Petra Gehring
Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens
Campus Verlag Frankfurt / New York
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Petra Gehring
Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens
Campus Verlag Frankfurt / New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddlxde abrufbar. ISBN-10 3-593-38007-2 ISBN-13 978-3-593-38007-0 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro nischen Systemen. Copyright © 2006 Campus Verlag GmbH, F r a n k £ u r t / M a in Umschlaggestaltung: Guido K l ü t s c h , Köln Druck und Bindung: KM-Druck, G r o ß - U m s t a d t Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem apier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: w w w . c a m p u s . d e
Inhalt
Zur Einleitung: Was heißt Biomacht?............................................................7 1 Neue Ökonomien: Die Zirkulation von Körperstoffen, die Zirkulation von Biodaten..................................................................17 2 Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Über einen Umbruch............................................................................... 35 3 Wessen Stoffe, wessen Proben, wessen Daten? Verfügungsspielräume im medizinischen Feld.......................................55 4 Woher kommt die Stammzelle? Fünf Vorfragen zu einer phantastischen Substanz................................ 74 5 Bio-Vaterschaft: Die Wiederkehr der Zeugung als technogene Obsession........................................................................92 6 Die Zukunftspolitik der Bioethik..........................................................110 7 Ist die Bioethik ein >Diskurs
Zur Einleitung: Was heißt Biomacht?
Die Probleme, um die es in diesem Buch geht, müssen nicht erst ins Licht gerückt werden. Unter Stichworten wie »Biotechnologie« oder »Bioethik« oder auch »Biopolitik« füllen sie Diskussionsveranstaltungen, TV-Magazine und Feuilletons. Gentechnische Verfahren in der Krankenbehandlung, sozialpolitische Verwendung biomedizinischer Daten, Fabrikation von Fortpflanzungssubstanzen im Labor: Solche Themen entzünden medien wirksame Debatten über Möglichkeiten und Grenzen der Techniken, über Risiken, über Verantwortung, über Zukunftsmärkte und über die Freiheit der Forschung. Zugleich kennt man die Neuerungen, um die es geht, keineswegs nur aus den Medien. Biotechnologien sind längst im Alltag angekommen. Und sie werfen dort Fragen auf. Soll ich gentechnisch hergestellte Medikamente nutzen oder nicht? Wo genau beginnt bei vorgeburtlichen Qualitätstests während der Schwangerschaft die Zone bedenklicher Auswahlentschei dungen? Welcher Versichertengruppe werde ich aufgrund meiner biomedi zinischen Daten zugeordnet werden? Vielleicht einer »Risikogruppe«? Oder einer besonders gesunden Gruppe, der dann Privilegien zustehen? Neh men wir an, letzteres sei der Fall: Nutze ich diese Privilegien dann? Biotechniken und Biomedizin provozieren moralische Ambivalenzen. Sie sorgen für »Dilemmata«, würde es in der halb-philosophischen Sprache der Bioethik heißen, die sich um solche Fragestellungen kümmert. Die Bio ethik ist eine in den 1970er Jahren neu entstandene Mischdisziplin, in der öffentlich tätige Experten versuchen, moralische Schwierigkeiten im Feld der Anwendung von Biotechnologien zu präzisieren und nach Möglichkeit aufzulösen. Bioethik wird von Wissenschafdem betrieben, aber sie arbeitet öffentlich - und in der Nähe der Politik. Diejenige Politik, die bioethische Dilemmata entscheidet, heißt in den USA Biopo/itics. Im deutschen Sprachgebrauch wird das Wort Biopolitik ebenfalls verwendet, es hat aber einen kritischen Beiklang. »Biopolitik«
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meint hierzulande nicht einfach ein Politikfeld unter anderen, sondern eine fatale, sich »des Lebens« der Menschen bemächtigende Politik. So oder so: Durch den Hinweis auf eine gesonderte Politiksorte namens Biopolitik ist über die politische Dimension der biotechnischen und biomedizinischen Errungenschaften noch nicht viel gesagt. Ob man Biopolitik schlicht für die Konsequenz des Vorhandenseins von Biowissenschaften, Biotechniken und Bioethik hält oder aber sie kennzeichnen will als eine ungute Art von Politik: Dem Zusammenspiel von moralischer Ambivalenz und politischer Entscheidung wird eine unbestimmte Art von Notwendigkeit zugestanden. In der Tat, wer wollte es bestreiten? Alles, was Biotechniken möglich ma chen sollen —,vom genveränderten Medikament bis zum erbgutverbesser ten Embryo - ist eng verflochten mit der Gesundheits- und Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaates. Die neuen Möglichkeiten korrespondieren mit dem Innovationsbedarf von Wissenschaft und Wirtschaft wie auch mit Kon suminteressen der Individuen. Ist Biopolitik also unvermeidlich —einfach weil sie mit einer kompakten wissenschaftlich-technischen Entwicklung korrespondiert? Betrachtet man die öffentliche Debatte aus Abstand, so fällt zweierlei auf. Erstens eine Monopolstellung der Ethik. Wenn über Biotechniken wie auch über Biopolitik nachgedacht wird, so geschieht dies im Zeichen der Ethik oder auch der Werte. Biodebatten, auch biokritische Debatten, sind Ethikdebatten. Besorgt fragt man lediglich nach dem richtigen, also nach dem »ethisch« vertretbaren Umgang mit einer biotechnologischen Neue rung. Innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft verengt dies den Blick. Wer sich auf Ethik fixiert, namentlich auf die so genannte angewandte Ethik, die in der Politikberatung und in Ethikkommissionen Entscheidungshilfen gibt, beantwortet gleichsam nur noch eine gegebene Problem stellung. Was wegfallt, sind Fragen, die Distanz suchen. Reflektierende Fragen. Und vor allem: Vorüberlegungen zum Problem selbst. Gefragt wird nicht mehr beispielsweise: »Was geschieht hier?«, »Wissen wir bereits, wo genau das Problem liegt?« oder gar: »Woher kommt das Problem?«. Ethik leistet keine analytische Beschreibungsarbeit. Sie überspringt wich tige Vorfragen. Sie reduziert Probleme der Beschaffenheit und der Macht des Gegebenen auf die Frage: »Was sollen wir tun?« Die zweite Beobachtung betrifft die Positionierung der Argumente in der öffentlichen Diskussion. Das Muster der Auseinandersetzung gehorcht dem Schema der Kontroverse. Aussagen zu Biotechnologie und Biomedizin gruppieren sich >pro< oder >kontra<. Ist t^es nicht von selbst der Fall, dann
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werden sie so gruppiert - durch die Filter der Medien und der Zitatwahl. Es ist, als werde nur •wahrgenommen, was der einfachen Polarisierung dient: Das Für und Wider. Dritte, vierte, fünfte oder >ganz andere< Sichtweisen finden keinen Platz —es sei denn um den Preis der Zuordnung zu einem der beiden Lager. Es ist leicht zu sehen, dass das Schema der Kontroverse gerade nicht zur Problementfaltung fuhrt, sondern einseitig der schnellen Entscheidungsfindung dient. Tatsächlich stehen bioethische Kontroversen stets im Zeichen der Dringlichkeit: Eine neue, spektakuläre technologische Option —sagen wir: die Stammzellforschung —soll sofort realisiert werden oder aber sofort verhindert. Die Politik wiederum will ebenfalls zügig den volkswirtschaft lich vorteilhaften gesetzgeberischen Kompromiss. Zeitdruck und Ethik gehören zusammen wie Sonne und Schatten. Schließlich wundert nicht, dass im Schema der Kontroverse selten Zu sammenhänge diskutiert werden. Es steht vielmehr stets ein eng begrenzter Verhandlungsgegenstand zur Debatte: eine technische Neuerung, eine bestimmte, aktuell beunruhigende und möglicherweise regelungsbedürftige Technologie. Das Schema der Kontroverse steht auf diese Weise sowohl der Ethik als auch der Politik sehr nahe: Was zählt, ist der durch Machbar keit bemessene Handlungsbedarf. Im deutschsprachigen Raum erlebten wir in den vergangenen vier Jahren auf diese Weise >porüoniert< eine Ge nomdebatte, eine Klonierungs- und Stammzell-Debatte, eine Gen-Nahrungsmittel-Debatte. Derzeit sind eine Nano-, eine Neuro-, eine Gentestund eine Euthanasie-Debatte im Gang. Solche Debatten überlappen sich. Sie konkurrieren miteinander, nicht nur um die öffentliche, sondern auch um die wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Grundsatzfragen werden immer wieder berührt, aber bleiben merkwürdig unverbunden. Die elf Kapitel dieses Buches weisen den Denkrahmen der Ethik wie auch das enge Schema von Pro und Kontra zurück. Unter dem Titelbegriff »Biomacht« geht es gerade nicht um die ethische Therapie, sondern darum, gleichsam über die Diagnose, also über Vorfragen, das Wie und Warum der Problematisierungen selbst nachzudenken. Dies sind Fragen philoso phisch-politischer und auch historischer Art. Sie drehen sich um die Her kunft, die Gestalt und die eigentümliche Macht der Gegenstände sowie der Argumentationsformen von Bioethik und Biopolitik. Was heißt nun »Biomacht«? Der Begriff bio-pouvoir, Biomacht, stammt von dem Wissenshistoriker Michel Foucault, der ihn allerdings eher heu
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ristisch, das heißt: als Suchbegriff verwendet Entsprechend offen hat Foucault Biomacht definiert, nämlich als »die sorgfältige Verwaltung der Kör per und die rechnerische Planung des Lebens.« (Foucault 1976, S. 166 f.), als eine Macht, »die den Körper und das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen [...] mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat.« (Fou cault 1975 f./1999, S. 293), wobei die Biomacht —jedenfalls primär —eine »Macht zur Erhaltung des Lebens ist« (ebd.). Es wäre für die politische Machtform namens Biomacht also charakteristisch, dass sie gerade nicht in der Weise traditioneller staatlicher Herrschaft das physische Leben von Untertanen oder Bürgern einfach nur aufs Spiel setzt Sie beschränkt sich gerade nicht darauf, die Körper der Menschen gleichsam bloß zu verschlei ßen oder zu ^Verbrauchern - klassisch: in der Arbeit oder im Krieg. Bio macht geht vielmehr auf eine spezifisch moderne Weise über dieses bloß >verbrauchende< Verhältnis des politischen Souveräns zu seinen Untertanen hinaus. Am Leitfaden der Wissenschaften Ökonomie und Biologie ent deckt diese neue Machtform, dass das physische Leben der Individuen einer Gesellschaft eine nicht nur verwendbare, sondern eine steigerbare Res source ist, die im Medium der Fruchtbarkeit und der biologischen Fort pflanzung verbessert und vermehrt werden kann. Anders gesagt: Die Bio macht entdeckt die Bevölkerungspolitik, die sozialhygienische Gattungs verbesserung, die genetische Qualität des Einzelnen und der Art. Sie erfin det den biologischen Mehrwert. Foucaults Begriff ist plakativ. Irritieren mag auch, dass hier ein Theore tiker von einer Machtform in einer Weise spricht, als würde da eine bloße Struktur aktiv etwas tun: etwas »vereinnahmen«, »entdecken«, »erfinden«. Auf dieser Linie ist Foucaults Machtbegriff in der philosophischen Diskus sion kritisiert worden (exemplarisch: Habermas 1985). Zu Foucaults Machttheorie im Allgemeinen wäre viel zu sagen, was solche Einwände entkräften könnte. Hinter der Redeweise Foucaults jedenfalls steckt nicht einfach ein Universalismus der Macht, sondern ein komplizierteres Projekt: ein Verfahren zur Untersuchung von Machtprozessen in ihrer historischen Immanenz, also ohne der Macht so etwas wie einen >Machthaber<, eine >Quelle< oder ähnliches zuzuschreiben (vgl. Deleuze 1980, zur Auseinan dersetzung Gehring 2004 a). Der zusammengesetzte Begriff »Bio-Macht« ■wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass er —im Unterschied zur diskus sionsüblichen ethischen Begrifflichkeit, im U n te rs c h ie d aber auch zur Kategorie der »BiopoUtik« - g e »d a «ich. ' * * a '
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Wert-Wort gesetzt wird, sondern eine historische These beinhaltet. Biomacht soll kein diabolischer Akteur sein, keine dunkle Größe, die im Gewand der Biologie den Raum der Politik usurpiert. Sie ist eine bestimmte, wirklich keitsorganisierende Form, deren Herausbildung man im Rahmen einer historischen Typologie ermitteln, lokalisieren und datieren kann - also nicht einfach für sich genommen, sondern durch den Vergleich mit anderen Machtformen. Andere Machtformen finden sich im Werk Foucaults ebenfalls beschrieben. Da wäre etwa die Pastoralmacht, die Menschenführungstechniken der mittelalterlichen Kirche (Foucault 1981, 1978/2004). Oder der juridische Machttyp des klassischen absolutistischen Souveräns (Foucault 1975). Oder die »Disziplinarmacht« im Verwaltungsstaat des 18. und be ginnenden 19. Jahrhunderts (ebd.). Oder eine moderne »Normalisierungs macht«, die sich weder auf Untertanen, noch auf Bürger, sondern auf eine sozialwissenschaftlich zu erschließende »Gesellschaft« richtet (Foucault 1966,1976). Biomacht ist also eine beschreibende Kategorie. Als epochenspezifische Form der Ordnung der Wirklichkeit, des Einsatzes von Wissen, der Men schenregierung datiert Foucault ihr Heraufkommen auf das 19. Jahrhun dert. Bereits im 18. Jahrhundert finden sich allerdings Neuerungen, auf die sich das, was später als qualitativ andere Machtform erscheint, stützen kann. Bestimmte wohlfahrtliche Maßnahmen einer 'Politik des Lebens begin nen sich in Europa und Nordamerika flächendeckend zu verbreiten: Man betrachtet das, was vormals einfach Untertanen waren, in seiner physischen Substanz, und man beginnt, das physische Leben nicht nur einzelner Men schen, sondern der ganzen »Bevölkerung«, als Bedingung für das Wohl des Staates und somit Ziel von Politik zu erkennen und zum Gegenstand von politischen Maßnahmen zu machen. Physisches Leben —das sind Gesund heit, aber auch Ernährungszustand, Arbeitskraft, Fruchtbarkeit. Die zu diesem neuen >Realismus<, oder besser: zu diesem neuen Naturalismus gehö renden Maßnahmen sind sozialstaatlicher sowie fortpflanzungsmedizini scher Art und sie verdichten sich im 19. Jahrhundert zu einem kompakten Geflecht, in dem neben Medizin und Ökonomie nicht zuletzt die neuen empirischen Wissenschaften des Sozialen eine wichtige Rolle spielen. Hervorstechendes Anzeichen für das, was Foucault Biomacht nennt, ist die neue Brisanz der Sexualität in der Medizin, in der Erziehung, in der Familienpolitik und in der Straftäterbehandlung des 19. Jahrhunderts. »Vier große strategische Komplexe« einer Konzentration auf Geschlechts- und Sexualfragen hat der bürgerliche Sozialstaat in dieser Zeit hervorgebracht:
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Die »Hysterisierung des weiblichen Körpers«, die »Pädagogisierung der kindlichen Sexualität«, die »Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens« der Paare und die »Psychiatrisierung der perversen Lust« (vgl. Foucault 1976, S. 125 ££). Die Sexualität ist ein »Dispositiv«, so nennt Foucault den beherrschungspolitisch-operationalen Charakter dieses eigentümlichen neuen Elements, welches die Individuen, die Familien und auch das Bevöl kerungsganze gleichsam in ein neues Kraftfeld von Anreizen und Zwängen versetzt. Biomacht und Sexualität, Biomacht und Fortpflanzungspolitik, aber auch Biomacht und heben überhaupt gehören für Foucault zusammen. Das Wort Biomacht kann sozusagen gar nicht wörtlich genug genommen wer den. Was mit dem 18. Jahrhundert beginnt und seit dem 19. Jahrhundert unsere Moderne prägt, ist »nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte [...], in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken.« (Foucault 1976, S. 169) Gemeint ist hier nicht einfach das erzählbare Leben, das Leben, das man erinnert und er lebt. Gemeint ist »Leben« in einem physisch-naturwissenschaftlichen Sinn: biologische Sachverhalte, »Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind« (ebd.). Der eigentliche historische Einschnitt liegt also darin, dass sich die neuen politischen Techniken des Sozialstaats nicht allein auf die Fügsamkeit oder auf die Arbeitskraft der Menschen richten, sondern auf deren biologische, »lebensstoffliche« Qualitäten, und genauer dann: auf die Ernährung und den Schutz vor schädigenden Stoffen, auf die biologische Vermehrungsfahigkeit, auf die gesunde Kinderproduktion, auf die vererbte Gesundheit und die vererbten Eigenschaften des Einzelnen sowie auf die erbbiologische Verbesserbarkeit in der Generationenfolge. »Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen.« (Ebd., S. 170) Diesen Satz kann man einerseits als eine Aus sage über den expliziten Biologismus des 19. Jahrhunderts lesen: Tatsäch lich entsteht im Gefolge Darwins eine Biologie, die das Soziale einschließ lich des gesamten Feldes der Politik in den Begriffen einer biologischen Wissenschaft rekonstruiert, und es entsteht auch das Programm einer »biologischen Politik« (Schallmayer 1903). Man kann den Satz von der Reflexion des Biologischen im Politischen andererseits aber auch gewis sermaßen >substantieller< lesen, und dann gewinnt er die abgründige Di mension eines tatsächlichen Kurzschlusses Die Gattung als solche - als Lebenskontinuum, ^ polMkfeld schäften, als Biomasse, als Genpool
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die politische Selbstreflexion der Moderne könnte gar nicht umhin, dieje nige eines »lebenspolitischen« Politikverständnisses zu sein. Einfach weil das Wesen des Politischen sich verschoben hat. Der Hinweis auf die technische Seite der »Macht zum Leben« durchzieht alle einschlägigen Schriften Foucaults: Das 19. Jahrhundert konstruiert mittels neuer Rechentechniken neue Entitäten. Entscheidend für die neuen Kollektivgrößen »Bevölkerung«, »Gesellschaft«, »Population« oder »Gat tung« im biologischen Sinn sind sozialstatistische Darstellungstechniken, die den Einzelnen auf neue Weise mit der Generationenfolge und dem Ganzen verknüpfen. Gerade die Vererbung des »Lebens« wird populati onsweit gedacht —und auch populationsbezogen behandelt. Im Einzelnen verschlechtert oder verbessert sich das Ganze. So hängen auch Biomacht und der Entartungsgedanke, Biomacht und Eugenik, Biomacht und der Staatsrassismus des 20. Jahrhunderts eng zusammen. Fassen wir es schließlich abstrakt, so bricht Biomacht auch mit den tra ditionellen logischen Mustern der Herrschaftsausübung. Nicht eine Ver botslogik, auch keine bloße Sicherungs- oder Stabilisierungslogik, sondern eine Lebens-Steigerungslogik zeichnet sie aus. Anstelle fester Gesetze spielen Ökonomien eines »Normalen« eine zentrale Rolle, dessen flexible Randbe dingungen Politik verändern kann. Graduelle Qualitäten und Verbesse rungsoptionen überlagern die binären Alternativen wie richtig oder falsch. Wo es nach diesem neuen Muster gilt, das biologische Sosein des Ein zelnen wie des Ganzen zu verbessern und zu vermehren, da fungieren Machtprozesse zwar weiterhin in vielem repräsentativ oder disziplinierend. Vor allem aber sind sie regulatorischer Natur, sie müssen Dynamiken nicht nur kanalisieren, sondern auch anreizen können und Veränderungen for cieren. »Anstelle der Drohung mit dem Mord«, schreibt Foucault, und zielt damit auf den Souverän alten Typs, der vor allem über den Tod seiner Untertanen verfügte, »ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft. Kann man als >Bio-Geschichte< jene Pressionen bezeichnen, unter denen sich die Bewegungen des Lebens und die Prozesse der Geschichte überlagern, so müßte man von >Bio-Politik< sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen.« (Foucault 1976, S. 170). Wie das letzte Zitat zeigt, verwendet auch Foucault nicht nur den Be griff der Biomacht, er spricht von Biopolitik als Epochensignatur der Mo-
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deme. Bis heute ist Biopolitik bei Autoren, die Foucaults Überlegungen fortsetzen wollen, sogar der prominentere Begriff (vgl. etwa Agamben 1995). Wie also stehen die beiden Begriffe zueinander und warum wähle ich für die Zwecke dieses Buches die Bezugsgröße nicht der Biopolitik, sondern der Biomacht? Will man präzisieren, was Biopolitik und Biomacht unterscheidet, so muss man die konzeptionellen Ebenen auseinanderdefinieren, auf denen die Begriffe gelagert sind. Biopolitik betrifft den Bereich des politischen Handelns. Nimmt man die oben zitierte Passage mit ihrer Begriffsbestim mung wörtlich, so wäre sogar das absichtsvolle politische Handeln ge meint, der »Bereich der bewußten Kalküle«, also wohl in einem etwas lo ckeren Sinne: die Politikerpolitik. Biomacht wäre demgegenüber der Name eines Abstraktums, einer bis zu einem gewissen Grade generalisierbaren Form, die erst durch die Beschreibungs- und durch die Vergleichsarbeit des Historikers Gestalt gewinnt. Zweifellos kann Biopolitik in der Ära der Biomacht im politischen Feld beobachtet werden. Biopolitik ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch immer im Hinblick auf Biomacht interpretierbar. Weniger sicher ist jedoch, ob ich primär im Feld der Biopolitik (oder gar nur dort) Spuren der Biomacht finde. Methodisch gesehen ist Biopolitik also der phänomenologischere, aber auch der engere und der weniger gut differenzierbare Begriff. Foucault hat allerdings den Biomacht-Begriff für den Zweck histori scher Untersuchungen geprägt. Er hat ihn im Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert gewonnen, allgemeiner angesetzt, aber nicht auf die Ge genwart angewandt. Nicht nur aus diesem Grund betone ich, dass ich die Frage nach der Biomacht zwar aufgreife, in d e n n a c h fo lg e n d e n Kapiteln aber trotzdem etwas anderes unternehme als Foucault Im Unterschied zu Foucault charakterisiere ich nicht vor allem eine —und sei es die fortwir kende - Vergangenheit. Die Blickrichtung ist wahrscheinlich eine ver fänglichere, denn sie verspricht weniger Distanz: Ich setze bei aktuellen Phänomenen ein und versuche, das, was die Gegenwart verändert, im Wege von Rückfragen zu begreifen - und zwar in seiner historischen Neu heit. Es geht also weniger um die Geschichte der Gegenwart als um eine Gegenwart der Geschichte und die Gegenwart in der Geschichte. Die Verschiebung beinhaltet einen Perspektivenwechsel: Es ist nicht so, dass ich den Biomacht-Begriff einfach auf die aktuellen Verhältnisse an w e n d e n will. Zwar ragt d ie G e s c h ic h te des 19. und des 20. Jahrhunderts u n v e rk e n n b a r ins 21. Jahrhundert hinein. Sie ist in einem gewissen Sinne
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nicht vergangen. Man betrachte nur die vielen fortwirkenden Verschrän kungen der im 19. Jahrhundert entstandenen Lebenswissenschaft Biologie mit den ebenfalls in dieser Zeit sich formierenden Sozialwissenschaften. Wir leben eben daher heute beispielsweise in einer Wirklichkeit der Statis tik und der Population (Ewald 1986, Desrosieres 1993). Dennoch gibt es zwischen der historischen Analyse und der Aktualität einer Gegenwart kein Kontinuum, das es erlauben würde, eine aus der Arbeit am 19. Jahrhun derts gewonnene Kategorie wie »Biomacht« einfach auf das Heute zu übertragen. Man kann Geschichte nicht »anwenden«, genauso wenig wie man von der Gegenwart her Geschichte »verstehen« kann. Gleichwohl plädiere ich dafür, von der Aktualität die Finger nicht ganz zu lassen und — wenn man so will: gegen Foucault - nicht nur von der Geschichte, sondern auch von der Gegenwart zu sprechen und dabei Phänomenologie und Genealogie zu verbinden. Ausdrücklich geht es aber um Machtformen, und das flaggt der Begriff Biomacht aus. Nicht über »Politik« im engeren Sinne gilt es zu reden, sondern eben über absichtslose, historisch kontingente »Formen« von Wirksamkeit im Foucaultschen Sinn. Mit dem Reizwort Absichtslosigkeit schließt sich der Kreis. Macht wird nicht von Menschen geschaffen, sondern tut sich als Ermöglichungsbedin gung von Sinnprozessen absichtslos auf. Auch an diesem Punkt kann man den Konzeptbegriff Biomacht von der »Biopolitik« klar unterscheiden: Biomacht wird nicht eigens >ausgeübt<. Sie kennt keine Machthaber —allen falls Profiteure. Sie steckt nicht erst in den Handlungen, sondern bereits in der Wahrnehmung, in der Kommunikation, im erfahrbaren Sinn. In letzter Instanz sollten Machtprozesse daher strikt täterlos gedacht werden, sonst verkennt man ihre Wucht und wirklichkeitsbildende Kraft. Auch aus die sem Grund ziehe ich die abstraktere Hypothese der Biomacht dem hand lungstheoretisch unterlegten Begriff der Biopolitik vor. Die nachfolgenden Kapitel haben nicht Antworten, sondern sie suchen Ant worten auf die Frage Was ist Biomacht? Sie sind in einer ersten Fassung in den vergangenen Jahren jeweils zu unterschiedlichen Anlässen geschrieben worden. Die Überlegungen knüpften sich jedoch zunehmend ineinander. Heute bilden sie einen Zusammenhang, der nun auch zusammenhängend zu lesen sein soll. Die Zugänge sind verschieden, aber sie ergänzen sich. Idealerweise er gibt sich also in der Lektüre so etwas wie ein Facettenblick. Das Kapitel über Neue Ökonomien setzt bei handfesten Verfahrensweisen ein: Bluttrans
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fusion, Organverpflanzung, Mutterpass, Datenbanken, Biometrie. Das Kapitel über Eigentum am Körper führt in die Geschichte der Rechtstheorie und diskutiert den Status des menschlichen Körpers. Wessen Stoffe, wessen Proben, wessen Daten? besichtigt die heutige institutionelle Alltagspraxis in diesem Feld. Im Kapitel über die StammteHe geht es um die bioethische und biorechtliche Karriere eines Laborprodukts, im Kapitel über die Bio-Vater schaft um die geschlechterpolitischen Implikationen eines Biotestverfahrens. Die nachfolgenden beiden Kapitel setzen sich mit der Bioethik auseinan der. Dasjenige über die Zukunftspolitik der Bioethik untersucht einen diskur siven Sachverhalt: Ethiker argumentieren suggestiv mit Zeit und Zukunft. Dasjenige, das sich anschließt, fragt: Ist die Bioethik ein »Diskurs«? und dreht die Perspektive auf Bioethik um. Zuerst wurde die Bioethik selbst be trachtet, nun dient sie gleichsam als Testfall für den strengen Diskursbe griff Foucaults. Probehalber wird das Foucaultsche Schema auf die Bio ethik angewandt. Dieses Übertragungsexperiment ist ergiebig in zwei Richtungen: Es lehrt etwas über die Bioethik und es lehrt etwas über die Anwendungsbedingungen des Theorems »Diskurs«. Zwischen Menschenpark und soft eugenics steht für eine weitere Facette: Die philosophische Begriffs geschichte kann zeigen, wie lang und doch auch kurz die geschichtliche Linie ist, die zur heutigen Gestalt des Motivs der Menschenzüchtung führt. Mit der Himforschung als Aspekt von Biomacht beschäftigt sich das neunte Kapitel. Es beleuchtet nicht nur den wissenschaftstheoretischen Status neurophysiologischer Determinismus-Thesen, sondern vor allem den Zusammenhang zwischen Himforschung und Strafrechtspolitik. Das zehnte Kapitel verfolgt die Frage nach der Sterhehilfe. Im Zeitalter der Bio macht wird auch der Tod zu einem Aktivposten für das Leben. Einigen Kapiteln liegen aktuelle Vorträge, einigen anderen Aufsätze zugrunde, die an verstreuter Stelle erschienen sind. Alle Texte sind für die Zwecke des Buches noch einmal deutlich verändert worden.
Kapitel 1 Neue Ökonomien: Die Zirkulation von Körperstoffen, die Zirkulation von Biodaten Mit den biotechnischen Optionen der Gegenwart sind lebendige menschli che Körperstoffe wertvoll geworden. Das stoffliche Innere der Individuen, das über Jahrtausende unvemutzbares Niemandsland war, terra nullius, wurde im 18. Jahrhundert dem ärztlichen Blick zugänglich gemacht. Heute erscheint nun unser Inneres zur Nutzbarmachung erobert. Ein Menschen körper enthält von Blutbestandteilen über die Knochen bis zum Samen wertvolle Rohstoffe für diversifizierte Märkte. Er ist ein ökonomisches Expansionsfeld - auch für Produktentwicklung weit außerhalb der Medi zin. Speziell mit der Genforschung und Gentechnik schreitet diese techni sche Durchdringung des Körpers und die ökonomische Inwertsetzung rasch voran. Man kann diese Veränderung unterschiedlich charakterisieren. Man kann sagen, es handele sich um einen »technologischen Wandel«: Biotech nologien bemächtigen sich des Körpers. Man kann einen »Normenwandel« konstatieren oder auch die »Pluralisierung« einer ehemals eindeutigen Mo ral, die den Körper früher mit Tabus umgab. Man kann auch sagen: Es gibt da den sozialen Tatbestand einer »Kommerzialisierung« des Körpers. Ge rade diese letzte Bestimmung trifft natürlich den eingangs genannten Sach verhalt: Blut, Organe, Zellen aller Art, Gewebe und auch Daten werden abgenommen, gelagert, verwertet, können gehandelt werden. Gleichwohl kann man zweifeln, ob es ausreicht, von einer Kommerzia lisierung des Körpers zu sprechen, denn die fragliche Veränderung geht tiefer und sie kann anders beschrieben werden. Mit der Nutzbarmachung der Substanzen wird der Körper nicht nur finanziell neu, nämlich >höher< bewertet, sondern es wandelt sich das, was ein lebendiger Körper ist. Die individuellen Körper der Menschen werden anders behandelt, anders ver wendet, anders wahrgenommen und anders dargestellt. Sie, oder vorsichti ger gesprochen: etwas von ihnen, etwas an ihnen, scheint selbst zirkulationsfahig zu werden.
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Die Körper sind nicht nur Teil der Ökonomie, sondern ein Medium neuer Ökonomien geworden —dieser Vermutung geht das folgende Kapi tel nach. Mittels der neuen Märkte scheint man tatsächlich technisch im mer mehr in den Stand zu geraten, nicht den Körper fü r Geld, sondern den Körper wie Geld, gleichsam >physisch< zirkulieren zu lassen. Es ist der Körper selbst, und zwar verwandelt in eine eigenartige, technogene Substanz, der — einem Kapital nicht unähnlich —unter dem ‘Namen des >Lebens< zwischen den Individuen zirkulationsfähig wird. Es geht auch nicht einfach um die Gewinnung von Stoffen, die Geld wert sind, sondern um die Gewinnung von Stoffen, die >Leben< wert sind —biologisches, physisches Leben. Das Geld wäre aus dieser Sicht gleichsam nur Mittel zum Zweck. Der eigentli che Wert, um den es geht, wäre aber der steigernde, verbessernde, verlän gernde Effekt auf der Ebene des biologischen Lebens selbst. Wo es um das Leben im biologischen Sinne geht, ist wiederum eine weitere Beobachtung zu machen. Nicht etwa metaphorisch, sondern ganz real wird die Einheit des Individuums unterminiert - als Einheit nämlich, die über eine unabsehbare Tradition hinweg an die Hautgrewg des Einzelnen gebunden war. Allgemeiner gesprochen: Das biologische >Leben< bringt ganz neue Grenzen hervor, die quer durch ein einzelnes Individuum hin durchgehen, das dieses >Leben< nur exemplarisch verkörpert. Alle diese Thesen sollen im Folgenden erläutert werden, und zwar an hand einer ganzen Reihe von Beispielen. Ich trenne zu diesem Zweck zunächst die Frage nach den neu zirkulationsfähig gemachten Kötpetstoffen von der Frage nach den neuen Daten, die ebenfalls zum Zwecke des Zirkulierens ü b e r den Körper gewonnen werden, Es soll also zunächst ein >substantieller< Körper und dann separat sozusagen ein >Daten-Körper< be trachtet werden. In einem dritten Schritt hebe ich diese Unterscheidung wieder auf, denn der Substanzenkörper und der Datenkörper des Men schen des Bio-Zeitalters sind nicht getrennt. Die beiden Paradigmen Sub stanz und Information durchdringen einander —und dies nicht nur in der Molekulargenetik, sondern auch auf der Ebene der Wahrnehmung, der Evidenz von Diagnosen und Prognosen im Hinblick auf den individuellen Körper oder aber bezogen auf ganze B e v ö lk e ru n g e n , Populationen.
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1. Die Zirkulation der Körperstoffe Dass die Medizin zerteilt und schneidet, sich über die Hautgrenze hinweg setzt und ins Innere des Individuums eindringt, ist seit der Anatomie der Neuzeit der Fall, und wie man weiß ist die theoretische Rekonstruktion des Körpers als Funktionszusammenhang1 wie auch die praktisch-technische Erschließung des Körperinneren seither ungeheuer vorangeschritten. Nicht nur chirurgisch, sondern auch mittels Mess- und Darstellungsverfahren oder pharmakologisch sind wir heute gleichsam >durch und durch< zugäng lich —und nicht erst postum, sondern in vivo, als lebendige Materie. War das Innere des Kranken früher der Medizin in vielem ein Rätsel, so sind ihr heute die Bestandteile und Funktionen seines Körpers bekanntes Terrain. Dass aber die Medizin jenseits davon auch zwischen den Körpern Verbin dungen stiftet, also nicht nur >eindringt<, sondern stoffliche Körpergrenzen bewusst überbrückt, —das ist vergleichsweise neu. Betrachten wir, sehr knapp, aber in der historischen Reihenfolge, einige Meilensteine dieser Entwicklung.
1.1. Blut Das Blut ist der erste Stoff, den man aus dem Inneren des einen in das Innere des anderen zu übertragen begann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts >entdeckte< und überwand man das Problem der körpereigenen Abwehr. Im Jahre 1908 erfolgte die erste moderne (eine direkte) Bluttransfusion.2 Mit der Entdeckung der Blutgruppen und risikoarmer Haltbarmachungs verfahren wurde die Praktik der Übertragung von Blut zwischen Mensch und Mensch rasch zu einer medizinischen Elementartechnik —und ebenso selbstverständlich etablierten sich die Blut-»Spende«, die Lagerung von Blutkonserven und auch eine ganze Industrie zur Verwertung von BlutBestandteilen (Plasma, Blutkörperchen und anderen Komponenten). Längst gibt es daher einen regelrechten Blut-Markt, und der Rohstoff Blut
1 Theoriegeschichtlich hat die Idee der stofflichen Überbrückung von Körpergrenzen die funktionsorientierte Physiologie und das biochemische Konzept des »organischen« Le bens des 19. Jahrhunderts zur Voraussetzung. Erst ein funktionales Verständnis vom Körper des Individuums erlaubt es, dessen Substanz als austauschbar zu denken. 2 Aderlass und Infusionen der verschiedensten Art hat es selbstverständlich schon vorher gegeben.
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zählt »mit Sicherheit zu den wertvollsten Flüssigkeiten der Welt« (Starr. || 1999, S. 10). Lagerung, Transport, Distribution und Qualitätssicherung von ■ Humanblut sind international standardisiert, während es zugleich (wie b d i jedem Produkt mit hohem Preis) auch einen weltweiten »grauen« und ille- lg galen Bluthandel gibt. Das Blut zirkuliert, mit anderen Worten, auf einem fj Markt, als Rohstoff und Ware. Zugleich zirkuliert es aber auch zwischen ■ den Individuen. Der individuelle »Lebenssaft« (wie es hieß) ist übertragbar 'fl geworden. Im Hinblick auf Blutnachschub ist die Menschheit sozusagen j stets liquide. 5 1.2. Organe
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Eine zweite Praxis ist ähnlich gelagert, geht in ihren R in griffen und Folgen aber erheblich weiter. Etwa seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Chirurgie mit der Mensch-zu-Mensch-Übertragung von komplexeren lebenden Organen begonnen, also von Nieren, Herzen, Lebern etc. Aus der Trans>sion, gleichsam dem Hinüber-Fließen-Lassen, wird die Transplantation, also das Hinüber-Pflanzen. Zur (in ihren Details grausamen) Geschichte der Organverpflanzung von den ersten Menschenversuchen bis zur heute sich einbürgernden Pra xis der »Lebendspende« gäbe es viel zu sagen.3 Unter dem Gesichtspunkt der durchlässiger werdenden Körpergrenze ist e n tsch e id en d , dass parallel zur Technik der Transplantation von Organen nicht weniger als ein neues Körpermodell entstanden ist. Gemeint ist das Konzept des Immunsystems, das als Antwort auf die Erfahrung der Abstoßung fremder Organe entwi ckelt wurde. Es enthält und es realisiert die Hypothese der Regulierbarkeit der körpereigenen Widerstände gegen den aus dem fremden Körper hetübergeholten Stoff. Auch der Immunkörper ist ein transplantationstechnischer Sachverhalt, denn die pharmakologische so genannte »Immunsuppression« gehört untrennbar zur Organtransplantation hinzu: Man muss den Körper durch fortdauernde Medikamentengabe dazu bringen, dass er die neu eingepflanzte Substanz nicht zerstört und als seine >eigene< an nimmt.
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3 Vgl. Schlich 1997; Schlich 1998; z u S£n i r P e i e S X e - ä S h e n Anthropologe« Matl2ei
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Anders gesagt: Damit der Stoff von Individuum zu Individuum über tragen werden kann, führt die Medizin ein ganz bestimmtes Körperschema ein: das der zwar vorhandenen, aber unterdrückbaren Grenze. Nicht mehr die stofflich-sinnfällige, sondern die Immungrenze definiert, was zu wel chem Körper gehört. Und im Kontinuum der Körperstoffe lässt sich die Immungrenze - im Prinzip jedenfalls —willkürlich ziehen. Die Idee der Regulation lässt die Substanygren^e in den Hintergrund treten, um sie durch eine Funktionsgren^e zu ersetzen. Das, woraus wir bestehen, kann behandelt werden als eine zirkulationsfahige und eigentümlich »todlose« Allsubstanz. Auch der Tod verändert sich —es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass hier ein Zusammenhang besteht: Der immunologischen Abstraktion, die nötig ist für das £/«pflanzen von lebendigen Organen, entspricht eine Abstraktion, die auf der Seite der Entnahme von lebendigen Organen nötig ist - nämlich das Konzept des »Hirntodes«, demzufolge das Fehlen einer messbaren Hirnaktivität den Zeitpunkt des Todes definiert. So kommt durch Definition zustande, was für den stofflichen Transfer nötig ist: ein für »tot« erklärter Körper mit gleichwohl »lebenden« Organen als Res source für die Transplantation (vgl. Schlich, Wiesemann (Hrsg.) 2001).
1.3. Fortpflanzungs-Substanzen Es folgt nach dem Blut und den Organen ein drittes Beispiel. Vom Blut zu Beginn und dem Organtransfer in der Mitte des 20. Jahrhunderts ging man in den 1980er Jahren zum Transfer von ganz speziellen Zellen über: den Körperstoffen für das (und aus dem) >>Befruchtungs«-Geschehen. Gewiss sind Kulturtechniken der Einflussnahme auf die Fruchtbarkeit von Frauen wie auch Männern so alt wie die Menschheit. Gleichwohl stellt die Labor befruchtung unter Verwendung lebender menschlicher Zellen eine neue Qualität dar - nicht zuletzt als Zumutung für die Frau: Der Laborbe fruchtung (In-vitro-Fertilisation, abgekürzt »IVF«) gehen massive Hor mongaben sowie eine chirurgische Explantation von Eizellen voraus. Im Effekt entscheidend ist, dass mit der IVF nicht nur die gesonderten Keim zellen durch einfache Kühlung haltbar und frei verfügbar sind, sondern dass auch das Produkt lang gelagert werden kann, für das sie als Rohstoff dienen: das nach der Befruchtung entstandene mehrzellige Objekt, der Embryo.
