstück die Wendungen: Er schlug die Erstgeburt Kgyptens Er schlug ... und tötete Könige ... Den Sichon, König der Amoriter I und den Og, König vonBasan. Er gab ihr Land als Erbland I Erbland für Israel, sein ... Die wörtlichen Berührungen erklären sich vermutlich daraus, daß im Heilsgeschichtshymnus für bestimmte Ereignisse sich ein geprägter Wortlaut ausgebildet hatte14" (vgl. Dtn. 29, 6; Ri. 9, 10). Auch der Eingang des Hauptstücks wird aus vorgegebener Sprache stammen, da es Jer. 10, 13 ebenso lautet: Er führte Wolken herauf vom Ende der Erde I Blitze und Regen hat er gemacht, führte den Lebenswind aus seinen Schatzkammern. Der Psalmist begnügt sich also bei der Aufzählung der Heilsgeschichte im Hauptstück mit bekannten Wendungen. Von ihm selbst formuliert sind Aufgesang, thematische Überleitung und Abgesang. Dadurch stellt er den Hymnus unter das Stichwort des Namens Gottes. Der Name "Jahwä" ist zu preisen, so wird am Anfang und Ende des Aufgesangs betont und zu Beginn des Abgesangs (V. 13). Nicht weniger als vierzehnmal wird das Wort "Jah(wä)" gebraucht in A, Bund D! Der einheitliche Namenshymnus ist durch eine Überarbeitung von V. 14-18 und damit um das Thema Götzendienst erweitert worden, dessen Wortlaut aus Dtn. 32, 36; Ps. 115, 4-7 herübergenommen wurde. Auch der in 115, 3 vorangehende Vers: Unser Gott ist im Himmel I alles, was ihm gefällt, führt er aus wird übernommen und in den Anfang des Hauptstückes 135, 6 eingebaut. Dadurch verwischt sich der Übergang vom thematischen Satz V. 4f zum Hauptstück. Einstmals hatte das Hauptstück wohl mit einem berichtenden Satz über die Erschaffung der Erde und seine Macht über die unbändigen Wasser begonnen. Das Verhältnis zu den beiden nahestehenden Psalmen ist also verschieden. Die Berührungen mit 136 ergeben sich aus der in mündlicher Überlieferung vorgegebenen Kultsprache, - zu 115 dagegen besteht eine literarische Abhän14"
Oder gehen Ps. 135 und 136 auf den gleichen Verfasser zurück?
Oberlieferungs- und Redaktionsgeschichte
207
gigkeit, die erst nachträglich hinzugekommen ist. Ps. 135 sind also zwei überlieferungsgeschichtliche Stufen voneinander abzuheben. Dadurch wird das Anliegen des ersten Dichters in seiner großen Einfachheit erkennbar: ihm geht es um die überweltlicheMacht und unbedingte Zuverlässigkeit, die für Israel durch den Jahwänamen gewährleistet ist. Was aber im Jahwä-Namen beschlossen liegt, wird aus der anfänglichen Heilsgeschichte erkennbar. Beginnt man mit überlieferungsgeschichtlichen Erwägungen bei einem Psalm wie 135 - was bislang in den Kommentaren noch nicht geschieht -, so ergibt sich zwangsläufig ein Übergang zur Redaktionsg es c h ich t e. Die enge sprachliche Zusammengehörigkeit mit dem folgenden Lied 136 wurde schon berührt. Aber auch der vorangehende Psalm 134 berührt sich so eng mit dem Aufgesang unseres Hymnus, daß der gleiche Verfasser anzunehmen ist. 134 Siehe, segnet Jahwä, alle Knechte Jahwäs! Die im Haus Jahwäs stehn in den Nächten. Erhebt eure heiligen Hände und segnet J ahwä! 135 Preiset den Namen Jahwäs, preiset ihr Knechte Jahwäs. Die im Hause Jahwäs stehn in den Vorhöfen unseres Gottes. Preiset Jah, denn gut ist Jahwä spielt seinem Namen, denn er ist lieblich ... 134 So möge dich Jahwä segnen vom Zion, der Himmel und Erde erschaffi. 135 Gesegnet sei Jahwä vom Zion aus, der in Jerusalem Thronende. Offenbar werden in 134 Knechte Jahwäs aufgerufen, die Jahwä mit heiligen Händen segnen (Priester?), in 135 Knechte, die ihn preisen (Lewiten?)- was durch den anschließenden Hymnus geschieht, in 136 folgt ein Aufruf zum Loben, dem vermutlich die Volksmenge mit dem ständigen Kehrvers nachkommt "denn ewig währt seine Huld" 15 • Zwischen den drei eng verwandten Psalmen wird ein liturgischer Zusammenhang bestehen, sie gehörten einmal zum gleichen Sitz im Leben. Sie bilden gemeinsam den Abschluß der "Lieder des Hinaufsteigens" 120-134 (ErssFELDT; KRAus), die vielleicht einmal ein Liederbüchlein für Wallfahrer darstellten (oder aus dem babylonischen Exil stammen und auf die Rückwanderung voraufblicken; die Sammlung schließt nämlich 137 mit einer grauenhaften Verfluchung Babels)1 6 • 15 K. Kodl: "denn seine Güte währet ewiglidl" EvTh 21, 1961, 531-544. 18 WESTERMANN sieht freilidl in den "Liedern des Hinaufsteigens" (und
im späten Lied 119) einen Einsmuh und zieht 135f zur Hallelujasammlung 111-118.
208
§ 13 Hymnus
Ps. 47 steht jetzt inmitten einer Gruppe von Korahpsalmen, nämlich Ps. 42-49; die Gruppe beginnt mit zwei klagenden Psalmen, geht dann über zu einem Königslied (Ps. 45), das bei der Zusammenstellung vielleimt auf das Königtum Jahwäs gedeutet wurde. Dann folgen, Hymnen über Jahwäs Herrlichkeit auf dem Berg Zion (Ps. 46), das obige Thronbesteigungslied und wieder ein Zionslied (Ps. 48). Den Besmluß bildet ein weisheitlieh reflektierender Psalm mit dem Hinweis auf die Hinfälligkeit des Daseins und die einzig aus der Gemeinsmaft mit Gott erwamsende Hoffnung (49). Ob in diesem Rahmen der 47. Psalm in eine besondere Beleuchtung gerät, wäre noch zu untersumen. Ps. 146 gehört zu dem Halleluja-Kranz Ps. 147-150, der offenbar in steigender Reihe den Preis des Gottes Israels immer kräftiger aussprimt, bis er mit dem Aufruf, mit sämdimen Instrumenten einzufallen (Ps. 150), schließt. Vielleicht gehört diese Hymnenreihe zur Sammlung von Davidpsalmen Ps. 138-145 als krönender Abschluß (EISSFELDT). Von da aus erhält der Ps. 146 eine bestimmte Rolle als Übergang vom Preislied, das ein Einzelner vorträgt (Ps. 145), zu den von der Gemeinde begleiteten Chorliedern. In der Übersetzung der LXX ist bei Ps. 146 ein weiterer Schritt erkennbar. Der Psalm wird auf die Profeten Haggai und Sacharja zurückgeführt. Hier wird die sonst aum in den Überschriften erkennbare historisierende Neigung greifbar (7, 1; 18, 1; 51, 1 usw.), die Psalmendichtung in den Zusammenhang der Geschichte Israels einzubauen und von daher zu verstehen. Die redaktionsgeschichtliche Untersuchung der Psalmen steckt noch in den Anfängen. Bislang hat das Hauptgewicht der formgeschichtlichen Forschung verständlicherweise auf der gattungsmäßigen Bestimmung der einzelnen Psalmen geruht. Nachdem darüber weithin Klarheit herrscht, wäre es jetzt an der Zeit, die redaktionsgesmichtliche Sicht zum Zuge zu bringen. Sie müßte erklären, welme Funktion die ehedem selbständigen kultischen Lieder jetzt innerhalb der schriftlichen Sammlung einnehmen. Zunächst innerhalb der kleineren Sammlungen, wie z. B. der Korahpsalmen oder der Hallelujapsalmen. Ob es darüber hinaus möglich sein wird, den in den fünf Psalmenbüchern jetzt vorliegenden größeren Komplex redaktionsgesmichtlich zu durchdringen, steht dahin. Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese größeren Komplexe auf rein mechanische Art durm Addition der alten sinnvoll gewachsenen Sammlungen entstanden sind.
209 § 14 KLAGELIED DES EINZELNEN UND ERHÖRUNGSORAKEL Psalm 5. 6. Jeremia 15, 15-21 W. BAuMGARTNER: Die Klagegedichte des Jeremia, BZA W 32, 1917 ]. BEGRICH: Das priesterliche Heilsorakel, ZAW NF 11, 1934, 81-92 Ges. Studien, ThB 21, 1964,217-231.
=
Psalm 5. Für den Menasseach ... Lied mit Musikbegleitung. Für den David. A + B 2 Vernimm meine Worte, o Ja h w ä I merke auf mein Seufzen! 3 Horch auf mein Schreien I o mein König und mein Gott! Denn ich will zu dir beten C'?.~~ry) I 4 o Jahwä, mögest du früh meine Stimme vernehmen! Früh rüste ich dir (ein Opfer) zu I und spähe aus ,nach dir'. D
5 Denn du bist nicht ein Gott I der Frevlern sein Wohl:. gefallen zuspricht. Wer böse ist, darf nicht bei dir (im Heiligtum) weilen. 6 Prahler dürfen nicht I vor deine Augen treten. Du haßt alle Übeltäter I 7 umkommen läßt du die Lügner. Mörder und Falsche I sind Jahwä ein Greuel.
E
8 Ich aber darf ob deiner großen Huld I eingeh.', :_n dein Haus, drarf in Ehrfurcht I mich niederwerfen vor deinem heiligen Tempel. 9 0 Ja h w ä ! Leite mich in deiner Gemeinschaftstreue I um meiner Feinde willen! Mache eben vor mir deinen Weg! 10 Denn in ,ihrem' Mund ist nichts Aufrichtiges I ihr Inneres sinnt Verderben. Ihre Kehle ist ein offenes Grab I und glatt ist ihre Zunge. 11 Laß sie büßen, o J ah w ä! I Laß sie fallen durch ihre Anschläge! Ob der Me n'.~e ihrer Sünden verstoße sie I denn sie lehnen sich auf wider dich. 12 Aber laß sich freuen alle, die auf dich trauen I laß sie jubeln immerdar, du wollest sie beschirmen, daß sie jauchzen über dich I die deinen Namen lieben. 13 Denn du segnest den Gerechten, o Jahwä! I Wie mit einem Schild bedeckst du ihn mit deinem Wohlgefallen.
B C B
D
210
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel
Psalm 6. Für den Menasseadt. Mit dem Saiteninstrument (?). Auf der Achten. Lied mit Musikbegleitung. Für David.
A + B 2 0 Ja h w ä ! Strafe mich nicht in deinem Zorn I und züchtige mich nicht in deinem Grimm! 3 Sei mir gnädig, o Ja h w ä I deim ich verschmachte, heile mich, o J ah wä! I C denn meine Gebeine sind erschrocken, 4 tief erschrocken meine Seele - du aber, o Ja h w ä, wie lange? B 5 Kehre wieder, o Ja h w ä, errette mein Leben I hilf mir um deiner Treue willen. D 6 Denn im Tod gedenkt man deiner nicht I wer wird in der Unterwelt dich preisen? C 7 Ich bin müde geworden von meinem Seufzen I die ganze Nacht tränke ich mein Bett, feuchte mein Lager mit Tränen I 8 mein Auge schwindet hin vor Gram, 9 ist trübe geworden ob all meinen Drängem. X
Weicht von mir, ihr Übeltäter alle I denn Jahwä hat mein lautes Weinen gehört. 10 Gehört hat Jahwä mein Flehen I Jahwä nimmt an mein Gebet (n~~J;I). 11 Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde I und abermals werden sie zuschanden im Nu.
Jeremia 15, 15-21: A + B 15 0 Ja h w ä ! Gedenke mein und suche mich heim! I Räche mich an denen, die mich verfolgen! Raffe mich nicht weg in deiner Langmut I erkenne, wie ich um deinetwillen Schmach trage! E 16 Fanden sich Worte von dir, so verschlang ich sie I zur Wonne wurden mir deine ,Worte'. Zur Freude meines Herzens(ward es mir) I daß ich deinen Namen trage, A o Jahwä, GottZebaoth. C 17 Nie saß ich fröhlich im Kreise der Scherzenden I unter dem Druck deiner Hand sitze ieh einsam, denn mit Grimm hast du mich erfüllt. 18 Warum, Jahwä, ward mein Schmerz denn ewig I ward meine Wunde unheilbar und will nicht gesunden? Wie ein Trugbach wardst du mir unweigerlich I wie ein Wasser, auf das kein Verlaß ist.
Jer. 15, 15-21
211
0 19 So hat Jahwä gesprochen daraufhin: Wenn du· dich bekehrst, so lasse ich dich wieder I vor mir stehen, und redest du Edles, nicht Gemeines, I so darfst du mein Mund sein. Sie sollen sich zu dir hinwenden I du aber wende dich ihnen nicht zu!
Q 20 Ich mache dich für diesesVolklzur festen ehernenMauer, und sie werden wider dich streiten I dich aber nicht überwältigen. S Denn ich bin mit dir I dir zu helfen, dich zu retten, raunt Jahwä. Q 21 Ich errette dich aus der Hand der Bösen I erlöse dich aus der Hand der Tyrannen. R
Häufiger als der Hymnus tritt eine andere Gattung im Psalter deutlich hervor, die des Klageliedes des Einzelnen. Diese Gattung ist es, die das landläufige Bild von "dem Psalm" als einem Lied ex profundis geprägt hat. Sie findet sich auch in den fälschlich "Monologe" genannten Klagegedichten des Jeremiabuches1•
A. Bestimmung der Gattung
Trotz großer Verschiedenheit in Stil und Ausdruck zeigen die drei Lieder den gleichen Typus. Sie gehören zu dem, was der Hebräer Tefilla nennt (6, 10, das entsprechende Zeitwort 5, 3, weiteres GuB 258 f.), welcher Gattung etwa ein Drittel aller Psalmen zugehört. Wiederum geht es nicht darum, eine erschöpfende Einzelinterpretation der drei Stücke vorzulegen, sondern die Kennzeichen der Gattung herauszuarbeiten. Das Lied hebt stets mit einer Anrufung des Gottes an (A), die in der Regel am Beginn, mindestens aber im 1. Vers laut wird. Der Sänger erfleht also Gehör bei dem Gott Israels. Hier haben wir vor uns eindeutig - was beim Hymnus nicht der Fall ist - ein an Gott gerichtetes Gebet. Ein Israelit schreit aus der Not seines Lebens auf zu seinem himmlischen Herrn. Die Anrufung ist eng mit der Bitte verbunden (B), die manchmal kunstvoll gestaffelt ist1" vom allgemeineren zum besonderen Anliegen. Zunächst wird nur erbeten, daß Gott das Schreien hört und die Not bemerkt (Ps. 5, "Gedenke meiner", 1
1"
Die Klagegedichte im Jeremiabuch, von denen Jer. 15 als Beispiel angeführt ist, sind nicht zu verwechseln mit dem Büchlein der Klagelieder (Threni), das (zwar nicht im hebräischen Text, wohl aber in den Bibelübersetzungen) ebenfalls Jeremia zugeschrieben wird. GuB 218-221.
212
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel
]er. 15). Dann wird ein göttliches Eingreifen erfleht und gesagt, wie es erfolgen soll und wie nicht: "Räche mich ... raffe mich nicht weg" {]er. 15); "Strafe mich nicht, sei mir gnädig" (Ps. 6). Endlich wird um Wende derNot gerufen: "Heile mich!" (Ps. 6). Zur Fülle der flehenden Imperative kann die Schilderung derbittenden Haltung selbst treten: "Frühe rüste ich dir ein Opfer und spähe aus nach dir" (Ps. 5). Trotz der erstaunlichen Variation im einzelnen ist der Eingang dieser Psalmen (A + B) also von einer festen sprachlichen Prägung getragen. Ein Einzelner, ein Privatmann2 , wendet sich mit seinen persönlichen Nöten und Sorgen an seinen Gott. Von einer Gemeinde ist - anders als im Hymnus - nichts zu merken. Dennoch paßt er sich einer altüberkommenen Sitte an, wenn er bittet, und gibt sich damjt indirekt als Glied eines Oberlieferungskreises zu erkennen. Das Motiv der Bitte wird in der Regel an späterer Stelle noch einmal aufgenommen und dann konkreter geformt (5, 9; 6, 5). Wo die Bitte am Ende nochmals auftaucht, ist sie in die Form des Wunsches gefaßt, eines Wunsches, der sich weniger auf den Bittenden selbst als auf seine Gesinnungsgenossen wie auf seine Feinde erstreckt (5, 11). Solche Wunschbitten sind vermutlich aus uralten Segens- und Fluchformeln herausgewachsen3 • Sie zeigen, daß der Beter nicht als isoliertes Individuum vor seinen Gott tritt, sondern sich durchaus einer Gemeinde zugehörig weiß; aber das merkt der Leser höchstens am Ende des Liedes. An die einleitende Bitte können sich verschiedene Stücke anschließen. Zumeist folgt aber eine Klage (C; so Ps. 6). Dieses Glied fehlt in keinem einzigen dieser Psalmen. Es hat jedoch keinen festen Ort. Häufig taucht die Klage zweimal auf (Ps. 6). Oft nimmt sie den größten Teil des Klageliedes ein {]er. 15). Mit einem "denn" wird sie in der Regel gegen das Vorangegangene abgesetzt (5, 10; 6, 3). Während Anrufung und Bitte auch in unseren christlichen Gebeten selbstverständlich sind, wenn uns auch die Leidenschaftlichkeit alttestamentlicher Bitten überraschen mag, trägt die Klage Züge, die einem modernen Gebet fremd sind. Ihr Inhalt ist die Schi 1d erung der Not. Der Beter jammert über den eigenen Zustand (6, 7) oder über die hinterhältigen Umtriebe seiner Feinde (5, 10) oder auch über das Fernsein Gottes (so in dem berühmten Eingang des Ps. 22 "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"). Eine Besonderheit ist es, wenn der Beter - wie Jeremia es tut - sein 2
3
Anfangs war das Klagelied wahrscheinlich nur für den König möglich, später ist es demokratisiert, d. h. für jeden Volksgenossen üblich geworden. Bisweilen ist schwierig zu entscheiden, ob in einem Psalm der König betet oder ein Privatmann königliche Ausdru
Klage, Vertrauensäußerung und Beweggrund zum Eingreifen
213
Leid aus dem aufopfernden Dienst für die göttliche Sache herleitet. In manchen Klagen schweift der Blick so sehr auf die Not des Bittenden ab, daß es den Anschein hat, als gerate das göttliche Gegenüber außer Sicht. Ungeschminkt läßt der Sänger seine Verzweiflung laut werden, bis hin ZU direkten Vorwürfen gegen Gott. Das bahnt sich schon in der bangen Frage an: "Du aber, wie lange?" (Ps. 6), klingt kritischer in der Warum-Frage (]er. 15) und steigert sich bis zum rasenden Satz des Profeten: "Wie ein Trugbach wardst du mir, wie ein Wasser, auf das kein Verlaß ist." Der Freimut, mit dem ein Israelit in der Klage Gott gegenüber sagt, wie er denkt und fühlt, ist für den Abendländer erschreckend; dieser Tatbestand sollte eigentlich schon genügen, das altüberkommene Vorurteil zu widerlegen, der Gott des Alten Testaments sei ein despotischer Herr und der Mensch vor ihm nichts als ein Sklave. Noch ein eigenständiges Glied (D) gehört zum Klagelied des Einzelnen. GuNKEL-BEGRICH haben es den Trostgrund genannt oder die Kußerung des Vertrauens dort, wo die Blickrichtt.mg vom Los des Beters ausgeht; sie haben es Beweggrund göttlichen Eingreifen s geheißen, wo die Sachlage aus dem Blickwinkel Gottes gesehen wird. Der Klagelieddichter setzt dieses Motiv meist durch ein betontes "Du aber", "ich aber", "denn nicht" von der Umgebung ab. So bei der Vertrauensäußerung Ps. 5, 5: "Denn du bist nicht ein Gott, der Frevlern sein Wohlgefallen zuspricht" und nochmals am Ende des gleichen Psalms: "Denn du segnest den Gerechten." An den Abscheu Gottes gegen alles sittlich fragwürdige Verhalten wird ebenso appelliert wie an seine aus der geschichtlichen Erfahrung bekannte Zuneigung zu den rechtschaffenen und gemeinschaftstreuen Menschen. Dabei kann der Stil der Darstellung so weit getrieben werden, daß von Jahwä in der dritten Person die Rede ist (5, 7), die Anrede also vergessen wird. Der Beweggrund göttlichen Eingreifens lautet Ps. 6: "Denn im Tod gedenkt man deiner nicht", was nichts anderes bedeutet als eine freundliche Mahnung, dem Beter aufzuhelfen, damit einer mehr auf Erden Jahwäs Ruhm kündet. Gott wird also auf eine mögliche Einbuße hingewiesen, die seinem Ruhm abträglich sein könnte. Dahinter versteckt sich wiederum ein Trost, daß Gott nämlich an jedem Menschen liegt, der auf Erden sein Lob laut werden läßt. Eine Abart dieses - direkten oder indirekten - Trostgrundes ist die Unschuldsbeteuerung (E), mit der der Beter auf seinen bisher untadeligen Lebenslauf weist. Besonders nah legt sich das einem Profeten: "Fanden sich Worte von dir, so verschlang ich sie, zur Wonne ward mir dein Wort." Jeremia gibt diesem Abschnitt besonderen Nachdruck, indem er ihn mit einer Anrufung abschließt: "o Jahwä, Gott Zebaoth." Vielleicht ist auch Ps. 5, 8 als Unschuldsbeteuerung gemeint: "Ich aber darf ob deiner großen Huld eingehen in dein Haus." Die Huld Gottes P~t') ist seine Bundestreue, mit der
214
§ 14 Klagelied des Einzelnmund Erhörungsorakel
er sich dem Rechtschaffenen zuwendet. Der Beter gibt sich also als rechtschaffen und fromm zu erkennen, indem er an diese Treue Gottes appelliert. Manche Klagepsalmen enden mit einer Gewißbei t der Erhörung (X), die sich durch den Ton der Zuversicht von den vorangegangenen Bitten, Klagen und Trostgedanken auffällig abhebt. Ein jäher Stimmungsumschwung muß vor sich gegangen sein. Bisher Jammer und Verzweiflung, jetzt unbedingte Zuversicht. Wie erklärt sich das? BEGRICH hat das aus dem Sitz in:i Leberi des Klageliedes heraus begreiflich gemacht. Ein Klagepsalm wird im Heiligtum vorgetragen. Ihm antwortet ein bevollmächtigter kultischer Sprecher, entweder ein Priester oder ein Kultprofet, mit einem Erhörungsorakel (0-S), das Heil und Erhörung kündet. Leider fehlt der Wortlaut solcher Orakel im Psalter, weil der Sängerdes Klageliedes darüber nicht selbst verfügen kann4 • Die Klagelieder werden offenbar von Männern vorgetragen, die nicht zu den bevollmächtigten Sprechern eines Gotteswortes gehören. Deshalb fehlt in ihnen der' göttliche Bescheid, der aber vermutlich bei einem Klagelied im Tempel regelmäßig folgte. Das ist aus den Erhörungsorakeln zu schließen, die sich glücklicherweise in den Klagegedichten des Jeremiabuches erhalten haben und dort aufgenommen sind, weil Jeremia als Profet zugleich Beter und Orakelempfänger sein kann. Ähnliches zeigt sich beim Profeten Deuterojesaja, wo 24mal Erhörungsorakel auftauchten5 • Immerhin zeigen auch die Psalmen Spuren eines solchen Orakels. Der Beter von Ps. 5 späht aus nach einer göttlichen Antwort (5, 4) - was soll damit anders gemeint sein als ein priesterlicher oder kultprofetischer Bescheid? -, es geht ihm um das Zusprechen des göttlichen Wohlgefallens, das auch versagt werden kann. Auch die Segnung des Gerechten als ein Bedecken mit göttlichem Wohlgefallen (5, 13) mag auf diesen Akt vorausblicken. Noch deutlicher ist der Zusammenhang zwischen Klagelied und Erhörungsorakel aus dem Motiv der Gewißheit der Erhörung zu erschließen. Dort wird weithin deutlich auf eine ausdrückliche Annahme des Gebets zurückgeschaut (6, 10; in anderen Klageliedern heißt es sogar ausdrücklich: "Du hast mir geantwortet" 22, 22 Ende). Ein bloß innerseelischer Umschwung beim Beter genügt kaum zur Erklärung dieser erstaunlichen Aussagen am Ende der Klagelieder. Das Erhörungsorakel hat seinen eigenen Aufbau. Zwar ist nicht klar, ob die Einleitung bei Jeremia: "So hat Jahwä gesprochen" zum Gefüge dieses Orakels gehört. Sie taucht sonst bei den Klagegedichten des Jeremia nicht auf, dafür aber oft bei seinen Zukunftsworten (2, 2. 5; 4,3. 27 usw.). Sie gehört also eher der eigentlichen profetischen 'GuB 247. 5
BEGRICH, Studien zu Deuterojesaja, BWANT IV, 25, 1938, 2ThB 20, 1963. BEGRICH redet vom Heilsorakel, ein unglücklicher Terminus denn Erhörung bedeu- . tet nicht notwendig Heil! '
Erhörungsorakel
215
Rede als dem Erhörungsorakel zu. Ebenso wird die abschließende Wendung: "Raunt Jahwä" nicht orakelhafter, sondern profetischer Stil sein. Wurzelhaft dagegen im Orakel ist das Hilfevers p r echen (Q), das die Behebung der Not verheißt und deutlich auf das vorangegangene Klagelied Bezug nimmt. Hat Jeremia geklagt, daß er verfolgt und von den Feinden mit Schmach beladen wird, so kommt die Antwort: "Ich mache dich für dieses Volk zu einer festen ehernen Mauer." Das Motiv kehrt oft ein zweites Mal wieder, so Jer. 15,21: "Ich errette dich aus der Hand der Bösen." Bei dieser Aussage vom göttlichen Eingreifen tritt stets das Ich Gottes zutage, ebenso aber die besondere Situation des Angeredeten. Eng damit verbunden ist ein Blick in die nähere Zukunft, nämlich die Folge des göttlichen Eingreifens (R): weiterhin werden die Feinde gegen Jeremia aufstehen, aber vergeblich. Darüber hinaus erhält das Orakel eine Begründung aus dem besonderen Verhältnis heraus, in dem Gott zum Beter steht (S), also eine allgemeine Heilszusicherung6. Auch hier zeigt sich der erstaunliche Reichtum kultischer Formen im alten Israel und die bewundernswerte Kunst, mit der die israelitischen Frommen es verstanden haben, bei aller festgefügten Sitte ihrem persönlichen Empfinden und Hoffen Ausdruck zu geben. Die Bauglieder eines Klageliedes des Einzelnen sind zwar stets voneinander getrennt und als Sinnabschnitte voneinander abgehoben. Dennoch vertreten die Psalmisten keinen ästhetischen Purismus. Vor allem die drei wichtigen Elemente: Bitte, Klage und Tr~;~stgrund gehören für sie untrennbar zusammen. Deshalb können Trostgedanken in der Bitte schon anklingen, indem auf die Gemeinschaftstreue und Langmut Jahwäs oder auf seinen Zorn verwiesen wird. Ebenso kann der jammernde Hinweis auf die Bosheit der Feinde an diesem Punkt der Bitte schon vorweggenommen werden oder auch das eigene Verschmachten (5, 9; 6, 2. 5; Jer. 15, 15). Das Hinüberspielen des einen Motivs in das andere ist alles andere als erstaunlich, ist das Klagegebet doch eine Sinneinheit; erstaunlich ist eher, daß die Abgrenzung der Abschnitte in der Regel folgerichtig durchgehalten wird.
B. Sitz im Leben Wie beim Hymnus, so hat beim Klagelied des Einzelnen GuNKEL die Entdeckung gemacht, daß die Gattung ursprünglich auf kultischem Boden gewachsen ist. Besonders deutlich wird das in Ps. 5. Der Beter hat sich in der Proskynese niedergeworfen vor Jahwäs heiligem Tempel (V. 8) oder will das nach Erhörung seines Liedes tun. Darüber hinaus hat er früh am Morgen seinem Gott etwas "zugerichtet": das hebräische Wort ( 11:11) ist ein fester Terminus der Kultsprache und bezieht sich auf das Aufschichten der Holzscheite und Fleischstücke beim Brandopfer auf dem Altar (Lev. 1, 7 f. 12; 6, 5). Das Klagelied des Einzelnen ist also mit einem Brandopfer verbunden, wie es auch aus 6
HoRsT, HAT zu Hagg. 1, 13: Ermutigungsformel.
216
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel
anderen Psalmen deutlich wird7 • Ps. 6 (wie ]er. 15) gibt keinen näheren Anhaltspunkt für einen Sitz im Leben, was bei der Kürze solcher Lieder begreiflich ist und weder für noch wider einen kultischen Haftpunkt spricht. Immerhin hat die nachträgliche Überschrift "Ein Lied mit Musikbegleitung für David" das Lied augenscheinlich dem Jerusalemer Tempel zugeordnet, und das am Schluß vorausgesetzte Erhörungsorakel läßt solchen Ort als ursprünglich vermuten. Im Unterschied zum Sitz im Leben der Hymnen werden wir damit zu rechnen haben, daß das Klagelied des Einzelnen nicht dem öffentlichen Gottesdienst zugehört, sondern einer privaten Begehung, einer "Kasualhandlung". Der Beter kommt, von seiner Not getrieben, an einem Alltag zum Tempel, bringt ein Opfer mit und bittet einen Priester um den Vollzug eines Klageritus. Anlaß ist entweder eine Krankheit, die den Beter in Todesgefahr gebracht hat (Ps. 6); sie weckt die Frage nach der Ursache, die der Beter in seiner Sünde fand 8 • Die Sünde reizte Jahwäs Zorn; deshalb bittet er um Gnade. Oder der Anlaß sind Umtriebe von Feinden, die auffallend oft erwähnt werden (Ps. 5; ]er. 15) und über deren Charakter in der Psalmenexegese wenig Klarheit herrscht. Die einen denken an nachexilische Parteiengegensätze zwischen einer frommen, aber armen Schicht und einer einflußreichen, religiös gleichgültigen Oberschicht. Andere deuten die Feinde national als äußere Gegner Israels und damit des einzelnen Israeliten. MowiNCKEL denkt weithin (so bei Ps. 69 ) an Zauberer, die im Unheimlichen ihr Wesen treiben und anderen Krankheiten anhexen. Hans ScHMIDT endlich (HAT) schließt auf Gerichtsverfahren, in denen die Feinde gegen den Beter als Prozeßgegner auftreten (so bei Ps. 5, weil dort die Feinde mit ihrem Mund sich am Beter vergangen haben V. 10) 9 •. Was den kultischen Sitz im Leben betrifft, hat GuNKEL die These vertreten, daß er bei sehr vielen dieser Psalmen schon längst verlassen ist. Er bestreitet MowiNCKELS konsequent kultische Deutung aller Klagelieder des Einzelnen. Gerade in Ps. 6 ist vom Bett und Lager des Dichters die Rede, er sei also im Privathaus entstanden: "MoWINCKEL hat bezweifelt, ob man auf dem Schmerzenslager so häufig, wie in diesen Gedichten geschehen, zu dichten pflege. Aber wer weiß es nicht, daß es der Seele natürlich ist, in Schmerzensnächten und Todesängsten den ewigen Trost zu suchen und daß dem dichterisch Begabten in solchen schweren Stunden die Verse zufließen?" 10 • Steht bei solcher Argumentation aber nicht das christliche Bürgertum des 7 Guß 177. s Im Hintergrund steht die Überzeugung von schicksalwirkender Tat und dem unlösbaren Sünde-Unheilzusammenhang; vgl. K. KocH: Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament? ZThK 52, 1955, 1-42. 9 Mowinckel, PIW II 6. 9 • Ahnlieh W. BEYERLIN: Die Rettung der Bedrängten in den Feindpsalmen ... FRLANT 99, 1970. 10 Guß 182.
Sitz im Leben
217
19. Jahrhunderts allzusehr Pate? Was.in dieser Zeit "jeder weiß", ist für das palästinensische Altertum wesentlich schwerer vorzustellen. Kann man denn im Ernst daran denken, daß in den engen israelitischen Hütten, wo Menschen und Tiere in einem einzigen Raum nächtigen und der Kranke zudem als ein von Gott Geschlagener mißtrauisch von seiner Familie angesehen (und angeschrien) wird, wo in den schmalen Gäßchen die Nachbarn jedes laute Wort mithören, daß da ein Kranker womöglich mitten in der Nacht seine Stimme erhob zu lautem Gesang? Warum soll der Beter von Ps. 6 nicht im Tempel von seinen schlaflosen Nächten im Hause geredet haben? Vielleicht war er so bettlägerig, daß ihn Freunde zum Heiligtum getragen haben! Andrerseits wird man im Blick auf ein Heiligtum wie Jerusalem zu fragen haben, ob dort irgendein beliebiger israelitischer Laie schlankweg ein Lied anstimmen konnte. Die nachexilischen Überschriften weisen viele Klagelieder des Einzelnen einer Sängergilde zu. Es ist die Frage, ob die Klagelieder nicht von einem beamteten S ä n g er im Auftrag der jeweiligen Beter vorgetragen wurden .. GuNKEL hat jedoch insofern recht, als beim Klagelied des Einzelnen die kultische Verwurzdung weniger greifbar ist als beim Hymnus. Heilige Orte und Opfer werden verhältnismäßig selten erwähnt. Einige Klagelieder erwecken sogar den Eindruck, fern vom Zion und Tempel gesungen zu sein, so z. B. Ps. 42-43, wo der Psalmist sehnsüchtig an eine frühere Wallfahrt zum Tempel denkt und "vom Lande des Jordan und des Hermon her zu Gott ruft". Er gibt der Hoffnung Ausdruck, wieder zum "heiligen Berg" gelangen zu dürfen11 • Ahnlieh schreit der Sänger von Ps. 61 vom "Ende der Erde her" 12 • So mögen-einzelne Klagelieder tatsächlich fern vom Kult und Opfer gesungen worden sein; aber vermutlich nicht von gewöhnlichen Bürgern, sondern auch da von ausgebildeten Sängern. Denn in den erzählenden Partien des Alten Testaments wird zwar bisweilen von Klagegebeten berichtet, die an profanen Orten gesprochen worden sind; sie sind dann aber stets prosaisch gehalten, selbst wenn ein König (2.Sam.24, 10. 17;2.Kön.20,2f.) oder ein Profet (1.Kön.19,4) die Bittenden sind. Die Davidserzählung (2. Sam. 7, 18 ff.) zeigt zudem, daß man, wenn irgend möglich, "vor Jahwä" hintrat, d. h. an ein Heiligtum, um zu beten. Die einzige poetische Ausnahme wären die Klagegedichte des Jeremia, wenn nicht auch sie (so WEISER, A TD) an den Tempel gehören. Noch das Gebet der Seeleute Jona 1, 14 und 11
12
Einem schwer Erkrankten wird außerdem untersagt g~wesen sein, den Tempel zu betreten (vgl. 2. Sam. 5, 8). Das abgedroschene Argument, daß einige Klagelieder äes Einzelnen angeblich "den Kult" ablehnen (Ps. 42; 51; 69), sollte endlich aus der Diskussion verschwinden. Selbst wenn dort die Opfer zugunsten des Liedes abgewertet werden, geht es doch damit nur um eine Umschichtung inner h a 1b des Ku 1t es. Das kultische Lied wird gegenüber dem Opfer bedeutsamer; vgl. MowiNCKEL PIW II, 21 ff
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel
218
wohl auch das Gebet Neh. 1, 5-11 sind prosaisch gefaßt (vgl. Tob. 3; Judith 9; 13, 4 f.). Erst in später Zeit begegnen uns ausgeführte poetische Klagelieder im Psalmenstil auch außerhalb des heiligen Bezirkes (Oratio Manassis; Hiob 9,27-10,22; 13,23-14,22; Sir. 22, 27 bis 23, 6); aber an diesen Stellen ist die Gattup.g schon stark abgewandelt, und es ist zweifelhaft, ob die Bezeichnung "Klagelied des Einzelnen" noch angebracht ist.
C. Gattungsgeschichte
J.
BEGRICH: Die Vertrauensäußerungen im israelitischen Klageliede des Einzelnen und in seinem babylonischen Gegenstück, ZAW 46, 1928, 221 bis 260 = Ges. Stud., ThB 21, 1964, 168-216 - C. WESTERMANN: Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament, ZAW 66, 1954, 44-80 = Forschung am AT., ThB 24, 1964, 266-305- A. WENDEL: Das freie Laiengebet im vorexilischen Israel, 1931.
Wer von den Klagepsalmen herkommt, findet zu seiner Überraschung, daß in den frühen Erzählungen des Alten Testaments Bitten und Klagen von Privatpersonen häufig erwähnt werden, aber immer nur getrennt voneinander. Die Klage findet sich in einfachster Form im Mund Rebekkas Gen. 25,22: Wennso-warum ,lebe ich'? mit der bezeichnenden Fortsetzung des Erzählers: "Sie ging hin, Jahwä um ein Orakel zu befragen." Klage und Orakel gehören also zusammen. Ähnlich bei Mose Ex. 5,22f.; Josua 7,7f.; Simson Ri. 15, 18. Solche Klage kann man eigentlich nicht Gebet nennen. Anders die Bitte. Simson ruft mit letzter Kraft, ehe er die Säulen der Philisterhalle einreißt (Ri. 16, 28): Herr Jahwä! Gedenke doch meiner I und stärke mich noch dieses Mal. Ausführlich bittet Abrahams Knecht (Gen. 24, 12) oder Jakob (Gen. 32, 10 ff.), auch David (2. Sam. 15, 31). Zu solcher Bitte gehört wie später in den Klageliedern des Einzelnen die Anrufung Gottes am Anfang. Auch die Steigerung vom allgemeinen ("Gedenke doch meiner") ium besonderen Anliegen ("stärke mich noch dieses Mal") ist bereits hier zu finden. Im Unterschied zu den Klagen streben die Bitten schon nach einem Parallelismus der Glieder. Sie erwarten anscheinend aber keine Orakelantwort. Die konsequente Scheidung von Klage und Bitte in der frühen Erzählungsliteratur widerlegt schon den Satz BEGRICHs, den er im Anschluß an die phänomenologischen Thesen HElLERS formuliert hat: "Überall aber, wo ein Mensch die Hände zum Gebet erhebt, stellen sich die gleichen Bestandteile des Gebets und die gleiche Reihenfolge(!) dieser Bestandteile ein13." 13
Guß 261.
Gattungsgeschichte
219
Es ist also eine Frage, wieso im Psalter die Verbindung von Klage und Bitte wie selbstverständlich vorgenommen ist. Das Problem wird dadurch verwickelter, aber auch begreiflicher, daß wir in den babylonischen Psalmen das gleiche Schema wie beim Klagelied des Einzelnen finden 14 • In der gattungsreichen Psalmendichtung des Zweistromlandes finden sich an zwei Stellen Gebete privater Einzelpersonen: im spätsumerischen Herzberuhigungslied und in der seit der Mitte des 2. Jahrtausends auftauchenden akkadischen Gebets beschwör u n g (Handerhebungsgebet). Die letztere wird durch FALKENSTEINiv. SoDEN so beschrieben: "Auf den hymnischen Anruf des Gottes folgt sein Lob, anschließend in der Regel eine Klage über das Leiden und nach einer Überleitungsformel dann immer die Bitte und zum Schluß eine Dank- und Segensformel15." Eine Gebetsbeschwörung an Nergallautet16 : Beschwörung überlegen starker, sehr e~habener Herr I Erstgeborener des Nunnamnir, Allererster der Anunnaku I Herr des Kampfes! Kind der Kutuschar I der großen Königin, Nergal, Allgewaltiger der Götter I Liebling der Ninmenna! Du bist herrlich, am reinen Himmel I ist dein Standort hoch; du bist (aber aum) groß in der Unterwelt I hast keinen Rivalen! Neben Ea ist in der Versammlung der Götter I dein Rat übergroß, zusammen mit Sin erschaust du am Himmel I das All. Dein Vater Ellil hat dir die Schwarzköpfigen gegeben I alle Lebendigen, das Getier des Schakkan, was da kreucht und fleucht I hat er in deine Hand übergeben. C Ich, Assurbanipal (bzw. NN, Sohn des NN) I dein Knecht: zornige Abwendung des Gottes und der Göttin I ist mein Teil geworden, so daß Verlust(e) und Verderben I in meinem Hause entstanden, anrufen und nicht gehört werden I ~ich schlaflos mamte. D Weil du, mein Herr, voller Nachsimt bist I habe ich deine Gottheit gesucht; weil du voll Vergebung bist I habe ich nach dir ausgeschaut; A
14
Reiches Material, freilich ~ehr motiv- als foi;mgesdtichtlich geordnet, bei
G. WIDENGREN: The Accadtan and Hebrew Psalms of Lamentations as Religious Documents. Diss. Uppsala 1936.
15
s. 47.
16
FALKENSTEIN/v. SoDEN S. 313 f.; AOT 262 f.
·
220
§ 14 Klagelied des Einzelnen und Erhörungsorakel
weil du (frenndlich) zu blicken pflegst I habe ich dein Angesicht angesehen; weil du barmherzig bist, I bin ich vor dich hingetreten. B Blicke mich getreulich an I Erhöre mein Rufen, dein grimmes Herz I komme gegen mich zur Ruhe! Tilge meine Sünde I meine Verfehlung und meinen Frevel; der schwere Unwille deiner großen Gottheit gegen mich I möge alsbald besänftigt werden! Gott und Göttin, die aufgebracht, zornig abgewandt und verstimmt sind I mögen wieder freundlich zu mir werden, F (dann) will ich deine Großtaten verherrlichen I (und) dir die Huldigungen darbringen! Verschiedenheit und Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Gattung sind leicht erkennbar. Wie dort beginnt der Sänger mit einer Anrufung; sie ist aber im Babylonischen breit ausgeführt. Der Leser hat das Gefühl, daß der Babyionier die Erhörung seiner Bitte davon abhängig sah, daß er der Gottheit zunächst genügend schmeichelte17. Deshalb werden nicht nur Gottesprädikate aneinandergereiht, sondern auch noch eine Herrlichkeitsschilderung hinzugefügt: "Du bist herrlich, am reinen Himmel ... " Es folgt - dem Teil C des alttestamentlichen Stückes entsprechend - die Klage. Sie beginnt hier mit einer namentlichen Selbsteinführung des Beters und ist in der Regel kürzer und schematischer gehalten als in Israel. Daran schließt sich als Trostgrund eine A.ußerung des Vertrauens (D). Erst am Ende wird die Bitte laut (B ), die ebenfalls vom allgemeinen Anliegen: "Erhöre mein Rufen" zum besonderen fortschreitet: "Tilge meine Sünde." Den Abschluß bildet ein Gelübde des Lobes; das fehlt zwar in den obenangeführten Klageliedern des Einzelnen, findet sich aber an anderen Stellen des Alten Testaments (Ps. 27, 6; 54, 8; 56, 13; Guß 247 f.), wie es im Babylonischen auch fehlen kann. Was ergibt sich von daher für die Gattungsgeschichte? Die babylonische Gebetsbeschwörung steht der Psalmengattung viel näher als diese den frühen alttestamentlichen Prosastücken der selbständigen Klage oder selbständigen Bitte. Die Ausbildung der Formsprache des Klageliedes des Einzelnen wird deshalb durch das einige Jahrhunderte ältere babylonische Muster angeregt worden sein. Wie ist das denkbar? Sicher nicht so, daß israelitische Dichter in Babylonien in die Lehre gegangen sind; sondern wohl so, daß das vorisraelitische Kanaan, von dessen Psalmen nichts mehr erhalten ist17•, den Vermittler gespielt hat. Freilich war die Aufnahme solcher Anregungen in Israel nur möglich, weil in den alten prosaischen Klagen und Bitten bereits die Anlagen für das spätere kunstvolle Dichten vorgegeben waren. Mit der Übernahme in den Jahwä17
17 •
GuB 213. Vgl. jedoch WIDENGREN 42 f. Zu einem syrischen Erhörungsorakel ZoBEL, VT XXI, 1971, 91-99.
Gattungsgeschichte
221
kult erfolgen eingreifende Veränderungen. Die bloß anbetende Herrlichkeitsschilderung entfällt und damit das mythologische Beiwerk. Die Anrufung enthält in der Regel nur noch den Namen "Jahwä" und einen Hinweisauf das persönliche Verhältnis des Beters zu seinem himmlischen Herrn: "mein König und mein Gott" (5, 3). "Im israelitischen Klageliede führt ein Steg über den tiefen Grund zwischen dem Menschen und dem hohen Gott, den das babylonische Handerhebungsgebet im ganzen nicht gefunden hat" (BEGRICH)1 8 • Wann ist die israelitische Klagelieddichtung unter kanaanäischer Anregung in solcher Gestalt entstanden? Vermutlich in Jerusalem erst durch den Tempelbau des Salomo. Viele Klagelieder des Einzelnen sind nämlich an den Zion gebunden (5, 8; vgl. den Jerusalemer Kultnamen "Jahwä, Gott Zebaoth" in Jer. 15, 16). Auch die nachträgliche Oberschrift "für David", die viele dieser Lieder tragen, bedeutet vielleicht "für das davididische Reichsheiligtum", also für den Gebrauch im Kult des Zion. Spuren von Klageliedern sind aus der Zeit vor Salomo jedenfalls nicht erhalten. Die Entstehung der Gattung fällt also in die gleiche Zeit wie die Entstehung des Hymnus, in die beginnende Königszeit. Es zeigt sich darin, welche gewaltige Wandlung und Ausweitung die Jahwäreligion und der Glaube der Israeliten durch jenen neuen kultischen Mittelpunkt erhalten hat und welche dichterischen Fähigkeiten dadurch entbunden worden sind, deren Leistungen weit über die babylonischen Vorbilder hinausgehen. Wie lange war die Gattung im lebendigen Gebrauch? GuNKEL/BEGRICH haben nachgewiesen, daß bei den im 1. vorchristlichen Jahrhundert entstandenen Psalmen Salomos die Gattung nicht mehr vertreten ist. Genauer noch hat WESTERMANN gezeigt, wie fern die nachexilischen Gebete dem Psalmenschema stehen19 • Offenbar ist also die Gattung in nachexilischerZeit bald abgestorben, früher noch als der Hymnus, da sich in dem liedfreudigen chronistischen Werk bezeichnenderweise kein einziges Klagelied des Einzelnen mehr findet. Ein solches Absterben bedeutet freilich nur, daß keine neuen Klagelieder des Einzelnen mehr gedichtet werden. Es bedeutet keineswegs, daß die vorhandenen Klagelieder des Einzelnen verschwinden und vergessen werden. Viele von ihnen wurden vielmehr festgehalten, aber in einen anderen Sitz im Leben überführt. Sie werden jetzt Bestandteile von Psalmenbüchern und als solche im Synagogengottesdienst benutzt. Damit stehen wir vor der Redaktionsgeschichte. ts ZAW 1928 S. 251 und 238-243. 19 Selbst die beiden Beispiele Add. Dn. 1 (Or Asariae) und Add. Est. 3, 12-30, die WEsTERMANN noch an die Psalmengattung heranrückt, sind bereits stark verwandelt. Beide Male handelt es sich überdies mehr um die verwandte Gattung Klagelieder des Volkes; nur im zweiten Fall ist eine individuelle Unschuldsbeteuerung angehängt.
222 D. Vberlieferungs- und Redaktionsgeschichte
Bei den angeführten Klageliedern des Einzelnen läßt sich über eine Wandlung während der Zeit lebendiger Überlieferung nichts mehr erkennen. Auch bei anderen Klageliedern des Einzelnen ist bisher noch kein überlieferungsgeschichtliches Ergebnis sichtbar geworden. über die Redaktionsgeschichte läßt sich ein wenig mehr sagen. Ps. 5 und Ps. 6 gehören zur ersten Sammlung von Davidpsalmen, die Ps. 3-41 umfaßte. Sie begann wie der zweite Davidpsalter (Ps.51 ff.) mit einer Reihe von Klageliedern des Einzelnen (Ps. 3-7). Von daher wäre zu untersuchen, ob die Stellung der beiden Psalmen für den Sammler eine besondere Bedeutung hatte 20. - Jer. 15, 15-21 ist jetzt mit einem weiteren Klagelied des Einzelnen (V. 10 f.) zusammengestellt und darüber hinaus mit Klageliedern des Volkes verbunden, die Jeremia vorgetragen und für die er göttliche Antwort empfangen hatte (14, 1-15,4 bzw. 9}. Durch die Zusammenstellung wird zunächst gezeigt, wie Jeremia für sein Volk sich einsetzt; dann wird seine Klage über die Undankbarkeit seiner Zeitgenossen angefügt, deren Undankbarkeit auf diesem Hintergrund besonders heraustritt. Viel mehr läßt sich über die redaktionsgeschichtliche Stellung des Abschnitts noch nicht sagen, da der Aufbau des Jeremiabuches noch nicht hinreichend erschlossen ist. Hatte er mit anderen Klagegedichten (11, 18-23; 12, 1-6; 17, 12-18; 18, 8-23; 20, 7-18) einst enger zusammengestanden? Jedenfalls werden solche Gedichte noch nicht in der ersten Niederschrift jeremianischer Worte gestanden haben, in der "Urrolle", die nach 36, 2. 32 Worte wider Juda, Jerusalem und die Völker enthalten hat; denn in den Rahmen jener Unheilsweissagungen passen die Klagelieder schlecht21 •
10
11
BIC (s.o. S. 194 A. 2) sieht in Ps. 3-41 eine zusammenhängende Thronbesteigungsliturgie. Seine Begründungen reichen wohl nicht ganz zu, wecken aber die Frage, ob 3-41 nachträglich als messianischer Psalter gedeutet wurden. Im jetzigen Zusammenhang sind die beiden Klagen Jeremias 15, 10 und 15, V. 15-18 mit den betreffenden Gottesantworten vermutlich auf das Volk bezogen worden (entsprechend 14, 1 ff.). - Zur Redaktionsgeschidtte s. E. G,ERSTENNBERGER: Jereroiah's Complaints, JBL 82, 1963, 393...,-408 (mit allzu scharfsinnigen Analysen). · ·
Drittes Kapitel: Aus dem profetischen Schrifttum Die Erforschung profetischer Sprüche hat mit GuNKEL begonnen, vor allem durch das Kapitel: Die Propheten als Schriftsteller und Dichter, in: GrPro, S. XXXIV-LXX. Einen umfangreicheren Vergleich mit außerisraelitischer Relevationsliteratur führte J. LINDBLOM durch: Die literarische Gattung der prophetischen Literatur, UUA 1924, Teologi 1. Eine gründliche Untersuchung der Unheilsweissagungen ist durch C. WESTERMANN erfolgt: Grundformen prophetischer Rede, BEvTh 31, 1 1960 2 1964. Wichtige Einzeluntersuchungen legten vor: L. KoEHLER: Deuterojesaja stilkritisch untersucht BZAW 37, 1923; H. W. WoLFF: Die Begründungen der prophetischen Heils- und Unheilssprüche, ZAW 52, 1934, 1 ff. = Ges. Stud., ThB 22, 1964, 9-35; R. B. Y. ScoTT: The Literary Structure of lsaiah's Oracles in: Studies in Old Testament Prophecy, Festschrift für Th. Robinson, 1950, 175-186; R. RENDTORFF: Botenformel und Botenspruch, ZAW 74, 1962, 165-177.
§ 15 AHASJAS UNFALL (2. Kö.l) H. GuNKEL: Elias, Jahve und Baal, Religionsgeschichtliche Volksbücher II 8, 1906 - H. GRESSMANN, SAT II 1 2 1921 - G. FoHRER: Elia, AThANT 31 21968 - 0. H. STECK: Die Erzählung von Jahwes Eingreifen gegen die Orakelbefragung Ahasjas, EvTh 10, 1967, 546-556. 1 Es fielen die Moabiter ab nach dem Tod Ahabs.