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Die Praktik der IVF setzt auf das Modell der Befruchtung durch K< als Kombination des lebenden Erbguts sowie auf die nach*& folgende kunstgerechte Bearbeitung der sich teilenden Zellen. Die so gesj nannte >künsdiche< Befruchtung in vitro verdient gleichwohl das Attributs >künsdich< nicht deshalb, weil sie die erste manipulierte Befruchtung wäre,denn —wie gesagt: manipuliert wurde an der Fruchtbarkeit schon immer. Vielmehr ist sie künstlich, weil sie in vitro stattfindet, also nicht Eltern, sondern allem Dritte (und zwar im Rahmen einer Expertenkultur und mittels eigens konstruierter Werkzeuge) mit dem Zellmaterial hantieren und gemäß der Logik der Produktherstellung den Nachwuchs herstelkn. In der Reproduktions-Ethik spricht man oft etwas vage von Embryonen-»Gewinnung«. Rein von der Sache her gesehen werden im Reagenzglas Em bryonen produziert, und zwar so, dass deren weitere Verwendung —rein technisch gesehen —für die verschiedensten Zwecke frei steht. Wieder ein Thema, zu dem man eine Menge sagen kann. Ich be schränke mich auf den Gesichtspunkt des Durchlässig-Werdens der indivi duellen Körpergrenze im Zeichen des >Lebens< - mit dem Resultat der Zirkulationsfähigkeit der Körperstoffe aus den beteiligten Körpern und der Ökonomisierung in einem umgreifenden Sinn. Die Reagenzglas-Befruchtung öffnet theoretisch wie praktisch einer Fülle von Anwendungen das Tor, sie lädt zum Basteln ein - auf der Basis des einfachen Modells einer im Prinzip freien Kombinatorik von Kern plus Kern plus Hülle. Die Ausgangsstoffe liegen bearbeitungsoffen zutage, und alles scheint möglich; nicht durch Zufall spricht man von »Gen-Design«. Auf dieser Basis hat sich in wenigen Jahren eine ganze Palette von »neuen Möglichkeiten« entwickelt, und die meisten von ihnen sind auch schon im Fortpflanzungsalltag zu haben. Jeweils sind zunächst spektakuläre Präze denzfälle geschehen und ausdiskutiert worden, und was sich dann abzeich net, ist eine —rein rechtlich international unterschiedlich ausgestaltete — Normalität: IVF ist die Basistechnologie für die In je k tio n sb e fru c h tu n g ICSI (mtra-ceUular-semen-injection), für die homologe und heterologe Leihmutterschaft, für die Ermöglichung einer Befruchtung außerhalb nor maler Altersgrenzen und für die PID (Präimplantationsdiagnostik), den Gencheck zur Qualitätskontrolle der künstlich Hergestellten Embryonen vor dem Einpflanzen in eine Frau.4 Man kann mit den Fortpflanzungs
Verschmelzung
4 Man vernimmt heute leider nur noch wenige der Diskussion um Reproduktionsmedizin. Die IVF bedeutet . . ^ Innung und Beiseite stellung der Frau von dem, was den eigentlichen b.otech^che« ^
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substanzen im Labor aber auch Eier durch Eier wie wahrscheinlich auch Samen durch Samen sowie (im Prinzip) über Artgrenzen hinweg mit Tier zellkernen befruchten - und man kann auf verschiedenen Wegen Keim zellen identisch vervielfachen, also klonen. Klontechniken können sowohl bloß rohstofforientiert (wie man so schön sagt: »therapeutisch«) als auch zwecks Geburt, also zur Zwillingsherstellung, eingesetzt werden. Zum Zweck der Rohstoffgewinnung ist das Klonen bereits in vielen Ländern erlaubt. Dass der Transfer von Körperstoffen gerade im Bereich der Befruch tung einen explodierenden Markt eröffnet, ist nicht schwer zu sehen. Be fruchtungspraxen sprießen aus dem Boden, für Eizell- und Samenspende wie auch Leihmutterschaft sind internationale Märkte entstanden, Modell rechnungen zur Senkung öffentlicher Gesundheitskosten durch PID sind nicht bekannt, aber sie dürften existieren. Deutlich ist jedoch auch, dass in diesem Feld erneut nicht allein Zahlungen zirkulieren, sondern die humane Substanz selbst —und zwar nun die autonom wachsende Substanz, man möchte fast sagen: das Reproduktionsvermögen als solches. Der frucht bare Stoff wird in Form von >Nachwuchs<, dem >eigenenLeben<. Der Stoff der einen kann der flexibel einsetzbare Rohstoff der Schwan gerschaft der anderen werden: Dank dieser Loslösung kann das, was vor her schlicht zum leiblichen Ganzen einer Frau gehörte, die reproduktive Substanz, das durch Kernverschmelzung der juristischen Definition gemäß entstandene »werdende Leben«, dem Wohl der Menschheit plötzlich auf vielerlei Weisen nützlich sein. Die biologische Gattung scheint sich im der autonom wachstumsfähigen Fortpflanzungssubstanz. Die TVF erlaubt zweitens — und zwar wiederum zugunsten der Kinderproduktion —ein Überspringen oder Uber brücken der stofflich-praktischen Grenze zwischen den Schwangerschaften zweier Frauen. IVF schaltet Frauenkörper zusammen. Die eine wird zur potentiellen AustrageStation der Frucht, die man der anderen entnommen hat Ein neues Vemutzungs- und Abhängigkeitsverhältnis untereinander wird geschaffen: Wie der Organempfänger und der »Spender« durch das medizinische »Angebot« einer Organverpflanzung in ein physi sches Verhältnis radikal neuer Art gebracht werden, so stellt auch die so genannte Leih mutterschaft eine bisher nie dagewesene und, wie mit scheint, dubiose physische Ver bindung zwischen zwei Frauen her. Genauer sogar: zwischen einem Mann (der aller dings nur seinen Samen beiträgt) und den zwei Frauen, die das Kind dann arbeitsteilig entstehen lassen. Allein die Technologie und das ökonomische Angebot, das beide Frauen nutzen wollen oder müssen, bringt dieses eigentümliche Dreieck zusammen.
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Medium ihrer eigenen Generativität zu steigern —eben indem die humane Leiblichkeit nichtfü r eine Ökonomie, sondern als eine Ökonomie fungiert.
1.4. Stammzellen Mit einem letzten Beispiel zur Zirkulation menschlicher Körperstoffe tref fen auf gewisse Weise die Paradigmen Transplantation und Fortpflanzung zusammen und verbinden sich zugunsten einer weiteren Option. Auch dieses Stichwort ist bekannt: »nachwachsende Organe«. Gemeint ist die Herstellung von nachwachsendem menschlichem Gewebe, das, an Ort und Stelle eingesetzt, genau die Aufgaben eines dort benötigten spezifischen Zelltyps übernehmen kann. Man transplantiert nun also nicht ein fremdes Organ, sondern implantiert gleichsam eine differenzierungsfahige Anfangs form für eine im Körper selbständig heran- und festwachsende —sagen wir: Milz oder Leber. Technologische Voraussetzung für diese Vision einer Gewebe-Ingenieurskunst, eines tissue-engimering bis hin zum ausgewachse nen Organ5, ist die so genannte Stammzelllinie, eine identisch sich teilende und gleichsam alterslos weiterwachsende Zell-Kultur. Diejenigen Zellen aber, denen man nachsagt, extrem wachstumsfreudig zu sein und zugleich für Ausdifferenzierung offen, sind die von Embryonen. Menschliche embryonale Stammzelllinien wurden 1998 erstmals kultiviert und stehen seither im Fokus der Forschung. In der Stammzellnutzung scheinen sich Reproduktionstechnologie und Organtransfer auf eigenartige Weise zu begegnen. Die Metaphysik des »werdenden Lebens« wird gleichsam mit der Idee der Lebensverlängerung mittels Organersatz fusioniert. Ein neues Handlungsfeld tut sich auf: Die embryonale Stammzelle erscheint als der schlechthin universale Rohstoff, aus dem man Gewebe nun flexibel nachzüchten kann —immer vorausge setzt es gelänge, die unfestgelegten Zellen so zu »programmieren«, dass sie nach dem Einwachsen ihrer vorgesehenen Funktion entsprechen. Im Sommer 2002 gab es eine hitzige Pro-Kontra-Debatte über die For schung an embryonalen Stammzellen. Als Philosophin wie auch als Femi nistin sehe ich das Ergebnis mit Skepsis. Die Debatte endete mit einer einfachen moralischen Inwertsetzung »des Embryo«, der von theologischer 5 Die Vision ganzer nachwachsender Organe ist wohl die ausdrücklich beschworen wird, vgl. der Herze Graupner 2005, S. 12. Experimentiert wird jedenf s
^ f ntas'e ~ wenn auch eine, ®
us*av Steinhoff, zit. bei e enen Gewebearten.
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Seite wie auch von Frauenpolitikerinnen zur Quasi-Person erhoben wurde, anstatt die Embryonaltechnologie als das zu analysieren, als was man sie aus mehr Abstand auch sehen und kritisieren kann: Als eine höchst eigen tümliche Neuerung, in der gleichsam auf einen Schlag alle biopolitischen Phantasmen von der vollständig flexibilisierten Lebens-Rohmasse zusam menschießen. Weswegen der Embryo vor allem ein technogenes Faszinosum ist, in dessen Namen man Frauenkörper vemutzten darf und kann. In allen diskutierten Gewinnungsvarianten - ob als direkte Verwen dung embryonaler Zellen, als Reprogrammierung so genannter adulter Zellen oder als Nutzung von quasi »mütterlichen« Embryonalzellen (näm lich Stammzellen aus dem Nabelschnurblut) —, in allen diesen Varianten haben wir mit der Stammzelle nahezu in Reinkultur vor uns, was dem Ideal einer universal zirkulationsfähigen menschlichen Rohsubstanz entspricht: Einen entindividualisierten Lebensstoff, der den Einzelnen mehr wie ein Strom durchläuft, als dass er dessen Körper ausmachen würde oder sub stantiell mit diesem Körper oder auch nur mit seinem Alter identisch wäre. Nehmen wir dies als ein Zwischenergebnis. Wie ein Brennglas bringt ge rade die phantastische Stofflichkeit der Stammzelle alle Aspekte zusam^ men, auf denen das körperpolitisch Neue der biomedizinischen und bio technischen Epoche beruht: Ein Kontinuum von >Leben< scheint die sinn fällige Körpergrenze zwischen mir und meinem Gegenüber, aber auch zwi schen mir und der biologischen Gattung verblassen zu lassen. Die alte Grundidee des intakten Individuums, das man allenfalls um seiner selbst willen - wenn es krank ist - behandelt, scheint im Schwinden begriffen. Statt dessen richtet sich eine Ökonomie der zirkulierenden lebendigen BioMaterialien ein, die dem Menschen nicht nur verabreicht werden, sondern auch aus Menschenkörpern gewonnen oder in Menschenkörpern produ ziert worden sind. Neue »allgemeine« Stoffe mit biochemischem, immu nologischem oder genetischem Profil - das Blut-Serum, der Antikörper, die T-Zelle, die DNA, der Zellkern —werden dabei in Wert gesetzt. Alte Singularitäten —etwa die Identität >meines< Herzens, die ererbten Eigen schaften >dieses< Kindes oder auch die biographische Einheit >meines< kör perlichen Geschlechts —werden als Realität entwertet. Damit muss nicht gesagt sein, dass die alten Bezugsgrößen automatisch herabgesetzt oder abgewertet werden. Sie sind jedoch nicht mehr so wirklichkeitsmächtig wie vorher. Sie sind entintensiviert, sind disponibel geworden.
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2. Die Zirkulation der Biodaten
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Ein empirisches Datenphänomen ist »der Mensch« - als Einzelgröße undB in der in früheren Zeiten unbekannten Form der »Population« —seit es die empirischen Sozialwissenschaften gibt. Diese Wissenschaften sind im 19. Jahrhundert entstanden, sie stellen einen wirklichkeitswissenschaftli chen Anspruch, den es auf das Soziale bezogen bis dahin nicht gab, und sie j bringen dabei eine neue Sorte von Mathematik in Anschlag: die Sozialsta tistik. Im Rahmen einer Population, also einer Gruppe von Individuen, die aufgefasst wird als ein Kontinuum, in dem sich messbare Eigenschaften | gemäß einer objektivierbaren >Normalität< verteilen, kann man Beliebiges | als Datengröße erfassen, typisieren, gruppieren, zuordnen. j Eine wichtige Leistung der Statistik ist die auf die Zukunft anwendbare ' Wahrscheinlichkeitsaussage: die Realität der statistischen Prognose. Es han+ delt sich bei der Normalität um einen Objektivitätstyp, den es vor dem 19. Jahrhundert nicht gab - und der im übrigen zeitgleich mit seiner An wendung auf das Feld des Sozialen auch die >exakten< Naturwissenschaften zu erobern beginnt, namentlich die Biologie, aber auch die Nationalöko nomie, die heutige Volkswirtschaftslehre (vgl. Foucault 1966). Ferner entwickelt die Statistik nicht nur numerische, sondern auch bildhaft-abkürzende graphische Darstellungsverfahren —bis hin zu den uns heute ver trauten animierten Visualisierungen von Normalität.6 Es existiert also ein komplexes Feld von historischen Möglichkeitsbedingungen der DatenPhänomene, um die es im folgenden Abschnitt geht. In aller Kürze soll es nun um die Vermutung gehen, dass heute der substantiellen, der sozusagen >fleischlichen< Seite des Körpers eine infor mationeile Seite, ein Daten-Körper entspricht Wurde bisher betrachtet, wie Körperflüssigkeiten, gekühlte Körperstücke, herauspräparierte Zellge webe sich in Bewegung versetzen und zwischen den individuellen Körpern kreisen, so zeigen sich analoge Phänomene im Reich der Information. Erneut möchte ich hierzu eine Folge von Beispielen abschreiten —Bei spielen dafür, wie man Sozialdaten, klinische Daten einsetzt, aber eigentlich ganz allgemein alle digitalisierbaren Daten, die ja in diesem nicht mehr >analogen< Zustand mit beliebigem anderem digitalem Material verrechenbar sind. Ich denke, auch im Bereich der Bio-Daten zeichnen sich neue,
6 Zur Kritik der Verdichtung solcher Verfahren zu einem »Normalismus« vgl. Link 1997.
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gewissermaßen leibhaftige Zirkulationen ab, und auch in dieser neuen BioÖkonomie steht das bisherige Sosein von Leiblichkeit selbst auf dem Spiel.
2.1. Gesundheitspässe Medizinische Daten über den Körper eines Individuums sind weder rein biologische noch einfach Sozialdaten. Sie sind als beides wirksam. Medizini sche Daten sind einerseits als naturhaft-unverrückbar zu nehmen und andererseits doch immer auch soziale Tatsachen, das macht sie so beson ders brisant. Im Rahmen der sozialstaatlichen Gesundheitspolitik des 20. Jahrhunderts ist man dazu übergegangen, ganze Bündel individueller medizinischer Daten bevöikerungsweit zu erheben und in standardisierter Form permanent präsent %u halten. In jedem Einzelfall wird so zum einen eine Normalität zum fraglosen Orientierungsmaß —und zum anderen kann man zu beliebigen Zwecken jederzeit einen individualisierten Datensatz auswerfen, der fest mit dem Sosein des jeweiligen Individuums verklam mert ist. Handfestes Anzeichen solcher bevölkerungsweiter und gleichsam fest mit dem Körper verschweißter biomedizinischer Informationspakete sind Ausweise7, Pässe oder Chipkarten, die man ja auch tatsächlich phy sisch bei sich trägt, damit sie das Überprüfen und Messen - also das ver gleichende Wahmehmen jeweils eigens —ergänzen oder ersetzen.8 Einen unrühmlichen Prototyp aller flächendeckenden Dokumente die ser Art bildet der Erbgesundheitspass als Teil der eugenischen Biopolitik des Dritten Reichs. In negativer Hinsicht war er ein Instrument biologi scher Selektion; in >positiver< Hinsicht war er ein Instrument des biopoliti schen Projekts einer Erbgutverbesserung. Der Datenkörper, der die Erb anlagen mitteilte, fungierte als Grundlage für beides. Für die Bundesrepublik setzte in Sachen Körper-Daten die Erschlie ßung der Schwangerschaft Maßstäbe. Mit der Karriere des »Mutterpasses«, den spätestens seit den 1960er Jahren jede schwangere Frau bekommt, den sie bei sich zu führen hat (!) und dessen Datenvolumen sich mehrfach 7 Die Erfassung in Form von Karteien geht dem systematisch voran, bleibt aber eben von relativem Wert. 8 Das Idealbild eines Passes wäre tatsächlich das unmittelbar >körperliche< Dokument, das weder abgelegt noch verfälscht werden kann. Ganz sicher haben Pflichtdokumente eine solche quasi-physische Bedeutung: In gewisser Weise will jeder Pass ein Fingerabdruck sein. Allerdings auch noch mehr als dieser, nämlich ein von dritter Seite zusätzlich be schriftbares Dokument.
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vergrößert hat, ist der weibliche Köper zu einer geschlossenen Datendecke geworden. Ob man diese Daten inzwischen zentral erfasst, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls enthalten Mutterpässe heute ausdifferenzierte Mess werte und Verlaufsprotokolle, psychologische Angaben und Sozialdaten eingeschlossen. Frauen müssen eine wachsende Zahl von Pflichtstationen, Messungen, Ultraschall-Checks etc. abarbeiten und ein ausgeklügeltes institutionelles Regime sorgt dafür, dass die künftigen Mütter aus dem System nicht ausscheren - ohne dass je grundrechtsverletzungsverdächtige Gesetze oder ähnliches nötig gewesen wären. Fehlende Kooperationsbe reitschaft wird durch Vorsorge-Moral und Versäumnisandrohung erzwun gen sowie im Zweifel indirekt sanktioniert, nämlich über die Drohung, Kostenrisiken selbst zu tragen. Auch die Daten des neugeborenen Kindes werden eingetragen und in verschiedenen bundesweiten Registern zentral erfasst. Man könnte einwenden, dergleichen Daten seien doch nur abstrakte »Informationen« und nicht Teil eines Körpers. Ich denke aber, so einfach ist es nicht. Der Schwangerschafts-Daten-Körper ist von Gewicht: Er durchdringt die soziale Erfahrung, die den Körper für uns evident macht und seine »Natur« konstituiert. Und er stiftet auch »Natur«. Um bei der Konstitution des Mutter-Körpers zu bleiben: Hier ist beispielsweise die j Blutgruppe einschließlich des Rhesus-Faktors ein solcher wirklichkeitsdefi nierender Punkt. Unverträglichkeit mit den Werten eines möglichen Vaters bedeuten die konkrete Gefahr einer Fehlgeburt. Ähnlich konstitutiv ist das durch die Erfordernisse des Passes regulär zugemutete Wissen um Anzei chen für Besonderheiten eines erwarteten Kindes - der Pass fragt bei spielsweise nach Daten, die auf das so genannte Down-Syndrom hinweisen. Dann gibt es da dasjenige Daten-Wissen, das ein Individuum gleich sam im Medium seines Körpers zum Angehörigen einer bestimmten Patienten-Gruppe oder Risiko-Gruppe macht: Den konstitutiven Bluthoch druck, den Diabetes, die Allergie, den positiven HIV-Testwert oder auch die mitgeteilte Erbkrankheit (die Ethik diskutierte dies am krassen Fall der spät ausbrechenden, tödlichen Erkrankung Corea Huntington) trägt man im Kontext der modernen Medizin quasi bei sich. Selbst wenn es einem selbst egal wäre, so weiß man sich doch —eben weil die Daten ja zirkulie ren - entsprechend differenziert erfasst und wahigenommen. Man wird sich zu der in den Biodaten gelegenen Realität als etwas verhalten, das >objektiv
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2.2. Die Humangenetik In Form von Pässen zirkulieren (noch) physisch heterogene Stücke von Wis sen. In der Humangenetik sieht das anders aus. Die Humangenetik ist eine statistische Wissenschaft, sie integriert Informationen —und zwar inzwi schen, im Zuge der Verwandlung der Genetik in die Genomforschung, bei gleichzeitiger Gesamterfassung des Human-Genoms. Auch zu dieser wis senschaftsgeschichtlichen Verschiebung ließe sich viel sagen, die Ge schichte der Genetik wurde in den vergangenen Jahren gut untersucht (Jacob 1970, Rheinberger 1995, Jacob 1997, Kay 2000). Aus erkenntnis theoretischer Sicht ist vor allem der changierende Charakter des Objektfel des dieser lebenswissenschaftlichen Forschung interessant Mit dem Schritt von der Genetik zur Genomforschung tritt zum Paradigma des biologi schen >Lebens< das Paradigma der Schrift, und zwar einer biochemischen Schrift von der Art einer Komplett-Beschreibung, die zugleich als Pro gramm funktioniert, also als operativer Befehl.9 Nicht einzelne Informatio nen über den Körper werden diesem Modell zufolge gleichsam eingekör pert, sondern der gesamte Genotyp erscheint wie ein riesiger, in sich akti ver Datensatz - der seinerseits wiederum als Teil eines noch viel komple xeren >Pools< von Daten fungiert, nämlich gewissermaßen des Daten-Körpers der Gattung. Die Sogwirkung der Annahme, das Genom könne die Universalschrift sein, die letztlich alle anderen Körperdaten in sich aufnimmt, ist groß. Alltagswirksame Folge ist die explosionsartige Vermehrung von mögli cherweise relevanten und von tatsächlich erfassten Daten aller Art. In Island, Estland, auf Zypern sind Totalerfassungsprojekte im Gange, deren Witz darin liegt, biografische und medizinische Daten umfassender Art und —als möglicherweise genetisch relevant - ergebnisoffen zusammenzutra gen. Erhoben werden in der Humangenetik nicht nur Geschichten, son dern Messdaten. Die Zeiten unverbindlicher Fragen nach Sachverhalten 9 Seit das Erbgut als entzifferbarer Code gilt - nicht metaphorisch, sondern tatsächlich: als handlungsleitendes Schema für das Labor —interpretiert man ja den Kern des Lebens als »Information« (vgl. Blumenberg 1981, S. 376). Im Zuge der inzwischen vollbrachten >Entzifferung< des Genoms zeigt sich die Mehrdeutigkeit des Modells übrigens erneut, denn zum Erstaunen mancher ist das Resultat der Entzifferungsarbeit wiederum kei neswegs eimkutig lesbar. Auch das >entzifferte< Genom muss mittels der Hypothese einer ihm innewohnenden Rationalität verstanden werden. Der Code entpuppt sich also als Text und das Genom bedarf der Deutung. Die >Natur< ist auch nach der Entschlüsse lung des Genoms nicht lesbarer als sie es vorher war.
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wie »Erkrankungen der Eltern?« sind vorbei. Faktorenspezifische GenTests und Gen-Checks beherrschen das Bild. Jeweils geht es um Normal verteilungen bzw. um Abweichungen, die maßgebliche Relation ist also stets das Verhältnis des Einzeldatums zum Ganzen einer Population. Am konsequentesten realisiert sich diese Logik im Gen-Screening, also bei flä chendeckenden Gentests. Hier ist der Wert der Einzelinformation maxi miert, weil zugleich nicht nur eine repräsentative Population, sondern auch die Totalität der Fälle bekannt ist. Aber nicht nur für die Aussagekraft im Einzelfall, sondern auch prinzipiell ist der Universalismus des neuen Mo dells entscheidend - der Rekurs auf die Totalität der Daten, die Totalität des Genoms, gibt dem Datum seinen Wirklichkeitswert, nicht nur irgend ein singuläres Detail, sondern ein genetisch relevantes Datum zu sein. Jede humangenetische Einzelaussage mobilisiert so im Grunde ein ganzes Daten-System, das die Sicht auf den individuellen Körper bestimmt. Dass bei einer solchen Daten-Ökonomie nicht nur »Sichtweisen«, also bloße Erkenntniswerte zu gewinnen sind, dies zeigen das gigantische Investitionsvolumen des multinationalen Entschlüsselungsprojekts HUGO (konkurrierend mit mehreren privaten Unternehmen) wie auch die erbit terte Auseinandersetzung um die Frage der Patentierung bestimmter Ab schnitte des menschlichen Genoms. Wiederum gilt aber: Gerade nicht allein der finanzielle Mehrwert treibt hier die Dynamik voran. Vielmehr erscheint die Genomtechnologie insgesamt, soweit sie den Menschen betrifft, als eine Art entschränkter Humangenetik - als eine Humangenetik, welche begrenzte Maximen wie das Behandeln oder Voraussehen von Krankheit längst hinter sich gelassen hat und sich in einen offenen Wirtschaftszweig verwandelt. In diesem neuen Rahmen ist die Datengewinnung Selbst zweck. Sie ist zum kapitalbildenden Element einer Bio-Ökonomie gewor den, sofern nämlich die Akkumulation der Daten nurmehr die Folie dar stellt für die potentielle Entwicklung von allen möglichen Produkten —und sich der Wissens-Besitz (etwa in puncto Genom) zum exklusiven Potential auch für die Technikentwicklung entgrenzt. Produkt für Produkt wird auf diesem Wege dann jener universale Da tenkörper realisiert, auf dessen liquider und im Grunde paradoxer Beschaf fenheit —verstqfftichte Information zu sein, Information, die physisch Wir kung zeitigt - die Glaubwürdigkeit des Genom-Paradigmas beruht.
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2.3. Biometrie Mit einem dritten und letzten Beispiel fuge ich noch einen weiteren Aspekt hinzu, der das Thema der Zirkulation von Körperdaten noch einmal kom pliziert macht. Was das genetische Paradigma auszeichnet, aber auch be schränkt, ist, dass es den Zusammenhang der latenten Informationseinheit »Gen« mit den tatsächlich körperlich manifest gegebenen Eigenschaften oder Merkmalen gesondert modellieren muss. Genotyp und Phänotyp kann man nicht einfach mit »genetischen« Mitteln zusammenbringen. Man kann vielmehr die sichtbaren Merkmale, die sich zum Beispiel außen am Orga nismus befinden, nur hypothetisch mit der biochemischen Struktur, der DNA-Sequenz etc. verknüpfen. Der Genotyp ist keine empirische Sache. Im Sprachspiel der Informatik würde man vielleicht sagen: Während der entzifferte Genotyp der Forschung »digital« vorliegt, hat man den Phäno typ des dazugehörigen Individuums als phänomenologische Ganzheit eigentlich nur »analog«. Das »Gen« und die sichtbare Eigenschaft des Or ganismus sind also im Prinzip nicht klar verbunden, zumindest kreist die Forschung genau diese Verbindung jeweils nur mühsam ein: Der >innere< Daten-Körper ist also mit dem >äußeren< Erscheinungsbild im Einzelfall nur viel zu komplex - und also: nur vage - verknüpfbar. In dieses Dunkelfeld der Verbindung zwischen genetischen Daten und sichtbaren Daten fällt nun möglicherweise Licht durch eine neue techni sche Disziplin, die computergestützte Biometrie, die Gen-Daten und kon ventionell Sichtbares, nämlich Bilder, korreliert. Mit biometrischen Mitteln kann man beispielsweise die Form der Hand oder Proportionen des Ge sichts digital erfassen, als Bilder detailliert rastern - und dann errechnen, ob es signifikante Zusammenhänge gibt, etwa zwischen einer bestimmten Daumenfalte und einer Erbkrankheit, zwischen einer bestimmten Augen stellung und Alkoholismus etc. Neben der Hand und dem Kopf oder dem Gesicht gelten derzeit die Iris im Auge und der klassische Fingerabdruck als (beim Menschen) biometrisch interessant. Wie diese korrelierende Technik in prognostischer Hinsicht funktionie ren wird, vermag derzeit wohl noch niemand zu sagen. Jedenfalls schreitet die biometrische Erfassung mit großen Schritten voran. Anstelle der analo gen Wahrnehmung des phänomenalen Äußeren einer Person wird ein Berg von digitalen Daten gewonnen. Derzeit geschieht dies vor allem zu Zwe cken der Personenerkennung. Die Anwendung auf Gruppen und auf bio medizinische Zusammenhänge ist jedoch greifbar nahe gerückt. Die digi
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talen Abbildungs-Daten aus biometrischen Datenbanken können direkt auf die ebenfalls digital vorliegenden genetischen Strukturen bezogen werden. Man kann sozusagen »Rasterfahndungen« nach unbekannten Korrelatio nen von Phänotyp und Genotyp betreiben. Treffen in der Stammzelltechnologie Organtransfer und Reprodukti onsbiologie zusammen, dann treffen sich in der Biometrie das Passbild und das humangenetische Screening. Auf nahezu perfekte Weise zeigt sich hier erneut, wie das Körper-Schema des Bio-Zeitalters funktioniert. Es folgt einer biotechnischen und zugleich sozialtechnischen Maxime. Die definiti ven, bisher als »natürlich« hingenommenen Grenzen —zwischen den Indi viduen, zwischen dem Individuum und der Gattung, zwischen Innen und Außen - müssen in relative Grenzen verwandelt werden. Genauer: Sie relativieren sich zugunsten der Möglichkeit von operativer Manipulation. Denn letztlich ist es der technische Imperativ, dem die neue Verschiebbar keit, die Übergängigkeit und der gleichsam verflüssigte Charakter der Kör per in der Epoche des >Lebens< gehorcht. Die Übertragung der Stoffe, die Vernetzung der Daten: beides dient einem Verfügbarmachen, einer Bah nung und Optimierung des technischen Zugriffs. Damit wird produktiv und aktiv, was bisher in einem wirtschaftlichen Sinne nur als die reproduk tive und passive Seite des Menschen gegolten hat: seine Stofflichkeit, seine >Biologie<. Eben dieser biologische Körper wird nun in Zirkulation ver setzt. Er erscheint nicht nur im Medium einer Ökonomie, er ist für eine oder vielleicht mehrere neue Ökonomien selbst %um Medium geworden.
3. Leben und Biomacht Wie wäre das noch genauer zu fassen, was hier durch die Metapher der >Zirkulation< beschrieben wird? Körpergrenzen werden partiell durchlässig und praktisch hantierbar, Körperstoffe und Körperdaten >zirkulieren< und sie tun dies ganz offenbar, während sie zugleich in ein Kontinuum einrücken, das der näheren Bestimmung bedarf. Seit dem 19. Jahrhundert trägt dieses Kontinuum den Namen biologisches Leben<. Für uns heute hat es sich in Gestalt der Vorsilbe Bio oder auch als die Komponente Life in der auf neue Weise übergreifenden Disziplinenbezeichnung Life-Sdences selbstverständlich gemacht.
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Das Leben spendende Blut, das Leben des lebendigen Organs, das werdende menschliche Lebern nach der Befruchtung, das Leben als geneti scher Vorgang oder das Leben als singuläre Abbildung in der Biometrie: Auf sprechende Weise ist dieses >Leben<, fragt man nach seinem ontologi schen Status, eine schillernde Angelegenheit. Es ist einerseits stofflich (Objekt der Chirurgie, Physiologie, Biochemie), andererseits ist es immate riell (und besteht >nur< aus Messdaten, Informationen, Zeichen). Daher ließen sich auch leicht zwei Beschreibungsfelder auseinander ziehen: die Zirkulation von Körperstoffen und die Zirkulation von Körperdaten. Mit den Beispielen dürfte aber längst klar geworden sein, dass diese Unter scheidung künstlich ist —oder besser: dass die Trennlinie, auf die die Un terscheidung von stofflich und informationell sich bezieht, genau im Zuge der geschilderten Entwicklung verschwindet. Namentlich die neue Univer salität des Genom-Paradigmas besteht genau darin, Stofflichkeit und Zei chencharakter, Substanz und >Bedeutung< aneinander zu binden, so dass letztlich alles am Leib ineinander übersetzbar erscheint. Noch die individu elle Außenansicht - die Physiognomie - kann digitalisiert und mit der genetischen Tiefengrammatik verrechnet werden und wäre dann tatsäch lich im Wortsinn biometrisch >lesbar<. Was im Zeichen des transferierbaren Lebens ebenfalls ineinander über setzbar scheint, das sind Individuum und Gruppe. Der Status des individu ellen lebendigen Leibes ist nicht mehr klar zu unterscheiden vom Status der Physis der Population. Die Totale zählt —und das einzelne sterbliche >Leben< hebt sich in der zirkulierenden Gesamtheit desjenigen >Lebens<, das alle sind und alle nutzen könnten, potentiell auf.10 Die geschilderten neuen Ökonomien muss man also wohl als Ökono mien des >Lebens< bezeichnen, wobei der Lebensbegriff dann eine gewisse Schärfe gewinnt: >Leben< ist nichts historisch Übergreifendes mehr und auch keine lebensweltlich unverzichtbare oder biografische Kategorie, sondern eben jenes hochmoderne Konstrukt, das uns in Gestalt von Bio wissenschaft, Biomedizin und Biodaten begegnet - und das unter moder nen biotechnischen Bedingungen tatsächlich über seine eigene Form der Wertschöpfung verfugt. Biomacht hat Foucault jenen modernen Machttyp genannt, der auf ge wisse Weise eine potenzierte, eine sekundäre Form der Produktivität entdeckt hat und zu nutzen lernt: Das aus sich selbst heraus produktive biologische 10 Und man weiß nicht, ob das alte Individuum sich dabei auflöst oder auf eigentümliche Weise »körperlos« erweitert.
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>Leben< wird seinerseits produktiv gemacht Denkt man dies weiter, dann fugt sich die Zirkulationsthese gut dazu. Unter dem Zugriff einer solchen Biomacht werden nicht nur die menschlichen Verhaltensweisen unter die Gebote der Lebensproduktion und der Lebensverbesserung gestellt Es werden auch die Körper als solche kapitalisiert. Eine letzte Frage legt sich nahe. Nehmen wir tatsächlich an, die Körpergrenzen schwinden, weil eine regelrechte Kapitalisierung der Kör per zu beobachten ist, nämlich der Einsatz der lebendigen menschlichen Substanz als ein allgemeines Äquivalent, welches —>zirkulierend< —als Me dium dazu dient, einen spezifischen Mehrwert zu schaffen: Worin würde dann dieser Mehrwert bestehen? Was erwirtschaftet die Gesellschaft, in dem jeder Einzelne von uns im Zeichen bestimmter biologisch definierter Chancen quasi kurzgeschlossen wird mit den Körpern der anderen? Meine Vermutung wäre: Der allgemeine Gewinn, der hier winkt, heißt nicht nur einfach >Leben<. Er heißt vielmehr Lebens^»/. Im Hintergrund der biotechnischen und biopolitischen Nutzung der Körperstoffe und der Körperdaten formiert sich womöglich ein sehr spezifischer Markt, auf dem nicht finanzielle Profite das letzte Ziel sind, sondern die Erwirtschaftung und Verteilbarmachung von biologisch gewonnener Zeit. Indem man die sterb lichen Substanzen und die bisher in der Generationenfolge einfach mit dem Individuum versunkenen Biodaten nicht nur technisch erschließt und produktiv macht, sondern eben auch lagerbar, übertragbar, verkehrsfähig, macht man perspektivisch Lebenszeit käuflich. Dass man von Gewebe-, Organ- oder Gen-Banken spricht (und von Daten-Banken sowieso), hat vielleicht regelrecht im Hinblick auf ein Akku mulieren, ein Ansparen, ein Bereithalten und eine Umverteilung von Le bens-Zeit seinen Sinn. In der Ausdifferenzierung der Biotechniken und im veränderten Körper-Schema der heutigen Zeit zeichnet sich das Phantasma ab, der variabel begrenzte Bio-Körper sei tatsächlich eine >perfekte<, eine universal formbare, eine im Fluss des Lebens unfestgelegte Sache. Und es zeichnet sich die Hoffnung ab, dieser Bio-Körper könnte letztlich ein tod loser Körper sein.
Kapitel 2 Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Über einen Umbruch
Der lebendige Körper eines Menschen ist nicht irgendein Ding, insofern ist es eine absurde Vorstellung, jemand könne an ihm Eigentumsrechte haben. Dennoch mag man an Grenzfalle denken, bei denen Eigentumsfragen nicht von der Hand zu weisen sind. Etwa sobald man in der Medizin oder zu Forschungszwecken mit menschlichen Körpersubstanzen hantiert: Muss hier nicht geklärt sein, wem der wertvolle Stoff eigentlich gehört? Wir wissen um all die tiefgefrorenen Samen, Eier, Vorkeime, Embryonen, die irgendwo zwischen Therapie, Forschung und einem regelrechten Fortpflanzungsmarkt zum Einsatz kommen, auf dem sie schlicht eine Han delsware sind. Auch kann man Zugriffe auf das menschliche Erbgut pa tentieren lassen oder medizinische Datenerhebungen industriell nutzen. Das Eigentumsrecht macht also vor dem Stoff, aus dem wir bestehen, nicht Halt. Wenn aber bereits eine regelrechte Körper-Ökonomie existiert, dann kommt womöglich der umgekehrte Gedanke auf: Gerade »«//der Stoff, aus dem die Menschen sind, im biotechnologischen Zeitalter wertvoll gewor den ist, sollte nicht irgendjemandem, sondern den Menschen selbst ihr >eigener< Körper zustehen - und zwar auch rechtlich. Braucht man nicht ein Eigentumsrecht am eigenen Körper, um der Gefahr von wildernden Zugriffen, von heimlicher oder erzwungener Wegnahme zu begegnen? Gerade um die Integrität des menschlichen Körpers zu verteidigen, müsste man unbeschränkte Verfugungsrechte haben. Man müsste Eigentümer seiner Körpersubstanzen und eigentlich des ganzen >eigenen< Leibes sein. Überlegungen wie diese sind nicht nur plausibel, sondern anscheinend auch öffentlich gut zu vermitteln. Tatsächlich ist man in den letzten Jahren dazu übergegangen, das liberalistische Bild der Freiheit als einer Art von Selbst-Besitz auf die menschlichen Körpersubstanzen zu übertragen. Das angelsächsische Recht - das nicht nur auf das liberale Interessenssubjekt zugeschnitten ist, sondern auch zwischen Besitz und Eigentum nicht un-
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terscheidet - hat hierfür erste Wege gebahnt. Bekannt sind etwa die Voten zu dem spektakulären Prozess Moore v. Regettts o j California im Jahre 1990. Der Patient John Moore hatte hier nachträglich die wirtschaftliche Beteili gung an Gewinnen gefordert, die der Firma seines Arztes zugeflossen waren, denn dieser hatte ohne Moores Wissen dessen (speziell sich verhal tende) Milzzellen patentieren lassen und über Jahre hinweg vermarktet1 Wohlgemerkt ging es in diesem Fall bereits nur noch am Rand um die Frage, ob lebende Zellen bzw. deren spezifische Isolierung überhaupt Gegenstand eines Patents sein können. Diese Frage nach dem patentfähi gen Rechtsstatus menschlicher Lebendsubstanz hatte der US Supreme Court bereits 1980 bejaht.2 Lebendige Körpersubstanz ist in den USA also patentierbar, und wer das Patent hält, hat wirtschaftliche Verfugungsrechte, hat Eigentum. Im Fall Moore war nur noch strittig, wem die Eigentums rechte zustehen: Nur dem Besitzer vom Körper abgetrennter Teile oder vorher schon demjenigen, in dessen Körper diese Teile zunächst gewesen sind? Nicht nur in Amerika wurden von verschiedenen Seiten —und of fenbar ohne das Gefühl eines Traditionsbruchs —entsprechende Rechte für John Moore gefordert: Er müsse prcperty haben, und zwar im Sinne von omership an seinen Zellen und den dazugehörigen Rechten. Ähnliche Forderungen nach Eigentumsrechten für Betroffene sind im Zusammenhang mit den Gen-Beständen so genannter indigener Völker aufgekommen, deren Gewebe Pharmafinnen weltweit nach pharmazeu tisch wertvollen Besonderheiten durchsuchen, um sie unauffällig abzuemten.3 Vergleichbare Diskussionen gibt es im Bereich der Organverwertung. 1John Moore v. Regents o f California, 739 P.2d 479 (Cal. 1990). Der Patentantrag, wurde 1984 gestellt, die Nutzung der Zellen hatte früher begonnen. Moore verlor diesen Revisions prozess, was die von ihm geforderte Gewinnbeteiligung anging, und ging den Instan zenweg dann aus Kostengründen nicht weiter, so dass in der Eigentumsfrage kein Grundsatzurteil entstand. 2 Diamond v. Chakrubatry (1980) 447 U.S. 303, S. 309-310. Zur Patentierung zugelassen wurde ein Bakterium, mit der Begründung, es sei ein Produkt der »human ingenuity«. Alles unter der Sonne, was von Menschenhand geschaffen sei, sei auch patentierbar. 3 Diese Frage regelt —in der Art eines internationalen Rahmenabkommens - die so ge nannte Konvention über Bio-Diversität, Convention on Bio!ogcal Diversitf, der UN vom 5.6.1992. Artikel 1 sichert den beteiligten Ländern, konkret: den »national govemments« als Souveränen über ihre »natürlichen Ressourcen« (Art. 15), eine Art Gewinnbeteiligung zu: »fair and equitable sharing of the benefits arising out of the udlization of genetic resources, induding by appropriate access to genetic resources« (vgl. auch Art. 7). Damit sind wohl weniger Zahlungen gemeint als der Zugang zu neuen Produkten und die Schaffung medizinischer Infrastruktur. Art. 21 sieht vage einen ebenfalls zweckgebunde nen »mechanism for the Provision of financial resources to developing country Parties«
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Wo man auf der zwielichtigen Basis einer erklärten oder auch nur mut maßlich gewollten »Spende« Körperteile entnimmt, die im Zuge der medi zinischen Weiterverwendung einen klar bezifferbaren Wert erhalten, wer den ebenfalls Eigentumsansprüche artikuliert, als Schutz- oder Abwehr rechte für die Betroffenen. Interessant ist nun, dass neben Argumenten, die auf Bewahrung des Einzelnen vor profitorientierten Zugriffen zielen, nahezu analoge Forde rungen nach einem Eigentumsrecht am menschlichen Körper auch von der >Gegenseite< eingehen: von Unternehmen, die mit Humansubstanzen handeln. Die biotechnologische Forschung setzt ebenfalls darauf, dass die Politik rechtliche und wirtschaftliche Hindernisse beim Zugriff auf Körper und Körperstoffe beseitigt, indem sie dafür sorgt, dass das ganz normale Privatrecht Anwendung findet. Und auch der Ärztestand verlangt Rechts sicherheit. Bisher findet die Beschaffung von Körperstoffen ja zumeist im klinischen Zusammenhang statt, also im ärztlichen Tätigkeitsfeld, das sich eigentlich als Krankenbehandlung versteht. Auch dort, wo die Medizin forscht oder die Pharmaindustrie beliefert, kann sie legal im Grunde nur tun, was sich als in einem wie immer weiten Sinne als Heilung darstellen lässt. Gäbe es mit den Patienten auf Eigentumsbasis Verträge, Zahlungen, Haftung, dann wären hier die Verantwortlichkeiten klargestellt und etwa Zusatzeinnahmen durch Weiterverkauf nicht mehr anrüchig. Ärzte müss ten mit der Weitergabe von Körperstoffen aus der Klinik nicht mehr zö gern. Anders ausgedrückt: Aus Sicht der Bioindustrie, ihrer Zulieferer, ihrer Forscher, ist die Ressource Körper bislang eine knappe, nur indirekt zugängliche Ressource - und: sie ist passiv, sie ist eine Ressource, für die es (bisher) keinen aktiven Anbieter gibt. Vor diesem Hintergrund werden nun —eben nicht im Zeichen der Abwehr von Zugriffen auf den Körper, son dern im Sinne eines Anreizes, die schlummernden Möglichkeiten zu nutzen - rechtspolitische Schritte gefordert. Die Individuen sollen sich als Eigen tümer ihrer biologischen Ressourcen aktiv und selbständig entscheiden können. Sie sollen die Dispositionsfreiheit über ihren Körper erhalten. Sie sollen sich frei vermarkten können;
vor. Mit Art. 13 verpflichten sich die beteiligten Länder zur Kooperation bei »educational and public awareness progtammes«, die die Ressourcengewinnung begünstigen. —Er staunlicherweise wurde ausgerechnet in der entwicklungspolitisch kritisch eingestellten Öffentlichkeit diese Verrechtlichung der Nutzung indigenen Erbguts als eine Stärkung der Rechtsstellung der Drittwelt-Länder begrüßt.
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*!
Neben den genannten Forderungen nach Eigentum gibt es natürlidks auch Bedenken — sowohl gegen die eigentumsförmige Nutzung des! menschlichen Körpers als auch überhaupt gegen seine nicht-therapeutische; Behandlung, also bereits Bedenken gegenüber der >reinen< Forschung.4 Der Rechtsstatus des Körpers ist also auf elementare Weise unklar gewordene Allerdings führen Kritiker wie Befürworter ihre Diskussionen nicht unbe dingt als rechtsphilosophische Diskussionen, sondern behandeln die Frage auch auf dieser grundsätzlichen Ebene vor allem als ein Problem der Techniken, mit denen der Zugriff einhergeht. Auch die Juristen sehen weniger neue Rechtsfragen, sie scheinen zunächst einmal vor allem das Bewusstsein zu haben, auf technologisches Neuland geraten zu sein.5 Es er scheint dann als eine Art sekundäre Unklarheit die Frage, wie mit der Ei gentumsfrage normativ oder >ethisch< umgegangen werden soll. Man fragt nicht nach einer neuen Qualität von Normierung, sondern konstatiert allenfalls das Fehlen rechtlicher Kategorien, die auf die neuen Möglichkeiten passen würden. Die herandrängenden Rechtsfragen hinsichtlich des leben digen menschlichen Körper erscheinen gleichsam als Technik/^. Auch das von Jürgen Habermas im Zusammenhang mit der bevorste henden Klonierung des Menschen mobilisierte Bild von einer neuen Skla verei (Habermas 1998) oder von einer neuen Qualität der Abhängigkeit des Individuums, dem eine Enteignung seines Körpers drohe (Habermas 2001, S. 105 ff.), hat diesen reaktiven, unterschwellig naturrechtlichen Zug: Das Recht scheint gleichsam immer schon dagewesen zu sein und als das ei gentlich Neue treten die Techniken hinzu. Auch das Sprachbild der Ent eignung mobilisiert den Eigentümer, jemanden, der enteignet wird. Und die Analogie zum Sklaven legt nahe, es stehe etwas rechtsgeschichtlich im Prinzip Bekanntes bevor, nämlich das Zurückgleiten in alte Verhältnisse der Leibeigenschaft. Die Frage ist freilich, ob auf diese Weise nicht ein erstaunlicher Traditi onsbruch verharmlost wird. Im Spiegel der Vergangenheit betrachtet ver steht es sich in keiner Weise, dass das Modell der Appropriation und der ökonomischen Zirkulationsfähigkeit von Stoffen überhaupt auf die indivi
4 Zur Geschichte der Strittigkeit der Forschung am Menschen etwa Elkeles 1996. 5 Die Gerichte arbeiten nicht nur reaktiv und weichen normativen Grundsatzentscheidun gen aus. Sie geraten offenbar auch in ihren Argumentationen so stark unter den Ein druck der technologischen Details, dass sie die genuinjuristischen Fragestellungen vernachläs sigen, die der Einzelfall in sich birgt (vgl, Stone 2002, der aus dieser Perspektive die Moore-Prozesse analysiert).
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duelle Leiblichkeit menschlicher Personen übertragbar ist. Im Gegenteil. Das neue Anwendungsfeld - der lebendige Menschenstoff als verkehrsfä higes Eigentum - ist der europäischen Rechtstradition im Grunde fremd. Diese These möchte ich im Folgenden erhärten. Mein Ziel ist dabei weder eine moralische Bewertung der fraglichen Vorgänge noch ein Lösungsvor schlag für die Praxis. Mir geht es allein um die Ent-Verselbstverständlichung der Vorstellung, denke man die individuelle Freiheit zu Ende, dann besage eine einfache Konsequenz, dass diese Freiheit dann auch als Ver wertungsfreiheit gleichsam in juridifizierter Form das Leibesinnere der Individuen durchdringt.
1. Zur Ideengeschichte der Rechte am Körper 1.1. Die liberale self-property und der Arbeitskörper »Jede Person ist mit umfassenden moralischen Rechten ausgestattete Ei gentümerin ihrer selbst. Jeder besitzt in moralischer Hinsicht all die Rechte über sich selbst, die ein Sklavenhalter, rechtlich gesehen, über seinen Skla ven besitzt, und - moralisch betrachtet - ist er genauso berechtigt, über sich selbst zu verfügen, wie ein Sklavenhalter durch das Recht berechtigt ist, über seinen Sklaven zu verfügen.«6 Diese Sätze stammen von dem amerikanischen Theoretiker Gerald Allen Cohen, der den individualisti schen Ansatz des Ökonomen Robert Nozick fortsetzt - hier mit einem Aufsatz über Self-Ownershtp, World-Ownership and Equality von 1986. Aufge griffen wird die drastische, aber für die damalige Diskussion durchaus typische Formulierung von Cohen im Jahre 1997 durch den politischen Philosophen Hillel Steiner. Steiners These lautet nun, zwar sei in der Ver gangenheit tatsächlich von Eigentumsrechten am Körper »explizit« nie die Rede gewesen. »Implizit« sei diese Idee gleichwohl schon lange vorhanden. Auf der Vorstellung der self-pnperty beruhe das juristische Basisverhältnis zu sich selbst. Steiner verwendet zum einen Cohens Rückverweis auf den Sklaven als Beleg - wobei er übergeht, dass es im Zitat ja gerade nicht um 6 »Each person is the morally rightful owner of himself. He possesses over himself, as a matter of moral right, all those rights that a slaveholder has over a complete chattel slave as a matter of legal right, and he is entitled, morally speaking, to dispose over himself in the way such a slaveholder is entitled, legally speaking, to dispose over his slave.« (Cohen 1986, S. 109)
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das juristische Recht der Person an sich selbst, sondern um das »moralSSH sehe« Selbstverhältnis gegangen war. Der Sklave sei aber, so Steiner, d a H | Inbegriff des vollständig verfügbaren lebendigen »Dings«, er sei in ckipRI Geschichte —wie gesagt implizit —immer schon aufgefasst worden w ie _1 »ein Teil des Viehbestandes, eine Energieressource, eine Körpergewebe- » | bank.« (Steiner 1997, S. 1) * 11 Zusätzlich bezieht sich Steiner auf die Eigentumstheorie des neuzeidi- ; | chen liberalen Denkers John Locke (1632—1704). Eine zentrale Formulie- | rung bei Locke lautet bekanntlich, und auch sie zitiert Steiner im Sinne einer »impliziten« Theorie des Eigentums an uns selbst: »Jedermann hat * einen Besitz an seiner eigenen Person. Auf diesen hat niemand Rechte1® außer ihm selbst. Die Arbeit seines Körpers und die Arbeit seiner Hände,;. 11 können wir also sagen, sind rechtmäßigerweise scins.«7 ||
Zweimal argumentative Transfers: Zum einen (»Sklave«) wird das Besitz- M recht am fremden Körper, zum anderen (»nur man selber«) wird die Zu- J j rückweisung fremder Besitzansprüche an dem, was man ist und schafft, M wenn man arbeitet, gewertet als Aussage über das Verhältnis zur eigenen || Körpersubstanz. Beides wird unter »Eigentum« subsumiert und umge- ff münzt zu einer Definition: Das Konzept der self-ownership entspreche der 1 klassisch liberalistischen Tradition. Es begründe daher, so Steiner, ein per- S sönliches Recht auf unbeschränkten Verkauf unserer Körper sowie j Selbsttötung, Verwendung zur Leihmutterschaft etc. Mehr noch sei jede I Einmischung in solche Praktiken verboten. Wie es nach Locke die natürli- J chen Besitzrechte der Person enteigne, wenn man ihr die Früchte ihrer J eigenen körperlichen Arbeit entziehe, sei es eine »teilweise Versklavung« | (partial enslavemenl) des Individuums, wenn man ihm das Recht vorenthalte, | sich in den fraglichen Bereichen so weit zu engagieren wie es will —aus ; freien Stücken natürlich. Herauszustreichen ist an dieser großzügigen Übertragungsleistung vor allem eines: Illustriert Steiner die »direkte Verwendung der Körper« durch das doppelte Beispiel des Sklaven-Körpers und der freien Person als Selbst-Besitzer (eines solchen Sklaven-Körpers wohl also), dann über springt er die Tatsache, dass es weder für die Konzeption Lockes noch was den Sklaven betrifft um den Menschenkörper als Substanv^ gegangen ist, also 7 »[...] every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself. The la bou r of his body and the Works of his Hand, we may say, are properly his.« (Locke 1690, S. 305 f.)
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um dessen stofflichen Wert, oder —noch drastischer gesprochen —um dessen Körper als Rohstoff. Im Blick auf die Geschichte muss man viel mehr festhalten, was bereits aus der Locke-Passage hervorgeht, die Steiner selbst zitiert: Der Körper, um dessen Selbstbesitz oder auch (in der Leibei genschaft) um dessen Fremdbesitz oder Weiterverkauf oder auch ruinöse Behandlung als bloße »Sache« es sich im 17. Jahrhundert und vorher drehte, ist der arbeitende Körper gewesen. Nicht der Körper einer >Biologie<. Auch der Leibeigene repräsentierte seinen Wert als Arbeitskraft, er hatte — de jure jedenfalls —keineswegs den Status, bloßer lebendiger Stoff, eine bloße Substanz zu sein. Er wurde nicht als Fleisch oder Lebensmittel oder in Stücken gehandelt, es gab kein Recht zum Beispiel zum beliebigen Ab schneiden von Gliedmaßen oder zur Schlachtung von Menschen qua Leib eigenschaft. Diese Schranke, nämlich die Schranke zwischen Mensch und Tier, fiel charakteristischerweise außerhalb Europas, als man nicht Leibei gene, sondern >Wilde< vor sich hat.8 Man kann also sagen: In der europäi schen Rechtstradition wurden Sklaven rechtmäßig durch Arbeit verschlis sen. Vorsätzlich verletzt, verstümmelt, zerstört werden konnte der Leib des Sklaven - wie gesagt: de jure, also vom moralisch-rechtlichen Hintergrund aus betrachtet - nur dann, wenn nicht das Besitzrecht, sondern eine Strafe der Grund war. Man mag diesen Unterschied rückblickend für im Ergebnis moralisch geringfügig halten. Jeder weiß, wie willkürlich der Bestrafungsvorwand verwendet werden kann. Für die Frage des rechtlichen Konti nuums, das Steiner herbeikonstruiert, ist die Differenz zwischen Arbeits körper und Substanzenkörper gleichwohl von Bedeutung. Ein Eigentum am Körper im Sinne einer beliebig zerteilbaren und als Material disponiblen Substanz hat es in jener Zeit nicht gegeben, auf die das liberale Argument sich rückprojiziert. Lockes Ideal der se/f-properiy war auf eine ganz andere Form der Leiblichkeit bezogen, auf einen Arbeits körper, einen Bewegungskörper, eine um »die Arbeit der Hand« zentrierte Leiblichkeit, von der im übrigen (wie auch vom Körper des Sklaven) nur als einer einheitlichen ganzen die Rede sein konnte —wirtschaftlich wie real.
8 Die Eroberung Amerikas war auch eine Tragödie des Rechts, man kolonisierte die Indianer nicht mehr als Sklaven, sondern metzelte sie nur mehr nieder als Tiere und Reisch; dazu Todorov 1982.
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1.2. Kants unabdingbare Menschheit als Schranke vor dem Leib Im Zusammenhang mit Locke wurde bereits stillschweigend das deutsc Wort »Besitz« für das englische property verwendet, und damit die inhaltl che Ausrichtung seiner Konzeption akzentuiert. Wollte man die im deu sehen Privatrecht übliche Unterscheidung von Besitz (der tatsächlic Sachherrschaft) und Eigentum (dem übergreifenden Recht) in Anse bringen, die das englische Recht nicht kennt, dann wäre es eher der Selbs besitz, auf den Locke gezielt hatte - mit der Aussage, der arbeitende Kör] gehöre niemandem anderen als sich selbst Locke ging es primär um c leiblich-unmittelbare Habe, auch der Früchte der Arbeit, und nicht um < schuldrechtliche Eigentum, ein universales Bündel von Ansprüchen strakter Art. Der Autor, der die Frage nach dem ontologischen Status des Kör] vielleicht am präzisesten in die auf das römische Recht zurückgehe Begrifflichkeit von Besitz und Eigentum eingefügt hat, ist - etwa ein Ja hundert nach Locke —Immanuel Kant (1714-1804). Kant bietet in Metaphysik der Sitten von 1797/98 zum einen eine ausgefeilte Herleitung desJ Besitzes. Er definiert ihn als die subjektive Seite dessen, dass eine Sachej »Mein« ist, wobei die »Sache« definiert ist als ein mir äußerer Gegenstand meiner Willkür. Und zum anderen wird das Eigentum rekonstruiert - : der durch eine Rechtsordnung ausdrücklich für rechtmäßig erklärte abstrakt ausgestaltete Titel, der mir die Besitzerlangung in Form von An* Sprüchen gegen andere sichert. Eigentum heißt also, gut römischrechtlichsl Man behält einen Ausschluss- und Zugriffsgrund universaler Art, ganz j unabhängig davon, wer die tatsächliche Gewaltherrschaft über die Sache hat, also den empirischen Besitz. Der äußere Gegenstand, definiert Kant,: sei Eigentum desjenigen, welchem »alle Rechte in dieser Sache (wie Akziden zen in der Substanz) inhärieren«. Diese alle anderen Rechtssubjekte aus^-i schließende Totalität von Rechten ist es, über die der Eigentümer nach ; Belieben verfügen kann. Hieraus nun aber, so Kant weiter, »folgt von selbst, daß ein solcher Gegenstand nur eine körperliche Sache (gegen die man keine Verbindlichkeit hat) sein könne, daher ein Mensch sein eigener Herr (sui dominus), aber nicht Eigentümer von sich selbst (über sich nach Belieben disponieren zu können) geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist« (Kant 1797/298, S. 381 f.).
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Im Rahmen seiner Rechts- und Tugendlehre hat Kant diesen Grund satz eindrucksvoll lebensnah ausbuchstabiert - jeweils dem berühmten Imperativ Rechnung tragend, dass der Mensch nie nur als Mittel behandelt werden darf, sondern stets zu betrachten ist als ein Zweck an sich selbst. Am bekanntesten ist wahrscheinlich Kants Stellungnahme zum Sui2id: »Die Selbstendeibung ist ein Verbrechen (Mord).« (Kant 1797/298, S. 137). Denn: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst, ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zwecken zu disponieren, heißt, die Menschheit in seiner Person [...] abwürdigen, der doch der Mensch [...] zur Erhaltung anvertrauet war.« (Kant 1797/298, S. 555) Kant setzt diesen Gedanken aber auch unmittelbar fort, was weitere, nicht tödliche Verletzungshandlungen angeht: »Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z. B. einen Zahn zu verschen ken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines anderen zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes, und hiemit dem Leben nachteiliges Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z. E. die Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an seiner eigenen Person nicht gerechnet werden, wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äußeren Erwerb beab sichtigt wird.« (Ebd.) Mit anderen Worten: Kant schreibt dem Leib als Element der Freiheit des Menschen von vornherein einen prinzipiell anderen Status zu als den einer »äußeren« (nämlich wiederum für das Subjekt äußeren) »Sache« - und dies ohne die handfeste, materielle Seite des Körpers in irgendeiner Weise zu leugnen. Der Leib des anderen bildet, wie auch mein eigener, einfach ein Rechtsproblem eigener Art, einen Gegenstand sui generis, für den die Vernunftregel gilt, die auf andere Sachen nicht angewendet werden muss, dass Instrumentalisierung sich verbietet. Bleibt darauf hinzuweisen, dass Kant, was körperliche Freiheit angeht, durchaus enge Grenzen zu ziehen bereit ist. Neben der Ehe, Elternschaft und Familie, in der die Frau, die Kinder, das Gesinde »auf dingliche Art« an den Mann gebunden sein sol len, sieht Kant die Möglichkeit der Leibeigenschaft als Strafe für Verbrecher vor. Auch hier finden wir jedoch die prinzipielle, als Integrität des stoffli chen Leibes nicht überschreitbar gedachte Grenze. Der Herr kann den
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Leibeigenen »als eine Sache veräußern und ihn nach Belieben (nur nicht zu schandbaren Zwecken) brauchen, und über seine Kräfte [verfügen], wenn gleich nicht über sein Leben und seine Gliedmaßen« (Kant 1797/21798, S. 451, Hervorh. von mir, P. G.). Wie man sieht ist die Kantische Position trotz ihrer philosophisch abstrakten Begründung konkret genug, um auch heute noch fallnah (man denke an das Zahn-Beispiel) angewendet zu werden. Der amerikanische Jurist Freeman, der als Gutachter im Falle John Moore befürwortet hatte, Moore das volle Recht an seinen Körperzellen zuzusprechen, sieht genau in der mit Kant bis heute unmissverständlichen Schranke das Problem. Mit solchen »Achtzehntes-Jahrhundert-Argumen ten« , so Freeman 1997 in seinem Aufsatz Taking the bodj seriously, bleibe für die Begründung von Eigentumsrechten am biologischen Körper im Prin zip kein Raum. Freeman will dennoch Argumente konstruieren, die, wie es im Text heißt, »Kant verstanden haben würde«, indem er das allgemeine soziale Interesse an einem funktionierenden Organ- und Gewebemarkt ins Feld fuhrt. Ein solcher Markt käme erstens der Menschheit zugute, es sei zweitens zumindest nicht bewiesen, dass er gegen Würde und Selbstachtung verstoße, und was drittens die Freiheit angeht, so sei Kants Argument schlicht zu prinzipiell. Wenn Kant die medizinische Amputation bejahe, würde er auch nichts gegen eine harmlose Blut-, Knochenmarks- oder Nierenspende einzuwenden haben. »Wenn Amputation moralisch erlaubt ist, um sich selbst zu retten, wieso sollte es die Spende dann nicht sein, um das Leben eines anderen zu retten?«9 Unnötig zu sagen: Diese Erwägung hätte Kant, der noch nicht einmal eine Lüge erlaubt, um das Leben eines anderen zu retten, mit Sicherheit nicht überzeugt. Vor allem jedoch umgeht Freemans Argument das eigent liche Problem, das er selbst benannt hat. Die Unverfugbarkeitsschranke, die vor dem Halt gebietet, was als Sitz der Freiheit ausgezeichnet werden muss, kollidiert in der Sache mit der Vorstellung eines 'Kontinuums von biologischem Leben, in dem man allenfalls graduelle Unterschiede macht. Biologisches Leben zugleich noch mit einem weiteren Kontinuum zu un terlegen, dem Kontinuum der Nutzenerwägung, heißt praktisch: die Kanti sche Schranke wird gleich zweimal ignoriert. Ordnet man leibliche Stoffe ein unter die biologischen oder auch unter die dem Leben nützlichen Sub stanzen oder Güter, dann disponiert man über sie, indem man deren on
9 »If amputation is morally acceptable for self-preservation, how is that donation to save the life of another is not?« (Freeman 1997, S. 15)
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tologische Sonderrolle ignoriert, dem Menschen schlechterdings »nichts äußerliches« zu sein.
1.3. Hegels unteilbare Freiheit: die Einheit von Leiblichkeit und Willen Ein Schlüsselbegriff für die Befürworter von Eigentumsrechten am Körper ist die Freiheit, verstanden als eine Schrankenlosigkeit des Willens, die ge rade auch die Überschreitung der von Kant gezogenen prinzipiellen Grenze verlangt. Für die europäische Rechtsphilosophie hat wahrschein lich mit der größten gedanklichen Schärfe Georg Wilhelm Friedrich Hegel radikal für die Freiheit optiert —Freiheit nicht als Selbstgesetzgebung ver standen, sondern als Freiheit eines wirklichen Willens, der sich auch nur ganz konkret verwirklichen kann. Hegel stellt sich kritisch gegen das Kantische Autonomiemodell, denn er hält es für zu abstrakt. Dass dies den Sta tus des Leibes berührt, zeigt sich exemplarisch darin, dass in der Frage der Selbsttötung Hegel eine andere Position bezieht als Kant. Freiheit schließt bei Hegel die Freiheit, auf das Leben zu verzichten, zunächst einmal ein und nicht aus: »Ich bin lebendig in diesem organischen Körper, welcher mein dem Inhalte nach allgemeines ungeteiltes äußeres Dasein, die reale Möglich keit alles weiter bestimmten Daseins ist. Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur, insofern es mein Wille ist. [...] Ich habe diese Glieder, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht selbst verstümmeln oder umbringen, aber der Mensch.«10 Von hier aus betont Hegel aber vor allem den Prozesscharakter, in Ge stalt dessen der Körper, der Inbesitznahme von Dingen nicht unähnlich, »williges Organ und beseeltes Mittel« des Geistes erst werden muss. Das unmittelbare Dasein muss erst vom Geist »in Besitz genommen werden« (Hegel 1821, S. 111), um wirklich das Meine zu sein. Eigentum ist nicht prinzipiell vom Besitz geschieden, denn dass ich in eine Sache meinen freien Willen lege, ihr »meine Seele« gebe, wie es heißt, macht das Eigen tum aus (ebd., S. 107). Im besonderen Fall des Leibes mündet diese all
10 Hegel 1821, S. 110 f. Ähnlich hat Hegel auch das Verbrechen, sofern die verbrecheri sche Handlung »ein Wollen ist, und die Möglichkeit in ihr, von der sinnlichen Triebfeder des Gesetzes zu abstrahieren«, bestimmt als in sich frei - vgl. Hegel 1802, S. 515 sowie später in den Grundlinien der Philosophie des Rßchts, Hegel 1821, S. 187: »Die positive Exis tenz der Verletzung [die Rechtsverletzung als äußerliches Übel, PG] ist nur als der be sondere Wille des Verbrechers«.
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mähliche Durchdringung des organischen Körpers in die Bildung des Geistes: »Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein Natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußt sein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.« (Ebd., S. 122) Dies klingt vielleicht so, als würde Hegel den Körper als leere Hülle für den Willen betrachten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Als Prozess ein ander durchdringend sind Leib und Wille so sehr eins, dass auch vom Standpunkt der Vernunft man sie gar nicht getrennt voneinander betrach ten kann (und, wie bei Kant, etwa den Willen gesondert verpflichten). Für Hegel ist —gerade weil der Leib und der Geist, der sich in diesen hineinlegt, eine organische Einheit bilden —eine auch nur Di ngähtilicbkeit der Men schen im Rechtsverkehr untereinander ausgeschlossen. Freiheit heißt: Das Recht muss, um unter den heutigen historischen Bedingungen überhaupt als Recht erscheinen zu können, bereits eine Grundlage haben, die »den un wahren Standpunkt« hinter sich gelassen hat, »auf welchem der Mensch als Naturwesen« überhaupt noch isoliert betrachtet werden könnte (und etwa als der Sklaverei fähig). Wird die Freiheit als in diesem Sinne etwas Wirkli ches begriffen, dann macht nicht der Willen vor dem menschlichen Körper nur gleichsam Halt, um darin eine autonome Vernunft zu respektieren. Die Identität meines Leibes mit meinem Willen muss vielmehr ganz konkret und als organischer Ausdruck, den der Geist im Körper findet, gegeben sein —gleichsam ausstrahlend und in den sozialen Praktiken eines leiblich anerkennungsvollen Umgangs miteinander evident: »Für die anderen bin ich mein Körper«, meinem Körper angetane Gewalt ist »Mir angetane Gewalt« (ebd., S. 112), heißt es bei Hegel. Meine abstrakte Freiheit zum Verzicht auf mein Leben ist zwar grundlegend gegeben, sie liegt aber gleichwohl auf einer ganz anderen Ebene als die willentliche Entäußerung substantiellen Seite meiner Person —etwa ihrer rechts förmigen Abtre::r_g an Dritte. Was das allgemeine Wesen meines Selbstbewusstseins aus: - cht, ist nach Hegel strikt »unveräußerlich«, nämlich: »meine Persönlichkeit rhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion« (ebd., S. 141 f.), und Hegels Beispiele sind: Sklaverei, Leibeigenschaft, Unfähigkeit, 3igentum zu besitzen, die Unfreiheit desselben und so fort, Entäußerung der intelligenten Vernünftigkeit, Moralität, Sittlichkeit, Religion, Verdingung zu Straftaten etc. »Auch das Recht zu leben«, notieren die Grundlinien an der zi tierten Stelle noch stichwortartig, »ist unveräußerlich, d. i. für die Willkür.
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Es verkauft sich einer, zum Tode; —Geld füir seine Familie oder sonstige Verwendung. - Der ihn kauft und tötet, verstümmelt [ist] Mörder. (Kast ration - Lernen von chirurgischen Operationen - Zahnausreißen)« (ebd., S. 144). Selbst ein radikaler Philosoph der Freiheit wie Hegel hat diese also ge rade nicht wie die eingangs vorgestellten liberalistischen Autoren auf der Linie eines Fortschritts der Verrechtlichung verstanden, der gleichsam von der Abschaffung der Sklaverei zum Recht auf Verkauf der Leber den Kör per von außen nach innen juridifiziert. Mit Hegel »vergeistigt« sich eher der Körper und wird ganz Konkretisierung der Person. Damit verschwindet jegliche juridifizierbare Sacheigenschaft. Eher steigert sich, so könnte man sagen, die Freiheit, indem sie umgekehrt sich ganz mit dem in seiner Ver letzbarkeit dem Willen anvertrauten Körper zu identifizieren lernt —und dies >wirklich^ das heißt im Zusammenspiel der Sittlichkeit einer Epoche, die bereits weiß, dass Freiheit nur in einem sozialen Raum gelebt werden kann, in dem jeder unvermittelt auch im anderen die Einheit von Person und Leib anerkennt.11
2. Bruchlinien in der Eigentums-Tradition 2.1. Rechtliche Fassungen Wäre mehr Raum, so ließe sich zeigen, wie sich der theoriegeschichtliche Befund im Bereich der Rechtswissenschaft in Gestalt der Abwesenheit von Rechtsfiguren des Eigentums am Stoff des lebendigen Körpers oder eines Naturrechts der Selbst-Eigentümerschaft widerspiegelt. Auch in der deut schen Privatrechtsdogmatik ist man, wie Hermann Schünemann, der Autor einer einschlägigen Monographie, 1985 feststellt, bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts »schlicht der historisch gewachsenen Einsicht, die den Körper als eigentumsunfähig ansieht, gefolgt.« (Schünemann 1985, S. 32) Spekulationen über eine logisch mögliche Trennung zwischen Körper und Person waren, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit dem Recht auf 11 Mit dieser Lesart Hegels widerspreche ich Heinrichs 2004, S. 284, der Hegel als Gewährs mann für eine Innen-Außen-Trennung in der Eigentumsfrage in Stellung bringen möch te. Heinrichs’ Ansatz krankt insgesamt daran, dass er in keiner Weise zwischen Eigen tum und Besitz (oder; kontinentalen und angelsächsischen Termini) differenziert. Schon Platon und Locke erscheinen so als Vertreter der Eigentumsthese.
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Selbsttötung angebracht, weil der Status des Suizids —Verbrechen oder nicht? - die gegebenenfalls davon abhängenden Pflichten Dritter betraf. Alles drehte sich in diesem Fall aber allein um die Verfiigungsfreiheit zur Vernichtung des Körpers, analog zur Vernichtung als quasi >Sache<.12 Um die ökonomische Verwertung ging es nicht. Das Privatrecht nahm den menschlichen Leib allenfalls indirekt zur Kenntnis, in Form eines Kokons von Schadensersatzrechten auf der Grundlage des zentralen Schadensersatzparagraphen § 823 BGB, der den geschädigten Körper neben dem geschädigten Eigentum ausdrücklich gesondert auffuhrt. Das entspricht der kontinentalen Rechtstradition. In ihr hat das römische Recht für Jahrtausende die Trennung zwischen Sache und menschlichem Körper festgeschrieben - »dominus membrorum suorum nemo videtur« heißt es in den Digesten des Ulpian. Der zitierte Privatrechder Schünemann hat im Jahre 1985, also genau zu der Zeit, als verän derte Interessenlagen erstmals die deutsche Rechtswissenschaft erreichen, dafür eine schlichte Erklärung; Über eine Qualifikation des eigenen Leibes als Eigentum nachzudenken, sei bis dato unnüt% gewesen, juristisch ohne Funktion. Ich denke, man kann an diesem Punkt noch weiter gehen: Juris tisch ist es, im Gegenteil, im Grunde immer schon höchst funktional gewe sen, den Leib auszusparen, wo der Raum des Privatrechtsverkehr beginnt. Es gehört geradezu zu den Gründungsmythen des römischen Privatrechts, dass es mit der Abschaffung des »Fleischpfandes« (den ein ominöser Pas sus im Zwölftafelrecht noch vorsah13) unwiderruflich die Trennung zwi schen Person und Sache eingeführt hat. Mit eben diesem Schritt ist der Wirtschaftsverkehr sozusagen auf basale Weise »zivilisiert« und zu einem Raum des für die Person (körperlich) gefahrlosen Engagements geworden. Zu einem Raum, in dem systematisch nur Handlungsfreiheiten auf dem Spiel stehen —und der eigene oder fremde Körper gerade nicht. Man übertreibt vielleicht nicht, wenn man sagt, in unserer wirtschaftlichen Tradition sei
12 Oder auch analog zum Recht des Souveräns, dem Untertan im Falle des Krieges den Tod zu geben, indem er ihn zum Militärdienst zwingen kann (was wiederum der formell zu Grunde liegende Untertaneneid abdeckt). 13 Nämlich dass der Gläubiger ein Stück Fleisch aus dem Leib des Schuldners herausschneiden darf. - Die Geschichte, Stoff u. a. in Shakespeares Kaufmann von Ve nedig, stützt sich auf Zwölftafelgesetz (450 v. Chr.) Tabula 3, VI: »Tertiis nundinis partis secanto. Si plus minusque seuerunt, se fraude esto.« (»Am dritten Markttag sollen die Gläubiger sich die Teile schneiden. Wenn einer zuviel oder zu wenig abgeschnitten hat, soll dies ohne Nachteil sein«).
2 Eigentum am menschlichen Körper
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die Differenz von Person und Sache so etwas wie für die Institution der Familie das Inzestverbot. Während in den angelsächsischen Ländern die ersten Aneignungs fragen durch Einzelurteile gelöst werden, die property (oder quasi-property) an leben digen Körperstoffen zusptechen, ist hierzulande deutlich zu beobachten, wie die neue Anforderung, ein anwendbares Bio-Privatrecht zu schaffen, die Jurisprudenz zunächst einmal regelrecht ratlos macht. Das Modell, mit dem man sich zunächst zu behelfen suchte, nämlich den in Frage stehen den Stoffen im Zusammenhang eines physischen Entnahme- oder Abtren nungsvorgangs die Verwandlung in eine Sache zu unterstellen, hat sich schnell als unbrauchbar erwiesen. Unbrauchbar etwa, wo es um Verpflan zungen geht, um manipulierendes Wiedereinfugen in den eigenen oder einen oder mehrere fremde Körper. Unbrauchbar auch, wo das Körperge webe selbst ohne jede Entnahme zur Produktionsstätte gemacht wird —dies ist ja nicht nur in der Reproduktionsmedizin möglich, durch präventive »Qualitätsverbesserung« am Embryo via Genom oder Keimbahn, sondern auch ganz unabhängig von der Produktion von Nachwuchs, etwa indem man menschliche Brustdrüsen so umändert, dass man gleichsam direkt aus der Frau Pharmazeutika herausmelken kann.14 Unbrauchbar ist das juristi sche Modell der Verwandlung von Körper in Sache auch überall dort, wo es um diejenige Grenze geht, die früher als die Differenz von Leben und Tod juristisch vergleichsweise eindeutig war. Die Schwelle des Todes fiel in der europäischen Tradition bis vor wenigen Jahrzehnten mit der sinnlichen Wahrnehmung von Todeszeichen zusammen und wurde nachträglich rechtswirksam bescheinigt. Dies hat sich geändert, seit man den Tod an gerätegestützte Expertendiagnosen geknüpft und vorverlegt hat - zu gunsten eines sofortigen Zugriffs auf die Organe der >Leiche<. Juristisch weitgehend unangefochten gilt heute, aller verbliebenen Skepsis zum Trotz, das so genannte >Hirntod-Konzept< (vgl. Wiesemann 2000; zur Ge schichte Wiesemann 2001). Auf der Basis dieses abstrakten Kriteriums sind weitgehende, auch ökonomisch relevante Zugriffe auf Sterbende möglich, was sich mit einer Definition zum Beispiel noch durchbluteter Körperteile als Sache nicht verträgt. Ein weiterer Bereich, in dem die Rechtsfiktion der Sache den Status le bendiger Körpersubstanzen nicht klären hilft, ist die an der Realität des 14 Für ein solches Verfahren lag dem Europäischen Patentamt unter der Nr. 88301112.4 seit 1988 ein Patentantrag vor (des h aybr College o f Mediane, Houston, Texas; Jeffrey M. Rosen). Ob das Verfahren inzwischen angewendet wird, ist mir nicht bekannt.
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menschlichen Leibes scheiternde Abgrenzung zwischen Stoff und Infor mation. Weder die Erinnerungen, die in einem Gehirn enthalten sind, noch das Erbgut, das man bereits - im Sinne eines generischen Fingerabdrucks — aus einem Hautschüppchen gewinnen kann, sind der Sachbegriffliehkeit des BGB ohne weiteres zugänglich. Dogmatisch gesehen müsste zumin dest das europäische Patentrecht eigentlich permanent zwischen Patent recht und Urheberrecht schwanken. Man vermeidet dies bis heute durch Angleichung an das US-amerikanische Recht. Als Alternative zum Konzept der Sache haben deutsche Juristen eines der flexibelsten Instrumente zur Hilfe genommen: das unter Rekurs au f Grundrechte ins BGB hineininterpretierte allgemeine »Persönlichkeitsrccht«. Nicht über irgendeine Form der Habe, sondern über die Ausstrah lung der Person sollen so Individualrechte entstehen, die im weiteren Sinne eigentumsanalog sind, indem sie zumindest Schutz- und Haftungsrechte begründbar machen —freilich im Wege einer freischwebenden Judikatur. Die dazugehörige Dogmatik lebt von scholastischen Konstruktionen. Zur Zeit sind dies Varianten der so genannten »Überlagerungsthese«. Ihr zu folge »überlagern« Pcrsönlichkeitsrechtc das Sachenrecht, das mit größerer Entfernung zur Person dann aber doch allmählich zur Anwendung kommt (Kaatsch 1994). Dies Modell hat Schule gemacht. Es ist flexibel, denn es läuft auf fallweise neue, graduelle Abstufungen von mehr oder weniger wirksamem Rechtsschutz hinaus; es lässt sich durch die Judikatur weiterentwickeln und hat dadurch gute Chancen, das in Deutschland herr schende Modell zu bleiben. Interessant bleibt aber, gerade zukünftig, der internationale Vergleich. Wo man auf der Basis von property den Körper leichter verrechtlichen kann, theoretisch aber auch Vermarktungsrechte — durch common sense —leichter pragmatisch wieder einschränkbar sind, stellte das abstrakte Eigentum am menschlichen Körper im Rahmen der zivilrechtlichen Tradition eine systemstürzende Neuerung dar, denn es impli ziert zugleich Universalität. Mit anderen Worten: Es wäre schwer, sich eine Beschränkung der entstehenden Vcrfugungsfrciheiten dann noch als reali sierbar zu denken. Als einziges Argument bliebe den Gerichten wohl die Berufung auf die Sittenwidrigkeitsgrenze, die Eigentum einschränken kann. Fragt sich, wie etwas objektiv »Sittenwidriges« festgestellt werden kann. Überall dort, wo sich auf der einen Seite Freiwillige finden lassen, die sich zur Selbstvermarktung bereit finden, und auf der anderen Seite für eine Nachfrage gesorgt ist, die Knappheit garantiert, wird das Argument der Sittenwidrigkeit langfristig erodieren, ln einem Rechtssystcm wie dem
2 E i g e n t u m a m m e n s c h l i c h e n k ö r i m -r
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unseren kann eine weiche Grenze wie diese ohnehin nicht allein durch die Judikatur aufrechterhalten werden. Hierzulande sind die Gerichte in stärke rem Maße als zum Beispiel in den USA auf Gesetzgebung angewiesen und damit auf die Politik. Dass aber in Wohlfahrtstaaten gerade in der Gesund¿«Vspolidk die öffentliche Hand zwar in der Pflicht ist, aber deren KostenNutzen-Rechnungen für privatwirtschaftliche Lösungen sprechen, ist bekannt.
2.2. Biorecht und die Mobilisierung der lebendigen Substanz Der gewaltige Umbruch, der darin liegt, dass die Eigentumskategorie in die dem Privatrechtsverkehr bislang prinzipiell entzogenen Räume hincindrängt, gibt Anlass für weitergehende Überlegungen. Die Verrechtlichung des Leibesstoffes ist nicht eine unter vielen Verschiebungen, die der tech nische Fortschritt nun einmal mit sich bringt. Vielmehr zeigen die Verle genheit der Rechtswissenschaft und die fragwürdigen Manöver der Theo riebildung der 1980er und 1990er Jahre, in denen sic erstmals fiir die Ei gentumsthese in der Gcschichtc Anhaltspunkte konstruiert, wie neuartig das Neue ist, das hier Normalität werden möchtc. Auch Überlegungen wie der Vorschlag von »Eigenrechten« des Körpers, »durch die das Recht auf den Körper gemäßigt, leibökologisch zivilisiert« werden soll (Caysa 2001, S. 219 f.), bleiben einigermaßen unklar, denn was sollte ein solches Eigen recht für ein neues >Binnenverhältnis< der Individuen zu sich selbst bedeu ten? Entstünde dann etwa eine Schutzpflicht auch für sich selbst?15 Eine passende Sprache und Dispositionsregeln sind noch nicht gefunden. Im Recht wird fallweise geurteilt und die Kasuistik zählt. Insofern haben die geschilderten theoretischen wie die rechtsdogmatischen Inkonsistenzen Symptomwert: Die Wirklichkeit, die den Wert dessen bestimmt, was wir Körper nennen, wird umgeschaffen - und im selben Atemzug damit gera ten die Vorschriften ins Wanken, wie wir diesen Körper (nicht) behandeln dürfen. Zusammenfassend halte ich drei Punkte fest. (1) Das neue Biorecht fasst den menschlichen Leib stofflich, und zwar im Sinne einer lebendigen Substanz, also eines wachsenden bzw. sich reprodu zierenden Stoffes, der biologisch-technisch definiert ist. Die Nutzbarkeit 15 Insofern ist den Einwänden von Herrmann 2003, S. 285 ff. zuzustimmen. Hermann selbst gibt nicht mehr als eine sehr vorsichtige Analyse des Status des Körpers: Person oder Sache, um zu folgern, beides sei unangemessen.
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dieses Substanzen-Körpers hat die ganze zwischen Produktion und Repro duktion angesiedelte Ambiguität der lebenden Zelle. Gleich vier Rollen scheint dieser Körper zu erfüllen. Er ist nutzbar als 'Rohstoff sowie als aus sich selbst heraus produktiver Stoff sowie als Produktionsmittel, und im Grenz fall erscheint er noch als Teil des Produkts, das er aus sich heraus entlässt. Er ist gleichermaßen Ressource (>Natur<), Prozess bzw. Leistung (>Leben<), Werkzeug (>Medium<), und er kann womöglich, gemäß juristischer Zu schreibung etwa, für eine fiktive Sekunde als Ware (>Sache<) gelten. Der privatrechtliche Eigentumsstatus eröffnet für alle hier möglichen Nutzun gen jeweils die geeignete ökonomische Fassung. (2) Der Gesichtspunkt der Willkürfreiheit wird in dieser Konzeptualisierung des Körpers vollständig abgetrennt von derjenigen Leiblichkeit, in die der freie Wille bei Kant im Sinne einer Autonomiegrenze eingebettet war und die bei Hegel im Zeichen der Lebendigkeit des Geistes geradezu inkarniert erscheint im Zusammenspiel sittlicher Praxis. In einem Biorecht schwebt demgegenüber der abstrakte Eigentümer-Wille gleichsam über den Wassern, wie eine Karikatur der res cogitans des Descartes über der res extensa. (3) Parallel zu den Techniken, die ja auf Aus- und Einbau, Reproduk tion, stofflicher Ergänzung, Verdopplung von Substanzen basieren, kann schließlich die sinnlich gegebene Körpergren^e des einzelnen Individuums merkwürdig unwesentlich werden. Sie wird ent-intensiviert, und das heißt zweierlei. Erstens: eine Rechtsschwelle verschwindet. Der lebendige Kör per -wird durch Privatrechtskategorien usurpiert. Zweitens treten technisch definierte Grenzen an die Stelle der für das frühere Recht ausschlaggeben den sinnlichen Zäsur. Schon die Körperwahrnehmung, der Zugang, der Umriss, die Respekts- und gegebenenfalls die Verletzungsschwelle des einzelnen werden nicht mehr direkt (über die Sinne), sondern vermittelt (über Vorschriften, Daten, Geräte, Expertenaussagen) bestimmt. Diesen letzten Gesichtspunkt halte ich für besonders wichtig, und er hat weitergehende Konsequenzen. Wird der Körper eigentumsfähig, so wird er ja nicht einfach Sache unter Sachen. Eher müsste man in den Be griffen des vergangenen Kapitels sagen: Er wird >Wert<. Er wird kapitali siert. Die Hautgrenze, ehemals die Grenze der Person, ist juristisch dispo nibel geworden. Der Willen des Besitzers bzw. Eigentümers kann über sie hinweggreifend verfügen —gegebenenfalls gestützt auf das entsprechende Expertenwissen.