2 Es stürzte Ahasja durch das Gitter (über dem Lichtschacht?) in seinem Obergemach zu Samaria und war schwer verletzt. Da sandte er Boten und befahl ihnen: Geht hin und befragt den Baal-Sebub, den Gott von Ekron, ob ich von diesem Leiden genesen werde. 3 Der Engel Jahwäs aber hatte zu Elia von Thisbe gesprochen: PO Auf, gehe den Boten des Königs von Samaria entgegen und sage zu ihnen: I Ist denn kein Gott in Israel? Ihr seid unterwegs, den Baal-Sebub, den Gott von Ekron, zu befragen! KA 4 DESHALB ();??) SO HAT JAHWA GESPROCHEN: II Von dem Lager, auf das du dich gelegt hast, wirst du nicht mehr aufstehen! III DENN (11.) du bist gewißlich des Todes. Und Elia ging hinweg. 5 Als die Boten zu ihm (dem König) zurückkamen, fragte er s1e: Warum kommt ihr denn wieder?
224
§ 15 Ahasjas Krankheit
KA I II
111
KA
6 Sie antworteten ihm: Ein Mann trat uns entgegen und sprach zu uns: Geht, kehrt zurück zum König, der euch gesandt hat, und sagt ihm: SO HAT JAHWK GESPROCHEN: Ist denn kein Gott in Israel? Du läßt senden, den BaalSebub, den Gott von Ekron zu befragen! DESHALB: Von dem Lager, auf das du dich gelegt hast, wirst du nicht mehr aufstehen! DENN du bist gewißlich des Todes! 7 Da fragte er sie: Wie war die Art des Mannes, der euch entgegentrat und so zu euch redete? 8 Sie antworteten ihm: Es war ein Mann, der ein zottiges Fell trug und einen ledernen Gürtel um die Lenden hatte. Da sprach er: Das war Elia von Thisbe. 9 Da sandte er einen Hauptmann mit 50 Mann nach ihm aus. Als der zu ihm hinaufkam - er saß gerade oben auf dem Berg -, da sprach er zu ihm: Gottesmann I Der König hat befohlen: Komm herunter! 10 Elia antwortete dem Hauptmann: Nun, wenn ich wirklich ein Gottesmann bin - dann falle Feuer vom Himmel und verzehre dich und deine 50! Da fiel Feuer vom Himmel und verzehrte ihn und seine 50 Leute. 11 Abermals sandte er einen anderen Hauptmann mit 50 Mann nach ihm aus, der ,stieg hinaut'(?) und sprach zu ihm: Gottesmann! So hat der König gesprochen: Eile dich und komm herunter! 12 Elia antwortete ihnen: Wenn ich wirklich ein Gottesmann bin - es falle Feuer vom Himmel und verzehre dich und deine 50! Da fiel Gottesfeuer vom Himmel und verzehrte ihn und seine 50 Leute. 13 Abermals sandte er einen dritten Hauptmann mit 50 Mann. Als nun der dritte Hauptmann hinaufkam, beugte er die Knie vor Elia, flehte ihn an und sprach zu ihm: Gottesmann! Schone doch mein Leben und das Leben deiner Knechte, dieser 50!
Profetenlegende
225
14
Siehe, Feuer ist vom Himmel gefallen und hat die beiden ersten Hauptleute mit ihren 50 verzehrt. Nun aber schone mein Leben! 15 Da sprach der Engel Jahwäs zu Elia: PO Gehe mit ihnen hinab, fürchte dich nicht vor ihm. Und er machte sich auf und ging mit ihm hinab zum König. 16 Und sprach zu diesem: KA SO HAT JAHWK GESPROCHEN: I ES VERHALT SICH SO, DASS (,~~ l~~) du Boten gesandt hast den Baal-Sebub zu befragen, den Gott von EkronIst denn kein Gott in Israel, dessen Wort man einholen könnte? II DESHALB: von dem Lager, auf das du dich gelegt hast, wirst du nicht mehr aufstehen! III DENN du bist gewißlich des Todes. 17 Und er starb NACH DEM WORT JAHWKS, das Elia geredet hatte. Und sein Bruder Joram wurde König an seiner Statt.
A. Die Profetenlegende
Vom Eingangs- und Schlußsatz abgesehen, haben wir eine in sich verständliche und abgeschlossene Einheit vor uns. Das lebendige Stück gleicht mehr einer Reihe von dramatischen Dialogen als einer eigentlichen Erzählung. Die Gesprächspartien nehmen mehr als die H ä 1ft e des Wortlauts ein. Vergleicht man damit die ältere Sagendichtung, so ist deutlich, daß eine solche Profetenerzählung an die zweite Stufe jener israelitischen früheren Erzählkunst, an den ausgeführten Stil, angeknüpft1 und ihn noch ein ganzes Stück weitergetrieben hat. Mehr noch als dort ist das menschliche und göttliche Wort das eigentlich Entscheidende, die äußere Handlung nur Begleitumstand. Der ausgeführte Stil zeigt sich auch in den fein abgestuften Steigerungen durch Wiederholung des gleichen Motivs. Erst richtet Elia das Jahwäwort den Boten des Königs aus, dann diese es dem König, zuletzt tritt Elia selbst mit dem Wort vor den König. Dabei wird bewußt variiert. Die entscheidenden Sätze: "Ist denn kein Gott in Israel? ... den Baal-Sebub, den Gott von Ekron zu befragen! Von dem Lager, auf das du dich gelegt hast, wirst du nicht mehr aufstehen! Denn du bist gewißlich des Todes" kehren zwar an jeder Stelle wieder, ebenso die Aussage "Jahwä hat gesprochen". Aber die 1
s.o. s. 187.
226
§ 15 Ahasjas Krankheit
Stellung dieser Sätze wird leicht verschoben, und die Feststellung des Tatbestandes ist der je besonderen Lage angemessen. Zuerst heißt es: "Ihr seid unterwegs", dann: "Du läßt senden", endlich: Es verhält sich so, daß du gesandt hast." Mehrmals wird auch die Aussendung der Hauptmänner berichtet; aber ihre Rede an Elia ist jeweils verschieden. Sagt der erste: "Der König hat befohlen" und beschränkt seinen Befehl auf einen einzigen Imperativ, so redet der zweite schon ausführlicher: "So hat der König gesprochen" und verdoppelt die Aufforderung. Der dritte endlich redet mit vollendeter Höflichkeit, ja mit Unterwürfigkeit. Die (vernichtende) AntwortElias wird dagegen zunehmend knapper. Im ersten Fall steht noch ein "nun" voran, was im zweiten fehlt; im dritten spricht er gar nichts mehr. Nach Elias Rede berichtet der Erzähler zuerst von einem Feuer, dann von einem Gottesfeuer, das vom Himmel fällt. Der Erzähler ist also bemüht, bei der steigernden Wiederholung den Ausdruck möglichst zu variieren. Dabei wird jedoch genau überlegt, was um der Wirkung des Ganzen willen gleichbleiben muß und was geändert werden darf. Wie in den Sagen der frühen Zeiten bleibt die Erzählungseinleitung kurz, sie besteht-wie bei der Gefährdung der Ahnfraunur aus einem Satz. Ebenso bleibt es bei einem einzigen Satz als Aus k I an g der Erzählung, nachdem unmittelbar vorher der Höhepunkt mit einer poetischen Rede erreicht war. Doch der Mittelteil weicht deutlich von den alten Gattungen ab. Es geht nicht, wie in der frühen Sage, um Motive aus einer Geistesbeschäftigung, die die Welt als Familienzusammenhang ansieht; es geht auch nicht um Begeisterung für die Zeit der Vorfahren oder für kühne Kämpfer wie in der Heldensage. Noch handelt es sich primär um staats- oder volksgeschichtliche Wandlungen wie in der Geschichtsschreibung (dies nur in den nachträglich zugefügten Eingangs- und Schlußsätzen). Worauf zielt die Erzählung? Geht es um den König? Dann wäre die ausführliche Erzählung vom Zusammenstoß Elias mit den drei Hauptmännern überflüssig. Hängt das Interesse an Elia? Er spielt zwar eine wichtige Rolle, aber nicht als Einzelperson; was er beim Ganzen empfindet, bleibt viel undeutlicher noch als die Gefühle und Regungen eines Abraham in der alten Sage. Im Vordergrund steht vielmehr das profetische und göttliche Wort. Der Erzähler ist deutlich bestrebt, bei jedem Abschnitt die genaue En tsprechung von ausgesprochenem Wort und nachfolgendem Geschehen zu vermerken. So beginnt in der zweiten Szene der Engel Jahwäs mit dem Satz: "Auf, gehe dem Boten des Königs entgegen." Prompt folgt nach seiner Rede: "Und Elia ging." Auf den plumpen Befehl der beiden Hauptleute hin, vom Berg herabzusteigen, erwidert der Profet: "Es falle Feuer vom Himmel und verzehre dich und deine 50." In beiden Fällen fährt der Erzähler fort, daß das Feuer tatsächlich vom Himmel fiel und die Leute vernichtete.
Korrespondenzverhältnis -
227
Profetenjünger
Am Schluß dieser Szene dagegen befiehlt der Engel: "Geh hinab!" Alsbald wird vermerkt: "(Und er) ging mit ihm hinab." Am deutlichsten aber ist das Korrespondenzverhältnis am Ende des Ganzen betont: "Und er starb nach dem Wort Jahwäs, das Elia geredet hatte." Daß hier Absicht waltet, wird daran deutlich, daß beim Befehl des Königs (am Anfang) kein Satz über die Ausführung nachfolgt, obwohl ·die Boten offensichtlich gehorchen. Auch bei der Bitte des dritten Hauptmanns wird vermieden, Elia als den zu zeichnen, der auf menschliches Wort eingeht und es dadurch erfüllt. Zwar willfahrt er, aber erst, nachdem sich der Engel mit himmlischer Autorität eingeschaltet hat. Der Erzählung liegt also die Überzeugung zugrunde, daß profetisches Wort - mag es nun ausdrücklich als göttlich sich legitimieren, mag es aus der Initiative des Menschen gesprochen sein - wirksames Wort ist, das sich kurz nach dem Aussprechen schon in der Wirklichkeit durchsetzt, sich gleichsam materialisiert2. Die gleiche Spruch-Geschehen-Entsprechung herrscht in anderen Erzählungen über Elia wie auch über Elisa3 • Es handelt sich also um das Gerüst einer Gattung und nicht nur um Eigentümlichkeiten einer Einzelerzählung. Die Gattung ist die der Profetenlegende, was genauer meint: eine Legende vom Profeten als Träger machtvollen Wortes oder - an anderen Stellen - als Träger göttlicher Zeichen oder "erhörlicher" Fürbitte. Die hebräische Bezeichnung ist uns leider nicht erhalten4 • Wo ist der Sitz im Leben? Wie die mittelalterliche Legende aus der Abgeschiedenheit klösterlicher oder ritterlicher Zirkel mit bestimmtem Standesideal stammt, so die Profetenlegende aus einem Kreis von Profetenjüngern, wie er vor allem in den Elisaerzählungen plastisch zu erkennen ist5, nicht minder stark von einer ausgeprägten Standesethik beherrscht. Mit diesem Sitz im Leben verschwindet die alttestamentliche Gattung in nachexilischer Zeit.
Zur Auffassung vorn Wort vgl. vor allem L. DüRR: Die Wertung des göttlichen Wortes im Alten Testament und im antiken Orient, Mitteilungen der Vorderasiatisch-Ägyptischen Gesellschaft 42, 1, 1938. 3 I. Kö. 17,3 5• 9 IO. 13f 15 f; 18,1 Z. 8 16; 19,15 19. ZO n; z. Kö. Z,2I f; 4,42-44 ' GuNKEL reihte diese Elia-Erzählungen noch unter Sagen ein und sah Legenden erst in nachexilischer Zeit entstehen. Dadurch bekommt er jedoch Schwierigkeiten, die Sagengattungen zutreffend zu unterscheiden. 1909 in: "Elias, Jahve und Baal" verzichtet er (wie GRESSMANN) völlig auf eine Näherbestimmung, redet einfach von Sage, unterscheidet davon aber legendarische Zusätze (2. Kö. 1, 5 ff.) S. 42. 1931 reiht er die Erzählungen um Elia unter historische Sagen ein (RGG2V 53 f.) und sieht darin große Typen des Profetenturns · dargestellt. - Die zutreffende Einordnung unter Legende bei fOHRER. 5 v. RAo, Theol. 11, 38 f. 2
+
+
+
+
+
+
+
228 B. Gattungsgeschichte Da die Wandlung der Profetenlegende wenig5 • untersucht ist, müssen wir uns hier mit ein paar Andeutungen begnügen, um einigen Boden für die Überlieferungsgeschichte unter den Füßen zu haben. Um das Jahr 1000 v. Chr., also mit Beginn der Königszeit, tauchten zum erstenmal Männer in Israel auf, die sich Profet (Nabi) nennen und entweder in ekstatischen Gruppen (z. B. 1. Sam. 10) oder als Einzelperson (Nathan am Hofe Davids) auftreten. Wie sie sich zu den älteren Sehergestalten Samuels oder den geheimnisvollen Gottesmännern der vorstaatlichen Zeit (Ri. 6; 13) verhalten, ist ungeklärt. In unserem Zusammenhang ist wichtig, daß kurz, nachdem die Profeten in das Licht der Geschichte treten, die ersten Legenden nachweisbar sind. So der Grundstock der Erzählungen um Ahia von Silo (1. K.ö. 11, 29 ff; 14, 1 ff.) oder die tiefgründige Geschichte vom Gottesmann inBethel (1. Kö.13). Auch die Person Samuels steht jetzt Pate für Legenden (1. Sam. 15; 19, 18ff.). Selbst die Mose- und Abrahamsgestalt wird von der Legende erfaßt; so ist die Sage von der Gefährdung der Ahnfrau in ihrer elohistischen Fassung8 - wie jetzt erkennbar wird - stark Iegendenhaft um geprägt: es geht in ihr ebensosehr um den Vorgang göttlicher Wortmitteilung an einen. nichtisraelitischen König und um die Kraft profetischer Fürbitte wie um eine Station aus dem Leben des Erzvaters. Von Anfang an spielen das Gotteswort und· das Gotteszeichen in diesen Legenden eine ausschlaggebende Rolle. Sie werden auf die unwiderstehliche Krafl profetischer Berufsbegabung durch den "Geistbraus" (!ll,) zurückgeführt. Immer handelt es sich um Berichte profetischer Anhänger über die Profeten, also um Fremdberichte, nie um Selbstberichte der Profeten. - Besonders lebendig war offenbar die Legendendichtung in den Profetengenossenschaflen, die sich Elisa anschließen und von denen das zweite Königsbuch Kunde gibt. Bei ihnen sind vermutlich auch Erzählungen über Elia, Samuel und Mose gepflegt worden. Dagegen verlischt die Gattung anscheinend mit dem Untergang Judas 587.
C. Oberlieferungsgeschichte Schon vor dem Beginn einer formgeschichtlichen Exegese war erkannt, daß 2. Kö. 1 aus zwei selbständigen Erzählungen zusammengewachsen ist: einmal aus der Ahasja-Elia-Episode V. 2-8. 16f. und aus der Begegnung Elias mit den Hauptleuten "des Königs" V. 9-15. Die erste Erzählung ist in sich geschlossen und bedarf der zweiten nicht. Sie zeigt einen anderen Elia, nämlich einen Elia, der blitzartig auftaucht und ebenso rasch wieder verschwindet, nachdem er seine Botschaft ausgerichtet hat. Dagegen thront er in der anderen Erzählung hoheitsvoll auf einem bestimmten Berg und läßt sich dort aufsuchen. Die Aha s ja- E 1i a- Legende ist packend gestaltet, "trotz ihrer Kürze und Einfachheit von unnachahmlicher Schönheit. Denn nirgendwo sonst kommt in so keuscher Weise ... das Unheimliche in dem Wesen Elias zum Ausdruck wie grade hier. Diese Wirkung wird dadurch erzielt, daß der Prophet fast ganz im Hintergrunde bleibt" (GRESSMANN7). Deutlich ist auch der Leitgedanke: ein Israelit befragt 5•
0 7
RoFE: The Classification of the Prophetical Stories, JBL 89, 1970, 427-440.
S.o. S. 137.143-145. So in der 1. Auflage 1910 S. 281.
-
Oberlieferungsgeschichte
229
nur Jahwä und seinen Profeten um Orakel, wendet sich nicht an einen ausländischen Gott. Tut er das aber, wird ihm ein Profet entgegentreten, hat sich jedenfalls ihm Elia entgegengestellt, selbst dem König. Die Ausrichtung des Unheilsspruchs an den König erfolgt nach dem jetzigen Text zweimal: am Anfang durch die Boten, am Ende durch den Profeten selbst. Da der Profet am Ende nichts anderes sagt, als was der König schon weiß, ist diese zweite Szene zugewachsen, zur Steigerung hinzugefügt, und zwar dann, als die erste Legende mit der zweiten, mit dem Zusammentreffen Elias und der Hauptleute verkoppelt worden war. Später hinzugewachsen ist auch die Gestalt des Engels Jahwäs (V. 3. 15); denn zu den alten Profeten redet Jahwä sonst durchweg selbst. Erst in nachexilischer Zeit tritt ein Engel als Vermittler zwischen Gott und seinen Profeten (z. B. in den Nachtgesichten des Sacharja8). Die zweite Legende, Elias Begegnung mit den Hauptleuten, macht schon dadurch einen weniger urwüchsigen Eindruck, daß der König unbenannt bleibt und Elia als "Gottesmann" angeredet wird wie nur noch in der jungen Erzählung 1. Kö. 17, 17-24; sonst heißt er (im Unterschied zu Elisa) in den alten Geschichten durchweg Nabi (Profet). Auch das augenfällige Wunder in der Erzählung entspricht eher dem Stil der Elisa- als der Elia-Erzählungen (vgl. 2. Kö. 6, 8-23). Diese Legende ist also ein jüngerer Zuwachs, um zu zeigen, wie man in re~ter Weise einem Profeten begegnet und wie ein Profet seine Autorität geltend macht. Auslösend war vielleicht das Wortspiel Gottesmann c~ry-;~~ w~~ und Gottesfeuer Cli)-;~ W~ 9. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie von Anfang an als Seitentrieb zur älteren Legende V. 2-8 entstanden ist, also nie selbständig war. Wie steht es um die Historizität der beiden Erzählungen? Nachdem die Grundlinien der beiden Überlieferungsgeschichten sichtbar geworden sind, läßt sich diese Frage stellen, die den modernen Historiker interessiert, obgleich sie der Gattung Legende an sich unangemessen ist. Die zweite Erzählung hat nach dem eben Gesagten keinen historischen Kern. über die Lebensgeschichte Elias ist ihr nichts zu entnehmen. Damit ist sie aber nicht völlig unhistorisch, wie ein kurzschlüssiger Verstand meinen mag, sondern sie hat durchaus ihr h ist o r isches Gehäuse, das uns wichtige Aufschlüsse gibt; wenn auch nicht über die Zeit, von der sie berichten will - die Zeit Elias -, so doch über die Zeit ihrer Entstehung, mutmaßlich über die Zeit Elisas oder die Zeit danach; wenn auch nicht über die Person, die im Mittelpunkt steht, so doch über die Personen, die diese Legende weitergaben. Sichtbar wird hier - nämlich historisch zutreffend - das Überlegenheitsgefühl, das ein israelitischer Gottesmann und sein profetischer Kreis 8 FOHRER, S. 41. 9 LIAGRE-BÖHL: Opera
minora 1953 S. 16
230
§ 15 Ahasjas Krankheit
selbst gegenüber Vertretern militärischer Macht empfindet. Die Berufsbegabung eines einzigen Gottesmannes wird auch durch dreimal 50 bewaffnete Soldaten nicht aufgehoben. Außerdem gibt die Legende wichtige Aufschlüsse über die damals wichtigen Redegattungen; darüber wird unten zu sprechen sein. Gefüllter noch unter historischen Gesichtspunkten ist die ältere Legende. Auch sie gibt sozialgeschichtliche. Aufschlüsse über die Profetengruppen, die solche Erzählungen weiter überliefern. Gewiß sind diese Leute, ebenso wie der Elia der Erzählung, mit einer besonderen Berufskleidung angetan, mit Fellmantel und Ledergürtel; und wie er stehen sie in Opposition zum Königshaus der Omriden des 9. Jahrhunderts, das mit ausländischen Baalskulten liebäugelt. Das Motiv der feindseligen Begegnung des Profeten mit dem herrschenden israelitischen König kehrt deshalb in anderen Legenden dieser Zeit häufig wieder (l.Kö. 17, 1 ff.; 18, 1 ff.;21;2. Kö. 9).Aber viel stärker sind hier die Wirkungen des historischen Elia zu spüren. So plötzlich aufzutauchen, mit solcher Suggestivkraft die Königsboten zu beeindrucken und mit so unerbittlichen Worten dem König selbst entgegenzutreten, das gelang doch nur einem: Elia selbst. An dem tatsächlichen Geschehen dieser Erzählung ist nicht zu zweifeln. Freilich lassen sich die Einzelzüge nicht mehr pressen. So ist der Unheilsspruch in dreimal abweichendem Wortlaut überliefert. Was war die mutmaßlich älteste Fassung? Mit solcher Frage stoßen wir an die Grenze dessen, was historisch erhebbar ist; sie läßt sich nicht mehr beantworten. D. Offizielle Rede zwischen Nichtgleichgestellten und Botenspruch 2. Kö. 1 gibt nicht nur ein ausgezeichnetes Beispiel für die Rahmengattung der Legende, sondern enthält zugleich auch mehrere Gliedgattungen. Ehe wir uns der wichtigsten, der Unheilsweissagung an einen Einzelnen, zuwenden, ist es nützlich, einen Blick auf die Weise zu werfen, wie die beteiligten Personen untereinander reden. Zwar ist von vornherein anzunehmen, daß der hebräische Erzähler die Gespräche abgekürzt wiedergibt. Zugleich aber ist damit zu rechnen, daß gerade die wesentlichen Züge der Redegattungen behalten werden und durch solche Abkürzungen um so deutlicher heraustreten. Die Gattungen der offiziellen Rede im Alten Testament sind leider noch nicht untersucht. Das folgende kann infolgedessen nur ein vorläufiger Versuch sein. Am Anfang befiehlt der König seinen Dienern: Geht, befragt den Baal-Sebub, den Gott von Ekron, ob ich genese von meiner Krankheit. Vermutlich hat der König seine Leute viel eingehender instruiert, ihnen gesagt, was sie als Gabe für den Priester oder Kultprofeten am
Gliedgattungen
231
Tempel zu Ekron mitzunehmen haben usw. Aber der Anfang mit "geht" und einem zweiten präzisierenden Imperativ sowie die Angabe von Zielort und Zielperson findet sich bei vielen Reden eines Höhergestellten an Knechte, die er absendet. Offenbar ist es die Form der Botenbeauftragung (vgl. Gen. 45, 9; 2. Kö. 18, 19). Diese ist ihrerseits nur eine Sonderform der Beauftragung von Niedrigerstehenden überhaupt 10• Auch die Absendung der Hauptmänner durch den König V. 9. 11. 13 wird der Erzähler sich so vorgestellt haben, daß der König jedesmal befahl: "Geh, hole den Elia ... " Der herrische Ton solcher Beauftragung ist offenbar der hohen Stellung des Redenden angemessen. Kommt ein Bote zurück, wird er in ähnlicher Weise mit einer barschen, knappen Frage empfangen: "Warum kommt ihr denn wieder?" "Wie war die Art des Mannes?" Ganz ähnlich empfängt der König den unangemeldet auftauchenden Elia mit einer solchen vorwurfsvollen Frage (1. Kö. 18, 17; 21, 20); ebenso der Gottesmann Elisa untergeordnete Profeten (2. Kö. 2, 18). Wie dagegen ein Niedriggestellter eine Rede beginnt, wenn er dazu gezwungen ist, wie er wenigstens als Laie zum Profeten redet, zeigen die Verse 13 f. Es beginnt nicht mit einem Befehl, sondern der Redende nennt zunächst den 'Titel: "Gottesmann." Dann fügt er eine Bitte an, keineswegs im Imperativ, sondern im Jussiv mit einer diesen noch abmildernden Partikel. Dann folgt mit "siehe" n~ry ein Hinweis auf die Lage,' in sehr gewählten Ausdrücken und umständlicher Satzbildung, die an parallelismus membrorum erinnert. Erst danach wagt er zum Anliegen überzugehen "und nun" n~P1; aber er vermag nicht, es direkt auszusprechen, sondern gelangt unversehens wieder in eine Bitte für seine eigene Person (vgl. 2. Kö. 2, 16; 6, 1). Ist ein Bote an Ort und Stelle angekommen, beginnt er mit einem: "So hat gesprochen (ko 'amar)", dem er den Namen des Autraggebers folgen läßt, wie es die beiden Hauptmänner in V. 9 und 11 tun11 • Diese Botenformel (Ko-amar-Formel KA) legitimiert den Sprecher, zwingt die Zuhörer dazu, sein Wort als das seines Sendenden zu nehmen. Sie vertritt gleichsam den Stempel in einem modernen amtlichen Schreiben. Die nachfolgende Botschaft besteht, falls der Adressat ein Untergebener ist, bisweilen nur aus Imperativen: "Komm herunter!" (V. 9. vgl. 11; 1. Kö. 2, 30 vgl. 2. Kö. 18, 28 ff.) Sie kann aber auch - an anderen Stellen - aus einer vorwurfsvollen oder höhnischen Frage bestehen (so der Anfang Ri. 11, 12; 2. Kö. 18, 19). Genauso redet ein König seine Diener an, die unmittelbar vor ihm stehen. Man
=
10 11
Beginn mit zwei Imperativen: V. 11; 1. Kö. 17, 13; 2. Kö. 4, 3; 9, 17 vgl. 1. Kö. 18, 5. 40. 1. Kö. 20, 2 f. 5; 2. Kö. 2, 30; 19, 3.- Wenn 2. Kö. 1 beim erstenmal nicht das übliche 'iJ?.~V i~~ ;,:;, steht, sondern i~';J benutzt wird, wird das um der Variatio"u innerhalb der Erzählung wille~ geschehen sein.
232
§ 15 AhasjasKrankheit
sieht also, wie der alltägliche Umgang des Königs mit seinen Untergebenen durch einen solchen Botenspruch über die Entfernung hinweg sich fortsetzt. Durch die Botenformel ist der Sendende dem Empfänger genauso nah und spricht zu ihm in der gleichen Tonart, als stände man sich Auge in Auge gegenüber12 • Freilich gibt es eine ausführlichere, in unserem Kapitel nicht belegte Form des Botenspruches, die nicht nur mit der Legitimationsformel: "So hat NN gesprochen" und Imperativen oder Fragen operiert. Da sie für den nachher zu besprechenden Profetenspruch wichtig ist, soll kurz ein Beispiel angeführt werden, das WESTERMANN aufgegriffen hat. Die Botschaft des Moabiterkönigs Balak an den Seher Bileam lautet Num. 22, 5 f. (es ist der Botenspruch an einen Gleichgestellten, jedenfalls nicht zum Gehorsam Verpflichteten): 5 Er sandte Boten zu Bileam ... mit folgendem Wortlaut: I Siehe, heraufgezogen ist ein Volk aus Kgypten I siehe, es hat besetzt das Auge desLandeslund lagert mir gegenüber. II 6 Und nun: komm doch I verfluche mir dieses Volk! 111 Denn es ist mächtiger als ich. (II) Vielleicht ist es möglich, daß ich es schlage I und aus dem Lande vertreibe. 111 Denn ich weiß, wen du segnest, der ist gesegnet I und wem du fluchst, der ist tatsächlich verflucht. Eine so feierliche Botschaft erfordert sogar den parallelismus membrorum. Auch hier sind im Botenspruch zwei Imperative enthalten. Sie sind als Beauftragung zu verstehen und bilden den Kern der Botschaft. Aber davor steht ein längerer berichtender Teil, der Hinweis auf die gegenwärtige Lage, die bedrängend ist und dringend Abhilfe fordert 13 • Am Schluß folgt hinter der Beauftragung ein dritter Teil, den WESTERMANN "Begründung" nennt und den man genauer als abschließende Charakteristik bezeichnen könnte. Meist wird dort der Empfänger mit seinen Fähigkeiten zum Guten oder Schlechten charakterisiert (vgl. 2. Kö. 18, 29. 32). Es kann aber auch ein Gegner charakterisiert werden: "Es ist mächtiger als ich." 12
13
Die perfektische Übersetzung von '"!~~ ist ein Notbehelf. Verwiesen wird nicht auf einen zurückliegenden Ausgangspunkt, wo der Auftraggeber zunächst zum Boten allein gesprochen hat. Das Perfekt soll vielmehr der unbedingten Gültigkeit des Spruchs Ausdruck geben. Umständlicher, aber genauer übersetzt: "So spricht jetzt NN in verpflichtender Weise." Die Formel kann deshalb nur vom Beauftragten eines Höhergestellten oder höchstens eines Gleichgestellten als Eingang einer Botschaft verwendet werden; vgl. RENDTORFF S. 167 A. 8. Vgl. Gen. 45, 9; 32, 5f.; 1. Kö. 20, 5; 2. Kö. 14, 9. Der Hinweis auf die gegenwärtige Lage kann auch als höhnische oder vorwurfsvolle Frage laut werden Ri. 11, 12; 2. Kö. 18, 19. 33 (Hinweis nachgestellt).
233 E. Unheilsprofezeiung an den Einzelnen
Der Kern des Kapitels 2. Kö. 1 ist ein Spruch des Profeten an den König von Israel, der absichtlich dreimal wiederholt wird, damit er sich gut einprägt. Wie ist dieser Spruch geformt? Seit KoEHLER (und LINDBLOM) ist bekannt, daß die profetischen Reden dem Stil des Botenspruchs ähneln. Es ist noch umstritten, wie weit die Profeten über die Legitimationsformel hinaus: "So hat Jahwä gesprochen (kO 'amar jahwä)" 14 Anleihen beim Botenspruch gemacht haben, wie er zu ihrer Zeit im diplomatischen Verkehr üblich war. Es ist deshalb ratsam, die Unheilsprofezeiung an den Einzelnen zunächst für sich zu betrachten. Was Elia dem König ausrichtet, geht auf den Befehl (eines Engels) Jahwäs zurück V. 3: Auf, gehe den Boten ... entgegen und sage zu ihnen. Das ist genau der Stil der Botenbeauftragung, wie er oben sichtbar geworden ist; darüber sollte kein Streit entstehen. Doch darf hier auch nicht zu schnell auf einen besonderen Botenstand oder Botenberuf des Profeten geschlossen werden. Denn durch eine solche Beauftragung kann jedermann Bote des Jahwäwortes werden, z. B. auch die Diener des Königs, denen Elia einfach die Vermittlerrolle weitergibt: "Geht, kehrt zurück zum König ... und sagt zu ihm" (V. 6). Es zeigt sich darüber hinaus, daß auch bei den Profeten die Beauftragung mit eiaem Botendienst nur ein Sonderfall allgemeiner Beauftragung des Dieners ist. Genau die gleiche Formel mit ihren mehrfachen Imperativen taucht nämlich don auf, wo gar nicht explizit zu einem (neuen) Reden aufgefordert wird, sondern zu einem andern Dienst, V. 15 z. B. "Gehe mit ihm hinab, fürchte dich nicht vor ihm!" Eine solche Beauftragung ist die Rede der himmlischen Macht an den Menschen persönlich, eine Rede, die er nicht weiterzugeben hat. ScoTT nennt sie zutreffend privates Orakel im Unterschied zu anderen, öffentlichen Orakeln; deshalb oben das Kennzeichen PO. Wichtig ist natürlich, was der Profet weiterzugeben hat. Schon GuNKEL hat erkannt, daß sich dabei zwei verschiedene Teile deutlich voneinander abheben: eingangs Hinweis auf die Lage, der bei Unheilsprofezeiungen stets in scharfen Rügen besteht und den GuNKEL Scheltwort nennt (I), und ein nachfolgender Hauptteil, der auf zukünftiges von Jahwä heraufgeführtes Unglück hinweist, 14
F. BAUMGÄRTEL (in: Verbannung und Heimkehr, Festschrift W. Rudolph 1961, S. 20-23) bezweifelt jeden Zusammenhang zwischen "So hat Jahwä gesprochen" und dem Botenspruch, weil die profetische Formel sehr oft erweitert ist mit besonderen Würdeprädikaten Jahwäs, z. B.: "So spricht Jahwä Zebaoth." Aber die Erweiterung des Auftraggebers durch Würdetitel begegnet ebenso im Mund von Königsboten z. B. 2. Kö. 18, 19, ist also nichts dem Botenspruch Fremdes.
234
§ 15 Ahasjas Krankheit
was GuNKEL als Drohspruch bezeichnet (II). Das Scheltwort stellt tadelnd fest, daß die Lage des Adressaten vor Gott unhaltbar geworden ist, und zwar durch seine Schuld! Hier hat sich der israelitische König in Not an einen ausländischen Gott gewandt und damit die Ausschließlichkeit seiner Gottesbeziehung preisgegeben. Die Formulierung ist stets auf den jeweils Angesprochenen abgestimmt; deshalb wandelt es sich in 2. Kö. 1 je nach der Szene. Für den Königsboten lautet es: "Ist denn kein Gott in Israel, ihr seid unterwegs, den Baal-Sebub ... zu befragen!" Zum König selbst aber äußert der Profet ... "Es verhält sich so, daß du Boten gesandt hast, zu befragen den Baal-Sebub, den Gott von Ekron - ist denn kein Gott in Israel, den man befragen könnte?" Noch anders klingt der Lagehinweis aus dem Mund der Boten an den König (V. 6). Nach dem Verständnis der Profetenkreise, die solche Legenden und Sprüche weitergeben, ist also das Scheltwort des Profeten nicht im Sinn einer Verbalinspiration eingegeben, sondern höchstens der Sache nach. Der Profet hat die Möglichkeit der Abwandlung. Neuerdings fragt man, ob dieser Teil des profetischen Spruches überhaupt als eingegeben verstanden wurde. Handelt es sich hier vielleicht um grundsätzlich menschliche Sätze, die der Profet aus eigener Reflexion dem Gotteswort vorangestellt15 ? Dafür könnte die Beobachtung sprechen, daß die Legitimationsformel "So hat Jahwä gesprochen" bei den älteren Profeten (vor Jeremia) in der Regel erst nach dem Scheltwort vorgetragen wird: so V. 4. 16 (Am. 7, 17 usw.). Freilich gibt es Fälle, wo die Formel auch in älterer Zeit schon dem ganzen Spruch voransteht, so V. 6 (weil nicht der Profet selbst spricht, sondern ein Vermittler zweiter Hand?); 1. Kö. 14, 7; 20, 28. 42. WESTERMANN hat die Bezeichnung Scheltwort in Frage gestellt, da sie nur für eine eigenständige Gattung sinnvoll sei, nicht aber für den Teil eines größeren Ganzen. Außerdem müsse das Schelten einer Person direkt erfolgen, könne nicht durch einen Vermittler ausgesprochen werden, wie es der Profet hier ist. Diese Argumente tragen kaum sehr weit; hinsichtlich des zweiten ist an den obigen Botenspruch an einen Untergebenen zu erinnern, wo die Botschaft genau den Stil des offiziellen Gesprächs nachahmt. Ein Bote redet genauso, wie es der Herr täte, wäre er persönlich anwesend 16 • Doch hat WEsTERMANN richtig empfunden, daß 15
16
v. RAD: Theologie I 1 86 f. 4 82 f. WoLFF redet von einem "Stück der prophetischen Reflexion" (S. 6). "Aus dem empfangenen Spruch kann der Prophet auf die Art der Veranlassung schließen. Dabei hilft ihm seine Beobachtung der Ereignisse und seine Kenntnis der Volksseele" (S. 17). WESTERMANN 48 f. schlägt statt dessen mit WoLFF (in Anlehnung an einen früheren Versuch GuNKELs) vor, den Teil formal "Begründung", sachlich "Anklage" zu nennen. Das ist aber zweifellos schlechter; die erste Benennung ist nicht nur zu formal, sondern läßt auch die zeitliche VerbinC:ung des ersten mit dem zweiten Teil nicht erkennen. (Gegenwart - Zukunft). Die
Unbeilspro/ezeiung
235
an manchen Stellen der Begriff Scheltwort für den ersten Teil der Weissagung wenig passend ist (näheres unten zu Jer. 28). Besser ist die Bezeichnung Hinweis auf die Lage.
Zum zweiten Teil, gemeinhin Drohspruch genannt: Er besteht aus einem einzigen, sehr prägnanten Satz, gebildet aus der unbedingten Verneinung (N-;) und einem Imperfekt, einer Verbindung, die im Hebräischen bei Gottesreden an Stelle eines verneinten Imperativs (moderner Sprachen) treten kann. Der Inhalt kündigt zukünftiges Geschehen an, das aber schon in der Gegenwart angelegt ist. Der König liegt bereits krank auf seinem Lager, der Drohspruch erklärt das für endgültig; er wird bis zu seinem Tode so liegenbleiben. Durch "deshalb" wird der Drohspruch mit dem voranstehenden Lagehinweis (Scheltrede) verbunden, weil das·von Jahwä bereitete künftige Unheil die böse Tat des Adressaten auf göttlime Weise weiterführt. Ahasja hat sich dem Gott Baal zugewandt, der in die Unterwelt hinabsteigt und von dort regelmäßig wiederkehrt, ihm kommt deswegen ein besonderer Bezug sowohl zum Sterben wie zum Wiederaufleben zu. Der König denkt an das zweite. Der Profet aber schließt wahrsmeinlich aus der Verbindung mit dem sterbenden Gott auf bevorstehenden Tod.Dieser Teil der Profezeiung ist an allen drei Stellen im Kapitel wörtlich gleichlautend wiedergegeben im Unterschied zum Scheltwort. Der Blick in die Zukunft ist also für die Profetenkreise, die hier erzählen, in stärkerem Maße "verbalinspiriert" als der Eingang. Während für modernes Bewußtsein jede Rede über zukünftiges Geschehen viel ungewisser ist als eine Rede über die Gegenwart, scheint es hier umgekehrt zu sein. Dem entspricht es, daß die früheren Profeten meist die Botenformel erst vor diesem zweiten Teil aussprechen. Auch an der Bezeichnung Drohspruch hat WEsTERMANN Kritik geübt17• Der deutsche Sprachgebrauch läßt bei einer Drohung das Eintreffen des angedrohten offen. Drohen ist also bedingter Art, bedeutet nicht unbedingte Voraussage eines Unheils, wie es aber· der Profet meint: "Wenn z. B. während eines Krieges ein Gegner mit dem Einsatz von Giftgas droht, so ist das nicht dasselbe, als wenn er den Einsatz von Giftgasen ankündigt." Dieses Argument ist durchschlagend18• WESTERMANN schlägt deshalb den Begriff Ankündigung des Unheils vor. Der Ausdruck ist zwar weniger irreführend; doch geht WESTERMANN einen Schritt weiter und spricht öfter von Gerichtsankündigung; damit gerät er freilich auf unsicheren, gefährlichen Boden, denn daß die Profeten sich in den Unheilsprofezeiungen das
17 18
zweite Benennung aber leistet dem Irrtum Vorschub, daß der Profet in einer juristischen Gattung rede (wenn WESTERMANN auch hinzufügt, Anklage sei in einem weiteren als bloß gerichtlichen Sinn zu verstehen). Richtig sieht WESTERMANN, daß Schelten "eigentlich ein sterilisiertes und domestiziertes Fluchen oder Bannen" ist. Das gilt für unsere Sprachen wohl kaum mehr, aber vielleicht doch für die hebräische Sprache und die profetischen Sprüche trotz des Protestes WESTERMANNs. Man denke an das Schelten Simeis 2. Sam. 16, 7 und seine Folgen! Zumprofetischen Schelten s. 2. Kö. 2, 24. s. 46-48. Weniger das Weitere, daß der Profet Bote sei, ein Bote aber schlecht eine Drohung übermitteln könne, weil eine Drohung unvermittelt laut werden müsse. Der Israelit denkt in diesem Punkt anders. S. o. S. 232.
236
§ 15 Ahasjas Krankheit
kommende Unheil durchweg als Gerichtshandeln Gottes - nachfolgend einem Rechtsstreit mit dem angeklagten Streitpartner - vorstellen, ist nicht beweisbar. Zwar kommt es gelegentlich zum Bild des Prozeßverfahrens, ja es gibt wirklich profetische Gerichtsreden (Hos. 2, 4 ff; Jes. 1, 2 f. u. ~.);aber die gesamten Unheilsprofezeiungen unter dieser Rubrik einzubegreifen, geht schwerlich18• Teil li sollte man besser Unh e i 1s weissag u n g nennen. Nur dadurch wird deutlich, daß in ihm in spezifisch profetischer Weise zukünftiges Geschehen nicht nur angekündigt, sondern geradezu herbeigerufen wird.
Der Unheilsspruch unseres Kapitels hatte noch einen dritten Teil, der mit "denn" (~~) eingeleitet wird und die profetische Aussage wuchtig abschließt: "Du bist gewißlich des Todes." Dieser Teil wurde schon von GuNKEL als Begründung bezeichnet und mit dem "begründenden" Scheltwort zu Beginn auf gleiche Ebene gestellt. Die Frage ist, warum dieser Teil dann zum zweitenmal auftaucht: "Oft geschieht es auch, daß die Propheten in ihrer Unbekümmertheit uni genauere. Disposition etwa vom Drohen zum Schelten und dann wieder zum Drohen übergehen20 ", hier wäre dann das "Hin- und Her.,fahren" in umgekehrter Weise vonstatten gegangen. GuNKELS Nachfolger haben ihm diese Gedanken nachgesprochen. Ist aber der Abschluß wirklich sinngleich dem Anfang? Geht man nicht von einer allzu groben Übersetzung der Partikel ~~ aus, wenn man sie stets zur Einleitung eines Begründungssatzes erklärt? Ist es darüber hinaus ohne Belang, daß hier nach der Weissagung der Satz durch "denn" (1.~) eingeleitet wird, während am Anfang beim Scheltwort, also vor der Weissagung, stets eine andere Einleitung benutzt wird (in der Regel"!~~ 1~~ 21 )? In unserem Fall ist der Satz: "Du bist gewißlich des Todes" keine Begründung für das künftige Unheil, sondern eher dessen Zusammenfassung, freilich eine Zusammenfassung, die den gegenwärtigen Zustand miteinbegreift: Du bist tödlich verletzt und 10
~0 21
An dieser Stelle zeigt sich, wohin man gerät, wenn man statt Scheltwort die Bezeichnung "Anklage" einführt. Der Hinweis auf "profane" Parallelen trügt. Von den durch WESTERMANN herangezogenen drei Beispielen hat 1. Kö. 21, v. 10 mit einer profanen Gerichtsverhandlung wenig gemein; außerdem ist die Erzählung an dieser Stelle sehr komprimiert und bringt nur das "falsche Zeugnis", nicht aber die Einleitung der Anklagerede. Die beiden anderen Stellen aber, Jer. 26, 11; Dan. 3, 12, zeigen gerade eine andere als die vou WESTERMANN geforderte Form. Sie zeigen nämlich - was sowieso zu erwarten war -, daß eine Anklage vor Gericht sich zunächst an ein Forum von Richtern wendet und über den Angeklagten in der dritten Person redet, nicht aber diesen direkt anspricht. - Noch stärker betont H. GRAF REVENTLOW: Wächter über Israel, BZAW 82, 1962 S. 65, daß Unheils- wie Heilsweissagungen "Formen ... einer Gerichtsverhandlung sind, wobei der göttliche Richter durch seinen Beauftragten, den Propheten, vertreten wird, der in seinem Namen das göttlich-richterliche Urteil verkündet." Aber so weitreichende Schlüsse lassen sich kaum aus den bei R. zitierten drei, vier Hesekielstellen ziehen! Gr Pro LXII. V.16; 1. Kö. 14, 7; 20, 28. 36. Die Nachstellung des'1t0~ ll!~ Satzes 1. Kö. 11,33 ·.·-: ist in der besonderen Situation begründet.
AbscbliePencle Charakteristik
237
wirst es gewiß bleiben! Als Schwerkranker gehört der König nämlich nach israelitischer Auffassung bereits der Sfäre des Todes an22 • In diese Sfäre wird er für immer verbannt, weil er auf Grund seines abgöttischen Wesens ihr sich innerlich angeschlossen hat. Baalskult und Tod sind letztlich dasselbe. Es sei deshalb vorgeschlagen, diesen abschließenden Teil (III) die ab s c h 1i e ß ende C h a r a kteristik zu nennen und den ebenso blassen wie mißverständlichen Ausdruck "Begründung" zu vermeiden. Charakterisiert wird bei einem solchen Beschluß - wie beim zwischenmenschlichen Botenspruch (s. o.) - entweder der Empfänger der Botschaft oder auch - an anderen Stellen - der Sendende: "Jahwä hat geredet" heißt es etwa 1. Kö. 14, 11 vgl. 12, 24; auch ein: solcher Satz begründet nicht das zukünftige Unheil, sondern bekräftigt es durch den Hinweis auf die Macht des Partners. Ist die Unheilsprofezeiung prosaisch formuliert? Ansätze zu einem synthetischen parallelismus membrorum lassen sich vielleicht in der Ankündigung erkennen: Von dem Lager I auf das du dich gelegt hast I wirst du nicht mehr aufstehen." Freilich ist das eine bloße Vermutung, ebensogut ist die Annahme FüHRERS möglich, daß es sich hier um eine Kurzversstrafe handelt13 • - Um über die Geschichte der Gattung einzelnes zu erkennen, sind weitere Beispiele nötig; darum muß die Frage zurückgestellt werden.
F. Redaktionsgeschichte
Die beiden Legenden samt den Gliedgattungen Profezeiung und offizielle Rede sind wahrscheinlich schon auf der Stufe mündlicher Überlieferung zusammengewachsen. Eines Tages ist dann das Ganze mit anderen Elia-Geschichten zusammen aufgeschrieben worden. Wann das geschehen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Wie wir das Kapitel jetzt vorfinden, steht es im großen Zusammenhang des deute r o n o m ist isehen Geschichtswerkes, das vom Deuteronomium bis zum 2. Königsbuch reicht und dessen Umriß und Leitgedanken NoTH großartig herausgearbeitet hat24 • Um die Profetenlegenden einzubauen, wird eine redaktionelle Klammer um sie gelegt, nämlich die Sätze am Anfang und Ende: Es fielen die Moabiter ab von Israel nach dem Tod Ahabs. Sein Bruder Joram wurde König an seiner Statt. Der erste Satz kehrt fast gleichlautend 2. Kö. 3, 5 wieder, der zweite steht mit 3, 1 in Verbindung. Zum dritten Kapitel gehören sie beide sinngemäß. Wenn der Schriftsteller beideSätze außerdem hier in Kap. 1 eingesetzt hat, dann offenbar deshalb, um die Unheilsweissagung über H
13 14
C. BARTH: Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testamentes 1947. Vgl. z. St. u. das Nachwort. ZAW 66,1954, S. 233. NoTH, ÜGS. Modifiziert durch A. }EPSEN: Die Quellen des Königsbuches 1953.
J 15 Ahasjas Krankheit
238
Ahasja in den Kontext der Volksgeschichte einzubauen. Der Abfall der Moabiter nach Ahabs Tod war deshalb unaufhaltsam, weil Ahasja wegen seines Leidens nichts gegen den äußeren Feind unternehmen konnte2 5, was wiederum mit seinem Götzendienst zusammenhängt. So gibt die Legende ein Mittel an die Hand, die Volksgeschichte unter dem Gesichtswinkel von Sünde undSchuld zu verstehen. Gleichzeitig wird dadurch sichtbar, daß die Führung der Geschichte Israels mindestens ebenso durch die Profeten wie durch die Könige erfolgt26 • Die einstige Rahmengattung von 2. Kö. 1 ist damit zu einer bloßen Gliedgattung innerhalb des größeren. Rahmens eines· Geschichtswerks geworden. - Daß die Redaktionsgeschichte mit der ·deuteronomistischen Hand noch nicht zu Ende war, zeigen die Weiterungen des Kapitels in der Septuaginta.
2 5 NoTH 18 NoTH
ebd. 83; S. 78.
FoHRER
S. 41.
239
§ 16 LEGENDEN DIBELius: Formgeschichte 5101-129 FELDT: Einleitung 8 56-62
BuLTMANN: Tradition 6260-335 -
Eiss-
Wenn biblische Erzählungen als Legenden1 gekennzeichnet werden, so werden damit bei vielen Lesern noch stärkere Emotionen hervorgerufen, als wenn von Sagen in der Bibel die Rede ist. Vor allem die Behauptung, daß die Geburtsgeschichte Jesu sowie die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes Legenden sind, hat in den Kirchen gerade in jüngster Zeit Unruhe hervorgerufen und zu fundamentalistischen Protesten geführt (in Deutschland zur Bekenntnisbewegung ,.Kein anderes Evangelium"). Es ist nicht der Ort, auf diesen Streit einzugehen, der auf der protestierenden Seite ein Unvermögen an den Tag bringt, geschichtlich die Heilige Schrift zu betrachten, die doch durch und durch geschichtlich bestimmt ist. Andererseits sind die angegriffenen ,.modernen" Theologen in dem Streit nicht unschuldig; sie lassen nur zu oft ebenfalls geschichtlichen Sinn ermangeln, verfallen deshalb auf extreme Theorien und benutzen den Begriff Legende in einem abwertenden Sinn. So entsteht in der öffentlichen Meinung der Verdacht, nichts in der Bibel sei zuverlässig berichtet. Eine formgeschichtliche grundsätzliche Klärung ist also für beide Parteien vonnöten.
A. Die politische Legende und die Kultlegende Der Begriff legenda, das, "was vorzulesen ist", ist in den mittelalterlichen Klöster~ entstanden für die Heiligengeschichten, die während der Mahlzeiten vorgelesen wurden. In dem Maße, in dem die europäische Neuzeit sich vom "dunklen Mittelalter" distanzierte, geriet der Begriff in Mißkredit. Der moderne Sprachgebrauch benutzt das Wort für Erzählungen, Pressemeldungen und politische Thesen, die zwar von bestimmten Ereignissen ausgehen, sie aber "legendär" entstellen, aus einem bestimmten Parteiinteresse heraus Geschichtsklitterei betreiben. Eine berühmte p o 1i t i s c h e Legende ist die Dolchstoßlegende, d. h. die geschichtsfälschende Behauptung, die Niederlage des deutschen Reichs im ersten Weltkrieg sei nur dadurch verursacht worden, daß bestimmte Gruppen in der Heimat der Front in den Rücken gefallen seien. Reiht man biblische Erzählungen unter einen solchen Legendenbegriff ein, dann hätten die biblischen Schriftsteller aus einem einseitigen religiösen Parteiinteresse heraus wider bessere Einsicht die geschichtliche Wahrheit verlassen oder zumindest verdreht. Davon kann bei nüchterner formgeschichtlicher Betrachtung der Bibel natürlich keine Rede sein2 • Die biblischen Schriftsteller sind allesamt bemüht - dazu verpflichtet sie ihr Glaube- gerade die geschichtliche Wirklichkeit zu erfassen, wie sie in Wahrheit ist, und in ihrer Bedeutsamkeit zu erklä1
2
Im Englischen hat legend einen weiteren Umfang und begreift das deutsche Wort ,.Sage" mit ein. Dem deutschen Ausdrudt "Legende" entspricht devotionallegend oder edificatory legend. BENTZEN: lntroduction 11, S. 233 A. 4. Nur ein modernes Vorurteil entdedtt hinter alttestamentlichen Legenden ,.propagandistische Tendenz des am Kultus interessierten Personals", EISSFELDT: Einleitung 3 59.
§ 16 Legenden
240
ren. Wenn sie dabei in Legenden reden, so hat das andere Ursachen als parteiische Uneinsichtigkeit. Mit einer politischen Tendenzlegende hat ihre Redeform nimts zu tun. Aber noch ein anderer Begriff von Legende ist hier auszuschließen. Das ist der religionswissenschaftliche Begriff der K ul tlegende3 • Gemeint ist damit das, was bei antiken Kultbegehungen vorgelesen oder besser: vorgetragen wurde als heilige Geschichte (hieros logos). Die Kultlegende ist also ein Stück der Liturgie, und zwar ein Stück, das sich auf die für die Kultgenossenschaft grundlegenden mythischen oder geschichtlichen Gesd1ehnisse bezieht. So ist das babylonisme "Weltschöpfungsepos" Enuma elisch Textbuch zum 4. Tag des NeujahrsfestesundalsoKultlegende.DervonPaulusüberlieferteAbendmahlsbericht f. Kor. 11, 23-25 ist in diesem Sinn·Kultlegende. Aum der Auszugs-Landnahme-Überlieferung im Pentateum und der Erzählung vom Sinai-Bundesschluß Ex. 19-24 wird eine Kultlegende zugrundeliegen4. Diese Kultlegenden haben aber mit den gleich zu behandelnden erbaulichen Legenden - zu denen auch die Profetenlegende gehört - wenig gemein. Nur ein ungenügendes Verständnis der Kultauffassung des Altertums konnte der Rezitation der heiligen Geschichte bei einer Begehung eine erbauliche Abzweckung zuschreiben. In Wirklichkeit war der Kult in allen Religionen des Altertums viel mehr, war "schöpferisches Drama" 5, und .die Feier eines urzeitliehen Gesmehens mittels hieros logoswar Verlebendigung dieser Urzeit, Anschluß der Gegenwart an die grundlegenden Wirkungen eines großen göttlimen Damals. Aber darüber ist hier nicht zu handeln. Es g~ht uns um einen dritten Begriff von Legende, der erheblich näher beim mittelalterlichen Sinn von legenda liegt als die beiden eben genannten. B. Geistesbeschäftigung
An den mittelalterlichen Begriff der Legende lehnt sich der formgeschimtliche Sprachgebrauch dort an, wo von Profeten- und Märtyrerlegenden, Geburtslegenden und Apostellegenden gesprochen wird. DIBELIUS faßt diese Gattungen unter dem Oberbegriff Personallegende zusammen, weil sie Verehrung der Heiligen begründeten. Es ist frag3 4
s. BHH II 1022. Das oben § 3 geschilderte Bundesformular umfaßte nicht nur den Vortrag apodiktischer Gebote, sondern auch einen Vortrag der Heilsgeschichte als Kultlegende. Vgl. auch G. v. RAD: Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, Ges. Stud. 9-86. BWANT IV 26, 1938 MowiNCKEL: Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Escha~ tologie, Psalmenstudien II 1922. · - Die neutestamentliche Formgeschichte leidet darunter, daß weder BuLTMANN noch DIBELIUS einen klaren Kultbegriff ausgearbeitet haben. DIBELIUS spricht von "ätiologischer Kultlegende" und mengt dadurch noch eine weitere Gattung ein, nämlich die ätiologische Kultsage, die sich um die Entstehung kultischer Bräuche rankt, aber nicht in einer Begehung als hieros Iogos vorgetragen wird - eine Differenz, die immerhin von erheblicher Bedeutung ist.
=
5
Nachahmung als Ziel
241
lieh, ob diese Sinnbestimmung zutriffi. Die Erzählung von Ahasjas Unfall will gewiß Respekt vor dem Profetenwort, nicht aber eine Verehrung des Elia wecken. Und selbst in den apokryfen Apostellegenden geht es wohl nicht um das Motiv der wunderbaren Selbsthilfe (DrBELIUs), sondern um Veranschaulichung der Gottesmacht, auf die der Leser vertrauen kann. Noch weniger geeignet ist der Sammelbegriff "biographische Legende", den Bultmann vorschlägt. Die Überlegungen der beiden neutestamentlichen Formgeschichtler zum Thema sind von positivistischen Ressentiments zu sehr beeinflußt und bleiben an der Oberfläche. Es ist begreiflich, daß dann der Sprachgebrauch negative Reaktionen bei konservativen Christen hervorruft. Legende ist wie die Geschichtsschreibung eine eigene Geistesbeschäftigung, die aber nicht wie diese auf protokollarische Wiedergabe der Vorgänge oder auf eine zwingende innerweltliche Motivationskette der Geschehnisse abzielt. Hier hat ]OLLES in seinem Buch: Einfache Formen6 eine wichtige Schneise geschlagen. Er geht von der mit t e 1alterlichen christlichen Legende aus. Jene Legende handelt von Heiligen, von Menschen, die wegen ihrer Tugend heilig sind. Diese Erzählung über die Bewährung solcher Tugend durch einen Heiligen, etwa die Erzählung vom Ritter St. Georg, der gegen den Drachen streitet, will nicht eigentlich Biografisches berichten. Der He i I i g e existiert nicht für sich und von sich aus, sondern von und für die erzählende Gemeinschaft. Nicht der Zusammenhang seines Lebens ist wichtig, sondern die Augenblicke, in denen sich das Gute in ihm vergegenwärtigt. Deshalb gehört die Legende bestimmten soziologischen Gruppen zu und deren Standesideal, etwa der Rittergesellschaft (St. Georg) oder- besonders häufig- dem Klosterleben. Was von einem Heiligen überliefert wird, soll zur imitatio seiner Tugend aufrufen. Jene Geistesbeschäftigung, die für den Weg zur Tugend nach Maßstäben sucht, setzt in Anknüpfung an historische Personen die Legende aus sich heraus, denn "erst wenn die Tugend meßbar, greifbar, faßbar geworden ist ... haben wir einen sicheren Maßstab" (]oLLEs). Die Person wird zum imitabile. Die Erlegung des Drachens durch St. Georg ist eine Sprachgebärde für den Kampf gegen jenes Böse in der Welt, dem die abendländische Ritterschaft gegenübersteht. Mit bewußter Tendenz hat das nichts zu tun. Diese Art der Legende ist mit dem Mittelalter abgestorben7 • Ohne Frage ist die mittelalterliche Legende von einer alttestamentlichen Profetenerzählung stark verschieden. Während dort bestimmte Tugenden im Vordergrund stehen, sind es hier göttliche Mächtigkeiten, mit denen der Profet begabt ist und denen sich jeder Nicht8 2 1956
(Halle) S. 19-49. 2 1958 (Darmstadt) S. 21-61. sieht heute ähnliches nur noch dort auftauchen, wo die Presse von Sportlern berichtet, die bisher unerreichten Leistungen zustreben, S. 48 f./60!
7 ]OLLES
242
§ 16 Legenden
profet gehorsam unterzuordnen hat. Dennoch ist dieser Begriff noch der beste, der sich in unserem Sprachraum für die Form solcher alttestamentlichen Geschichten bietet; denn. es geht in ihnen, wie in den mittelalterlichen, nicht eigentlich um die Biografie des Helden, sondern darum, daß der Hörer indirekt aufgerufen wird, sich dem zu unterstellen, was in der Geschichte zum Klingen kommt. Erbaulich wird erzählt. Es geht um Gehorsam, um Vertrauen auf den Gott, der sich vermittelt zeigt in dem Wort oder in dem Wunder, das der Profet wirkt8 • Die Situationen, in denen Elia oder Elisa auftreten, haben wie die der Heiligen einen typischen Charakter. Darau:; wächst ein Erzählen, das stark stilisiert und schematisiert. Der Kontrast von gut und böse tritt scharf heraus: einerseits der seines Gottes gewisse Elia, andererseits der abgöttische König; den beiden ersten ungläubigen Hauptmännern steht der dritte, glaubende gegenüber. In spätisraelitischer Zeit kommt mit der Märtyrerlegende eine neue Gattung auf, deren Vorstufen die Daniellegenden (Dan. 1-6) sind. Hier geht es um Gottes Verborgenheit in den Widerwärtigkeiten einer fremden, Israel und seinem Gott feindlich gesonnenen Welt; der Mensch wird aber gerade in Verfolgungen seines Gottes besonders inne, wenn er dem Tempel in Jerusalem und dem väterlichen Gesetz treu bleibt. - In den ]esuslegenden, zu denen vor allem die synoptischen Heilungs- und Wundererzählungen zu rechnen sind9 , tritt Gottes Macht vermittelt in der einzigartigen Person Jesu zutage. Die Apostellegenden aber lassen erkennen, wie der Träger der Osterkunde und der apostolischen Lehre von seinem himmlischen Herrn unterstützt wird, sie rufen zum Vertrauen auf die apostolische Verkündigung. Wer einseitig von der Geistesbeschäftigung der Sage herkommt, muß urteilen, daß die Legende "grau in grau" zeichnet10, aber übersieht den leitenden Gesichtspunkt, der von der Frage nach gut und böse her die Welt durchleuchtet. Sicher fehlt im Unterschied zur Volkssage die Farbigkeit der Szenen und der Humor; aber das ist Absicht. Selbst wichtige Personen werden anonym eingeführt, so etwa die Hauptleute unserer Erzählung. Die Örtlichkeiten werden uninteressant. Es wird weder klar, wo Elia dem Boten begegnet, noch auf welchem Bergesgipfel ihn die Hauptmänner antreffen. Gerade in diesen Zügen ist die Legende der Sage stracks entgegengesetzt. Wo in der Legende Orte genannt werden - wie Samaria oder Ekron 2. Kö. 1 sind sie symbolträchtig zum guten oder bösen. Auch die Geschehensebene d. h. der Lebensbezirk, in dem das Wesentliche geschieht, liegt 8 9 10
In der Legende tritt Gott nidtt mehr wie in den Sagen der Genesis unvermittelt zu den Menschen. DrBELIUS und BuLTMANN heben zwar die Wundererzählungen von den Legenden ab, kaum zu Recht. GUNKEL, RGG2 V, 59.
Göttliches Walten
243
anders als in der Sage. So sehr auch im ausgeführten Stil der jüngeren israelitischen Sage (§ 12) der Redewechsel wichtig wird, entscheidend bleibt in der Sage stets die Tat, die Niederlage oder der Erfolg (der u. U. "bis auf den heutigen Tag" bestehen blieb), das menschliche Verhalten erscheint unter den polaren Gegensätzen von schlau oder töricht, tapfer oder feige. In der Legende geschieht das Entscheidende dagegen im inneren Verhalten von religiösen oder antireligiösen Menschen, die gegensätzlichen Möglichkeiten sind Glaube oder Unglaube, Tugend oder Laster. Im Unterschied zur Geschichtsschreibung kennen Legende wie Sage das Wunder, aber es nimmt einen verschiedenen Rang ein. Während in der Sage das Wunder sich gleichsam organisch in den Lauf der Ereignisse einfügt und in seinen Einzelzügen ausgemalt wird, erfolgt es in der Legende in der Regel abrupt, durchbricht die Reihenfolge der Geschehnisse und kann deshalb wenig entfaltet werden. Ein so wunderliches Geschehen wie das Herabfallen von Gottesfeuer 2. Kö. 1 wird zweimal erwähnt, aber in keiner Weise ausgeführt. (Auch in der Formensprache zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen Sagen und Legenden, denen aber noch kaum nachgegangen ist.) Mit der Sage teilt die Legende die Rede vom göttlichen Walten. Beide blicken über den innerweltlichen Geschehenszusammenhang hinaus und künden, wie innerhalb der irdischen Geschichte Gott am Werk ist. D~s vermag die Geschichtsschreibung nicht, sie vermag nur von menschlichen Plänen, ihrem Scheitern oder Erfolg zu berichten, kann darüber hinaus nur das bloße "daß" göttlichen Waltens über solcher menschlichen Geschichte behaupten (s. die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids 2. Sam. 9 ff). Sage und Legende künden darüber hinaus von dem "Wie" göttlicher Einwirkung, die Sage mehr nach der äußeren, objektiven Geschichte hin, die Legende mehr nach der inneren, subjektiven Lebensgeschichte hin. Beide Geistesbeschäftigungen sind deshalb innerhalb der Bibel unentbehrlich, soll nicht Gottes Offenbarung und Gottes Handeln nur in der geschichtslosen Sprache der Metaphysik verhandelt werden. Sage und Legende widerstreiten also nicht der durchgängigen Bezogenheit biblischen Glaubens auf die Geschichte, sondern betonen ihn vielmehr. So gewiß das Weltbild der Sagen und Legenden für uns abgetan ist, so gewiß muß christliche Theologie, soll sie christlich bleiben, sich das treibende Motiv der biblischen Sagen und Legenden stets zu eigen machen. Der Begriff Legende stößt deshalb bei gläubigen Christen auf so viel Abneigung, weil sie befürchten, damit werde die Historizität der göttlichen Offenbarung geleugnet, an die sie glauben. In der Tat ist es für den christlichen Glauben- im Unterschied zu allen anderen Religionen - unabdingbar, daß er sich auf historische Fakten stützt. Aber die geschichtliche Verankerung der alt- und neutestamentlichen Geschichte wird keineswegs durch die formgeschichtliche Gattungsbestim-
244
§ 16 Legenden
mung in Frage gestellt. Daß Jesus nach seinem Tod seinen Jüngern und den späteren Jüngern in einer Weise erschienen ist, daß sie von seiner leibhaften Auferstehung überzeugt waren (1. Kor. 15) wird nicht bestritten, wenn diskutiert wird, ob die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes, Mark. 16, eine Legende ist oder nicht. Und daß Jesus aus Maria geboren wurde, aus ärmlichen Verhältnissen stammt und in Nazareth aufgewachsen ist, steht fest, auch wenn die lukanische Vorgeschichte als Legende bestimmt wird und es nicht völlig sicher ist, ob Jesus in Bethlehem geboren ist und aus dem Hause Davids stammte. Genausowenig wird der historische Gegensatz des Profeten Elia gegen das israelitische Königshaus hinfällig, weil2. Kö. 1 legendarisch ist. Doch ist nachdrücklich zu betonen, daß mit dem Begriff Legende nur ein literarisches Urteil gefällt ist und über die Historizität weder negativ noch positiv entschieden ist11 • Darüber läßt sich nur nach Aufklärung der Überlieferungsgeschichte des Einzelstücks urteilen.
11 DmEuus, ThR 1929 S. 204 f. und Formgeschidtte S. 106; skeptisdter BuLTMANN: Tradition S. 260 A. 1.
245
§ 17 DAS JOCH DES KöNIGS VON BABEL (Jer. 28) Zu den Gattungen des Jeremiabuches: H. WrLDBERGER: Jahwewort und prophetische Rede bei Jeremia, 1942. - Zur Redaktionsgeschichte: S. MowrNCKEL: Zur Komposition des Buches Jeremia, SNVAO 1913 No. 5.
1 Es begab sich aber im seihen Jahr, ,im vierten Jahr' des Zedekia, des Königs von Juda, im fünften Monat, daß der Profet Hananja, der Sohn Assurs von Gibeon, im Hause Jahwäs in Gegenwart der Priester und des ganzen Volkes zu ,Jeremia' (?) sprach: KA 2 SO HAT JAHWK Zebaoth, der Gott Israels, GESPROCHEN: I Ich habe das Joch des Königs von Babel zerbrochen. II 3 Binnen zwei Jahren werde ich an diesen Ort alle Geräte des Hauses Jahwä zurückbringen (Partizip), die Nebukadnezar, der König von Babel, weggenommen hatte von diesem 0 r t und nach Babel gebracht; 4 auch Jechonja, den Sohn Jojakims, den König von Juda, und alle Verbannten Judas, die nach Babel gekommen sind ich werde sie zurückbringen (Partizip) an diesen Ort. RAUNUNG JAHWKS. III Denn zerbrechen werde ich das Joch des Königs von Babel. 5 Da sprach der Profet Jeremia zu dem Profeten Hananja in Gegenwart der Priester und des ganzen Volks, die im Hause Jahwäs standen, 6 also sprach Jeremia der Prophet: So sei es (amen)! Möchte Jahwä das tun! Möchte Jahwä ,dein Wort', das du geweissagt hast, erfüllen und die Geräte des Hauses Jahwäs und die Verbannten alle aus Babel zurückbringen an diesen Ort! 7 Nur höre doch dieses Wort, das ich dir und allem Volk nachdrücklich zu sagen habe: 8 Die Profeten, die vor mir und vor dir gewesen sind von alters her, die haben über viele Länder und große Königreiche geweissagt von Krieg und Unheil und Pest; 9 wenn aber ein Profet vom Frieden weissagt, so wird man daran, daß sein Wort eintrifft, erkennen, daß in Wahrheit Jahwä diesen Profeten gesandt hat. 10 Da nahm der Profet Hananja dasJochvom Nacken des Profeten Jeremia und zerbrach es. 11 Und Hananja sprach in Gegenwart des ganzen Volks: KA SO HAT JAHWK GESPROCHEN:
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
246
12 PO 13 KA I
KA 14 II
15 AA I
KA 16 II 16 III 17
Ebenso werde ich binnen zwei Jahren das Joch N ebukadnezars, des Königs von Babel, vom Nacken aller Völker wegbrechen. Da ging der Profet Jeremia seines Weges. Es erging das Wort Jahwäs an Jeremia, nachdem der Profet Hananja das Joch vom Nacken des Profeten Jeremia (genommen und) zerbrochen hatte: Gehe hin und sage zu Hananja: SO HAT JAHWÄ GESPROCHEN Ein hölzernes Joch hast du zerbrochen, so hast du an seiner Stelle ein eisernes Joch geschaffen. Denn SO HAT JAHWÄ Zebaoth, der Gott Israels GESPROCHEN: Ein eisernes Joch lege ich auf den Nacken aller dieser Völker, daß sie Nebukadnezar, dem König von Babel, dienen sollen. Und sie werden ihm dienen; selbst die Tiere des Feldes gebe ich ihm. Und der Profet Jeremia sprach zum Profeten Hananja: HÖRE doch, Hananja! Jahwä hat dich nicht g es c h i c k t; du aber hast dieses Volk verführt, sich auf Lüge zu verlassen. Deshalb SO HAT JAHWÄ GESPROCHEN: Siehe, ich schicke dich weg (Partizip) vom Erdboden; noch in diesem Jahr wirst du sterben. Denn Abfall ist es, was du predigst wider Jahwä. Und der Profet Hananja starb noch im selben Jahr, im siebten Monat.
A. Profetenlegende und Profetenbiografie
Auch Jeremia 28 ist eine Profetenlegende. Wie bei den Erzählungen um Elia überwiegen die Redepartien bei weitem die rein erzählenden Stücke. In den Reden geschieht das Wesentliche, was an Handlungen berichtet wird, ist die bloße Folge des Sprechens. Thema sind Profeten, aber nicht in der Verflochtenheit ihres biografischen Weges, sondern als Träger des Gotteswortes. Wie in den frühen Legenden wird am Ende das Eintreffen des Gotteswortes herausgestellt, in genauer Entsprechung von Spruch und Geschehen. Dennoch ist leicht zu erkennen, daß die Gattung sich gewandelt hat. Jeremia lebt 200 Jahre nach Elia. In diesen 200 Jahren sind die Profetenerzählungen nicht gleichgeblieben, weil die Profetie nicht gleichgeblieben ist. Die Profetenlegende hat sich geschichtlich "verdichtet". Ausschmückungen, wie sie aus alter Erzählgewohnheit bisweilen noch in
Wandel der Profetenlegende
247
die Legenden um Elia und vor allem um Elisa eingedrungen waren, sind inzwischen völlig verschwunden. Nicht daß die Spannung geringer geworden wäre! Aber die auslösende Verwicklung ist nicht mehr so sinnenfällig wie dort, wo Elia auf die abgöttischen Handlungen seines Königs prallt. Die Auseinandersetzung verschiebt sich auf das Gebiet des Denkens. Der Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gehorsam gegen Gottes Willen und eigenmächtigem menschlichem Aufbegehren, der für die Legende kennzeichnend ist, liegt längst nicht mehr so auf der Hand wie ehedem; jetzt, wo Jahwäprofet gegen Jahwäprofet steht (so auch Kap. 29) oder die Verteidiger des Gelobten Landes gegen einen Jeremia, der zur Übergabe und Unterwerfung unter Fremdherrschaft aufruft (Kap. 36-38). Die Wandlung prägt sich auch in der Form aus. Voransteht jetzt eine Zeitbestimmung, womöglich eine genaue Datierung (V. 1. 12), wie sie sich in den Jeremialegenden fast durchgängig findet (auch schon ]es. 36-39). Zur Zeitbestimmung treten genaue Ortsangaben und eine Aufzählung der Zeugen des Vorgangs. Hananja ist der Sohn eines gewissen Assur und stammt aus Gibeon; Jeremia traf mit ihm im Hause Jahwäs zusammen, dem Jerusalemer Tempel, bei einem besonderen Anlaß, zu dem die Priester und das gesamte Volk anwesend waren (V. 1). Vor diesem Personenkreis hat er geredet (V. 5). Mit solchen Einzelangaben wird die typisierende Tendenz in der frühen Profetenlegende überwunden, das eigentlich Legendenhafte tritt zurück. Die Gattung nähert sich einer Geschichtsschreibung. Der mittelalterliche Begriff Legende wird noch unangemessener, als er schon bei der Eliageschichte war; aber es gibt keinen besseren, der sich anböte. Denn es bleibt das Anliegen, den Leser zur Nachahmung der Haltung Jeremias, zu gleicher Achtung vor dem unberechenbaren Ergehen des Jahwäwortes aufzurufen. Die genauen Bestimmungen sind nun keineswegs aus der Lust des Erzählers am Fabulieren herzuleiten, sondern hinter ihnen steckt das Bemühen, die Begebenheit zeitlich wie örtlich genau zu orten, also ein "historisches" Bestreben. Offenbar läßt die genaue Einordnung das Jahwäwort verständlicher werden. Neu ist dort, wo es sich um einen Spruch des "wahren" Profeten handelt, um einen Spruch Jeremias also, der Hinweis auf den Ausgang des Wortes von Jahwä, und zwar in der geprägten Fassung der Wortempfangsformel: "Es erging das Wort Jahwäs an Jeremia." Die Wendung tritt bei Jeremia und jüngeren Profeten häufig auf. In der älteren Legende war der Erzähler an dieser Stelle noch frei; 2. Kö. 1, 3 hieß z. B.: "(Der Engel) Jahwä(s) aber hatte zu Elia gesprochen", etwas anders hieß es V. 15: "Da sprach (der Engel) Jahwä(s) zu Elia"; es war aber auch möglich, den Profeten sofort sprechend einzuführen, ohne auf den Ursprung seines Spruches zu verweisen: "Da sprach Elia, der Thisbiter ... zu Ahab" (1. Kö. 17, 1). Gelegentlich steht freilich schon in den Eliageschichten die Wort-
248
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
empfangsformet (1. Kö. 17, 2; 18, 1; 21, 17), was vielleicht redaktionsgeschichtlich aus späteren Zusätzen zu erklären ist. Der Ausdruck Wortempfangsformel stammt von REVENTLOW1• Sie zeigt, daß die Vorstellung vom Worte Gottes sich gefestigt hat. Der je besondere Zuspruch Gottes an einen Profeten tritt zurück gegenüber der objektiven "Hypostase" des dabar, der in stets gleicher Weise dem Profeten zukommt. ZIMMERLI sdlJägt statt dieser Benennung den Ausdruck Wortereignisformel vor 2, was zwar das Geschehnis deutlich hervortreten läßt, aber aktualistisch mißverstanden werden kann. Der Profet meint nicht, daß das Wort sich in dieser einen Stunde ereignete und dann wieder verschwindet, sondern das Wort bleibt von da an als eine reale Wirkungsgröße im Raum stehen. Die hebräische Wendung wird von MoWINCKEL deshalb umschrieben: "Es ward das Wort Jahwäs aktive Realität bei NN" 3 •
Nach dem Hinweis auf das Widerfahrnis des Wortes folgt das private Orakel des Botenauftrags wie in den Königsbüchern mit zwei Imperativen: "Gehe hin und sage ... " An dieser Stelle hat sich nichts geändert. Aber dieser Punkt gehört schon zur Gliedgattung der Profezeiung, die § 18 behandelt wird. Wichtig für die Erkenntnis der Gattung ist ein Blick auf den übergreifenden Zusammenhang. Innerhalb der Erzählung taucht V. 10 der Hinweis auf ein hölzernes Joch auf, das Jeremia auf seinem Rücken trägt. Sein Kollege Hananja reißt es herunter und zerbricht es. Diese Notiz kommt überraschend. Zu Eingang des Kapitels war das Joch nicht erwähnt worden. Doch findet sich ein entsprechender Hinweis im vorangehenden Kapitel: "So hat Jahwä zu mir gesprochen: Mache dir Stricke und Jochstangen und lege sie auf deinen Nacken" (27, 2). Die Fortsetzung läßt deutlich werden, daß das Joch, das Jeremia auf sich nimmt, die Herrschaft des babylonischen · Königs über die Völker des Vorderen Orients symbolisiert; damit taucht eine profetische Symbol- oder Zeichenhandlung auf, wie sie von den Profeten an einigen Stellen berichtet wird. Eine solche hat den gleichen Rang wie die Profezeiung; sie kündet - durch ein sichtbares Zeichen - ebenso unabänderlich Zukunft an und ruft das Angekündigte zugleich geheimnisvoll herbei. Symbolisch handelt jedoch nicht nur dort (Kap. 27) Jeremia, sondern hier auch Hananja, wenn er das Joch herabnimmt und in einem Kraftakt zerbricht. 4 In unserer Legende sind die beiden Zeichenhandlungen mit dem Joch auslösendes Moment für die Spruchverkündung. Sowohl Hananjas wie Jeremias Worte kreisten um diesen Gegenstand und damit um die Herrschaft des babylonischen Königs. Das Joch aber wird am Eingang UnseresKapitels nicht genannt. Ist daraus zu schließen, daß Kapitel28 von Haus aus mit Kapitel 27 zusammengehört und die oben still1 2
3
4
ZThK 58, 1961, S. 274, stattdessen "Revelationsformel" S. 272 nach WILDDERGER 49. Ezechiel (BK) S. 88-90. Die Erkenntnis Gottes bei den Propheten, 1941 S. 19; vgl. v. RAD: Theologie li, s. 100 f. G. FoHRER: Die symbolischen Handlungen der Propheten, 1953.
Profetenbiografie
249
schweigend vollzogene Abgrenzung des Kapitels als selbständige Einheit nicht zutrifft? So entscheidet sich WEISER (ATD), der beide Kapitel als ursprünglich zusammengehörig ansieht. RuooLPH (HAT) macht dagegen geltend, daß Kap. 27 von Jeremia im Ich-Stil erzählt wird (Selbstbericht), hier dagegen ein anderer über Jeremia erzählt (Fremdbericht). Er hält daher die Verbindung beider Kapitel für sekundär und nimmt an, daß zwischen V. 1 a u. V. 1 b in unserem Kapitel einstmals eine längere Bemerkung über das Jochtragen Jeremias stand, die später durch die Kombination der beiden Kapitel ausgefallen ist. Die Entscheidung ist wegen der Eigenart der Jeremialegenden nicht leicht. Denn diese sind vermutlich nicht mehr - wie die der Königsbücher - im Mund von Profetenjüngern entstanden und für mündliche Weitergabe bestimmt gewesen. Jeremia hatte nicht wie die älteren Profeten einen Kreis von Jüngern um sich, wenigstens hören wir davon nie etwas; nur ein einziger stand zu ihm: Baruch, der anscheinend kein Profet, sondern ein Schreiber war. Von ihm wird mehrmals erwähnt, daß er auf das Diktat Jeremias hin Sprüche schriftlich niederlegte, die er u. U. später vorgelesen hat (36, 4. 32; 45, 1). So hat man schon lange mit Grund vermutet, daß der Kranz von Jeremia-Erzählungen in der zweiten Hälfte des Buches (Kap. 19 f.; 26 (27) 28 f.; 34; 36-45; 51,59 ff.) von Baruch verfaßt worden ist. Ob ,es nun Baruch war oder ein anderer anonymer Zeitgenosse und Anhänger Jeremias, ist für unseren Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Jedenfalls hat dieser Mann die erste Profetenbiografie verfaßt. In diesem Zusammenhang entstand die Erzählung von Kap. 28, die also von vornherein zu einer größeren Rahmengattung gehörte. Freilich muß der moderne Begriff Biografie sofort eingeschränkt werden. Nicht die Lebensgeschichte eines interessanten Menschen trägt der Verfasser vor, sondern das Geschick eines Profeten mit seinen Sprüchen und wegen seiner Sprüche. Er beginnt daher keineswegs mit der Geburt und Jugend, sondern behandelt nur den letzten Lebensabschnitt des Profeten, sein Leiden und seine Verfolgungen. Das Ende der profetischen Wirksamkeit wird gleichsam eine einzige symbolische Handlung. Was so entsteht, ist die erste Biografie, die in Israel entstanden ist. Sie ist unter literarischen Gesichtspunkten - wie auch unter theologischen - nicht hoch genug zu rühmen. Nicht nur das Einfühlungsvermögen in das Leben des Meisters und Freundes, sondern auch die bisweilen geradezu psychologisch verfeinerte Darstellungsweise überrascht den Leser. Trotz der knappen Sätze tritt die ganze Qual eines innerlich zerrissenen Menschen - denn das war Jeremia - beredt vor die Augen des Lesers. Hier berichtet ein Augenzeuge, auf den unbedingt Verlaß ist. Ein Problem der Historizität besteht deshalb nicht; wie hier berichtet, so ist es geschehen.
250
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
Kapitel 28 ist demnach nie eine selbständige Einheit gewesen. Es ist von vornherein als Gliedgattung innerhalb der neuen Gattung Biografie konzipiert. Trotzdem überrascht es, daß der begabte "Baruch" die Hananja-Episode und alle übrigen Geschehnisse um Jeremia stets in relativ abgeschlossenen kleinen Abschnitten berichtet, die einen durchaus selbständigen Eindruck erwecken. Den Formgeschichtler verwundert es nicht. Da es die Gattung Biografie bisher noch nicht gab, benutzt "Baruch" die gängige Gattung der Profetenlegende, "verschriftet" sie aber von vornherein und kommt dadurch zu etwas Neuem, indem er eine größere Anzahl von Legenden hintereinander schaltet. Die Gattung Profetenlegende ist zu ihrem Ende gekommen. Sie ist nur noch der Boden für ein im Grund neuartiges Gebäude. Tatsächlich scheinen nach Baruch keine Profetenlegenden mehr entstanden zu sein. (Erst in spätisraelitischer Zeit tauchen mit Jona, den Danielerzählungen und dem Buch des Martyriums Jesajas wieder Einheiten auf, die man Legenden nennen könnte; aber sie haben mit der alten Gattung wenig mehr gemein.) Was ist Sitz im Leben der "Baruchschrift"? Für wen verfaßt er die Biografie? Nach den Texten (Kap. 43 f.) weilte Baruch zuletzt mit Jeremia in Ägypten. Dort wird dieses Buch entstanden sein, vermutlich für einen kleinen Kreis von Flüchtlingen, die trotz aller Schwere des Schicksals den Worten des Profeten noch trauten und die sich durch die Lektüre dieser Schrift erbauten. Die Barudm:hrift ist aber erst der Ausgangspunkt dieser Oberlieferungsgeschichte. Oben wurde gezeigt, wie Kap. 28 (vielleicht auf einer späteren Stufe) mit Kap. 27 verbunden wurde. Zweifellos gehörten die beiden Kapitel einmal mit Kap. 29 enger zusammen, wie schon ein besonderer Sprachgebrauch zeigt. Alle drei Kapitel handeln von Auseinandersetzungen mit falschen Profeten, sind also auch durch das gleiche Thema verbunden5 • Kap. 27-29 sind dann zuletzt mit der übrigen Baruchbiografie in das größere Ganze des jetzigen Jeremiabuches eingearbeitet worden. Dabei sind die einzelnen Teil der Biografie (nochmals) auseinandergelegt und umgestellt worden, was sich deshalb leicht bewerkstelligen ließ, weil Baruch das Schema der Legende benutzt und deshalb lauter relativ selbständige Einheiten zusammengestellt hatte. Kap. 28 steht nun im Zusammenhang des Teils: Heilsweissagungen für Juda und Israel Kap. 26-35. Für die Endredaktion waren die Unheilsweissagungen wie auch der Streit Jeremia/Hananja Durchgangsstationen, die eingerahmt sind von den Heilsweissagungen 27, 22; 29, 10-14. 32. Bei den Sprüchen Jeremias wird der Nachdruck jetzt auf dem Joch des Königs von Babel liegen, dessen Herrschaft über die Völker von den Redaktoren nicht mehr rein negativ verstanden wird. In seiner Regierung sieht man vermutlich eine notwendige Durchgangsstufe auf dem Weg zum endzeitliehen Heil (im Sinn von Dan. 2-4. 7) 8 • Das Kapitel gerät also in eine völlig neue Beleuchtung, die aber im einzelnen kaum mehr erhebbar ist. 5
8
RuDOLPH (HAT) vermutet sogar, daß Kap. 27-29 einmal eine selbständige Kampfschrift gegen eine verdächtige politische Profetie der Exilszeit gewesen sind. Siehe meinen Aufsatz: Spätisraelitisches Geschichtsdenken am Beispiel des Buches Daniel, Historische Zeitschrift 193, 1961, 1-32.
251 B. Unheilsprofezeiung an den Einzelnen
Innerhalb des Kapitels finden sich mehrere Gattungen profetischer Rede. Die Unheilsprofezeiung an den Einzelnen begegnet dieses Mal in Verschränkung mit einer Unheilsprofezeiung über das Volk in V. 13-16, läßt sich aber leicht herauslösen. In Gang gesetzt wird jene wieder durch ein privates 0 r a k e F, eine Botenbeauftragung mit zwei Imperativen, die vom Muster der Königsbücher nicht abweicht V. 13 a. Der Unheilsspruch an den gegnerischen Profeten setzt eigentlich erst V. 15 ein, mit der Wendung: "Höre doch, Hananja!" Damit taucht ein neues Glied auf, was 2. Kö. 1 nicht erwähnt war, ein Appell zur Aufmerksamkeit (AA), wie er seit Amos häufig vor Scheltworten steht8• Das Sc h e 1t wo r t (Lagehinweis, I) stellt hier wie sonst einen Zustand dar, der nach Abhilfe schreit und nach einem Eingreifen Jahwäs. Hananja hat sich nicht nur einen falschen Auftrag angemaßt, er hat darüber hinaus das Volk verführt, einem falschen Schein zu vertrauen. Damit droht Gefahr, die abgewehrt werden muß. Wie das geschieht, kündigt die mit einer Botenformel nm~ '"l~~ i"l!l (KA) eingeleitete Weis s agung des Unheils (II V. 16) an. Das Volk wird von der durch Hananja herbeigeführten Gefahr befreit, indem Hananja entfernt wird, jählings sterben muß. Die Unheilsweissagung weist zuerst auf ein aktives Eingreifen Gottes hin: "Siehe, ich schicke dich weg vom Erdboden." Dieser Satz verklammert das Drohwort eng mit dem Scheltwort, wo es hieß, daß Jahwä Hananja nicht geschickt habe. Der erste und der zweite Teil dieser Unheilsprofezeiung sind also durch ein Wortspiel miteinander verbunden. Solche Wortspiele sind bei den Profeten beliebt9 • Man denke an den Wechsel zwischen Gottesmann und Gottesfeuer, CI;:T,~iJ fUI~ und Cli}'~ ru~, in 2. Kö. 1, 10! Dergleichen erscheint uns heute als gekünstelte Spielerei. Für israelitische Ohren aber war es mehr. Damals galten ein Wort und die damit bezeichnete Sache als wesenhaft zusammengehörig; der lautliche Ausdruck war nicht beliebig - so scheint es -, sondern von der Sache gefordert. Dann mußte aber auch die lautliche Ahnlichkeit zweier Worte auf eine innere Beziehung der damit gemeinten Sache hinweisen. Hatte Jahwä Hananja nicht gesandt, als dieser seinen Heilsspruch V. 2-4 vortrug, so hatte dieser Mann doch durch den falschen Anspruch eine wirkliche Sendung Jahwäs hervorgerufen. Diese Sendung trifft ihn persönlich, trifft ihn vernichtend, Jahwä sendet ihn in den Tod. Die Ankündigung der Gottestat beginnt mit einem 7
8 9
Vgl. WILDHERGER S. 45 und o. S. 233. "Ruf zur Aufmerksamkeit" bei ZIMMERLI: Ezechiel (BK) S. 288; LINDBLOM sprach von "Predigtformel"; v. RABENAU, WZ Halle V, S. 678 von "Heroldsruf". WoLFF S. 16 f. = Ges. Studien ThB 22, 1964 S. 27 f. und o. S. 18 f.
252
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
"Siehe" und wird mit einem partizipialen Satz fortgesetzt, der Jahwäs persönliches Eingreifen voraussagt. Das ist uralter Brauch bei einer Gruppe von Unheilsprofezeiungen an .den Einzelnen (2. Sam. 12, 11; 1. Kö. 11, 31; 14, 10). An die Weissagung der Gottestat schließt sich mit einem weiteren Satz an, was für den Menschen daraus entsteht. Das wird in Wendungen zum Ausdruck gebracht, in denen der Betroffene Subjekt ist: "Noch in diesem Jahr wirst du sterben." (Ebenso in den drei anderen eben angeführten Beispielen.) - Am Ende steht formgemäß die abschließende Charakteristik, hier (III) des Empfängers, des Hananja: "Denn Abfall ist, was du predigst." Mit dem betont vorangestellten Ausdruck "Abfall" wird Hananjas Wesen und Gefährlichkeit umrissen 9 •.
C. Unheilsprofezeiung an das Volk Zwar entspricht die Hananja-Weissagung dem bekannten Muster der Unheilsprofezeiungen an Einzelne; doch geht die Jahwärede V. 13-16 insofern über den älteren Brauch hier hinaus, als in den Spruch eine zweite Unheilsprofezeiung eingeschaltet ist, die sich auf das gesamte Volk, auf Israel, ja auf "alle diese Völker" bezieht (V. 13 f). Dabei ist freilich das vorangestellte Sc h e 1t wo r t (Lagehinweis, I) noch ganz auf den Fall Hananja bezogen: "Ein hölzernes Joch hast du zerbrochen, so hast du an seiner Stelle ein eisernes Joch geschaffen." Hier wird jedoch im Grund nicht gescholten, noch viel weniger aber angeklagt (wie WESTERMANN will), vielmehr macht der Sprecher eine Feststellung. Auf den augenblicklichen Stand der Dinge wird verwiesen. Das hölzerne Joch, das Jeremia seit Tagen auf seinem Rücken trägt, sobald er sich in der Öffentlichkeit zeigt, als ein Symbol der traurigen Zukunft seines Volkes, das hatte Hananja in der ihm eigenen profetischen Gewißheit zerbrochen. Jeremia erkennt diesen Akt in gewissem Grad an. Mit diesem Kraftakt ist tatsächlich das Zeichen hinfällig geworden, das Zeichen des Joches. Aber nun folgt ein dunkles Wort, das wir in seinem Sinn nicht mehr durchschauen (und das schon die griechische Übersetzung nicht mehr begriffen hat, clie hier den Text ändert): Hananja selbst hat durch seine Tat ein um so mächtigeres und unzerbrechliches Joch hervorgerufen, geschaffen, vielleicht droben bei Jahwä. Das menschliche Aufbegehren gegen Jahwäs erklärten Willen ist also nicht einfach Nichts, es hat einen gewissen Erfolg; aber paradoxer Art; denn es ruft bei Gott eine um so härtere Gegenmaßnahme hervor. So etwa muß der Sinn sein. Er wird von Jeremia einfach festgestellt. Dabei ist dieser Gedanke nicht eigentlich ein Scheltwort an Hananja, wenn dieser auch angeredet wird, sondern betrifft alle Zuhörer, ist im Grund eine Einleitung zur Unheilsweissagung an das Volk (II). 9•
III fehlt in LXX und in einer Qumranhandschrift; zur Vervollständigung der Gattung angefügt?
Unheilsprofezeiung an das Volk
253
Denn SO HAT JAHWK Zebaoth, der Gott Israels, GESPROCHEN: Ein eisernes Joch lege ich auf den Nacken all dieser Völker, daß sie Nebukadnezar, dem König von Babel, dienen sollen. Und sie werden ihm dienen, selbst die Tiere des Feldes gebe ich ihm. Auch hier der Zweitakt bei der Weissagung: wie Gott eingreift, wie der Betroffene reagiert. Freilich kehrt der Schluß diesmal insofern zum Anfang zurück, als noch einmal das göttliche Subjekt erwähnt wird: Selbst die Tiere des Feldes gebe ich ihm. Mit besonderer Wucht wird dem göttlichen Eingriff Ausdruck gegeben. Nicht ein Nominalsatz mit "Siehe" und nachfolgendem Partizip, sondern ein perfektischer Satz mit vorangestelltem Objekt kündet das Unglück an. Man könnte fragen, wieso hier eine Unheilsprofezeiung an das Volk vorliegt, wird Israel doch überhaupt nicht erwähnt. Aber man wird damit zu rechnen haben, daß der Text der Profezeiung nach der Verbindung mit Kap. 27 abgeändert wurde; denn die Redeweise "alle diese Völker" V. 11. 14 blickt offensichtlich zurück auf die in 27, 3 genannten Edomiter, Moabiter, Amoniter und Phöniker. Als Hananja vor allem Volk von Jeremia zur Rede gestellt wurde, wird dieser konkreter gesagt haben, was er meint. Allerdings ist nicht gesagt, daß Jeremia ursprünglich den Ausdruck Israel ausdrücklich in den Mund nahm; die Profeten lieben es nämlich, mit verhüllenden Ausdrücken von dem zu reden, über den das von Gott herbeigerufene Verderben kommt10• Dennoch bestand bei den Zuhörern dieser Szene kein Zweifel, daß Jeremia eine "Drohung" gegen ihr eigenes Volk vortrug, wie immer der Wortlaut einst lautete. Deshalb ist der Begriff Unheilsprofezeiung an das Volk angemessen. Die Unheilsprofezeiung an das Volk ist dadurch mit einem besonderen Ton versehen, daß zu Anfang die Botenformel (KA) einen Titel Jahwäs hinzufügt, und zwar jenen Titel, der das feierliche Würdeprädikat des Jerusalemer Tempels ist: Jahwä Zebaoth. Dazu kommt noch der alte Beiname: Gott Israels11 • Aueh dadurch ist diese Profezeiung vor den anderen hervorgehoben, daß sie zweimal mit einer Botenformel versehen ist, vor der Unheilsweissagung sowohl wie vor dem Scheltwort. Doch das Grundmuster der Profezeiung ist nicht verändert. Unheilsprofezeiung an das Volk ist keine eigene Gattung, sondern nur eine Unterart der Unheilsprofezeiung überhaupt. Wenn hier ausnahmsweise die abschließende Charakteristik (III) fehlt, so ist das eine Ausnahme dieser Stelle und wohl aus der Verschachte10
11
GuNKEL, GrPro S. XLVI ff. Freilich läßt sich aus unserer Stelle nicht die allgemeine Regel ableiten, daß Unheilsprofezeiungen an das Volk grundsätzlich die erweiterte Botenformel zeigen, Unheilsprofezeiungen an den Einzelnen dagegen nur "So hat Jahwä gesprochen". Wann die einfache Formel genügt und wann die erweiterte nötig ist, bedarf noch der Untersuchung.
254
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
lung mit dem zweiten Unheilswort an Hananja zu erklären. Bei anderen Unheilsprofezeiungen an das Volk gehört die Charakteristik durchaus dazu (z. B. 6, 13).
D. Heilsprofezeiung Mitten in den Unheilssprüchen, die Jeremia vorträgt, steht in unserer Erzählung eine profetische Rede Hananjas, die Heil verheißt. Auffälligerweise ist sie den Gattungen, die Jeremia benutzt, zum Verwechseln ähnlich. Auch Hananja beginnt mit der Botenformel (KA): "So hat Jahwä gesprochen" (V. 11), unter Umständen in ihrer erweiterter Form V. 2. Sein Heilsspruch beginnt mit einer Feststellung, einem Hin weis auf die veränderte Lage (I). Jahwä hat das Joch des Königs von Babel bereits zerbrochen! In der göttlichen Welt ist die Entscheidung bereits gefallen, der politische Druck der babylonischen Großmacht auf die syrisch-palästinensischen Völker bereits abgewendet. Infolgedessen ist die Bahn frei für neues Eingreifen Jahwäs, das durch einen partizipialen Satz vorausgesagt wird, also in einem Stil, der syntaktisch der Unheilsankündigung in V. 16 ähnelt. Der Hauptteil, die Weissagung des Heils oder die Verheißung (II), bringt offensichtlich dreimal die gleiche Wortverbindung: "an (von) diesen(m) Ort" und zweimal die andere: "Ich bringe zurück." Durch solche Wiederholung soll der Spruch besonders wirksam werden. Dabei empfindet man diese Wiederholungen keineswegs als störend; sie sind vielmehr kunstvoll in das Ganze eingefügt, erscheinen am Anfang, in der Mitte und am Ende. Die Verheißung wird durch den Hinweis auf das Raunen J ah wäs (i1H1 1 C~~) abgeschlossen. Die Wendung war bisher noch nicht begegnet, ist aber auch einem Jeremia nicht fremd, wie sich gleich zeigen wird. Bekannt ist aus V. 16 und 2. Kö. 1 wieder der dritte Teil, die abschließende Charakteristik: "Denn zerbrechen werde ich das Joch." Das lenkt zum Anfang zurück, zum Hinweis auf die veränderte Lage, stimmt mit ihm wörtlich überein, doch mit einem kleinen, aber bezeichnenden Unterschied. Hier steht das Imperfekt, dort stand das Perfekt. Was dort als schon (in der himmlischen Welt) geschehen galt, erscheint hier (auf Erden) als unabgeschlossen, als Zukunft. Es ist eine Besonderheit des Hananjaspruches, daß zwar das Muster der herkömmlichen Profezeiung beibehalten wird- der Dreitakt: Hinweis auf die Lage, Weissagung, abschließende Charakteristik -, aber dieser Aufbau im Grund ausgehöhlt ist; auch der erste und dritte Teil sind eigentlich Weissagung und nur durch den Zwang der Gattung vom mittleren Teil gesondert abgesetzt. Die Gattung der Heilsprofezeiung wird deutlicher, wenn wir einen Spruch Jeremias daneben stellen, z. B. 34, 4 f. mit seiner Rede an den König Zedekia:
Heilsprofezeiung
255
HöRE das Wort Jahwäs, Zedekia, König von Juda. SOHAT JAHWÄGESPROCHENüberdich: Du wirst nicht durch das Schwert sterben I in Frieden wirst du sterben. Wie deine Väter, die früheren Könige I die vor dir gewesen sind, so wird man auch dir zu Ehren Totenfeuer anzünden I und über dich klagen: Ach Herr! 111 Denn das Wort ist von mir gesprochen- RAUNUNG JAHWKS. Auf den ersten Blick ist nicht nur die Verwandtschaft zum Hananjaspruch, sondern auch das allgemeine Schema der Profezeiung unverkennbar, das für Heil wie für Unheil gilt. Bei beiden Themen kann der Aufmerksamkeitsappell (AA) voranstehen (vgl. 28, 15). Der Spruch selbst ist grundsätzlich dreigeteilt, mit Hinweis auf die Lage, Weissagung und abschließender Charakteristik. Der erste Teil fehlt bei dem Zitat aus Kap. 34 nur scheinbar, indem der Hinweis auf die Lage schon durch das vorangegangene Unheilswort (V. 2 f.) zur Genüge gegeben ist. AA KA II
Auch bei Jeremia taucht - wie Kap. 34 erweist - am Schluß die Wendung Raunung jahwäs auf12, genau wie bei Hananja. Die Wendung fehlt noch bei Profeten wie Elia und Elisa13, dagegen taucht sie bei Jeremia geradezu gehäuft auf, und zwar zumeist als Abschlußformel, wie 28, 4 zeigt; nicht nur als Abschluß einer geschlossenen Einheit, sondern auch hinter einem Teilabschnitt, vor allem hinter der Weissagung (wie 28, 4). Die Wendung ist gewiß auch unabhängig von der Botenformel entstanden und gebraucht worden, zu der sie in einer gewissen Konkurrenz steht. Aber der Weg ihrer Wandlungen ist noch undurchsichtig und ebenso ihre genauere.Bedeutung.
Wie 34, 3 f. waren gewiß alle Profezeiungen Jeremias beim mündlichen Vortrag poetisch gefaßt. Durch die Verschriftung und spätere Überarbeitung - die z. T. in der Septuapinta noch fehlt - ist der Wortlaut prosaisch geworden. E. Aufnahme einer Profezeiung
Als Hananja geendet hat, stimmt Jeremia ihm zunächst zu: So sei es (amen)! Möchte Jahwä das tun! Möchte Jahwä deine Worte, die du geweissagt hast, erfüllen und die Geräte des Hauses und die Verbannten alle aus Babel zurückbringen an diesen Ort! Mit den letzten Worten "an diesen Ort" nimmt Jeremia ausdrücklich die zentralen Vokabeln Hananjas auf. Wie ist seine Äußerung 12
F.
Die Formel ne'um jahwe, ZAW 73, 1961, 277-290; R. Zum Gebrauch der Formel n1 'um jahwe im Jeremiabuch, ZAW 66, 1954, 27-37. Vgl. schon den altenümlichen Seherspruch Num. 24, 3 f., aber auch 2. Sam. 23, 1. BAUMGÄRTEL:
RENDTORFF:
13
256
§ 17 Das Joch des Königs von Babel
zu verstehen? Meint Jeremia es ironisch, oder stimmt er seinem Gegner tatsächlich zu? Die formgeschichtliche Einordnung dieser Sätze ist von ausschlaggebender Bedeutung für den Sinn des Abschnitts und das Verhältnis der beiden Profeten. Nun nimmt 11,5 Jeremia ein Wort, das Jahwä zu ihm direkt gesprochen hat, mit "Amen" an! Die Formel ist also anscheinend ernst gemeint. Das bestätigt sich durch 1. Kö. 1, 36, wo Benaja eine Beauftragung seines Königs annimmt, mit den Worten: So sei es (Amen)! Möchte Jahwä, der Gott meines Herrn Königs, ,das tun'! Wie Jahwä mit meinem Herrn König gewesen ist, so möge er mit Salomo sein ... Die Übereinstimmung mit Jeremias Worten ist schlagend. Mit Amen nimmt also der Empfänger eine Beauftragung oder Botschaft eines übergeordneten Herrn bejahend an. Es gehört sich, daß er außerdem einen Segenswunsch hinzufügt, der auf das Vorgetragene Bezug nimmt. Jeremia akzeptiert also durchaus die Profezeiung Hananjas, sie entspricht seinen eigenen Sehnsüchten; denn auch er wünscht seinem Volk Heil. Jeremia rechnet also damit, daß Hananja eine echte Gottesbotschaft überbringt. Freilich fehlt es ihm im Augenblick an einer Inspiration, so kann er sich nicht gegen, aber auch nicht völlig für Hananja entscheiden; und das prägt die Fortsetzung.
F. Eineprofetische Reflexion Mit: "Nun höre doch dieses Wort, das ich dir und allem Volk zu sagen habe", setzt Jeremia neu ein (V. 7). Das ist der Appell zur A ufmer ksamkei t (AA), mit dem sonst eine Profezeiung begonnen wird (V. 15). Nicht so in diesem Fall, wo Jeremia eine eigene private Reflexion vorträgt; sie läuft darauf hinaus, daß zwar das Wort einer Unheilsprofezeiung sofortigen Glauben verdient, bei einer Heilsprofezeiung aber erst der Ausgang abgewartet werden muß. Wie die lange Einleitung zeigt, redet Jeremia in einem festen Stil. Welche Gattung sich dahinter verbirgt, ist leider nicht mit Sicherheit zu sagen, da Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Es ist noch nicht einmal gewiß, ob dieser Absatz von Jeremia selbst herrührt. Er könnte redaktionsgeschichtlich zu erklären sein. Denn die Vorstellung von einer langen Sukzessionskette von Unheilsprofeten von alters her ist bei Jeremia überraschend; dagegen bei den späteren deuteronomistischen überarbeitern, die sonst auch im Jeremiabuch nachzuweisen sind, leicht verständlich (vgl. die deuteronomistischen Stellen 2. Kö. 17, 13. 23 und schon Dtn. 18, 5 f.) 14• 14
Die Vermutung, daß der Abschnitt später hinzugekommen ist, bei E. OssWALD: Falsche Prophetie im Alten Testament, SgV 237, 1962 S. 19, wo freilich auch V. 5 f. als sekundär angesehen wird, was weniger wahrscheinlich ist; ein solches Amen dichtet keiner nachträglich einem Profeten an.