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Im Fall von John Moore war es ein Facharzt, der eine seltene geneti sche Besonderheit von Moore entdeckte und daraufhin die Patentierung unternahm. Einerseits kann man sagen, dass der Experte hier heimlich die von der Dimension des Privatrechts erfassten Körperzellen >raubte<. Ande rerseits hätte dieser Arzt Moore aber auch beinahe zu einem von diesem selbst nie geahnten Reichtum verholfen. Zwei potentielle wirtschaftliche Gewinner standen sich bei den Prozessen gegenüber. Der Verlierer freilich bleibt der Körper, der hier zum Gegenstand von Eigentümer-Kalkülen geworden ist, als sei er ein separates Ding. Im Falle Moore ging es um die Zellen eines Menschen, der krank war und im Zuge einer langen und quä lenden Behandlung bereits viel preisgegeben hatte. Insofern hätte man ihm den Eigentumstitel im Sinne eines finanziellen Glücksfalls nach viel Leid vielleicht zugestehen mögen. Der Fall einer Zellen-Patentierung ist jedoch vergleichsweise exotisch. Ein Eigentumsrecht am eigenen Körper und am Körper anderer eröffnet, wo es etwa um lebendige gesunde Organe geht oder um das Erbgut von Kindern, weitaus drastischeren Begehrlichkeiten Tür und Tor —und auch drastischeren Formen der Selbstvermarktung. Oben hatte ich gesagt: Der Körper, an dem man Eigentum haben kann, ist derjenige Körper, der eingerückt ist in ein Kontinuum von biologi schem Leben. Jenes Zugriffsmuster namens Biomacht, das Zugriffsmuster, im Körper das >Leben< zu behandeln, bringt also nicht nur neue biotechno logische Verfahrensweisen und neue Ökonomien hervor. Es hat auch Rechtsbegriffe verschoben. Heutiges Recht reagiert nicht etwa nur punktuell auf Technikfolgen. Ebenso wenig ist es so, dass die biotechnolo gische Entwicklung einfach nur rechtliche Errungenschaften gefährdet. Die Macht zum Leben bringt vielmehr ein neues Bio-Privatrecht des le bendigen Körpers hervor —und die Rechtsverhältnisse, die Verwertungs beziehungen, die es stiftet, sind radikal neu. Das Recht hat sich noch im 20. Jahrhundert relativ lang an der alten Körpergrenze des In-dividuums (»un-teilbar«) orientiert, und damit gleich sam an der natürlichen Person in einem nicht naturwissenschaftlichen und gänzlich vorbiologischen Sinne von Person und Menschsein.16 Genau hier liegt ein Umbruch, den es zu sehen gilt: Die Materialität der Person wird in 16 Eine Ausnahme kennt das 20. Jahrhundert bereits: das Konstrukt der >Rassen< innerhalb der menschlichen Gattung. Es wurde vom Recht genutzt, um Schnitte zwischen Personengmppen zu ziehen und Rechtssubjekten willkürlich unterschiedliche Subjektpositio nen zuzuteilen —bis zum vollständigen Entzug jeglicher Rechte in der >legalen< Eugenik und Vernichtungspolitik des Dritten Reichs.
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einer historisch vergleichslosen Weise verrechtlicht und damit den Verfugungswünschen der Beteiligten zugänglich gemacht. Im Kern bleibt schließlich vom Kanüschen oder auch vom Hegelschen Subjekt der Frei heit nur noch der Wille übrig —ein Abstraktum, das weder an die sinnlichen Grenzen des Individuums noch an die sittliche Grenze »Mensch« und sogar kaum noch an den biologischen Körper gebunden scheint. Selbst der bio logische Körper wird zum bloßen Objekt dieses freischwebenden Willens.
Kapitel 3 Wessen Stoffe, wessen Proben, wessen Daten? Verfügungsspielräume im medizinischen Feld In der Medizin behandelt man den menschlichen Körper: Man wirkt auf ihn ein, man greift ein, man verändert ihn - nach Möglichkeit zu seinem Bes ten. Zweifellos übt heilberufliches Handeln dabei eine gewisse Herr schaftsmacht aus. Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger haben Zugriff auf die Körper von Patienten. Sie dürfen ihn sogar, wo das thera peutisch notwendig und gewollt ist, verletzen. Dennoch besitzen diejenigen, die über Patienten verfugen, den Leib des anderen nicht. Sie nutzen ihn auch nicht in einem ökonomischen oder gar industriellen Sinn - weder ganz noch in Teilen. Überhaupt gehören solche Rechtskategorien wie Be sitz oder Eigentum am Körper und an Körpersubstanzen in den Alltag von Behandlung und Pflege nicht hinein. Der menschliche Körper oder Leib ist kein Gegenstand, auf den wir privatrechtliche Kategorien anzuwenden gewohnt sind, etwa: der Herstellung, des Kaufs, Tauschs, der Be- und Verarbeitung als Rohstoff. Sollte man meinen. Die Lage jedoch hat sich radikal geändert. Eine der Revolutionen des biomedizinischen Zeitalters ist die bioindustrielle Erschließung und die ökonomische Inwertsetzung des menschlichen Körpers. Im Menschen selbst - und zwar im lebendigen Menschen - stecken inzwischen produktive und also neu nutzbar zu machende biologische Substanzen. Einer der ersten auf technischem Wege eigens übertragbar gemachten Körperstoffe war das menschliche Blut. Heute gibt es nicht nur Blutkonserven, sondern eine auf den medizinischen Bereich längst nicht mehr beschränkte Ver marktung von Blutbestandteilen, und was mit dem Blut begann, gilt heute allgemein: Die Biomedizin hat den Körper als Ressource entdeckt. Und zwar den lebenden Körper des Menschen. Das Recht ist hiervon nicht unberührt geblieben, denn wirtschaftliche und technische Verwertungs formen bedürfen der Absicherung durch eine rechtliche Normalität. Eben dies hat in wenigen Jahrzehnten zu einer rechtlichen Neubewertung des Menschenkörpers geführt. Der Menschen-
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Stoff wird verrechtlicht - als Stoff unter Stoffen. Im Kapitel über das Ei gentum am Körper war schon die Rede davon, wie neu diese Entwicklung für unsere Rechtskultur ist: Selbst in der Sklaverei >besaß< der Herr dejure nur das ganze Individuum. Er besaß den ungeteilten, der Arbeit dienenden Körper des Sklaven, nicht aber sein Fleisch. Eben dieses Fleisch wird heute verwertet: Organe, Gewebe, Zellen, Zellbestandteile, Stücke des Erbguts und mehr. Fleisch ist ein altmodisches Wort. Es erinnert an eine verloren gegan gene Grenze: Das lebendige Fleisch der Menschen war füreinander tabu. Die Heilbehandlung bildete in dieser Hinsicht eine intime Ausnahme. Sie war daher von der privatrechtlich geregelten Wirklichkeit des liberalen Umgangs mit Wirtschaftsgütern klar getrennt. Eben dieses ist im Zuge des 20. Jahrhunderts vollständig anders geworden. Heute sind nicht nur die therapeutische Hilfe, die Klinik, die Heilbehandlung als privatrechtliche Rechtsgeschäfte gefasst, sondern das medizinische Feld insgesamt er scheint volkswirtschaftlich als >Produktion<. Nicht mehr durch das Umge hen mit Kranken definiert sich in der Moderne die Medizin, sondern als das Feld der Herstellung von Gesundheit, das Feld einer GesundheitsProduktion. Diese Gesundheitsproduktion wiederum folgt einem biologi schen, also einem lebenslogischen Paradigma. Letztlich dreht sich der me dizinische Alltag nur bedingt um das Wohlsein des einzelnen Patienten. Vielmehr ist es - mit Maßnahmen der Prävention, Verbesserung, Repro duktion - >Leben<, was in der Biomedizin produziert und produktiv ge macht wird. Nachdem von Bio-Ökonomien und der Geschichte des Eigentums am menschlichen Körper schon die Rede war, soll nun ein Blick auf die Medi zin geworfen werden. Wie steht es um Verfugungsspielräume und eigen tumsartige Kategorien im medizinischen Feld - also in der Klinik, in der niedergelassenen Praxis, im Labor, aber auch in den ambulanten Diensten und in der Pflege? Anhand von Beispielen soll eine Momentaufnahme versucht werden. Sie soll zeigen, wie nicht nur die Verrechtlichung der Verfügung über Körpersubstanzen voranschreitet, sondern wie ein weite rer Sachverhalt die Lage verschärft. Ich hatte die eigenartig analoge Rolle von Stoff und Information in Biotechnik und Biomedizin schon herausge stellt. Sie kehrt auf der mikfologischen Ebene in der Krankenbehandlung wieder. Es sind nicht nur verwendbare Stoffe aus dem menschlichen Kör per, über die der technisierte Medizin- und Pflegebetrieb leichthin die Kontrollmacht erlangen kann. Sondern es sind auch und vor allem ver
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wendbare Daten —und gerade die Daten gewinnen im modernen, technik gestützten biopolitischen Szenario in enormer Weise an wirtschaftlichem Wert Der Zugriff auf die biomedizinischen Daten eines Menschen spielt inzwischen oftmals eine ganz analoge Rolle wie der Zugriff auf seinen biologischen Stoff. Man könnte sagen: Stoffkörper und Datenkörper sind in der Logik des Lebendigen Zwillingsphänomene und der Stoffkörper wird in vielem durch den Datenkörper abgelöst. Wie weit das Recht aller dings der politischen Brisanz dieser Zwillingsstellung angemessen Rech nung trägt, ist noch die Frage. Wäre in Stoff und Daten der menschliche Leib gleichermaßen verletzlich, veräußerlich und >ganz< greifbar —was folgte dann daraus theoretisch und was folgte daraus für die Praxis im medizinischen Feld?
1. Wessen Stoffe? Die >Spende< und die Forschung an der Substanz Wessen Körperstoffe werden hantiert, wenn ein Arzt einem Patienten etwas entnimmt? Intuitiv wird zunächst niemand bestreiten, dass es der Blinddarm der Frau X oder die Schilddrüse des Herrn Y ist, die der Chi rurg manipuliert und im Zweifel dem kranken oder gefährdeten Körper der Frau X oder des Herrn Y entnimmt. Und noch lange nach dem zwei ten Weltkrieg erfolgt der chirurgische Eingriff, ohne dass die Rechtskate gorie des Eigentums den Klinikbetrieb irritiert: Man warf den Blinddarm oder das Schilddrüsengewebe einfach weg, ohne Frau X oder Herrn Y zu fragen. Man hätte umgekehrt aber auch nicht den Chirurgen als den po tentiellen Eigentümer betrachtet, sondern allenfalls in einem übergeordne ten Sinne den Medizinbetrieb als solchen —etwa wo zu Zwecken des wis senschaftlichen Studiums Körperstoffe aufgehoben oder fallweise archi viert wurden. >Die< Medizin durfte verfügen, ohne an Eigentumskategorien zu denken. Noch das fehlende Unrechtsbewusstsein bei der Wegnahme von Goldzahnfullungen Toter durch Klinikpersonal —wie man weiß ge schah das keineswegs nur im Dritten Reich und ist verblüffend schwer sanktionierbar1 - zeigt diesen aneignungsenthobenen Status des Leibes an: 1 Das juristische Problem ist der fehlende Schaden. Heute werden Materialkosten separat liquidiert und im Zweifel würden Krankenversicherungen Schaden geltend machen, wenn Zahngold verschwindet.
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Am lebenden Körper begründet niemand Eigentum und auch am toten Körper wird nie jemandes Eigentum verletzt, denn auch die Leiche >besitzt< man nicht wie ein Ding, und nicht einmal der Erbe des Verstorbenen wird Eigentümer des Leichnams. Der Leichnam hat vielmehr den ganz eigenen Status einer »res extra commercium«, einer nicht verkehrsfähigen Sache (vgl. Gröschner 1995). Auch der Nachlass eines Menschen, so trennt das Privattecht den Körper und die Dinge, besteht also nur aus dem Vermö gen eines Menschen, und der verstorbene Leib des Erblassers gehört zu dessen Vermögen nicht hinzu. Der menschliche Leib ist nicht eigentumsfähig - jedenfalls ist er das in der kontinentaleuropäischen Rechtstradition bis mindestens in die 1960er Jahre hinein nicht gewesen.2 Allein im Zusammenhang mit dem Suizid gab es das Argument einer logischen Trennung von Körper und Person. Auch dann ging es jedoch nur um eine sehr spezielle Verfugungsfreiheit zur Vernichtung des (eigenen) Körpers. Um die ökonomische Verwertung des eigenen oder fremden Körpers ging es nicht. Die Lage hat sich innerhalb kurzer Zeit in mehreren Feldern zugleich geändert. In dem Maße, in dem erstens die Medizin, die Praxis, die Klinik profitabel in die Forschung, in die Pharma- und die Geräteherstellung eingebunden werden - und zweitens in Biomedizin und Biotechnologie zunehmend Humansubstanzen verwendet werden, stellt sich die Frage nach Eigentums-, Verfügungs- und Verwertungsregelungen für Körper stoffe, Es sind verschiedene Neuerungen, aus denen sich rechtliche Grau zonen und im Streitfall ein Bedarf an rechtlicher Klärung ergeben.
2 Dies war das Thema des vorigen Kapitels. Dass man heute dieses Prinzip in Anlehnung an die liberalistische Willensorientierung des angelsächsischen Privatrechts gegebenen falls durchbrechen kann, indem man sich auf einen entsprechend explizit ausformulier ten »Willen« des Verstorbenen beruft, zeigt ein aktuelles Beispiel: Die »Plastination« von Leichen mit anschließender (kommerzieller) Verwendung als Schaugut. Der Unterneh mer van Hagens, Plastinator und Schausteller plastinierter Toter, beruft sich auf eine wirksame Übereignung der von ihm verwendeten Leichen aufgrund von Willenserklä rungen der Verstorbenen. Im deutschen Rechtsraum war die Sache zunächst umstritten (vgl. Tag 1998).
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1.1. Die therapeutische Weiterverwertung von Körperstoffen oder Körperteilen Ich nenne als ersten Problemkreis den der therapeutischen Weiterverwer tung von Körperstoffen oder Körperteilen im Klinikbetrieb. Dies scheint vergleichsweise unproblematisch bei einer willentlichen Hergabe von Kör perstoffen - zumal wenn die Hergabe dem Modell der humanitären Spende folgt, wie in Ländern wie dem unseren der Fall. Die Blutkonserve ist als Beispiel schon genannt worden. Nicht die bezahlte Blut-Ernte, sondern die altruistische Hergabe von Blut steht - nicht immer, aber oft - am Anfang der Produktion des Präparats. Bis heute scheint daher die Blutkonserve wie auch andere Produkte aus Humanblut nur als eine Art halb-wirtschaftliche Angelegenheit betrachtet zu werden - obwohl es sich bei der Konserve um eine ganz normale verkehrsfahige Sache handelt und der Hersteller wie der Vertreiber daran verdienen. Erst Musterprozesse über Haftungsfragen im Zusammenhang mit HlV-infizierten Blutpräparaten haben zur Klärung der Verantwortlichkeit von Blut->Banken< und Blut verarbeitenden Herstellern für die Qualität ihrer Produkte geführt. Ähnliches soll dejure für den Trans fer ganzer Organe gelten. Organe entnimmt man ebenfalls nach dem Modell der —freiwilligen oder unfreiwilligen —Spende, also unbezahlt, auch wenn dann die Organe als Güter mit bezifferbarem Wert weitervermittelt werden und bei der Implantation der Empfänger respektive seine Versi cherung für die wertvolle Substanz bezahlen. Blutmarkt und Organmarkt werden also durch die einvernehmliche Fiktion der >Gabe< regiert. Dadurch bleibt der Charakter der Verfugungsrechte des Klinikbetriebes hybrid: Gegenüber den >Spendern< besteht keine ökonomische Bindung, gegenüber den verarbeitenden Herstellern des Endprodukts sehr wohl (Kauf, Über eignung, Haftung, Regress) und gegenüber den Patienten, die etwa ein gespendetes Organ >nehmen<, nur in spezifischer Form (Behandlungsvertrag). Viele Verfahren der Verwertung von Humanstoffen haben in Deutschland diesen Weg einer Ressourcenbeschaffung aus der Spende übernommen; man denke an die Spende von Knochenmarkszellen oder die Samenspende.3 Gleichwohl ist das Modell einfacher als die Wirklichkeit
3 Sperma- und Eizellspende sind in den USA hingegen (ebenso wie die Leihmutterschaft) kommerzialisiert, daher besteht de facto weltweit und auch hierzulande neben der Nut zung einer >Spende< auch die Möglichkeit des bezahlten Imports. Ob über Importstoffe
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in ihren Abläufen. Namentlich die Lebendspende von Organen erweist sich als paradoxes Geschehen. Man stelle sich die Lage vor: Aus seinem lebendigen Leib gibt jemand eine Niere oder ein Leberstück weiter. Etliche Untersuchungen und Operationen sind nötig, Zeiten und Wege dazu. Wem gehört der kostbare Stoff in welcher Phase des Transfers? Wer haftet wem wann und wofür? Das Modell der Spende ist in vielem deutungsoffen. Es überspannt eine Grauzone, die tatsächlich wohl schwer in einer anderen Rechtsform ein heitlich zu fassen wäre. Jemand >opfert< jemandem ein Stück von sich. Er lässt sich vorsätzlich verstümmeln - im Zeichen der Medizin. So offen kundig ein solcher Vorgang nicht als Weitergabe einer Sache zwischen zwei durch Vertrag sich verpflichtenden Individuen verrechtlicht werden kann, so absurd sind die Fiktionen, die nötig sind, damit dieses neuartige Ge schehen in das Schema einer medizinischen Heilmaßnahme hinein gepresst werden kann. Ein Spender wird nicht geheilt, sondern wird —je nachdem, was er hergibt —gefährdet oder aber dauerhaft geschädigt. Rechtlich gesehen muss im Dreieck der Spende bis zum Schluss bei al len Beteiligten Freiwilligkeit herrschen. Bis zum Schluss werden daher, so unwahrscheinlich dies in der Praxis sein mag, auf allen drei Seiten - Geber, Nehmer, Arzt - nicht wirtschaftliche, sondern gemeinnützige Motive un terstellt. Wie beim Organtransfer generell4 soll so inzwischen auch für die heikle Lebendspende das bestehende Monopol der öffentlichen Gesund heitsversorgung gewahrt werden. Der Form nach handelt es sich auch bei der Lebendspende nur um eine Heilmaßnahme, an der sich ein zusätzlicher Freiwilliger beteiligt. Freilich ist bekannt, dass wohlhabende Organempfanger aus armen Ländern wie etwa Moldawien große Mengen von vor geblich altruistisch motivierten und vorgeblich mit dem potentiellen Emp fänger verwandten Freiwilligen zwecks Lebendspende rekrutieren können (vgl. Finkei 2001; Berndt 2002). Die angeblich nicht marktwirtschaftliche Regelungslage kann also in der Praxis einen regelrechten Organ-Importmarkt unterstützen. Theoretisch jedoch wird gerade bei der folgenschwe ren Hergabe von ganzen Organen im Modell Spende verblieben: Die hierzulande bereits Streitfälle (zur Produkthaftung oder zur Freiwilligkeit der Weggabe) entstanden und gerichdich entschieden sind, ist mir nicht bekannt. 4 In der Praxis werden die Belange des Organhandels durch Distributions-Agenturen vertreten und abgewickelt: internationale Verteilzentren wie die Firma Eurotransplant in Belgien sowie durch Interessenverbände (in Deutschland die »Deutsche Stiftung Organ spende«), deren PR-Arbeit in Sachen Spendebereitschaft übrigens durch die (ggf. kassen finanzierten) Kosten für eine O r g a n tr a n s p la n ta tio n m itfinanziert wird.
3 W essen Sto ffe , wessen P ro ben , wessen D a t e n ?
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Rechtslage fordert neben der Freiwilligkeit des Transfers ausdrücklich »persönliche Verbundenheit, die den lebenden Spender auch mögliche Folgen und Spätfolgen der Operation in Kauf nehmen läßt« (Seidenath 1998, S. 255 zu § 8 Abs. 1 TPG). Jede Frage nach >Eigentum<, Besitz oder Verfugungsrechten über die wertvolle Substanz und damit dem Status des fraglichen Körperstücks als >Sache< des einen oder anderen wird auf diese Weise vermieden. Allerdings bleibt die Sache mehrdeutig. Denn zerstörte ein Dritter das bereits explantierte Organ, so wäre er wohl - ja wem: dem Empfänger oder seiner Versicherung? dem Arzt? —unter anderem für den ökonomischen Wert der untergegangenen Sache schadensersatzpflichtig. Das gespendete Stück stellt also fü r Dritte gleich nach seiner Weggabe ein wertvolles, vielleicht auch gewinnträchtiges Gut dar, nur für den >Spender< gilt es nach wie v o r als nicht Verkehrs fähiger Teil seines Leibes.
1.2. Nutzung von in der Klinik anfallenden Körperstoffen zu Forschungszwecken Ich nenne als zweiten Fall den der Nutzung von in der Klinik anfallenden Körperstoffen zu Forschungszwecken. Diese Situation unterscheidet sich unter anderem deshalb von der willentlichen Weitergabe als >Spende<, weil hier der Zugriff oft ohne Wissen der Betroffenen erfolgt. Die biomedizini sche Forschung ist gewissermaßen spezialisiert auf >Abfalle<, die in Kliniken und auch in Privatpraxen anfallen: Gewebereste, Körperflüssigkeiten, Häute, abgetriebene Fötalzellen, Plazenten und anderes mehr. Nur der Experte weiß solche Stoffe im Rahmen eines dazu passenden Forschungs designs zu nutzen, nur er weiß um den >Wert< dieses Abfalls für ein be stimmtes Forschungsvorhaben. Dieser Wert kann ideell sein. Nur der Ex perte weiß freilich, ob nicht auch finanzieller Gewinn mit der Nutzung solcher für den wissenschaftlichen Laien gänzlich unverwertbar scheinen den Stoffe verbunden ist. Man könnte sich auf den alltagsnahen Standpunkt stellen, dass für alles, was an Forschung unter Verwendung von jemandes Köiperstoffen gesche hen soll, der Betroffene zuvor gefragt werden muss. Schließlich rechnet man als Patient nicht automatisch damit, dass, was man im Krankenhaus zurücklässt, in den Händen von Forschern landen könnte und wofür auch immer Verwendung findet. In Deutschland ist die Freiheit der Forschung grundgesetzlich geschützt. Vor diesem Hintergrund stellt die überwiegende
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Mehrheit der Juristen fest, dass erstens die im Krankenhaus zurückgelasse nen Körperstoffe nicht mehr durch mein Recht an meinem Körper ge schützt sind, weil ein »funktionaler Bezug« zu meinem Körper fehlt5; und dass zweitens das Krankenhaus das Eigentum an der vom Patienten dort zurückgelassenen Substanz erlangt —es sei denn, als Patient erkläre ich von mir aus, dass ich dieses nicht will, sondern das fragliche Körperstück mit nach Hause nehmen möchte (vgl. Nitz/Dierks 2002, S. 400 f.). Auch ein Einwilligungserfordernis aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht —eine weitere Rechtsgröße, die den Patienten eventuell schützen könnte —ist nach herrschender Meinung lediglich dann gegeben, wenn das fragliche Forschungsvorhaben eine individuelle Wiedererkennung der betroffenen Person möglich werden ließe. Einwilligungserforderlich wäre auch in die sem Fall lediglich die Entnahme des Stoffes, nicht die Verwendung. Gene rell sollen Forscher auch bei Nichtwissen der betroffenen Patienten von deren stillschweigender Einwilligung zur Verwendung ihrer Körpersub stanzen ausgehen dürfen —und unabhängig vom wirtschaftlichen Wert der fraglichen Stoffe. Heutzutage sei es normal, dass Ärzte auch außerhalb des Hochschulbereiches an der Fortentwicklung der Wissenschaft mitwirkten. Lediglich »ausnahmsweise« müssen Forscher eine Einwilligung einholen. »Dies ist im Normalfall nur dann der Fall, wenn die Forschung an und mit den Körpersubstanzen einen Bezug zur Individualität des ehemaligen Trä gers herstellt.« (Nitz/Dierks 2002, S. 403) Im Klartext heißt dies, dass im medizinischen Feld die Forschung — und auch die ökonomisch gewinnträchtige Forschung —ein allgemeines Vorrecht zur Nutzung der dort anfallenden Stoffe hat. Sie erwirbt, mehr noch, auf diese sofort eine Eigentumsoption, sofern nicht der Betroffene gleichsam auf Verdacht, denn gefragt wird er ja nicht, die Herausgabe 5 Diese merkwürdige Bestimmung entstammt einem BGH-Urteil vom 9.11.1993 (vgl. Medt^inrecht 12 (1994), S. 113 ff.) und bezieht sich auf den Sonderfall Sperma. Nach An sicht des Gerichts ist Sperma auch nach der >Spende< als Teil des Körpers (nicht als Ei gentum oder als Teil der Persönlichkeit) des >Spenders< zu betrachten. - Im Umkehr schluss müsste man sagen: Nicht die physische Abtrennung vom Körper, aber der feh lende »funktionale Bezug« macht die Grenze des zu schützenden Rechts am eigenen Körper aus. - Als eine zweite Schutzsphäre tritt neben das Recht am Körper das Per sönlichkeitsrecht hinzu. Auch hier zählt nicht die physische Abtrennung, sondern die räumlich-zeitliche Entfernung vom Betroffenen. Das Persönlichkeitsrecht erlischt sozu sagen allmählich (vgl. Schünemann 1985). Dogmatisch gesehen ist die Sache aber noch komplizierter: Aus Sicht der Judikatur kann ein entstehendes Eigentumsrecht eines Dritten (etwa der Klinik) dieses erlöschende Recht des ehemaligen Trägers >überlagem< (vgl. BGH-Urteil vom 9.11.1993).
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seiner eigenen Stoffe von der Klinik verlangt (und sich um deren ord nungsgemäße Entsorgung dann freilich selbst kümmert) oder zumindest ausdrücklich und von sich aus dem Eigentumsübergang an die Klinik widerspricht. Einzige Ausnahme bliebe diejenige Forschung, bei der in den verwen deten Körperstoffen die Gefahr der Individualisierung steckt. Hier trifft dann den Forscher die Verpflichtung, eine Einwilligung einzuholen —oder durch das Klinik- oder Pflegepersonal, das die Stoffe an sich genommen hat, die nötige Einwilligung einholen zu lassen. Für den Fall, dass die For schung die lästige Frage erst gar nicht aufwirft, hat allerdings das Opfer die Beweislast. Praktisch wird das schwierig. Als Betroffener muss ich von der Verwendung der eigenen Körpersubstanzen ja erst einmal erfahren, um überhaupt auf die Idee zu kommen, Erkundigungen einzuholen über eine >Individualisierungsgefahr< von Forschungsergebnissen, in denen ein Stück meines stofflichen Soseins schon verschwunden ist.
2. Wessen Proben? —Tests & Co. Die Probe ist eine Art Mittelding zwischen Stoff und Information. Eine kleine Menge Blut, Urin oder eine andere Körperflüssigkeit, ein Abstrich, ein Gewebestückchen wird ausschließlich zum Zwecke der Messung ent nommen. Die Probe dient allein der Gewinnung eines Untersuchungs ergebnisses. Das verschiebt die Frage nach dem Besitzrecht. Nach den Rechten am Stoff selbst separat zu fragen, hat wenig Sinn: Die Nutzung der Probe ist mit der Nutzung der Messergebnisse identisch. Die Ent nahme der Probe wird folglich so legal sein wie die Messung es ist, und das Verfugungsrecht über den Stoff fallt mit der Verfügung über die Mess daten zusammen. Mit anderen Worten: Uber den Umgang mit Proben entscheidet im Medizinbetrieb bereits genuin das Datenschutzrecht — wenngleich die Entnahme der Probe, wenn sie mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist, wie jede medizinische Körperverletzung außerdem auch der Einwilli gung des Betroffenen bedarf. Die Probe ist ein Zwitter. Wo der pure Stoff im Normalfall zwar dem Arzt oder der Klinik zufiele, gilt doch für das, was eigentlich zählt, die individuelle Messung nämlich, der >Schutz< und damit ein Recht des Patienten: Der Arzt sowie das Pflegepersonal >besitzen< die
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Daten und können —nein: müssen diese nach den Regeln ihrer Kunst ver wenden (wie übrigens auch die Probe und das Ergebnis an andere Medizi ner weitergeben, wenn es erforderlich ist). Überall dort, wo das Arztgeheimnis herrscht und gewahrt wird, bleibt die Probe eine Art inter nes Gemeingut. Echte Besitz- oder Verfugungsfragen stellen sich nicht. Alles, was darüber hinausgeht, kennen wir unter dem allgemeinen Süchwort lest. Tests sind Standardprüfungen - in den uns interessierenden Fällen: zur Untersuchung und Auswertung von Körpersubstanz. Brisant werden Tests und Testergebnisse überall dort, wo sie nicht einer individu ellen Diagnostik und Krankenbehandlung dienen, sondern wo sie »Ge sundheit« ausweisen sollen —und dies über die Grenzen des klinischen Feldes hinaus. Gesundheitstests dienen dazu, Unterschiede zu machen. Sei es gegenüber Angehörigen, Arbeitgebern, Versicherern, Ausbildern, Ange stellten oder Kunden. Wo man also in einem wie immer ganz oder teilöffentlichen Sinne testet - auf Schwangerschaft, Vaterschaft, Krankheiten, Infektionen, erbliche Merkmale und >Risikofaktoren< ganz allgemein —, werden durch das medizinische Verfahren soziale Unterschiede untermau ert. Ein Status wird objektiviert. Vor- und Nachteile werden festgeschrie ben oder neu verteilt. Der umfassendste Fall des Tests ist das so genannte Screening: Man zieht flächendeckend die Proben einer ganzen, nicht anonymisierten Population. Nicht erst wenn ein solcher Test teilnahmepflich tig ist oder gar seine Ergebnisse veröffentlicht werden, stellt sich die Frage danach, wessen Proben die Klinik hier eigentlich entnimmt. Von der Informationspflicht über Testrisiken bis zu den Verweige rungsrechten der Betroffenen: In der Frage nach den Verfügungsrechten bei und nach der Durchführung von medizinischen Tests wird in Deutschland kleinteilig unterschieden. Richtlinien und einschlägige Fall rechtsprechung haben die medizinische Praxis fallnah geordnet. Was den körperstofflichen Eingriff, also die Entnahme der Probe anbelangt, ist die so genannte »informierte Einwilligung« des Betroffenen das Kernstück, das der Klinik alle Rechte gibt: Wozu man informiert sein Einverständnis er klärt oder mutmaßlich erklärt hätte, das hat man erlaubt.6 Bis zur Stunde haben nur öffendiche oder quasi-öffentliche (und im Prinzip schweige 6 Die »informierte Einwilligung« beteiligt Betroffene in der Form eines Vetos: Man wird, nach Informationen über das medizinisch Wesentliche, vor der Durchführung einer Maßnahme um eine Zustimmungsentscheidung gebeten. Diese Form der Beteiligung hat aber Haken und Ösen. Als juridisches Instrument kommt sie im Alltag einseitig den In stitutionen zugute (vgl. Gehring 2002).
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pflichtige) Institutionen ein solches Recht, auf der schlichten Basis einer Einwilligung standardmäßig medizinische Proben zu nehmen und zu ver werten. Es sind dies die ärzdiche Praxis, niedergelassen oder in der Klinik, die Gesundheitsämter, die Polizei- und Ordnungsbehörden, der Arbeits schutz sowie die öffendiche und also gemeinnützige Forschung. In diesem öffentlichen Bereich sind im Gefahrenfall auch Zwangstests erlaubt. Man kennt das von der polizeilichen Alkoholprobe. Sie setzt aber —wie de jure jede polizeiliche Ermitdung - einen konkreten Verdacht voraus. Im Unter schied dazu werden mit neuen Analysemethoden inzwischen ganze >verdächtige< Menschengruppen getestet, etwa ehemalige Sexualstraftäter, die ihre Haftstrafe abgebüßt haben und seither unauffällig leben. So genannte Dritte - sprich: wirtschaftlich interessierte Privatunter nehmen, etwa bei Einstellungsgesprächen oder vor dem Abschluss einer Versicherung - dürfen bislang weder medizinische Tests noch medizini sche Befunde vom Arbeitnehmer oder vom Kunden direkt verlangen. Arbeitgeber erhalten medizinische Testergebnisse also nur auf Freiwilligen Basis vom Betroffenen selbst. Bei Versicherern dürfen zwar bereits be kannte Testergebnisse nicht verschwiegen werden, aber zu einem neuen Test ist niemand verpflichtet. Der einzelne kann die >eigene Probe< umge hen, sich auf sein »Recht auf Nichtwissen« berufen und eine für ihn nega tive Verwertung heimlicher Tests verhindern (vgl. Soost 2002). Die Gleichbehandlung wird freilich trotzdem verschwinden, in der Arbeitswelt wie bei den Versicherungen. Denn niemand kann ein Privatunternehmen daran hindern, das freiwillig vorgelegte Testergebnis oder den freiwilligen individuellen Test durch günstigere Vertragsbedingungen zu honorieren. Mehr noch: Im Prinzip würde man möglicherweise sogar den öffentlichen Leistungsträger daran nicht hindern können. Diskussionen über die >Honorierung< von gesundheitsbewusstem Verhalten etwa sind auch auf Seiten nichtprivater Versicherer schon im Gang. Ungleichbehandlungen auf der Basis von Gentests lehnt die Politik zwar derzeit ab und auch das Verfas sungsrecht stünde dagegen. Gleichwohl werden etwa wenn es um Ausbil dungsplätze geht oder bei der Frage der Verbeamtung Unterschiede ge macht. Vor allem dort, wo soziale Dienste im öffentlichen Interesse zu nehmend durch private Unternehmungen und auf der Basis privatwirt schaftlicher Verträge organisiert und geleistet werden, bahnt sich eine in formationspraktische Gemengelage an: Was dürfen solche Firmen wissen und wie gehen sie mit ihren Daten um?
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Medizinisches Wissen sickert leicht in den nichtmedizinischen Alltag hinein - namentlich dort, wo es als sozialstaatliche Kalkulationsgrundlage gebraucht wird. Nicht nur Universitäten betreiben Forschung, sondern auch Gesundheitspolitik und Gesundheitsadministration sowie Versiche rungen lassen forschen und veranlassen Screenings, Tests und Untersu chungen zur Gesundheitskosten-Planung, aber auch zur Gesundheitskosten-Steuerung und zur gesundheitspädagogischen Intervention. Für das medizinische Feld selbst droht hier eine informationelle Grauzone. Tests und Testergebnisse sind in der Klinik und in der Pflege, sobald sie syste matisch archiviert werden, zunehmend weniger in einem klar abgegrenzten Raum aufgehoben. Der Stil der privatisierten Trägerschaft für Einrichtun gen im Gesundheitswesen leistet dieser Entwicklung ebenso Vorschub wie die rapide wachsenden Datenverarbeitungskapazitäten —und eine Gesund heitspolitik, die auf erhöhte »Datentransparenz« für das Gesundheitswesen dringt.7 Namentlich in der Pflege, der stationären wie der ambulanten, gehen abstrakt zu trennende medizinische, pflegerische und auch Sozialleistungs-Fragen praktisch durcheinander. Handgriffe und auch diagnosti sche Informationen überspringen nur zu leicht die Grenzen, sie sind hier wie dort kosten- oder einstufungsrelevant (etwa für die Pflegestufe). In geschlossenen Institutionen laufen die Fäden im Zweifel zu einem medizinischen Dienst, der die Einwilligung als Routinefrage behandelt.8 Leben Patienten zeitweilig oder ganz zuhause, ruht die Last des richtigen Umgangs mit Tests und Testergebnissen ganz bei ihnen. Praktisch kann diese Form der Freiheit eine schwere Bürde sein. Diejenigen, die medizini sche Proben hantieren und um Testergebnisse wissen, sollten deshalb ganz bewusst die Grenze ihrer therapeutischen Aufgabenstellung zugunsten ihrer Patienten als Verteidigungsschranke nutzen. Vergleichsweise wirksam können Medizin und die Pflege sich den >sonstigen< Interessen entgegen stellen, die auf ihren Patienten lasten und dem Prinzip der >freiwilligen<
7 Ein 2001 projektiertes bundesweites Datentransparenzgesetz für das Gesundheitswesen ist gescheitert. Aktuell werden jera so genannte »Disease Management-Programme« (DMP) vorangetrieben, die darauf hinauslaufen, dass bestimmte Patientengruppen, etwa chronisch Kranke, ihre Untersuchungsergebnisse per Chipkarte nicht nur der Kasse, sondern auch den Sozialversicherem zugänglich machen sollen. Die Evaluation der Krankendaten erfolge aber »pseudonymisiert«, heißt es dazu von Seiten der Versicherer (vgl. Krüger-Brand 2002, S. 267). 8 Wie Beispiele zeigen, so der - medizinische Tests zwecks Grundlagenforschung! betref fende - »Eisinger Fall« (vgl. Expertengruppe 2002).
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Tests und der daraus folgenden ökonomischen Ungleichbehandlung ent gegenarbeiten.
3. Wessen Daten? - Von der Gendiagnose zur Biobank Der Sache nach ist der Schritt von der Probe zum >bloßen< —stofflosen — Datum nicht groß. Der Witz der Probe ist ja das aus ihr gewonnene Unter suchungsergebnis, und die Diagnose oder auch die Prognose ist ein Da tenphänomen. Dennoch hält das Vorstellungsvermögen an dem Unter schied zwischen einer Untersuchung, einem Test und deren datenförmigen 'Ergebnissen fest. Nur letzteres, das Ergebnis, eine bloße Information, findet in die Krankenunterlagen oder in Statistiken Eingang, nur letzteres kann dem Betroffenen oder Dritten mitgeteilt werden oder nicht. In Form von Untersuchungsergebnissen, Diagnosen, Prognosen ist das medizinische Feld immer schon voller Daten gewesen, die zirkulieren und die mehr oder weniger lang aufbewahrt werden. Behandlungs-Daten ste hen unter dem Schutz des Arztgeheimnisses, Patienten dürfen also davon ausgehen, dass das Wissen ihres Arztes nicht den Raum seiner Gewinnung verlässt. Umgekehrt haben Patienten das Recht, ihre Krankendaten zu kennen. Arzt und Krankenhaus sind zur Gewährung von Einsicht in alle Krankenunterlagen verpflichtet (BVerfG vom 16.9.1998, NJW 1999, S. 1777). Der seit 1983 auf ein neues Grundrecht, die »informationeile Selbstbestimmung«, aufgebaute generelle Schutz persönlicher Daten kommt zum Arztgeheimnis hinzu. Diese Rechtslage klingt beruhigend. Jedoch handelt es sich bei dem vor gut zwanzig Jahren eingeführten Grundrecht um einen Versuch, auf eine Entwicklung zu reagieren, an de ren Geschwindigkeit und Macht auch solche neuen Schutzbestimmungen zu scheitern drohen. Im Zeitalter der gigantischen Datenspeicher und effizienter Such- und Rasterverfahren sind weder Datenflüsse noch Da tentransfers noch (gegebenenfalls) Datenlöschungen wirklich kontrollier bar. Zugleich werden zunehmend gerade auch medizinische Daten wirt schaftlich wertvoll —und Daten, die jemandem >gehören<, können, sofern nicht nachweislich die Grenzen des Datenschutzes verletzt sind, auf dem freien Markt gehandelt werden. Zum Datenhandel allgemein kommt die so genannte »Genetifizierung«, gemeint ist ein Paradigmenwechsel der Medizin: In wachsendem Maße
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werden genetische Befunde, vermutete genetische Rahmenbedingungen oder Ursachen in der alltäglichen Krankenbehandlung wichtig. Auch die Genetik ist im Kern keine >stofflich< arbeitende, sondern eine Daten-Medizin. Das Genom ist nur durch digitale Technologien zugänglich. In den letzten Jahren hat die moderne Genomforschung für die medi zinische Anwendung ganz neue Möglichkeiten der Gendiagnostik entwi ckelt. Dies hat die Lage in Sachen Daten-Nutzung dramatisch verändert. Einige wenige Zellen genügen inzwischen, um erstens das individuelle Profil einer Person zu erkennen und zweitens alle überhaupt nur bekann ten genetischen Anomalien im Erbgut dieser Person durch digitalen Ab gleich herauszufiltem. Man könnte diese Art der >Diagnose< eine Probe nennen. Im Grunde jedoch ist mit der neuen Technologie des Gentests der ohnehin kleine Unterschied zwischen Probe und Ergebnis endgültig ver schwunden. Einer regelrechten >Probe<—als Akt - bedarf es ja kaum mehr. Mindestens die Identifizierung eines Menschen ist schon mittels eines irgendwo verlorenen Haares oder eines hinterlassenen Speichelrestes mög lich. Namentlich die Strafverfolgung stellte sich auf diesen Sachverhalt blitzartig ein und verfolgt heute Täter auf der Basis einer DNA-Kartei. Ein im Jahr 1997 rasch geschneidertes Gesetz regelt die Identifizierung von Verdächtigen durch Abgleich mit dieser Datei, den so genannten geneti schen Fingerabdruck.9 Aber auch gentechnische Diagnostik in Sachen Erbanlagen bedarf scheinbar keiner im engeren Sinne medizinischer Probe oder Untersu chung. Eine rasch steigende Zahl von Gentests wird nämlich dem Ver braucher via Apotheke oder Internet (vgl. Uhlemann 1999) direkt zum Kauf und zur privaten Nutzung angeboten. Solche >Tests< dienen zur schlichten Gewinnung von Information —oder sagen wir vorsichtiger: von Daten, denn in ihrer Aussagekraft sind Gentests (die zum Beispiel Brustkrebs-Risikozahlen anzeigen) keineswegs klar. Aber sie sind frei verfügbar und können als Hinweis auf vorhandene oder fehlende statistische >Risiken< nach Belieben verwendet werden. Ein biomedizinisches Datenprofil, das man per Chipkarte wie eine >freiwillige< zweite Haut als moderner Markt teilnehmer bei sich trägt, rückt in den Bereich des Vorstellbaren. Tech nisch, aber auch rechtlich.
9 Vgl. Strafverfahrensänderungsgesetz - DNA-Analyse (»Genetischer Fingerabdruck«) vom 17.3.1997. Zur kritischen Analyse des Regelwerks Busch 2002; zu Anwendungs problemen Graalmann-Scheerer 2000.
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Nun sind einzelne Datenprofile oder auch Datenmassen aus Datener hebungen vom Typ des Screenings, also der möglichst vollständigen Durch leuchtung einer Population nach bestimmten Faktoren, keineswegs schon das Optimum des möglichen Wissens für die biomedizinische Forschung. Wirklich unbegrenzt könnten Zusammenhänge zwischen genetischen und anderen biomedizinischen Faktoren sowie überhaupt der Lebensweise, den Krankheiten, dem Verhalten etc. untersucht werden, wenn man eine mög lichst weitreichende, möglichst flächendeckende und möglichst unspezifi sche Sammlung von Daten zur Verfügung hat. Dergleichen zur offenen Suche geeignete biomedizinische Datensammlungen fasst man heute unter den Namen »Biobank«. So genannte Biobanken oder besser: Bio-Datenbanken10, können für konkrete Forschungsvorhaben angelegt werden. Der Sache nach handelt es sich dann um zwar umfangreiche, aber doch ihrem Typ nach bekannte, nämlich ihrer Anlage nach zweckgebunden begrenzte Datensammlungen.11 Eine Datensammlung qualitativ neuen Typs stellt hingegen eine derart allgemeine Bio-Forschungsdatenbank dar, wie sie erstmals im Jahre 1997 durch die Firma deCode vorgeschlagen und nach heftigen Diskussionen 1998 spektakulär durch die isländische Regierung beschlossen wurde. Die Gesamtbevölkerung Islands soll mit ihren Gesundheitsdaten sowie zusätz lich lebensgeschichtlichen Informationen in diesem gigantischen Datenerhebungsprojekt erfasst werden.12 Ein noch umfangreicheres Erfassungs projekt wurde für die Bevölkerung von Estland in Angriff genommen und für England ist bei der Firma Wellcome eine Forschungs-Biobank im Auf bau. Im Falle solcher unspezifischer Biobanken schließt sich der Kreis und die drei Momente Stoff, Probe, Datensatz fallen zusammen. Man lässt Körperstoffe den Besitzet wechseln, man gewinnt aus Stoffproben Daten 10 Von Spifos Simitis, dem damaligen Vorsitzenden des im November 2002 mit dem Thema befassten Nationalen Ethikrates der deutschen Bundesregierung, stammt der Vorschlag, aus begriffspolitischen Gründen lieber von »Biotheken« zu sprechen. 11 Hier unterscheidet für Deutschland zusammenfassend Wellbrock 2003 drei Pfade der Arbeit mit (1) anonymisierten (dann, jedenfalls für die Forschung, frei verwendbaren) Daten, (2) bei Einwilligung der Betroffenen personenbezogenen Daten, (3) aufgrund Gesetzes ohne Einwilligung erhobenen personenbezogen Daten. 12 Zum am 17.12.1998 verabschiedeten Act on a Health Sector Database no. 139/198 vgl. die Internetseiten des isländischen Gesundheitsministeriums: (Stand: September 2005) http://eng.heilbrigdisraduneyti.is/laws-and-regulations/nr/659. Das isländische Modell ist Gegenstand einer breiten internationalen Diskussion. Einen Kurzüberblick aus deut scher datenschutzrechtlicher Perspektive gibt Sokol 2002.
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und reicht diese weiter, man kann aber auch den Stoff selbst als einen Datenspeicher betrachten —und gleichsam als potentiellen Informations träger verkaufen und archivieren. In Biobanken wird konsequenterweise neben anderen Informationen (etwa Sozialdaten) auch das Körpermaterial selbst elngelagert —aber eben nicht bloß in der Eigenschaft, ein Stück leiblicher Stoff zu sein, sondern in der Eigenschaft, das vielfältigste und virtuell beste »Datum« biomedizinischer Art zu bieten. Der Körperstoff stelle sozusagen den maximalen Datensatz eines Menschen dar. Man muss ihn lediglich zu diesem Zwecke aufbewahren und die richtigen Erschlie ßungstechniken beherrschen. Rein technisch gesehen ist dabei schon heute die anonyme Biobank eine Fiktion. Denn der Stoff, in der Genomanalyse als Datensatz verwendet, ist zu detailreich. Er ist nicht mehr anonymisierbar. In der Genomanalyse sind Blut oder Gewebeproben als solche bereits ein »persönliches Datum« und sie werden theoretisch immer identifizierbar sein. Ob es ausreicht, dass der Gesetzgeber in dieser Lage auf das Krite rium der »faktischen Anonymisierung« umstellt —ist der Personenbezug nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand zu rekonstruieren, dann gelten Daten als anonymisiert (vgl. § 3 Abs. 6 BDSG) —,wird wohl eine politische Frage bleiben. Für Deutschland fordern Datenschützer jedenfalls neben der generellen Einwilligung Betroffener bei der Datenerhebung die jeweils (neue) konkrete Einwilligung bezogen auf die jeweiligen (neuen) Nutzungen solcher Biobanken. Sie erneuern außerdem ihre Forderung nach Einführung eines so genannten »Forschungsgeheimnisses«, das vor privater Verwendung schützt (vgl. Wellbrock 2003, S. 82). Nicht nur in der Zustimmungsfrage und datenschutzrechtlich betrach tet wird durch Biobank-Projekte Neuland betreten13 —unabhängig davon, wie eng man die Nutzungsbestimmungen prospektiv fasst. Biobanken verändern auch einfach durch ihre Existenz die, man könnte sagen: daten leibliche Realität der Gesellschaft. Praktisch hat zum einen die Technik der Genomanalyse die Perspektive einer vollständigen Verwahrung zumindest der Informationen über die genetischen Dispositionen eines Körpers er öffnet. »Ein Datensatz über das gesamte Genom liegt vor, wenn Körper substanzen so entnommen und gelagert werden, dass eine vollständige 13 In Island wurde die Schaffung der Biodatenbank —das heißt die strittige Übereignung der Bevölkerungsdaten —nach öffentlicher Diskussion per Gesetz beschlossen. Die »Zustimmung« 2ur Datensammlung erfolgte also durch einfachen Parlamentsentscheid. Die Mehrheit war knapp, ein starker Teil der Wahlbürger wurde also überstimmt und ist jetzt gegen seinen Willen betroffen.
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Genomanalyse möglich ist. Daher stellt die vollständige genetische Infor mation über einen Menschen eine Datei dar«, heißt es lakonisch in den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht zu geneti schen Untersuchungen im klinischen Bereich (DGMR 2002, S. 670). Und für Großprojekte wie die umstrittenen Datenbanken in Island oder Estland kommen zu dieser genom-analytischen Vollständigkeit noch Lebensgeschich ten, Angaben zum Lebensstil, zu Umwelteinflüssen und mehr hinzu. Alle Daten sind mit allen korrelierbar. Auf diesem Wege sind nicht nur bereits bekannte Sozialzusammenhänge prüfbar, sondern es lassen sich ganz neue Zusammenhänge herstellen, sagen wir zwischen Feminismus und Diabetes oder zwischen Krebsrate und Musikalität. Diese Items sind bewusst absurd gewählt, auf >freie< Fahndungsmöglichkeiten eines solchen Typs kommt es der Grundlagenforschung aber an: Eine Art Datenspiel soll den stofflichen und den sozialen, >habituellen< Leib der Bevölkerung verknüpfen - ganz oder in ausgewählten Teilgruppen oder auch individuell. Die letztere Mög lichkeit wäre in Deutschland im Normalfall und nach geltendem Recht zustimmungspflichtig. Ausnahmefälle und Rechtsbrüche sind freilich je derzeit denkbar. Künftige Rechtsänderungen sowieso. Die Frage, um wessen Daten es sich bei Datensätzen handelt, die einmal in Biobanken Eingang gefunden haben, lässt sich im Grund nicht mehr beantworten, angesichts des Charakters einer solchen Datensammlung, zukunfts- und verwen dungsoffen zu sein. Man kann nur noch pragmatisch sagen: Sie gehören demjenigen, der darauf Zugriff hat.
4. Schluss Stoffspenden, Stoffproben, Tests oder Biobanken zielen auf ein KörperSchema, das in sich mehrdeutig geworden ist. Auch an der im vorigen Kapitel diskutierten, schon angesprochenen Option einer »Patentierung« von lebendigen Körperstoffen wird das Problem sinnfällig, das abschlie ßend hervorgehoben werden soll. Sind es KörperStoffe, auf die es ankommt —oder sind es YLövper.daten? Zwar betrifft die Patentiemngsfrage weniger Praktiken des Umgangs mit Daten als vielmehr das Geld, das man aus Stoffen oder Daten (bzw. Verfahren der Stoff- oder Datenverarbeitung) ziehen kann, aber es zeigt sich die gleiche gewissermaßen entfliehende Ontologie. Medizin heute fußt auf einer doppelten, einer mehrfach chan-
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gierenden Biologie: einer Biologie der Daten und einer Biologie der Stoffe. Unter dem Druck der Zugriffstechniken, zu denen auch im medizinischen Feld zunehmend die Daten verarbeitenden Techniken gehören, ist neben den Stoffkörper der mindestens ebenso mächtige Datenkörper getreten. Im Gegensatz zum stofflichen Leib können die Grenzen des Datenleibs sich in Raum und Zeit aufheben und für den Betroffenen unspürbar ver fließen. Die zwei Biologien sind also nicht deckungsgleich. Denn zwei Leiblichkeiten gleiten ineinander, von denen die eine —der immer wichti gere Datenkörper —mit dem Quasi-Leib der Datenmasse der ganzen Po pulation verschwimmt. Praktisch ist unklar, welche von beiden Leiblich keiten eigentlich unsere Normalität dominiert. Mein Körper in seinen stofflich-sinnlichen Grenzen - oder die Datensubstanz, aus der er zugleich bestehen soll, die aber nur als eine Teilmenge des umfassenden Datenpools der Population und am Ende der ganzen Gattung zu begreifen ist? Diese Zweideutigkeit der beiden Biologien, die dabei —und das ist po litisch brisant —eben doch in einem Individuum >stecken<, betrifft auch die harte Realität von Besitzrechten und Verfügungsspielräumen in der Klinik. Früher hatte man als Patient gleichsam seinen Körper bei sich. Die Macht der Akten und der Unterlagen war zwar vorhanden. Es gab auch für das Verfügen in der Medizin eine Definitionsmacht und eine Hierarchie der Zuständigkeiten. Dennoch blieb dieser Typ des Umgangs mit Daten eine Form der Beschreibungsarbeit, die an einem Körper geleistet wurde, und die nicht auf eine Lektüre des Körpers zulief. Der Umgang mit der Sub stanz, die das Individuum >ist<, blieb auf diese Weise begrenzt auf ein ver gleichsweise grobes Wissen. Im Zweifel musste die Medizin zugeben, dass sie zwar behandeln kann, aber als Wissenschaft nichts weiß —oder aber sie endarvte sich durch brachiale Mittel. Wo etwa in der Frage nach dem Umgang mit der so genannten »Schizophrenie< die Medizin diagnostisch im Dunkeln tappt, konnte sie früher nur auf Krankheitszeichen reagieren - oder zum Stigma greifen. Geht man von der Datensammlung aus, so ist der Zugriff von anderer Art. Um das physi sche Phänomen zu klären, wird zur Ausleuchtung des Einzelfalls der breite Datenkörper der Gesamtpopulation genutzt und gleichsam ein bio-so%ales Bild gezeichnet. Mit statistischen Mitteln entsteht so ein - auf der einen Seite individual-physisches, auf der anderen Seite aber ganz körperloses, aus Sozialdaten sich herstellendes - Profilbild des >Wahrscheinlichen< rund um das mutmaßliche Phänomen der Schizophrenie. Die Schizophrenie wird gleichsam als Lebensform rekonstruiert. Eine Normalität weit jenseits
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des erfahrbaren Erkranktseins oder auch seiner individuellen körperlichen wie sozialen Vorgeschichte nimmt dann vom anonymen Daten-Totalbild her die statistisch wahrscheinlicheren Umstände des Auftretens der Er krankung vorweg. Das gewonnene Bild kann überdies nicht nur reagierend genutzt wer den (jemand scheint Symptome einer Schizophrenie zu zeigen), sondern seine gewonnene Stoßrichtung ist prospektiv: Ein bestimmtes Profil von Bedingungen besagt, dass man bei jemandem, auch wenn noch gar nichts geschehen ist, über kurz oder lang mit einer Schizophrenie-Typik wird rechnen können. Die Perspektive einer solchen generalisierenden Medizin wechselt von der Menschenbehandlung zur Sozialmedizin und in der Kon sequenz von der Heilung der manifesten Krankheit 2ur Prävention einer lediglich möglichen Erkrankung. Wie können, so lautet dann die Frage, idealerweise Bedingungen so geändert werden, dass es zu dieser Krankheit —zu diesen Krankheits-Umständen oder auch zu diesem Kranken —gar nicht mehr kommt? Wenn Stoffkörper und Datenkörper auf diese merkwürdige Weise Zusam menwirken, wenn das Objekt der Medizin nur zum einen Teil das Indivi duum ist und zum anderen Teil ein virtuelles Substrat - was folgt daraus für die praktische Situation im medizinischen Feld und in der Pflege? Wer der Mehrdeutigkeit und der Macht des Daten-Körpers misstraut, ist jeden falls gut beraten, seine Aufmerksamkeit im Alltag zu schärfen. Der »recht mäßige« Umgang mit Patienten- und Behandlungs-Daten reicht nicht aus. In seinen Daten ist der menschliche Leib nur scheinbar weniger verletzlich als in seiner physischen Integrität.
Kapitel 4 Woher kommt die Stammzelle? Fünf V or fragen zu einer phantastischen Substanz »Wer wird abwimmern, was er abtragen kann?« Georg Christoph Lichtenberg Wovon sprechen Ethiker und Ethikerinnen, die über die so genannte Stammzellforschung streiten? Bevor man Zugänge zu etwas sucht, das als Überschrift und Projekt zwar existiert und auch bereits weltweit zu De batten geführt hat, kann es eine Frage der gedanklichen und der politischen Freiheit sein, zunächst nach dem Gegenstand zu fragen, um den es geht Wer »Stammzelle« sagt, meint eine zytologische Einheit, einen repro duktionsbiologischen Sachverhalt, eine Laborsubstanz, ein ökonomisches Gut, ein moralisch-juridisches Schutzgut und schließlich nach Ansicht vieler einen aktiven Rechtsträger und Träger der Menschenwürde. Auch für Parlamente und Kommissionen ist die Stammzelle daher ein Politikum - jedenfalls wenn es sich um die so genannte embryonale Stammzelle han delt. Was aber >sind<Stammzellen und was genau macht die Stammzellfor schung zu so einem besonderen Problem? Der öffentliche Diskurs ist ungenau. Das Wort Stammzelle fungiert wie eine Art Name, der uns »in« der Substanz auch gleich das Problem zu be nennen scheint. Die öffentliche Problemwahmehmung folgt diesem nominalistischen Muster. Es ist das Muster des 'Eigenwertes-. Stammzellforschung ist deswegen etwas Besonderes, weil sie an Stammzellen stattfindet und weil Stammzellen ihrer Substanz nach etwas Besonderes sind. Politisch hat dieses Muster Vorteile. Es ist einfach zu vermitteln und es reduziert kom plexe Problemlagen auf die Frage des Zugriffsrechts, der Nutzung und auf die Frage nach dem Wert der Substanz. Das Substanzwert-Denken hat Geschichte.1 Es ist ein fundamentalisti sches Muster, das ohne Abstraktionen und ohne Beziehungsfragen aus 1 Diese wäre ein Thema für sich. Jedenfalls aber treffen im Kontext der Bioethik mehrere >Substanzialismen< zusammen: Der Wert der von Gott geschaffenen kreatürlichen Sub stanz, der Wert der Erb-Substanz als Nutzenpotenrial der Gattung, der ökonomische Wert des >Lebens< als Option für die bioindustrielle Expansion, der Wert der Human substanz in der Erforschung von medizinischen »Chancen« fur künftige Generationen
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kommt. In dieser Eigenschaft ist das Substanzwert-Denken in der katholi schen Schöpfungslehre wie auch im Kosten-Nutzen-Denken des Utilita rismus zu Hause. Es dominiert ebenso - und zwar pro wie kontra - in den technologiekritischen Auseinandersetzungen um die Biopolitik. Auch im Falle der Stammzellforschung hat sich die politische Problemwahrneh mung innerhalb weniger Monate verengt auf das Muster einer Debatte über den Eigenwert embryonaler Substanzen, die (folgt man der Debatte) als Substanz unmittelbar >Leben< sind. Darf die Stammzelle zur Forschung verbraucht werden oder nicht? Allein das ist die Frage. Unstrittig scheint alles so, als stecke der eigentliche Anlass dieser Frage in der Sorge um den Stoff, den der Name »Stammzelle« benennt. Versuchen wir demgegenüber, von einigen der Selbstverständlichkeiten Abstand zu nehmen, welche die öffentliche Wahrnehmung der Problem stellung namens Stammzellforschung prägen. Fünf »Vorfragen« sollen in diesem Kapitel gestellt werden, die wegfuhren von der Substanz und auch von der Denkfigur des moralischen Eigenwertes der embryonalen Stamm zelle selbst. Die fünf Fragen verschieben das Problem. Nicht die Substanz ist das Politikum, so phantastisch die Eigenschaften sind, die man ihr zu schreiben mag, sondern anderes ist an der Stammzelltechnologie beden kenswert. Meine Vorfragen laufen also auf eine kritische Haltung hinaus auf eine Kritik dessen, was im Namen der Stammzelle versprochen, getan und an neuen Normalitäten geschaffen wird. Bedarf es einer Ortsangabe für eine solche Position der Kritik? Auf der Schwelle einer historisch möglicherweise einschneidenden Veränderung ist der Ort der Zeugen ein Ort, über den sich schwer Rechenschaft ablegen lässt. Wo liegt der Ort des Vergleichs mit einer Gegenwart, die noch nicht entglitten ist, obwohl das Neue einer Zukunft sich dieser Gegenwart be reits öffentlich ankündigt? Vorläufig ist die Stammzellforschung noch auf Prognosen von Ergebnissen und Produkten beschränkt. Sie ist eine (teure) institutionelle Projektskizze - allerdings eine, die sich bereits anschickt, eine Fülle >neuer Realitäten< zu sein. Kaum jemand sieht diese neuen Rea litäten im Emst bereits, aber seltsamerweise möchte im Diskurs bereits niemand mehr einwenden, dass er oder sie lieber in einer Welt ohne solche Realitäten leben würde. Wer will eigentlich diese neue Technologie? Diese etc. - So verschieden schöpfungstheologische und utilitaristische Argumente sind: Alle rücken nicht etwa bestimmte politisch wünschbare oder unerwünschte Prozesse oder Verhältnisse (Sozialbeziehungen, Machtbeziehungen, gesellschaftliche Umgangsweisen etc.), sondern den >Wert<des Lebensstoffes in den Mittelpunkt
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Frage beharrt einfach auf der Differenz von Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinne ist der Ort meiner Kritik die Welt wie sie ist. Sofern allerdings die Stammzelldebatte als Substanzschutz-Debatte den Kern der historischen Problemlage gar nicht trifft, die sich in der Gegen wart der neuen Techniken zeigt, wird der Blick in die Geschichte nötig. Es sollte nach der Herkunft jener technisch initiierten Veränderungen gefragt werden, die mit der Stammzelltechnologie einhergehen. In diesem Sinne ist die Geschichte der Ort meiner Kritik. So oder so hat der biopolitische Einschnitt, für den die Stammzelle steht, einen ganz anderen Charakter, als die Substanzwert-Debatte suggeriert. Vorfragen sind schließlich deswegen nötig, weil man nach strukturell anderen Gefahren Ausschau halten müsste, die der Einstieg in die Stammzellnutzung mit sich bringt, als den >lebensschützerisch< abwendbaren Ge fahren. Wer sich nur über Embryonenschutz besorgt, nimmt andere Ver schiebungen nicht mehr wahr, die mit der neuen humanstofftechnischen Option namens »Stammzelle« verbunden sind.
1. Was sind Stammzellen und wie werden Stammzellen gemacht? Biochemische Sachverhalte lassen sich nachlesen und sollen hier nicht wiederholt werden. Stammzellen in der für die Weiterverwertung interes santen Bedeutung des Wortes sind im Labor weiter vermehrbare Kulturen von - im Idealfall - noch unspezifischen, also noch nicht auf die Rolle in einem bestimmten Organ festgelegten (menschlichen2) Zellen. Als noch unfestgelegt und zugleich optimal wachstumsfreudig gelten die embryonalen Stammzellen. Alltagsnah gesprochen braucht man zur Gewinnung solcher Zelllinien kleine Mengen lebender Substanz, also entweder die frisch aus einer schwangeren Frauen entnommene Leibesfrucht oder aus Eizellen und Samen in vitro hergestellte sich teilende Embryonalzellen oder auch die Zellen von durch Klonierung vermehrten Embryonen. Für die Gewinnung 2 Wie üblich beschränke ich mich auf die >humane< Stammzelle und hier noch einmal auf die embryonale als Spitze des Eisbergs. Damit soll nicht verschwiegen werden, dass es auch tierische Stammzellen gibt —und dass über kurz oder lang wahrscheinlich auch Xeno-Stammzell-Techniken zu erwarten sind, also Technologien, die humane und »art fremde« Substanzen vermischen.
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von embryonalen Stammzellen kann außerdem Nabelschnurblut verwen det werden, und vereinzelt treiben solche Zellen auch an anderen Stellen im schwangeren Körper herum. Eine offene Frage ist, inwiefern auch so genannte adulte Stammzellen, also Stammzellen Erwachsener, diejenigen Eigenschaften haben könnten, die namendich die embryonale Stammzelle so attraktiv machen. An dieser Frage wird geforscht. In der öffentlichen Diskussion gab und gibt es an der Nutzung adulter Stammzellen kaum Kritik. Der Verbrauch embryonaler Stammzellen hin gegen —und zwar nicht eigentlich die Gewinnung, sondern der Verbrauch - wird als Vernutzung von menschlichem Leben und als »Tötung« von Embryonen als potentiellen Menschen kritisiert. Was sind embryonale Stammzellen? Nicht Menschen, aber werdendes menschliches Leben<, so lautet auch die rechtliche Antwort. An diese For mel hält sich —ohne sie direkt zu zitieren —auch das erste deutsche Embryonenschutzgesetz vom 13.12.1990. Dieses werdende Lebern entstammt der Verfassungsgerichtsrechtsprechung zum strafrechtlichen Abtreibungs paragraphen, wird jedoch inzwischen auch verwendet, um im Labor herge stellte befruchtete Eier vor beliebiger Weiterverwendung zu schützen. Das 2003 nach heftiger Kontroverse beschlossene Stammzellgesetz grenzt diesen Schutzbereich noch einmal ein: Neu entnommene und angezüchtete Embryonenstammzellen, nicht aber bestimmte (schon ältere und impor tierte) embryonale Zelllinien sind verboten.3 Die Gewinnung, nicht so sehr der Import oder das Hantieren bringt die Besonderheit der Bedenken ge gen Stammzellmanipulation auf den Punkt: Erlaubt sein soll keine »verbrauchende« Forschung, keine Produktion von Humanembryonen allein zum Verbrauch. Reden wir also einfach über eine in Gestalt menschlicher Keimzellen eben nun einmal anfallende Substanz? Das tun wir nicht. Denn wir reden nicht nur von einem Stoff, wir reden über eine neue Realität. Die Substanz ist praktisch wie bewertungsmäßig ein Kunstprodukt - sie >ist< eigentlich und zunächst der ebenfalls - neue —Prozess ihrer Herstellung. Sie ist au ßerdem und parallelgehend Resultat einer neuen Definition. Das neutrale Sprachbild der bloßen >Gewinnung< der Stammzelle ver birgt, dass die Stammzelltechnik gar keine Technik an der Zelle ist. Sie ist zuallererst eine pharmakologisch-chirurgische Technik. Und sie ist eine Technik an der Frau. In der Herstellung wird körperlich wie auch sonst 3 Vgl. Stammzellgesetz vom 28.6.2002, zuletzt geändert am 25,11.2003, mit dem Gewin nungsdatum »vor 1.1.2002« als Stichtag für verwendbare embryonale Zelllinien.
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einschneidend vorgegangen. Im einfachsten Fall handelt es sich >nur< um einen Schwangerschaftsabbruch, der die Basistechnologie der Stammzellge-winnung bildet. Im aufwendigeren Fall der Produktion von Eiem zwecks Befruchtung im Labor müssen sich Frauen einer sehr viel längeren Behandlung unterziehen. Es sind massive Hormongaben und ebenfalls einer oder mehrere chirurgische Eingriffe nötig. Beides hat keinerlei heil medizinischen Grund, sondern dient allein einer Rohstoffproduktion. Das eigentliche Entnahmeobjekt ist dann keineswegs einfach von sich aus eine Substanz für sich selbst. Sinnfälligerweise hat man erst einmal ein Stückchen vom weiblichen Körper vor sich. Mit der Heraustrennung aus dem Frauenleib hat »der Embryo« gleichwohl einen von der Frau selbst gesonderten Ort. Heute ist man es gewöhnt, sich den Embryo quasi als kleine Person im Inneren einer schwangeren Frau vorzustellen. Eben dies —die körperliche und die wesensmäßige Trennung von »Mutter« und Em bryo —sind jedoch biopolitische Neuerungen. Dass es sich bei einer schwangeren Frau und ihrer Schwangerschaft: bzw. einem im Werden begriffenen Objekt ihrer Schwangerschaft um »zweierlei« handelt, diese Sichtweise hat eine mehrheitlich katholisch be setzte Kammer des Bundesverfassungsgerichts 1975 angebahnt und mit dem zweiten Urteil zum § 218a StGB 1993 wurde sie festgeschrieben.4 Die erste Entscheidung des Gerichts schuf bewusst neues Recht. Sie traf kei neswegs auf einen öffentlichen Konsens. Dass der Mensch erst mit der Geburt als ein Rechtsträger neben seine Mutter tritt und vorher mit seiner Mutter und als Stück des Mutterleibes geschützt ist, vertraten Feministinnen und eine aufgeschlossenere Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit noch bis in die 1980er Jahre.5 Bis die Epoche des Embryonenschutzes begann. Die Definition der embryonalen Stammzelle als autonomes Schutzgut beerbt also eine Trennung von Frau und Embryo, die es bis 1975 nicht im Recht, sondern nur in der katholischen Moraltheologie gab. Irgendwelche 4 1975 legte das Gericht (ohne Not, jenseits der ihm eigentlich vorgelegten Entscheidungs frage) den rechtlichen Lebensbeginn auf den Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei und Samenzelle fest. 1993 separierte es das »werdende menschliche Leben« als eigenständiges Schutzgut (im Sinne des Artikel 2 GG) vom Lebens- und Menschenwürdeschute der Mutter, der ja ebenfalls vor allen Eingriffen durch Dritte schützen soll. 5 Empfehlenswert genau in der Rekonstruktion des eigentümlichen Verlaufs der deut schen Debatte: Gerhard 2001. Namentlich die rot-grüne Linke schwenkte von der femi nistischen Linie einer Kritik des Abtreibungsurteils regelrecht weg, um dann gegen die Reproduktionstecfinologien auf Lebensschutz zu setzen.
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historisch gewachsenen oder politischen Evidenzen gab es für die Diskus sionen der 1970er Jahre nicht, dass der Gebärmutterinhalt einer Frau ein autonomerer Teil ihre Leibes sein sollte als etwa ihre Eierstöcke oder ihr Herz. Es bedurfte des Rechtsakts, die Schwangerschaft zu biologisieren und den Embryo als gesonderte Substanz zu formatieren. Zum Recht später mehr - halten wir zunächst die Datierung fest. Das Schutzobjekt in vitro wie in vivo war nicht immer schon da. Es wird Mitte der 1970er Jahre und Anfang der 1990er Jahre, exakt zu dem Zeitpunkt, als die Laborvermehrung praktisch möglich wurde, regelrecht aus dem Frau enkörper herausdefiniert. Der Verdacht legt sich nahe, dass gerade durch die Entscheidung von 1993 vor allem eines verhindert wurde, nämlich eine einredefähige Rechtsposition der Frauen —ein »mein Bauch gehört mir« gegenüber der Forschung, die in den 1990er Jahren noch hauptsächlich Krankenhausabfälle nutzen wollte und noch auf wenige freiwillige Spende rinnen traf. Kirche und Forschung standen hier gegen die Autonomie der Frau. Es gibt also Anlässe, sich auf die eigentliche Herkunft des begehrten Laborguts zu besinnen. Was Stammzellen >sind<, lässt sich durchaus von daher bestimmen, wie man sie macht Nämlich durch —physische und juridische - Wegnahme von jemandem, dessen Körper sie waren. Die wenigen Zellen, die am Ende in der Schale liegen, mögen eine spezifische Form von Objekt und vielleicht auch Ware sein oder werden. Zuallererst ist die Stammzellnutzung aber ein spezifischer Behandlungsvorgang und eine Prozedur am weiblichen Körper sowie eine zugemutete Prozedur für das normative Selbstverständnis einer Frau und möglicher weiterer Betei ligter, dem der Euphemismus der bloßen »Gewinnung« eines Stoffes nicht entspricht. Die Stammzelle ist ein Konstrukt. Sie ist wie alle Resultate von in w'/r»-Arbeit eine Technikfolge und sie wird durch eine Verfahrenslogik, nicht durch ein ihr jenseits davon innewohnendes Sosein bestimmt. Sub stantiell weisen Stammzellen (wie Embryonen) allein auf den Zusammen hang mit der Frau zurück, aus der man sie herausgenommen hat - und auf die technologische Inspiration der Operateure. Biotechnisch kann man alle Zellen, auch Stammzellen, problemlos als Stoff ohne Geschichte behan deln. Politisch und moralisch muss man gleichwohl weder eine Labordefi nition übernehmen noch eine Definition, die das »werdende Leben« im Zweifel (im Interesse der Schöpfung oder der Gattung) vor der Mutter »schützt«, zu deren Leib und Leben es aus feministischer Sicht jedenfalls gehört.
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2. Wozu werden Stammzellen von wem gebraucht? Derzeit werden Stammzellen in Europa und weltweit vor allem für die Forschung verwendet. Dazu genügen, wie man weiß, relativ wenige StammzellJinien - zumal, wie man ebenfalls weiß, gerade für die Forschung eine >Standardisierung< derjenigen Substanzen sich empfiehlt, mit denen man das neue technische Feld erst einmal experimentell definiert. Die Debatte über Stammzellforschung drehte sich also um wenige Stammzellen. Vorerst geht es mehr um den normativen Dammbruch und um den Beginn einer Technologie als um eine große Zahl von Fällen. Die Debatte drehte sich allerdings auch um sozusagen »verwaiste« Embryonen, also um bisher schon angesammeltes Material, nicht nur um konkrete, noch bevorstehende Entnahmesituationen. Sie ähnelte damit der in Eng land im Jahr 2002 geführten Diskussion, ob man die dort zu Tausenden eingefrorenen »überzähligen« Embryonen auftauen und wegschütten darf. Gebraucht würden die Ergebnisse der Stammzellforschung —und wohl auch neues Material —, sobald das in greifbare Nähe rückt, was Forscher versprechen, nämlich dass medizinisch einsetzbare Zelltypen aus Stammzelllinien hergestellt werden können. Deren Einsatzfeld könnte riesig sein. Die zentrale Idee, die die Forscher inspiriert, ist die des »nachwachsenden Gewebes« (Momentaufnahmen bei Graupner 2005, Müller-Jung 2005). Embryonale Stammzellen würden also gleichsam als Urstoff für eine ganze Gewebeindustrie gebraucht. Nicht heute oder morgen, sondern erst im Falle von großen Heilversuchen oder klinischen Studien würde die Res source Stammzelle also wohl erstmals knapp. Was aber dann? Die Forschungspolitik prognostiziert auch dann keinen gigantischen Bedarf. Gerade in der geringen Menge, die benötigt wird, soll der Vorteil der Verwendung fertiger Zelllinien zur Herstellung von Embryonalzellen gegenüber etwa der Klonierung von Embryonen liegen. »Immunologen sagen, dass man mit etwa 300 Zelllinien zwei Drittel der Bevölkerung ab decken kann, ohne dass man Abstoßungsreaktionen befürchten muss«, lautet beispielsweise die Auskunft eines Experten (Winnacker 2003). An dere bezweifeln diese Zahl: Wenn wirklich Abstoßungsreaktionen vermie den werden sollen, müssen Stammzellen auch durch Einsetzung individu eller Zellkerne der Patienten in Eizellen produziert werden (vgl. Röspel 2005, S. 46). So oder so erweist sich die Stammzelle geradezu als phantastische Sub stanz. Eine Technologie, die menschliche Gewebesorten beliebiger Art
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bereitstellen können soll, wäre auf der Basis von Zellkulturen zu gewinnen, die - hat man sie sich einmal in vitro angeeignet - allein das Labor für alle weiteren Zwecke selbst weiter vermehren kann. Der Preis der Stoffe beruhte künftig nahezu ganz auf den Faktoren Bearbeitung, Qualitätssiche rung etc. —und die eigentlichen Verdienstspannen lägen in der Patentie rung. Ähnlich dem Humangenom wäre der Zclllinienvorrat der Mensch heit also keine substantielle Ressource, sondern die pure Produktoption. Paradox genug ist die Stammzelle also aus Sicht ihrer Verwender auch wieder rein prozessual bestimmt Sie ist nur zu eineni winzigen Anteil wirklich >Stoff<. Ansonsten ist das Wort Stammzelle Chiffre nicht einer schwer zu gewinnenden >Ressource<, sondern einer aus cum grano salis vor handenen Ressourcen jeweils erst noch zu gewinnenden Option. Ein claim, ein Feld, das im übrigen —neben dem Profit —vor allem dem >Leben< zu Gute kommen soll. Wie schließlich wird die phantastische Substanz am Körper Verwen dung finden? Das Einbringen von Stammzellprodukten in Menschenkör per ist eine besondere Form der Implantation. Ähnelt es der Wiedereinset zung eines in vitro hergestellten Embryo in den Leib einer Frau, die wie derum mit Hilfe von Hormongaben dadurch schwanger werden soll? Oder werden Stammzellprodukte nur mittels pharmakologischer Immununter drückung in einen Körper »eingebaut« werden können? Wurde die Stammzelle zum Zweck der Gewinnung als >autonom< defi niert, soll sie nun eigentlich doch Teil des Körpers werden und bleiben. Könnte es sein, dass sich etwas vom Schicksal des Menschen, der die Stammzelle hergab, im Körper desjenigen, an dem das Labormaterial fest wachsen soll, wiederholt? Jeder Mensch wäre gleichsam gegenüber den 300 Stammzelllinien, auf deren Basis die Forschung Produkte entwickelt, im mer noch >Mutter genug«. Ist die Frau mit der biotechnischen Verwertung ihrer Schwangerschaft zum »fötalen Umfeld« geworden, wie Barbara Duden das einmal genannt hat (vgl. Duden 1991), so wird auch der künf tige Empfänger von nachwachsenden Geweben ein Stück weit embryona les »Umfeld« sein.
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3. Was besagt die Rede von der Würde und vom Wert? Die moralische Inwertsetzung der embryonalen Stammzelle wie überhaupt des Embryo war von wuchtiger Rhetorik begleitet. Lebensschützer kon zentrierten sich auf die Zerstörungsfrage. Sie sprachen vom »Tod« des embryonalen »Lebens« und suchten dem Einstieg in die Stammzelltechnologien namentlich durch das Verbot der Gewinnung und des Imports von embryonalen Stammzelllinien zu begegnen. Ein weiteres zentrales Argument der Kritiker der Stammzellnutzung in der Debatte des Sommers 2002 war die Würde der embryonalen Substanz. »Menschenwürde«, »M ai schenrecht« oder eben die unantastbare »Würde« aus Art. 1 GG wurden vor allem von Seiten der Kirchen mal mehr und mal weniger unmittelbar reklamiert. Interessant ist zunächst, dass - ganz im Sinne der schon beschriebenen Verengung —allein die Würde der Substanz thematisiert wurde und nicht etwa die Würde der in die >Gewinnung< der Stammzelle physisch invol vierten Frauen oder auch die Würde derjenigen, die später durch die An wendung von Stammzellprodukten am eigenen Leib betroffen sein werden. Interessant ist des Weiteren, dass sich im Zuge der Diskussion die Les art der - in Sachen Lebensschutz bereits radikalen - Verfassungsgerichts urteile noch über den Wordaut dieser Urteile hinausgehend verschärft. Im Urteil von 1993 konstruiert das Verfassungsgericht den Schutz des »wer denden Lebens« als einen Schutz des Embryo nicht direkt als »Mensch« im Sinne von Art 1 GG. Es postulierte einen Schutz als »Leben« und erklärte den Embryo damit zu einem Schutzgut im Sinne des Art. 2, und zwar als ein besonderes Schutzgut, was sich »im Lichte« des Art. 1 ergebe. Diese nur indirekte Anwendung des Art. 1, also der Würdeformel, entspricht der Dogmatik unseres Grundgesetzes, das den Menschenwürdeartikel strikt Kantisch auffasst: Menschenwürde ist nichts Materielles, das gegeben ist oder aber fehlen kann. Menschenwürde ist ein Prinsgp, das nicht durchbro chen werden darf. Sie bedarf also der Konkretion im Wege einer Frage, sie ist nicht allgemein zu füllen. Auch den »Träger« der Menschwürde kann und darf man daher gerade nicht auf allgemeiner Ebene empirisch (also etwa durch eine zellbiologische Definition) eingrenzen. Ebenso kann es auch keine »typischen« Situationen geben, in denen jemand keine Würde mehr hat. Das Subjekt des Art. 1 entzieht sich der positiven Definition. Gleichwohl betonen nicht nur radikale Lebensschützer oder katholi sche Repräsentanten, sondern auch Politiker und Politikerinnen ganz ande
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rer Lager, der Embryo sei eigenständiger Rechtsträger im Sinne des Art. 1 —er sei also nicht nur ein hochrangiges Schutzgut namens Leben, sondern ein Jemand mit einem »Recht« Leben. So traf die grüne Rechtsexpertin Ulrike Riedel Aussagen wie: Der Embryo habe ein »Lebensrecht«, das ihm »schon aufgrund seiner Existenz« zustehe, nämlich das »unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht«; Menschenwürde komme dem Embryo auch nicht gestuft zu, sondern diese könne »nur einheitlich gewährt werden«, durch eine unterschiedliche Bewertung von Entwicklungsstadien werde »das Recht auf Leben« unterlaufen (vgl. Riedel 2001 ).