257
G. Der Spruch zur symbolischen Handlung Noch einmal wird im Text ein Wort Hananjas angeführt, diesmal ist es aber viel kürzer V. 11. Es steht in Verbindung mit der Zeichenhandlung, die er vornimmt. Er reißt Jeremia das hölzerne Joch vom Rücken und zerschmettert es; dazu spricht er nach einer Botenformel (KA) die folgenden Worte: Ebenso werde ich binnen zwei Jahren das Joch Nebukadnezars ... zerbrechen. Der gleiche Stil, ein deutender Satz mit vorangehender Botenformel und Vergleichspartikel taucht bei Jeremia auf, als er das Töpfergeschirr zerschmettert und damit symbolisch handelt (Kap. 19, 11; vgl. 13, 8-11; 51, 64). Er wird hier freilich nur bruchstückhaft verwendet15. So läßt also das eine Kapitel aus dem Jeremiabuch schon erkennen, wie vielfältig die profetische Sprache war. Auf die wichtigste ihrer Gattungen wird noch einmal grundsätzlich einzugehen sein.
1•
G. FoHRER: Die Gattung der Berichte über symbolische Handlungen der Propheten, ZAW 64,1952,101-120.
258
§ 18 GATTUNGSGESCHICHTE DER PROFEZEIUNG1 A. Aufbau der Unheilsprofezeiung Ein Vergleim von 2. Kö. 1 und Jer. 28 versetzt in die Lage, das Grundgefüge der profetismen Unheils- und Heilsprofezeiungen in Weiterführung der§§ 15 und 17 zu erheben sowie einiges über die Wandlungen dieser Gattung zu erkennen. Eine methodisme Vorbemerkung: Der Aufbau profetismer Sprüche ist zunächst den Erzählungen über die Profeten zu entnehmen, nicht aber den reinen Redepartien in den großen Profetenbümern; denn hier finden sim lange Sprumkomplexe, bei denen die Abgrenzung der Einheit außerordentlim smwierig ist, weil beim Hintereinandersmalten der einzelnen, aus der mündlimen Überlieferung entnommenen, einst selbständigen Sprüme die Smriftsteller oft die Eingangs- und Ausgangswendung weggelassen haben, um sim nicht allzuoft zu wiederholen. So fehlt bisweilen in den reinen Spruchsammlungen durch mehrere Kapitel hindurch die Botenformel (KA), weil sie sich nam der Überschrift des Buches von selbst verstand; selbstverständlich darf man daraus nicht smließen, ein Profet habe seine Profezeiung aum ohne Botenformel ausrufen können! Aum die Scheltworte (Lagehinweise) zu Beginn der Profezeiung sind des öfteren weggebrochen, da es in den großen Komplexen hauptsämlim um die Zukunftsaussage (Weissagung) ging. Dagegen ist in den erzählenden Abschnitten, in den Legenden, vom Gefüge des mündlimen profetischen Vortrages sehr viel mehr erhalten geblieben, obwohl aum hier mit Kürzungen zu remnen ist. Aber die Kürzung betraf in den Erzählungen weniger das Grundgerüst der Gattung als vielmehr inhaltlime Einzelheiten. Was eine Profeze i u n g ist, muß man deshalb von den erzähl enden Partien aus begreifen. Dann fällt es leicht, auch reine Spruchansammlungen aufzuschlüsseln.
Hinsichtlich der Unheilsprofezeiungen ist das Gefüge der Gattung unverändert von der Zeit Elias bis zu der Zeit Jeremias bewahrt worden. Zwischen Unheilsprofezeiungen an das Volk, die erst seit Amos aufkommen, und solchen an den Einzelnen zeigt sich in Jeremia 28 kein grundsätzlicher Unterschied1". Aus nachexilischer Zeit gibt es für die Gattung keine sicheren Belege mehr. Im Unterschied zur 1. Auflage wird die Gattung nicht mehr "Weissagung", sondern "Profezeiung" genannt. Denn der erste Begriff erweckt die Vorstellung, daß es sim um reine Zukunftsaussagen handelt. Das triff!: aber nicht für das gesamte Sprumgefüge zu, sondern nur für den mittleren Teil. Deshalb wird der Begriff Weissagung nunmehr dem Teil li vorbehalten, der sonst Ankündigung, Zukunftswort, Drohspruch bzw. Verheißung genannt wird, und als Heilsoder Unheilsweissagung näher bestimmt. Die Einschränkung des Wortgehraums erlaubt, den dogmatisch-theologismen Begriff der Weissagung (als Gegenbegriff zu "Erfüllung") genauerauf das AT. zu beziehen. Gleichzeitig wird dadurm die einzigartige profetische Weise, innerhalb des Gesamtgefüges einer Profezeiung die Zukunft nicht nur anzukündigen, sondernkraftwirksamen Wortes herbeizurufen, durm einen spezifischen Begriff herausgestellt. - Den Begriff Prof ez e i u n g für die hier dargestellte Gattung zu verwenden, empfiehlt sim deshalb, weil der Ausdruck formal ist und keine vorschnelle Deutung impliziert (wie es etwa "Botenspruch" tut) und weil in der Tat gerade diese Gattung die für die vorexilischen Profeten kennzeichnende ist. Diese formgeschichtliche Verwendung des Begriffs setzt freilim voraus, daß man nicht jede profetische Rede als Profezeiung auffaßt, da die Profeten neben der in diesem Paragrafen dargestellten Redeform gelegentlim aum andere wie Streitgespräch, Gerimtsrede u. ä. verwenden. 10 WESTERMANN 120 f.- HEMPEL hat vermutete, daß die Unheilsprofezeiung an das Volk aus der U nhei I s pro f ezei ung an den König entstanden ist 1
Lagehinweis und Weissagung
259
In der Regel bestehen solche Unheilsprofezeiungen aus drei Teilen (denen ein privates Orakel [S. 233. 261] vorangehen kann): I. Lagehinweis oder Sc h e 1t wo r t. Geschildert wird die religiöse, soziale oder politische Lage und das Verhältnis zwischen Gott und demAdressaten derProfezeiung.Anlaß ist eine besonders bedrängende Situation, die nach Abhilfe schreit,· zum Guten oder zum Bösen hin. Wo besonders gemessen geredet wird, beginnt ein Scheltwort mit "Es verhält sich so, daß" (,~~ ~~~ 2. Kö. 1, 16 vgl. Jer. 29, 25. 31 u. ö.) 1h. Ist der Profet aber besonders empört, beginnt er mit einer vorwurfsvollen Frage 2. Kö. 1, 3. 6. Hatte er Zeit, reiflich zu überlegen, kann das Scheltwort in einer knappen Aussage bestehen Jer. 28, 13. 15 vgl. 36,29 2 • II. Weissagung des Unheils (Ankündigung, Drohwort). Ihr Kern besteht a) in vielen Fällen aus einem knappen verneinten Satz mit imperfektischem Verb, z. B. "Du wirst nicht mehr aufstehen" 2. Kö. 1, 4 (]er. 36, 30; 22, 11. 18). Diese Formulierung überrascht den Kundigen, weil man oft den Profeten den Gebrauch eines besonderen perfeeturn propheticum zuschrieb, mit dem sie ihrer Gewißheit über die Zukunft Ausdruck geben sollen. Aber an diesem zentralen Punkt der Profezeiung taucht, soweit ich sehe, nie ein Perfekt auf. Man könnte diese Form die apodiktische Weissagung nennen, weil sie an die Art gewisser alttestamentlicher Gottesgebote erinnert3 . b) Eine andete Möglichkeit, die Weissagung auszudrücken, besteht in einem partizipialen Satz, bei dem Jahwä Subjekt ist und den zumeist ein "Siehe (ich)" einleitet. Er steht stets am Anfang der Weissagung und schildert ein plötzliches göttliches Eingreifen, durch das die im Scheltwort skizzierte unhaltbare Lage grundlegend verändert wird. Ein weiterer Satz, bei dem dann die betroffenen Menschen Subjekt sind, schildert die Folge solchen Eingreifens, also die veränderte, bereinigte Lage. So im Spruch gegen Hananja 28, 16. Diese Formulierung herrscht bei Jeremia vor (32, 28; 34, 22; 35, 17; 43, 10; 44, 30), sie ist aber schon althergebracht (1. Sam. 3, 11; 2. Sam. 12, 11; 1. Kö. 14, 10). 4 Es sei vorgeschlagen, diese Fälle Weissagung mit Präsentativ zu nennen 5• Bei Jeremia tauchen bisweilen und sich darin "ein großer sozialer Prozeß" spiegelt; "an die Stelle des Wortes an den König als den Repräsentanten des Volkes tritt die Drohung gegen das Volk selbst" (ThLZ 87, 1962 Sp. 205). lb Zu lV 1 in Orakelreden vgl. D. E. GowAN, VT XXI, 1971, 168-185. 2 übersieht bei WoLFF 2-5 bzw. 10-13. 3 Siehe o. S. 11. 4 Weiteres bei K. v. RABENAU: Das prophetische Zukunftswort im Buch Hesekiel, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, hg. v. R. RENDTORFF- K. KocH 1961, bes. S. 66 ff. In der älteren Zeit wird bisweilen an dieser Stelle n~;:t mit einem andern Subjekt gebraucht 1. Kö. 13, 2; 20, 36. 5
i1~i1
als Präsentativ, so
W~lssagung
J.
BLAu, VT IX, 1959, 130 ff. -
Eine Sonderart der
mit Präsentativ ist der Beginn mit ;~?.t5 ~~~i1 s. P. HuMBERT: Die Herausforderungsformel hineni eleka, ZAW NF 10, 1933, 101 bis
§ 18 Gattungsgeschichte der Profezeiung
260
beide Aussageformen muemander auf, die partizipiale steht dann voran (34, 2 f.; 44, 26).- Der ÜbergangS von I zu II wird gern mit J;?~ "deshalb" vorgenommen7 • In jedem Fall ist die Weissagung, also der zweite Teil, die eigentliche Substanz der gesamten Profezeiung. Ein bezeichnendes Beispiel aus den Jeremiageschichten ist 26, 18, wo die Altesten Judas eine Profezeiung anscheinend aus mündlicher Tradition kennen, die sich im Michabuch 3, 9-12 ausführlich findet. Die Altesten zitieren aber verkürzt; sie kennen nur die Weissagung. Das also ist für das allgemeine Bewußtsein das eigentlich Entscheidende an einer Profezeiung.
III. Die abschließende Charakteristik entweder des Betroffenen (2. Kö. 1, 4) oder des Sendenden (Jer. 28, 4). über sie braucht nicht mehr viel gesagt zu werden. Der übliche Beginn ist ein "Denn" (~~ ) 8 • Die Charakteristik ist der kürzeste Teil des Spruches. Sie dient der Abrundung der Profezeiung und zeigt, wie wenig die Worte der Profeten grundsätzlich "irrational" gemeint sind; diese "Begründung" ist geradezu "rational" gedacht. Zu den drei Teilen tritt in der Regel die Ko-amar-Formel (KA), meist Botenformel genannt. Sie steht entweder vor I (2. Kö. 1, 16) oder vor li (2. Kö. 1, 4. 6; Jer. 28, 16); ab der Zeit Jeremias häufig an beiden Stellen (Jer. 28. 13 f), in der frühen Profetie meist vor II (Weissagung); warum sie nicht stets am Anfang der Profezeiung steht, ist ein ungelöstes Rätsel. Stets am Anfang steht jedoch der Aufmerksamkeitsappell (AA, VP~ oder Plural), der seit Amos gehräumlich ist (Am. 7, 16; Jer. 28, 15).
=
8
7 8
108 Opuscules d'un Hebrai:sant, Memoires de l'Univers. de Neuchitel 26, 1958, 44-53. HuMBERT hebt hervor, daß Sätzen mit solchem Präsentativ meist waw-perfecta wie "derbe Hiebe" folgen, S. 49; das gilt nicht nur für die von ihm behandelte Sonderart. Die Weissagung ist jeweils auf besondere Weise mit dem Scheltwort verbunden. WoLFF hebt (S. 7. 11. 20 f.) mit Recht hervor, wie sehr die Profeten bemüht sind, das zukünftige Handeln Gottes (Weissagung) aus der Gegenwart heraus (Scheltwort) als notwendig zu erweisen. Das Scheltwort will das heraufziehende Geschehen, also das Wirken Gottes, einsichtig machen. (Ein solches Bemühen mag freilich dem eingefleischten protestantischen Empfinden schwer eingehen, das meint, Gottes Wort "müsse" man "einfach glauben" unter Verzicht auf jede Rückfrage.) la-ken eigentlich "in Anbetracht dessen", "upon my word"; F. J. GoLDBAUM, INES 23, 1964, 132-135. Die Einleitungspartikel spielen bei der Einteilung der Profezeiung eine bemerkenswerte Rolle: "11?tt5 1)!~ vor dem Lagehinweis I, iiD vor der KA-Formel,
J~~ vor der Weiss;gung II oder der KA-Formel, ii~i! vor dem Inhalt der Weissagung, ~~ vor der abschließenden Charakteristik. J. MurLENBURG hat HucA XXXII, 1961, die wichtige Stellung der Partikel in der hebräischen Sprache untersucht: "Among the Hebrew particles there is one group that plays a distinctive lexial and rhetorical role. They are the signals and signposts of language, markers on the way of the sentence or poem or narrative, guides to the progress of words, arrows directing what is being spoken to its destination . . . The intended meaning becomes alive and dynamic in the ways that the particles are employed" (S. 135).
Aufbau der Heilsprofezeilmg
261
Wo der Profet auf eine Unheilsprofezeiung zurückblickt, die er einst vorgetragen hat, bietet sich dafür ein geprägter Rahmen. Er berichtet dann von einem vorgängigen privaten Orakel, mit dem ihm der Auftrag zur Verkündigung zukam, meist lautet es: "Geh und sage dem ... " (2. Kö. 1, 3 [ 6]. 15). Später tritt davor - häufig bei Jeremia (o. S. 247 f) die Wortempfangsformel: "Es erging das Wort .. an .... " 1ahwas
B. Aufbau der Heilsprofezeiung Auch die Heilsprofezeiung wird gewöhnlich mit der Ko-amarFormel (Botenformel) versehen; sie steht vor I wie vor II (]er. 32, 14 f; 35, 18 f; 2. Kö. 3, 16 f) oder nur vor I (]er. 28, 2; 36), in älterer Zeit auch allein vor II (1. Kö. 17, 14; 11, 31; Jes. 7, 7). Mit einem Appell zur Aufmerksamkeit (]er. 34, 4) kann die Profezeiung beginnen. Erzählt der Profet, wie es zum Auftrag kam, weist er auf das eröffnende private Orakel (]es. 7, 3 f) und benutzt - ab Jeremia- die Wortempfangsformel (]er. 33, 1). Wie für die Unheils-, gibt es für die Heilsprofezeiung also einen geprägten Rahmen. Schon die beiden § 17 wiedergegebenen Abschnitte Jer. 28, 2-4; 34, 4 f. lassen hinreichend deutlich werden, wie sehr der grundsätzliche Aufbau dem der Unheilsprofezeiung gleicht. I. Zuerst wird die Lage skizziert; freilich nicht mit einem Scheltwort und auch nicht mit vorwurfsvollen Fragen, sondern durch Aussagesätze (so 28, 2, aber auch 34, 12 vgl. 32, 36 und schon 2. Kö. 21, 29; 20, 5). Selbst die umständliche Einleitung "Es verhält sich so, daß" ('1~~ )>-'~) ist bei der Heilsprofezeiung zu belegen (]er. 35, 4-17). Gern wird dieser Teil als eine Mahnrede gestaltet, z. B. 33, 3 Rufe mich an, so will ich dir antworten ... Ebenso an vielen anderen Stellen (29, 5-7; Jes. 7, 4 ff.; 1. Kö. 11,31; 2. Kö. 3, 16; 4, 43). Man hat deshalb gemeint, der Anfangsteil einer Heilsprofezeiung sei grundsätzlich ein Mahn wo r t. Das ist zweifellos eine Übertreibung. Das Mahnwort ist längst nicht so in der Heilsprofezeiung heimisch geworden wie das Scheltwort in der Unheilsprofezeiung. Es ist ein Sonderfall des allgemeinen Gliedes Hinweis auf die gegenwärtige Lage geblieben. Wo ein Mahnwort am Anfang steht, wird übrigens der folgende Abschnitt gern mit einem "Denn" und nachfolgender Botenformel eingeleitet (]er. 32, 15; 33, 4; 29, 8; 1. Kö. 11, 31; 17, 14; 2. Kö. 3, 17). In solchen Fällen fehlt dann meist die Charakteristik am Ende. II. Die Weissagung des Heils, die Verheißung. Sie entspricht insofern der Parallele bei den Unheilsprofezeiungen, als der Kernsatz wiederum a) entweder ein imperfektisches und dann meist verneintes Prädikat aufweist, also "apodiktisch" gestaltet ist - wie
262
§ 18 Gattungsgeschichte der Profezeiung
]er. 34, 4 f. (35, 19) -;oder b) aus einem partizipialen Nominalsatz besteht- ]er. 28, 3 -,dem in der Regel ein "Siehe ich", also ein Präsentativ, vorangeht (]er. 32, 37; 33, 6). Auch bei den Verheißungen ist diese zweifache Möglichkeit alt. Verneintes Imperfekt findet sich schon 1. Kö. 17, 14; 2. Kö. 3, 17; ]es. 7, 7; dagegen "Siehe ich" mit nachfolgendem Partizip bereits 1. Kö. 11, 31; 2. Kö. 20, 59 • Der Übergang von I zu II geschieht durch "deshalb" ]er. 35, 19. 3. Die abschließende Charakteristik bezieht sich in beiden Fällen (]er. 28, 4 wie 34, 5) auf den Sendenden, der Auftraggeber der Botschaft und Urheber des zukünftigen Geschicks zugleich ist. Ebenso ]er. 32,44 und 39, 18 (an der letzten Stelle wird außerdem der Empfänger charakterisiert). Bei den frühen Profeten fehlt bei Heilsprofezeiungen dieser Abschnitt oft (1. Kö. 17, 14 z. B.); er kann auch von den Erzählern nachträglich ausgelassen worden sein10 • Es entspricht dem Verständnis der Profeten vom künftigen Heil, daß es - im Unterschied zu bevorstehendem Unheil - über die Betroffenen infolge göttlicher Barmherzigkeit und nicht infolge menschlichen Verdienstes kommt, so daß der Abschluß als Gottescharakter is t i k einzig sinnvoll ist. Die Heilsprofezeiung hat sich bis in die nachexilische Zeit gehalten und taucht noch bei den Profeten Haggai und Sacharja auf; dort aber mit deutlichen Zeichen der Auflösung. Die Mahnung nimmt überhand. Die Botenformel und die Wendung "Raunung Jahwäs" treten so gehäuft auf, daß das alte Muster der Profezeiung geradezu durchlöchert wird. Man blicke etwa auf die Heilsprofezeiung Haggai 2, 3-9 an Serubbabel und das übrige Volk11 : Ist unter euch noch einer übrig, der dieses Haus (den Tempel) in seiner früheren Pracht gesehen hat? 8
10
11
P. HuMBERT: La formule hebraique en hineni suivi d'un participe, Revue des Etudes Juives 97, 1934, 58-64 = Opuscules (s. A. 5) 54-59 weist nach, daß diese Formel - von verschwindenden Ausnahmen abgesehen - nur mit Gott als S u b j e k t verwendet wird. Im zwischenmenschlichen Botenspruch kommt sie nur gelegentlich und untypisch vor (Num. 24, 14; 1. Kö. 5, 19). HuMBERT meint, daß sie aus alten kultischen Orakeln stammt; eine Vermutung, die freilich zu dem Befund in einer gewissen Spannung steht, da die Formel hauptsächlich für Unheilsweissagungen gebraucht wird (85 von 125mal!). Sollte sie nicht von daher sekundär in die Gattung der Heilsprofezeiung eingedrungen sein? - Jedenfalls betont sie ein plötzliches unvermitteltes Eingreifen Gottes im Unterschied zu den verneinten Imperfektformen, die wohl an ein längeres Werden denken. Wurzelt die präsentative n~ry wird häufig in VisionsWeissagung in einer visionären Schauung? schilderungen an den Anfang gestellt (Am. 7, 1.4.7; Jer. 24, 1 u. ö.). 1. Kö. 20, 13. 28 ist der dritte Teil umgeformt zu einem Erweiswort, s. W. ZIMMERLI: Das Wort des göttlichen Selbsterweises (Erweiswort), eine prophetische Gattung; in: Melanges bibliques rediges en l'honneur de A. Robert 1957, 154-164. Zur Formgeschichte bei Haggai s. meinen Aufsatz: Haggais unreines Volk, ZAW 69, 1967,52-64.
Gesch1'chte der Heilsprofezeiung
263
Und wie seht ihr es jetzt? Kommt es euch nicht vor wie nichts? Nun aber sei getrost, Serubbabel - Raunung Jahwäs! Sei getrost, Hoherpriester Josua, Sohn Jozadaks! Sei getrost, du ganzes Volk des Landes- Raunung Jahwäs - und arbeite! Denn ich bin mit euch - Raunung Jahwä Zebaoths. Und die Sache (?), die ich mit euch beschlossen habe bei eurem Auszug aus Agypten, und mein Geist bleiben mitten unter euch - fürchtet euch nicht. Denn so hat Jahwä Zebaoth gesprochen: Nur eine kleine Weile noch, und ich erschüttere die Erde und den Himmel, das Meer und das Land, und ich erschüttere alle Völker. Und dann werden die Kostbarkeiten aller Völker kommen, und ich werde dieses Haus mit Pracht erfüllen - hat Jahwä Zebaoth gesprochen. Mein ist das Silber, mein ist das Gold - Raunung Jahwä Zebaoths. Die künftige Pracht dieses Hauses wird größer sein als die frü,here- hat Jahwä Zebaoth gesprochen, und an dieser Stätte will ich Heil geben - Raunung Jahwä Zebaoths." Noch weiter geschritten ist die Verwandlung der Profezeiung beim Chronisten12 • Schwierig ist zu entscheiden, ob man die Heils- und Unheilsprofezeiung je für sich als selbständige Gattungen ansehen soll oder nur als Unterarten der allgemeinen Gattung "Profezeiung". Hier zeigt sich, wie die Grenze zwischen zwei Gattungen fließend sein kann; was sich dort leicht erklärt, wo der Sitz im Leben für beide derselbe ist. Es verwundert deshalb nicht, daß sich Profezeiungen finden, die Unheil und Heil zugleich künden bzw. dazwischen schweben (1. Kö. 12, 24; Jer. 38, 17 ff.; 42, 2 ff.; so auch die Mari-Profezeiungen). Ob man also von zwei Gattungen reden will oder von zwei Arten der einen Gattung, bleibt dem Belieben anheimgestellt. Der Israelit jedenfalls hat alle diese Sprüche unter der Rubrik "Das (nicht etwa ein!) Wort Jahwäs (ii,ii~ ,~~)" zusammengefaßt. Das Wort Profezeiung sollte man in der alttestamentlichen Exegese für jene Einheiten reser:vieren, die dem Aufbau der eben geschilderten Heils- und Unheilssprüche entsprechen. Nicht jeder Profetenspruch, nicht jede Voraussage eines Profeten ist also Profezeiung in diesem Sinn. 12 WFSTERMANN
116-119.
264
C. Außerisraelitische Parallelen Die Gattung Profezeiung ist aus der vorköniglichen Zeit Israels nicht zu belegen. Dagegen haben die Ausgrabungen in der alten Eufratstadt Mari Keilschrifttafeln aus der Mitte des 2. Jahrtausends vor Chr. zutage gefördert, die eine 'Vorstufe der alttestamentlichen Profetie und der von ihr gebrauchten Profezeiung erkennen lassen. Ein Brief eines Statthalters an den König Zimrilim von Mari13 gibt den Bericht eines Mannes wieder, der im Traum vor dem Gott Dagan in dessen Tempel auf den Knien lag: I Warum halten sich die Abgesandten des Zimrilim nicht ständig vor mir auf? Und warum erstattet er nicht vollständig (über alles) vor mir Bericht? Ich hätte doch sonst schon seit vielen Tagen die Smems der Benjaminiten in die Hand des Zimrilim gegeben! PO Jetzt geh! Ich habe dich geschickt (oder: ich sende dim). Zu Zimrilim wirst du folgendermaßen sprechen: II Schicke deine Abgesandten zu mir und erstatte mir vollständigen Bericht! Dann will ich auch die Schechs der Benjaminiten (?) in einem Fischerkorb zappeln lassen und vor dir hinstellen! Die Ähnlichkeit zum Aufbau der alttestamentlichen Gattung ist unverkennbar. Hier wie dort wird zunächst auf die gegenwärtige Lage verwiesen (I), dann die zukünftige Entwicklung angekündigt (II). Dazwischen steht etwas wie ein privates Orakel (PO), das aber in die offizielle Verkündung aufgenommen wird. Der Unterschied zum alttestamentlichen Gebrauch besteht vor allem darin, daß eine legitimierende Botenformel fehlt, obwohl sie im behördlichen Briefwechsel Maris verwandt wird (ANET 482 f). Wenn die Ko-amar-Formel im Alten Testament ständig hinzutritt, soll damit wohl der Abstand zwischen Profet und Gott betont werden, der Profet wird zum übermittler göttlichen Wortes, der Gott weilt nicht (mehr) geheimnisvoll in ihm. Ein weiterer wichtiger Unterschied zeigt sich darin, daß Heil und Unheil bei der Mari-Profezeiung ineinander verschachtelt sind, beides hat bedingten Charakter, hängt von der Entscheidung des Menschen ab. Die alttestamentliche Profetie der vorexilischen Zeit mißt der menschlichen Entscheidung viel weniger Bedeutung zu (bzw. blickt auf sie, die längst gefallen und nicht mehr rückgängig zu machen ist, zurück); Heil und Unheil treten schärfer auseinander und bekommen 13
M. NoTH: Ges. Studien, ThB 6, 1957 (= 2 1960), 230-247. - WEsTERMANN 82-91 - A. MALAMAT: Prophetie Revelations ... VTS 15, 1965, 207-277F. ELLERMEIER: Prophetie in Mari und Israel, 1968 - K. KocH: Die Briefe "profetischen" Inhalts aus Mari, Uga~it-Fo~schungen 4, 1973, 53-77.
Vergleich mit dem Botenspruch
265
den Rang unwiderruflicher göttlicher Tat. Die Gattungsgeschichte der Profezeiung gibt bezeichnende Aufschlüsse, in welcher Weise sich die Einzigartigkeit israelitischen Gottesverständnisses im Lauf der Zeit ausgebildet hat. D. Vergleich mit dem Botenspruch Was ergibt der Vergleich der Unheils- und Heilsprofezeiungen, also des göttlichprofetischen "Botenspruchs", mit dem zwischenmenschlichen Botenspruch? Oben hat es sich gezeigt14, daß der erweiterte Botenspruch, wie er vor allem zwischen Gleichgestellten verwendet wird, aus folgenden Teilen besteht: Botenformel Hinweis auf die bedrängende Lage Anliegen des Sendenden (ofl: im Imperativ) Abschließende Charakteristik Stellen wir den Bau der VOrexilischen Profezeiung daneben: Heilsprofezeiung: Lagehinweis (u. U. Mahnwort) Botenformel (kO ämar-) Weissagung des Heils (Abschließende Charakteristik)
Unheilsprofeze i u un g: Scheltwort Botenformel Weissagung des Unheils (Abschließende Charakteristik)
Darf man also die Profezeiung als profetischen Botenspruch ansehen? Handeln die Profeten hier vor allem als bevollmächtigte Boten, als Herolde ihres Gottes, womöglich eines Gottes, dessen königlicher Rang im Vordergrund steht, da im menschlichen Bereich vor allem der König Boten aussendet? Es gilt jedoch zu bedenken, daß die Profeten nie ausdrücklich Boten Gottes genannt werden. Wirklicher Bote Gottes kann nur ein göttliches Wesen sein. Eben der "Engel Jahwäs", der im Hebräischen geradezu Bote 'iJ~?~ heißt15 • Auch im Blick auf den Inhalt gilt zu bedenken: "Drohung, Mahnung und Verheißung sind gewiß nicht Gegenstände des normalen Botenauftrages" 16• Die hier wie dort vorliegende Dreigliederung darf demnach nicht zu schnell so gedeutet werden, daß es sich einfach um ein und dieselbe Gattung "Botenspruch" handelt; obwohl die Übereinstimmung in manchen Fällen so weit geht, daß auch der zwischenmenschliche Botenspruch bei bestimmten Anlässen zur gehobenen Rede sich aufschwingt und parallelismus membrorum verwendet. Dann ist er in der gleichen Art wie die profetischen Sprüche verfaßt, die auch eine Mittelstellung zwischen strenger Dichtung und prosaischer Tonart einzunehmen scheinen. Daß die Profezeiung gegenüber dem zwischenmenschlichen Botenspruch bei aller Verwandtschaft eigenständig ist, zeigt ein näherer Vergleich. Völlig deckt sich zwar die Botenformel: So hat NN gesprochen. Aber die Botenformel (KA) ist ein verhältnismäßig selbständiges Stück innerhalb der Profezeiung. Das zeigt sich darin, daß sie die Stellung im Satz wechseln oder gar doppelt erscheinen (Jer. 28, 13 f.) kann; ferner darin, daß sie auch in anderen profetischen Gattungen auftaucht, die nicht im Stil der Profezeiung einhergehen, wie z. B. der Spruch zur symbolischen Handlung (]er. 28, 11). Verglichen mit dem Botenspruch, ist die Stellung der Botenformel in der älteren Profezeiung eine andere; dort steht sie stets am Anfang, hier steht sie zumeist zwischen dem ersten und dem zweiten Teil. Auch ist der erste 14
15
16
Siehe Seite 231 f. Die einzige - späte wird, ist Mal. 3, 1. RENDTORFF 166.
Stelle, wo vielleicht ein Profet als
'iJ~?~ bezeichnet
266
§ 18 Gattungsgeschichte der Profezeiung
Teil zumindest bei der Unheilsprofezeiung durchweg nicht nur allgerneiner Hinweis auf die Lage wie beim Botenspruch, sondern zugleich Aufweis der Schuld, Scheltwort, und das seit den Anfängen der Profetie. - Am weitesten geht jedoch der Mitte I t e i I auseinander. Während im Botenspruch an dieser Stelle eine Mitteilung über einen besonderen Vorfall, ein Wunsch oder ein Befehl steht, kündet die Weissagung zukünftiges Geschehen an, und zwar ein Geschehen, das der Sendende selbst heraufführt17• Ihre beiden Ausdru
E. Sitz im Leben
Wo gehört die Gattung der Profezeiung hin? Sie findet sich bei Elia, bei Jeremia, aber auch bei Hananja. Ein Heilsprofet wie Hananja benutzt also genau die gleiche Gattung wie der "Unheilsprofet" Jeremia. Eine Entdeckung, die für die Beurteilung der falschen Profetie im Alten Testament von hohem Belang ist. Außerdem zeigt sich hier die Kontinuität zwischen den Schriftprofeten und der alten Profetie eines Elia und Elisa. Die Reformprofeten stehen also - trotz allem Protest gegen eine leichtfertige profetische Praxis mit den Nabis der frühen Königszeit durchaus in Verbindung. Das formgeschichtliche Ergebnis zeigt, wie stark selbst ein so individualistischer Geist wie Jeremia im Bann einer überkommenen Sprache 17 18
Die Mari-Profezeiung mit dem Befehl in Teil II steht insofern dem zwischenmenschlichen Botenspruch näher als die alttestamentliche. H. GRAF .REVENTLOW (s. A. 20) möchte die profetische Profezeiung aus kultischen Segens- und Fluchriten ableiten (auf Grund eines Vergleichs von Hesekielstellen mit Lev. 26). 1\hnlich C. F. FENSHAM, ZAW 75, 1963, 155-176.
Sitz im Leben
267
und Schule steht. Bei aller exzentrischen Leidenschaft (die GuNKEL so eindrucksvoll an den Profeten herausgestellt hat) bleiben sie doch alle streng bei Brauch und sprachlicher Sitte, bei einer Bindung, die wir heute noch ganz anders bei den einzelnen Profeten erkennen, als GuNKEL es vermochte. Daß damit von der Größe dieser Männer nichts hinfällt, versteht sich von selbst. Alle bedeutenden Figuren in der Geschichte Gottes und der Welt stehen nicht außerhalb ihrer Zeit und Sprache, sondern stehen eher tiefer darin als der Durchschnittsbürger. Die Profezeiung ist keine literarische Gattung, sondern auf mündliehen Vortrag abgestimmt. Das zeigt sich in den Profetenlegenden deutlich genug. Aber auch die Kürze und Strenge des Aufbaus erklärt sich nur aus dieser Abzweckung. Darüber hinaus geben Einzelheiten in den Sprüchen klare Hinweise, etwa der Appell zur Aufmerksamkeit am Anfang: "Höret das Wort ... ", der offensichtlich nicht an Leser, sondern an Hörer denkt. Wo trägt der Profet seine Profezeiung vor? Der eigentliche Ort des Eliaspruches von 2. Kö. 1 ist der Königspalast. Dort verschafft der Profet sich Audienz, unter Umständen indirekt, durch den Mund von Mittelsmännern. Das Wort Hananjas wird dagegen im Tempel zu Jerusalem vorgetragen, und zwar bei einer feierlichen Gelegenheit, bei der die Priester und die Volksversammlung gegenwärtig sind, also anläßlich einer kultischen Begehung. Die Antwortprofezeiung Jeremias wird man sich am gleichen Platz vorzustellen haben; denn der umfassende Unheilsspruch setzt anscheinend wieder die Gegenwart einer großen Menge voraus. Mit dieser Beobachtung wird ein heißes Eisen der zeitgenössischen alttestamentlichen Forschung berührt; denn nun lautet die nächste Frage: Reden Hananja und Jeremia als Privatmänner, benutzen sie die Gelegenheit vor oder nach dem festlichen Akt, als das Volk sich noch nicht verlaufen hatte, um schnell ihre Profezeiungen hinauszurufen? Oder - die Alternative ist folgenschwer - treten die beiden Profeten während der kultischen Feier auf, haben sie ihren festen Platz in der Liturgie des Tages; sind sie also als Profeten zugleich Tempelfunktionäre, mit einem Wort: Sind sie Ku 1t pro f e t e n ? Die Diskussion über diese Fragen ist noch so sehr im Fluß, daß sie hier nicht aufgegriffen werden kann, sondern nur auf das Problem verwiesen sei. Immerhin ist aus den Elia-Legenden so viel zu entnehmen, daß eine Profezeiung auch außerhalb des kultischen Ortes vorgetragen wird, ja, in der Regel dort laut wird. Sollte sich der Brauch in den Tagen der Schriftprofeten geändert haben?19 19
Den Anstoß zur These von der kultgebundenen Profetie gab S. MowrNCKEL: Psalmenstudien III, 1923. übersieht über die gegenwärtige Problemlage bei v. RAD: Theologie II, 62-65 = 4 5. 58-61.
268
§ 18 Gattungsgeschichte der Profezeiung
Eine Sonderfrage im Rahmen der These von der Kultprofetie ist die nach der Beziehung der Profeten zum israelitischen Gottesrecht. Bekanntlich gehören der Dekalog und andere Gebotsreihen von Haus aus zu einer kultischen Begehung. Es zeigt sich nun, daß einige Unheilsprofezeiungen in ihren Scheltworten Verstöße rügen, die in der Übertretung solcher Gebote bestehen. Die kritische Frage Elias an Ahasja: "Ist denn kein Gott in Israel?" und die Ablehnung einer Befragung des Baal von Ekron erinnern den Kundigen an das erste Gebot des klassischen Dekalogs: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Auch bei Amos lassen sich weithin solche Beziehungen zwischen Unheilsprofezeiung und apodiktischen Geboten aufweisen20. Wie weit man freilich solche Befunde verallgemeinem und den Profeten die offizielle Aufgabe zuschreiben darf, Wahrer des Gottesrechtes zu sein, bedarf noch weitergehender Untersuchung. Bei den Unheilsprofezeiungen an das Volk Jer. 28 läßt sich nur mit größter Mühe ein Bezug zu den kultischen Geboten postulieren, zumal nach V. 14 das Joch Nebukadnezars nicht nur über Israel, sondern über alle Völker kommt. (Es müßte ein Vergehen aller Völker gegen das israelitische Gottesrecht angenommen werden.) Aber auch der Unheilsspruch an Hananja mit dem Vorwurf, daß er Lüge geredet und das Volk verführt habe, ist nicht durch solche Erklärung begreiflich zu machen. Denn Hananja hat mit bestem Gewissen gehandelt, sein Vergehen- er hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt- ist in einer Weise "objektiver" Art, daß es nicht einfach von einem Gebot abgeleitet werden kann. So bleibt auch hier noch vieles offen. (Am ehesten ließe sich die Beziehung zwischen Profezeiung und altem Gottesrecht dadurch klären, daß man die Sätze mit verneintem Imperfekt in der Weissagung näher untersucht und mit den alten Geboten vergleicht.) Der öffentliche Vortrag ist aber schon der zweite Sitz im Leben. Dort wird ja die Profezeiung nicht erst geboren. Vielmehr zeigen 2. Kö. 1 wie Jer. 28 mit hinreichender Deutlichkeit, daß dem öffentlichen Orakel das private 0 r a k e 1 vorausgeht. Dies empfängt der Profet dort, wo er mit seinem Gott allein ist. Genau genommen, schließt das private Orakel schon das öffentliche - wenigstens in den Grundzügen - in sich. Aber um einer klaren Unterscheidung willen empfiehlt es sich, nur jene Worte privates Orakel zu nennen, die an den Profeten persönlich gerichtet sind; das ist in der Regel die Beauftragung. Hat er die Beauftragung vernommen, geht er davon zu Zielort und Zielperson. Deshalb steht in Jer. 28 ein Mann wie Jeremia völlig hilflos und "wortlos" da zu einer Stunde, wo am öffent20
E. WüRTHWEIN: Amos-Studien, ZAW 60, 1950, S. 40-52; R. BAcH: Gottes· recht und weltliches Recht in der Verkündigung des Propheten Amos, DehnFestschrift 1957, 23-34. - Vgl. zu Hesekiel H. GRAF REvENTLOW: Wächter über Israel, BZAW 82, 1962.
Sitz im Leben
269
liehen Ort ein Wortempfang dringend erforderlich wäre; aber dergleichen läßt sich nicht "machen". So bleibt ihm nichts übrig, als die Profezeiung seines Gegners zunächst positiv aufzunehmen. - Die Erscheinung des profetischen Wortempfangs, der Eingebung von Profezeiung haben GUNKEL und andere nach ihm aufzuklären versucht21. Der gegebene Ausgangspunkt ist dafür nicht die Gattung der Profezeiung, sondern die des Visionsberichts, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Nur so viel sei gesagt, daß eine endgültige Klärung jenes Phänomens noch nicht gelungen ist. Für unseren Zusammenhang bleibt z. B. unklar, ob der Profet tatsächlich die Profezeiungen als artikulierte Worte vernommen hat oder ob er unartikulierte Stimmen gehört und sie erst selbst in feste Form umgegossen hat. Nur so viel läßt sich mit Wahrscheinlichkeit sagen, daß der Wortempfang nicht in der Stille einer mystischen Versenkung vonstatten ging, sondern mit Verzückungen verbunden war, die den Profeten bis ins Leibliche hinein erschütterten. Solche Ekstasen werden auf den "Geistbraus" ( 1)~'"1 ) zurückgeführt. (So bei Elia und dann wieder bei Hesekiel.) Die Sprüche der Profeten sind freilich nicht auf die Dauer auf mündlichen Vortrag beschränkt geblieben. Sie wurden - mit oder ohne begleitende Erzählung - zuerst von ihren Anhängern mündlich zu Spruchketten zusammengestellt und bald darauf auch niedergeschrieben. Uin Jesaja- und vielleicht ebenso um andere Profetenbildete sich anscheinend eine ganze Schule, die die zuverlässige Oberlieferung der Worte des Meisters sich zur Aufgabe machte. Ebenso war es schon bei Elisa, in dessen Kreis werden auch die EliaOberlieferungen ihren Sitz gehabt haben22 • (Bei Jeremia allerdings hören wir von einer solchen Schule nicht, um ihn ist nur Baruch; deshalb wird man bei der Hauptmasse der Jeremiasprüche von einer längeren Periode mündlicher Oberlieferung absehen müssen.) Mit der Niederschrift wechseln die alten Einheiten nicht nur von der Gattung der Profezeiung zur Gattung des Profetenbuches über, sondern es ändert sich auch der Sitz im Leben. Vorgelesen werden nun die profetischen Reden in Kreisen, die dem Wort des Profeten gläubig anhangen, nicht mehr vor einer unvorbereiteten Volksmenge. So kommt es zu einem dritten Sitz im Leben. Vor allem nach der Zerstörung Jerusalems scheinen in Palästina wie im babylonischen Exil solche Gruppen sich zusammengefunden zu haben; aber darüber wissen wir kaum etwas. Die Beispiele aus dem profetischen Schrifttum führten auf mehrere eigenständige profetische Gattungen: Profetenlegende, Unheils- und 21 22
Die geheimen Erfahrungen der Propheten, GrPro XVII-XXXIV. Uberblic:k über die seitherige Literatur v. RAD: Theologie II 1 S. 65-8 = 4 5. 61-78. Zu den Schulbildungen: MowiNCKEL: Prophecy.
270
§ 18 Gattungsgeschichte der Profezeiung
Heilsprofezeiung, Deutung symbolischer Handlung. Es wurde versucht, die Formmerkmale so deutlich herauszuarbeiten, daß von da aus eine Bestimmung dieser Gattungen auch an anderer Stelle dem Leser möglich wird. Freilich bedeutet das nicht, daß damit alle profetischen Gattungen behandelt wären, so wichtige Muster, wie das der Gerichtsrede23 und des von WESTERMANN24 entdeckten Weheliedes (das keineswegs mit einer Scheltrede verwechselt werden darf) oder des Visionsberichts blieben aus Raumgründen außer Betracht. Der Leser hüte sich vor der Meinung, daß es nur eine einzige echte profetische Gattung gäbe! Die Beschäftigung mit den profetischen Gattungen ist mühsam, weil sie weithin "verschrieben" vor uns liegen. Dennoch liegt hier der Schlüssel zur profetischen Sprache und zu dem theologisch ebenso schwierigen wie wichtigen Geheimnis der Profetie. Ohne formgeschichtliche Basis verliert sich Profetenexegese zwangsläufig ins Gebiet der reinen Spekulation.
Die wenigen erhaltenen profetischen Gerichtsreden sind von den Redaktoren mit Vorliebe an den Anfang der Profetenbüdter gestellt worden Jes. 1, 2 f; Jer. 2, 4-12; Hos. 2, 4-15; 4, 1-10 usw. Sie spielen in der exegetisdten Discussion eine große Rolle, seit H. B. HuFFMON: The Convenant Lawsuit in the Prophets, JBL 78, 1959, einen Teil von ihnen aus einem Verfahren wegen Verstoß gegen das Bundesformular (s. o. f 2 C) abgeleitet hat. Vgl. J. HARVEY, B 43, 1962, 172-196 und E. v. WALDOW: Der traditionsgesdtidttlidte Hintergrund der prophetisdten Geridttsrede, BZAW 85, 1963 sowie D. R. HrLLERS: Treaty Curses and the 0. T. Prophets, Bibi. et Orient 16, 1964. Doch ist zu betonen, daß die seltene Gattung der profetisdten Gerichtsrede keineswegs dazu berechtigt, die geläufige Gattung der Profezeiung als richterlidtes Wort Jahwäs zu interpretieren. u s. 136-140. 23
LINGUISTIK UND FORMGESCHICHTE Ein Nachwort
Als vor nicht ganz einem Jahrzehnt mein Buch "Was ist Formgeschichte?" zum ersten Mal hinausging, faßte es kritisch zusammen, was innerhalb der exegetischen Wissenschaften an Methodenüberlegungen (oberhalb der Ebene der Textkritik) erarbeitet worden ist und was in der Formgeschichte mit Gattungsforschung, Sitz im Leben, Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte eine besonders stimulierende Zuspitzung gefunden hat. Eine Neubearbeitung eines solchen Buches in den Siebzigerjahren unseres Jahrhunderts kann sich nicht mehr auf den exegetischen Binnenaspekt beschränken, sondern muß auf Fragestellungen und Theorien der inzwischen aufgekommenen strukturalen Sprachwissenschaft verweisen, weil diese für fast alle Paragrafen des Buches von Belang sind. Die neue Richtung der Sprachwissenschaft, von französischsprachigen Wissenschaftlern vor Jahrzehnten entworfen, hat sich nach dem Krieg in den angelsächsischen Ländern verbreitet und dringt nunmehr mit erheblicher Verzögerung in den deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb ein, wo sich in Ostberlin bald ein eigener Schwerpunkt gebildet hat. Linguistische Aufstellungen bestätigen formgeschichtliche Erkenntnisse und führen sie weiter, wie ich unten aufzeigen werde; stellen sie andererseits aber auch nicht unerheblich in Frage. Umgekehrt zeigt sich bei der Behandlung eines sprachwissenschaftlichen Zweiges, der Textlinguistik, daß die formgeschichtliche Exegese wahrscheinlich auf ihrem Gebiet schon ein gutes Stück weitergediehen ist als die Sprachwissenschaft auf dem ihren. Doch sei schon eingangs darauf aufmerksam gemacht, daß durch das Zu- und Gegeneinander von Linguistik und Formgeschichte weiterreichende historische und andere anthropologische Fragestellungen auftauchen, die sich wohl nur durch eine theologische Theorie der Sprache erfassen lassen (die es noch nicht gibt). Ein erschöpfender überblick über linguistische Leitideen und Leitkategorien wäre in einem Nachwort zur Formgeschichte ein unmögliches Unterfangen. Was geboten wird und geboten werden kann, ist einzig ein Abriß derjenigen Theorien, die für biblische Exegese von Belang sind, insbesondere für die formgeschichtlichen Interpretationsmethoden. Der Versuch, die Grundlagen einer Nachbardisziplin wie der Sprachwissenschaft als Laie für Laien (in diesem Fall Theologen) darzustellen, nötigt naturgemäß zu Vergröberungen, die aber, so hoffe ich, den Kern der Sache nicht verdecken. Um den theologischen Lesern den Einstieg zu erleichtern, stelle ich einen forschungsgeschichtlichen Abriß voran (A). Danach folgt die für die sprachwissenschaftliche Forschung grundlegende Unterscheidung
272
Linguistik und Formgeschichte
von Sprache als virtuellem Vermögen einer Sprachgemeinschaft (Iangue) und "Spreche" als faktischer Sprachverwendung (parole) (B). Ebenso wichtig erscheint die Bestimmung des doppelten Aspekts von Ausdruck und Vorstellung bei allen sprachlichen Zeichen (C). Nach diesen als Prolegomena gedachten Abschnitten wird die Theorie von den verschiedenen sprachlichen Ebenen verfolgt (D) über die Wort- (E) und Satz- (F) bis hin zur Text- oder Gattungsebene (G), die für die Formgeschichte von ausschlaggebender Bedeutung ist und bei der ich deshalb länger verweile. Damit ist m. E. Sprachsoziologie (H) eng verknüpft. Die Schlußabschnitte beschäftigen sich mit angrenzenden Gebieten wie der Semantik (I) und bisherigen Versuch der Übertragung linguistischer Gesichtspunkte in die alt- oder neutestamentliche Exegese (]). Schließlich werden zwei Abschnitte angefügt, die in der Linguistik, soweit ich sehe, ebensowenig Beachtung finden wie in der Exegese, nämlich die Frage nach einer in der Struktur der Einzelsprache zutage tretenden besonderen Weltansicht, dargestellt an der Diskussion um ein hebräisches Denken (K). Schließlich gebe ich einen Ausblick auf das Programm einer Sprachgeschichte (L) in Anknüpfung an die in meinem Buch (oben § 9) gemachten Ausführungen über biblische Literatur- und Sprachgeschichte. Als Literatur zur Einführung sei genannt: F. de SAUSSURE: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, dt. 1931 2 1967 - L. HJELMSLEV: Die Sprache, dt. 1968 - A. MARTINET: Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, dt. 1963 = 5 1971 G. C. LEPSCHY: Die strukturale Sprachwissenschaft, dt. 2 1969 - ]. LYONS: Einführung in die moderne Linguistik, dt. 1971 - K. D. BüNTING: Einführung in die Linguistik 2 1971.
A. Das Ungenügen der klassischen Grammatik und Lexikografie und die Oberwindung durch Formgeschichte und Linguistik
Obwohl christliche und jüdische Exegeten sich seit zwei Jahrtausenden mit der Interpretation biblischer Texte abgeben, ist die Aufgabe der Exegese bis heute nicht zu Ende, weil biblische Texte für jede Gegenwart neu übersetzt und verstanden werden wollen. Was sind die Voraussetzungen, daß Exegese richtig und relevant betrieben wird? Wo die Auslegung auf ihre Methoden reflektiert hat, haben Exegeten sich stets mit der zeitgenössischen nichttheologischen Sprachtheorie auseinandergesetzt, so die Rabbinen, die uns das Grundgerüst der arabischen Grammatik für die Erfassung der Formenlehre des Hebräischen beschert haben (Qal, Pi'el, Hifil, usw.), aber auch die griechischen und lateinischen Kirchenväter, welche die Grundbegriffe griechischer Grammatik und Rhetorik übernommen haben. Da der Bibelwissenschaftler sich mit Texten zu befassen hat, die nicht auf den ersten Blick durchsichtig sind und die zudem in einer ihm fremden Sprache des Alter-
Das Ungenügen der klassischen Grammatik und Lexikografie
273
tums geschrieben sind, wäre er töricht, wenn er nicht auch gegenwärtig heranzöge, was die allgemeine Sprachwissenschaft zur Klärung dessen, was Sprache, Text und Wort heißt, darbietet. Die meisten Exegeten sind jedoch so töricht. Das hängt damit zusammen, daß die sprachliche Ausbildung der Theologen im Hebräischen und Griechischen nicht in die Bibelwissenschaften integriert ist, sondern als semitistischer oder altphilologischer Fremdkörper neben den alt- und neutestamentlichen Studien unverbunden einherläuft, oft von Lektoren erteilt wird, die den Unterricht als Durchgangsstufe für eine spätere "eigentlich exegetische" Beschäftigung betrachten und deshalb nicht Hebraistik oder Koinegraezistik zum Gegenstand der Forschung machen. So sind die Brücken zwischen Bibelwissenschaft und Sprachwissenschaft, die vor hundert Jahren noch selbstverständlich waren, weitgehend zusammengebrochen. über Nützlichkeitserwägungen hinaus gibt es spezifisch theologische Gründe, wissenschaftliche Theorien über die Sprache sorgfältig zu beachten. Denn von Religionen wie der jüdischen oder christlichen, die die Gottesbeziehung primär auf sprachliche Mitteilung gründen, wie es im Alten Testament seit dem Deuteronomium ("eine Gestalt konntet ihr nicht wahrnehmen, nur eine Stimme" 4, 12) und im Neuen Testament spätestensseit dem Johannesevangelium ("im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos 1, 1 f.") grundsätzlich formuliert worden ist, wäre zu erwarten, daß ihre geistigen Vertreter Überlegungen anstellen, was das eigentli·ch für ein Medium ist, die Sprache nämlich, in dem der Einzelne seines Gottes inne wird. Die Theologen gehen noch heute davon aus, daß in bewußten Textzusammenhängen Gott selbst zur Sprache kommt und die Wahrheit menschlichen Daseins aus der Abhängigkeit zu eben diesem Gott einsichtig wird, daß weiter durch die Verkündigung der Heiligen Schrift und bestimmter davon abhängiger Oberlieferungen die Wirklichkeit sowohl eines einzelnen menschlichen Lebens (durch die Entstehung von Glaube und Nächstenliebe) wie die Geschichte menschlicher Gemeinschaften (der Institution der Kirche z. B.) gestaltet und verändert wird. Sollte die Theologie es dann nicht als zentrale Aufgabe betrachten, das Verhältnis von Mensch, Geschichte, Sprache und Wirklichkeit zu klären? (Es ist kein Geheimnis, daß diese Aufgabe gegenwärtig nicht oder nur dilettantisch wahrgenommen wird und eine theologische Sprachtheorie als eigenständige Disziplin nicht vorhanden ist; den Gründen für diesen Mangel ist hier nicht nachzugehen.) Wie immer die Lage der allgemeinen Theologie zu beurteilen ist, der formgeschichtlich arbeitende Exeget kann, sofern er über seine Methoden nachdenkt, an sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Aufstellungen über Wesen und Struktur menschlicher Sprachlichkeit nicht vorbeisehen. Selbst wo er sich kritisch von solchen Aufstellungen distanziert, wird ihm die Fragestellung zumindest der Sprachwissen-
274
Linguistik und Formgeschichte
schafder hilfreich sein, bestimmte Problemkreise weiter zu bedenken und zu verfolgen. Als ein Beispiel sei die Zusammengehörigkeit einer sprachlichen Gattung und ihres Sitzes im Leben genannt (oben § 3). Nach den formgeschichtlichen Ergebnissen weisen die gesellschaftlichen Lebensbereiche und Institutionen den ihr zugehörigen Mitgliedern nicht nur eine bestimmte Rollenfunktion zu, sondern diktieren ihnen auch das dazugehörige Sprachmuster (die Gattung), so daß die Menschen vor allem des Altertums - aber nicht nur sie - im Grunde nie sprechen," wie ihnen der Schnabel gewachsen ist", sondern immer, wie es dem soziologischen Ort angemessen ist. Woher kommt das? Welche Bezüge bestehen zwischen einer historischen Einzelsprache in ihrer Ganzheit, der gesellschaftlichen Konstellation und einem tatsächlichem Sprechvorgang zwischen zwei oder mehr Gesprächspartnern in einer bestimmten Stunde? Hier führt die linguistische Unterscheidung zwischen virtueller Sprachkompetenz und aktualer Sprachverwendung (unten B) weiter. Oder ein einfacheres Problem für die Beziehung zur Sprachwissenschaft: die Erarbeitung des Textgefüges, die notwendig ist, ehe zur Bestimmung seiner Gattung übergegangen werden kann (§ lF). Welches sind die grundlegenden, welches sind die zufälligen, beiläufigen Konstituenten eines Textes? Hier können die Strukturtheorien moderner Sprachwissenschaft über Wort- und Satzbau belangreich werden, und das nicht bei einem beliebigen, sondern bei dem ersten grundlegenden und unerläßlichen Schritt aller formgeschichtlichen Forschung. Solche sprachwissenschaftlichen Hilfsmittel sind bisher noch kaum benutzt worden (zu einzelnen Versuchen s. u.). Wer die Notwendigkeit erkannt hat, die formgeschichtlichen Methoden zu vertiefen und verbessern, wird also gut daran tun, sich auf den Methodenstreit in der Sprachwissenschaft und schließlich auch der Literaturwissenschaft einzulassen. Dabei hat der Exeget der Beschränktheit seines Materials eingedenk zu bleiben, das ihm nur eine begrenzte Benutzung gegenwärtiger Sprachforschung und ihrer Ergebnisse ermöglicht. Die Stoffe und Ideen des Alten wie des Neuen Testamentes liegen als Schriftwerke vor uns, also nicht mehr in der mündlichen Art, wie sie zuerst entstanden sind, sondern als Sprache gleichsam in gefrorenem Zustand, nach bestimmten grammatischen und orthografischen Regeln standardisiert (und seien es die Regeln einer "bibelgriechischen" Sakralsprache in vielen Partien des Neuen Testaments). Sprachwissenschaftliche Entwürfe, die betont von der Umgangssprache ausgehen, sind also für den Exegeten nur bedingt brauchbar, nur dort nämlich, wo im Rückschlußverfahren der Überlieferungsgeschichte auf mündliche Vorstufen geschlossen wird (oben§§ 4. 7). Wo die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion einer mündlichen Stufe möglich ist, ist sie dennoch selten so durchführbar, daß die Situation von Sprecher und Hörer sich exakt erheben lassen, was ein erhebliches Hindernis für die Beiziehung von Kommunikationstheorien darstellt
Das Ungenügen der klassischen Grammatik und Lexikografie
275
oder von sprachwissenschaftlichen Entwürfen, die auf der Analyse des Sprechakts beruhen. - Was schließlich die Heranziehung literaturwissenschaftlicher Theorien betrifft, bleibt zu bedenken, daß Literaturwissenschaft, mindestens im deutschsprachigen Bereich, sich auf die Untersuchung von schöngeistiger Literatur beschränkt, von Werken, denen das Prädikat des Sprachkunstwerkes zukommt. (Da es manche Theologen nicht wissen: Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft sind zwei verschiedene Disziplinen.) Es liegt auf der Hand, daß deshalb nur ein geringer Ausschnitt der alttestamentlichen und ein noch geringerer der neutestamentlichen Literatur zum Vergleich in Frage kommt, nämlich nur diejenigen Bücher, die bewußt als Dichtung gestaltet sind. Obwohl in den letzten 50 Jahren die Exegeten- von einigen rühmlichen Ausnahmen unter den Alttestamentlern abgesehen - sich wenig um die Sprachwissenschaft und die Sprachwissenschaftler sich kaum um die Exegese gekümmert haben, haben beide Wissenschaften eine auffallend ähnliche Entwicklung genommen. Beide haben sich nämlich von der noch für das 19. Jahrhundert selbstverständlichen Ansicht gelöst, daß eine Sprache sich aus Wortformen und Syntax sowie einem Wortschatz so zusammensetzt, daß derjenige die Sprache beherrscht, der sich ihre Grammatik und ihr Lexikon zu eigen gemacht hat. Die Bibelexegese hat die formgeschichtliche Methode entwickelt auf Grund der Einsicht, daß die bibelhebräische und koinegriechische Sprache sich nicht in der Zusammenfügung einzelner Wörter zu grammatisch korrekten Sätzen erschöpft, sondern sich in Gattungen ausprägt, die Träger bestimmter Überlieferungen sind und die eine feste Rollenfunktion (in ihrem Sitz im Leben) einnehmen. Für einen alttestamentlichen Exegeten wird eine zureichende Kenntnis des Hebräischen nicht mehr allein durch den Umgang mit der HoLLENBERG'schen Grammatik und im Lexikon von GESENIUS gewonnen, sondern darüber hinaus durch Beschäftigung mit den gebräuchlichsten Gattungen des israelitischen Alltags und Festtags. Für die Exegese des Neuen Testamentes ist es nicht mehr mit der Beherrschung der KAEGI'schen Grammatik und der Benutzung des BAUER'schen Wörterbuchs getan, es bedarf einer Bekanntschaft mit den Formenregeln von Sprüchen und erbaulichem Erzählungsgut im spätisraelitisch-urchristlichen Raum, um die Evangelien sachgemäß zu interpretieren. Bemerkenswert ist, daß die Überwindung der beschränkten Auffassung, daß Sprache aus Grammatik und Lexikon sich zusammensetze, bei den Formgeschiehtlern aus historischen Einsichten erwuchs; das Element"-geschichte" im Begriff Formgeschichte markiert das erkennbar genug. Die allgemeine Sprachwissenschaft hat sich ebenfalls von der bloß grammatisch-lexikografischen Sichtweise gelöst. Dabei war im vergangeneu Jahrhundert an beide Größen die historische Elle angelegt worden, und zwar so, daß der Wandel von isolierten Einzelerschei-
276
Linguistik und Formgeschichte
nungen durch Vergleich der verschiedenen Sprachen und durch Konstruktionen von Sprachfamilien verfolgt wurde. Die Lautverschiebung bei Substantiv oder Verb z. B. in der grammatischen Formenlehre, die Etymologie bei lexikalen Stichwörtern. Die moderne s t r u k tur a I e Sprachwissenschaft, die im deutschsprachigen Raum Linguistik genannt wird, strebt über die isolierende Ableitung und Klassifizierung von Einzelphänomenen hinaus. Sie versucht den Zusammenhang der für die traditionelle Sicht völlig auseinanderklaffenden Bereiche von Grammatik und Lexikon dadurch herzustellen, daß sie jede Einzelsprache als einen vieldimensionalen Strukturzusammenhang ansieht, als ein riesiges System von Bezeichnungen und Bedeutungen, mittels dessen die Glieder einer Sprachgemeinschaft Informationen austauschen und sich verständigen. Die Beziehung zwischen den Begriffen wird für den Sprachwissenschaftler wichtiger als der einzelne Begriff selbst. Im Unterschied zur Entwicklung der Formgeschichte erfolgt in der Sprachwissenschaft aber die Abkehr von der Sicht des 19. Jahrhunderts mit ihrer bloßen Summierung von Grammatik und Lexikon nicht aus vertiefter historischer Einsicht, sondern durch die Abkehr von rein historischer Betrachtungsweise. Die Forderung hat sich durchgesetzt, eine Sprache zuerst in ihrer Gesamtheit im Querschnitt ihrer zeitgenössischen Strukturen zu untersuchen, synchronisch, wie der Begriff für diese Forschungsart heißt, deren Aufkommen mit dem der phänomenologischen Betrachtungsweise in anderen Wissenschaftszweigen parallel läuft. Eine historische Betrachtung der Sprache wird zwar nicht für völlig überflüssig erachtet, aber sie folgt als d i a c h r on i s c h e Untersuchung erst nach der synchronischen und betrachtet nicht isolierte Einzelgrößen (grammatische Formen, lexikalische Wörter je für sich), sondern diese im Zusammenhang des sich historisch wandelnden Sprachsystems. Das Gewicht des Historischen wird also von Linguistik und Formgeschichte verschieden bemessen. Gemeinsam aber ist beiden Forschungsrichtungen die Betonung der formalen Seite von Texten gegenüber einer nur an (angeblichen) Inhalten interessierten Interpretationsweise, wie sie von Theologen häufig geübt wird.
B. Sprachverwendung (parole) und Einzelsprache als Sprachkompetenz (Iangue)
Grundlegend für die Neuorientierung der Sprachwissenschaft war der vor dem ersten Weltkrieg in Genf lehrende Sprachwissenschaftler Ferdinand de SAussuRE. Um sprachlichen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, unterscheidet er die konkrete Benutzung der Sprache in einer Rede oder in einem Text als Sprachverwendung (parole), deutsch ließe sich dafür "die Spreche" sagen, von dem Hintergrund des gesamtsprachlichen Inventars einer Einzelsprache, der Iangue, wie es
Sprachverwendung und Einzelsprache als Sprachkompetenz
277
französisch heißt und gegenwärtig oft mit Sprachkompetenz übersetzt wird. Der deutsche Begriff "die Sprache" meint das zweite. (Der Begriffswirrwarr in der Linguistik ist so groß, insbesondere bei den deutschen Übersetzungen französischer oder englischer Fachtermini, daß ich hier nur eine subjektive Auswahl treffen kann. über andere Benennungen unterrichten die Handbücher.) Die Sprachverwendung ist als "Spreche" stets eine zeitlich verlaufende Vergegenwärtigung und ein sehr begrenzter Ausschnitt aus den unübersehbaren Möglichkeiten der Sprache überhaupt, der Sprachkompetenz, die in gewisser Weise zeitunabhängig ist. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen setzen naturgemäß bei der Sprachverwendung ein; denn die Kompetenz und also die Gesamtstrukturierung einer Einzelsprache entzieht sich direktem Zugriff. Vorliegende Kußerungen als Rede oder Text lassen sich in zweierlei Weise untersuchen. Einmal als zeitlich verlaufende lineare Ketten, wobei Sinn und Funktion der einzelnen Bestandteile der Sprache sich aus der Betrachtung der vorhergehenden und nachfolgenden ergeben. Dies ist die s y n t a g m a t i s c h e Untersuchung, sie bleibt bei der Beobachtung der Sprachverwendung stehen. Doch läßt sich jeder Bestandteil einer sprachlichen Einheit auch auf die nicht ausdrücklich werdenden, aber für das Sprachgefühl vom Sprecher (Schreiber) und Hörer (Leser) naheliegenden Bezüge und Assoziationen hin befragen. Damit wird von der Sprachverwendung auf die zugrunde liegende Sprachkompetenz geschlossen in einer Untersuchungsart, die p a r a d i g m a t i s c h heißt. Das geschieht, indem z. B. ein Wort mit Wörtern derselben Wortart und verwandter oder entgegengesetzter Bedeutung zusammengeordnet wird. Dann ergibt sich keine sprachliche Kette, sondern ein assoziatives Feld. Greifen wir als semantisches Beispiel den alttestamentlichen Gottesnamen "Jahwä" heraus, so liegt auf der Hand, daß er durchweg im Alten Testament und also für alle Glieder der hebräischen Sprachgemeinschaft in engster Beziehung zu dem Ausdruck 'ä[ohim "Gott" und ebenso zum Substantiv 'adonaj "Allherr" steht. Ahnliebes findet sich bei allen anderen hebräischen Substantiven, aber auch bei der Wortart des Verbums. Betrachten wir als Beispiel den für die Profetie wichtigen Satz (oben § 15D) "So hat Jahwä gesprochen", so bietet sich folgendes Schema an für die Ebene der Einzelwörter (unter jedem Wort werden sinnähnliche Ausdrücke vermerkt, um den jeweiligen Paradigma-Zusammenhang anzudeuten):
ko' (so) _ _ _ _ _:.amar (sprechen)_jahwä Syntagma
zot (dies)
dibbär (reden)
'ä[ohim
qara' (rufen)
'adonaj
lf
278
Linguistik und Formgeschichte
Die Wendung läßt sich syntagmatisch untersuchen nach Subjekt und Prädikat, aber auch über die Wendung hinausgreifend im Verhältnis zu einem vorhergehenden Lagehinweis und einer nachfolgenden Weissagung (oben § 18) im Bereich eines biblischen Textes und also der Sprachverwendung. Auch die paradigmatische Betrachtung läßt sich ausdehnen von dem Vergleich der Einzelwörter auf paradigmatische Bezüge zum ganzen Satz, wie sie z. B. durch die gleichsinnige Wendung "Raunung Jahwäs" (M1n~ O~.f oben§ 18B) angedeutet sind. Die Linguistik beschäftigt sich gegenwärtig mehr mit paradigmatischen als mit syntagmatischen Verbindungen. Vom Studium der bewußten Spracherscheinungen sucht sie zu den mehr oder minder unterbewußten Infrastrukturen durchzustoßen, die bei jedem Sprecher und Hörer einer Sprachgemeinschaft vorhanden sind und bei jedem Sprachvorgang eine Fülle von Assoziationen mitschwingen lassen. Viele Linguisten versuchen, zu sprachlichen Universalien zu gelangen, d. h. zu Sprachebenen, Kategorien und Koordinationen, die für menschliche Sprachlichkeit (Iangage) überhaupt und nicht nur für Einzelsprachen (Iangue) gültig sind.
C. Doppelaspekt des sprachlichen Zeichens: Ausdruck und Vorstellung. Die theologische Antithese von Form und Inhalt Wo Sprache benutzt wird, ruht die "Spreche" nicht in sich selbst, sondern dient einer Absicht, die i. d. R. auf außersprachliche Ziele gerichtet ist. Jeder Sprech- oder Schreibakt informiert über etwas, sei es über Personen, sei es über Vorgänge oder Dinge. Schon die griechische Philosophie hat deshalb sprachliche Größen als Zeichen (semeion) für psychische oder physische Realitäten aufgefaßt. De Saussure bringt in den alten Begriff eine wichtige Unterscheidung ein. Die Eigenart eines sprachlichen Zeichens ist es im Unterschied zu anderen Zeichen, daß es doppelseitig ist. Die deutsche Lautfolge h-a-u-m z. B. ist nicht unmittelbar mit irgendeinem Ding unserer Umgebung verknüpft, wohl aber mit unserer Vorstellung eines solchen Dinges. Die Verbindung ist für deutsche Hörer und Sprecher zwingend. Wer die Lautfolge, also den Ausdruck "Baum" hört, bei dem stellt sich unwillkürlich die Vors t e 11 u n g (u. U. auch die Anschauung) eines aufragenden lebendigen Holzgegenstandes ein, und umgekehrt: Wer seine Gedanken über einen solchen Holzgegenstand mitteilen will, benutzt instinktiv den Ausdruck "Baum". (Für den letzten Fall gibt es innerhalb des deutschen Sprachschatzes gewisse Variationsmöglichkeiten, die sich vermutlich mit Wahrscheinlichkeitskoeffizienten erfassen lassen, aber das wird bei der groben übersieht vernachlässigt.) Wie ratsam es ist, bei sprachlichen Größen Ausdruck und Vorstellung trotz ihrer unwillkürlichen Verbindung im Sprachgebrauch auseinanderzuhalten, zeigt der Ver-
Ausdruck und Vorstellung
279
gleich verschiedener Sprachen. Was deutsch "Baum" heißt, wird hebräisch mit 'er; ausgedrückt (wobei kleine Bedeutungsverschiebungen eintreten, die unberücksichtigt bleiben). Sprachwissenschaftlich werden solche Beobachtungen auf den Begriff gebracht, daß ein Laut- oder Schriftgebilde (zusammengefaßt ein Sprachkörper) "bedeutend" ist (signifiant), der Inhalt dagegen, der implizit mitgesetzt wird bei den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft, also die Vorstellung, "bedeutet" wird (signifie). Beide, Ausdruck und Vorstellung zusammen, haben gewöhnlich eine Beziehung auf die Umwelt von Sprecher und Hörer, verweisen auf Vorgänge oder Gegenstände im außersprachlichen (oder genauer: außersprechlichen, wenn parole mit "Spreche" übersetzt wird) Bereich, geben eine Meinung wieder über einen Sachverhalt (linguistisch Referenz oder Korrelat genannt). So ergibt sich ein Bedeutungsdreieck.
Vorstellung/ Bedeutetes/Signifie (Gedanke eines aufragenden~ lebendigen Holzgegenstandes)
''
''
'' '' '.
' B-a-u-m) Laut- _ - _ - _______ --- --- _-(außersprach-e-~ ) Kombination liche Sache) Ausdruck/Bedeutendes/ signi fiant Referenz/Gemeintes Von der Erkenntnis der zwei Aspekte jedes sprachlichen Zeichens aus untersucht die moderne Sprachwissenschaft Ausdrucks- und Vorstellungsseite weithin je für sich. Das hat die herkömmliche Schulgrammatik nicht getan, die als "inhaltsbezogene" Grammatik gearbeitet hat, während gegenwärtig das Programm einer formalen Grammatik entsteht, die möglichst nur von Ausdrucksstrukturen ausgeht. Ihr steht dann als eigene sprachwissenschaftliche Disziplin die Semantik gegenüber, welche die Strukturen des Vorstellungsaspekts untersucht. Für den Theologen ist das Bedeutungsdreieck wichtig u. a. wegen des leidigen Begriffspaars Form - In h a 1t, das bei vielen Theologen eine große Rolle spielt und im Blick auf sprachliche Überlieferungen gern theologisch als absolut gegeben angesehen wird. Das führt immer wieder zum Mißverständnis der Formgeschichte als eines rein äußerlichen Verfahrens, das für die wahren theologischen Inhalte unerheblich sei. Die Sprachwissenschaft nötigt dazu, das Begriffspaar Form - Inhalt als ein relatives zu begreifen, das nur im Blick auf bestimmte Bezugssysteme sinnvoll angewandt werden kann. So läßt sich ebenso gut sagen, daß jeder Ausdruck als "Form" einer Vorstellung als innersprachlicher "Inhalt" entspricht, wie ich auch andererseits Ausdruck
280
Linguistik und Formgeschichte
und Vorstellung zusammen als sprachliches Zeichen fassen kann, das wiederum "Form" darstellt für einen gemeinten außersprachlichen Inhalt, den Sachverhalt, über den informiert werden soll. (Überdies braucht dem Begriff Form keineswegs ein Begriff Inhalt zu korrespondieren; von Haus aus ist Form ein ästhetischer Begriff, kennzeichnet z. B. bei einer Statue den Eindruck des Zusammenspiels der Proportionen; dabei von "Inhalt" zu reden, wäre sinnlos. Zu den verschiedenartigen Verwendungen des Begriffs in der Linguistik s. LYONS 138-140). Die Verkoppelung eines Zeichens, also eines Ausdruck-VorstellungsZusammenhangs, mit einem Gegenstand oder Vorgang im außersprachlichen Bereich, also mit einer gemeinten Sache (Referenz), stellt ein erkenntnistheoretisch-ontologisches Problem dar, dem nachzugehen ist, das aber nicht mehr auf sprachwissenschaftliche Weise zu lösen ist. Die Linguistik kann kaum entscheiden, wo es um Wahrheit und wo es bei sprachlichen .Außerungen um Trug und Schein geht. Erst recht nicht, ob und wieweit eine sprachliche Bedeutungseinheit durch die Bedeutsamkeit einer sich aufdrängenden außersprachlichen Sache hervorgerufen ist. Der Theologe wird sich deshalb mit den linguisti- · sehen Lösungen nicht letztlich zufrieden geben können. Das schließt jedoch nicht aus, daß die linguistischen Theorien durchlaufen sein müssen,· ehe es zu spezifisch theologischen Folgerungen über die Sprache ·kommen kann. Anmerkungsweise sei auf die Mißverständlichkeit der Terminologie verwiesen. Die Theorie vom sprachlichen Zeichen war auf Französisch entworfen worden. Sie hatte es vielleicht deshalb schwer, sich in anderssprachigen Ländern durchzusetzen, weil ihre Grundbegriffe nicht adäquat übersetzbar sind. Das französische signe läßt sich deutsch fast nur mit "Zeichen" wiedergeben, obwohl das deutsche Wort die Konnotation (mitschwingende Nebenbedeutung) des willkürlich eingesetzten Ersatzgegenstandes für eine andere Größe mit sich führt, während signe wohl auch den Sinn von "Mal, Merkmal, Kennzeichen" hat, also von dem, was sich an einer Sache "zeigt" und nicht bloß als Etikett ihr aufgedrückt wird. Nach de SAussuRE kann zwar jedes sprachliche Zeichen durch ein anderes ausgetauscht werden, aber nur durch ein sprachliches Zeichen. Der worthafte Charakter ist nicht ersetzbar. Will ich mich anderen Menschen verständlich machen, bedarf es immer eines solchen notwendigen Bandes zwischen Ausdruck und Vorstellung. Noch stärker ist die sprachliche Differenz bei den von signe abgeleiteten Begriffen signifiant und signifie! übersetzt man mit "Bezeichnendes" und "Bezeichnetes", wie es oft geschieht, wird für den deutschen Hörer die Koppelung von Ausdruck und Vorstellung auseinandergerissen; "bezeichnet" wird durch ein Wort nach deutschem Sprachgefühl ein außersprachlicher Gegenstand, nicht aber eine Vorstellung. Also bleibt die Wiedergabe mit einer Ableitung vom Verb "bedeuten".
Laut, Wort, Satz. Ebenen der Sprache
281
Dann benutzt man "Bedeutendes" für signifiant, "Bedeutetes" für signifie. Dabei ist die Schwierigkeit in Kauf zu nehmen, daß man sich vom Sinn der deutschen Umgangssprache entfernt. Dort hat nämlich das Partizip "bedeuten" sich verselbständigt und wird meist gleichsinnig mit "wichtig" gebraucht ("eine bedeutende Persönlichkeit"), was für den sprachwissenschaftlichen Begriff auszuschließen ist. Von einigen Linguisten wird im Deutschen statt "Zeichen" für den Ausdruck-Vorstellungs-Zusammenhang der Terminus "die Bedeutung" benutzt, ein mißverständliches Vorgehen, da Bedeutung im Deutschen abstrakt gemeint ist (besser wäre "der Bedeut" in Analogie zu dem Deut, den jemand von sich gibt). D. Laut, Wort, Satz. Ebenen der Sprache
Daß zu einer Sprache Laute, Wörter, Sätze gehören, weiß jeder. Sucht der Sprachwissenschaftler nach Strukturen, so erweisen sich diese drei Größen bei allen menschlichen Sprachen als verschiedene Ebenen (oder "Stufen'''), für die jeweils eigene Elemente konstitutiv sind und eigene Zuordnungsregeln gelten. Die Linguistik unterscheidet deshalb in der Regel drei Ebenen, für die sie jeweils Regeln formuliert. Die erste Ebene ist diejenige der Laute, die Phonem-Ebene. Die Phonologie untersucht die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Vokale und Konsonanten zu Silben zusammengefügt werden. Es gibt viele Sprachwissenschaftler, die sich hauptsächlich mit diesen Grundelementen der Sprache befassen. (Der Unterschied zwischen Laut und Phonem läßt sich hier übergehen.) Zweifellos sind die Ergebnisse der Sprachwissenschaft auf dieser Ebene am schlüssigsten, doch die Übertragung der Phonemforschung auf die biblischen Sprachen und damit die exegetische Verwendung dieses Forschungszweiges ist mit besonderen Schwierigkeiten belastet, weil es sich um tote Sprachen handelt, die in einer standardisierten Schreibfassung vorliegen und bei denen die genaue Aussprache weithin im dunkeln bleiben wird. Es genügt nur, an die vielen ungeklärten Fragen zu erinnern, die mit der Vokalisation des Hebräischen, mit der masoretischen Punktation der alttestamentlichen Texte in später nachchristlicher Zeit verbunden sind. Wie weit ist z. B. die Betonung auf dem Wortende (Ultima) und die damit gegebene Lautverschiebung unter Einfluß des Aramäischen sekundär von den Masoreten eingetragen und zumindest für die· vorchristliche Zeit mit einer Paenultimabetonung der Wörter und anderem Vokalbestand zu rechnen, ein Umstand, der für die Bestimmung der hebräischen Metrik von Gewicht ist (oben § SE)? Mit den Ausspracheproblemen des Koinegriechisch ist es nicht besser bestellt. Die linguistische Erforschung der biblischen Sprachen wird kaum von der Phonemebene als gesicherter Basis ihren Anfang nehmen können.
282
Linguistik und Formgeschichte
Auf der Phonemebene zeigt sich der Zeichencharakter der Sprache noch nicht. So unentbehrlich Laute für jede sprachliche Größe sind, sie sind noch nicht für sich genommen Sprache. In der Umgangssprache bedeuten z. B. ein g oder ein ä noch nichts, erst in der Koppelung gä ergibt sich u. U. ein Zeichen(~~~ "Tal" hehr., ylj "Erde" griech.). Damit aber befinden wir uns schon auf einer zweiten Ebene, der Wortebene. E. Wort- und Morphem-Ebene
Jedes Kind weiß: Eine Sprache besteht aus Wörtern. Wird davon geredet, daß die Sprache ein Zeichensystem darstellt, denkt der Hörer zunächst an Wörter, an spezielle Worte, vor allem die Substantive, die Gegenstände bedeuten. Doch er weiß aus dem Unterricht in der Elementarschule, daß es noch andere Wortarten gibt, wie Verb, Adjektiv, Adverb u. ä. Was ist eigentlich ein Wort? Wörter sind als kleine Segmente der Sprache zunächst eine Schreibgewohnheit. Es ist manches Mal unklar, wo das eine Wort anfängt und das andere aufhört (Wie oft fragt man sich im Deutschen: Soll man dieses oder jenes Wort zusammenschreiben oder nicht?). Wie unklar der Wortbegriff ist, zeigt sich beim Vergleich verschiedener Sprachen, etwa beim Artikel. Was im Hebräischen hä'"nijim (c~:~ll.iJ) heißt, also ein einziges Wort mit Präfix darstellt, lautet griechiscH o(nn.ox.ot, deutsch "die Armen" -um ein Wort aus den Seligpreisungen aufzugreifen (oben § 4E) - wird also mit zwei Wörtern in indogen,nanischen Sprachen ausgedrückt. Ähnliches zeigt sich bei den sogenannten Tempora und Genera des Verbs. "Sie werden getröstet werden" benötigt im Deutschen vier Wörter, was griechisch nur paraklethesontai heißt. Wo auf paradigmatischem Wege nach Strukturen des Sprachbaus gesucht wird, empfiehlt es sich deshalb, nicht von den Worten als vorgegebenen Größen auszugehen, sondern von ihren bedeutungstragenden Teilen, die Morpheme genannt werden. Ein Wort wie "unglaublich" (was im Hebräischen übrigens einen vollen Relativsatz benötigen würde) besteht aus drei Morphemen. Ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit, während ein Wort eine Morphemkette darstellt, die nicht umstellbar ist (lich-glaub-un wäre Unsinn). Freilich bestehen Wörter häufig aus einem einzigen Morphem. Wörter haben weitreichendere Funktion als Morpheme, können selbständig bedeuten, sind deshalb umstellbar (Unglaublich klingt es = es klingt unglaublich). Den einzelnen Arten von Morphemen kommt nicht gleiches Gewicht zu. Ein Wort besteht meist aus einem Wortstamm (glaub) und Affixen ("un" als Präfix, "lieh" als Suffix). Affixe sind deiktischer, hinweisender Art (der hebräische Artikel als Präfix z. B.) oder sie sind Flexionsmorpheme wie "thesontai" in :rtaQUXAfl{}ljaov-rm. Bei dieser Art von Morphemen läßt sich auf paradigmatischem
Wort- und Morphem-Ebene
283
Weg ohne Schwierigkeit eine Kategorie finden, der das Morphem mit anderen zusammen zugehört, die sich in Kategorientafeln darstellen lassen, z. B. Kasus-, Personen-, Numerus- und Geschlechtsdifferenzierungen, Tempora, Aktionsarten usw. Der für die Wortbildung ausschlaggebende Kern, also der Wortstamm, wird Lexem genannt, weil seine Erklärung im Rahmen eines Lexikons vorgenommen wird. Es liegt auf der Hand, daß die Unterscheidung von Lexem-Morphemen und von deiktischen oder Hexionierenden Morphemen für eine semitische Sprache wie das Hebräische noch leichter zu handhaben ist als für indogermanische (Griechisch, Deutsch), weil die Lexeme sich durch die dominierende Rolle der (fast) unveränderlichen Wortwurzel in allen abgeleiteten Wörtern (Derivaten) schnell erfassen lassen. Dem Lexem genauer nachzugehen, nach der Sinnseite hin, ist Aufgabe der Wortsemantik (s. u.). Während Phoneme nur Ausdruckselemente sind und als solche registriert werden, tritt bei der Morphem- und Wortbildung die Doppelseitigkeit von Ausdruck und Vorstellung, von Bedeutendem und Bedeutetem zutage. Insofern läßt sich bei Morphem und Wort von der Form nur mit Rücksicht auf den Inhalt sprechen und umgekehrt. Ein Wort wie das deutsche "er" besteht aus den Ausdruckselementen e und rund aus den Inhaltselementen 3. pers., sg., masc. (HJELMSLEV). Die Entdeckung der verschiedenen Arten von Morphemen (und Lexemen) und ihrer Rolle in der Sprachstruktur ist deshalb für die Exegese von Belang, weil sie verhilft, von der Einseitigkeit der Begriffsbetonung loszukommen, die die abendländische theologische Tradition uns nahe legt und die alle Sprachuntersuchung nur an Substantiven orientiert (vgl. den verbreiteten Aufriß alt- und neutestamentlicher Theologien nach dogmatischen Begriffen wie Gottes Gerechtigkeit, Sünde usw.). Im Hintergrund ist eine nichttheologische Theorie leitend, nach welcher die Sprache aus der Namengebung hervorgewachsen ist. Man denkt sich die Sache so, daß die Klügsten unter den ersten Menschen auf gewisse auffallende Dinge ihrer Umgebung mit einer Handbewegung hingewiesen und mit Lauten ein Etikett vorgeschlagen haben, was dann als Substantiv von den Hordenmitgliedern weiterbenutzt und zum Anfang der Sprache wurde. Unter dem Einfluß der griechischen Philosophie, welche die Welt statisch von Begriffen und Ideen her zu denken versuchte, wurde das Nomen (die Wortart Substantiv also durchgängig als "Name" begriffen) für die gesamte abendländische Bildung zur ausschlaggebenden Wortart. Die Wortbildung semitischer Sprachen zumindest entspricht dieser Auffassung nicht, weil die meisten W ortwurzeln, also die Lexeme, verbaler Art sind. Auch die berühmte Stelle aus dem jahwistischen Schöpfungsbericht Gen. 2, 19, wo der Schöpfer die Tierwelt zum Menschen bringt "und alles, was ihr der Mensch zurufen wird, den belebten Lebewesen, genau das wird ihr Name (C~') sein" unterstützt nicht unbedingt die herkömmliche philo-
284
Linguistik und Formgeschichte
sophisch-theologische Sprachtheorie. Nach hebräischer Auffassung ist es durchaus denkbar, daß die Benennung der Tiere, die durch Zuruf erfolgte, in bedeutungsvollen Ausdrücken besteht, also eine bereits vorhandene Sprachfähigkeit benutzt. Wie denn überhaupt das Hebräische in späterer Zeit Personennamen noch durchgängig als Satznamen zu bilden pflegt, bei denen die verbalen Elemente oft dominieren (z. B. Hosea = hosea'(jah) "geholfen hat [Jahwä]"). Eigennamen im modernen Sinn, also Wörter, die nur ein Einzelwesen als Individuum "bezeichnen" und nichts mehr "bedeuten", also das Bezeichnete nicht in einen Sinnbezirk einstellen, kannte der Mensch des Alten Testaments nur in geringem Umfang (zur Aufgabe eines sprachlichen "Bedeuts", eines Zeichens, gehört es nicht nur, einen Einzelgegenstand zu benennen, sondern ihn mit einem Wort zu belegen, das ihn zu einer Sinngruppe versammelt). Der Hebräer ist bei wichtigen Gestalten immer wieder bemüht, wenn der Name zum bloßen Einzelnamen abgleitet, d. h. der Wortsinn zu verblassen droht, durch "Volksetymologie" oder womöglich durch längere etymologische Sagen dem fossil gewordenen Eigennamen einen neuen Sinn beizulegen bzw. einen verborgenen Sinnzusammenhang hervorzuholen. Dabei herrscht oft ein verbaler Zug vor, oder ein solcher schwingt zumindest mit.
F. Satz- und Syntaxebene
Nach allgemeiner Überzeugung besteht Sprache nicht nur aus Wörtern, sondern auch aus Sätzen. Der Satz gilt als übergeordnete Einheit, als eine "sinnvolle" Zusammenreihung von Wörtern. Was aber ist ein Satz, genauer besehen? Wie beim Wort wird die Antwort zunächst lauten: eine Gewohnheit der Schriftsprache. Dabei ist die Abgrenzung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sätzen noch schwieriger als diejenige zwischen Wörtern. Das zeigt sich z. B. an den Zweifeln bei der Interpunktion eines Schreibens (soll eine Wortgruppe mit Komma, mit Semikolon oder mit Punkt geschlossen werden?). Ein Satz ist als ganzer ebenso ein Zeichen mit Ausdrucks- und Vorstellungsseite wie Morpheme und Wörter. Der Satz bedeutet mehr als die Summe der in ihm vereinigten Einzelwörter. Deshalb können Worte im Satz nicht regellos aneinander gefügt werden, sondern erhalten ihren festen Platz. Zu Wortakzent und-betonungtritt die Modulation hinzu, der Rhythmus des satzliehen Ausdrucks. Betrachtet man einen Satz näher, so sind seine Wörter nicht aufgereiht wie Perlen auf der Schnur, sondern zeigen eine über- und Unterordnung. Es gibt Hauptwörter , denen Lexeme zugrunde liegen und die selbständige Bedeutung haben, sie gehören meist der Wortart der Nomina oder der Verba zu. Daneben gibt es H i 1f s w ö r t er wie Partikel, Präpositionen, Demonstrativa, denen keine selbständige Bedeu-
Satz- und Syntaxebene
285
tung zukommt, sondern die ihre Bedeutung erst durch die Funktion im Satzzusammenhang erhalten. Aber auch Hauptwörter können verschiedenes Gewicht erhalten. Ein Satz besteht nämlich aus K o n s t itue n t e n und ist daher aufzuschlüsseln. In den indogermanischen und weithin auch in den semitischen Sprachen gibt es zwei unmittelbare Konstituenten: eine Nominalphrase und eine Verbalphrase. Beide brauchen nur aus einem Wort zu bestehen, können ebensogut sich wieder in eine Vielzahl von Konstituenten untergliedern, die von verschiedenem Gewicht sind, wobei eine den "Kopf" darstellt, in den die übrigen eingebettet sind. In der Nominalphrase des unten anzuführenden alttestamentlichen Satzes "Jeder Täter von Arbeit" ist "Täter" der konstituierende Kopf, in den zwei andere Nomina eingebettet sind. Nach der traditionellen Grammatik gehören zu einem Satz mindestens zwei Wörter, von denen das eine als Subjekt dient und der Wortart Nomen (oder Pro-Nomen) entnommen wird und das andere als Prädikat der Wortart Verb (oder Hilfsverb mit beigefügtem Prädikatsnomen). Das Subjekt als das "zugrunde Liegende" ist der Satzgegenstand, über den eine (Satz)Aussage gemacht wird. Ein Satz hat demnach die Aufgabe, über ein Bekanntes, nämlich das Subjekt, etwas Neues, nämlich das Prädikat, auszusagen. Es ist deutlich, wie hier die Begriffskonzeption dominiert. Bei manchen Linguisten kehrt sich das Verhältnis um und das Verb wird für den Satz ausschlaggebend. Das Verb bindet durch Genus- und Numerusmorpheme den Satz zusammen, weist den nominalen Konstituenten ihre Wortform zu. Die Linguistik hat sich vor allem in der von Noam CHOMSKY geführten Richtung der generativen transformationeilen Grammatik mit den Strukturen von Sätzen befaßt. Die Absicht ist dabei, Sprache und Sätze von der Spracherzeugung her (to generate = erzeugen) zu erklären. Wer sprechen will, hat einen bestimmten Vorsatz in seinem Geist gefaßt, den er in sprachliche Form bringt, also in Sätze. Ein Satz (S) besitzt einen nominalen und einen verbalen Satzteil, eine Nominalphrase (NP) und eine Verbalphrase (VP). In die eine oder andere werden die Gedanken gefaßt. Beide Phrasen können in sich aus verbalen oder nominalen Elementen zusammengesetzt sein. Ein alttestamentliches Beispiel (vgl. oben§ SB): Jeder Täter von Arbeit am Tag des Sabbats soll gewißlich sterben (Ex. 31, 15b). Die nominale Phrase umfaßt einen Komplex von kol (jeder) bis "Sabbat", der sich seinerseits wieder in verbale und nominale Segmente auflösen läßt. Der Satz läßt sich schematisch darstellen durch einen "Baum-Graph":
286
Linguistik und Formgeschichte
-----NP::::::- s~l:_
VP------........ Partikel Partizip Nomen
k~l
ha'~5a m•l~kä
NP ...... b•jom sahbat ~
mot jumat
Was hier erfaßt wird, ist die 0 b e rfl ä ehe n s tr uk tur eines Satzes. Erzeugt wird aber der Satz aus vorgängigen Tiefenstrukturen heraus. Das läßt sich leicht begreifen, wenn man bedenkt, daß die lineare Ordnung vorliegender Sätze nicht mit ihrer syntaktischen Struktur dekkungsgleich ist. Aus den Oberflächenstrukturen der Sätze läßt sich unter Einschaltung bestimmter inhaltlicher Überlegungen auf die Tiefenstruktur schließen, die für unser nunmehriges Beispiel aus gleichsam zwei Vor-Sätzen besteht, von denen der eine beinhaltet Ein gewisser Mann arbeitet [ am Sabbat] Und der andere: Gewisse Männer [müssen] [gewißlich] sterben. Das Problem der Syntaxstruktur kann hier nicht ausführlicher entfaltet werden. Die entsprechenden Ausführungen sind gewiß auch für die hebräische oder koinegriechische Sprache von Belang, wenngleich für die Verwendung in diesem Bereich einschneidende Variationen nötig sein dürften. Dafür nur eine Andeutung. Der hebräische Satz ist im Unterschied zum indogermanischen überwiegend Verbalsatz, die Verben stehen nicht nur gewöhnlich am Anfang des Satzes, sondern ein einziges Verbum kann für sich schon einen Satz bedeuten. Die Rolle der nominalen Konstituenten, von denen die Linguistik auf Grund ihrer indogermanischen Beispiele ausgeht, kann also hier nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden. Umgekehrt hat der hebräische Nominalsatz, so selten er auch auftritt, in der Regel überhaupt kein verbales Element, also läßt sich offenbar der hebräische Satz nicht überall in zwei Phrasen zerlegen, wie es schon beim griechischen möglich ist. (Die Einteilung der Satzstruktur in nominale Phrase und verbale Phrase scheint keine durchgängige Erscheinung bei allen Sprachen der Erde zu sein.)
G. Text- oder Gattungsebene Mit der Satzebene endet normalerweise der Horizont eines Linguisten. "Der Satz wird in der Linguistik allgemein als größte zu beschreibende grammatische Einheit anerkannt. Er gehört damit zur Langue, zum Sprachsystem" (BüNTING S. 117). Man kann fragen, ob hier nicht die abendländische Schullogik sich gegenüber den empirischen Beobachtungen durchgesetzt hat. Bekanntlich geht die aristoteli-
Text- und Gattungsebene
287
sehe Logik vom einfachen Aussagesatz aus, sucht im richtigen Satz eine logische Deduktion und fordert darüber hinaus, daß alle Rede in dieser Art logisch gebaut sein müsse. Doch weder die gewöhnliche menschliche Rede, noch was ein Mensch zu schreiben pflegt, beschränkt sich in der Regel auf einen Satz. Auch denkt kaum ein Mensch in Einzelsätzen, sondern in Zusammenhängen, die je nach dem Sitz im Leben umfangreicher oder kürzer sind. Die Form eines Satzes, die Transformation von der Tiefen- zur Oberflächenstruktur, wird weithin durch den Kontext geprägt. Die Linguistik hat sich im Grunde also von der Zwangsjacke, die Aristoteles der Philosophie angelegt hat, noch nicht gänzlich frei gemacht. Die strukturale Betrachtungsweise überschreitet jedoch notwendig die Satzebene, wo sie von Literaturwissenschaftlern aufgegriffen wird. Sie nähert sich dadurch der Gattungsforschung, die auf Beobachtungen an Überlieferungen, an größeren geschlossenen sprachlichen Einheiten, ausgerichtet ist (o. § lF). Doch die Aufnahme strukturalistischer Gesichtspunkte in der Literaturwissenschaft geschieht bisher so verschiedenartig und hat, soweit ich sehe, noch nirgends einen Grad allgemeiner Obereinstimmung erreicht (wie in der Sprachwissenschaft), daß hier nur zwei willkürlich herausgegriffene Positionen zitiert werden sollen. Der Obergang von strukturaler Sprachwissenschaft zur Untersuchung der schönen Literatur bietet sich für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Poesie an, für die Poetik. Hingewiesen sei dafür auf einen aufschlußreichen Entwurf von Manfred BIERWISCH (Poetik und Linguistik, in: Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, hg. V. Zmegac 1971, 282-302). Er geht von der Feststellung aus, daß es nicht Aufgabe der Poetik sei, literarische Qualitätsunterschiede zu rechtfertigen, sondern die Wirkung solcher sprachlicher Einheiten zu erklären, welche die Mitglieder einer Sprachgememschaft als poetisch empfinden. Was sind die Gründe für solche Wirkung? Welche Regelmäßigkeiten sind es, die sich in Dichtung niederschlagen und ihre spezifische Wirkung bestimmen? Wie ist die menschliche Fähigkeit zu erheben, die solche Struktur produziert und ihre Wirkung versteht? Offenbar gibt es eine poetische K o m p e t e n z der Sprache, die freilich nicht wie die grammatische Kompetenz allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft im gleichen Maße zur Verfügung steht. Sprache besitzt demnach über die grammatischen Primärstrukturen hinaus "parasitäre Strukturen", wie Versbau, Reim, Alliteration, Parallelismus des Gedankens, die festen Regeln folgen und im Zusammenhang einen Code bilden, dem sich jeder unterwirft, der seine .Außerung als Dichtung verstanden wissen will. BIER WISCHS Aufstellung bleibt zwar im wesentlichen auf die Satzebene beschränkt, auf die Mikrostruktur, aber bei der Beschäftigung mit Dichtung stößt der Linguist BIERWISCH an verschiedenen Stellen auf den Rang der Makrostrukturen, wie er es nennt, der
288
Linguistik und Formgeschichte
satzübergreifenden Einheiten; er entdeckt, daß sie eigenen Strukturregeln unterliegen, ohne dem weiter nachzugehen. So macht er unmittelbar Halt vor der Tür formgeschichtlicher Problemstellung. Einen anderen Zugang versucht der französische Literaturwissenschaftler Roland BARTHES. Er gehört zu jenem französischen Strukturalismus, der weit über den Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaft hinausreicht und Mode-Methode-Ideologie (so der Untertitel von G. ScHIWY: Der französische Strukturalismus, rde 31o/311) in einem geworden ist, was hier nicht zu verfolgen ist. Von der Theorie des sprachlichen Zeichens ausgehend, sieht BARTHES die Klärung des Bezugs von Bedeutendem (Sprachgestalt) und Bedeutetem (Vorstellungsgehalt) nirgends so dringlich an als bei schöngeistiger Literatur, in der er ebenfalls "nur ein parasitäres Objekt der Sprache" sieht (Zitate aus der Aufsatzsammlung: Literatur oder Geschichte, ed. Suhrkamp 3o3, 1969, S. 108). Jede literarische Schöpfung hat einen Bezug über das wörtlich Gemeinte hinaus (was jedem einleuchtet, der in Goethes Faustdrama mehr sieht, als die Beschreibung eines mittelalterlichen Scharlatans). "Das Werk wird als die Sprache von etwas betrachtet" (S. 25). Literatur unterscheidet sich von anderen sprachlichen Kußerungen dadurch, daß sich ihre Bedeutung nicht ein für allemal festlegen läßt. Ein literarisches Werk "bietet sich zwar dem Leser als ein deklariertes, etwas bedeutendes System dar, entzieht sich ihm aber als bedeutetes Objekt" (S. 68). Die Bedeutung aufzuweisen, ist Aufgabe der Interpretation und damit der Literaturkritik, die aber nicht die "Botschaft" eines Werkes zu rekonstruieren hat, sondern ihr "System" (S. 68). BARTHES hat einen Versuch strukturaler Untersuchung des Systems von Erzählungen vorgelegt, und zwar anhand eines neutestamentlichen Beispiels (L'Analyse Structurale du Recit. Apropos d'Actes X-XI. Recherehes de Science Religieuse 58, 1970, 17-37). Bemerkenswert ist, daß er als ersten Schritt eine Formalisation verlangt, und zwar als Hinausgehen über die Satzebene und über den Einzeltext; und das nicht nur bei einem Text, sondern bei vielen, bei denen dann die gemeinsamen tragenden Merkmale von den je besonderen Aussagen des Einzelstoffes unterschieden und für die Struktur von Erzählung allgemein als grundlegend angesetzt (formalisiert) werden. Was jeder Gattungsforscher tut, der vom Textgefüge zu einer Gattung übergeht, vollzieht BARTHES hier, wenngleich das Ziel zu weit gespannt ist. Denn so gewiß Erzählungen in jeder Sprache eine Art prosaischer Sprechweise darstellen, so gewiß sind überall Erzählungen so sehr in Gattungen spezialisiert, daß Aussagen über die Struktur von Erzählungen allgemein nur auf dem Wege über eine weitere Formalisierung, die bei der bereits erhobenen Gattungsstruktur ansetzt und über sie hinausführt, möglich sein dürfte. Das Vorgehen im einzelnen braucht nicht dargestellt zu werden, es ist mehr ein Versuch als ein planvoll angelegtes Programm. Nur ist anzumerken, daß BARTHES das Gewicht des Ab-
Text- und Gattungsebene
289
grenzungsproblems erkennt - ohne es als solches anzusprechen - auf die ausschlaggebende Rolle der Einleitung ("le commencement de la parole est un act difficile; c'est la sortie du silence" S. 27) wie der Ausleitung und damit des Erzählungsabbruchs hinweist. Weiter werden die Gliederung des Textes und seine sprachlichen Codes Aufgabe der Analyse. Auch dieser Aufsatz zeigt dem Kundigen, wie die Literaturwissenschaft auf das Problemfeld der Formgeschichte gerät, sobald sie nach der Struktur von Literatur fragt und nicht nur nach ästhetischen Bewertungen. In jüngster Zeit haben auch einige Sprachwissenschaftler erkannt, wie ungenügend es ist,"bei der Analyse des Systems einer Sprache die Satzebene als Endstufe anzusehen. Satzübergreifende sprachliche Einheiten nennt man in Amerika gern ".1\ußerung" (utterance bzw. discourse), auf dem Kontinent dagegen "Text". Schon HJELMSLEV (S. 115) hat "eine ganzheitliche sprachliche Kette" Text genannt, ohne sich dafür näher zu interessieren. Da die entsprechenden Versuche noch nicht zu allgemein anerkannten Ergebnissen geführt haben, in den Handbüchern entsprechende Abschnitte fehlen, nichts desto weniger aber für den Exegeten die Sprachwissenschaft an dieser Stelle besonders belangreich wird, gehe ich anders als bisher in der Darstellung auf einige Einzelbeiträge ein. Ober Versuche zur Erfassung der Strukturen ganzheitlicher sprachlicher Ketten unterrichtet der Sammelband: Beiträge zur Textlinguistik, hg. von W. D. STEMPEL 1971, wo eine Reihe von Linguisten eine Textlinguistik als neue Forschungsrichtung fordern. Darunter ist P. HARTMANN, der von der Beobachtung ausgeht, daß nicht der Satz, sondern der Text "manifestierte Einzelerscheinung funktionsfähiger Sprache" und also das "originäre sprachliche Zeichen" ist (S. 10). Denn "Sprache kommt nur als Text vor, indem funktionsgemäße und funktionsgerechte Komplexe . . . geäußert werden" (S. 11). Wörter wie Sätze haben zwar Bedeutung, ergeben aber an sich noch keinen Sinn. Eine sinnhafte Aussage bringt erst ein Text. Folgerichtig gelangt er zur Beobachtung, daß Texte nicht beliebig zusammengestellt werden, sondern nach Gattungen strukturiert, die er als "Textbildungsweisen" bestimmt, "die unterschiedlichen Normen genügen" (S. 22). Ober die übliche Satzgrammatik hinaus ist eine Textgrammatik vonnöten (S. 214). - Wer mit den Grundsätzen der Formgeschichte vertraut ist, erkennt auf den ersten Blick, daß hier GuNKELs bereits vor einem halben Jahrhundert vorgetragenes Programm in die Sprache der Linguistik übersetzt wird (ohne daß auf die exegetische Formgeschichte Bezug genommen wird). Text in dieser linguistischen Definition ist also das, was in der Formgeschichte herkömmlich "die sprachliche Einheit" oder "die Überlieferung" (in dem engeren Sinn von oben § 4) heißt. Der Begriff "sprachliche Einheit" wird in der Linguistik hingegen funktional auf den verschiedensten Ebenen benutzt; um Mißverständ-
290
Linguistik und Formgeschichte
nisse künftig auszuschließen, sollte der Formgeschichtler den Begriff besser meiden und dafür "Text" benutzen. Dabei ist freilich zu beachten, daß ein Unterschi.::d zum gängigen theologischen Sprachgebrauch von Text als heiligem Text oder Predigttext besteht. Text ist hiernach - und so wird der Begriff im folgenden verwandt - eine schriftliche oder mündliche sprachliche .Außerung, die nach hinten wie vorn klar abgegrenzt und in sich geschlossen ist. Text/Überlieferung ist eine Größe im Bereich der "Sprache", der Sprachverwendung, dem auf seiten der Sprache (Iangue) die Gattung entspricht, welche die Bildungsweisen für das Gefüge eines Textes vorschreibt (etwas anders HARTMANN). Andere Sprachwissenschaftler gebrauchen für Gattung den Begriff Textern und kennzeichnen damit die strukturprägende Art dieser sprachlichen Größe für einen konkreten Text in der Sprachverwendung. Im Sammelband weist STEMPEL auf den Nutzen der satzübergreifenden Linguistik hin. Mit der Analyse der Texte wird ein System von Normen erkennbar "das für eine Gattung oder Redesituation ... gültig ist und das Verständnis des Textes über ein Vorverständnis leitet bzw. nur von diesem aus überhaupt ermöglicht" (S. 62). Jeder durch eine in der Sprache vorgegebene Gattung geprägte Text ruft einen "Erwartungshorizont" hervor, der bestimmte Aussagen und Vorstellungen schon von der Sprech- oder Schreibform her erschließen läßt. Vergleicht man damit den oben (§ 3A) zitierten Satz ALTs, daß die formgeschichtliche Methode auf der Einsicht beruht, daß in der Sprache "bestimmte Inhalte mit bestimmten Ausdrucksformen fest verbunden sind" und dies den jeweiligen geprägten Bedürfnissen des Lebens entsprach, so wird wiederum die überraschende Nähe der Formgeschichte zu dieser Art von Linguistik greifbar. STEMPEL berührt darüber hinaus das Verhältnis von Gattung und individueller Aussage in einer Weise, die sich in die formgeschichtliche Sicht des Verhältnisses (oben § lD) glänzend einfügt: "Es ist hinzuzufügen, daß sich daneben in dem Maße, wie die Aussage anwächst, ein immanenter ,syntagmatischer' Erwartungshorizont [im Text] aufbaut, der mit der übergeordneten Gattungserwartung in bisweilen nur schwer zu bestimmender Weise interferiert" (S. 62). Was aber läßt ein Stück Spreche (oder Schreibe) als in sich abgeschlossenen Text/.Außerung erkennen? Hier tastet die Linguistik sich noch zaghaft vorwärts. Sicher gehört dazu ein Anfangssyntagma, welches dem Leser/Hörer bekannte Vorstellungen, darunter meist auch Eigennamen, so auf neuartige Weise zusammenstellt, daß eine Spannung auf weitere Aussagen hervorgerufen wird; ebenso ein Endsyntagma, das die Spannung als hinreichend gelöst erscheinen läßt. Dazwischen stehen Morpheme, Wörter und Wortverbindungen, die zeitliche, örtliche oder personenidentische Leitlinien durch die Folge der Sätze innerhalb eines Textes hindurchführen. Die zeitliche Verkettung wird vor allem durch
Text- und Gattungsebene
291
die Sätze verbindenden Tempora des Verbs hergestellt, aber auch durch Zeitweiser wie "später" (Adverb) oder "im Jahr zuvor" (adverbiale Bestimmungen). Personen stellen oft ein Leitglied (Substituens) im Text, auf das durch unbestimmte Ausdrücke wie "ein Mann" oder Pronomen (er) als Verweiser (Substituendum) im vorangehenden oder folgenden Satz eingegangen wird. Doch ist in dieser Hinsicht von einer Einheitlichkeit der Methode oder Benennung noch nichts zu sehen. Die Formgeschichte hatte für das Hebräische und Koinegriechische des biblischen Raumes bewiesen, daß Gattungen eine allgemeinsprachliche Erscheinung sind, die ebenso ursprünglich ist wie der Satz und bei jedem exegetischen Studium der Sprachverwendung ebenso zu berücksichtigen ist wie die Satzsyntax. Die Textlinguistik hat, das zeigen schon die bisherigen Ansätze, nachgewiesen, daß eine wirkliche strukturale Untersuchung von Sprache über Phonem-, Morphem- und Satzebene hinaus mit einer vierten Ebene der Sprache zu rechnen hat, eben den Gattungen als unabdingbaren Bestandteilen der Sprachkompetenz, denen auf der Seite der Sprachverwendung der Text, die .Außerung, die Überlieferung, entspricht. Angesichts solcher Konzeptionen bestätigt sich aufs neue GuNKELS Satz, daß Formgeschichte nichts anderes betreibt, als eine Art "höhere Grammatik" (oben § SD). Wie Gattungsforschung und Textlinguistik sich gegenseitig befruchten, will ich am Beispiel der Profezeiung (§ 18) darstellen. Es hatte sich gezeigt, daß zu dieser Gattung, sollte sie vom israelitischen Hörer als solche erkannt und ernst genommen werden, einige Bestandteile gehören, die in fast allen Profezeiungen der vorexilischen Zeit, soweit sie uns vollständig erhalten sind, wiederkehren. Da ist zunächst eine Art Legitimation, die die folgende .Außerung nicht als menschlichen Einfall, sondern als ein göttlich-wirksames Wort ausweist, das durch einen autorisierten Boten vermittelt wird. Das ist die Botenformel (BF) kö 'amar jahwä. Dann setzt der Sprecher bzw. sein Gott bei der Vergangenheit oder Gegenwart der Angesprochenen ein, um in einem Lagehinweis (LH) die gegenwärtigen Verhältnisse als unhaltbar und einen Umsturz als unausweichlich erscheinen zu lassen. Es folgt stets ein zukunftsbezogener Teil, auf dem das Hauptgewicht liegt, die Unheilsweissagung (UW). Schließlich kann, aber muß nicht, eine abschließende Charakteristik (AC) den Spruch beschließen. Bewährt sich solche Abgrenzung und Gliederung auch unter linguistischem Blickpunkt? Als Beispiel greife ich Elias Spruch üb er Ahas j as U nf a 11 aus 2. Kön. 1 (§ 15) heraus. überflüssig zu betonen, daß es sich um einen ersten V ersuch handelt, der künftiger Verbesserung bedarf und in vieler Hinsicht erweiterungsfähig ist. Der Eliasspruch taucht an der Belegstelle dreimal auf, jeweils in leichter Variation (V. 3b. 4; V. 6b; V. 16). Das erklärt sich daraus, daß auch bei einer Gattung wie bei Sätzen Oberflächen- und Tiefenstruktur zu unterscheiden sind und außerdem der Spruch nicht als unabhängige Einheit überliefert ist, sondern als
292
Linguistik und Formgeschichte
Gliedtext in einem erzählenden Rahmentext (analog zu Glied- und Rahmengattung, § 2D), wodurch eine Kontextabhängigkeit an allen drei Stellen hervorgerufen wird, je nachdem, wo und vor wem gesprochen wird. Doch bleibt das hier außer Betracht. Ich wähle die mittlere Fassung und übersetze sie, wobei die Wiedergabe mehr als oben (§ 15) der deutschen Sprache Gewalt antut, um die Strukturen des Urtextes hervortreten zu lassen. BF SO HAT JAHW.A GESPROCHEN. LH Kein Dasein eines Gottes in Israel? Du- sendend, zu ersuchen den Baal Sebub, den Gott von Ekron! UW DESHALB Das Bett welches Du bist hinaufgestiegen darauf, nicht wirst Du heruntersteigen davon! AC DENN Du wirst ein Sterben sterben. Am Eingang fällt die Botenformel auf (BF). Wie oben gezeigt(§ 15D) bildet sie eine Rubrik, welche die folgende Einzeläußerung nicht als beliebige Einzeläußerung, sondern als göttlich wirksames Wort ausweist, das durch autorisierte Boten übermittelt wird. Obwohl vermutlich bei jedem mündlichen Vortrag einer Profezeiung unabdingbar, ist sie nach dem, was aus den verschrifteten Einzelstücken erkennbar ist, in ihrer Stellung im Textgefüge insofern nicht festgelegt, als sie außer in Anfangsstellung auch in der Spruchmitte erscheinen kann, dort wo zur Zukunftsankündigung, zur Weissagung übergegangen wird (so V. 4). Als Rubrik ist sie vom Korpus des Textes relativ unabhängig. Doch markiert die Partikel "so", daß nicht der abgeschlossene Vorgang festgehalten werden soll, daß das göttliche Wesen sich artikuliert habe vernehmen lassen; das Wörtchen weist vielmehr über die Satzgrenze hinaus, kündet an, daß das Entscheidende allererst folgt. Nicht auf dem Sprechakt, sondern auf dem Speechinhalt liegt der Ton. Ein Endsyntagma mit "denn" (ki) ist Abschluß vieler profetischer Sprüche, ja ganzer profetischer Bücher (Jes. 26, 24; Hos. 14, 10). "Du wirst ein Sterben sterben" ist zunächst mit dem Du-Morphem auf den vorangehenden Satz, aber vermutlich auch auf das weiter zurückliegende betonte Pronomen "du ('attii)" im Lagehinweis (LH) bezogen. Der Bezug läßt sich semantisch erhärten: Das drohende Sterben hat Ahasja zu seiner bedenklichen Aktion bewogen und damit den Jahwäspruch in Gang gebracht, der nun erst recht das drohende Unheil sich verwirklichen läßt. So wird also auf die vorausgesetzte Anfangslage zurückgewiesen. Der Baal Sebub gilt als vom Sterben rettender Gott. (übrigens bedeutet das hebräische mot wahrscheinlich nicht nur "sterben", sondern auch "unheilbar krank sein", so daß der letzte Satz sich wiedergeben läßt: "Deine unheilbare Krankheit wird zum Ziel gelangen".) Insofern gibt der Endsatz der Information einen Schluß.