Eine andere typische Form der Inwertsetzung der Substanz als Subjekt der Würde kommt ohne absolutes Recht auf Leben aus, erfolgt aber mit tels einer moralisch-politischen Forderung, die auf einen vollen Würde schutz aus Art. 1 GG abzielt —nämlich mittels der Aufwertung der Bezie hung zum Embryo als vollwertiger Beziehung von Mensch zu Mensch. So fordert der Bioethik-Kritiker Oliver Tolmein, die Menschenwürde des Embryo müsse derart verstanden werden, dass man ihn »würdigt« im Sinne einer Würde als »Ausdruck der sozialen Beziehungen zwischen Menschen« (Tolmein 2003). Dieser Vorschlag hat verfassungsrechtlich den Nachteil, dass er alle Rechtsträger nur gleichsam dank einer faktisch unstrittigen »Beziehung«, die Menschen zu ihm haben, seinerseits zum Menschen er hebt. Die politischen Folgen dieser Denkweise können fatal sein: Der Würdeschutz des Art. 1 hinge dann ja nur mehr von faktischen sozialen Bewertungen ab. Nur was oder wer von Menschen als Mensch behandelt wird, wird als Mensch geschützt. Als durch »soziale Beziehungen« erst zu stiftende Größe verliert der Art. 1 seinen Sinn. Die Würde wäre mit fak tisch schwindender sozialer Anerkennung auch dejure verlierbar. Der Art. 1 soll aber gerade auch im Falle fehlender sozialer Anerkennung einen Men schen als »Mensch« schützen können. Kantisch korrekt ist die in der Debatte von der zuständigen Justizmini sterin Brigitte Zypries vertretene Position, der Embryo in vitro sei zwar Schutzgut, aber eben nicht direkt, sondern wenn, dann nur über die zu seiner Austragung bereite Frau - und die »lediglich abstrakte Möglichkeit« sich weiterzuentwickeln reiche »für die Zuerkennung von Menschenwürde nicht aus« (vgl. Zypries 2003). Zypries hat auch politisch Recht - sofern es auch den Vertretern der Eigenrechte des Embryo letztlich um Aneignungs fragen geht und nicht um eine aktive Bürgerrechtsposition für ungeborene Menschen. Die Aneignung des Embryo soll zwar nicht durch Besitzer im
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ökonomischen Sinne erfolgen, dafür aber durch sittlich absolute Institutio nen geregelt werden. Der Embryo soll Eigenrechte haben, um Mündel zu sein. Ein Mündel der Kirche nämlich, die im Namen des »Lebens« im Zweifel auch gegen die abtreibende Frau oder gegen abtreibende Eltern optiert. Für eine wirksame Einrede gegen eine Zukunftstechnologie, die nie mand wollen kann, solange sie allein auf dubiose Prospekte möglicher Heilungschancen ihre Ansprüche gründet, scheint mir das Würdeargument schlicht verzichtbar. Warum der abgesonderten Substanz separat Men schenwürde zusprechen? Auch konservative Verfassungsrechder haben darauf hingewiesen, dass das Lebensrecht des Embryo nicht absolut sein muss, um doch geschützt zu werden; noch nicht einmal das Lebensrecht geborener Menschen wird absolut geschützt (vgl. Böckenförde 2002). Art. 2 hält den Eingriff in Lebensrechte offen, er setzt lediglich eine außer gewöhnliche Lage voraus: Der Staat kann zwar in das Schutzgut Leben eingreifen —aber nur in Extremsituationen wie Krieg oder Notwehr. Es wäre ein Leichtes und juristisch auf Anhieb plausibel, ganz ohne Berufung auf die Würde der Substanz oder auf die Absolutheit des Art. 1 einfach festzustellen, dass in das >Leben< (das der Embryo seit 1975 nun einmal ist) nur in existentiell wichtigen Situationen eingegriffen werden darf. Und bloße Forschungsinteressen oder auch die vage Größe der »Heilungschan cen« künftiger Generationen sind keine Situationen dieser Art. Ebenso leicht könnten gesonderte, nämlich eigens formulierte straf rechtliche Verbote ohne Substanzwert-Argumente jederzeit ausgesprochen werden. Begründungen hierfür wären leicht denkbar. Embryonale Stammzellen könnten etwa aus Rechten der >Mutter< für unangreifbar erklärt wer den. Oder als anderweitig wichtiges Gut —analog zu Kulturgütern oder anderen besonderen Gütern von öffentlichem Belang. Man könnte auch den Straftatbestand des Missbrauchs von reproduktiven Substanzen ein führen - analog zum Diebstahl oder bestimmten Gefährdungsdelikten. Schließlich könnten die Eizellen- oder Nabelschnur-Entnahmehandlungen schlicht als Verstoß gegen die guten Sitten geächtet werden, ein Weg, der noch nicht einmal ein Gesetz erfordern würde, sondern allein durch höchstrichterliche Entscheidung gangbar wäre. Interessant ist gerade aus feministischer Sicht, warum es zu Diskussio nen über diese breite Palette an rechtspolitischen Möglichkeiten trotz Stammzelldebatte nicht kommt. Die Allgemeinheit der >Würde< wird
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offenbar auch von den Gegnern der neuen Technologien eher um der rhetorischen als um der legislativen Effekte willen genützt. Kommt es den Gegnern und Gegnerinnen der Stammzellforschung, die sich auf allgemeine Menschwürde-Argumente beschränken, also am Ende gar nicht darauf an, die Stammzellforschung gänzlich zu verhindern? Diese Frage ist nicht rhetorisch gestellt. Sie drängt sich angesichts der vielen juristischen Alternativen auf.
4. Sind mit der Stammzelltechnologie einschneidende soziale Veränderungen verbunden? In der Frage, was sich durch die Stammzellnutzung wirklich ändern könnte, liegt der eigentliche Schlüssel jeder nicht nur defensiven Kritik. Das ist ärgerlich, aber es ist so: Nicht der Vertreter »neuer Möglichkeiten« muss deren Nutzen beweisen, sondern wer gegen neue Möglichkeiten optiert, muss begründet warnen können. Folglich müssen auch die Kritiker mit der Zukunft argumentieren. Wollen wir in einer Welt leben, in der eine globale Stammzellindustrie existiert? Die Technik der Herstellung von Embryonen zum Zweck nicht der Fortpflanzung, sondern eben: der Produktion jenes nachwachsenden Ge webes, ist eine Schlüsseltechnologie, die gleich mehrere Märkte betrifft. Als medizinische Technik am Menschen gehört die Idee, Gewebe als lebenden Ersatzstoff für Verletzte und Kranke regelrecht zu »züchten«, in die lange Reihe der Techniken der therapeutischen Einpflanzung von Körperstü cken. Das aus Embryonen bzw. Stammzellen hergestellte Material wäre jedoch selbstwachsend —und es käme aus dem Labor. Was der neue phantastische Stoff daher überflüssig machen soll, ist die gerade bei komplexeren lebenden Organen bisher in der Regel notwendige Transplantation. Man muss nicht mehr einem Lebewesen entnehmen, was man einsetzen will, sondern man holt es gewissermaßen - so ein beliebtes Bild - aus der Tube. Die Idee der universal einsetzbaren, laborgewonne nen, aber >lebenden< Humansubstanz verspricht von daher, auf lange Sicht die heutige Verpflanzungstechnik überflüssig zu machen. Die Chirurgie könnte ohne Explantationen auskommen - ohne eine aufwendige Körper verletzungstechnik also, die der Medizinbetrieb bisher praktizieren muss,
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wo er keine >künsdichen< Prothesen, sondern >lebendes< Gewebe in einen Körper einsetzen will. Dennoch stammt erstens auch die Stammzelle, wie oben gezeigt, immer zunächst einmal aus einem lebendigen Körper, und da auch Zelllinien nicht wirklich ewig leben, wird eine florierende Gewebeindustrie auch permanent Stammzellnachschub brauchen. Auch das Gewebe aus der Tube setzt also weiter Explantationen voraus - wenn auch »nur« die schon genannten Operationen an Frauen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ohne die gezielte Gewinnung von »überzähligen« Embryonen in großem Stil sowie massenhafte Eispende für die Forschung oder Nabelschnurver wertung eine StammzeUindustrie nicht auskommen wird. Der Druck auf Frauen, in den neuen Markt einzusteigen - als »Spenderinnen« von Em bryonen, durch den Verkauf von Eiern etc. -, wird in dem Maße steigen, in dem die Nachfrage steigt. Da ein florierender in wVro-Wunschkind-Markt bereits besteht, kann sich das Engagement in der Nachwuchs-Produktion mit fließenden Übergängen in ein Engagement für die Gewebeproduktion hineinentwickeln. >Humanitäre< Gründe kann man auch für therapeutische Zellspenden mobilisieren, nicht nur zur Erfüllung eines Kinderwunsches. Zweitens verfeinert das Projekt >nachwachsendes Gewebe* nicht nur die mit dem Bluttransfer und der Transplantationstechnik begonnene Technologie der Lebensverlängerung durch die Zirkulation von Körper stoffen. Es verschiebt auch —und zwar auf Dauer erheblich —das alltägli che Körperschema. Zu Recht hat man die Ersatzteil- und Ersetzbarkeits vorstellungen als die heimliche Maxime der Transplantationsmedizin kritisiert Diese eigentümliche Logik wird durch das nachwachsende Ge webe in Richtung auf Verjüngung und Ent-Alterung durch gleichsam >ewig junge Zellen< noch einmal überboten. Verletzungen? Lebensgefahr? Risiko sportarten? Arbeitsunfalle? Kriege? Für alles existiert ein neues Sicher heitsnetz, wenn der Körper aus der Tube regeneriert werden kann. Unter schwellig lässt der Diskurs über die sagenhaften Potentiale der embryona len Stammzelle an das alte Phantasma von den »Frischzell-Kuren« denken: Die Einspritzung der Jugend gibt dem alten, verbrauchten Leben wieder Schwung —wie das Bad in der Stutenmilch oder der Gang durch den Jung brunnen. Mythos des Jungen, des Sieges über die Spuren gelebter Zeit, vor allem aber: Abwertung des Alten, des Alterns und des ruhigen Körpers für die eigene Sterblichkeit Die Logik des Ersatzteils ist eine Logik der Frist, des unglücklichen Bewusstseins. Schon jetzt werden Mütter dazu angehalten,
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nach einer Geburt Nabelschnüre tiefgefroren einzulagern —quasi als biolo gische Stammzellbank zur Reparatur des Leibes des Neugeborenen, wenn es denn so alt wird, dass es Ersatzteile braucht. Bekämpft eine Gesellschaft auf diese Weise prospektiv das Altem, so betrachtet und behandelt sie den Leib als permanent behandlungsbedürftig, im Grunde als permanent krank —oder aber permanent optimierbar. Daher gibt es nicht nur institutionell, sondern auch in der Leitidee eine enge Verbindung zwischen Schönheits chirurgie, Hochleistungssport- und Transplantationsmedizin.6 Nun kann man sagen, der bloße Wandel der Betrachtungsweisen sei kein Einwand. Auch Schönheitschirurgie mache glücklich, und was heilt, das heilt. Können Ersatzstoffe jedoch »heilen«? Nicht zuletzt sind es — wenn man so will: klassische Technikfolgenargumente, die gegen die Stammzellbehandlung sprechen. Wähle ich die Option >nachwachsendes Gewebe<, so wähle ich eine andere Behandlungsstrategie ab. Die Entschei dung für >Ersatz< ist aber irreversibel. Und wer kann wissen, ob nicht die konservative Lösung ebenso oder glücklicher ausgegangen wäre —nur vielleicht länger gedauert hätte oder auch nur den Medizinbetrieb teurer kommt? Tatsächlich ist schon heute beispielsweise die Transplantation von Organen nicht auf Fälle begrenzt, in denen kein anderer Behandlungsweg existiert. Die Medizin wählt vielmehr die Lösung >Ersatzteil<, weil diese die billigste ist. Nachwachsendes Gewebe könnte auch eine industriell bereit gestellte >zweitbeste<, aber einfachere Behandlungslösung von der Stange werden. Kein Zauberstoff, sondern ein pauschales Mittel fur die Massen medizin. Über Wirkungen und Folgen, die Substanzen aus der Stammzellfor schung im Menschenkörper anrichten, ist so gut wie nichts bekannt. Beim derzeitigen Stand der Dinge nimmt dies nicht wunder. Das gesamte Stammzellparadigma ist bis heute hoch spekulativ. Jetzt schon jedoch ist sicher, dass es früher oder später Menschenversuche sein werden, die ent scheiden, ob und wann das nachwachsende Gewebe sich anschickt, die Märkte zu erobern. Im Falle der Gentherapie —einem biomedizinischen Hoffnungsträger, von dem heute kaum ein Experte mehr sprechen mag — gab es schon bei den ersten Heilversuchen Tote. Vielleicht führt man also anstelle der von den Verteidigern der Substanz beklagten >Tötung< von
6 Auch das moderne Phänomen »Sterbehilfe« gehört hierher: Ein schneller und unspürba rer Tod soll das >ewig junge< Leben beenden (vgl. Gehring [anonym] 2002), wenn alle anderen >Lebens<-Technologien ausgereizt sind.
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Embryonen besser die sehr viel realere potentielle Tötung von Patienten als ein Argument gegen Stammzellforschung ins Feld. Schließlich werden medizinische Stammzellprodukte mit hoher Wahr scheinlichkeit nur im Zusammenhang mit einer zusätzlichen Immununter drückung einsetzbar sein. In der Theorie lassen sich aus eigenen Zellen auch gleichsam spezialisierte, >eigene< Gewebe hersteilen. Praktisch wird man jedoch allenfalls bestimmte Gewebe-Typen bereithalten können, die mehr oder weniger gut auf bestimmte Patienten-Typen passen. Die neuen Stoffe sind Fremdstoffe. Sie bedürfen einer dauernden Einnahme von Medikamenten, die die Abwehr schwächen, um vom Körper des Patienten >angenommen< zu werden. Die Manipulation des Immunhaushaltes ist also eine Grundvoraussetzung für alle Zukunftsoptionen, die in Stammzellprodukten zu stecken scheinen. In der Einnahme so genannter Immunsuppressiva liegt jedoch, wenn man denen glaubt, die damit Erfahrung haben, ein gewaltiger Einschnitt ins Lebens- und Körpergefiihl.7 Einem pharmakologischen Immunregime unterworfen zu leben, ist aber nicht nur befremdlich. Es ist schlicht ein Risikofaktor. Womit die eine Behandlung sich ihren >Erfolgsfall< durch Einsatz anderer riskanter Behandlungstechni ken erkauft. Mit anderen Worten: Die sozialen Folgen der Stammzellforschung können immens sein, sie sind aber —heute —nicht spektakulär genug für das Szenario einer >Gefahr<. Einschneidende Veränderungen werden aber nur dann zum Argument in der öffentlichen Debatte, wenn man tatsäch lich >Gefahren< für Schutzgüter namhaft machen kann. Schnelle Forschung, geräuschlose Erschließung der Rohstoffquelle Frau, unauffällige Erpro bung wie auch möglichst »stillschweigender« Einsatz der neuen Produkte im Medizinbetrieb sind also zu erwarten —obwohl mit der Stammzellnutzung einschneidende Veränderungen einhergehen werden.
5. Hat die Stammzellnutzung eine biopolitische Dimension? Keine biotechnologische Neuerung steht im lebenspolitischen Feld für sich allein. So liegen Probleme nicht allein darin, dass die Stammzellforschung 7 Es gibt hierzu zahlreiche Berichte von Transplantierten, aber auch die medizinischen Anweisungen in diesem Bereich sprechen Bände: Mundschutz, Vermeidung von Men schengruppen, allein schlafen, kein Austausch von Zärtlichkeiten.
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Embryonen »verbraucht«, sondern dass die Arbeit mit der Stammzelle unmittelbar an denjenigen Stoff anschließt, der direkt der menschlichen Fortpflanzung dienen kann. Stammzelltechniken sind Reproduktionstech niken —auch wenn betont wird, dass ausschließlich >therapeutische< Ziele verfolgt werden sollen. Dass die Verlockung zum experimentellen Spiel mit der Fortpflanzung der Logik der reproduktiven Techniken innewohnt, zeigt nicht nur der Fall der {dejure nicht erlaubten) gleichaltrigen oder un gleichaltrigen Zwillingsbildung durch »Klonierung«. Auch die Befruchtung von Eiern durch Eier und andere Pfade der asexuellen Fortpflanzung sind in Arbeit, und ebenso dürften Experimente mit der Chimärenbildung stattfinden —und sei es nur wieder, um solche Mischungen aus Tier und Mensch in frühen Zellteilungsstadien >therapeutisch< einzusetzen. Namentlich derjenige Bereich der Stammzelltechniken, der die Mani pulation der so genannten »Totipotenz« von Zellen betrifft, muss daher als eine Technik bezeichnet werden, die in unmittelbarer Nähe des biochemi schen Zugriffs auf die Gattung operiert. Das Ziel einer regulatorisch-verbessernden Manipulation nicht nur des individuellen Lebens, sondern des >Lebens< der Gattung ist der Impetus aller >humanen< Biotechnologien. Was könnte daraus folgen? Es könnte daraus etwa folgen, dass nicht alle biopolitischen Probleme im Gefolge der Stammzellforschung schon dadurch gelöst werden, dass man —wie von vielen im Interesse des Embryonenschutzes gefordert —auf die »adulte« Stammzelle quasi umrüstet und sie analog zu einer embryonale Zelle nutzbar macht. Denn gerade die adulte Stammzelle liefe, könnte man sie >fruchtbar< machen, auf eine biopolitische Revolution hinaus. Derzeit sind die Nutzungsmöglichkeiten von präparierten Körperzellen als undiffe renzierte Stammzellen für den interessierten Laien schwer zu überschauen. Sollten aber bestimmte, ganz normale Körperzellen durch technische Ma nipulationen die Eigenschaften einer embryonalen Zelle oder Zellgruppe annehmen können, so rückte etwas Neues in den Horizont der Machbar keit. Nämlich so etwas wie die »Synthese« von Embryonen. Mit den dann entstehenden Fragen kehrt sich die Blickrichtung förm lich um. Nicht: Dürfen wir Embryonen »verbrauchen«, ist dann die Frage, sondern: Ist es vertretbar, aus Körperzellen gewonnene Quasi-Embryonen heranwachsen zu lassen und zur Geburt zu bringen? Politisch - und nicht zuletzt unter dem Würdegesichtspunkt - müsste diese Frage sofort verlän gert werden: Ist es Frauen zuzumuten, ein Laborprodukt auszutragen, das nicht auf ein Ei ihrer selbst oder einer anderen Frau zurückgeht, sondern
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das vollständig ein Artefakt aus Körperzellen ist? Soll es tatsächlich im Namen von Forschungsoptionen so weit kommen, dass auch die Ein pflanzung eines biochcmischen Homunculus als eine Schwangerschaft gilt und gelebt werden soll? Man muss einen historischen Abstand zur Gegenwart fingieren, um solche Fragen zu stellen. Man muss auch zugeben, dass es spekulative Fragen sind. Dennoch gibt es einen historischen Realismus, von dem kleinteilige Debatten wegsehen. Es liegt in der Logik der Forschung, dass sie sich nach Kräften produktiv vernetzen wird —und das Stammzellparadigma ist als Embryonaltechnik keine Jnsel, Das >nachwachscndc Gewebe« hat vielmehr seinen Platz in einer ganze Phalanx von neuen Biotechnolo gien, die auf nichts anderes als auf die möglichst differenzierte Selbstregu lierung der Gattung vorstoßen. Die bisherigen Techniken der Embryonen produktion geben diesen Zweck deutlich zu erkennen. Die Pointe der Schwangerschafts-Pflichtuntersuchungen, der genetischen Lokalisierung von Erbkrankheiten wie auch diejenige der PID ist die »positive« Selektion der Gewünschten von den Ungewünschten, der Guten von den Schlech ten. Die Klonierung - verboten, aber dennoch von denen, die sie einfiihren wollen, als Fortpflanzung der »Besten« und Auserwählten gepriesen diente im Zweifel demselben Zweck. Es liegt auf dieser Linie, dass man über kurz oder lang nicht nur aus der phantastischen embryonalen Stammzclic nachwachscndcs Gewebe produziert, sondern dass man Embryonen aus Körperzellen herstellt. Das Kind kann dann eben eine besondere Form des nachwachsenden Gewebes sein. Sollte cs soweit kommen, wird man wohl rückblickend den Einstieg in die Stammzellforschung - und zwar in diejenige der Veränderung der »adulten« Zellen —als die eigentlich Weichen stellende Entscheidung be trachten. Wer aber hätte heute schon wissen können, worüber er entschei det? Und wie hätte man Nein sagen können?
6. Schluss? Vorfragen bleiben Fragen, insofern haben diese Überlegungen keinen Schluss. Aus der Perspektive einer auf die Produktion und Steigerung von >Lcben< spezialisierten Machtform, die in der Moderne am Werk ist, scheint mir kein Zweifel daran zu bestehen, dass das Thema »Stammzelle« unter
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seinem technisch-klcinteiligcn Namen seine eigentliche Dimension ka schiert. Hier gehr es um eine Technologie, die voraussichtlich nur vor dem Hintergrund massenhafter Eizcll-Gcwinnung expandieren kann. Es geht uni eine lange Strecke riskanter Heilversuche und um eine Umlenkung der Krankenbehandlung zugunsten des Paradigmenwechscls »Ersatz« statt Heilung. Es geht um das biopolirischc Phantasma der asexucllcn Fort pflanzung - mit einer schwindelerregenden Produktpalette, Und schließlich geht cs um Optimierung und Reparatur eines prospektiv >e\vigen< Men schen, um die Alterslosigkeit als (teures) Zukunftsprodukt. Das Projekt Siammzcllforschung ist lediglich ein biopolitisches Projekt unter mehreren. Aber es ist besonders offen für Visionen, die nicht einfach auf neue Medi zinprodukte hinauslaufen, sondern auf eine historische Veränderung der Welt.
Kapitel 5 Bio-Vaterschaft: Die Wiederkehr der Zeugung als technogene Obsession
In ihren Anfängen war die europäische Kultur geradezu selbstverliebt fasziniert vom Phänomen der Zeugung - und im gelungenen Zeugungs vorgang spiegelte sich der Mann. Die Frauen »nähren« nur, heißt es bei den griechischen Dichtem, den in sie gesäten Keim (vgl. zum Folgenden Laqueur 1990, Schröder 2005). Der das Kind erzeugt, »ist der Mann, der sie befruchtet«. Der Same ent steht aus dem Mann, und die Frau »stellt den Ort zur Verfügung«. Der weibliche Leib ist die »Saatfurche«, in die sich das Sperma ausstreut: eine Gefaßfüllungs- oder Ackerbau-Vorstellung der Zeugung. Auch Platon hängt ihr an. Eine konkurrierende Theorie besagt, dass sich männliches Sperma und weibliches Sperma miteinander mischen. Beide Substanzen stehen im Widerstreit, und die stärkere setzt sich durch, sie bestimmt die Eigenschaften des Kindes. Auch diese zweite Theorie basiert auf dem Modell der kreativen Überwältigung. Die aktiven Kräfte geben den ent scheidenden Impuls - bei Aristoteles ein männliches »Prinzip der Bewe gung«, bei Galen der »heißere« Samen des Mannes. Das männliche Ele ment ist schöpferisch durch Prägung und Belebung der passiven, der »käl teren«, der gar nicht einmal weiblichen, sondern einfach: weniger männli chen Substanz. Allein der Vater ist die etrchet die »Ursache« des Kindes. Allerdings: welcher Vater? Welcher Mann schuf welches Kind? Mit einem Schlag lässt die Vorstellung der Alleinschöpfung des Kindes durch einen Vater weniger ein Beziehungsproblem zwischen Männern und Frauen entstehen - bezogen auf die Kinderfrage sind die Frauen nur ein Mittel als vielmehr ein Feld der Männerkonkurrenz. Auf welche der konkurrie renden Ursachen verweist die Wirkung? Welchem Erzeuger gehören die Frau (das Erzeugungsmittel) und das selbst gemachte Kind? Welcher Er zeuger missbrauchte das »Gefäß« des anderen und setzte dem Konkurren ten etwas nicht Selbstgemachtes ins Nest? Mit dem Kausaldenken nahm auch im Bereich der Generationenfolge ein Unglück seinen Lauf.
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Es ist zu vermuten, dass das Mysterium der Kindsentstehung grund sätzlich nach Erklärungen ruft. Vielen Kulturen gilt nicht das Schicksal als Grund, sondern das Liebestun zwischen Mann und Frau als »Akt«, als ein ursächliches Handeln, das potentiell für die Frau zu Schwangerschaft und Kindern führt. Wie jedoch fasst man den Akt auf und wie kuldviert man seine Folgen? Europa, der Kontinent des Stiers, hat sich hier von Anfang an für die Vaterschaft entschieden. Auf uns gekommen sind aus der Andke nicht nur Frauenraub- und Kindsmordberichte, nicht nur die Affären des Göttervaters und Zeugungsathleten Zeus, nicht nur Vasenmotive, die dem aufgerichteten Phallus huldigen - einem Phallus, der allen späteren Scham geboten zuwiderlaufend an Knaben, Frauen und Tieren seine Lust sucht und findet. Vielmehr sitzt die Zeugung im Kopf, auch die antike Denkwelt ist ganz dem >aktiven< Prinzip verschrieben (vgl. Meyer-Zwiffelhoffer 1995). Von den Griechen stammt die Vorstellung, dass das Denken ein Akt der Zeugung sei —mitsamt dem Selbstbild des Denkers von sich als einem, der Gedanken »zeugt«. Logos spermatikos —befruchtende Rede, be fruchtendes Wort: Dies Motiv kennt auch die christliche Theologie, die das Wort an den Anfang der Weltschöpfung stellt. Ihr alleiniger Gott ist ein Vater. Im Alltag ist Vaterschaft schon in der frühen Zeit Europas - jenseits des »Akts« und der durch ihn geschaffenen Urheberschaft —vor allem als eine ökonomische Größe relevant. Für den, der etwas besitzt, ergänzt die Vaterschaft ein ganzes System bestehender Rechte und Pflichten, auf denen der öffentliche Status des Bürgers beruht. Im Mittelpunkt des römi schen Rechts, das bis ins 19. Jahrhundert für Europa das Familienrecht prägte und bis heute fortwirkt, steht der Haushaltsvorstand, der paterfami lias. Er ist derjenige, der juristisch handelt, die Familie »besitzt« und über die Weitergabe von Eigentum und Namen verfugt. Wichtig ist der Grundge danke, der von daher die Logik der Abkunft und der Nachkommenschaft trägt: Das römische Recht fasst die Vaterschaft nicht primär als eine biologi sche oder sonstwie natürliche Notwendigkeit, sondern als ein Bündel von an die Ehe und an den Hausstand geknüpften Rechten. Genauer noch: ein Bündel von Freiheiten, Verfügungsfreiheiten, das nur als Folge von Rech ten auch Pflichten enthält. Anerkannte Vaterschaft machte ein Kind zum Teil des Hausstands und zum potentiellen Erben. Im Prinzip war dies aber eine für das Kind verlierbare Position: Die patrilineare Erbfolge umfasst die Disposirionsfreiheit, Kinder anzunehmen oder aber zu enterben, illegitime Kinder haben eine andere Rechtsstellung als legitime, ebenso
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Söhne eine andere als Töchter etc. In der Geschichte Europas ist die Va terschaft folglich stets eine Geltungstatsache gewesen, eine Ausgestaltung männlicher Rechte. Heute dominieren römischrechtliche Denkmuster nicht mehr in jeder Hinsicht unser Erb- und Personenstandsrecht. Die Form der freien Rechtsperson wurde liberalisiert. Der pater familias kann auch weiblich sein. Unser Alltagsverständnis von Privateigentum aber —sowie unsere Vor stellung, dass ein Vater sein Vermögen nur weitergeben will an die von ihm selbst autorisierten, zum Erbe bestimmten >eigenen< Kinder (und nicht etwa an die Kinder einer Frau, mit der er zusammenlebte oder zusammen lebt) —trägt in sich eine tiefe historische, eine machtgeschichtliche Spur.
1. Familie im Wandel In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich über Europa hinweg die Lebensstile verändert. Wahrscheinlich hat dies —trotz Psychoanalyse — zunächst weniger das Vaterschaftsbild getroffen als vielmehr das Konzept der Familie ganz allgemein. Bildung, Mobilität, neue ökonomische Spiel räume und veränderte soziale Sicherungssysteme lassen Bindungen ab strakter werden. Soziologisch gesprochen: Es »individualisieren« sich die Zukunftsentwürfe und die Biographien. Lebensgeschichten laufen ausein ander. Sie formen sich aus wechselnden Beziehungen und dürfen aus ver schiedenen Kapiteln bestehen. Die ganz normale Instabilität trifft auch dasjenige, was in der Moderne den Kern der Familie bildet: das reproduktionswillige Paar. Familien wer den auf Zeit gebaut, und rund um die Ehe existieren rechtliche Netze, die Ende, Rückabwicklung und Umkonstruktion von Beziehungsverhältnissen erleichtern. Scheidungsprozesse werden von Schuldfragen endastet, und Mann und Frau sind vor, während und nach der Ehe in vielem gleichbe rechtigt. »Paare« werden »Partner«. Zugewinne werden, wenn man nichts anderes vereinbart, geteilt. Die Erwerbstätigkeit des einen muss mit der Haushalts- und Kinderbetreuung des anderen verrechnet werden. Der pater familias ist nun ebenso der Subunternehmer eines gemeinsamen Kleinhaus halts wie seine Frau. Auf welche Weise Trennung für wen von beiden sich finanziell »lohnt«, ist nun schwer zu sagen - nicht zuletzt deshalb, weil der Staat etwaige Zahlungspflichten zunehmend mit der Frage der Lebenshai-
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tungskosten vorhandener Kinder verknüpft. Zwar stehen Unterhaltszah lungen - je nach dem - zuweilen auch Ex-Partnern zu, in erster Linie aber werden sie für Kinder bezahlt und landen damit im Haushalt desjenigen Elternteils, bei dem die Kinder bleiben. Dass inzwischen Formen der ehe ähnlichen »Partnerschaft« und »Elternschaft« auch für gleichgeschlechdiche Paare attraktiv sind, mag man als Anzeichen werten für ein Unwichtigwer den der Geschlechterrollen im Familienrecht. Indirekt haben sich mit dem Umbau der Familie auch die Väterbilder liberalisiert. Dass es nicht eine kompakte Vater-Imago gab, die sich nun »wandelt« oder »schwindet«, wird zu Recht betont, versteht sich aber ei gentlich von selbst. Viel weiß man nicht über die historischen Verhältnisse. Aber schon die pädagogische Programmatik reflektiert vielerlei Vaterbilder: Nicht nur den Erzeuger oder Ernährer, den strengen Züchtiger, sondern auch den Lehrer, den Einweiser in die Gesellschaft und —dem Sohn ge genüber —den solidarischen oder aber konkurrierenden Mit-Mann.1 Das Jahrhundert der Weltkriege hat all dies durchgeschüttelt. Die tradierten Formen staatlicher, militärischer wie auch väterlicher Autorität wurden forciert wie auch irritiert - und letzteres überwog, etwa zweieinhalb anti autoritäre Jahrzehnte lang. In die 1970er und 1980er Jahre mit Feminismus, Pazifismus, Kritik der Kleinfamilie und mit einem Klima männlicher Selbstinfragestellung passte der Habitus der so genannten »neuen Väter«. Freiheit für den Mann (vgl. Pilgrim 1974, S. 95 f.) —das hieße, auch ihn »emanzipieren«, ihn von patri archalen Vorfesdegungen befreien. Sicher keine politische Bewegung, aber mehr als ein Bild: Der Mann, der sich im Sinne des skizzierten Partnermo dells als Erzieher versteht, der ebenso mütterlich agieren können will wie eine gegebenenfalls miterziehende Freundin oder Frau. Ob die miterzie hende Partnerin das Kind, dessen >Elter< man ist, selbst geboren hat, oder man selbst dieses Kind zeugte, spielte in diesem Modell keine Rolle. Die Vaterverantwortung rechtfertigt sich idealtypisch durch die Situation eines Zusammenlebens hier und jetzt. Sie ist auf die Zukunft gerichtet und nicht auf einen Ursprung in der Zeugung angewiesen. Das Pathos des »eigenen« Kindes2 mag im Spiel sein, auch bei dieser Form der Elternschaft. Biologi sche Verwandtschaft ist es aber jedenfalls nicht, die das »Eigene« begrün det. Elternschaft definiert sich »sozial«, das war die geläufige Formel für 1 Material zu einigen Aspekten findet man bei Drinck 2005. 2 Zum Topos des »eigenen Kindes« in Bioethik und Reproduktionspolitik vgl. Saborowski 2005.
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diese heute, zwei Jahrzehnte später, zwar nicht ausgestorbene, aber nicht mehr selbstverständliche Sicht.
2. Biologisierung Es war nicht der Spott über die neuen Väter, der die soziale Vaterschaft diskreditierte. Und es war wohl auch nicht —jedenfalls nicht allein - der backlash, also ein bei vielen Männern schnell aufkeimender Sinn dafür, dass man mit dem neuen Rollenbild des engagierten Vaters oder »Hausmanns« am Arbeitsmarkt wie im öffentlichen Leben doch auch alte Privilegien verliert. Es waren der Einbruch biomedizinischer Gesichtspunkte und genetischer Prognostik in den familiären Alltag sowie die Karriere der so genannten Reproduktionsmedizin, die —trotz verändertem Elternbild - die soziale Elternschaft verschwinden ließen. Mit den neuen Technologien und der biologischen Sichtweise, die sie vermitteln, hat sich die Welt rund um Schwangerschaft und Kinder tief greifend verändert. Kinder werden ge macht. Sie werden nicht nur geplant, sondern in einem durchaus wörtli chen Sinne »hergestellt«. Sicher hörte man die Redeweise vom »Kinderma chen« auch früher hin und wieder. Innerhalb weniger Jahre jedoch hat der Ausdruck seinen metaphorischen Charakter verloren. Natürlich ist es nicht so, dass über die Maßen viele Kinder im Labor hergestellt würden. Jeden falls bis zum Jahr 2005 sind in Deutschland künstliche Befruchtung, VorChecks von Samen oder Ei oder das Retorten-Befruchtungsverfahren ICSI statistisch gesehen die Ausnahme und nicht die Regel. Gleichwohl sind Verfahren der Kinderherstellung ein massenmedial mitreißend inszenierba res Thema, und es existiert bei jeder reproduktionsmedizinischen Neue rung sofort ein breites Bewusstsein dafür, dass es sie gibt. Wenn man aber eine ganz normale Schwangerschaft im Prinzip jederzeit in einer nahe gele genen Praxis oder Klinik herstellen kann, wenn vor jeder Erstschwanger schaft eine humangenetische Beratung (und eventuell die »assistierte« Al ternative) sich empfiehlt, wenn generell biochemische Qualitätssicherung und genetische Wahlfreiheit zumindest der öffentlich propagierten Idee nach für jedes Paar in Reichweite rücken, —liegt dann nicht eine Umwer tung nahe? Ausnahme und Regel werden vertauscht. Das Labor ersetzt das Bett. Das Labor steht für den Idealfall —und sind diejenigen, die da im Bett ihre Kinder machen, uninformiert, so erscheint ihr Tun als ein Produkti
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onsvorgang unter biomedizinisch unkontrollierten Bedingungen. Was nun aber, wenn ich selbst bei diesem Produktionsvorgang meines späteren Kindes gar nicht zugegen war? Findet dann nicht die Kinderherstellung sogar unter genetisch unwägbaren Bedingungen statt? Biomedizinisch gese hen zählen jedenfalls meine »Gene« nicht zu den Produktionsfaktoren hinzu. Was immer Gene sein mögen —bisher sind sowohl ihr Status als wis senschaftliche Tatsache (Kay 2000) als auch das Maß ihrer Macht über das individuelle Sosein (bzw. So-Werden) eines Menschen3 durchaus strittig. Der populäre Diskurs über Gene, Gesundheit und menschliche Eigen schaften ignoriert dies aber. Der populäre Diskurs reaktiviert einen erb biologischen Determinismus. Er reaktiviert das Muster der Weitergabe des Wesentlichen durch die Zeugung. Er reaktiviert auch das damit diffus verbundene Muster von eigen und fremd. Plötzlich fühlen sich die lediglich soziale Mutter, der lediglich soziale Vater unvernünftig. Und »unsicher«. Unter welchen unkontrollierten Bedingungen kam das Kind, mit dem sie leben, zustande? Was Betroffene dann höflich Zweifel nennen, ist nicht zuletzt Misstrauen: Tickt im Inneren des Kindes die Bombe >fremder< Erb anlagen? Studien zur neuen Wirklichkeitsmacht genetischer Modelle in der medi zinischen Kommunikation existieren erst vereinzelt.4 Halten wir die Vermutung jedoch fest: Parallel zum öffentlichkeitswirksamen Vormarsch der Reproduktionsmedizin in Europa hat sich innerhalb von wenigen Jah ren die Vorstellung von der Elternschaft naturalisiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Elternschaft nicht mehr primär die »gewachsene« Nähe oder die »Beziehung« qua Zusammenleben. Elternschaft ist vielmehr 3 Angefochten wird die zentrale Bedeutung der genetischen Ausstattung für die Eigen schaften des Individuums nicht nur (1) durch pädagogische und sozialwissenschaftliche Konzeptionen der Ontogenese, die das »Milieu« für prägend halten, oder aber (2) durch eine wissenschaftstheoretische Kritik der Biowissenschaften, die auf dem historischen Gewordensein der Biologie, dem changierenden Charakter des Objektes »Leben« (Foucault 1966) und dem self-fulßlling-pmpbecy Charakter populationsbiologischer Thesen beharrt, sondern neuerdings interessanterweise auch (3) durch die mit der Genetik um Forschungsgelder konkurrierende Himforschung. Letztere hebt das Gewicht des vorge burtlichen und frühkindlichen Lernens hervor (vgl. Roth 2003, S. 556, Singer 2003, S. 97 ff.) und bestreitet ausdrücklich die wissenschaftliche Bedeutung der Entschlüsse lung des Genoms (Singer 2003, S. 39). 4 Zu den irritierenden und biopolitisch disziplinierenden Auswirkungen humangenetischer Beratungsgespräche vgl. Nippert 1999, Samerski 2002 sowie zur Nieden mit einem Dis sertationsprojekt, das demnächst abgeschlossen wird.
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in erster Instanz die Weitergabe von Erbeigenschaften, von Krankheiten oder auch von erwünschten Qualitäten —von guten Genen aus einem »Genpool«, der auch viele schlechte Gene in sich trägt. Eltern heute wollen und sollen biomedizinisch gute Kinder haben. Die 1990er Jahren erlebten daher eine Renaissance der humangenetischen Beratung und ein vorher nie dagewesenes Breitenangebot an preisgünstigen, freiwilligen >Testsc Der Test und die verborgenen Eigenschaften gehören zusammen. Inzwischen gleicht schon die ganz normale Schwangerschaft einem medizinischen Testparcours. Sie ist begleitet von diskreten Ratschlägen zum Qualitätskind —nicht zuletzt angesichts der Gefahr von bei Mängeln anfallenden Kosten. Zugleich bestimmen populärwissenschaftliche Reißer über »egoistische Gene«, über die unbewusst an Erbqualitäten ausgerichtete Partnerwahl oder über den Sitz von Charaktereigenschaften im Gehirn das Bild des Menschen. Nicht weniges am Diskurs um die Verantwortung, das Wünschbare und die Wahlmöglichkeiten beim Eltemwerden erinnert an die international erste große Zeit von Eugenik und Sozialhygiene vor dem Ersten Weltkrieg.
3. Zeugungstechnologien Der soziale Vater verlässt die Bühne. Neuauftritt des erzeugenden Vaters in biotechnische Rüstung gewandet. Die Wiederkehr der Zeugung wird begleitet durch medizinische Verfahren, die genau das zu verheißen schei nen, was schon in der Antike dem Mann fehlte: In einer Welt voller poten tieller Konkurrenten um die Alleinverursachung seiner >eigenen< Kinder positiv prüfbar zu wissen. Was wiederum heißt: die hundertprozentige Kontrolle über das Zeugungsereignis zu haben. In actu oder ex post eine technische Sicherstellung der eigenen Urheberschaft zu haben. Oder, im Klartext: Die Ausschaltung des konkurrierenden Mannes ins Werk zu set zen —jenseits von bloßem Anschein oder bloßer Auskunft der Frau. Vergleichsweise wenig beachtet - weil aufwendig —bietet diese Mög lichkeit bereits die künstliche Laborbefruchtung ICSI: intra-cellular-semeninjection. In Deutschland wird ICSI seit 1994 angewandt. Schon ein Jahr nach seiner Einführung erreichte es vierstellige Einsatzzahlen.5 Mittel der 5 1993 gab es ICSI noch nicht. 1994 standen dann 16.175 normalen IVFs erstmals 5.856 ICSIs gegenüber; die Zahlen stammen aus Neidert 1998, S. 350.