Text- und Gattungsebene
293
Ahnlieh wie ki taucht auch "deshalb" (Laken) stets am Anfang eines Satzes, nie aber am Anfang eines Textes auf. Hinter beiden Partikeln ändert sich häufig das Tempus von Sätzen und Satzgruppen im Vergleich zu dem, was vorangegangen war. Dabei ist Laken zeitlich vorweisend (auf Zukunft, so hier), ki oft zeitlich rückweisend. Der geläufige Gebrauch von Laken in Profezeiungen, und zwar durchweg nach einem Lagehinweis unmittelbar vor einer Weissagung, beweist, daß Iaken ein Scharnier innerhalb des Textes bildet, stärker noch als ki eine sprachliche Größe repräsentiert, die man Gattungsweiser (GW) nennen mag. Die aus der Analogie anderer Profezeiungen abgeleitete Behauptung, daß "deshalb" und "denn" das Textern gliedern, wird durch den Te mp u s gebrauch bestätigt. Die durch die Partikel ausgegliederten Textabschnitte werden zwar beidevoneiner Präfixkonjugation (impf.) beherrscht, aber in bezeichnender Abwandlung. Im letzten Abschnitt ist sie durch einen Infinitiv als Paronomasie erweitert, zur Hervorhebung der Vollständigkeit des Geschehens, wie die Semantik ausweist (vgl. GESENIUS-KAuTZSCH: Grammatik § 113n). Das geschieht auch sonst am Ende einer Profezeiung hinter ki in abschließender Charakteristik (AC, z. B. Am. 9, 8), nie aber in einem vorangehenden Weissagungsteil! Umgekehrt ist die (mit 18') verneinte Präfixkonjugation als apodiktische Weissagung eine geläufige Erscheinung bei den Zukunftsankündigungen der verschiedensten Profeten (s. o. § 18A). Der erste Teil des Korpus hat keinen Gattungsweiser (anders an der Parallelstelle V. 16), aber auch kein Tempus! Stattdessen finden sich zwei Nominalsätze, deren Zeitlage anscheinend durch die Suffixkonjugation (Perfekt) in der vorangehenden Botenformel gegeben wird (wo die Botenformel im Spruch nachgestellt wird, wird eine 'amar entsprechende Suffixkonjugation ausdrücklich eingefügt V. 16; anders V. Jb, wo die Nominalsätze Gleichzeitigkeit mit dem Sprechakt bedeuten). So bestätigt der Tempusgebrauch die Gliederung des Textgefüges, genauer die Dreistufigkeit des Korpus, zugleich aber auch die Geschlossenheit des Textes. Das hinter "deshalb" wie hinter "denn" stehende Futur bezieht sich auf die in den voranstehenden beiden Nominalsätzen angezeigte "Gegenwart", die zudem in dem eingliedrigen Nominalsatz (oder Casus pendens) "das Bett" noch einmal aufgenommen wird. Die Nominalsätze dürften sich aber ihrerseits an die Suffixkonjugation "hat gesprochen" in der Botenformel am Eingang anlehnen. So ist dieses Anfangsglied maßgeblich für den Tempusgebrauch aller folgender Abschnitte. Das Gefälle vom Perfekt zum Imperfekt, um es mit den Begriffen der Schulgrammatik auszudrücken, findet sich auch in anderen Texten, die wir der Gattung Profezeiung zuweisen, ist also anscheinend gattungsspezifisch (s. Jer. 28, 2-4 § 17). In unserem Text ergibt sich somit ein Zeitfluß:
Linguistik und Formgeschichte
294
Sprechakt_ Jahwäs -
Sendung_ an Baal -
Bett-+ (lägerigkei t)
Nichtmehr -+ aufstehen
Sterben.
Die Diachronie des Textes folgt nicht dem chronologischen Ablauf eines äußeren Vorgangs, wo die Bettlägerigkeit das erste sein würde. Ein Hinweis, daß der Textkraft der es prägenden Gattungsstruktur nicht auf Erzählung zielt, sondern auf die Hervorhebung einer pauschal gesehenen gegenwärtigen Lage und andersartiger künftiger Verhältnisse. Ein weiterer Hinweis auf den Charakter des Textes ist die hervorgehobene Opposition von Personen- und einer Sache (nämlich dem Bett). Dem "Jahwä" am Ende der Botenformel entspricht in den Nominalphrasen am Ende der beiden folgenden Sätze "Dasein eines Gottes in Israel" und "Baal Sebub, Gott von Ekron", von denen durch die Verneinung das eine Glied als Gegensatz des anderen gilt. Der zweite Satz im Lagehinweis und die folgende Unheilsweissagung dagegen stellen ein Nomen bzw. Pronomen als Subjekt betont voran: Du - das Bett. Den Endgliedern, mit "Gott" gebildet in den ersten Sätzen, stehen die Anfangsglieder der Mitte, nämlich die Ausdrücke für den an sein Bett gefesselten Angeredeten, wirkungsvoll gegenüber. (Semantisch wäre zu untersuchen, was "Bett" im Umkreis hebräischer Sprache bedeutet. Wie der altorientalische mythologische Schmuck z. B. am Königsbett von Ugarit ANEP 817 f.- vermuten läßt, wird mittä nicht einfach als ein Gebrauchsgegenstand, sondern als eine "beseelte" Größe angesehen worden sein). Die nominalen Leitglieder des Textes liegen also auf zwei Ebenen: Jahwä = Gott in Israel-+ Gott in Ekron
(König~Du4.tt
Das Pronomen "du" ist gleichsam zwischen den beiden mit dem Wort "Gott" als Kopf gebildeten Konstituenten eingespannt. Es wird dann dreimal durch das Morphem der 2. ps. sg. beim Verb weitergeführt (-ta, te-, ta-). Doch verliert es im Weissagungsteil die herrschende Stellung, wo jeweils Bezüge auf das Bett am Ende stehen (darauf, davon) und die Bettvorstellung sogar die Opposition der Verben (hinauf-, heruntersteigen) bestimmt. Genau besehen ergeht eine Weissagung also über das Bett, nicht über den Angeredeten! Erst die abschließende Charakteristik läßt das Bett außer acht, legt aber auch nicht mehr den Ton auf "du", sondern auf einen andauernden Vorgang von Sterben. Die letzten Beobachtungen sind allein am vorliegenden Text gemacht worden. Das weckt den Verdacht, daß es sich um individuelle Sprechverwendung und nicht um eine durch Gattungsnormen geleitete Spreche handelt. Doch ließe sich ein ähnliches Gefüge bei den Profezeiongen über das Joch des Königs von Babel (§ 17) und vielen anderen
Text- und Gattungsebene
295
nachweisen. In genauerer Untersuchung wäre zu erkunden, unter welchen Bedingungen in einer Profezeiung der Lagehinweis nur mit Nominalsätzen oder mit einer Suffixkonjugation gebracht wird (letzteres in den Beispielen § 17). Erst bei solcher durch die Linguistik geleiteten Erhebung wird der Interpret gewahr, daß in der Weissagung (UW) Jahwä/Gott gar nicht mehr als Verursacher genannt wird! Hier wird der Befund theologisch erheblich. Denn gerade in einer Weissagung erwartet man, daß das göttliche Subjekt genannt ist und vorherrscht. Nichts davon hier. Das wirft semantische Probleme auf: Ist in dem einleitenden "so spricht Jahwä" der Gott als bloßer Sender einer Information vorgestellt über einen Vorgang, der sich gleichsam immanent zwischen dem königlichen Du und seinem Bett vollzieht? Oder liegt in dem von uns mit "hat gesprochen" übersetzten 'amar wortsemantisch gesehen, bzw. in der Wortkette "so hat Jahwä gesprochen" satzsemantisch gesehen, die Vorstellung eines unbedingt wirksamen Wortes, also einer magischen Sprechweise, ist Gott durch den Spruch Verursacher des Vorgangs? Dem ist hier nicht nachzugehen. Der vorgelegte Versuch sollte nur deutlich machen, daß die formgeschichtliche Exegese durch linguistische, insbesondere textlinguistische Gesichtspunkte vertieft wird und sich von da aus neue Fragen für die Exegese auftun, die es gestatten, Texte genauer zu interpretieren als bisher. Wie sehr Gattungen linguistisch zu erfassen sind, läßt sich auch daran erkennen, daß für ein Textern wie die Profezeiung (P) Generierungsregeln wie für Sätze sich aufstellen und schematisch darstellen lassen (wodurch schließlich ihre "Grammatikalität" überprüfbar wird). So entwerfe ich versuchsweise einen Baumgraph, der freilich nur an das hier gegebene Beispiel sich hält. Gegliedert wird er nach den herausgestellten Gattungsweisern (GW) unter Benutzung der formgeschichtlich erhobenen Bezeichnungen Botenformel (BF), Lagehinweis(LH), Unheilsweissagung (UW) und abschließender Charakteristik (AC). Durchgeführt wird er bis zur Satzebene, zur Ausprägung in Verbalsatz (VS), Nominalsatz (NS), Casus pendens (CP), Infinitivkonstruktion (IK) und Satzweisern wie Frage- und Relativpartikeln (SW).
296
Linguistik und Formgeschichte
--------p
Rubrik (BF) V(
I
Korpus
LH~~C
/
K.a.j.
NS
SW
NS
/1
\.NS
/
GW
""'VS
/\ I //\
NS
IK Laken CP VS
VS
I""'
GW VS
I
ki
\
möt tamut
h•Lli .,.l,,lohim. -~~'~~ . .. I \ tmd
'asär 'alita sam Die Stringenz profetischer Gedankenführung wird bei solchen Darstellungen deutlich, es zeigt sich, wie weit sich die Profezeiung von einer beliebigen Wahrsagung abhebt. Soweit das grafisch dargestellte Muster nicht individuell bedingt ist - und das ist es in seinen Grundzügen wahrscheinlich nicht - ist es Dokument einer besonderen profetischen Sprache und Schulung, die als eine Art "parasitärer Struktur" über der hebräischen Umgangssprache anzusetzen ist. H. Seitenblick auf Sprach- und Literatursoziologie
Die Herausarbeitung der linguistischen Ebene von Gattung/Textern ist auch deshalb belangreich, weil erst auf dieser Ebene sich ergibt, wie sehr Sprache mit anderen geprägten Weisen menschlicher Interaktion verbunden ist. Denn Gattungen sind- um auf formgeschichtliche Ergebnisse zurückzugreifen - soziologische Tatsachen, gehören in einen Sitz im Leben und im weiteren Sinn in einen Lebensbereich (§ 3). Die Rollenfunktion der Sprache läßt sich auf der Ebene des Wortes nur unvollkommen erfassen. Ein Wort wie deutsch "Baum" z. B. begegnet in allen Lebenslagen und bei allen Bevölkerungsschichten. Aber auch ein Satz wie "der Baum war mir im Wege" kann aus dem Munde eines Kraftfahrers wie eines Bauern wie eines Dichters stammen. Auch hier ist kein spezifischer soziologischer Sitz im Leben auszumachen. Anders dagegen, wo etwa "40 Tannenbäume" als wichtige Posten im Text einer Rechnung auftauchen oder verschiedene Arten von Bäumen als Leitglieder in einer weisheitliehen Lehrerzählung wie der Jotharnsfabel Ri. 9, um ein biblisches Beispiel zu gebrauchen. Der Zusammenhang von Sprache und Institutionen ist bislang wenig geklärt, Sprachsoziologie gibt es nur in sehr verschiedenartigen Ansätzen. Wenn Entwürfe zur Literatursoziologie viel weiter schon gediehen sind (H. R. FüGEN: Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie 1964 ), hängt das damit
Seitenblick auf Sprach- und Literatursoziologie
297
zusammen, daß schöngeistiges Schrifttum von vornherein unter Gattungsgesichtspunkten erfaßt wird, während in der Analyse der Umgangssprache die Gattungsebene noch kaum erarbeitet ist; aber erst hier wird die soziologische Fragestellung interessant. Es mag sein, daß von der Erkenntnis der soziologischen Prägung der Gattungen eine Modifikation des starren Schemas von Sprachkompetenz (Iangue) und Sprachverwendung (parole) notwendig wird. Da die Texteme, obgleich Grundmuster der Sprache und nicht der Spreche, an Sitz im Leben und Institutionen gebunden sind, sind sie in der Regel nicht allen Gliedern der Sprachgemeinschaft in gleicher Weise vertraut. In den verschiedenartigen Gattungen eines Lebensbereichs zeigt sich eine Sonderkompetenz an, die an die oben skizzierte poetische Kompetenz erinnert. Sicher kommt das auch an einem Teil des Wortschatzes zum Vorschein -man denke an fachwissenschaftliche Begriffeund auch bei Arten der Satzbildung (die in einer wissenschaftlichen Abhandlung gewöhnlich nicht der Umgangssprache entspricht). Doch eindeutig wird die Prägung durch die Bedürfnisse eines bestimmten Lebensbereiches und damit die Ausformung als Unter- oder Sondersprache auf der Ebene der Texte. Ist also die Konzeption der Einzelsprache als geschlossenes Regelsystem nicht eine Idealkonstruktion, die an den Schriftsprachen und den ihr zugeordneten Gesetzen einer Hochsprache entwickelt ist, aber der Wirklichkeit außerhalb der Schreibstuben nicht entspricht? Der Schriftsprache scheint normalerweise nicht nur eine Umgangssprache gegenüberzustehen mit weniger strengen Regeln; die Schriftsprache scheint nicht nur verschiedene Dialekte zu überwölben, sondern auch eine Vielzahl von Sondersprachen, je nach der ständischen Schichtung und nach den verschiedenen Lebensbereichen (Recht, Politik, Kult). Zu bedenken ist dabei, daß jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft an mehreren dieser Bereiche und Sondersprachen partizipiert. Sind nicht solche Sondersprachen für die meisten Menschen des Altertums der eigentliche Herkunftsort ihrer Sprachkompetenz (was sich vielleicht mit der allgemeinen Verbreitung der Schriftsprache ändert)? Sondersprachen sind zum Teil als Ganzes "übersetzbar", nicht nur als konkrete Außerungen der Spreche, sondern als Sprachsystem, d. h. sie rufen in einer zweiten Einzelsprache gleiche Strukturen hervor an Gattungen, Satzbildungen, am Wortschatz, wie in der Ausgangssprache. Das läßt sich an den Kirchensprachen belegen, aber auch an der Sprache moderner Wissenschaften. Aus dem Überlieferungsvorrat solcher Sondersprachen erklärt sich vieles, was mit dem schillernden Begriff "Traditionen" bei manchen Theologen beliebt ist (oben § 4). Die viel berufenen alttestamentlichen Traditionsströme oder die urchristlichen Traditionsbildungen sind weithin aus dem Zusammentreffen eines bestimmten überlieferungsgutes, das aus Gattungen hervorgegangen ist und an sie gebunden ist, und eines charakteristischen Wortschatzes im Bereich solcher Sondersprachen zu erklären.
298
Linguistik und Formgeschichte
Diese Fragen sollen hier nur aufgerissen werden; ihnen nachzugehen, ist Aufgabe künftiger Forschung. Auf diesem Wege erscheint eine Verbindung von Sprachwissenschaft und Sprachsoziologie, Literaturwissenschaft und Literatursoziologie denkbar, die bisher noch nicht überzeugend geglückt ist; sie setzt freilich voraus, daß der Themenbereich der Formengeschichte in die linguistischen Forschungen integriert wird - oder umgekehrt.
I. Semantik S. ULLMANN: Grundzüge der Semantik, dt. 1967 - J. BARR: Bibelexegese und moderne Semantik, dt. 1965 - DERS.: Semantics and Biblical Theology, VTS 22, 1972, 11-19 - J. A. F. SAWYER: Semantics in Biblical Research 1972.
Von sprachlichen Zeichen sind wir ausgegangen. Das Bedeutungsdreieck bedeutender Ausdruck - bedeutete Vorstellung - (außersprachlicher) Sachbezug gilt für jede sprachliche Ebene. Jedes Wort hat seine Bedeutung. Aber der Satz hat ebenso seine Bedeutung, die mehr ist als die Addition der ihm zugehörenden Wortbedeutungen. Man denke nur an den Satz "So hat Jahwä gesprochen", der in der profetischen Literatur nicht nur das gelegentliche Sprechen eines Gottes beschreibt, sondern die feierliche Legitimation eines menschlichen Boten ausdrückt. Schließlich aber haben die nach dem Muster der Gattung strukturierten Einheiten der Rede und Schrift ebenfalls ihr Eigenleben und ihren Eigensinn. Jede Überlieferung hat eine Ausdrucks- und eine Vorstellungsseite und einen Sachbezug, der über das in den benutzten Einzelsätzen Ausgesagte hinausgeht. (Die antike Zeichentheorie ist von der Redeeinheit [ oratio], nicht vom Wort her entworfen worden.) Der Verweisungszusammenhang einer Profezeiung z. B. erschließt sich erst, wenn man den Lagehinweis, also die Gegenwartsaussage, und die Unheilsweissagung, also das Zukunftswort, zusammen hört. Erst durch die Verkoppelung beider ist die Bedeutung des Spruches verstanden. Die Zusammenfügung von Wörtern zu Sätzen, also die Satzstruktur, hat nicht den gleichen strikten Zwang wie die Wortstruktur. Noch mehr Spielraum bietet die Gattungsstruktur der individuellen und "situativen" Verwendung. Nichtsdestoweniger sind Strukturen auf allen Ebenen nachweisbar. So gibt es also Zeichenhaftigkeit der Sprache auf drei verschiedenen Ebenen, der des Wortes, des Satzes und der Überlieferung, wobei die jeweils umfassendere Ebene mehrere Zeichen der begrenzteren Ebene in sich einschließt. Es läßt sich also von einem System von Rahmenund Gliedzeichen sprechen, um eine Ausdrucksweise zu benutzen, die der formgeschichtlichen von Rahmen- und Gliedgattungen (o. § 2D) nachgebildet ist.
Semantik
299
Bei den bisherigen Überlegungen zu den Sprachebenen wurde primär die sprachliche Gestalt, die bedeutende Ausdrucksseite betrachtet. Doch haben alle Ebenen auch eine Seite des Bedeuteten, der Vorstellung und des Vorstellungszusammenhangs. Dieser Seite spürt die Semantik nach, deren sprachwissenschaftlichen Theorien wir uns nunmehr zuwenden. Da es dem Theologen letztlich nicht um die Struktur von Wörtern, sondern um Wahrheit oder Unwahrheit einer bestimmten Rede von Gott, besonders der in Wörtern ausgesprochenen christlichen Botschaft geht, wird jener Zweig der Linguistik für ihn interessant, der sich von den bedeutenden Lautgebilden der Sprache hin zu ihren bedeuteten Vorstellungsinhalten wendet, nämlich die Semantik, die Lehre von den Bedeutungen der Sprache, in engerem Sinn des Bedeuteten, d. h. des intendierten gedanklichen Inhalts. Seit Theologen sich auf die Heilige Schrift berufen haben, hat es auch semantische Überlegungen zu einzelnen ihrer Begriffe gegeben, die jedoch selten methodisch begründet waren. Semantische Untersuchungen zur biblischen Literatur haben heutzutage nach Regeln zu geschehen, die für andere Literaturen in gleicher Weise gelten. Ist doch das Hebräische des Alten Testaments ebenso wie das Koinegriechisch des Neuen zugleich eine Alltags- und Umgangssprache gewesen. Also ist der Exeget auf Zusammenarbeit mit den Sprachwissenschaftlern angewiesen, wo allerdings die Methoden der Semantik meist ebenso stiefmütterlich behandelt werden wie in der Theologie. Die sprachwissenschaftliche Semantik befaßt sich zumeist mit Gegenwartssprachen. Die Aufgabe des Exegeten ist demgegenüber grundsätzlich schwieriger. Wer gegenwärtige Sprachen untersucht, kann nämlich sein eigenes Sprachgefühl oder dasjenige zuverlässiger sprachkundiger Informanten zu Hilfe nehmen und dadurch seine Hypothesen verifizieren. Das ist deshalb bei semantischen Untersuchungen von Belang, weil zwar die lauthafte oder schrifthafte Ausdrucksseite der Sprache unmittelbar beobachtet und gemessen werden kann, die Vorstellungsseite dagegen nie eindeutig zutage liegt. Für den Exegeten entsteht dadurch eine Schwierigkeit, daß das Bibelhebräische wie Koinegriechische tote Sprachen sind (insofern der Wortschatz, Wort- und Satzparadigmen des modernen lvrit oder Neugriechischen sich von dem der alten Sprachen weit entfernt haben). Die Probleme des neutestamentlichen Sprachgebrauches sind besonders vielschichtig, weil bei fast allen neutestamentlichen Schriften ein semitischer, besonders aramäischer Einfluß oder gar eine aramäische Vorlage mehr oder minder stark durchschlagen. Für weite Strecken ist die Semantik neutestamentlicher Lexeme nur zu erheben, wenn zugleich die zugrunde liegenden aramäischen Worte oder Wendungen semantisch untersucht werden. Dafür fehlen noch die primitivsten Hilfsmittel (z. B. eine vergleichende aramäische Grammatik, Konkordanzen u. a.). Bei den im
300
Linguistik und Formgeschichte
folgenden angeführten Beispielen wird deshalb eine Beschränkung auf das alttestamentliche Hebräische vorgenommen. Die semantische Aufgabe stellt sich zunächst auf der Wortebene. Lesen wir einen Satz wie kö 'amar jahwä, sehen wir im Lexikon nach und entdecken, daß kö auf deutsch "so", 'amar meist "sagen" heißt und "Jahwä" der Eigenname des Gottes Israels ist. Wer einen Satz wie diesen genauer interpretieren möchte, trachtet danach, dem Bedeutungsumfang seiner Hauptwörter, vor allem der religiös getönten Substantive eingehender nachzugehen. Leidvolle jahrhundertelange exegetische Erfahrung führt zu dem Verdacht, daß kein einziges Wort des Bibelhebräischen der Wiedergabe durch ein Wort moderner Sprachen exakt entspricht. Selbst eine so einfache Bedeutungseinheit wie bän entspricht nicht durchgängig dem deutschen "Sohn", weil im Deutschen der biologische Aspekt beim Gebrauch dieses Wortes vorherrscht, während die hebräische Vokabel zugleich auf Vereinzelung verweist i~~-pl ("ein Stück Rindvieh"), auf Abhängigkeit (~,~rP~ "Jünger eines Profeten") und Repräsentation (l:l'!fl~ "Menschensohn"). Trotz gleichen Bedeutungskerns sind die Konnotationen, die begleitenden Assoziationen, für den Hebräer andere als für den Deutschen. Die normalen Lexika aber sind auf quantitative Entsprechungen hin angelegt, d. h. sie trachten danach, ein hebräisches Wort durch ein deutsches wiederzugeben und notfalls mehrere Bedeutungsarten zur Wahl stellen, die jeweils wiederum nur ein Wort als Aquivalent zum hebräischen Sprachgebrauch bietet. Für eine genauere Exegese ist das ein ungenügendes V erfahren. 1. Etymologie, Metaphorik, Wortfamilie
über die Lexika hinaus stehen auf dem Feld biblischer Literatur sog. theologische Wörterbücher zur Verfügung. Sie verfahren bei der Darstellung hebräischer oder griechischer Begriffe meist nach bestimmten sprachwissenschaftlichen Verfahrensweisen des vergangeneu J ahrhunderts, wobei die Etymologie den Anfang aller Untersuchungen bildet. Schlägt man z. B. für die genaue Bestimmung des Wortes Jahwä das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 3, auf, so findet man dort Seite 1065-1067 "Form- und Wortsinn des Namens Jahwes". Zunächst werden verschiedene Ausdrucks- und Aussprecharten verhandelt, dann das Wort als "Nomen mit präfigiertem jod" erklärt und auf eine WOrtwurzel hwh zurückgeführt "die weniger im Hebräischen als im Aramäischen zuhause zu sein scheint". Im Aramäischen gibt es aber zwei Bedeutungsarten der Wurzel, nämlich a) fallen, b) sein. Ist jhwh der, welcher "fällt", so könnte der Blitz oder der Meteorstein gemeint sein, und die Sphäre eines Gewittergottes wäre gegeben. Kommt aber "sein" in Betracht, "so könnte jhwh so etwas wie der ,Seiende' oder das Sein in Person bedeuten, was indes viel zu
Semantik
301
abstrakt ist". Fazit: "Der Befund lehrt, daß schlechterdings nicht mehr einwandfrei festzustellen ist, was jhwh heißt." - Das Vorgehen ist charakteristisch für die Weise, wie viele Exegeten semantische Untersuchungen durchführen. Die einzige sichere Methode, die sie kennen, ist die Etymologie, d. h. ein Rückschlußverfahren mittels Beiziehung der Lexika anderer verwandter Sprachen (hier des Aramäischen) auf einen in der Vorgeschichte anzusetzenden Ursinn, der als "Grundbedeutung" möglichst primitiv und gegenständlich anzusetzen ist ("sinnliche Grundbedeutung"), weswegen hier die abstrakte Bedeutung von vornherein abgelehnt wird. Aus der Grundbedeutung hat später sich eine kompliziertere Gedankenbildung als Bedeutungserweiterung oder Bedeutungsverengung (so vielleicht im Falle Jahwä) entwickelt. Nun ist der Vergleich mit den altorientalischen semitischen Nachbarsprachen bei einer Wortuntersuchung in der Tat unerläßlich, denn das uns erhaltene Sprachmaterial des Hebräischen ist viel zu dürftig, um für semantische Untersuchungen auszureichen. Aber die einlinige Ableitung einer Grundbedeutung ist rein spekulativ und übersieht, daß den Sprachbenutzern in alttestamentlicher Zeit die Grundbedeutung - falls es sie je gegeben hat - längst entschwunden war und nun innerhalb des alttestamentlichen Sprachgebrauchs ein verschiedener Bedeutungsumfang für den Gottesnamen anzusetzen ist, und zwar je nach Epochen und je nach dem, ob Jahwä in einem Bedeutungsfeld auftaucht, wo er dem Hochgott El bei- oder gar untergeordnet ist (Dtn. 32, 8-10; Ps. 82) oder ob der Name so sehr tabuisiert ist, daß ihn nur noch der Hohenpriester bei großen Festen gebrauchen darf, wie es im späten Israel seit 200 v. Chr. der Fall war. So bleibt für die Klärung des Wortsinns von der etymologischen Methode so viel übrig, daß jedes zu untersuchende Wort in dem Zusammenhang, der durch gleiche oder ähnliche Lautkombination deutlich markierten Wort f a m i 1i e einzustellen ist. Wenn im Hebräischen nun das Wort salom, was ungefähr im Deutschen "Frieden" bedeutet, untersucht wird, spielt die Bedeutung des Adjektivs salem ebenso eine Rolle wie der Opferterminus säläm. Gerade das semitische Wortwurzelbewußtsein läßt vermuten, daß der paradigmatische Zusammenhang von Wortfamilien viel stärker bei Sprechern und Hörern verankert war, als in modernen Sprachen, wo z. B. deutsch "vergehen" mit "gehen" wenig zu tun hat. Der axiomatischen Behauptung, daß eine sinnliche Grundbedeutung als ursprünglicher Ausgang der Wörter aufzusuchen ist, entspricht die Neigung, dem metaphorischem Gebrauch hebräischer und griechischer Ausdrücke einen weiten Raum bei der Bedeutungsbestimmung einzuräumen und einen eigentlichen von einer uneigentlichen, übertragenen oder bildliehen Verwendung der Wörter scharf abzusetzen. Nun besteht kein Zweifel, daß es Metaphern in jeder Sprache gibt, d. h. den
302
Linguistik und Formgeschichte
Gebrauch eines Wortes in einer anderen als der ihm von ·der Sprachkompetenz her zukommenden Bedeutung, genauer vielleicht die Vereinseitigung einzelner Bedeutungszüge bei der Benutzung eines Wortes. Wenn ein Dichter von Wolken am Himmel als "Segler der Lüfte" spricht, weiß jedermann, der der deutschen Sprache mächtig ist, daß ein Segler zur Schiffahrt gehört und nicht in der Luft schwebt, daß also eine Reduktion des Wortsinns auf "vom Wind getrieben" mit ästhetischer Konnotation vorauszusetzen ist. Bei Fremdsprachen aber, insbesondere bei toten, ist es schwierig, eigentlichen und übertragenen Gebrauch sicher zu unterscheiden, wenn nicht ausgiebige diachronische Untersuchungen vorausgehen. Die Sprachwissenschaftler aber, die für unsere alt- und neutestamentlichen Wörterbücher Pate standen, haben sich die Sache leichter gemacht. Vom etymologischen Postulat der sinnlichen Grundbedeutung aus, wurde kurzerhand alles für metaphorisch erklärt, was nicht der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich zu sein scheint. Ein Beispiel dafür ist das hebräische näfäs, das jahrhundertelang mit "Seele" übersetzt wurde, bis man entdeckte, daß das gleiche Wort in seiner akkadischen Form napistum gelegentlich "Kehle" bedeutet. Also wurde flugs als Grundbedeutung "zum Atem geöffneter Schlund" postuliert (KBL s. v.) und Seele erscheint als abgeleiteter, übertragener Gebrauch. Hier fragt sich aber, ob angesichts des Tatbestandes, daß napistum auch "Leben, Seele" schon viele Jahrhunderte vor dem Alten Testament bedeutet, die Grundbedeutung- falls von einer solchen geredet werden darf - je bloß einen Körperteil und nicht von vornherein "Schlund als Lebenszentrum" umfaßt hat. Selbst wenn hier ein Vorher und Nachher auszumachen wäre, liegt die Übertragung ein Jahrtausend vor Beginn des hebräischen Schrifttums, und es ist nicht mehr berechtigt, auch für das Hebräische "Kehle" als erste Bedeutungsart zu konstatieren (so KBL). Insbesondere bei theologisch belangvollen Vokabeln spielt es eine Rolle, ob eigentlicher oder uneigentlicher Gebrauch angesetzt wird. Rühmt der Psalmist, daß Jahwäs rechte Hand voll ist von ?ädäq (meist "Gerechtigkeit" übersetzt, Ps. 48, 11), so gilt als ausgemacht, daß sowohl die "rechte Hand" wie ?ädäq als ihr Inhalt bildlich gemeint sind. Wo liegen die Kriterien für die Richtigkeit einer solchen Einschätzung? Ist es undenkbar, daß ein Psalmist seinen Gott im Himmel sich tatsächlich mit einer riesigen Hand und ?ädäq als eine himmlische raumhafte Wirkungsgröße (s. meinen Artikel i''J~ in THAT II) vorgestellt hat? Auf die Gefahr leichtfertiger Behauptung von metaphorischem Gebrauch sei jedenfalls hingewiesen, zumal manche Exegeten belieben, möglichst viel zur Metapher zu erklären, was, wenn wörtlich begriffen, ihren eigenen theologischen Denkbahnen widerspricht; ein Umstand, der insbesondere beim Streit um mythische Vorstellungen in der biblischen Literatur oftmals den Ausschlag gibt. Bei der Untersuchung biblischer Wörter ist von dem Grundsatz auszugehen, daß möglichst alles "eigentlich"
Semantik
303
zu verstehen ist, was wörtlich begriffen werden kann. (Einige nützliche Erwägungen darüber hinaus bei M. WEiss: Methodologisches über die Behandlung der Metapher, ThZ 23, 1967, 1-25).
2. Synonyme, Wortfeld Wo Linguisten sich mit Bedeutungslehre beschäftigen, setzen sie voraus, daß Sprache auch auf der Seite des Bedeuteten, der Vorstellungen, ein verflochtenes System darbietet. Ausgegangen wird bei der Untersuchung von denjenigen Morphemen, die den Kern eines selbständigen Worts bilden können, von den sogenannten Lexemen. Was ein Lexem beinhaltet, steht nicht beliebig neben demjenigen eines anderen Lexems. Vielmehr belegt die Sprachgemeinschaft ihre gesamte reale und mentale Umwelt, soweit sie den Menschen wesentlich erscheint und also ein Unterscheidungsbedürfnis besteht, mit gesonderten Wörtern, und zwar so, daß ein Wortinhalt sich möglichst an den anderen anschließt, indem ein bestimmter Sinnbezug neu dazu tritt, ein anderer ausgeschlossen wird. Natürlich gibt es, da die Sprache ein lebendiges Ganzes ist, eine Vielzahl von Überschneidungen und eine unübersehbare Neigung zu Ober- und Unterordnungen. Während das Lexikon im direkten Zugriff eine WOrtbedeutung setzt, geht die Semantik vorsichtiger und mittelbarer vor, versucht von benachbarten und entgegengesetzten, umschließenden und einbegriffenen Vorstellungen her die Bedeutung eines Lexems gleichsam einzukreisen. Ein altes Mittel für diesen Zweck ist die Ermittlung von Synonymen, die Gleichbedeutendes ausdrücken. Man sucht syntagmatische Verbindungen, in denen das gesuchte Wort durch ein anderes der gleichen Wortart austauschbar ist. Konstruieren wir drei Sätze, die für alle Zeiten der hebräischen Literatur möglich sind: Der Priester ging in den mn~ n~~ (etwa "Jahwähaus"). Der Priester ging in den ?~~r! (etwa "Gottespalast"). Der Priester ging in den tdJi' (etwa "Heiligtum"). Der Sinn ist in allen Fällen (ungefähr) derselbe. Das erlaubt einen paradigmatischen Querschnitt: Jahwähaus entspricht Gottespalast entspricht Heiligtum. Dabei ist im einzelnen die Konnotation verschieden. Der Ausdruck Haus(Ji~~) bringt den Tempel auf die gleiche EbenE wie die Wohnung eines freien Bürgers, der Ausdruck "Palast" (?~~m vergleicht den Tempel nur noch mit der Wohnung eines Königs. Der Geltungsbereich von "Heiligtum" schließlich ist auf die Gottheit beschränkt, wenngleich er Bedeutungsbezüge zu einem anderen Paradigma hat, das wir mit dem modernen Begriff "Kult" umschreiben können. Er bedeutet nämlich auch die Qualität von bestimmten Zeiten (Festtagen), Tierriten (Opfern), wofür die beiden anderen Wörter schlechterdings nicht in Betracht kommen.
304
Linguistik und Formgeschichte
Diese Erkenntnisweise wird verfeinert durch die Theorie vom Wortfe 1d, von der inhaltlichen Begrenzung eines jeden Wortes für einen bestimmten Sinnbereich durch ein benachbartes. Berühmtes Beispiel sind die Farbenbezeichnungen im Deutschen von weiß über gelb usw. bis zu schwarz (für das Hebräische: R. GRADWOHL: Die Farben im AT, BZAW 83, 1963). Es gibt von den dazugehörigen Wörtern nur eine endliche Anzahl, die in ihrer Gesamtheit ein Bedeutungsfeld für das Unterscheidungsbedürfnis der Sprachgemeinschaft erschöpfen. Freilich gibt es Lebensbereiche, in denen genauere Differenzierungen notwendig werden, und so werden, mehr oder weniger sondersprachlich, Zwischentönungen im Deutschen mit Lehnwörtern wie orange, rosa, lila, oder Komposita wie gelbgrün unterschieden. Zur Erkundung der Synonyme tritt die Suche nach gegensätzlichen Wörtern, nach Antinonymen. So läßt z. B. für "Priester" in der christlichen Kirchensprache sich leicht ein polarer Gegenbegriff "Laie" ermitteln, der in der modernen Wissenschaft- und Techniksprache einerseits zum Antinonym für "Fachmann, Wissenschaftler" geworden ist.
3. Alttestamentliche Beispiele Paradigmen mit synonymen und antinonymen Bezügen lassen sich in den nahöstlichen Sprachen des Altertums besser verifizieren als in modernen Sprachen, weil für poetische Überlieferungen der Gedankenreim des parallelismus membrorum (oben§ 8A) vorherrscht. Häufig tauchen gleiche Wechselglieder in parallelen Syntagmen auf. Durch Formalisieren solcher Wortpaare, über die Erscheinung bei einer individuellen Einheit oder einem einzigen Schriftsteller hinaus, ergeben sich Merkmalkombinationen, die vielleicht für die Bedeutungsstruktur hebräischer Sprache überhaupt aufschlußreich sind. Greifen wir ein Beispiel aus der Gattung der Seligpreisungen (oben§ 1B) heraus, den Anhang des 1. Psalms. Zitiert wird in deutscher Übersetzung unter Benutzung des Lexikons. Das erweckt den Anschein, als ob das semantische Probleme schon geklärt sei. Es ist deshalb angebracht zu betonen, daß diese Übersetzung möglicherweise mehr abendländische Vorurteile über den Text als ursprüngliche Bedeutungen im Text wiedergibt. Um des summarischen Vorgehens willensei solche grobe Vereinfachung erlaubt.
Semantik
305
Selig der Mann, der a
b
nicht geht
in die Ratsversammlung
b1 I
und auf den Weg b2 und 1am Platz 1
c
der Frevler a1
Cl
I
der Sünder
nicht tritt
C2
der Spötter
1 nicht
sich niedersetzt 1
Das Trikolon zeigt drei Kombinationen von Wechselgliedern, die hier individuell zusammengestellt wurden, bei denen aber gefragt werden kann, ob ihre Zusammenreihung nicht einem Bedeutungsparadigma der Sprache, mindestens der hebräischen poetischen Kompetenz, entspringt. Sobald bei solchen Wechselgliedern sich ergibt, daß ihre Verbindung in der hebräischen Sprache stehend ist, läßt sich von einem Wortfeld reden (dazu muß selbstverständlich auf den hebräischen Urtext zurückgegriffen werden). Greifen wir die c-Reihe heraus, weil sie "theologisch" gefärbt· ist und weil hier die Unklarheiten am größten sind. "Frevler" ist eine moderne Wiedergabe, die Bibelübersetzungen setzen für c durchweg "der Gottlosen"; was ist richtig? "Sünder" (c1) paßt so haargenau zu Anschauungen der christlichen Dogmatik, daß schon von daher die Angemessenheit für vorchristliche Texte zweifelhaft erscheint. Für ein echtes Wortfeld scheidet lesim "Spötter" (c2) aus; es taucht nur hier im Psalter auf, gehört sonst zur weisheitliehen Poesie, wo es im Buch der Proverbien mit anderen Wechselgliedern zusammensteht. Anders steht es um r•sa'im (c) und batta'im (c1), das Paar taucht im gleichen Psalm noch einmal auf (V. 5), was für sich genommen nicht zählt, weil es sich um eine situative, d. h. dem Einzeltext und seinem Anliegen entspringende Verwendung handeln könnte. Doch gibt Ps. 104, 35 einen Beleg aus einer anderen Gattung (unter Umstellung c1-c). Das Glied batta'im (e1) taucht Ps. 51, 15 als Wechselglied zu einem anderen Wort, dem Partizip pos•'im, was hier einmal mit "die sich Empörenden, die Empörer" übersetzt sei, ein Wort, das Ps. 37, 38 seinerseits parallel zu r•sa'im erscheint(Jes. 1, 28). Es läßt sich nachweisen, daß die zwei Adjektive r•sa'im und batta'im sowie das Partizip pos•'im mit den entsprechenden Verben (ungefähr "freveln, sündigen, sich empören") und den dazugehörigen Substantiven räsa', batta't, päsa' ("Frevel, Sünde, Empörung") eng zusammengehören, die gleichen Wortreihen auch bei diesen Wortarten auftauchen, so daß die Wortwurzeln in diesem Fall als Lexeme anzusehen sind und ein Wortfeld :Vtdi-N~M-:Vtt/S ZU konstatieren ist. rs' steht in der Regel
Linguistik und Formgeschichte
306
voran und ist wohl als umfassendere Bedeutung anzusetzen, in die die beiden anderen inbegriffen sind. Die drei Glieder sind weithin austauschbar, also enthält die Bedeutung des einen diejenige des anderen. In seiner antithetischen Form bietet der hebräische Gedankenreim weitere Möglichkeiten, Wortpaare und -reihen zu formalisieren, und diesmal zu Wortfeldern zu gelangen, die die entsprechende Gegenüberstellung einschließen. Der Schluß des eben zitierten ersten Psalms heißt: a
b
Jahwä
kümmert sich um
c den Weg der Gemeinschaftstreuen, Cl
aber 1der Weg der Frevler 1
geht unter
Der entgegengesetzte Gedanke, die poetisch geforderte Antithese wird einerseits durch die Verben b), zum anderen durch den Wechsel des Subjekts (c1 ersetzt ein a1) und schließlich durch die Wendung c und Cl gegeben, die uns hier beschäftigen soll. Sie erscheint eingebettet in die Konstruktus-Verbindung mit "Weg" ('l\J:=!) und wird getragen von dem Gegensatz zwischen rasa' (c1), was behelfsmäßig mit "Frevler" wiedergegeben wird, und einem Gegenbegriff ~addfq (c), den man meist "Gerechter" übersetzt und der aus verschiedenen Gründen besser "Gemeinschaftstreuer" wiedergegeben wird (s. meinen Artikel i':J~ THAT II). Ein Blick in die Konkordanz ergibt, daß das Gegensatzpaar ~addiq-rasa' stehend gebraucht wird (Ps. 7, 1o; 11, 5; 34,22 u. ö.). Doch finden sich als Antinonyme auch rasa' und ~asfd "der Treue" (Ps. 37, 28), was sich seinerseits synonym zu ~add!q findet (Ps. 145, 17). Noch häufiger taucht synonym zu ~add!q das Wort jasar "Redlicher, Gerader" auf (Ps. 33, 1; 112, 4 u. a. mit gelegentlichem Unterschied zwischen Singular beim einen, Plural beim anderen Wechselglied, was vernachlässigt wird), das wiederum ebenfalls gegensätzlich ZU rasa' belegt ist (Prv. 14, 11; 15, 8 vgl. Ps. 37, 14). Durch die Herbeiziehung der Substantive der jeweiligen Wortfamilie ließe sich das Ergebnis stützen, das summarisch gewonnen werden mußte. So legt sich für die Psalmensprache, d. h. für die Sprache des Jerusalemer Kultes quer durch die literarischen Gattungen, ein Wortfeld nahe, das offenbar für jeden Sänger und Hörer selbstverständlich war. Die Linie- soll sinnverwandte, der Pfeil -+ polare Bedeutungsverbindung anzeigen:
$aJdiq (Gemeinschaftstreuer)
rasa' (Frevler)
jasar (Redlicher)
~atta'
~asid
posea' (Empörer)
I
(Treuer)
I
I
(Sünder)
Semantik
307
Das Wortfeld gehört zunächst einer kultischen Sondersprache zu. Durch Ausweitung der Untersuchung wäre zu prüfen, ob diese Bedeutungsstruktur für die hebräische Sprache allgemein gilt. Beide Seiten haben gemeinsame semantische Merkmale, die nicht durch ein Wort zu erfassen sind, sondern mit Umschreibungen (wozu weitere semantische Untersuchungen nötig sind). Auch Bezüge der Unter- und Oberordnung, der besonderen Einschließung (Inklusion) eines Wortes mit geringerem Bedeutungsumfang in ein umfassendes, lassen sich aus stereotypem Sprachgebrauch erschließen. Vor allem Aufzählungen, die in verschiedenen literarischen Schichten zu belegen sind, geben eine Hyponomie, eine Rangordnung der Vorstellungsgehalte zu erkennen. Stellen wir drei Sätze aus verschiedenen Literaturbereichen untereinander: Versammle den 'am ("Volk"), die Männer, die Frauen und tap (das Kind, sing.) und den Schutzbürger. Dtn. 31, 12. Jonathan nahm den Rest des 'am . .. die Männer des Kriegs, die Frauen, fap und die Eunuchen ... Jer. 41, 16 . . . . zu vernichten die Macht des 'am und die Stadt, die sie befeindet hat, (mit) dem fap und den Frauen. Est. 8, 11. Daraus läßt sich ein Bezugsverhältnis erschließen 'am
Männer (pl.)_________--;::eJ
(~Kind (sg.).
Von den Schriftstellern wird das Schema situativ abgewandelt; Est. 8 sind die Männer durch die "Befeindenden" ersetzt. Oder es wird erweitert (durch Schutzbürger, Eunuchen). Dennoch verbirgt sich dahinter eine Verkoppelung, die für den sprachkundigen Hebräer selbstverständlich war. 'am schließt notwendig zu einem bestimmten Zeitraum die Vorstellung von Männern, Frauen und Kindern ein. Hinter einer solchen Einschließung steckt eine gewisse Logik, die der Sprache eigen ist. Doch ist damit noch nicht eine schulmäßige philosophische Logik vorauszusetzen. Dem widerrät schon die verschiedene Anwendung des Plural- oder Singularmorphems bei den inkludierten Worten. Der gemeinsame Gehalt eines solchen Feldes läßt sich durch einen semantisehen Marker umschreiben, der durch Angabe mit runden Klammern vermerkt wird und mit möglichst allgemeinen Begriffen beginnt, also in diesem Falle mit (menschlich). Das Gemeinsame läßt sich näher beschreiben, indem die Kontextverhältnisse einbezogen werden. Es ergibt sich dann ein Gesichtswinkel, der (kultisch-militärisch) ausgerichtet ist. Deshalb zählen die Kinder nicht als einzelne, und die Erwachsenen werden nach dem Geschlecht getrennt. Also wird (geschlechtlich und altersmäßig unterschieden) die Inklusion zu 'am hergestellt.
308
Linguistik und Formgeschichte
Dabei können die Glieder eines Wortfelds zugleich anderen Wortfeldern zugehören, die gleichsam quer zur Reihe des ersten Wortfelds liegen. So findet sich hebräisch ein Wortfeld der Lebensalter vor, dem das Wort tap ebenfalls zugehört, aber da häufig in Antithese zu "Greis" (ii?.P· 4. Weitere semantische Begriffe
Die Einteilung der semantischen Marker ist bei den Linguisten noch ziemlich grob und geschieht wie bei einem Spiel, wo ein Gegenstand zu erraten ist. Normalerweise wird mit dem Begriffspaar abstrakt konkret (oder: mentales-physisches Objekt) begonnen, dann über lebendig - nicht lebendig, menschlich - tierisch - pflanzlich, männlich - weiblich - geschlechtsneutral die Reihe heruntergeführt. Dabei ist freilich zu bedenken, daß die uns Abendländern selbstverständlichen Unterscheidungen nicht auch diejenigen des Hebräers sein müssen, der z. B. Sterne als belebt, Pflanzen aber wahrscheinlich als unbelebt eingestuft hat. Jedes Lexem gehört einem Feld von stehenden Wortassoziationen zu, oft auch mehreren solcher Felder, was durch eine Untersuchung von breitgestreutem sprachlichen Material zu erheben ist, indem es nach dem Gesichtspunkt der Austauschbarkeit von Wörtern in einem Syntagma und der Erkundung der Synonyme, Antinonyme, Hyponyme und Wortfelder gefiltert wird. Die Wortfelder der Lexeme haben meist keine lautlichen Gemeinsamkeiten, verraten sich also nicht auf der Seite des bedeutenden Ausdrucks. Infolgedessen wechseln diachronisch gesehen die Vorstellungsbezüge schneller als die Lautgestalt. Dennoch bestehen feste Verkoppelungen zur Morphemebene. Das zeigt sich gelegentlich bei inhaltsweisenden Affixen (das Suffix -aml-om hebräisch für Zeitausdrücke z. B.). Was zu einem Wortfeld gehört, erscheint gleichmäßig in derselben Wortart, bevorzugt dieselben Morphemverbindungen bei der Flexion und tritt syntaktisch in gleichem Zusammenhang auf. Viel stärker als die Morphemausdrücke gehören die Lexeme dem sondersprachlichen Bereich zu. Bedeutungsverwandte und bedeutungsentgegengesetzte Wörter sind meist unmittelbar benachbart und deutlich · abgegrenzt nach den Bedürfnissen des Lebensbereiches, etwa der Landwirtschaft, des Handels, der Rechtsübung oder des Kultes. Damit aber gerät die Semantik auf ein Gebiet, das formgeschichtlich durch den Bezug von Gattung und Sitz im Leben, von Sondersprache als Quellort verschiedener Gattungen und Lebensbereich mit institutionell geordneten Sitzen im Leben bearbeitet wird. Auch die Linguistik entdeckt, daß semantische Gehalte eng mit einem typischen außersprachlichen Kontext verbunden sind. Danach
Semantik
309
richten sich die Bedeutungsabwandlungen beim gleichen Wort. Unterschiedlich werden: a) der Gefühlswert eines Wortes; die Konnotation für "Schwalbe" im Liebesgedicht ist eine andere als in einer zoologischen Vorlesung; b) der semantische Ge 1tun g s b er eich ; "Englisch" im Munde von Schulkindern bedeutet anderes (sprachlich) als in einer Zeitungsmeldung (national); c) die Verwendung in Spezi a 1b er eichen, Fachsprachen führt zu begrifflichen Fassungen, die sich vom Sinn in der übrigen Sprache u. U. weit entfernen. ULLMANN (S. 60) sieht im Bezug zu solchem Kontext für die synchrone Bedeutung eines Wortes die bestimmende Kraft. Eine wünschenswerte Unterstreichung der Einsicht, daß "Begriffsgeschichte" auf alt- und neutestamentlichem Feld ohne Zugrundelegung von Gattung und Sitz im Leben kein zuverlässiges Ergebnis abwirft (oben§ 9C)! Im übrigen darf darauf verwiesen werden, daß die Kontextrelation oft einen sicheren Bezug zu einer außersprachlichen Sache für ein Wort erschließen läßt, was bei semantischen Untersuchungen einer fremden, gar toten Sprache ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel bietet. Durch die Zusammenstellung eines Wortes mit verwandten oder entgegengesetzten Wörtern der gleichen Wortfeldstruktur ist die Bedeutung nur sehr ungefähr zu ermitteln, genauer nur dann, wenn die benachbarten Worte im Feld eindeutig bestimmbar sind. Sind aber die übrigen Worte ebenfalls unsicher in ihren Konnotationen, wird sich auf der Wort-Ebene durch reinen Vergleich noch nicht die sichere Bedeutung ermitteln lassen.
5. Satz- und Gattungssemantik Semantik ist deshalb auch auf der Ebene der Syntagmen und Sätze nötig. Die Bedeutung eines Wortes ist nicht nur in die Struktur eines Feldes der gleichen Wortart eingebaut, sie hat auch Bezüge zu Wörtern anderer Art. Wie deutsch das Verb "bellen" mit der Vorstellung "Hund" zusammengehört und umgekehrt, so im Hebräischen "Löwe" (i!n~ u. ä.) mit sa'ag, was das eigentümliche Gebrüll dieser Tierart meint (und nicht für das Brüllen eines Stieres verwendet wird). Ein theologisch interessantes Beispiehst die Verbindung von hebräisch bara' (gemeinhin "schaffen" wiedergegeben) mit einem göttlichen Urheber. Es kann nie für menschliches Schaffen benutzt werden. Der Satz jhwh bara' tritt aber nicht isoliert auf, sondern hat notwendig ein Objekt, das seinerseits nicht beliebig gewählt wird, sondern zuerst die Menschen meinen kann, nicht als einzelne, sondern als Gattung, dann für menschliche Existenz belangvolle positive Größen der Umwelt. Der Semantiker redet in solchen Fällen von Sinnkoppe 1u n g oder einem Worthof. Meist bildet dabei ein Verb das den Bedeutungsumfang ausgrenzende Lexem, so daß beim Verb die Se 1e k t i-
310
Linguistik und Formgeschichte
o n s b es c h r ä n k u n g vermerkt wird, was mit spitzen Klammern geschieht. Das letzte Beispiel wäre also zu umschreiben: bara' < göttlicher Urheber, für menschliche Existenz positiv wichtige Umweltgröße als Objekt>. Der Sprachgebrauch läßt weiter feste Bezüge hinter Wörtern der gleichen Wortart erkennen, die nicht einem einlinigen Wortfeld zuzuordnen sind. Oben war auf ein Wortfeld verwiesen, das durch das Gegensatzpaar rasa'-~addiq als umfassendste Bedeutungen angeführt wurde. Dabei ist im Zitat Ps. 1, 6 Jahwä kümmert sich um den Weg der Gemeinschaftstreuen I aber der Weg der Frevler geht unter der Ausdruck Weg (':1':):;1) als eine die Antithese überspannende Bezugsgröße für den Sinn des Satzes wichtig. Die Rolle der Wegvorstellung läßt sich am Eingang des Psalms in der Koppelung der sonst mit Weg eng verbundenen Verben gehen (:j'7i1) und treten (10:!]) mit "Frevler" und "Sünder" (s. die oben angeführte Seligpreisung) erkennen. Ahnliehe Verbindungen lassen sich aus anderen Psalmen belegen. Jahwä krümmt den Weg der Frevler (C''J;~;! "i:l:l). Ps. 146, 9. Wälze auf Jahwä Deinen Weg . .. und es ~ird"hervorgehen wie Licht Deine Gemeinschaftstreue (~Q~l~). 37, 5 f. Jahwä, leite mich in Deiner Gemeinschaftstreue(.;jr:)i?-1~), mache eben vor Dir Deinen Weg. Ps. 5, 9. Redlich (jasar) ist Jahwä, deshalb weist er den Sündern (C~~~tl) den Weg .. .er lehrt die Demütigen seinen Weg. Ps. 25, 8 f. Die Frevler (C~l;lP!) ... bahnen mit dem Bogen den W eg(~~i'J) ... sie schlachten, die redlich an Weg sind (':\:11-~j!U;). . Ein Worthof taucht auf, der durch die Zuordnu~g der ungenau mit "Weg" übersetzten Vokabel ';jj:! zum Wortfeld, das mit dem Gegensatzpaar ~addiq-rasa' eingefüh~t wird, bestimmt ist, aber auch durch einen Bezug der in "Jahwä" liegenden Gottesvorstellung zu diesem Gegensatzpaar über die Wegvorstellung. Was die hebräischen Aquivalente zu gemeinschaftstreu, redlich, frevlerisch, sündig näher bedeuten, läßt sich erfassen, wenn man beachtet, daß sich für hebräisches Sprachgefühl unmittelbar ein Bezug der Wörter zu däräk aufdrängt, was dann ungefähr "die durch habituelles Verhalten geprägte individuelle Lebensgeschichte" beinhaltet (s. ThWAT s. v.). däräk ist also eine Art semantischer Marker in einem Worthof, der das obige Wortfeld einbegreift. Andererseits läßt sich aber däräk - ob als "Weg" oder als "individuelle Lebensgeschichte" - nicht denken ohne Assoziationen an den däräk Jahwäs, der seinerseits menschlichen däräk einbegreift, sofern dieser gemeinschaftstreu bestimmt ist, andererseits sich mit ihm auseinandersetzt, wenn er negativ verläuft. Durch Herbeiziehung weiteren alttestamentlichen und altorientalischen Materials ließe sich der Worthof wesentlich genauer umgrenzen. Gewöhnlich teilt ein Sprecher/Schreiber dem Hörer/Leser nicht ein
Semantik
311
vereinzeltes Wort mit, sondern einen wörterübergreifenden Text. Nicht derjenige versteht schon eine Sprache, der die Bedeutung einzelner Wörter und Wortfeldstrukturen kennt. Die Fähigkeit zur Kombination von Bedeutungslinien ist nötig; denn die Bedeutung eines Satzes ist mehr als die seiner einzelnen Wörter zusammen. Ein Wort hat nur eine Bedeutung, Sätze oder Überlieferungseinheiten haben einen Sinn. Zum Begreifen der Sprache gehört die Einsicht, daß ein Wort bisweilen nicht durch ein benachbartes aus dem gleichen Wortfeld ersetzt werden kann, weil ein solches nicht vorhanden ist, wohl aber durch Wortkombinationen. Am leichtesten läßt sich das am Übersetzungsproblem deutlich machen. Es liegt auf der Hand, daß das Hebräische für den modernen Begriff "Geschichte" kein Aquivalent aufweist. Es läßt sich andererseits zeigen, daß hebräische Ausdrücke wie däräk jhwh, ma'ase (jad) jhwh, 'e~at jhwh in bestimmten Kontexten nicht primär, wie die deutsche wörtliche Übersetzung suggeriert, "Weg Jahwäs" als bildliehe Redeweise für ein bestimmtes göttliches Vorhaben, "Werk (der Hand) Jahwäs" im Sinne eines Produktes seiner Schöpfung, oder "Ratschluß Jahwäs" als transzendenten Entschluß bedeuten, sondern am zutreffendsten "die von Jahwä gewirkte (politische) Geschichte" wiederzugeben sind. Es ist deshalb bedenklich, aus dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines hebräischen Wortes im Vergleich zum Wortbestand moderner Sprachen auf die Abwesenheit einer Bedeutung zu schließen, wie das gelegentlich in theologischen Kreisen geschieht, weil man semantische Untersuchungen, wenn überhaupt, dann nur auf der Wortebene kennt (BARR, Bibelexegese S. 280-283). Es bedarf keines ausdrücklichen Nachweises, daß Wortfelder, mehr noch Worthöfe, im Gebrauch die Satzgrenzen häufig überschreiten und sich innerhalb einer üb er lieferungsein h e i t auf mehrere Sätze verteilen. über den Rahmen einer Überlieferung können sie jedoch nicht hinausgehen, wenn sie verstanden werden wollen. Deshalb führt jede Syntagma-Semantik auf die Gattungsebene oder in sondersprachliche Probleme hinein (einen Versuch in dieser Richtung habe ich zum Worthof der alttestamentlichen Erwählungsvorstellung - damals schrieb ich noch von "Wortfeld"- in ZA W 67, 1955, 205-226 unternommen). Die Ebene der Satz- und Gattungssemantik ist eigentlich erst dort erreicht, wo bei ganzen Sätzen und Überlieferungen nach der paradigmatischen Struktur gefragt wird, zu der sie gehören, wo also in der betreffenden Sprache oder Sondersprache nach Paraphrasen gesucht wird, die sich für die Sprachbenutzer notwendig nahelegen, wenn sie das Syntagma vernehmen. Biblische Sätze nötigen oft zu solchem vergleichenden Verfahren. Etwa dort, wo ihr Zeitbezug für uns undurchsichtig ist. Denn das Aussprechen eines Satzes ist ein zeitlicher Vorgang, der
312
Linguistik und Formgeschichte
sich oft mit dem Ablauf des entsprechenden außersprachlichen Geschehens nicht deckt. Die Satz- und Gattungszeit deckt sich nicht mit der äußeren Zeit. Das simultane Zuordnen wir dem Höhrer selbstverständlich zugemutet. Der Exeget muß es aus der Paradigmatik des Texteros erschließen (vgl. W. WEINRICH: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 1964). Die Grundsätze und Kriterien von Satz- und Gattungssemantik sind noch kaum entwickelt. Doch ergibt schon der flüchtige Hinblick, daß Formgeschichte und Semantik aufs engste sich verzahnen, sobald nach dem Geltungsbereich semantischer Überlegungen überhaupt gefragt wird. Eine Exegese, die zu fundierten Erkenntnissen gelangen will, hat ein brennendes Interesse, daß die Sprachwissenschaftler in dieser Hinsicht vorankommen; denn die Aufgabe der Interpretation, d. h. die Auslegung individueller Einzeltexte kann nur gelingen, wenn die Semantik nebenherläuft, d. h. die Untersuchung der überindividuellen allgemeinen Sprachstrukturen und Bedeutungsfelder. Erst durch die Entwicklung semantischer Methoden wird es möglich, jene "übersetzungsexegese" zu überwinden, die im voraus durch eine platte Übersetzung nach dem Handlexikon abendländische Vorurteile in die Texte hineinschmuggelt, um sie dann durch Auslegung der heiligen Schrift nur zu bestätigen (wie das in der Bibelwissenschaft weithin noch naiv geübt wird).
]. Linguistische Versuche in der Exegese E. GüTTGEMANNS: Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums, BEvTh 54, 1970 - W. RrcHTER: Exegese als Literaturwissenschaft 1971 (zu beiden Büchern vgl. meine Besprechung "Reichen die formgeschichtlichen Methoden für die Gegenwartsaufgaben der Bibelwissenschaft zu?" ThLZ 98, 1973, 801-814). - F. BovoN: Strukturalismus und biblische Exegese, Wissenschaft uitd Praxis in Kirche und Gesellschaft 60, 1971, 16-26 - E. GüTTGEMANNS: studia linguistica neotestamentica, BEvTh 60, 1971 - P. BEAUCHAMP: L'analyse structurale et l'exegese biblique, VTS 22, 1972, 113-128.
Die semantischen Fragen sind im vorigen Abschnitt ausgiebiger behandelt worden, weil die bisherigen Übertragungen linguistischer Gesichtspunkte in die Bibelwissenschaft erstaunlicherweise den semantischen Sektor stark vernachlässigen. Die Anwendung linguistischer Kategorien und Methoden läßt sich überhaupt erst seit vier Jahren in der theologischen Sekundärliteratur nachweisen. Die entsprechenden Versuche geschehen unkoordiniert und betreffen in der Regel partielle Gesichtspunkte. Oder sie gehen den umgekehrten Weg, entwerfen weitgespannte Strukturen wie eine paradigmatische Zuordnung von Profetie -Weisheit- Gesetz (BEAUCHAMP), die so allgemein gehalten bleiben, daß der Weg zur Oberflächenstruktur tatsächlicher Texte offen bleibt
Linguistische Versuche in der Exegese
313
(s. auch die berechtigten Einwände von R. C. CuLLEY: Some Comments on Structural Analysis and Biblical Studies, VTS 22, 1972, 129-142 gegen oberflächliche Entwürfe einer Struktur des Mythos). Die Unternehmungen sind relativ häufig in der französischsprachigen Literatur und eher bei Neu- als bei Alttestamentlern anzutreffen. Die auseinanderstrebenden Tendenzen der einzelnen Autoren bei der mehr oder minder geglückten Umprägung linguistischer Ideen erlaubt es noch nicht, einen überblick über die Forschungslage zu bieten. So beschränke ich mich auf zwei deutschsprachige Vertreter, einen Alt- und einen Neutestamentler. Wolfgang RICHTER hat den "Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie" (so der Untertitel seines Werkes) vorgelegt. Ihm liegt daran, in der Exegese zu objektiv nachprüfbaren Ergebnissen zu gelangen, indem er analog den linguistischen Spracheheuen Phonem-Morphem-Satz zusätzliche literaturwissenschaftliche Ebenen, die ebenfalls synchronisch zu erheben sind, für die Exegese einführt, nämlich 1. Literal-, 2. Form-, 3. Gattungs-, 4. Traditions-, 5. Kompositions- und Redaktions-, 6. Inhaltsebene. Leitend ist das Bestreben, erst die Ausdrucksseite eines Textes bis ins letzte zu erheben, ehe zur Inhaltsseite übergegangen werden darf. "Die Reihe der Methoden am Einzeltext ist obligatorisch" (S. 33). RICHTER verkennt freilich, daß die linguistischen Ebenen eine ganz andere Evidenz besitzen, sich in jeder menschlichen Sprache nachweisen lassen, also mit Sprachlichkeit überhaupt gegeben sind, seine "literaturwissenschaftlichen" Ebenen dagegen nicht nur durch den zufälligen Erhaltungszustand der alttestamentlichen Literatur, sondern auch durch den gegenwärtigen Forschungsstand (und RICHTERS subjektive Einschätzung desselben) eingeführt werden. So läßt sich durchaus fragen, ob die literale Ebene, die nach RICHTERS Meinung mit den Methoden der Literarkritik zu erarbeiten ist - einer Literarkritik, die sich aber nach seinen Ansichten streng auf den Rahmen des Einzeltextes beschränkt-, notwendig am Anfang einer alttestamentlichen Exegese stehen muß. In vielen Fällen wird sich das aus praktischen Gründen empfehlen (s. oben§ 6F), in anderen aber, vor allem in Psalmen- und Profetentexten, läßt sich die Literarkritik durchaus nachträglich, nämlich im redaktionsgeschichtlichen Arbeitsgang einbringen (s. oben die Beispiele §§ 13. 14. 15, aber auch 10. 11). Unter Formebene versteht RICHTER das Gefüge eines einzelnen Textes, dessen Untersuchung er mit Recht vor die Bestimmung der Gattung setzt. Statt aber die Untersuchung des Textgefüges zum Ausgang der Gattungsbestimmung zu machen und von "Strukturmuster einer Formengruppe", also der Gattung, wieder zurückzuschließen auf den Text, um dessen inhaltliche Bestimmtheit durch die allgemeine Sprachstruktur zu erfassen, verteilt RICHTER Form- und Gattungskritik auf zwei getrennte Ebenen, die er strikt voneinander scheidet. Das vermag er deshalb, weil er zahlreiche nur durch Gattungsbeobachtung
314
Linguistik und Formgeschichte
zu gewinnenden Ergebnisse (wie Formelgebrauch, Achtergewicht in Erzählungen) schon auf der Formebene mit untermischt und so Absicht und Ziel einer Einheit vor jeder Gattungsbeobachtung zu gewinnen behauptet! Der skeptische Leser wird zudem den Verdacht nicht los, daß RicHTER aus der deutschen Übersetzung seiner Bibel schon soviel weiß, daß er für satzübergreifende Strukturen der hebräischen Sprache keiner "Grammatik" bedarf (die ihm nur die Gattungsforschung liefern könnte). Trotz Verwendung linguistischer Termini und trotz vieler zutreffender Beobachtungen im einzelnen ist RICHTERs Unternehmen kaum eine linguistische Arbeit, sondern die Transponie~ rung bestimmter strukturalistischer Begriffe in einen andersartigen Bereich, der dann als "Literaturwissenschaft" deklariert wird, ohne in der schulmäßigen Literaturwissenschaft ein Gegenstück zu besitzen. Dennoch ist RICHTERS Buch eine heilsame Antithese gegen die Neigung vieler Exegeten, über die formalen Eigenheiten der Texte hinwegzusehen, um vorschnell bei einem theologisch genehmen "Inhalt" zu landen. Intensiver beschäftigt sich Erhardt GüTTGEMANNS, seit einigen Jahren Herausgeber einer Zeitschrift Linguistica biblica, mit dem Grenzbereich zwischen Linguistik und Formgeschichte. In seinem ersten Buch, wo er die christologische Relevanz der "Form des Evangeliums" herausarbeiten möchte, ist die Heranziehung linguistischer Ergebnisse noch partiell. Während die neutestamentliche Formgeschichte die Gattung Evangelium als eine aus dem Bedürfnis urchristlicher Gemeinden herausgewachsenen organische Zusammenfassung von längst mündlich umlaufenden Jesuserzählungen, Jesussprüchen und Christusbekenntnissen ansah, betont GüTTGEMANNS den Bruch, der zwischen der mündlichen Überlieferung von Jesus und dem Vorgang einer planvollen Verschriftung zuerst bei Markus aufklafft. Evangelium ist für ihn eine "autosemantische" Sprachform, deren Verständnis nicht schon aus Traditionsballung und Summation von überlieferungskomplexen sich ergibt. Prägend ist vielmehr eine christologische Zeitauffassung, die sich in einem - wohl letztlich altägyptischen - Inthronisationsschema steigender Enthüllung des Messiasgeheimnisses ausspricht (Apotheose Mk. 1, 9-11; Präsentation 9, 2-13; Inthronisation 15, 26-39). Die Absetzung von der bisherigen formgeschichtlichen Sicht allmählicher Entstehung des Evangeliums zielt darauf, das Evangelium als "Sprachereignis" zu begreifen. Damit ist eine sprachliche Mitteilung von etwas bis dahin Ungesagtem, aber für die Existenz des hörenden Menschen schlechthin Entscheidenden gemeint. Der Begriff ist weder linguistisch noch formgeschichtlich, sondern stammt aus der "neuen Hermeneutik" Ernst FucHs', der GüTTGEMANNS sich verpflichtet fühlt. GüTTGEMANNS' 1971 erschienener Aufsatzband ist stärker linguistisch untermauert und für Theologen nützlich, die sich in den Grenzbereich
Besitzt das Hebräische eine besondere W eltansicht?
315
von Exegese und Linguistik einarbeiten wollen. Sein Programm einer "generativen Poetik", eine Untersuchung der Sprachfähigkeit oder -kompetenz, welche neutestamentliche Texte ermöglicht hat (und noch heute ähnliche Texte ermöglicht), läßt auf die künftigen Ergebnisse gespannt sein. Freilich durchkreuzt auch hier der theologische Einsatz für das Sprachereignis mehrfach die linguistischen Einsichten, was beispielsweise in der Abhandlung ",Gottesgerechtigkeit' und strukturale ·Semantik" dazu führt, daß semantische Paradigmen zum paulinischen dikaiosyne-Begriff aus einer einzigen Textstelle (Röm. 1, 16 f.) abgeleitet werden, Interpretation und Semantik also in eins geworfen werden, was zu seltsamen Sätzen wie diesen führt: "Pis hat seine eigene Iangue und muß darum zunächst synchronisch analysiert werden" (S. 93). - Eine eigene Iangue, also einen einzelsprachlichen Kompetenzbereich, haben doch wohl nur Idioten? Der flüchtige Ausblick in die spärliche Literatur zur Benutzung linguistischer Voraussetzungen in der Exegese läßt erkennen, daß die meisten bisherigen Leistungen nicht wegen eines Zuviel, sondern wegen eines Zuwenig an Erfassung linguistischer Grundprobleme zu kritisieren sind. Eine wirkliche Verarbeitung der Berührung zwischen Ergebnissen und Methoden der Formgeschichte auf der einen und der Linguistik auf der anderen Seite (bis hin zur Textlinguistik) steht noch aus.
K. Besitzt das Hebräische eine besondere W eltansicht? T. BoMAN: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen 5 1968 J. BARR s. o. - K. KocH: Gibt es ein hebräisches Denken? Pastoralblätter 108, 1968, 258-276.
Im Zusammenhang der Anwendung linguistischer Kategorien ist ein Thema zu streifen, das anscheinend von den bislang behandelten Themen weit abliegt. Es ist das in den letzten Jahrzehnten umstrittene Problem, ob es eine Gesamtstruktur der Ausdrucks- und Vorstellungselemente im Hebräischen gibt, die dazu nötigt, ein eigentümliches hebräisches Denken anzusetzen, das sich von der Gesamtstruktur griechischer Sprache ähnlich unterscheidet wie beide zusammen von den Denkstrukturen moderner abendländischer Sprachen. Zugrunde liegt solchen Anschauungen die auf Wilhelm von HuMBOLDT zurückgehende Meinung, daß jede Sprache dem sie Sprechenden eine eigentümliche W e 1t ansich t diktiert. Der Mensch wird von der Sprache, die ihm von seinem Volk überkommt, immer schon für bestimmte Ansichten und Verhaltensweisen manipuliert, eine Manipulation, der durch keine Aufklärung zu entgehen ist und die durch Einrichtung einer Schriftsprache und sprachregelnden Schulunterricht befördert
316
Linguistik und Formgeschichte
wird. (Dabei bleiben die Mittel zusätzlicher bewußter Manipulation, wie sie durch die moderne Industriegesellschaft gegeben sind, noch ganz aus dem Spiel.) Die Schwierigkeiten, die sich bei semantischen Untersuchungen zu theologisch belangreichen alttestamentlichen Wörtern auftuen und die weithin für den Betrachter zu gleichen Knoten sich schürzen, z. B. im Blick auf den Anthropomorphismus und Anthropathismus der Gottesvorstellungen (von Jahwäs Hand wird geredet, wo der Abendländer die göttliche Vorsehung vermuten würde, von Jahwäs Zorn statt von seinen Gerichtsurteilen) führten zu Vermutungen über eine eigentümliche Weltansicht des Hebräischen. Mehr noch erweckt die Forschung am neutestamentlichen Wörterbuch das Bedürfnis nach einer Generalerklärung. Die griechischen Vokabeln des Neuen Testamentes haben ihre Herkunft aus dem griechischen Sprachgebrauch, wie er in seiner attischen Spielart allgemeine Geltung im Mittelmeerraum erlangt hatte. Zum andern aber sind nicht nur zentrale Begriffe des Alten Testaments, sondern auch die im Neuen Testament benutzten Gattungen bis hin zum Erzählungsstil der Evangelien vom aramäischen Kolorit der Sprache Jesu und der Urgemeinde ebenso geprägt, wie von der weithin noch in hebräischer Sprache benutzten heiligen Schrift. So ist die WOrtbedeutung griechischer Lexeme oft eigenartig verschoben gegenüber dem allgemeinen griechischen Gebrauch, was sich zweifellos aus dem hebräisch-aramäischen Hintergrund erklärt und sich schon am Wortschatz der Septuaginta nachweisen läßt, der vorchristlichen Übersetzung des Alten Testamentes ins Griechische, die für einen großen Teil des neutestamentlichen Schrifttums sprachbildend gewirkt hat. Vergleicht man eine Vielzahl von griechischen und hebräischen Lexemen, so ergibt sich, daß für eine ganze Anzahl von Begriffen, die für die religiöse Auffassung des Alten Testaments ausschlaggebend sind, angefangen bei b•rit "Bund", keine adäquate griechische Wiedergabe zur Verfügung stand, während umgekehrt das für Philosophie und Kunst des Griechentums grundlegendes Wort kosmos, mit der damit zusammenhängenden Idee eines statisch geordneten und zugleich ästhetisch schönen Gesetzeszusammenhang wie einer zyklischen Wiederkehr des Gleichen, im hebräischen Vokabular nichts Entsprechendes vorfand. Aber nicht nur bei einzelnen Begriffen, die für uns Abendländer heute selbstverständlich zu jeder Sprache gehören, gibt es im hebräischen oder griechischen Wortschatz eine Leerstelle, auch für ganze Wortfelder und Worthöfe, so anscheinend für die hebräische (und altorientalische) Vorstellung, daß der Mensch durch seine sittlich gute oder böse Tat eine Sphäre um sich schafft, die im Laufe der Zeit als Schicksal sich an ihm gut oder böse auswirkt. Das konnte der Hebräer seinem Gesprächspartner mit ein, zwei Ausdrücken ins Gedächtnis rufen, während bei der griechischen Übersetzung daraus eine juridische Vergeltungslehre wird (s. den Sammelband: Um das Prinzip der Ver-
Besitzt das Hebräische eine besondere Weltansicht?
317
geltung in Religion und Recht des AT, 1972, hrsg. K. KocH). Ein Beispiel auf der griechischen Seite ist der Strukturzusammenhang, indem "Sein" und "Seiender" stehen. Bis die entsprechenden philosophischen Theorien in semitischen Sprachen ausgedrückt wurden (syrisch und arabisch), hat es ein ,ganzes Jahrtausend benötigt! Auf der Gattungsebene wird die Kluft noch tiefer, für die hebräische Profezeiung z. B. gibt es kein griechisches Gegenstück. Die hebräischen Geschichtswerke wie z. B. das deuteronomistische und die griechischen wie z. B. das eines Herodot liegen so weit auseinander, haben so unterschiedliche Zielsetzung, daß es zweifelhaft wird, ob der gleiche Gattungsbegriff hier wie dort gerechtfertigt ist. Und die Übersetzung des Deuteronomisten ins Griechische ergibt für den griechischen Leser eine völlig andere Gesamtvorstellung, als sie im Urtext vorausgesetzt ist. Solche Beobachtungen haben der exegetischen Literatur zu einer Reihe deskriptiver Oppositionen für die Denkstrukturen der beiden biblischen Sprachen geführt, wie dynamisch-statisch, naturhaft-geschichtlich, personhaft-dinglich, zeitlinear-zeitzyklisch, praktisch-theoretisch; wobei die jeweils erste Klassifikation für das Hebräische, die zweite für das Griechische als bezeichnend gilt. Dabei wird allzu oft das hebräische Denken naiv mit dem Hintergrund des semitisierenden Griechisch im Neuen Testament, ja mit christlichem Denken heute, das griechische hingegen mit dem wissenschaftlichen Denken der Gegenwart in eins gesetzt. BARR hat die Distinktionen einer scharfen Kritik unterzogen und sie ziemlich alle als unzureichend entlarvt. Doch ist damit das Problem keineswegs erledigt. Es meldet sich nur dringlicher, sobald man dem Systemgedanken für die Einzelsprachen näher nachgeht. Deshalb ist an dieser Stelle auf diesen weiten Horizont der linguistisch-formgeschichtlichen Problematik hinzuweisen. Ist jede Einzelsprache ein Zeichensystem mit der Doppelseitigkeit von Bedeutendem und Bedeutetem auf den Ebenen Morphem- SatzGattung, so bildet jede Sprache in ihrer Gesamtheit ein Bedeutungssystem, in dem ein Zeichen ins andere greift. Ist dann denkbar, daß eine andere anders gebaute Sprache, welcher andere Ausdrucksweisen und Vorstellungsinhalte eignen, den gleichen Verweisungszusammenhang und damit dieselben Unterscheidungsmöglichkeiten exakt anbieten kann? Das wäre nur der Fall, wenn Ausdrucksseite und Inhaltsseite so voneinander lösbar wären, daß jede Vorstellung durch einen beliebigen anderssprachlichen Ausdruck oder eine Ausdruckskombination völlig anderer Zusammensetzung bedeutungsidentisch wiederzugeben wäre. Das ist zwar in der Tat die Überzeugung mancher Linguisten, die mehr an sprachlichen Universalien als an Einzelsprachen interessiert sind. Aber es beruht auf einer Überzeugung axiomatischer Art, die aus dem unablässigen Austausch moderner europäischer Sprachen gewonnen sein mag, aber selbst hier nur für sondersprachliche Bereiche (Wissenschaft!) angesichts der alltäglichen Erfahrung wahrscheinlich
318
Linguistik und Formgeschichte
ist. Zwar liegt auf der Hand, daß ein Wortlexem aus einer Sprache in einer anderen, wo ein entsprechendes Lexem nicht zur Verfügung steht, durch eine Umschreibung, also ein Syntagma, ebenso bedeutet werden kann. Aber eine Umschreibung birgt vermutlich jedesmal Konnotationen in sich, die dem Einzelwort abgehen. Ist eine Sprache ein Zeichenund Bedeutungssystem, so wird der Gesamtstruktur ebenfalls eine charakteristische Bedeutung als Weltdeutung eignen, die sie von anderen Sprachsystemen unterscheidet. Ein Nachweis ist synchron kaum zu führen, da der Untersuchende die andere Sprache immer schon durch die Brille der eigenen sieht. Um so mehr drängt er sich bei diachronischer Betrachtung auf. Derartige Erwägungen sind deshalb für den Exegeten von Gewicht, weil sie Grenzen der übersetzungsmöglichkeiten biblischer Texte erkennen lassen und bei der Interpretation solcher Texte vor kurzschlüssiger Modernisierung bewahren. Daraus folgt nicht notgedrungen, daß die Bibel ihre eigentliche Sprachkraft nur im hebräischen und griechischen Raum, allenfalls in den damaligen Nachbarsprachen ausgeübt hat, sie aber heute verloren hätte. Wo die Übersetzung aufhört, kann Interpretation weiterführen. Die Elastizität und Durchlässigkeit menschlicher Sprachen gegeneinander verwundert immer aufs neue. Aber bisweilen mag es Jahrhunderte dauern, bis ein Bedeutungszusammenhang einer fremden Sprache durch Übersetzung und unablässiges Interpretieren wirklich verstanden ist. Dann aber ist er schon in völlig neue Bedeutungsfelder eingebettet, die dem Urtext fremd sein mußten.
L. Programm einer Sprachgeschichte Die folf;enden Ausführungen knüpfen an an einige Andeutungen bei Überlieferungsgeschichte als Problern der systematischen Thedogie, ThLZ 90, 1965, 81-98 = Theorie des Christenturns 1972, 13-40 und G. EBELING: Einführung in theologische Sprachlehre 1971, 1-87. R. REI''TJTORFF:
Neben der synchronischen, also querschnitthaft durch eine Sprachepoche erfolgenden Untersuchung, übt die strukturale Sprachwissenschaft die diachronische, d. h. im historischen Längsschnitt vorgehende Forschung. Bei den Sprachwissenschaftlern tritt um ihrer phänomenologischen Neigung willen der diachrone Gesichtspunkt gegenwärtig zurück. Für die Exegeten wird er sich aber in den Vordergrund drängen, weil das ihnen zur Verfügung stehende sprachliche Material so lückenhaft ist, daß es für genauere synchronische Erhebungen nicht ausreicht. Wie wenig ist von der althebräischen Literatur erhalten! Das wenige verteilt sich zudem noch über ein Jahrtausend bewegter Geschichte vom Deboralied Richt. 5 bis zum Qumranschrifttum! Die neu-
Programm einer Sprachgeschichte
319
testamentliehe Literatur ist zwar innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden. Dennoch sind Erhebungen über synchrone Sprachstrukturen noch schwieriger, weil die Sprache nicht einheitlich ist. Die Evangelienstoffe mit ihrem starken aramaisierenden Einschlag weisen auf eine Art von Sprachkompetenz zurück, die in den palästinensisch-syrischen Raum gehört und von dem sprachlichen Hintergrund der paulinischen Briefe sich deutlich abhebt, wie diese wieder mit dem Hebräerbrief nicht auf eine Ebene gestellt werden kann. Eingehende synchronische Betrachtung läßt sich nur innerhalb des jeweiligen Schriftenkreises vornehmen. Wie unsicher Ergebnisse über Ausdrucks- und Bedeutungsstrukturen bei so schmaler Basis bleiben, liegt auf der Hand. Will der Bibelwissenschaftler zu nachprüfbaren Ergebnissen gelangen, wird er bei allen methodischen Schritten sehr bald den geschichtlichen und also diachronischen Aspekt einbringen müssen. So wird jede Textkritik angesichts der Handschriftenüberlieferung zur Textgeschichte; eine Literarkritik (o. § 6) ist ohne ein vorgängiges Bild sprachgeschichtlich möglicher oder unmöglicher Ausdrucksweisen bodenlos; Gattungsbestimmung (§ 1) führt notwendig zur Gattungsgeschichte (§ 2); jede semantische Überlegung alsbald zur Wortgeschichte. Nur wer die Bibel als fertig übersetzte und einen gewissen common sense der Sekundärliteratur als erwiesen voraussetzt, mag sich in der Illusion wiegen, daß irgendwelche exegetische Arbeitsgänge auch ohne Einblenden diachroner Gesichtspunkte zu befriedigendem Abschluß gebracht werden könnten. Diachronisch untersuchen heißt nicht, grammatische oder lexikalische Erscheinungen für sich .zu nehmen und isoliert durch die Epochen zu verfolgen. Ist es richtig, daß jede Einzelsprache auf jeder zeitlichen Stufe ein in sich vollständiges, bedeutungstragendes Zeichensystem mit Ausdrucks- und Wortseite darbietet, so besagt diachronisch forschen nichts anderes als Untersuchung von Einzelerscheinungen unter steter Berücksichtigung der veränderlichen Gesamtstruktur von Sprachen, und zwar sowohl nach der Seite des bedeutenden Ausdrucks wie nach der Seite der bedeuteten Vorstellungen. Sprachliche Einzelerscheinungen historisch zu verfolgen, erscheint nur sinnvoll, wenn zugleich ihr (wechselnder) Stellenwert im (wechselnden) Gesamtsystem der Sprachkompetenz erfaßt wird. Dann aber wird es auch zur wissenschaftlichen Aufgabe, die Ge schichte sprachlicher Gesamtstrukturen als ganzer zu thematisieren. Das gilt für die Laut- wie für die Wort-, Satz- und Gattungsebene. Deshalb hat die Grundlegung der formgeschichtlichen Methoden in diesem Buch mit dem Postulat einer Sprachgeschichte als Forschungsaufgabe geendet. Da meine Ausführungen zur Literatur- und Sprachgeschichte (o. § 9) bei einigen Rezensenten Verwunderung hervorgerufen haben, komme ich auf das Thema noch einmal zurück in der Hoffnung, daß meine Thesen auf dem Hintergrund der linguistischen Theorien begreiflicher erscheinen.
320
Linguistik und Formgeschichte
. Reicht es zu, die Geschichte einer beliebigen Einzelsprache und ihres Struktursystems im Werden und Vergehen zu untersuchen? Ist es nicht von Belang, die Ursachen zu ergründen, nach denen Sprachen entstehen, sich mehr oder minder lang behaupten, andere Sprachen verdrängen oder von ihnen verdrängt werden? Die Sprachforschung hat viel zur Erhellung einzelner Sprachen getan, während die akuten Verhältnisse der Sprachen untereinander kaum bedacht wurden. Vielleicht ist jene Meinung berechtigt, die die Ausbildung einer neuen Sprache mit dem Aufkommen eines neuen Volkstums verbindet. Die meisten Sprachen mögen an einen derartigen Trägerkreis gebunden sein und mit ihm auch wieder verschwinden. Aber die großen Literatursprachen lösen sich von der Volksgemeinschaft, werden Weltsprachen, wirken als solche auf zahllose Volkssprachen und deren Literatur prägend ein und vermitteln einem großen Teil der Menschheit die entscheidende Weltansicht. Welche Faktoren bedingen einen solchen Ablösungs- und Universalisierungsprozeß? Die politische Vorherrschaft eines Volkes oder der Träger einer bestimmten Einzelsprache bedingt weithin auch die Ausbreitung der entsprechenden Sprache. Die Ausbreitung des Lateinischen durch die römische Reichsbildung oder des Arabischen durch die Kalifen geben Beispiele. An ihnen erweist sich jedoch auch, daß p o 1i t i s c h e Herrs c h a ft als Erklärungsgrund nicht ausreicht. Im östlichen Teil des Römerreichs hat das Lateinische das Griechische nie verdrängt, in Europa hat sich andrerseits Latein als Kirchen- und Gelehrtensprache über ein Jahrtausend nach dem Untergang Westroms noch gehalten, ja nach Untergang des Staatswesens in Mittel- und Nordeuropa erst ausgedehnt. Obwohl der Türkensturm im Hochmittelalter in den meisten nahöstlichen Ländern jede arabische Staatlichkeit hinweggefegt und für Jahrhunderte unmöglich gemacht hatte, hat die arabische Sprache sich gehalten und die Sprache der herrschenden Türken weithin durchsetzt. Blickt man auf andere Universalsprachen, wird das Verhältnis zu politischer Herrschaft noch verwickelter. Der Ausbreitung des Aramäischen, der lingua franca zur Zeit persischer Vorherrschaft und weit bis in neutestamentliche Zeit hinein, geht keinerlei politische Machtbildung voraus. (Das neubabylonische Reich der aramäischen Chaldäer war eher eine Folgeerscheinung als eine Bedingung des sich ausbreitenden Aramaismus.) Die erstaunliche kulturtragende Rolle des aramäischen Syrisch im ersten nachchristlichen Jahrtausend beruht ebenso sehr auf der führenden Rolle syrischer Kaufleute im internationalen Handel wie auf christlichen Ideen, die das Syrische als eine Art heiliger Sprache einstuften. Dem Problem Weltsprache läßt sich nur gerecht werden, wenn neben außersprachlichen, politisch-wirtschaftlichen Faktoren, auch innersprachliche berücksichtigt werden. Eine Sprache muß von ihrem Gesamtsystem her zur Internationalisierung geeignet sein, und zwar so-
Programm einer Sprachgeschichte
321
wohl nach der Ausdrucks- wie nach der Vorstellungsseite hin. Es spielen Durchsichtigkeit und Lernbarkeit grammatischer Regeln wie das Vorhandensein einer einfach zu handhabenden Schrift eine Rolle. Nach der Vorstellungsseite hin sind es überlieferungskomplexe und -inhalte, die sich auch anderssprachlichen Gruppen als wahr und hilfreich zum Weltverständnis und zur Daseinsbewältigung erweisen und die trotzdem nicht vollgültig übersetzbar erscheinen. Sprachinhalte tragen also entscheidend zur Bildung von Kultur- und Weltsprachen bei. Hier sind für Altertum und Mittelalter religiöse Sprachüberlieferungen zweifellos an erster Stelle zu nennen. Nicht nur das überleben des Griechischen und Hebräischen bis in die Gegenwart hinein ist anders nicht zu erklären, schon das uralte S um er i s c h ist ein hervorragendes Beispiel. Wenn diese nichtsemitische Sprache noch 1112 Jahrtausende nach ihrem Aussterben in den Schulen des längst semirisierten Zweistromlandes "gepaukt" und geschrieben wird, ist es nur von ihren religiösen Inhalten her erklärlich. Solche Sprachen halten sich natürlich nicht nur deshalb, weil sie auf Grund ihrer Lautmusik und Poesie weihevolle religiöse Gefühle wekken, sondern weil ihre Überlieferungen ein zureichendes Welt- und Geschichtsverständnis vermitteln, wie auch ein wahres Daseinsverständnis mit allem, was gelungenes oder verfehltes Leben erhellt. Mehr noch als in jeder anderen Sprache werden hier die Erinnerungen und Erfahrungen unübersehbarer Generationen so gespeichert, daß jede Sprachverwendung Vergangenes sinnvoll vergegenwärtig. Zugleich wird auf dem Hintergrund des Sprachschatzes Zukünftiges denk- und vorstellbar und bei einem entsprechenden Sprechakt Zukunft geradezu vorweggenommen. Hebräisch, Griechisch, Lateinisch gelten im Mittelalter als heilige Sprachen, die beiden letzten in der Neuzeit als die einzig philosophischen oder logischen Sprachen. Aber das sind nachträgliche Rationalisierungen eines vorgängigen Befundes, daß sich nämlich die Wahrheit ihrer Überlieferungen nicht oder doch nur nach einem jahrhundertelangen Amalgamierungsprozeß in Volkssprachen übersetzen läßt. Nichts läßt deutlicher die Verkoppelung von Sprache und Weltansicht erkennen als diese universell gewordenen Kultursprachen! Die kritische Frage von BARR (Bibelexegese S. 48) gegen solche Auffassungen: "Fanden es die semitisch sprechenden Akkader wirklich so schwer, die Sumerer zu verstehen und große Teile ihrer Mythologie, ihres Rechts und ihrer Religion zu übernehmen, weil die Sprachstrukturen sehr wenig gemeinsam hatten?" läßt sich klar beantworten. Die Akkader waren zwar der Meinung, Sumerisch lernen und begreifen, aber nur teilweise übersetzen zu können. Sonst hätten sie nicht jahrhundertelang sumerische Texte abgeschrieben oder gar neu verfaßt. So ist Sprach g es c h ich t e, sobald man sie nicht als trockene Aufzählung vom grammatischen Formenwandel, sondern als Ausein an dersetz u n g der Sprachen unter ei n an der versteht,
322
Linguistik und Formgeschichte
ohne Religionsgeschichte nicht zu begreifen. Religiöse Überlieferungen spielen oft eine maßgebliche Rolle, wo eine Sprache über eine begrenzte Gruppe hinaus sich ausbreitet und Bedeutung für die menschliche Geschichte überhaupt gewinnt. Jedoch ist nicht zu vergessen, wie sehr religiöse (oder pilosophische) Überlieferungen dieser Art an Institutionen gebunden und mit ihnen in Wechselwirkung stehen. Gerade Weltsprachen haben einen greifbaren soziologischen Kontext. Der Bezug von Gattung und Sitz im Leben, von Sondersprache und Lebensbereich taucht auf dieser höheren Ebene noch einmal auf. In diesen Rahmen ist die Wirkung des biblischen Kanons und der durch ihn hervorgerufenen Nachfolgeüberlieferungen einzubringen. Es ist kein Schrifttum bekannt, das so sprachschöpferisch, spracherhaltend und -verändernd gewirkt hat wie dies. EBELING weist für den europäischen Kulturraum darauf hin, wie gestaltend hier die biblische Sprache gewirkt hat, die sich Sprachschätze der griechischen Antike assimiliert hatte und dieser Verbindung ein "außerordentlich starkprägendes und dauerhaftes Sprachgebilde" gewesen ist, wobei Latein sich als "hervorragendes Konservierungsmittel" erwies (S. 7). Anmerkungsweise sei darauf verwiesen, daß auch das vor zwei Jahrzehnten heftig umstrittene, jedoch nie sprachgeschichtlich begriffene E n t m y t h o 1o g i sie r u n g sprob 1e m in diesen Zusammenhang gehört. Bekanntlich hat BuLTMANN, ausgehend von der Beobachtung, daß das Weltbild des Alten und Neuen Testaments wie des gesamten Altertums ein mythologisches, das neuzeitliche Weltbild dagegen ein wissenschaftliches ist, die Entmythologisierung der in den biblischen Aussagen enthaltenen existenzialen Wahrheiten gefordert. Der Weg von einer mehr mythologischen zu einer mehr wissenschaftlichen Weltansicht wäre vermutlich nie beschritten worden ohne Latein als Gelehrtensprache; diese Sprache hatte sich schon im vorchristlichen Rom als außerordentlich spröde gegenüber mythologischen Konzeptionen gezeigt. Geht nicht auch durch das Griechisch und Hebräisch (wie das nahverwandte Phönikisch?) des Altertums ein entmythisierender Zug?
Nicht übersehen werden sollte, daß der biblische Kanon, die damit verbundene Auslegungsliteratur und Kultüberlieferungen, Rechtsbildungen und Philosophien, auch im osteuropäisch-byzantinischen wie im morgenländischen Sprachraum eine ebenso gewichtige Rolle gespielt und stark in den Islam hineingewirkt haben. Die Funktion der Bibel in der Sprachgeschichte läßt sich in einem Koordinatensystem skizzieren, das auf der einen Achse den für zwei Jahrtausende dominierenden west-östliche Spannungsraum im Mittelmeergebiet, auf der anderen die zeitlichen Epochen umf aßt (vgl. Skizze S. 341). Die Skizze vermag nur einen ungefähren Begriff von dem uns interessierenden Sprachgeschehen zu geben. Die Wechselwirkung zwischen Sakral-, Gelehrten- und Umgangssprache, aber auch zwischen den Sprachen und der außersprachlichen Geschichte wird nicht erkennbar. Orientalische Einflüsse bleiben außer Betracht, das Judentum wird bei einer flächenhaften Darstellung nicht berücksichtigt.