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Wahl ist es namentlich in Fällen ehelicher Kinderlosigkeit, die auf einer Fertilitätsstörung auf Seiten des Mannes beruhen. Das Verfahren funktio niert so, dass man Eizelle und Samenzelle in der Petrischale nicht einfach nur gleichsam »schwimmend« in Kontakt bringt. Vielmehr wird mittels einer winzigen Pipette der Inhalt der Samenzelle direkt in eine Eizelle eingespritzt. Wenden Paare das Verfahren an, dann können sie in der Fertilitätsklinik erstmals tatsächlich auch Augenzeugen eines technisch vollzogenen Befruchtungsvorgangs werden. ICSI findet unter dem Mikro skop statt und ist leicht auf den Bildschirm zu bringen, oder man projiziert es für die »werdenden Eltern« im Kinomaßstab an die Wand. Dann ergibt sich in etwa folgende Szene6: Das Paar, das schon die diversen Entnahme prozeduren hinter sich hat, steht gemeinsam mit dem Arzt und gespannt wartend hinter der Laborantin, die über das Mikroskop gebeugt die gefüllte Pipette fuhrt. Das Paar hält verstohlen Händchen. Auf der Wand des ab gedunkelten Raumes ist die vergrößerte Nadel zu sehen, wie sie sich dem riesigen durchsichtig-runden Köper der Eizelle nähert, deren Haut vor sichtig eindrückt und sie dann plötzlich durchstößt. Der Pipetteninhalt ergießt sich mit einem schwungvollen Injektionsschwall in das Eizellenin nere. Kein Zweifel: Dies ist der Moment! Das Paar blickt sich atemlos an. Der Arzt wiederum nutzt, nach diskreter Schweigepause, die Gelegenheit, noch einmal zu erläutern, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass das so überaus anschauliche Verfahren tatsächlich zum gewünschten »Erfolg« fuhrt, zur Schwangerschaft also. Eine Zeugung in Ersatzvornahme —und doch eine Zeugung in Echtzeit, in einer vorher nie dagewesenen elterlichen Augenzeugenschaft. Eine Vaterschaft ohne Zweifel - nämlich eine (Ver wechslungen von Samen im Labor einmal ausgeschlossen) selbstkontrol lierbar »eigene« Vaterschaft. ICSI ist ein bemerkenswertes Verfahren. Seine eigentliche Pointe liegt ja darin, bei festgestellter Unfruchtbarkeit des Mannes seine (gesunde) Frau doch von ihm selbst schwanger zu machen. Das Verfahren dient also dazu zu verhindern, dass der Samen eines anderen Mannes verwendet werden muss. ICSI sichert die biologische Vaterschaft eines Ehemannes —wohlgemerkt: mittels einer Behandlung der (gesunden) Frau. Den Löwenanteil der Pro zedur hat die Frau zu tragen. An ihr muss eine durchaus riskante Hormon behandlung für die Eier-Emte durchgeführt werden, ihr wird die Eizelle operativ entnommen. Nach der Fusion der Substanzen im Labor wird der 6 Diese Szene war so in einem Video-Werbefilm der Deutschen Klink fü r Fortpfiinsgtngsmedi%'» GmbH (Bad Münder) im Jahr 2000 zu sehen.
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Frau das mit dem eingespritzen Samen versehene, sich teilende Ei wieder eingesetzt und sie wird hormonell nachbehandelt. Der Mann »spendet« lediglich »sein« Sperma und darf auf den Erfolg der Anstrengungen hof fen.7
4. Vaterschaftskontrolle Auf den Pfaden der Biotechnologie kehrt die Zeugung ins Beziehungsge flecht von Liebe und Elternschaft zurück. Einen dramatischen Höhepunkt dieser Entwicklung bilden die neuartigen Vaterschaftstests, die man mittels eines Genomvergleichs ohne viel Aufwand und Kosten durchfuhren lassen kann. Innerhalb von wenigen Jahren ist die Zahl solcher Tests nach oben geschnellt. Genannt werden für die Bundesrepublik derzeit circa bis zu 50.000 Tests pro Jahr (vgl. Rasche 2005, Reichert 2005) —diskret durchge führt von privaten Labors, deren Zahl ebenfalls schnell anwächst. Nie mand bestreitet, dass diese Tests in großer Zahl von Männern in Auftrag gegeben werden.8 In kürzester Zeit entstand da offenbar eine regelrechte Obsession von Vätern, an ihrer biologischen Erzeugerrolle zu zweifeln und auf eigene Faust - sprich: heimlich, ohne Wissen von Mutter und Kind (ern) - Vaterschaftstests durchzuführen. Meist ist der Zweifel falsch. Nur in einem Bruchteil der Fälle lautet das Ergebnis, dass keine biologische Verwandtschaft besteht. Verlässliche
7 Asymmetrisch gehandhabt wird auch die Altersfrage bei einem an die Reproduktionsme dizin gerichteten Kinderwunsch: Ältere Frauen, gar Frauen nach der Menopause werden nicht bedient, wiewohl dies rein technisch möglich wäre. Für den Kinderwunsch zeu gungsgestörter Männer existieren jedoch keine klaren Altersgrenzen (dazu Kettner 2001, S. 39). 8 Ohne Zahlen zu nennen schreiben Haas/Waldenmaier (selbst Laborbetreiber), es seien vor allem neue Lebenspartnerinnen geschiedener Männer sowie misstrauische Mütter und Schwestern und »erst am Schluss« die Männer selbst, die Tests in Auftrag geben. (Haas/Waldenmaier 2004, S. 27). Dies widerspräche jedoch nicht nur dem Betroffenendiskurs, sondern wirkt auch —ganz handfest —unwahrscheinlich, wenn man die norma len Umstände der Daten-Beschaffung bedenkt: Das berühmte Wattestäbchen wird wohl zumeist der Vater zum Einsatz bringen. Generell dürften neue Lebenspartnerinnen nur selten ihrerseits »heimlich« testen, also ohne Wissen desjenigen, dessen biologische Va terschaft es zu bezweifeln gilt. Man wird hier eher auf Zusammenarbeit schließen müs sen: Männer lassen »ihren« heimlichen Test durch Freundinnen, Mütter, Schwestern im Labor abgeben.
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Zahlen sind schwer zu bekommen, da die Medien und die Testanbieter das Klima des Verdachts schüren. Labors sprechen von einem Viertel in ihrem Zweifel bestätigten Nicht-Vätern (vgl. Haas/Waldenmaier 2004, S. 23) und behaupten, bis zu zehn Prozent aller Kinder (vgl. Reichert 2005) könnten untergeschobene Kinder sein. Diese Zahl stammt aus einer britischen Studie, die sich bislang nicht bestätigt hat. Andere Quellen nennen ein Fünftel sich bestätigender Verdachts falle (vgl. Spiegel Online 2004) und vermuten starke regionale Schwankungen. Geschätzt werden für Deutsch land etwa 7.000 Geburten von so genannten »Kuckuckskindem« —unter jährlichen circa 730.000 Geburten (vgl. Rasche 2005, Schrep 2004). Das wären weniger als ein Prozent. So oder so: Auf diese Kinder (und ihre Mütter) ist seit etwa fünf Jahren die Jagd eröffnet. Private Labors werben offensiv mit der »Sicherheit«, die jeder Vater, der zweifeln möchte, für wenige hundert Euro und ohne Vorlage einer Zustimmung der Betroffe nen erlangen kann. Die Treffsicherheit der preiswerten Testverfahren ge nügt gerichtlichen Anforderungen zwar nicht. Ein negatives Testergebnis ist aber doch —rein biologisch-technisch gesehen - ein starkes Indiz. Juristisch gesehen bewegt sich der heimliche Test in einer Grauzone. Die »Sicherheit« des zweifelnden Vaters wird ja hergestellt, ohne dass die Mutter und das getestete Kind sich gegen das neu in die Welt gekommene Wissen hätten wehren können —dabei sind beide vom Testergebnis ebenso intim betroffen wie der zweifelnde Mann, und beide haben ein Recht auf Schutz ihrer medizinischen Daten sowie ihres Willens zur Unwissenheit. Hier greift das Gewaltmonopol des Staates: Ohne Zustimmung der Betrof fenen dürfen Privatpersonen einander gegenseitig nicht genetisch ausfor schen. Sie dürfen auch nicht durch einseitige Übergriffe informationelle Fakten schaffen - Grundrechte der Betroffenen stehen dagegen. Allein die Justiz darf unfreiwillige Gentests vornehmen, und dies setzt eben den »begründeten Verdachtsfall« voraus: eine hinreichend untermauerte Klage des zweifelnden Vaters. Wer sich hinterrücks die >Sicherheit< verschafft, nicht nur der (bisher fraglose) soziale Vater, sondern auch der biologische Erzeuger zu sein, tut dies also gleichsam durch Selbstjustiz. Der strafrecht liche Blickwinkel ist also klar: Wer seine biologische Erzeugerschaft an zweifelt und dafür Verdachtsgründe nennen kann, soll ein ordentliches Verfahren anstrengen. Zum Zweck der Untermauerung einer Klage darf er freilich nicht illegal Beweismittel sammeln. Ein widerrechtlich erlangtes Beweismittel darf vor Gericht nicht verwendet werden, das ist ein alter
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rechtsstaatlicher Grundsatz. Die ehrenwerte Absicht, ein eigenes Recht zu beweisen, rechtfertigt keinen Rechtsverstoß. Am 12. Januar 2005 hat der BGH in zwei von Vätern anhängig ge machten Streitsachen eben dies klargestellt: Das Ergebnis eines heimlichen Vaterschaftstests reicht nicht für den zur Eröffnung eines Verfahrens zur Vaterschaftsfeststellung (und gegen die Mutter) erforderlichen Anfangs verdacht aus —und zwar »aus Rechtsgründen«: Die heimliche Klärung der genetischen Identität ist ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von Kind, Kindsgeschwistern und Mutter.9 Zur selben Zeit stellte die amtierende Bundesjustizministerin Zypries (SPD) ein ge setzliches Verbot heimlicher Vaterschaftstests in Aussicht - und das Land Baden-Württemberg legte seinerseits dem Bundesrat das genaue Gegenteil vor: den Entwurf eines »Gesetzes zum Schutz der Persönlichkeitsrechte bei Abstammungsuntersuchungen«. Der Entwurf erklärt, im Falle eines Rechtes auf Kenntnis der Vaterschaft diene die Verwendung von »Gen material ohne Einwilligung« einem »legitimen Ziel«, und die Heimlichkeit schone »die bestehende familiäre Beziehung«, den »Familienfrieden« (Ge setzesantrag des Landes Baden-Württemberg vom 21.4.05, Bundesrat Drucksache 280/05, S. 5). Der baden-württembergische Entwurf sieht die Legalisierung heimlicher Vaterschaftstests vor. In der politischen Arena, in Illustrierten und Feuilletons, in Internetforen sowie auf den Leserbriefsei ten der überregionalen Zeitungen geht es hoch her. Männergruppen haben das Thema der heimlichen Tests als Geschlechtergerechtigkeitsthema entdeckt. Gender Mainstreaming umgekehrt: Männer fordern ihr »Recht auf Wissen« als eine Frage der »Gleichstellung«. Sie beklagen eine fehlende Gleichbehandlung der Väter: Frauen wüssten 9 Vgl. BGH-Urteile XII ZR 60/03 und XII ZR 227/03 vom 12.1.2005. - Zur Kritik nicht des konventionellen bzw. »sozialen« Charakters der Vaterschaft, aber der Entscheidung des BGH, das Verwertungsverbot so eindeutig durchschlagen zu lassen, Ogorek 2005. Die Autorin spricht von einem »Griff« in die »juristische Trickkiste« (S. 479) und hält die Fokussierung auf die soziale Dimension von Familie für »archaisch« (S. 486). Beim »Ge schäft der Neuorganisation alter Figuren und Strukturen« für Eltern- und Vaterschaft gelte es, »Prioritäten« zu ermitteln und »offen auf den Tisch« zu legen (ebenda). Dem könnte zuzustimmen sein, wenn sich die Existenz des heimlichen biologischen Instru ments nicht so einseitig als schlummernde Option nur eines Elternteiles auswirken würde: Es wäre eben einseitig der - dank heimlicher Biologie: nur »scheinbare« - Vater, der die Kündigung einer (bis dato auch von ihm selbst gelebten) sozialen Elternschaft wie ein schwebendes Vetorecht oder, schlimmer, als Erpressungsmittel gegen die Mutter einsetzen kann. Neue Prioritäten können durchaus offen auf den Tisch, aber es sollten soziale Prioritäten sein.
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um ihre Elternschaft, Männer nicht, und das sei ungerecht. Die Betrügerin werde staatlich geschützt.10 Der Gesetzgeber decke weibliche Lügen (vgl. Knipphals 2005). Das geplante Testverbot ergebe ein »Schlampenschutzgesetz« (vgl. Spiegel Online 2005). Derlei Argumente lenken mehr oder weniger erfolgreich davon ab, dass an der Strafbarkeit einer falschen Vaterschaftsbehauptung durch die Mut ter gar kein Zweifel besteht. Schon immer galt und gilt, dass die so ge nannte »Unterschiebung« eines Kindes (einschließlich des damit verbunde nen Betrugs in Sachen Unterhaltszahlung) strafbar ist. Das Delikt wird nach § 169 StGB als »Personenstandsfälschung« mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. Ist es erwiesen, so zieht dies Rückforderungsansprüche nach sich. Der Mann bekommt Unterhaltsleistungen zurück, die er auf grund einer irrigerweise anerkannten Vaterschaft gezahlt hat. Die neuen Testmöglichkeiten sind also keineswegs das erstmalige Mittel für Männer, sich gegen Mogeleien in Sachen Vaterschaft zu wehren. Sie sind etwas ganz anderes: Sie geben erstmals den Männern die Möglichkeit, unverbindlich und ohne dass irgendein gerichtlicher Automatismus in Gang gesetzt würde, seine ureigensten Kontrollphantasien auszuleben. Der pater familias kann zweifeln, er kann ohne das Gespräch mit Frau und Kindern die Probe aufs Exempel machen und er bleibt auch nach der Erlangung des >Wissens< noch ganz der Herr des Verfahrens. Jedenfalls vordergründig kann das heimliche Misstrauen nach heimlichem Test folgenlos bleiben: Es entscheidet nicht bereits ein Richter, wie es weitergeht.
5. Schleifen des Verdachts Einsame Rollenklärung, kein Gespräch oder eine andere, offenere Form des Umgangs mit dem eigenen Zweifel. Eigene Sicherheit zählt. Wie Fall geschichten zeigen, fragen sich Männer sehr oft erst nach dem Erhalt ihres Testergebnisses, was sie mit der neu gewonnenen Sicherheit denn nun eigentlich anfangen wollten —und empfinden sich dann als Opfer der von ihrer eigenen Wissbegierde ausgelösten Dynamik: Das Kind ist das leiblich eigene, fühlt sich aber hintergangen und bricht die Beziehung ab. Vater und Kind erfahren von der Existenz eines fremden, »biologischen« Vaters 10 So der Aktivist Dietmar Nikolai Webel vom Verein V'äteraußjruch fiir Kinder,; zitiert bei Rasche 2005.
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und leiden gemeinsam darunter, dass der bisher einzige Vatet plötzlich nicht mehr der Vater sein soll. Der Vater findet seinen Verdacht bestätigt und kann nun plötzlich alle Rechte an seinem Kind verlieren. Noch dra matischer wird die Lage, wenn neue Ehefrauen oder Schwiegereltern sich für die Frage der »wirklichen« Elternschaft eines Mannes zu interessieren beginnen, wenn also Angehörige heimlich testen, etwa weil sie ihren Mann oder Sohn von Unterhaltszahlungspflichten »befreien« wollen. In einem solchen Fall widerfährt dem Vater selbst der Schlag eines aufgezwungenen Wissens. Der Test ist nur scheinbarer Endpunkt der emotionalen Probleme des Vaters, das wird in allen Lagern betont: Von denen, die einen von der Frau verheimlichten »Seitensprung« im Zentrum der väterlichen Betroffenheit sehen und gesetzliche Deregulierung fordern (Haas/Waldenmaier 2004), wie auch von denen, die vor allem das massenhafte grundlose Misstrauen vor Augen haben - und dessen Opfer. Wer einfach testet, nimmt keine Rücksichten auf diejenigen, die von den neu ermittelten »Fakten« ebenso sehr betroffen sind wie er selbst (vgl. Rasche 2005, Pötter 2005, Schaf 2004). Was dunkel bleibt, sind die Ursachen jenes merkwürdigen Bedarfs nach sicherem Wissen. Einem Wissen, das ja die Frage der sozialen Vater schaft nicht klären kann, das sich vielmehr allein auf das Zeugungsmoment bezieht, auf die nur qua Labor feststellbare biologische Komplikation. Welche Rollenproblematik soll da wohl geklärt werden, wenn ein Vater sich fragt, ob er >wirklich< der Vater der von ihm großgezogenen Kinder ist? Wann und warum genau kann das Wissen - jenes Wissen um die bio logischen Tatsachen - so wichtig werden, dass jemand die Existenz derje nigen Beziehungen aufs Spiel setzt, die durch die Rückgewinnung von Sicherheit geklärt werden sollen? Dass er eine Realität retten will durch eine Handlung (den heimlichen Test), die auf jeden Fall diese Realität ver ändern wird? Offenbar befindet sich der Zweifler in einer Vertrauenskrise: Wird nicht offen mit mir gesprochen? Schweigt sich die Liebste und Mutter der gemeinsamen Kinder über eine andere Liebe aus? Kommt der Beziehung der gemeinsame Urgrund abhanden? Wenig plausibel freilich, dass die Sorge um fehlendes Vertrauen ausgerechnet durch einen Vertrauensbruch heilbar würde. Was der Test bietet, ist eher das, was sprichwörtlich »besser ist« als Vertrauen. Er bietet Kontrolle. Mit einer kleinen Wendung lugt denn auch aus der angeblichen Vertrauensfrage tatsächlich ein etwas ande res Problem, nämlich die Eifersucht, heraus: Gibt es da Nächte, die sie mit
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einem Anderen hatte? Wurde ich betrogen? Kann ich ausschließen, Opfer einer Lüge geworden zu sein? Lebte ich nur vermeintlich im Zentrum meiner Wirklichkeit - und ist das, was ich für das >meinige< hielt, gar nicht mein?11 Schlug mich ein Konkurrent? Liest man in den auf Internetseiten von Männergruppen dokumentier ten Mitteilungen von betroffenen Vätern, sprich: Vätern, die getestet ha ben, so erscheint die Zeugungsfrage für den zweifelnden Erzeuger stets wie ein experimentum cruds —man weiß nur nicht so recht worauf bzw. wo für. Nach der Trennung steht der Test für die Legitimität (aber auch die Verpflichtung) einer Fortsetzung der Beziehung zu den Kindern: »Die Gewißheit, daß es meine Kinder sind, hat mir sicherlich auch viel Kraft gegeben, mich dagegen [= gegen die Forderungen der Ex-Frau, PG] zu stemmen, um über alle drohenden Frustrationen des drohenden Kindes entzuges hinwegzukommen. [...] Heute sind meine Kinder alle 2 Wochen drei Tage bei mir, ergänzt durch Telefonate und Kindergartenfeiern. [...] Mein Engagement habe ich nicht zuletzt dem Vaterschaftstest zu verdan ken.« (Internetforum http://www.pro-test.net im Mai 2005) Der Test als Unterpfand für die Vaterrolle —aber auch als corpus delicti. Sagt es die Biologie, dann muss man zur Vergangenheit stehen: Sie besteht tatsächlich, überprüftermaßen, die unangenehme Zahlungspflicht. Diesseits einer Trennung - und überhaupt - scheint die Neudefinition des Verhältnisses zu den bis dato eigenen Kindern jedoch keineswegs das einzige Thema. Das eigentliche Drama, das der Topos des »Zweifels« verbirgt, heißt: Ehe bruch, Untreue —und: ein anderer Mann! »Was der andere Mann mir an getan hat, empfinde ich schlimmer als Mord«, so die Aussage eines Man nes, dessen ihm intakt erscheinende Ehe zerbrach —nach einem negativen Vaterschaftstest, den er wegen Unähnlichkeit des Kindes vornahm (zitiert in Spiegel Online 2005). Ein anderer Mann schlief mit der eigenen Freundin oder Frau, wohlge merkt: Er mit ihr, nicht sie mit ihm. Da ist sie wieder: Die Zeugungskon kurrenz unter Männern und die Schmach einer Niederlage, die weniger die Liebesbeziehung als die eigene Zeugungspotenz und die männliche Iden tität im Vergleich unter Männern betrifft. Man lese Dokumente des bestä tigten Verdachts: Die Enttäuschung betrifft die >Untreue< der Partnerin, dennoch ist seltener von der Trauer um verlorene Liebe die Rede. Was durchscheint ist vielmehr der Hass aufgrund von Verrat - Verrat an den
11 Vgl. zur abstrakten Logik eben dieser Zweifelsform Gehring 2001.
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Gegner. Das »Kuckuckskind« dokumentiert so etwas wie den Pakt der vermeintlich »eigenen« Frau mit einem anderen Mann. Anstelle meiner selbst verewigt sich dieser Mann in den vermeintlich »eigenen« Kindern. Und: Steckt im vernichtenden Testergebnis gar ein Urteil der Natur? Der aktuelle Diskurs über Vaterschaftstests wird angeheizt durch populari sierte Soziobiologie. In der Zeugung überrunden Männer einander im Wettlauf um das >Ausstreuen< der besseren Gene: Mit dieser Grundan nahme operiert das Ratgeber-Sachbuch über den Kuckucksfaktor der La borbetreiber Hildegard Haas und Claus Waldenmaier, mit ihr spielt aber auch die Berichterstattung des Spiegel und anderer Medien. Nicht nur er scheint dann als einziges Kriterium der Vaterschaft die Zeugung, sondern das ganze Sexualverhalten von Mann und Frau folgt »biologischen« Moti ven. Frauen wollen gute Gene. Interessanterweise stehen - neben den Männern, die ihr Erbgut schlicht «treuem wollen - vor allem die Frauen im Mittelpunkt der Soziobiologie des Vaterschaftszweifels. Frauen treffen eine raffinierte Qualitätswahl. Sie sind seltener untreu, dafür aber begrün deter untreu, nämlich weil sie —womöglich unbewusst —im anderen Mann den genetisch besseren Erzeuger erkennen: »Sie will einen besseren, er will eine andere.« (Haas/Waldenmaier 2004, S. 65) Demnach hätten Frauen drei Motive zum Seitensprung: den Reproduktionswunsch, den Wunsch nach attraktiven Söhnen mit guten Reproduktionschancen und den Wunsch zur Selbsteinschätzung der eigenen Attraktivität (vgl. ebd., S. 66 ff,). Uralte Ressentiments im biologischen Gewand: Der dumpf rein quantitativ vermehrungsgierige Mann und die raffiniert-wählerische Frau, die gezielt den Besseren zum Zuge kommen lässt und den Schwächeren bestraft. Anders gewendet: Der Mann als Erzeuger - von einer Welt voller Misstrauensgründe umgeben. Zum einen die Frauen, schwach, aber (um der Gene willen) listig und intrigant. Zum anderen die zentrale Bedrohung: der >bessere< Mann. Der stärkere Gegner ist das eigentliche Gegenüber des europäischen Mannes, der Fortpflanzungs-Konkurrent. »Das einzige Pro blem, das Männchen in der Evolution haben, sind andere Männchen«, zitiert der Spiegel die US-amerikanische Verhaltensforscherin Hawkes (zi tiert nach von Bredow 1999). Auf eigentümliche Weise scheinen sich an tike Ethik und neodarwinistische Soziobiologie die Hand zu reichen. In der Zeugungsfrage lauert der Sieg des Gegners. Er, nicht ich, trägt das, was »mein« schien, als Trophäe nach Haus.
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6. Biologischer Vorbehalt Bleibt die rätselhafte Obsession, der Test müsse gemacht werden, jenes technische Beweisstück in Sachen Zeugung müsse her —jene Extra-Sicherheit, die dem Vater bestätigen soll, was in der Regel keiner außer ihm selbst bezweifeln möchte. Nämlich dass er »wirklich« der Vater ist. Der Test mag als vielerlei fungieren: Als Waffe gegen Unterhaltsansprüche, als zeitliches Ende eines als Unsicherheit erlebten Misstrauens, als Selbstbestätigung. Er ist aber offenbar mehr als das: Feuerprobe, Prüfung, Mutprobe, einsame Flucht nach vom, Gottesurteil, Wahrheit um jeden Preis. Rein technisch gesehen, hat der Vaterschaftstest die Aura des bloßen Mittels zum Zweck. Dennoch ist er weit entfernt davon, ein bloßes Instrument zu sein. So ein Testergebnis ist in der Tat eine seltsame Sache. Es nimmt ja nicht einmal Rücksichten auf die eigenen mittelfristigen Interessen des Vaterschafts-Bezweiflers selbst. Stellt sich heraus, dass der vormals fraglose Vater sein Kind biologisch nicht gezeugt hat, so kann er alle seine Rechte als Eltemteil verlieren. Das Vertrauen in seine Familie kündigte er durch sein Stillschweigen selbst auf. Wie also geht ein sozialer Vater, der sich biologisch als Nicht-Vater zu erkennen hat, mit dem Wissen um, das er sich heimlich erwarb? Fraß schon der Zweifel an der Seele, stürzt dann nicht erst recht das - nun >sichere< —technogene Wissen allen inneren Frieden um? Spätestens nach dem heimlichen Test dürfte genau das Ge spräch überfällig sein, das schon vor dem Test fällig gewesen wäre. Der Unterschied ist nur, dass die heimliche Attacke dessen Ausgang zusätzlich belastet. Hebt die eine Lüge die andere Lüge auf? Der aktuelle Vertrauens bruch lässt sich mit dem Seitensprung in der Vergangenheit schon deshalb nicht verrechnen, weil dritte, nämlich Kinder und weitere Verwandte, be troffen sind. Der Test verspricht wissenschaftlich-objektive Auskunft. Damit mag er dem Verwender im Vorfeld eine Macht suggerieren, die er im Endeffekt gar nicht verleiht. Eine objektiv richtige Position wird der Zweifler kaum gewinnen. So etwas wie ein schlichtes >Rechthaben< steht in der komplizierten Auseinandersetzung, die nach einem negativen Vater schaftstest ansteht, mit großer Wahrscheinlichkeit niemandem offen. Stellt sich heraus, dass der unangefochtene Vater grundlos zweifelte, so müsste er eigentlich noch viel tiefer getroffen sein. Mit voller Wucht stellt sich die Frage nach dem Grund der einsamen Obsession und nach der Berechtigung, diese zum Gesetz des Handelns zu machen. War es Macht wille? Selbstgerechtigkeit? Die Anmaßung, Vertrauen sei gut, Kontrolle sei
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besser? War es die stille Hoffnung, die —seinerzeit ja anerkannte —Vater schaft und finanzielle Verantwortung ließe sich abstreifen? War es die hässliche Fixierung auf die eigene Zeugungskraft und die Konkurrenzfrage und den anderen Mann? Der vaterschafts-positive Test verschleiert all diese Fragen in einem einfachen und vorgeblich beruhigenden Nein. Testbefürworter berufen sich auf eben diese einfache Beruhigung. Gerade durch seine Heimlichkeit sei der verdeckte Test harmlos. Er schütze die Familie. Viel eher als der unauf fällig erledigte grundlose Zweifel werde doch das Reden über den grundlo sen Zweifel die Beziehung zerstören. Der heimliche Test sei also der schonendere Weg. Vor allem sei er im Interesse der Kinder.12 Der Wiederkehr der Zeugung, dem Einbruch der Biologie in die Beziehungen leisten solche pragmatischen Überlegungen Vorschub. Wem kann es im Ernst nützen, wenn jeder Vater (klammheimlich) seine RoUe unter den biologischen Vorbehalt stellt? Wenn die Logik des Verdachts und die Logik des Verschweigens in Gestalt eines Rechts auf (heimlich erlangtes) Wissen festge schrieben würde, so wie es der erwähnte Gesetzesantrag des Landes Ba den-Württemberg vorsieht? Was der Gesetzgeber hier zu vermeiden sucht, sind die teuren und folgenschweren formellen Vaterschaftsklagen, mit denen er in der Epoche der sich auf die Zeugung besinnenden Väter wohl rechnen muss. Zumindest die Masse der unbegründeten Zweifler soll durch den Bescheid der billigen Privatanbieter schnell und unbürokratisch bedient werden. Nichtbefassung der Justiz: Eine Ersparnis um den Preis des Rechtsschutzes des Betroffenen und unter Inkaufnahme einer Beweislastumkehr. Vorfahrt nicht für das Erfordernis des Vertrauens, sondern für den diskreten Beweis. Für die normative Priorität einer in Wert gesetzten Biologie.
7. Sicherheit In Europa zahlt der verheiratete Vater für Kinder, die die Frau, mit der er zusammenlebt, geboren hat —und der unverheiratete zahlt nach Anerken 12 Ulrike Börger, Vorsitzende des Familienrechtsausschusses bei der Bundesrechtsanwaltskammer, zitiert bei Schaf 2004. Ähnlich die Begründung zum Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg: Bei einer Offenlegung des Zweifels an der Vaterschaft sei »in vie len Fällen zu befiirchten, dass der Familienfrieden nachhaltig gestört wird.«
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nung. Er kann Sorgerecht übernehmen, er hat Ansprüche darauf, seine Kinder zu sehen, er kann qua Vaterschaft sein Vermögen vererben —und wenn er Kinder adoptieren will, stellt das Recht die angenommenen Nach fahren den selbst gezeugten Kindern gleich. All dies verhält sich so, weil Vaterschaft in unserer Gesellschaft immer eine normative Tatsache gewe sen ist —und weil das Familienrecht Verantwortung auf Beziehung grün det. Unter dem Druck der Biologie geraten die Kategorien durcheinander, genauer: unter dem Druck der Gen-Diagnostik, der eine wirklichkeitsstif tende Bedeutung zugebilligt wird. In kürzester Zeit ist der Test auf die genetische Abstammung zu einem unverbindlichen Werkzeug geworden, das Rollen- und Beziehungsrealitäten zu verändern droht. Was der Test nachträglich herstellt, leistet die riskante Befruchtungstechnik ICSI in Echtzeit: Die biologisch >eigene< Nachkommenschaft kann dem Mann garantiert werden - in voller Transparenz, nämlich durch die sichtbare Direktimplantation des Spermiums in den Körper und in das Ei der Frau. Im Zeichen der Zeugung ist das alte Spiel wieder eröffnet: Um Urheber schaft und Habe und um die Zeugung als Grund des Liebesakts sowie der Familie —und zwar um die >eigene< Zeugung, um das Kind in der Frau als die eigene >Tat<. Einst wurden Frauen eingesperrt, um für Zeugungsein deutigkeit zu sorgen. Nun leistet Ähnliches der Gang ins biomedizinische Labor. In der Antike sang der Mythos von der prekären und eben daher so schrecklich >heroischen< Kausalität des Mannes. Heute wird sie ihm gene tisch dokumentiert.
Kapitel 6 Die Zukunftspolitik der Bioethik
Bioethik ist >angewandte< Ethik; sie nimmt Problemstellungen auf, um sie zu lösen. Bioethik durchdenkt also moralische Probleme nicht nur, son dern spricht anwendbare Empfehlungen aus. Angesiedelt ist Bioethik in einer Übergangszone zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: Sie ist mehr in politiknahen Gremien und Medien —Kommissionen, Ethikräten, Feuil letons —anzutreffen als in Hochschulforschung und Lehre. Und als Dis ziplin ist sie so jung wie ihr Name.1 Als angewandte Ethik ist Bioethik auch eine Disziplin, die wertet. Sieht man näher hin, dann hat man es dabei nicht mit einfachen Wertungen zu tun, einfach mit wertenden Entscheidungen im Hinblick auf ein bestimm tes, durch Biotechnologien oder Biowissenschaften hervorgerufenes mora lisches Problem. Vielmehr enthält Bioethik von vornherein eine Art dop pelter Wertung. Denn sie betrachtet die vorgegebene Problemlage, der sie sich zuwendet, per se als lösbar. Auch das ist eine Wertung. In der Partei nahme für den Weg der >Lösung< eines gegebenen Problems unter gegebe nen Voraussetzungen liegt ein Urteil, das man seinerseits und gesondert in Zweifel ziehen könnte: Das gegebene Problem ist als - moralisch, poli tisch, historisch - notwendig erklärt, seine Lösbarkeit gilt als sicher oder mindestens erscheint seine jeweils beste Lösung als machbar und zu ver treten. Mit dieser Voreinstellung auf das als solches nicht hinterfragte Ge gebene beinhaltet jede Suche nach >ethischen< Kriterien eine Vorentschei dung für den Status Quo. Man löst das Problem durch Schritte nach vom. Man denkt vom Ausgangspunkt her und in Richtung der Lösung. Man sucht den Weg des Fortschritts im Allgemeinen. Ablesbar ist dies daran, wie Bioethik sich ihre Problemlagen zurechtlegt. Eine zentrale Metapher im bioethischen Feld ist die der >Grenze<, die durch die Existenz einer bestimmten Technologie berührt sei oder aber
1 Zur Herkunft des Begriffs >Bioethik< siehe Honnefeider 1995, S. 298.
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schon >überschritten<. Eine mehrdeutige Metaphorik. Moralische oder ethische Grenzen, die zu ziehen theoretisch möglich wäre, werden kon frontiert mit dem Bild einer bereits eingetretenen Verletzung, einer Ver schiebung oder eines Verlustes bestehender Grenzen. Als Grenzen zerstö rend erscheint das, was man die mit Biotechnologien verbundenen »neuen Möglichkeiten nennt, nämlich bestimmte praktische Möglichkeiten, die wohl >neu< sind, aber aktuell doch schon wirklich gegeben. Grenzen ziehen —und zwar neue Grenzen ziehen: Dies soll die ethische Reflexion leisten. Potentielle Schranken stehen gegen potentielles Tun. Diese zweifache Bezogenheit auf Mögliches ist für die Bioethik typisch. Sie verwirrt, und diese Verwirrung hat Methode. Sie sorgt für eine Umlenkung des Blicks: Die Abwägung wird auf eine bereits als notwendig erscheinende Zukunft unse rer Gegenwart gelenkt und findet sich damit sozusagen in einem virtuellen Spielraum wieder, in dem eine erste Grenzüberschreitung immer schon bejaht ist, um deren >ethische< Bewältigung es geht. Die neuen Möglichkeiten wiederum erscheinen als Gefahr, zugleich aber auch als Eröffnung nie dagewesener Chancen. Sachzwang und Ge staltungshoffnung liegen so eng beieinander, dass objektive Unentscheidbarkeit das Bild beherrscht. Nicht darauf jedoch möchte ich eingehen also auf das Amalgam von Sachzwanglogik und Heilsversprechen in der Bioethik. Sondern ich lenke den Blick auf das speziellere Problem der Zeit. Es lässt sich feststellen, dass und wie die Bioethik mit dem geschilderten Ansatz auch eine sehr spezielle temporale Logik in Anschlag bringt Ich werde im Folgenden von einer »Zukunftspolitik« der Bioethik sprechen, denn indirekte Zukunftsvorgriffe prägen ihren Diskurs, und es ist eine Logik der zeitlichen Vorwegnahme, die ihr Durchschlagskraft gibt.
1. Neue Möglichkeiten Bioethik wird als Technikfolgenethik betrieben, und die Formel von den neuen Möglichkeiten enthält eine Sicht der Dinge, die für das gesamte Feld der Technikfolgenethik charakteristisch ist. Sie wurde eben bereits ange deutet. Gegeben ist ein Problem. Es erscheint zwar neu, aber es erscheint auch notwendig und vor allem dringend. Technologische wie auch wissen schaftliche Neuerungen sind zwar stets institutionell hervorgebracht, aber sie stilisieren sich als Überraschungen; sie setzen die Gesellschaft unter
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Reaktionsdruck. Neue Möglichkeiten stehen an, wie man so schön sagt. Sie scheinen aus dem Nichts zu kommen und bieten sich als ein Machbares an. Selbstgeschaffenes tritt auf, aber versehen mit dem Druck einer histori schen Notwendigkeit. Öffentliche Auseinandersetzungen werden vor diesem Hintergrund eine dann gleichwohl freie Entscheidungsperspektive annehmen, sie arti kuliert sich in der ersten Person Plural: Möglichkeiten erscheinen dann als das, was angesichts neuer Möglichkeiten, die eigentlich schon neue Reali täten sind, durch >uns<ergriffen werden könnte. Zugleich könnten >wir<es auch unterlassen, sie zu nutzen, sie ganz aus^uschöpfen oder überhaupt sie tvahrQtnehmen. Problemlösungsdiskurse unterstellen also Autonomie - eine vor ausblickende Freiheit technischer wie moralischer Art. Limitiert ist die Freiheit jedoch auch - gemäß dem Bild einer zu verteidigenden G renze. Genau genommen handelt es sich um eine Grenze, die vorher gar nicht im selben Sinne als Grenze erschien. Die technische Grenzüberschreitung verkörpert einen Prinzipienbruch, der eine Verbindlichkeit zerstört, die man vorher so gar nicht herausgefordert sah - es sei denn wiederum im Vorausblick. Ist eine neue Möglichkeit in der Welt, gilt, dank einer eigen tümlichen Wirklichkeitsmacht, die sie gewinnt: Sein bricht Sollen. Mit ei nem Schlag erscheint eine moralische Schranke überschreitbar geworden. Und auf seine Weise hat schon das bloße Faktum der Überschreitung, die pure Wirklichkeit der technisch neuen Option, die Überschreitung legiti miert. Das Machbare rechtfertigt sich selbst, verweist sein Stammbaum auf wissenschaftliche Forschung. Im Zusammenhang mit der Frage der neuen Reproduktionstechnologien haben prompt gewichtige Stimmen wie Jo hannes Rau, Ernst-Ludwig Winnacker und Hubert Markl nicht etwa disku tiert, was zu tun sei, wenn die moderne Medizinforschung den »Rubikon« üb ersch ritte, sondern allein darüber, ob der Grenzfluss bereits üb erschrit ten sei. Sei dies nicht der Fall, bliebe diesseits der Grenze »noch viel Raum« (Rau), ansonsten könne der moralische Reflex nur überflüssig sein.2 Moral oder auch Politik sind in der Defensive. Was geschieht? Nicht die neue Wirklichkeit wird reflektiert, etwa die historische Wünschbarkeit oder Gewolltheit einer Technologie, sondern der richtige Umgang mit den Möglichkeiten, die die Technologie freisetzt. Diesseits wie jenseits der überschrittenen Grenze scheint allein die ratio nale (Wahl-)Entscheidung zu bleiben —als Wahl angesichts vorgeg eben er 2 Eine Dokumentation der genannten Beiträge findet sich in Geyer (Hrsg.) 2001.
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Optionen. Man will die Kriterienfrage nicht aus Überzeugung beantworten, sondern darbieten als »rationale« Reflexion auf Alternativen. Und Rationa lität wird verbürgt durch hinreichend anwendungsnah operierende Reflexi onsexperten. So führen >neue Möglichkeiten< sowie der Diskurs der über schrittenen >Grenze< als Überforderung oder Ende der Moral geradewegs in die Bioethik hinein. Bioethik überfuhrt den politischen Umgang mit Lebenstechnologien in das Medium einer expertengeleiteten Debatte, die gleichwohl öffentlich stattfindet und dabei —und zwar im Namen aller —ein kollektives Abwä gen von Möglichkeiten vorspielt. Sie macht plausibel, was im Hinblick auf Zukunft notwendig, geboten und fällig ist.
2. Wirklichkeiten aus dem Labor Schaut man genau hin, dann bestehen >neue Möglichkeiten meist aus un geheuer vielen kleinen, je für sich nicht sonderlich spektakulären Schritten. Sie sind Resultat von Routinen, die sich zu einer Aussage verdichten, die erstens neu ist und zweitens auf neue praktische Optionen hinausläuft oder hinauslaufen könnte. Werden Labor-Realitäten Teil weitergehender gesell schaftlicher Wirklichkeiten, dann haben sie ihren Kontext gewechselt, aber auch die Sprache, in der man sie beschreibt. Innerhalb des Labors gibt es die Grenze, den Zusammenhang, der die politische Grenzüberschreitung ausmacht, praktisch gar nicht. Das Labor ist, im Gegenteil, eine reine Möglichkeits-/Möglichkeitenkammer. Das Experiment ist genau die Aus schaltung derjenigen weltlichen Bedingungen, in deren Kontext einer wis senschaftlichen Tatsache womöglich auch technologische Bedeutung zu kommen kann, wenn man sie zur Anwendung bringen kann —ein Transfer, der idealtypischerweise nachträglich geschieht. Verantwortlich ist die wissenschaftliche Forschung angestammterweise zunächst nur für das Labor. Werden Probleme für Publikum und Wissenschafder spürbar, spätestens dann, wenn aus der Forschung problemati sche Meßbarkeiten erwachsen, so wird ein merkwürdiger Sprung fällig: Verantwortung muss zugerechnet werden, und auch im Labor sieht man sich, von der Unschuld reiner Möglichkeiten herkommend, plötzlich kom promittiert durch die >Anwendung<, durch unvorhergesehene Einsatzmög lichkeiten und Wirkungswirkungen, wie sie in einer sozialen Umgebung mit
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dem Alltäglichwerden des Neuen immer Zusammenhängen. Plötzlich be trifft das Neue alle - kn Modus des Jetzt oder der möglichen Zukunft. Das aufkeimende Bedürfnis nach Eingrenzung so genannter Technikfolgen endet in dieser Lage allerdings häufig wiederum an den Außenwänden des La bors. Man revidiert nicht, man verbessert die Technologien. Es bleibt bei einer Gewöhnung an dieselben: Man lernt. Wir lernen »mit der Technik um zugehen«. Wir lernen die neuen Möglichkeiten »kennen und schätzen«, und eine hinreichend große Gruppe von Konsumenten »gebraucht« sie, diese neuen Möglichkeiten, ist bereit, sie als Produkte zu bezahlen, und kurbelt die Nachfrage an. Was für Technik allgemein gilt, hat auch im Bereich der Bioethik Be deutung. Für Biowissenschaften heißt das: Je gewichtiger und wirkungsversprechender (vielleicht auch: teurer) die Technologie ist, die aufgrund ihrer Aussagen gefunden werden kann, desto wichtiger ist es, dass dieser Sprung aus dem Reinraum Forschung in die Welt der Anwendung hinein gelingt Das Neue braucht Akzeptanz, Vertrauen, Anwendungsfelder, Kundinnen und Kunden. Da zugleich die Biotechnik selbst sehr komplex ist (letztlich kann sie nur als Intransparenz kommuniziert werden), und das Innovationstempo der Biotechniken enorm ist, ist der Wunsch nach Ethik nicht nur einer der »Betroffenen«, sondern tatsächlich auch ein Wunsch der Anbieter selbst. Hier genau eröffnet sich das Arbeitsfeld der hauptberuflichen Bioethik. Nach ihr, das sollte man sich klarmachen, riefen nicht etwa zuerst und allein die >Bürger< oder >Verbraucher<, sondern die Wissenschaften und die Investoren, also, wenn ich so sagen darf: die Technologieanbieter selbst. Keine neue Technologie ohne ethischen Beipackzettel. Gemäß dieser Ma xime wird die Gewissheit, dass sich jenseits der bloßen Technik auch um die Frage der moralischen Verantwortbarkeit, der juristischen Haftung und der >Humanität< insgesamt Experten kümmern, zu einem Akzeptanz för dernden Bestandteil der Technologie selbst Für Technologen ist an Bio ethik genau dies attraktiv. Sie baut einem biopolitischen Angebot sozusa gen vorab sein politisches Gerechtfertigtsein mit ein.