Programm einer Sprachgeschichte
323
BIBLISCHE UND PJITLOSOPIDSCHE SPRACHE IN DER SPRACHGESCHICHTE ROM - GRIECHENLAND ALTORIENTALISCHES ALTERTUM
HELLENISMUS
--PHILOSO- - PIDSCHES - - - - - _ _ TUM
ZEITENWENDE
SPÄTANTIKE
MITTELALTER
ARABISCH
Hebräis,ch
Aramäischsyrisch
Griechisch
Latein
~~-11111111
324
Linguistik und Formgeschichte
Dennoch verhilft sie, an die Sprachgeschichte unsres Kulturraums zu erinnern. Wer die Bibel interpretiert, sollte eingedenk sein, daß sich unserem Bibelverständnis und unserm Auslegungshorizont - wie unsern modernen europäischen Sprachen überhaupt - zahlreiche griechische und lateinische Bedeutungselemente ankristallisiert haben, die nicht kurzerhand abzuschütteln sind. Dazu gehört u. a. auch die historisch-kritische Forschung, ihre Methoden und Fragehinsicht. Ebenso wichtig ist, angesichtsder unter Alt- wie Neutestamentlern verbreiteten kurzschlüssigen Vergleiche zwischen alt- und neutestamentlichen Aussagen, daß zwischen der Entstehung des alttestamentlichen Schrifttums und des neutestamentlichen eine aramäische Sprachgeschichte liegt. Schon das neutestamentliche Verständnis alttestamentlicher Belege ist durch eine aramäische, z. T. auch eine griechische Interpretationsschwelle hindurchgegangen. Schli,eßlich mag die Skizze eine Ahnung davon zu erwecken, daß die Bibel Alten und Neuen Testaments nicht nur aus einem bestimmten Sprachkontext herausgewachsen ist, sondern ihrerseits Sprachen am Leben erhalten (Latein, Griechisch) und gestaltet hat (die neuzeitlichen europäischen Sprachen). Von da aus ergibt sich, daß die Geschichte der Sprachen nicht die bloße Abspiegelung äußerer Begebenheiten und Verhältnisse, auch nicht nur die allmähliche Weiterentwicklung auf Grund sprachlicher Eigengesetzlichkeit zu erkennen gibt, sondern daß es revolutionär neue Aussagenkomplexe gibt, die zunächst aus einer bestimmten Sprachverwendung heraus entstehen, im Weiterwirken aber zu einer festen Sprachkompetenz werden. Die Formung der biblischen Überlieferungen zu einem religiös entscheidenden Kanon stellt somit ein Sprachgeschehnis dar, wie es seinesgleichen kaum ein zweites gibt, das einen überlieferungsbestand und sprachliche Strukturen (vor allem Gattungen) hervorgerufen hat, die über JahEhunderte weiterwirken. Wo heute auf die Methoden der Formgeschichte reflektiert wird, läßt sich die Linguistik und ihre Sprachtheorien nicht übergehen, welche die Formgeschichte verbessern und vertiefen, aber keineswegs überflüssig werden lassen. Geht man aber den Verbindungen beider Wissenschaftszweige nach, wird man folgerichtig weitergeführt zu den Problemen der gesamtsprachlichen Struktur und der W eltansicht, aber auch der Sprachgeschichte mit dem Zueinander und Gegeneinander der Einzelsprachen und ihres überlieferungsbestands; das sind Probleme freilich, die nirgends in den Wissenschaften systematisch verfolgt werden. So tut sich ein weites Aufgabenfeld möglicher künftiger Forschung auf. Wird bei solchen Überlegungen letztlich nicht spürbar, wie reizvoll und nötig die Erforschung der weithin noch unbekannten Welt der Sprache für uns ist? Daß nichts dabei aber so interessant und relevant sein wird wie das fortgesetzte Bemühen um das Sagen des Unsagbaren, wie die Geschichte des Redens von "Gott"?
325 Anhang: Ausgewählte Bibliographie zur alttestamentlichen Formgeschichte Nicht angeführt werden Kommentare sowie Untersuchungen, die einem Einzelabschnitt gelten, und Veröffentlichungen, die nur gelegentlich, aber nicht thematisch auf formgeschichtliche Fragestellungen eingehen. 1.
2.
Gesamtdarstellungen bei GuNKEL, KdG; HEMPEL: Literatur; und ErssFELDT: Einleitung §§ 2-21. FRÜHISRAELITISCHE (VORKöNIGLICHE) ZEIT
2.1 Erzählendes über Mythos und Mythologie in Bezug auf das Alte Testament wird viel gehandelt, bis jetzt aber nicht formgeschichtlich. Dagegen spielt die Formgeschichte bei der Untersuchung der Sagen eine große Rolle, Literatur dazu S. 182 und 184 A.3.6; weiter: J. FrcHTNER: Die etymologische Atiologie in den Namengebungen der geschichtlichen Bücher ... , VT 6, 1956, 372-396. B. S. CHILDS: A Study of the Formula 'until this day', JBL 82, 1963, 279-292 S. MowrNCKEL: Das ätiologische Denken, in: Tetrateuch - Pentateuch Hexateuch, BZA W 90 1964 78-86. B. 0. LoNG: The Problem ot Etiological Narrative in the 0. T. BZA W 108, 1968. M. NoTH: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch 1948 = 2 1961. W. ZrMMERLI: Einzelerzählung und Gesamtgeschichte im A. T., in: Das Alte Testament als Anrede 1956, 9-36. Zu Sagenkreisen: H. GRESSMANN: Sage und Geschichte in den Patriarchenerzählungen, ZAW 30, 1910, 1-34 H. ErsrNG: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Jakobserzählungen der Genesis 1940 Zur fosefserzählung: H. GuNKEL: Die Komposition der Josephgeschichte, ZDMG 76,1922,55-71 0. ErssFELDT: Stammessage und Novelle in den Geschichten von Jakob und seinen Söhnen, in: Eucharisterion, Gunkel-FS I, 1923, 56-77 = KS I, 1962, 84104 G. v. RAD: Josephsgeschichte und ältere Chokma, VTS I, 1953, 120-127 = GS 272-280 Zur Auszugsgeschichte: H. GRESSMANN: Mose und seine Zeit, FRLANT NF 1, 1913 J. PEDERSEN: Passahfest und -legende, ZAW NF 11, 1934, 161-175 S. MowrNCKEL: Die vermeintliche ,Passahlegende' Ex 1-15, StTh 5, 1951, 66-88 G. FaHRER: Überlieferung und Geschichte des Exodus, BZAW 91, 1964 Zum Sinaikomplex: W. BEYERLIN: Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen 1961 Zum Richterbuch: W. RICHTER: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, BBB 18, 1963 Zur Gideonerzählung: W. BEYERLIN: Geschichte und heilsgeschichtliche Traditionsbildung im A. T., VT 13, 1963, 1-25 Zur Redaktionsgeschichte: G. v. RAD: Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, BWANT IV, 26, 1938 = GS 9-86 Zum Märchen: H. GuNKEL: Das Märchen im A. T. 1921 2.2 Kult und religiöses Brauchtum Zum göttlichen Spruch: F. KücHLER: Das priesterliche Orakel, BZAW 33, 1918, 285-301 L. KöHLER: Die Offenbarungsformel ,Fürchte dich nicht', Schweiz. Theol. Umschau 1919, 33-39 (Zur Selbstvorstellung ,Ich bin Jahwä' s. S. 12 A. 12) Zu Gebet und menschlichem Bekenntnis: A. WENDEL: Das freie Laiengebet im vorexilischen Israel1931 C. WEsTERMANN: Struktur und Geschichte der Klage, ZAW 66, 1954,44-80 = Forschung am A. T. 1964, 266-305 R. KNIERIM: Die Hauptbegriffe für Sünde im A. T. 1965
326
Ausgewählte Bibliographie
2.3 Rechtspraxis Zum sakralen Recht und Dekalog s. S. 10; 12 A. 20; 25 A. 10; 26 A. 13 u. 16; S. 38 A. 9; weiter: H. Graf REVENTLOW: ,Sein Blut komme über sein Haupt', VT 10, 1960, 311 bis 327 = Um das Prinzip der Vergeltung ... hg. K. Koch, Wege der Forschung 125, 1972, 412-431 Ders.: Kultisches Recht im A. T., ZThK 60, 1963, 267-304 K. KocH: Der Spruch ,Sein Blut bleibe auf seinem Haupt ...', VT 12, 1962, 396-416 = Um das Prinzip der Vergeltung ... 432-456 H. ScHULZ: Das Todesrecht im A. T., BZAW 114, 1969 Zum Bundesformular s. S. 26 A. 16 und J. MurLENBURG: The form and structure of the convenantal formulations, VT 9. 1959, 347-365 Zur Rechtspflege der Ortsgemeinde: L. KöHLER: Die hebräische Rechtsgemeinde 1931 =Der hebräische Mensch 1953, 143-171 H. J. BoECKER: Redeformen des Rechtslebens im A. T., WMANT 14, 1964 2.4 Segen und Fluch, Eid, Stammessprüche J. HEMPEL: Die israelitischen Anschauungen von Segen und Fluch im Lichte altorientalischer Parallelen, ZDMG 79, 1925, 20-110 = Apoxysmata, BZAW 81, 1961, 30-113 S. H. BLANK: The Curse, the Blasphemy, the Spell, and the Oath, HUCA 23, 1950/1, 73-95 S. GEVIRTZ: West Semitic Curses and the Problem of the Origins of Hebrew Law, VT 11, 1961, 137-158 F. C. FENSHAM: Malediction and Benediction in Ancient Near Eastern VassalTreaties and the Old Testament, ZAW 74, 1962, 1-8 A .H. J. GuNNEWEG: Über den Sitz im Leben der sog. Stammessprüche, ZAW 76,1964,245-255 H. J. ZoBEL: Stammesspruch und Geschichte, BZAW 95, 1965 W. ScHOTTROFF: Der altisr. Fluchspruch, WMANT 30, 1969 2.5 Heiliger Krieg G. v. RAD: Der Heilige Krieg im alten Israel1951, 3 1958 2.6 Umgangsformeln, Sprichwort, Lied I. LANDE: Formelhafte Wendungen in der Umgangssprache im A. T. 1949 0. ErsSFELDT: Der Maschal im A. T., BZAW 24, 1913 A. R. }OHNSON: maschal, VTS III, 1955, 162-169 H. }AHNOW: Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung, BZAW 36, 1923 E. KuTscH: ,Trauerbräuche' und ,Selbstminderungsriten' im A. T., ThSt (B) 78, 1965, 25-42 3. ALTISRAELITISCHE (KÖNIGS-) ZEIT (ohne profetische Literatur) 3.1 Einflußbereich des Königtums Zur Geschichtsschreibung u. ä.: L. RoST: Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids, BWANT III, 6, 1926 =Das kleine Credo ... 1965, 119-253 G. v. RAD: Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel. Archiv f. Kulturgeschichte 32, 1944, 1-42 = GS 148-188 0. ErssFELDT: Geschichtsschreibung im A. T. 1948 J. ScHILDENBERGER: Literarische Arten der Geschichtsschreibung im A. T. Bibi. Beiträge NF 5, 1964 I. L. SEELIGMANN: Hebräische Erzählung und biblische Geschichtsschreibung, ThZ 18, 1962, 305-325 S. HERRMANN: Die Königsnovelle in Ägypten und Israel, WZ Leipzig 3, 1953/4, 51-62 Zu offiziellen Inschriften, Botenspruch, Brief: S. MowrNCKEL: Die vorderasiatischen Königs- und Fürsteninschriften, Eucharisterion, Gunkel-FS, FRLANT 36, 1923 I, 278-322 L. KÖHLER: Der Botenspruch. Kleine Lichter o. J. (1945), 11-17 A. H. v. ZYL: The Message Forrnula in the Book of Judges, Die Ou Testarnentiese Werkgerneenskap in Suid-Afrika 1959, 61-64 BRL 117-122 MARTY: Gontribution a l'etude des fragrnents epistolaires antiq_ues ... Les forrnules de salutation, in: Melanges Syriens ... Dussaud II, 1939, 845-855.
Ausgewählte Bibliographie
327
3.2 Kultdichtung und -brauchtum Zu den Psalmen s. S. 195 und 209. Weiter: H. ScHMIDT: Das Gebet der Angeklagten, BZAW 49, 1928 K. GALLING: Der Beichtspiegel, ZAW N. F. 6, 1929, 125-130 P. A. MuNcH: Die jüdischen ,Weisheitspsalmen' und ihr Platz im Leben, AcOr 15, 1936, 112-140 A. DESCAMPS: Pour un classement littt\raire des Psaumes,. in: Melang_es bibliques ... A. Robert 1957, 187-204 F. MAND: Die Eigenständigkeit der Danklieder des Psalters als Bekenntnislieder, ZAW 70, 1958, 185-199 S. B. FROST: Asseveration by Thanksgiving, VT 8, 1958, 380-390 J. W. WEVERs: A Study in the Form-Criticism of Individual Complaint Psalms, VT 6, 1956, 80-96 R. E. MuRPHY: A Consideration of the Classification ,Wisdom Psalms', VTS IX, 1962, 156-167 L. SABOURIN: Un classement litteraire des psaul)nes 1964 W. BEYERLIN: Die Rettung der Bedrängten in den Feindpsalmen der Einzelnen auf institutionelle Zusammenhänge untersucht, FRLANT 99, 1970 Gattungen außerhalb des Psalters: J. BEGRICH: Die priesterliche Tora, in: Von Werden und Wesen des A. T., BZAW 66, 1935, 63-88 Gesammelte Studien 1964,232-260 A. BENTZEN: The Cultic Use of the Story of the Ark, JBL 67, 1948, 37-53 G. v. RAD: Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit, ThLZ 76, 1951, 129-132 = GS 130-135 J. }EREMIAS: Theophanie, WMANT 10, 1965 Zu einem gemeinsamen altorientalischen Kultmuster (pattern): S. H. HooKE (hg): Myth and Ritual 1933 Ders. (hg): The Labyrinth 1935 Ders. (hg): Myth, Ritual and Kingship 1958 H. FRANKFORT: The Problem of Similarity in Ancient Near Eastern Religions. The Frazer Lectures 1950 ]. DE FRAINE: Les implications du ,patternism', B 37, 1956, 59-73 K. H. BERNHARDT: Das Problem der altorientalischen Königsideologie im A. T., VTS VIII, 1961
=
3.3 Rechtsbücher und Gesetze GS 9. 141 M. NoTH: Die Gesetze im Pentateuch 1940 Ders.: ,Die mit de~ Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch', GS 155-171 2 1948, (englisch G. v. RAD: Deuteronomium-Studien, FRLANT 58, 1947 1953) J. PLÖGER: Literarkritische, formgeschichtliche ... Untersuchungen zum Dtn, 1967 R. RENDTORFF: Die Gesetze in der Priesterschrift, FRLANT 62, 1954 = 2 1963 K. KocH: Die Priesterschrift, FRLANT 71, 1959 R. SMEND: Die Bundesformel, ThSt (B) 68, 1963 W. BEYERLIN: Die Paränese im Bundesbuch und ihre Herkunft, in: Gottes Wort und Gottes Land, Hertzberg-FS 1965, 9-29 H. Graf REVENTLOW: Das Heiligkeitsgesetz, WMANT 6, 1961 3.4 Weisheitsdichtung W. BAUMGARTNER: Israelitische und altorientalische Weisheit 1933 ]. ScHMIDT: Studien zur Stilistik der alttestamentlichen Spruchliteratur 1936 G. v. RAD: Hiob 38 und die altägyptische Weisheit, VTS III, 1955, 293-301 = GS 262-271 A. ALT: Die Weisheit Salomos, ThLZ 76, 1951, 139-144 = ALT II, 90-99 U. SKLADNY: Die ältesten Spruchsammlungen in Israel1961 W. RrcHTER: Recht und Ethos (zum Mahnspruch), StANT 15, 1966 C. KAYATZ: Studien zu Proverbien 1-9, WMANT 22, 1966 H.]. HERMISSON: Studien z. isr. Spruchweisheit, WMANT 28, 1968
=
=
3.5 Liebeslieder F. HoRST: Die Formen des althebräischen Liebesliedes, Littmann-FS 1935, 43-54 Gottes Recht 1961, 176-187
=
Ausgewählte Bibliographie
328
W. HERRMANN: Gedanken zur Geschichte des altorientalischen Beschreibungsliedes, ZAW 75, 1963,176-196 4.
PROFETISCHE LITERATUR Umfassende Arbeiten s. S. 223 Zum außerisraelitischen Profetenwort s. S. 264 A. 13 Zu einzelnen Gattungen (Gattungselementen): s. S. 257 A. 15 (Symbolisdle Handlung); 262 A. 10 (Erweiswort); 270 A. 23 (Gerichtsrede). Weiter: 0. H. STECK: Überlieferung und Zeitgeschichte in den Elia-Erzählungen, WMANT 26, 1968 H. W. WoLFF: Das Zitat im Profetenspruch 1937 Gesammelte Studien 1964, 36-128 E. GERSTENBERGER: The Woe-Oracles of the Prophets, JBL 81, 1962, 249-263 Zum Visions- und Berufungsbericht: J. LrNDBLOM: Die Gesidlte der Propheten, StTh 1, 1935, 7-28 F. HoRsT: Die Visionsschilderungen der alttest. Propheten, EvTh 20, 1960, 193-205 N. HABEL: The Form and Significance of the Call Narratives, ZAW 77, 1965, 297-323 W. RrcHTER: Die sog. vorprophetischen Berufungsberichte, FRLANT 101, 1970 Zu entlehnten Gattungen: W. BAuMGARTNER: Die Klagegedidlte des Jeremia, BZAW 32, 1917 P. HuMBERT: Der biblische Verkündigungsstil und seine vermutliche Herkunft, Archiv für Orientforschung 10, 1935/6, 77-80 K. v. RABENAU: Die Form des Rätsels im Buch Hesekiel, WZ Halle 7, 1958, 1055-1057 R. BACH: Die Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf im alttest. Prophetenspruch, WMANT 9, 1962 F. C. FENSHAM: Common Trends in Curses of the Near Eastern Treaties and KuDURRU Inscriptions Compared with Maledictions of Amos and Isaiah, ZAW 75, 1963, 155-175 H. W. WoLFF: Der Aufruf zur Volksklage, ZAW 76, 1964, 48-56 Zur Spradle einzelner Profeten: über Jesaja und Deuterojesaja s. S. 223 und B. CHrLDS: Isaiah and the Assyrian Crisis, StBTh III 3, 1967 H. GRESSMANN: Die literarische Analyse Deuterojesajas, ZAW 34, 1914, 254, 297 J. BEGRICH: Studien zu Deuterojesaja 1938 = 1963 C. WESTERMANN: Sprache und Struktur der Prophetie Deuterojesajas, in: Forschung am A. T. 1964, 92-170 über Jeremia s. S. 245 und H. Graf REVENTLOW: Liturgie und prophetisches Ich bei J eremia, 1963 über Hesekiel s. S. 259 A. 3 und 268 A. 20 sowie W. ZrMMERLI: The special form- and traditio-historical character of Ezekiel's prophecy, VT XV, 1965, 515-527 über Hosea: M. J. Buss: The Prophetie Word of Hosea, BZAW 111, 1969 über Amos s. S. 268 A. 20 und H. W. WoLFF: Amos' geistige Heimat, WANT 18, 1964 über Nahum und Habakkuk: J. ]EREMIAS: Kultprophetie und Geridltsverkündigung, WMANT 35, 1970 über Haggai: K. KocH: Haggais unreines Volk, ZAW 79, 1967, 52-66 über Maleachi: E. PFEIFFER: Die Disputationsworte im Buche Maleachi, EvTh 19, 1959, 546-568 5. NACHEXILISCHE (MITTEL- UND SPXTISRAELITISCHE) ZEIT 5.1 Geschichtsschreibung M. NoTH: überlieferungsgeschichtliche Studien 1943 = 1947 S. MowrNCKEL: ,Ich' und ,Er' in der Ezrageschichte, in: Verbannung und Heimkehr, Rudolph-FS 1961, 221-223 Ders.: Studien zu dem Buche Ezra-Nehemia, SNVAO N. S. 3.5.7, 1964/5 G. v. RAD: Die Nehemia-Denkschrifl:, ZAW 76, 1964, 176-187 5.2 Religiöse Reden, Gebete, Lieder G. v. RAD: Die Ievitische Predigt in den Büdlern der Chronik, Procksdl-FS 1934, 113-124 GS 248-261 L. }ANSEN: Die spätjüdische Psalmendichtung, ihr Entstehungskreis und ihr Sitz im Leben, SNVAO 1937:3
=
=
329 0. PLÖGER: Reden und Gebete im deuteronomistischen und chronistischen Geschichtswerk, Dehn-FS 1957, 35-49 H. THYEN: Der Stil der jüdisch-hellenistischen Homilie, FRLANT NF 47, 1955 G. v. RAD: Zur Vorgeschichte der Gattung von 1. Kor. 13, 4-7, in: Geschichte und A. T., Alt-FS 1953, 153-168 GS 281-296 5.3 Weisheitsbücher W. BAuMGARTNER: Die literarischen Gattungen in der Weisheit der Jesus Sirach, ZAW 34, 1914,161-198 C. WESTERMANN: Der Aufbau des Buches Hiob,BHTh23, 1956 G. FoHRER: Studien zum Buche Hiob 1963 0. LoRETZ: Qohelet und der Alte Orient 1964
=
Verzeichnis der Abkürzungen in den Literaturangaben A = Anmerkung Ac Or = Acta Orientalia (Kopenhagen) ALT I-111 = A. ALT: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel Band 1-111, 1953/59 ANEP = The Ancient Near East in Pieeures relating to the 0. T., ed. J. B. PRITCHARD 1954 ANET = Ancient Near Eastern Texts relating to the 0. T., ed. J. B. PRITCHARD 2 1955 ANV(A)O = Avhandlinger utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo (Kristiania) AOB = Altorientalische Bilder, hg. v. H. GRESSMANN 2 1927 AOT = Altorientalische Texte, hg. v. H. GRESSMANN 1 1926 ATD = Das Alte Testament Deutsch, hg. v. V. HERNTRICH und A. WEISER B = Biblica BBB = Bonner Biblische Beiträge BENTZEN: Introduction = A. BENTZEN: Introduction to the Old Testament 41958 BEvTH = Beiträge zur Evang. Theologie BHH Biblisch-Historisches Handwörterbuch, hg. von B. REICKE- L. RosT BHTh = Beiträge zur historischen Theologie BK = Biblischer Kommentar, Altes Testament, hg. v. M. NoTH BRL = Galling, Biblisches Reallexikon 1937 BuLTMANN: Tradition = R. BuLTMANN: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29 2 1931 4 1958 BWANT = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament BZA W = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft DrBELIUS: Formgeschichte = M. DrBELIUS: Die Formgeschichte des Evangeliums 2 1933 3 1959 Diss = (Evang.-theol.) Dissertation DVfLG = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte ErssFELDT: Einleitung = 0. ErssFELDT: Einleitung in das Alte Testament 11934, 2 1956 ErssFELDT: KS Kleine Schriften 1-111, 1962-1966 ET = The Expository Times EvTh =Evangelische Theologie FRLANT = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments FS Festschrift Guß = H. GuNKEL- J. BEGRICH: Einleitung in die Psalmen. Ergänzungsband zum HKA T 1933 GuNKEL: Genesis = H. GuNKEL: Genesis, HKAT 8 1910 51922 GuNKEL: GrPro = H. GuNKEL, Einleitungen zu H. SCHMIDT: Die großen Pro. pheten, SAT II, 2 21923 GuNKEL, KdG = H. GuNKEL: Die israelitische Literatur, in: Die Kultur der Gegenwart, hg. von HrNNEBERG, I, 7 2 1925 GuNKEL, RuA = H. GuNKEL: Reden und Aufsätze 1913
=
=
=
330 GuNKEL: Schöpfung = H. GuNKEL: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit 2 1921 HAT = Handbuch zum A. T., hg. von 0. EzssFELDT HdO = Handbuch der Orientalistik, hg. v. B. SPULER HEMPEL: Literatur = J. HEMPEL: Die althebräische Literatur und ihr hellenistischjüdisches Nachleben, Handbuch der Literaturwissenschaft:, hg. v. WALZEL, 1930 HKAT = Handkommentar zum A. T., hg. v. W. NoWACK HUCA = Hebrew Union College Annual JBL = Journal of Biblical Literature and Exegesis JTS = The Journal of Theological Studies KAT= Kommentar zum A. T. hg. v. E. SELLIN KHC = Kurzer Hand-Commentar zum A. T., hg. v. MARTI KHC(AT) = KHC LUA = Lunds Universitets Arsskrift MeyerK = Kritisch-exegetischer Kommentar über das N. T., begründet v. H. A. w. MEYER MowiNCKEL: Prophecy = S. MoWINCKEL: Prophecy and Tradition, ANVAO 1946, 3 MowiNCKEL: PIW = S. MowiNCKEL: The Psalms in Israel's Worship 1962 N. F. = NF = Neue Folge NoTH, GS = M. NoTH: Gesammelte Studien zum A. T. Theologische Bücherei 6, 2 1960 NoTH, ÜGP = M. NoTH: Oberlieferungsgeschichte des Pentateuch 1948 NoTH, ÜGS = M. NoTH: überlieferungsgeschichtliche Studien I 11943 2 1957 NTD = Das Neue Testament Deutsch vRAo, GS = G. v. RAo: Gesammelte Studien, Theologische Bücherei 8, 1958 vRAo; Theologie = G. v. RAo: Theologie des A. T. 1957 ff. RB = Revue Biblique RGG = Die Religion in Geschichte und Gegenwart 2 1927 ff. 3 1957 ff. SAT = Die Schriften des A. T. in Auswahl übersetzt und erklärt v. H. GuNKEL u. a. SgV = Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte SNVAO = Skrifter utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademie i Oslo (Kristiania) StANT = Studien z. A. und N. T. StBTH = Studies in Biblical Theology StTh = Studia Theologica THAT = Theologisches Handwörterbuch z. AT, hg. E. JENNI ThB = Theologische Bücherei ThLZ = Theologische Literaturzeitung ThR = Theologische Rundschau ThSK = Theologische Studien und Kritiken ThSt = Theologische Studien (Basel) ThW = Theologisches Wörterbuch zum N. T., hg. v. G. KITTEL - G. FRIEDRICH ThWAT =Theologisches Wörterbuch z. AT, hg. G. J. BoTTERWECK- H. RINGGREN ThZ = Theologische Zeitschrift UT = C. H. GoRDON: Ugaritic Textbook, Analeeta Orientalia 38, 1965 UUA = Uppsala Universitets Ärsskrifl: VT = Vetus Testamenturn 1950 ff. VTS = Supplements to Vetus Testamenturn WA = Luther, Werke: Weimarer Ausgabe WMANT = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, hg. v. G. BORNKAMM und G. v. RAo WZ = Wissenschaftliche Zeitschrift ZAW = Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ZDMG = Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft ZNW = Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ZThK = Zeitschrift für Theologie und Kirche
331 Verzeichnis der erwähnten biblischen Gattungen und ihrer Elemente Abschließende Charakteristik: 232. 237. 252. 254. 260. 262. 266 Anekdote: 191 Anklage (im Profetenspruch): 234 A 16. 236 A 19 Ankündigung des Unheils (Drohwort): 234. 235 f. 251. 259 Annalen: 14. 66. 67. 103. 178 A 17 Appellationsformel: 172 A 9 Appell zur Aufmerksamkeit: 251. 255. 256.260.261 Aufnahme einer Profezeiung: 255-256 Begründungsklausel: 12. 27. 40. 60 Bekenntnis: 14. 82 Bericht, historischer: 104 A 19. 145. 146. 182 Berufungssage: 71 Beschuldigungsformel: 148 A 9 Beschwichtigungsformel: 172 A 9 Bitte zu Gott: 211. 212.218. 219. 220 Botenbeauftragung: 231. 233. 241. 248. 265 Botenformel (ko-amar-Formel): 110. 231 bis 232. 234. 235. 253. 254. 257. 258. 260. 261. 264. 265 Botenspruch, profetischer: 234.265-266 -,zwischenmenschlicher: 230-232.233. 262.265-266 Brief im AT: 103 Briefe im NT (Epistel): 7. 14. 15. 25. 28. 30. 36.44.66.67.73. 76.103.109.128 Buch, kanonisches: 7 Bundesformular: 26. 27. 40. 63. 79. 240 A4 Dekalog: s. Gebot, apodiktisches Drohwort, -spruch: s. Weissagung, UnheilsEinzugstara: s. Tempeleinlaßliturgie Erhörungsorakel: 209-222 Erweiswort: 262 A 10 Evangelium: 18 A 28. 28. 30. 31. 66. 67. 68. 69. 74-78. 80. 90. 92. 94. 108. 128 Einzigartigkeitsformel: 198 A 2 Familiensage: s. Sage Fluch und FludJ.formel: 11 A 10. 40 A 16. 79. 103. 173. 192. 212 Formel, kerygmatische: 25. 67. 109. 128 Fürbittegebet: 33, 108. 151. 154. 157. . 200.205.211.228
Gedicht: 116. 117 Gerichtsrede, profetisdJ.e: 42. 236. 270. 270 A 23 GeschidJ.tsschreibung: 28. 130. 146. 178. 180. 181. 189. 191. 192. 193. 226. 243. 247 GesdJ.ichtswerk, -buch: 25. 68. 74. 76. 78. 94 Gesetzbuch, -sammlung: 30. 79. 87. 103. 104 A 19 Gleichnis Jesu: 124 GottesredJ.t, apodiktisdJ.es (vgl. Gebot): 11. 12. 116. 149. 268 Heilsprofezeiung: s. Profezeiung Heilsweissagung: s. Weissagung Heilungserzählung: 109 Heldensage: s. Sage vom Volkshelden Heroldsruf: 251 A 7 Hinweis auf die Lage (Scheltrede, Mahnwort): 233-236. 251. 252. 254. 255. 258. 259. 260 A 6. 261. 265. 266. 268. 270 Hymnus: 195-208. 212. 217. 221 Klage: 212.218.219.220 Klagelied: 44. 121 - d. Einzelnen: 30 A 19. 209-222 - d. Königs: 30 A 19. 148. 212 A 2 - d. Volkes: 221 A 19.222 Königsgebot an das Volk: 148 Kultgründungssage: s. Sage Lasterkatalog: 128 Legende: 191.234.239-244.258 -, Profeten-: 225-238. 240. 246-250. 267.269 -, Jesus-: 242 -,Märtyrer-: 242 Legitimationsformel: s. Botenformel Lehrsatz: 16. 109 Lied: 116. 180.203 -,Christus-: 113. 128 -,Leichen-: 121 -,Liebes-: 112 -, Vertrauens-: 30 A 19 -, Zions-: 44. 208 Liste: 178 A 17 Liturgie: 30. 128. 201. 240. 267 Lobpsalm, beridJ.tender oder beschreibender: 199 A3 Logion Jesu: 15. 30. 65. 69 A 55. 76 . 112. 113. 117
Gebot und Verbot, apodiktisches (DeMärchen: 18. 187. 190 kalog): 10-13. 15. 23-25. 30. 37. 38. · Mahnwort: s. Hinweis auf die Lage 40. 41. 45. 55-64. 78-80. 96. 103. Makarismos: 6-9. 15. 21-23. 25. 30. 104.118.149. 240A4. 268 36-37. 44. 45. 49. 50-SS. 63. 64. 74
332
Biblische Gattungen
bis 78. 108 A 34. 109. 112. 115. 119. 128. 198 Mythe: 28. 185 A 7 Orakel: 103. 218 -,göttliches: 173. 233. 268 -,öffentliches: 233. 268 -,privates: 233. 248. 251. 261. 268 -,Kult-: 262 A 5 Ordalspruch: 103 Ortssage: s. Sage Paränese: 40 A 16 Prahllied: 65 Predigt: 32.46.94. 108.128.200 -,Missions-: 36. 67. 108. 128 Predigtformel: 251 A 7 Priesterspruch: 19. 30 Profetenbiografie: 246-250 Profetenbuch: 15. 67. 74. 82. 103. 110. 119. 258. 269. 270 Profetenlegende: s. Legende Profezeiung: 237. 248. 256. 258-270. 270 A13 -, Heils-: 250. 254-255. 256. 258. 261 bis 265. 266. 270 -, Unheils-: 103. 104 A 21. 222. 236. 237. 250. 251-252. 255. 256. 258 bis 261. 262A9.263.265. 266.268.270 -an den Einzelnen: 230. 233-237. 251 bis 252. 258 -an den König: 258 A 1a - an das Volk: 251. 252-254. 258. 268 Recht, apodiktisches: s. Gottesrecht -,kasuistisches: 12 A 14 Rechtssatz: 15. 17 Rede, allgemein: 74. 97. 98. 99. 119. 146. 148. 149. 153. 155. 173. 175. 179. 180. 183. 184. 226. 237. 246 -,göttliche: 40. 148. 152. 159. 183 -,eines Königs: 148 -,kultische: 40 -,offizielle: 172. 230. 232. 234. 237 -, profetische: 7. 14. 28. 100. 119. 283 -,Weisheits-: 36 Reflexion, profetische: 234. 256. 266 Revelationsformel: s. Wortempfangsformel Ruf zur Aufmerksamkeit: 251 A 8 Sage: 43. 65. 105. 146-162. 168. 176. 178.182-193.225.226.228.239.242. 243.244 -,ethnologische: 147. 155. 169. 171 -,Familien-: 186
-, v. Hl. Kriege: 187 -, Kulturgründungs-: 187 -,Orts-: 187 -,Väter-: 176. 186. 187. 193 -,vom Volkshelden oder bäuerlich nationale: 169-173. 178. 180. 181. 186. 190A24. 193.226 Sagenkranz: 30. 31. 180 Scheltr.ede: s. Hinweis auf die Lage Schwur: 41. 173. 180 Segen und Segensformel: 40 A 16. 79. 148. 152. 153. 157. 159. 161. 162. 172. 173. 192.212 Segenswunsch: 8. 256 Seherspruch: 266 Selbstvorstellungsformel: 11. 12. 26. 39. 59 Seligpreisung: s. Makarismos Sprichwort: 105 Spruch zur symbolischen Handlung: 257.265.270 Spruchkette: 8. 269 Stammbaum: 17. 76. 185 Staatsvertrag: s. Bundesformular Tempeleinlaßliturgie: 38 Thronbesteigungslied: 201. 202. 208 Tötungsbestimmung, apodiktische: 11 A 10. 116 Tugendkatalog: 128 Unsd1uldigerklärung: 172 A 9 Urkunde: 32. 103 Verbotsreihen: 11. 12. 23. 24. 25. 26. 27. 37. 39. 40. 41.49. 63.79 Vertrauenslied: 30 A 19 ' Visionsbericht: 269. 270 Wehelied, -ruf: 22. 270 Weisheitsspruch (Sentenz): 7. 8. 14. 15. 36. 74. 103. 116. 117 Weissagung: 75. 254. 255. 258 -,apodiktische: 259 -,mit Präsentativ: 259 -,Heils- (Verheißung): 254. 261-262 -, Unheils-: 252. 253. 259. 260. 262 A 9 Wortempfangsformel oder Wortereignisformel: 247. 248. 261 Zauberspruch: 28 Zionslied: s. Lied Zitationsformel: 103 Zugehörigkeitsformel: 198 A 2 Zukunftswort: 31. 214. 258. 258 A 1. 259
333 Verzeichnis der Bibelstellen Altes Testament: Genesis : 64 A. 43 1 : 58 2,1-3 : 184 2, 18 : 120. 142. 170 2, 23 : 148 3,13 : 142 4, 15 : 65 4, 23 : 76 5, 1 : 64 A. 43 6-9 : 142 6, 1 : 184 6, 7 : 26 A.14 9,4 : 147 9, 20 : 142 11, 1 : 142 11, 7-9 : 170 11,9 : 177 12 : 148. 159 12, 1-3 : 152 12,3 : 148. 152. 159 12,7 : 160 A. 23 12, 8 12, 10-13, 1 : 136-162 : 149 A. 12. 187 12, 10 : 148 12, 11-13 : 148 12, 18 : 148 12, 19 : 160 A. 23 13,2 : 160 13,2-5 : 160 13, 7 ff. : 148 13, 14-17 : 152 13, 15 : 41 A. 18. 144. 158 15 : 78 15, 1-6 : 152 15, 5 : 78 15,13 : 148 15, 17 : 120 16, 11 : 149 A. 11 17, 5 : 184 18 : 184 18, 17 19 : 144 : 101 19,21 : 136-162. 183. 187 20 : 168 20,1 20, 7 : 172 : 168 20,8 : 148. 184 20,9 20, 10 : 171 : 148 20,11 : 149 20,13 : 148. 183 20,15 : 159 21 21, 10 : 184 : 135 A. 1. 158 22 24,12 : 218
24 25 25,11 25, 22ff. 25,22 25,29 26 26,1 26, 1 ff. 26,9 26, 10 26.11 26, 15 27 28, 14 29,25 30,13 31 32,5 32, 10 32,23 34 35,2 35,4 43, 1 45,9 47,4 47,13
:71 : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : :
145 161 161 218 101 177 161 136-162 148 149 A. 12 148 161 145 152 148 22A.2 159 232 A.13 218 187 147 59 59 159 A. 22 231. 232 A. 13 159 A. 22 159 A. 22
Exodus 5, 22 9,3 12,24-27 13,2 13,3-10 13,3 13,7 13, 14 14 15, 1 ff. 15,20 17,14 19 19-24 19, 19 20 20, 1 20, 1-7 20,2 20,5 20, 7 20, 18-21 20,21 20,23 21
: : : : : : : : : : : : : : : : : : :
218 159 A. 22 101 25 78 59 101 59. 101 115 201 202 103 39 80.240 79 39. 40.78 11. 79 78 12
:40 : 40 : 79 : 79 :59.62 A. 36 : 40 A. 16
Bibelstellen
334 21, 12 22, 17 22, 20f. 22,21 22,27 23 23, lff. 23, 1-9 23, 7-9 23,10 23,12 23, 15 23,16 23, 17 23, 18 23, 20f. 23,24 23,32 24 24,4 24,8 31, 15 31, 18 32, 5f. 32, 15 34 34,1 34,6 34,7 34, 10 34.11-13 34, 14ff. 34,17 34,18 34,20-22 34,21 34,23 34,25-26 34,25 34,27 34,28
: : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : :
11 A. 10. 149 11.24 11. 12. 24 26 A.12 11. 24 61 A. 32. 62. A. 36 24 10 12 60.62 62 62 62 40 62 40A.16 61 61 41 A. 18 37. 103 39 60. 116 37.41 A. 18 37 41 A. 18. 103 24. 39. 60. A. 32 11. 37 12. 59. 61 60 39. 61 61 12 A. 13.40 59.62 62 62 60 40 62 24 39 11 A. 28.60
Leviticus
1, 7 1, 12 3,17 6, 5 6,6 10,3 17, 12 17, 14 18 18, 6ff. 18,6-17 18, 9. 19 19, 4ff. 19,9 19,35 20 26
: : : : : : : : : : : : : : : : : :
215 215 26 A.14 215 24 120 26A.14 26A.14 12. 39. A 13. 40 10. 12 12 A. 15. 39 A. 13 156 11. 12 A. 15 12.59 25 25 40 A.16 40 A. 16. 266 A. 18
Numeri
5, 11 5, 23 14, 18 21, 14 21,27 21,28 22,5 23,9 23,11 23,20 24, 3f. 24, 14
: : : : : : : : : : : :
103 103 59.60 103. 262 A. 9 101 114 232 266 148 266 255 A. 13 262A.9
Deuteronomium
1-4,43 1, 17 1, 19 4,5 4, 9 4,13 4, 19 4, 23 4, 26 4,40 4,45 4,46-5,5 4,46-6,3 5 5, 5 5,6 5,6-21 5, 22 5,23-6,3 5,26-28 5,29 5,32 6 6, 4-11,30 6, 6f. 6, 12 6, 18 6,20-25 7,2 7, 8 9, 9 10, 1-5 10,4 10, 5 10,13 11, 1 11, 15 11, 19 12, 1-:26, 15 12, 4f. 12, 8f. 12, 11 12, 12 12, 17
: 59 A. 26 : 24 : 57 : 57 : 101 : 11 A. 11 :59 : 59 : 60 : 60 : 79 : 80 : 79 : 39. 55 A. 22. 78. 79 : 39 : 12 : 55-64 : 11. 39 : 80 : 152 : 57 : 57 : 40A.16 : 79 : 110 : 59 : 57 : 101 : 61 A. 35 : 59 : 39 : 37 : 11 A. 11 : 57 : 152 : 152 : 39 : 101 : 79 : 24 : 24 : 59 : 60 : 24
335
Bibelstellen 12, 18 12,25 14, 3ff. 16, 11 16, 14 17, 18 18,5 23, 1-8 23,4 24, 1 25, 13-15 26, 16-19 27 27, 1-4 27,9 27, 15-26 29,6 29,22 31,9-11 31, 10 31,24 31,28 32, 7 33,29 36,39
: 60 :57 : 24 : 60 : 60 : 103 : 256 :11 :11 : 103 : 25 : 79 : 40 A. 16.79 : 37 : 39 : 11 A. 10 : 206 : 101 : 39 A. 12 : 79 : 103 : 104 : 101 : 23A.4 : 205
1. Samuel 1 1, 1 3, 11 4-6 9, 21 10 10,25 14,39 15 16 17 17, 10 17,37 18,6 18, 10 19, 18 20 22,5 23, 14ff. 24ff. 24,6 26ff. 26,9 27
: : : :
71 142 259 187
:71 : : : : .: : : : : : : : : : : : :
228. 103 148 228 168 A. 1. 177 177 184 184 142 142 228 177 177 163-181. 183 163-181. 185 187 163-181. 183. 185. 186. 190 A. 24 : 184 : 177
Josua 2. Samuel 4, 7-22 5,2 5, 4-8 7, 7 8, 31 8,32 10, 12 22,24-28 24,20 24,23 24,25 24,25-27 24,26 24,27
: : : : : : : : : : : : : :
101 204 88 A. 10 218 103 37 103 101 59 59 39 37 103 41 A. 18
Richter
3, 14-26 5 6 6,13 6, 15 8, 14 9, 10 11
11, 12 13 15, 18 16,28 21, 5
: : : : : : : : : : : : :
171 115 228 101 71 103 205 184 231. 232 A. 13 228 218 218 148
3, 2-5 5 5, 13-16 6 7 7, 18 9 10 10, 6-19 11, 14 12,11 12,26-31 15,31 16, 1-4 19,25-31 22 23,1 24, 10 24,17
: : : : : : : : : : : : : : : : : : :
178A.17 177 178A.17 187 178 217 178. 243 178 178 103 252,259 178 218 178 178 112 255 A. 13 187. 217 217
1. Könige
1,36 2, 30 5, 19 8 11,14 11,29ff. 11,31 11,33
: : : :
256 231 262A. 9 33 103 228 252. 261. 262 236 A. 21
Bibelstellen
336 11,41 12,24 13 13,2 14, tff. 14,7 14, 10 14,11 14,29 17, tff. 17,2 17,3 17,5 17,9 17, 10 17,13 17, 14 17, 15 17,17-24 18,1 18,2 18,5 18,8 18, 16 18, 17 18,40 19,4 19, 15 19, 19-21 20,2 20,5 20,13 20,28 20,36 20,42 21 21,8 21,10 21,17 21,20
103 237,263 228 : 259 A. 4 : 228 : 234. 236 A. 21 : 252.259 : 237 : 103 : 230 : 248 :227A.3 :227A.3 :227A.3 : 227 A. 3 : 227 A. 3. 231 A. 10 : 261. 262 :227A.3 : 229 : 227 A. 3. 230. 248 :227A.3 : 231 A. 10 : 227 A. 3 :227A.3 : 231 : 231 A. 11 : 217 :227A.3 :227A.3 : 231 A. 11 : 231 A. 11. 232 A. 13 : 262 A. 10 : 234. 236 A. 21. 262 A. 10 : 236 A. 21. 259 A. 36 : 234 : 230 : 103 : 236A.19 : 248 : 231
4, 43 6, 1 6,8-23 9 9,17 10, 1 14,9 17,13 17,23 17,35 17, 38f. 18, 19
: : : : : : : : : : : :
18,28 18,29 18,32 19,3 20,2 20,5 21. 29 23,1-3
: : : : : : : :
261 231 229 230 231 A. 10 103 232 A. 13 256 256 39 59 230. 231. 232. A. 13. 233 A.14 231 232 232 231 A. 11 217 261. 262 261 39 A. 12
Jesaja 1, 2 2,2--4 6, 3 7, 3 7, 4 7, 7 8, 1 10, 1 30,7 30, 18 31,9 32,20 38, 19 61, 1-7
: : : : : : : : : : : : : :
71. 236. 270 112 203 A. 11 261 261 261. 262 103 103 103 22 22A. 2 23A.4 101 52.53
Jerernia 2. Könige 1 1, 3 1, 4 1, 5 1, 6 1, 15 1, 16 2,16 2, 18 2, 21 2,30 3,1 3, 5 3, 16 3,17 4,3 4,42--44
: 223-238.242.243.244. 251. 254 : 259. 261 : 259.260 : 227 A.4 : 259. 260. 261 : 261 : 259.260.267.268 : 231 : 231 : 227 A. 3 : 231 A. 11 : 237 : 237 : 261 : 261. 262 : 231 A. 10 :227A.3
1, 1-3 1, 5 1, 11 2,2 2, 4-12 2, 5 2, 9 4, 3 4, 27 6,13 8, 8 10, 13 11,5 11, 18-23 12, 1-6 13,8-11 14, 1-15, 4 15, 15-21 17, 12-18
: : : : : : : : : : : : : : :
104 A. 21 114 19 214 270 214 117 214 214 254 103 206 152. 256 222 222 257 222 209-222 222
337
Bibelstellen 18,8-23 19 19, 11 20,7-18 22,9 22,11 22, 18 24,1 26 26-35 26,11 26,18 27 27,22 28 28,2 28,3 28,4 28, 11 28,13 28,14 28,15 28,16 29 29,5-7 29, 10-14 29,25 29,31 30,2 32, 10 32,14 32, 15 32,28 32,36 32,37 32,44 33, 1 33,3 33,4 33,6 34 34,2 34,3 34,4 34,5 34,12 34,22 35 35, 4-17 35,6 35, 17 35, 18 35, 19 36 36-38 36-45 36,2 36,4 36,6 36,29 36,30 36,32
: : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : :
222 249 257 222 39 259 259 262A. 9 249 250 236A.19 260 248. 249. 250 250 245-257. 268 261. 266 262 255. 260. 262 265 259. 260. 265. 266 268 259.260 259.260 247.250 261 250 259 259 103 103 261 261 259 261 262 262 261 261 261 262 249. 255 260 255 254. 261. 262 262 201 259 39 A. 13 261 39 A. 13 259 261 262 103,261 247 249 222 100 A. 8. 249 100 259 259 222
38, 17 39,18 42,2 43 43,10 44,26 44,30 45, 1 51, 59ff. 51,60 51,64
: : : : : : : :
263 262 263 250 259 260 259 249 249 103 257
Hesekiel 1, 3 2,9 18 18, 8f. 18, 17 43,11
: : : : : :
104 103 12 A. 15.40 25 25 103
Hosea 2, 4-15 2,4 4, 2 4, 1-10 8, 12
: : : : :
270 236 40 270 103
Amos 4,11 5, 2 7, 16 7, 1 7,4 7, 7
: : : : : :
101 121 260 262A. 9 262A. 9 262A. 9
Jona 1, 14
: 217 Micha
3, 9-12 3, 12 4, 1-3
: 260 : 104A. 21 : 112 Habakuk
2,2 3 3, 3
: 103 : 115 : 200 Haggai
2,3-9
: 262
Bibelstellen
338 Maleachi 3,1
: 265 A. 15 Psalmen
1 2,12 3-7 3-41 5 6 7,1 9 13,1 14 15 18 18, 1 22 22,22 24 24,4 24,6 27,5 27, 12 29 29,1 29,68 30,7 34,9 37,11 40, 17 42-43 42-49 42,6 42,12 43,5 44,2 46 46,8 46, 12 47 48,1 48,11
so
50, 1-15 50, 7 so, 17 so, 81 Slff. 51, 1 53 61 74,12-17 78,2-6 78,3 78,68 80,4 80,8 80,20
: 8 : 22.117 : 222 : 222 : 209-222 : 209-222 : 208 : 117 : 117 : 112 : 38 : 112 : 208 : 212 : 212 : 38. 201. 202 : 40. 52. 53. 59 : 52.53 : 115 : 57 : 199. 204 : 115. 200 : 115 : 115 : 22 : 52.53 : 117 : 217 : 208 : 118 : 118 : 118 : 101 : 131 : 118 : 118 : 195-208 : 200 : 200 : 38.39 : 201 : 12.41 A. 18 :11 : 40A.16 : 222 : 208 : 112 : 217 : 30 : 101 : 105 A. 22 : 201 : 118 : 118 : 118
: : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : :
81 81,2-6 81,9 81, 10 81, 11 81, 14f. 84,6 93 95, 1-7 96-99 103, 11 104 111-118 115 115,3 115,4-7 119 120-134 127f. 127,5 128,3 133 134 135 136 136, 13 137 139, 13-16 146 147-150 148, 14 150
38.40 201 41 A. 18 12A.13. 59 12. 59 40A.16 22 201 201 201 116 199. 204 207 A. 16 206 206 206 46. 117. 207 A. 16 207 22 22 A. 2. 115 23A.4 22 207 195-208 206 200 207 30 195-208 208 200 208
Hiob 9,27-10,22 13, 23-14, 22 36,22-37, 24 38f.
: : : :
218 218 205 205
Proverbien 2,1 3,13 6, 19 6, 21 8, 32f. 8,34 10, 1 10,26 13,3 13, 14 22,20 25-27 25, 1
: : : : : : : : : : : : :
121 8. 22A. 2 57 115 8 22A2 115. 116 117 114 114 103 117 100 A. 9
Qohelet 10, 16 10, 17
: 22A.2 : 23A.4
Bibelstellen Sirach
Threni 1-3
: 117 Daniel
1-6 2-4, 7 3,12 4 12, 12
: 242 : 252 : 236 A. 19 : 65 :8
339
22,27-23,6 25,7-11 28, 19f. 39, 14-35 42, 15-43, 33 48, 11 50, 18f. 50, 18f. 50,28
: 218 :8 : 22A.2 : 205 : 205 : 8. 22A. 2 : 201 A. 5 : 201 A. 5 : 8
3. Makkabäer Nehemia 7,13 1, 5-11 8 8, 4 8, 7 9
: : : : :
218 39 A. 12 77 58 A. 25 203
Add. Est. 3, 12-30
: : : : : :
76 203 205 201 A. 5 203 205
: 221 A. 19 1. Rennoch (äthiop.)
1. Chronik
1-9 16,8-36 16,35 16,36 29, 10-12 29,13
: 201 A. 5
58,2 81,4 82,4 99, 10 103,5
: 22 : 8 :8 : 22 : 22 2. Henoch (slaw.)
2. Chronik 6, 14f. 6,16
: 203 : 205
42, 6-14 42,11 52 52, 1-16 52,11
Apokryfen und Pseudepigrafen zum AT Judith : 218 : 218
9 13,4
2. Baruch (syr.) 10, 6f. 11,6 54,10
: : : :
8 8 8 8
: 8. 22 : 8 : 8 4. Esra
Psalm. Sal. 4,23 17,44 17,44 18,6
:8 : 9. 22 : 22 : 9 :52
7,45 14,44-46
: 8 : 107 A. 31
Oratio Manassis
: 218
Tobit 3 13, 14
Jubiläen : 218 : 8. 22
13, 10f.
: 145
Bibelstellen
340 Or Asariae Add.Dn 1
: 221 A. 19
12,37 12,43 14, 14 16,23
: : : :
22.37 A. 6 22.37 A. 6 5. 22. 55. A 19 55
Neues Testament Johannes
Matthäus 4, 17 4,24 4,25f. 5 5, 3-10 5,3-12 5, 6 5,10 5,11 5,12 5, 13-16 5,20 6,34 7, 28 7,29 10,16 10,32 11,1 11,6 13, 6f. 13, 16 13,23 13,53 15,22 16,17 17, 15 18,33 19, 1 24,46f. 26, 1
: 76 : 76 : 77 : 22. 37. 76. 108 A. 34. 119 : 9. 37. SOff. 77 : 7-9 : 76 : 76 : 9. 54 : 77 : 76 : 76 : 115 A. 7 : 77 : 76 : 115 A. 4 :54 : 76 :55 : 22 : 37 A. 6 : 76 : 76 :51 A. 9 : 22. 23. 37 A. 6. 55 A. 19 :51 A.9 :51 A. 9 : 76 : 22 : 76
7, 15 20,29
: 109 : 22 Apostelgeschichte
2,42 4,13 6,2 6,4
: : : :
109 A. 37 109 109 A. 37 109 A. 37
Römer 4, 7
: 30 1. Korinther
11, 23ff. 11,23-25 15 15, 1ff.
: : : :
109 240 244 109
Philipper 2, 5-11 3, 2
: 113 : 19 Kolosser
Markus 3,13 16 16,9
1, 16
: 77 : 244 : 130
: 30 1. Timotheus
6, 15
:23
Lukas 1, 45 5,18 5,20 6 6,5 6,20-25 6,20 6,22 6,23 7, 36 8,1 10, 23f. 12,8 12,13
: 8.22 :54 :54 : 36. 108 A. 34. 119 : 22 : 8. 22. 23. SOff. : 77 :54 : 77 : 78 : 78 37 A.6 54 78
2. Timotheus 4,9-13
: 15 Jakobus
1, 12
: 8 1. Petrus
3,14 4,14
: 22. 51. 52 : 22.55
Bibelstellen
14, 13 19,9 20,6
Offenbarung Johannes : 8, 22 : 8 : 8 Apostolische Väter Didache
1, 5
: 22
341 Apokryfen zum NT Thomasevangdium
54 68 69
:51 A. 4 :51 A.4 :53
Kerygmata Petri
:51 A. 4