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3. Die Beweislastverteilung in einer Neuemngsgesellschaft Bestimmte Grundbedingungen von Wissenschaft muten trivial an. Man sollte dennoch an sie erinnern, denn wo Bioethik auf den Plan tritt, sind sie von Gewicht - und nicht zuletzt im Hinblick auf deren Zeitbegriffe. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich damit eingerichtet hat, den Fortschritt arbeitsteilig zu produzieren. Das Postulat der Forschungsfreiheit ist hierbei zentral für alle Wissenschaften, die unter diesen Bedingungen autonom operieren möchten, aber auch für die Herausbildung eines ganzen »Sys tems« Wissenschaft, das in der arbeitsteilig fortschrittlichen Gesellschaft nur noch auf sich selbst Rücksicht nehmen muss und sich in diesem Sinne »autopoietisch« schließt (vgl. Luhmann 1990). Innerhalb der Forschung wiederum ist alles auf die Gewinnung von Neuem eingestellt —und wo die Forschungsfreiheit Verfassungsrang hat, beginnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschafder in zunehmendem Maße, entsprechende Eigenrechte auch auf die Produktion des Neuen politisch einzufordern. Wer Forschung und Technikentwicklung beschränken will, hat heute folglich de facto eine Beweispflicht: Warum darf man sich ausnahmsweise gegen einen Fort schritt anstetnmen, dessen prinzipiell gewollter Charakter schon durch die schiere Existenz der Institution Wissenschaft politisch verbürgt scheint? Auch die Bioethik folgt dieser Logik: Das Gewünschtsein von Fortschritt wird unterstellt. Das wissenschaftlich oder technisch Neue trägt keine Beweislast für den sozialen Sinn seiner selbst. Forscher können sich daher gleichsam immer schon als Bürger einet gegenwärtigen Zukunft geben. Diese Regel scheint bis jetzt relativ ungebrochen auch dort noch in Kraft, wo es Industrieforschung ist, die das Neue hervorbringt. Auch dass sich biotechnologische Errungenschaften in Marktwirt schaften auf ökonomischem Wege in der Welt verbreiten, ist zeitlogisch be deutsam. Weil das Neue stets als Produkt, als nachfragbares >Angebot< daherkommt, ist jedes Nein zur Nachträglichkeit verurteilt. Auch dabei herrscht jene Asymmetrie, dass nicht das Neue sein Erscheinen begründen muss. Es steht vielmehr für potentielles Wachstum. Märkte sind sozusagen per se zukunftsoffen. Wer sich gegen bloß >Angebotenes< sperrt, lautet die liberale Grundidee, kann ja jederzeit individuell verzichten. Der Einzelne ist also zum individuellen Rückzug gehalten - es sei denn, er kann den Nachweis führen, dass das Neue seine individuell geschützte Rechtsposi tion verletzt.
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Fortschrittsgesellschaften sind Neuerungsgesellschaften, und auch die Bioethik folgt den Gleisen einer Beweislastverteilung, die dem Fortschritt als solchem den Vorrang einräumt. Sie problematisiert ihn lediglich im begründeten Ausnahmefall und lediglich angesichts seiner Effekte. Der Veränderer hat so die Geschichte auf seiner Seite. Das im Kapitel 4 ge schilderte Beispiel der Stammzellforschung hat die Schwierigkeit gezeigt, die dadurch unter der Hand entsteht: Wer nicht mindestens mit künftigen >Gefahren< argumentieren kann, hat für ein Votum gegen einen Wandel wenig in der Hand. In einer wissenschaftsorientierten Welt ist der Veränderer klassischer weise ein Experte, der Vertreter eines bestimmten Fachs. Ähnliches gilt für die Ökonomie: Hier agiert der Anbieter exklusiv in der Herstellung und Vermarktung eines Produkts. Neuerungen in beiden Bereichen haben bis vor kurzem die Gesellschaft unmittelbar getroffen. Mit der angewandten Ethik tritt eine neue Form von Expertenkultur hinzu: Experten betreuen den gesellschaftlichen Umgang mit der den >neuen Möglichkeiten inhä renten Zukunft. Auch Bioethik, >Lebens<-Ethik, erfüllt eben diese Funk tion. Sie macht den Diskurs des >Lebens< produktiv anwendbar, indem sie dessen Unvereinbarkeiten mit dem bisherigen Status Quo einer Gesell schaft auflöst.
4. Zeit-Bezüge Die Logik des Möglichen blickt nach vorne, sie umspielt die Gegenwarts bindung durch Ausgriffe in der zeitlichen Dimension. Entscheidende Dreh- und Angelpunkte sind für die Bioethik von daher in Argumenten mit der Zukunft gelegen. Man muss dies genauer betrachten. Vergleichsweise einfach bemühten die Wissenschaften der Neuzeit immer schon >Visionen< und stellten damit die Akkumulation von Wissen auf Zukunft um: Wie Ingenieure lassen sich Naturwissenschaftler tragen vom Pathos der erfindungsartigen Entdeckung, die den Zugang in eine Welt von Morgen eröffnet. Entdeckung und Erfindung sind Erkenntnis, die die Welt verändern kann und soll. Der dazugehörige Diskurs hat zwei Seiten: Von der besseren Zukunft ist die Rede, wollen Technologen mögli chen Fortschritt in die Gesellschaft hineintragen, und vor zukünftigen Risiken warnen Technologen im selben Zug. Technik selbst scheint diese
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Ambivalenz in sich zu tragen. Sie ist Gefahr und Gefahrenabwehr zugleich und im Grunde zeigt sie sich selbst stets nur in ihren Folgen. Namentlich die neue Technologie ist somit per se ein Geschöpf von Morgen, selbst wenn sie nicht eine Verheißung einlösen kann. Mit der Zukunft, von der in den Konzepten und Argumenten der Bio ethik die Rede ist, verhält es sich komplizierter. Denn hier wird nicht ein fach projiziert. Vielmehr soll es ja darum gehen, die ungebrochene Projek tion dessen, was biowissenschaftlich und biotechnologisch machbar wäre, in einen umfassenderen Rahmen zu stellen und gegebenenfalls Möglich keiten zu begrenzen. Von daher muss Bioethik erstens beanspruchen, die wissenschaftlichen Prospekte gleichsam von außen zu sehen. Was Voraussicht angeht, läuft aber dieser Anspruch leer. Denn jede ethischen Abwägung bezieht sich ja auf möglichst >objektive<, und das heißt wiederum mit naturwissenschaftli chen Mitteln erhobene Prognosen. Die Logik der Prognose wird in der Regel nicht mehr eigens problematisiert.3 Das, was kommen wird, das zu Verant wortende, die >Folgen< etc., fassen folglich auch Ethiker ähnlich wie Politi ker oder Institutionen überhaupt nicht anders als die Wissenschaft selbst. Meist arbeiten bioethische Überlegungen sich ganz präzise an der prog nostischen Vorgabe der technologischen Selbstbeschreibungen endang — etwa an errechneten Wahrscheinlichkeiten. Darin liegt ein zeidogischer Zirkel: Dem Anspruch einer unabhängigen >ethischen< Beurteilung des zukünftig Möglichen entspricht kein eigenes Wissen im Futur. Bioethik arbeitet auf der Basis der Auskunft der Biowissenschaften selbst, wenn sie, was historisch der Fäll sein wird, zu reflektieren sucht. Sie übernimmt einen Vorgriff, den sie nicht relativieren kann - in dem Maße, wie sie in der Regel nicht nach der Herkunft einer Prognose oder auch einer Mög lichkeit fragt. Damit trägt die ethische Abwägung alle Zukunftspräparate ihres Gegenstandes in sich. Sie setzt Projektionen all dessen ins Recht, was sie als kommende Notwendigkeit betrachtet. Bioethik muss zpJe^ens die vorausentworfene Zukunft als eine betrach ten, die mindestens im Prinzip zur Entscheidung noch offen steht. Der Sinn der Ethik, so wie sie sich darstellt, soll ja die vernünftige und im Rah men der Vernunft dann idealerweise auch >freie< Wahl sein. So als könne sie die Auswahl einer möglichen Zukunft leisten. Die Lage ist paradox. Die 3 Die Validität einer Prognose, die Richtigkeit ihrer Grundlagen etc. sind natürlich üblicherweise strittig, aber nicht das ist hier gemeint. Mir geht es vielmehr um die Refle xion der Prognosebindung überhaupt.
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Geste des Bioethikers erscheint nicht umsonst als die des >freien< Ratge bers, der zwar einerseits auf historische Zukunftsvorgaben (die Technik, den Fortschritt) auch nur reagieren kann, der andererseits aber doch zu einer bestimmten Verantwortlichkeit verhilft. In puncto Umsichtsfreiheit privilegiert Ethik sich selbst. Dergestalt zukunftsoffen kann sich der ethi sche Diskurs so als politisch schöpferisch geben. Er ist auf repräsentative Weise >innovativ< oder »konstruktiv«. Zugunsten der Moderation der >rationalen< Entscheidung scheint er über eine eigene Form von Zukunft zu verfugen. Es ist, als würde die Bioethik bereits ein Stück von jenem Mor gen kennen, in dem man beispielsweise eine Technologie begrenzt, oder auch eine heikle Neuerung zu ergänzen oder zu erweitern verstand. In diesem temporalen Vorgriff zeigt sich die eigenartige Vermittlerrolle der Ethik, wo sie als angewandte Wissenschaft in Bezug auf das fungiert, was da erst noch kommen wird bzw. soll. Und in dieser argumentativen Inanspruchnahme der Zukunft steckt eine zwielichtige Logik. Besser noch: Es wirken da mehrere Logiken, die auf undurchsichtige Weise auf die Ge genwart im Modus des Möglichen verweisen. Ein gemeinsamer Nenner oder ein Prinzip ist nicht erkennbar. Eher handelt es sich um eine ganze Batterie von zeitlich vorgreifenden Plausibilisierungsstrategien, und teils sind sie vielleicht sogar widersprüchlich beschaffen. Als erste zusammenfassende Beobachtung hieße dies also: Bioethik betreibt eine bestimmte Politik mit der Zeit, eine Zukunftspolitik - und zwar durch das, was sie tut, indem sie einerseits als Prognose Künftiges vorgrei fend objektiviert, indem sie andererseits aber ureigenste Entscheidungs freiheit suggeriert und in deren Namen Zukunft >frei< von der Gegenwart aus verwaltet. Indem Ethik technologische Szenarien übernimmt, vor de ren Hintergrund selbst dann aber das Monopol für eine spezifische Frei heitsoption behauptet, bahnt sie im Ergebnis auf exklusive Weise >Zukunft< an. Diese Zukunft ist aber verengt, sie ist begrenzt auf institutionelle Vor gaben.
5. Eine Zukunftspolitik Es wäre nun denkbar, einzelne typische Argumente zu prüfen, die Teil des bioethischen Diskurses sind, und damit Beispiele für die Zeitlogik von Bio ethik vorzuführen: Zukunfts-Vorgriffe wie die Vorausrechnung »vermeid
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barer< Risiken, die Hochrechnung von Wartelisten vor der Nutzung einer Zukunftstechnologie als Schaden, der im Falle der verzögerten Einführung dieser Technologie entsteht, das in Aussicht Stellen von zukünftigen Optionen: Heilungsmöglichkeiten, Patente (also Gewinne und Arbeits plätze) oder zumindest Fortschritte in der Grundlagenforschung. Diese Zukunftspolitik der Bioethik ist jedoch nicht bloß Theorie, und dieser zukunftspraktische Gesichtspunkt ist möglicherweise wichtiger als der logische Zirkel im Zukunfts-Argument. Bioethik funktioniert ja tatsächlich Weichen stellend an den Orten, an denen sie zum Einsatz kommt: bei der Formierung öffentlicher >Konsense< (unter der Beteiligung gesellschaftlich wichtiger Stimmen), bei der Moderation einer Verantwortung delegieren den Form von Politik. Im Umfeld der Biowissenschaften hat Bioethik ein neues Politikfeld eröffnet, indem sie sich bei Bedarf nicht als bloße Wis senschaft (und also Partei), sondern als bloße >Komprornissfmdung< geben kann zwischen widerstreitenden Interessen. Aus der Notwendigkeit inhalt licher Entscheidungen zieht sie sich damit zurück. Statt dessen prozeduralisiert sie Konflikte. Politische Kritik wird in die Kanäle Technik begleiten der Beratschlagungs-Verfahren umgeleitet, innerhalb derer prinzipielle Argumente nicht mehr durchschlagen können. Dass überhaupt diskutiert wird oder vielleicht sogar nur: dass bestimmte Gremien für solche Aufga ben geschaffen sind, signalisiert die >ethische< Vertretbarkeit der zur Dis kussion gestellten Technologien. Auf diese Art midaufend funktionieren etwa die vielen Ethikkommissionen an Hochschulen, Klinken und anderen Einrichtungen, die damit befasst sind, die ethische Unbedenklichkeit von Projektanträgen zu bescheinigen. Noch deutlicher zeigt sich die politische Pointe bei der Einrichtung von parlamentarischen Enquete-Kommissionen oder eines durch Kanzlerentscheidung zusammengestellten »Nationalen Ethikrates«. Auf einen gesellschaftsweiten, um nicht zu sagen: historischen Diskussionsbedarf wird reagiert durch die Ausweisung von Orten, an denen ersatzweise und auf genau reglementierte Art diskutiert werden soll. Die Tatsache, dass diskutiert wird, soll die Akzeptanz erbringen, nicht unter wegs geäußerte Inhalte oder gar das schlussendliche Ergebnis der Diskus sion. Prozeduralisierung dient so dem Aufschub und der Absorption von politisch durchschlagender Kritik. Dass es institutionalisierte Ethikzustän digkeit gibt, macht überdies Auseinandersetzungen unter Laien oder die Konfrontation zwischen Betroffenen und Experten überflüssig — denn Ethiker agieren ausdrücklich gleichsam als Experten der dritten Art: als Bürger der Wissenschaftswelt und als Bürger wie Du und ich.
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Kritisch zugespitzt lautet daher ein zweites Zwischenergebnis: Im Zu sammenspiel aus (a) Prognose, dem argumentativen Vorgriff auf das, was — angeblich! —kommt und (b) der faktischen Anbahnung einer ganz bestimm ten Zukunft, nämlich durch das Stiften eines Diskurses, der Bedenken gegen das bloß >Mögliche< übernimmt und ausräumt, wild nicht nur theo retisch, sondern auch praktisch geschichtliche Wirklichkeit fabriziert. Die Bioethik artikuliert nicht nur eine (fragwürdige, diskutierbare) Zukunfts/wspektive. Sie setzt eine ganz bestimmte Form des Zukunftsglaubens in Gel tung und stellt damit Zukunft her.
6. Wirklichkeitsmacht des Vorformulierten Mittels einer Politik Zukunft »hersteilen« - wie ist das gemeint? Nun müs sen doch Beispiele, typische Argumentationsmuster folgen. Auf der Ebene der individuellen Entscheidung ist ein argumentatives Werkzeug etwa das Szenario: »Wie würden Sie sich entscheiden, wenn...?« Es beherrscht na mentlich die Debatte um Sterbehilfe, also die Frage nach der Möglichkeit, den Tod medizinisch herbeizufuhren, aber auch die Frage nach der Mög lichkeit einer eugenisch bedingten Abtreibung, nach der Möglichkeit, zum Zweck der Implantation das Organ eines für hirntot erklärten Menschen anzunehmen, nach der Möglichkeit eines Gentests etc. Bioethik arbeitet in der Regel mit Fallbeispielen, um Entscheidungsszena rien vorzustellen. Diese zielen auf eine Art Gedankenprobe: Die Vorweg nahme eines Zustandes, in den man sich einfühlen soll - so als sei dieser Vorgriff auf künftige Gegenwart realistisch möglich und als sei es vorsorg lich ratsam, im Hinblick auf ihn vorlaufend bereits Entscheidungen zu fassen. Fallbeispiele sind zumeist Extremfälle: besonders dramatische Er krankungen oder Krankheitsverläufe, besonders dramatische Umstände oder ein besonders dramatisches Zusammentreffen von Bedingungen. Etwa die seltene, spät ausbrechende Erbkrankheit, die jegliche Lebensper spektive ausschließende vorgeburtliche Anomalie, der extrem langwierige und schmerzhafte Todeskampf, der Zustand der völligen Bewegungslosig keit etc. Die am Extrembeispiel plausibilisierten Kriterien für die Bewer tung scheinen für die Bioethik also ebenso verallgemeinerbar wie über haupt Kriterien als verallgemeinerbar behandelt werden, die einer bloßen Gedankenprobe auf das subjektiv radikal Unbekannte entspringen. Die Anleitung der Experten läuft hinaus auf voiformuliertes Entscheiden. Das
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Individuum trifft unter dem Regime der Ethik auf eine oder mehrere wählbare >rationale< Optionen, die ihm eine Institution —etwa in Gestalt eine Formulars - als Entscheidungszumutung präsentiert. Scheinbar einfach funktioniert, was man aus dem Klinikalltag immer schon kennt, der Zukunftsvorgriff in der »Diagnose«, also bei der Präsenta tion der Krankheit und ihrer erwartbaren Perspektiven, was Gesundung, Linderung und Fortdauern angeht. Dass gerade die prognostische Seite der mitgeteilten Erkrankung große Wirklichkeitsmacht entfaltet, liegt auf der Hand. Nicht umsonst spricht man bei der Diagnose vom »Krankheitsbild«. Und man weiß auch, dass bei der medizinischen Suche nach dem, was eine betroffene Person (nun: Patient, Patientin) eigentlich >hat<, also auf dem Wege zur Lokalisierung, Bestimmung und Beschreibung der Krankheit, der Übersetzung einer Alltagssprache in eine Fachsprache eine wichtige Rolle zukommt. Schon an der Fachsprache hängt aber die fachliche »Norme prognostische Wahrscheinlichkeitswerte zum Beispiel. Noch verdeckter ist die Zukunftsmacht der Übersetzung, wenn leibliche Vorgänge mehr oder weniger direkt in einer Maschinen- und Bildersprache dargestellt werden: etwa in der >Sprache< diagnostischer Ultraschall- oder magnetographischer Bilder (vgl. Duden 1991) - die ihrerseits wiederum Verläufe objektivieren: rapides Wachstum eines Tumors, allmähliche Zersetzung von Gewebe, Verhärtung, Erweichung, Prozesscharaktere ganz allgemein. Bioethische Überlegungen sind auf Verallgemeinerbarkeit angelegt und somit ganz auf den mit der professionellen Sicht auf die Krankheit gegebenen Zusam menhang zwischen Diagnose und Prognose gestützt - sowie auf den Zu sammenhang zwischen Prognose und Therapie. Was im Makro-Maßstab für die Entdeckung einer »neuen Möglichkeit« gilt, also einer prognostizier ten technologischen Zukunft, gilt im Mikro-Maßstab für die Gabe einer (Diagnose/Prognose-)Zukunft: Der Ausgangspunkt aller »ethischem Frage stellungen wird hingestellt als bloßes Faktum, als bloße »Informationc Die Machbarkeit oder der Befund sind da. Im selben Atemzug werden die Gesellschaft oder aber der Patient oder die Patienten zum Subjekt einer Entscheidung gemacht. Und die Entscheidung wird stilisiert als im Prinzip unumgänglich, dann aber doch mehr oder weniger »freit Gehört zum »ethischen« Szenario, dass man mit ihm die Tatsache des Sich-Entscheiden-Müssens als solche bereits akzeptiert hat, so fallt das im übrigen fast immer mit einem Akzeptieren der Dringlichkeit der Entschei dung zusammen. Im Medizinbetrieb ist der Diagnose gleichsam automa tisch dasjenige mitgegeben, was man die »Versäumnisdrohung« genannt
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hat; Weil prinzipiell nicht auszuschließen ist, dass sich eine diagnostizierte Gefahr vergrößert, muss aus klinischer Sicht stets >sofort< entschieden werden. Die moderne Medizin hat es immer eilig. Die zugemutete Ent scheidung im Angesicht der zugemuteten Zukunft muss immer sofort fallen. Die Mikrophysik dieses Krisen- und Handlungsmusters findet sich in den bioethischen Entscheidungsszenarien wieder: Man >kennt< alle rele vanten bzw. prinzipiell erkennbaren Umstände sowie die Alternativen oder kann sie nur berücksichtigen, sofern man sie jetzt >kennen< kann —denn die Entscheidung ist >jetzt< fällig: Dies ist die Zukunftspolitik der Fallbeispiele. Zur Zeitlichkeit der Prognose und zur Zeitlichkeit der Versäumnisdro hung kommt die Beschränkung des Entscheidens auf die >vernünftigen< Alternativen - und hier ist der spezifische wirklichkeitsmächtige Vorsprung der Bioethik gelegen: Während sie einerseits medizinische und alltagsweltli che Perspektiven integriert, bietet sie andererseits eine spezifische rationale Zutat fachphilosophischer Art. In der Tat sind ja die meisten Bioethiker Fachphilosophen oder Theologen oder in beiden Disziplinen ausgebildet. Wie ausschließlich die von daher eingebrachte Logik funktioniert, dass nämlich nur das Generalisierbare vernünftig sein kann, lässt sich daran ablesen, dass im Rahmen der am Ende doch wieder >wissenschaftlichen< Abwägung, die die Bioethik leistet, keine außer den vorgegebenen Möglichkei ten die Attribute »adäquat«, »vernünftig« oder »verantwortlich« erhalten kann. Es geht um »gute Gründe«, und nur sie sind ethisch legitim. Gründe, Begründungen, Argumente müssen verallgemeinerbar sein, sie müssen über den Einzelfall hinausgehen. Diese Art von Vernunft bedarf der tem poralen Vorausschau zum Zweck des Vergleichs. Es kann nicht etwas als >vernünftig< gelten allein vor dem Hintergrund einer Lebensgeschichte oder als Konsequenz einer individuellen Situationswahrnehmung. In diesem Sinne müssen alle Zukunftsvorgriffe und vorsorglichen Er wägungen unter bioethischer Anleitung letztlich Normalisierungsprojekte sein. Man lernt nicht nur die Selbstfestlegung nach vom, sondern auch die Angleichung an Standard-Blicke. Besonders deutlich zeigt sich dies, wo die Zukunftsdimension der Prognose den Individuen längst vor der Diagnose zugemutet wird, nämlich als Mittel der Vorsorge, etwa in so genannten Pa tiententestamenten oder Patientenverfiigungen. Was >fürchtet< man und was will man >vermeiden<, wenn man sich auf vorformulierte Standardkrite rien einlässt wie »unerträgliche Schmerzen«, »würdeloser Zustand« oder eine Lage, in der »nach menschlichem Ermessen eine hohe Wahrschein
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lichkeit dafür spricht, dass ich eine schwere Dauerschädigung meines Ge hirns davontrage, die mir ein personales Dasein nicht mehr erlaubt« etc.?4 Auch hier gilt: Das Motiv, sich auf derartige Zukunftsbilder einzulas sen, ist in den seltensten Fällen das für sich selbst bereits konkret erlebte Leid. Man trifft seine Entscheidungen im Blick auf einen Prospekt. Letzt lich halten alle Fäden diejenigen in der Hand, die das wissenschaftliche Prognoseszenario herstellen, und diejenigen, die erläutern, wie man eine >ethisch< abgewogene Entscheidung trifft, weil man sie zu treffen habe. Die so beschriebene Zukunft wird —gerade weil die Betroffenen sich mit sol chen Formulierungen zu identifizieren versuchen —nicht nur zu einer fremddefinierten gemacht, sondern auch fremdgestaltet.
7. Die gesellschaftliche Wirklichkeitsmacht Auf der gesellschaftlichen Ebene kehrt das Muster Diagnose-PrognoseTherapie wieder, da die Bioethik auf analoge Weise auch im Kollektivmaß stab ansetzt. Immer dort nämlich, wo es um das Verringern von Unklar heiten bei einer Entscheidung geht, die gleichwohl unter Unsicherheit getroffen werden muss. Das rhetorische Muster und das praktische Arran gement funktioniert auch auf der Ebene ethischer Reformulierungen ge setzgebungspolitischer Entscheidungsnöte ganz parallel: Partikulare Mo tive, Evidenzen und Wertungen sind außer Kraft zu setzen und »Betrof fene«, »Beteiligte« sowie »Entscheider« sind zum Urteil aufgerufen —nun im Namen eines kollektiven Wir. Erneut greift die Krisenlogik, die Logik der notwendigen, aber als >frei< zu antizipierenden Entscheidungszumutung. Und die Ethik weist Wege an, einer angeblich vorhandenen Unklarheit Rechnung zu tragen, in der Alltagskriterien nicht mehr greifen. Eine Tatsache muss auf gesellschaftlicher Ebene dabei freilich plausibel gemacht werden können: Dass es nämlich angesichts meuer Möglichkeiten« tatsächlich an der erforderlichen Sicherheit im Jetzt bereits fehle. Ethikbe darf wird überall dort plausibel, wo die Rede von den nicht vorhandenen Kriterien über2eugt —wo vom Problem der überforderten Politiker, der alleingelassenen Ärzte, der ohnehin überforderten Betroffenen und über haupt moralischer Überforderung gesprochen werden kann. Modernetheo 4 Das letzte Beispiel stammt aus einer Patientenverfiigung der »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben«. Zur verfänglichen Vagheit der vielen Formulare in diesem Feld Bioskop e.V. 2001.
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retiker diagnostizieren diesen Zustand pauschal, indem sie für hochindus trialisierte, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften wie die unsere mo ralische Konventionen für prinzipiell nicht mehr allgemein verbindlich erklären. Der Befund ist empirisch gemeint: Mit der späten Moderne sei ein »postkonventioneller« Zustand eingetreten. Eben diese Behauptung führt freilich auch herbei, wovon sie redet: Ethikbedarf zu postulieren kann eine self-fulfilling-propbeg sein. Denn stellen Ethikexperten im Zeichen des »postkonventionellen« Zustandes die bislang üblichen impliziten Nor men einer Praxis öffentlich in Frage, ist die Irritation der Beteiligten herbeigeführt. Provozierend zugespitzt könnte man sagen: Die vielen neuerdings als ethikbedürftig erkannten Krisensituationen, in Kliniken zum Beispiel, sind eher Ethik-Resultat als genuiner Anlass für Ethik. Man redet den Beteilig ten den >Grenzfall< ein, den sie in früheren Zeiten übersehen haben, in denen angebliche >Grauzonen< herrschten. Man suggeriert, es gäbe die latente institutionelle Krise, die der spektakuläre Fall erst manifest deutlich macht. Ein Beispiel unter vielen möglichen ist die vor einigen Jahren bio ethisch skandalisierte Grauzone in der Neugeborenenpflege. Die Zahl der in der BRD >liegen gelassenen« (und daher sterbenden) schwerstkranken Neugeborenen betrage angeblich 1200 pro Jahr. Belegbar war nicht, welche Art von ärztlicher Praxis oder Entscheidungsüblichkeit damit eigentlich inkriminiert und ethisch verbessert werden sollte. Der Verdacht legt sich nahe, dass —wo das >Dilemma< eben nicht beseitigt werden kann —der Klinikalltag wohl doch moralisch viel besser und auch sicherer war als sein Ruf. Im genannten Problemfeld richtete Bioethik jedenfalls nichts aus und das Thema ist schnell aus den Medien verschwunden. Damit legt sich ein drittes Zwischenergebnis nahe: Die bioethische Reflexionsweise rechtfer tigt ihre Denk- und Entscheidungszumutungen durch ein Vakuum der Normen, von dem nur schwer gesagt werden kann, ob sie es nicht selbst mittels eines gesellschaftstheoretischen Szenarios in konkrete, individuelle Handlungsfragen hineingemogelt hat.
8. Einsetzung der Ethik durch sich selbst? Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft korrespondiert die angewandte Ethik mit der Rede von der »fehlenden« Moral. Wer jedoch entscheidet
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über die Diagnose der Entscheidungskrise, den moralischen Ausnahmezu stand? Sind es dieselben Expertendiskurse, in deren Händen die Objektivierbarkeit des Kommenden als >Gefahr< oder Leiden liegt, die Feststellung einer unerträglichen Rat- und Kriterienlosigkeit der Beteiligten, deren Be fangenheit oder Unvermögen als Betroffene bzw. Laien den Zeitdruck rechtfertigt, unter dem man gesellschaftliche Diskurse über das Neue öf fentlich anberaumt? Ganz offenbar gehört die Diagnose von der nachlassenden oder feh lenden Moral, vom fehlenden Wertekonsens und vom postkonventionellen Zustand, in den die moderne Gesellschaft derzeit übergehe, zur Grundaus stattung der sozialwissenschaftiich betreuten Gegenwarts-Wahrnehmung. Was wäre, wenn die schwer überprüfbaren Formeln von der gesellschaft lich fehlenden Moralität oft nur den selbst mitgebrachten Relativismus der hinzutretenden Experten trifft? Dann rechtfertigten Therapieinteressen die Diagnose. Die Beschwörung der Krise könnte dann vor allem eine rhetori sche Aufgabe erfüllen. Man macht das Publikum und die Betroffenen für den ethischen Reflexionsgang bereit.
9. Zukunftspolitik im Menschheitsmaßstab Noch eine letzte Ebene der Zukunftsfabrikation lässt sich ausmachen, auf der Bioethik die ultimative Verallgemeinerungsstufe einer Perspektive der >Menschheit< für sich in Anspruch nimmt —oder auch der humanen Gene rationenfolge, der Gattung ganz allgemein. Die Verantwortung gegenüber »künftigen Generationen« gehörte schon früh zum Rüstzeug der biopoliti schen Argumentation. Namentlich eine möglicherweise >bessere< Zukunft sollte zugunsten auch nur der >möglichen< (also noch unerwiesenen) wis senschaftlichen Innovationen nicht verhindert werden dürfen. Forschung — einschließlich ihrer Risiken und Opfer —dürfe man kommenden Generati onen nicht vorenthalten: Mit dieser Suggestion arbeitet etwa die Europäi sche Bioethik-Konvention, die aus wichtigem Grund auch Menschenver suche an nichteinwilligungs fähigen Personen erlaubt. Auch zum Zweck einer Forschungs- und Fortschrittsbegrenzung wird neuerdings die Idee einer »Gattungsethik« vertreten. Nach Jürgen Haber mas ginge es in einer solchen Gattungsethik um nicht weniger als um »die Bewertung einer Moral im Ganzen« (Habermas 2001, S. 124) - in Anse
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hung des Selbstbildes einer Menschheit, die dann auch die Frage der Gewolltheit von Biotechniken zu erwägen hat. Auf dieser Ebene würde dann gleichsam der zukünftige Fortschritt auf einem maximal allgemeinen Niveau verhandelt, der Fortschritt in einem explizit historischen Sinn. Wieder eine Zukunftspolitik - diesmal mit großer Geste. Interessenargumente werden im Namen noch nicht Geborener vorgetragen oder aber im Na men eines kollektiven Wir von ungeheurem Ausmaß. Weder empirisch ausweisbar noch politisch repräsentierbar gibt es eine Instanz, die eine solche >Gattungsethik< autorisieren könnte. Und bleibt es bei einer Selbst ermächtigung der Expertenkultur, dann muss sich deren Zukunftsvorgriff ins Schwindelerregende steigern. Letzte Anmutungen von Situationsnähe schwinden, und der Diskurs um die Zukunft aller kann sich unwiderleglich geben. Vor der Totalität des Arguments verblasst die Frage, ob es zuguns ten biotechnologischer Fortschritte oder aber mit dem Ziel von deren Begrenzung ins Feld geführt wird. Auf gespenstische Art bleibt es gleich, ob sich vor dem imaginären Forum der Gattung angesichts neuer Tech nologien eine Pflicht ergäbe, technogene Möglichkeiten nicht vorzuenthalten, oder aber eine Pflicht, die technikbedingte Verunsicherung der Gattungsidentität %u unterlassen. Als Zukunftsethik zeigt Bioethik ihr wahres Gesicht. Ein Ex pertenregime konstruiert Menschheitsmoral.
10. Forschungsfreiheit Als allgemeiner und (wenn das Wort denn steigerbar ist) als >dif£usester< Nenner der Zukunftsvorwegnahme fungiert der Imperativ der For schungsfreiheit. Das Argument der Forschungsfreiheit münzt das Bild der fortschrittlicheren Zukunft um in einen politischen Dauerkredit für be stimmte Institutionen —und das Projekt einer Gattungsethik verlängert diese Linie. Mit ihm haben Wissenschafder noch die letztinstanzliche Selbstbegrenzung von Wissenschaft monopolisiert. »Wissenschaft« - und zwar im konkreten Sinne von Forschung - kommt uns gleichsam mit dem bloßen Versprechen des Besseren immer schon aus der Zukunft entgegen. Und sie denkt in unserem Namen über Maximen möglicher Begrenzung nach. Symptomatisch bleibt damit die Präambel der Europäischen Bioethik-Konvention: »Affirming that progress in biology and medicine should be used for the benefit of present and future generations [...]«. Eine solche Formel setzt das Fortschreiten von Biologie und Medizin
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voraus und bindet die Ethik an die wohlfahrtliche Nutzung der Erträge. Die Präambel ist Selbstverpflichtung und Selbstermächtigung in einem: Forschungsfreiheit muss wie Marktfreiheit stets zunächst gewährt worden sein, um dann benefit zu erreichen. Auch in Deutschland wird mittlerweile der grundgesetzliche Schutz der Freiheit von Forschung und Lehre nicht nur als Gebot an die Universitäten, sondern auch im Sinne eines Individu algrundrechts der Forscher interpretiert. Auf gleichem Niveau soll es mit anderen Grundrechten konkurrieren können. Gerichte können es damit jeweils fallweise auch als höherrangig als andere Grundrechte werten.
11. Schluss Die zukunftspolitische Selbstpositionierung der Bioethik hat eine Fülle von Facetten. Hier sind einige abgeschritten worden, ohne dass damit bereits eine befriedigende Antwort gegeben wäre, warum die Bioethik so agiert, wie sie es tut, und warum sie so funktioniert, wie sie ist. Als Wissenschaft überzeugt sie nicht. Die selbstautorisierende und in letzter Instanz sich selbst auch realisierende Struktur des bioethischen Arguments dient nicht der Aufklärung, sondern eher der Unsichtbarmachung von Differenzen, von denen Wissenschaft lebt. Die Differenz zwischen ziviler Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Expertenkultur wird eingeebnet - aber auch die tempo rale Differenz zwischen der Zukunft der Gegenwart und künftigen Ge genwarten (mit dem Ergebnis einer versteckten Zukunftsbindung). Die >Politik< jener diskursiv verunklarten Differenzen liegt oftmals nicht darin, was die Ethik sagt oder was sie vorschlägt, sondern darin, dass es an bestimmten Konfliktpunkten zwischen wissenschaftlich hervorgetriebenen Extrem-Technologien und einer Alltagswelt, die zurückschreckt vor den Erfordernissen und Folgen dieser Technologien, überhaupt so etwas wie eine angewandte Ethik gibt. Was die beredte Arbeit der Ethiker an solchen Stellen vermeiden hilft, ist das Aufkeimen eines zivilen Verdachts, im Zuge von Fortschritt und Technikentwicklung werde ein ganzer politischer, historischer Horizont zum Verschwinden gebracht. Eben dieser zivile Verdacht jedoch ist angebracht.
Kapitel 7 Ist die Bioethik ein >Diskurs< im Sinne Foucaults?
Der Begriff >Diskurs< konnte immer schon als Alltagswort verwendet wer den. Er hat aber auch eine lange und verästelte Geschichte in der Theorie bildung (Schalk 1997/98) und ist für die deutschsprachige Philosophie wie füir die Sozialwissenschaften in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten ein Modebegriff gewesen. Verwendet wurde Diskurs zum einen in der Kantischen oder aber der an Habermas’ Diskurstheorie orientierten Spiel art: Der Diskurs ist der Gang eines Vortrags, eine Rede, die etwas ausei nander setzt, jemand diskurriert, er »hält« oder »fuhrt« einen Diskurs, öf fentliche Diskurse »finden statt«. Eine zweite Verwendungsweise von >Diskurs< ist an das französische dismurs angeknüpft und orientiert sich an Michel Foucaults Theorie der »Analyse« von historischen Diskursen. In dieser Bedeutung des Begriffs ist der Diskurs nicht der Gang, sondern die Anordnung, die Ordnung, der Rahmen, die Normalität einer Rede: In einem Diskurs sind bestimmte Aussagen »vorgesehen« und andere nicht, ein Diskurs kann sich (zum Beispiel als Redeüblichkeit innerhalb von Institutionen wie der Justiz oder der Klinik) im Laufe von Jahren herausbilden, er übt einen gewissen Zwang aus und er ist (als ein Machtphänomen) dem geschichtlichen Wan del unterworfen. In dieser zweiten Bedeutung ist der Diskurs ein Gefüge von impliziten Regeln, deren »Formation« der Historiker untersuchen kann. Auch in seinem an die Übersetzung aus dem Französischen und an den Namen Foucault gebunden Wortsinn gehört das Reden über >Diskurse< heute zum festen Repertoire der politischen Gegenwartsdiskussion und der politischen Kntik. Nachdem Foucault vom Diskurs »der Biologie«, »der Ökonomie« gesprochen hat (also über die Redeordnungen ganzer Wissen schaften oder wissenschaftlicher Disziplinen) oder vom Diskurs »des Men schen« oder dem Diskurs »des Lebens« (also von Redeordnungen, die gleichsam interdisziplinär wirksam werden), kann heute allerdings alles
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Mögliche ein Diskurs sein. Vom Diskurs von Kirche und Religion (Seeßlen 2002) bis zum Wellness-Diskurs (Duttweiler 2004) findet man das Wort auch in mit Foucault arbeitenden Theoriekontexten wild verwendet. Ganz sicher wäre also heute jederzeit auch die Bioethik ein >Diskurs<.' Gibt man sich damit zufrieden, hat man allerdings eine Chance ver passt, denn tatsächlich hat Foucault mit dem Diskursbegriff —jedenfalls zeitweilig —ein strenges Methodenprogramm verbunden. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, eine Frage zu prüfen, der ich im Folgenden nachgehen will: Ist die Bioethik ein Diskurs im Sinne Foucaults?
1. Lässt sich so etwas wie ein Diskurs der Bioethik individualisieren? Ist die Bioethik ein Diskurs? In der Foucaultschen Methodensprache müsste die Frage präziser etwas anders lauten, denn Diskurse >sind< nicht, Diskurse werden durch Identifikationsarbeit gewonnen, man muss sie »individualisieren«. Nur wenige Worte zur Theorie, denn im Grunde kann im Folgenden das Beispiel die Theorie erklären. Foucault hat sein Verfahren gar nicht Diskursanalyse, sondern »Aussagenanalyse« genannt, und zwar weil der Diskurs gerade nicht eine Gegebenheit ist, die vorausgesetzt werden könnte —um dann etwa »analysiert« zu werden. Foucault geht es vielmehr darum, unter rigorosem Verzicht auf Vorannahmen Aussagen zu analysieren, um Diskurse zu finden. Das vollständige, wie es im Text heißt: »Gewimmel« der Aussagen wird analysiert - und zwar auf deren diskursive Formationsbe dingungen oder auch Formationsregeln hin. In der so und nicht anders »positiv« gegebenen Streuung, in der »Dispersion« (Foucault 1969, S. 51, 58, 72, 82, 112 - vgl. auch S. 110: »Dispersionsgesetz«) der Aussagen wer
1 Dass man in ihr in Habermas’ Sinne Diskurse »fuhrt« (oder zu fuhren versucht), versteht sich ohnehin. In welchem Maße auch der Habermassche Begriff dabei verkommt, kann das vom Max-Delbriick-Centrum füir Molekulare Medizin und dem Forschungszentrum Jülich mit Bundesmitteln eingerichtete Internet-Portal »Bioethik Diskurs« illustrieren. Als »Möglichkeit der Partizipation« bietet man dort Informationen aus der Forschung sowie Gen.ethix, ein PC »Entscheidungsspiel zu Fragen unserer biotechnologischen Zu kunft«. Vgl. http://www.bioethik-diskurs.de (30. August 2005).
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den Diskurse so als abstrakte Strukturen oder Formen erkannt. Gegeben sind also Aussagen. Gesucht sind eine oder mehrere äskursive Formationen. Damit zurück zur Frage: Lässt sich in der Fülle der Aussagen, die sich in dem weiten Feld all dessen finden, was wir Bioethik nennen, tatsächlich eine diskursive Formation individualisieren?2 Sind bioethische Aussagen auf eine für sie charakteristische Weise vorfindlich und formieren sie einen festen, durch seine impliziten »Regeln« charakterisierbaren Zusammen hang? Existiert tatsächlich eine Diskursordnung, die bestimmte Aussagen ihrer Form nach als »bioethisch« wahrheitsfähige und relevante Aussagen autorisiert —und die zugleich andere Aussagen ihrer Form nach als nicht bioethikfähig ausschließt? Bewusst orthodox möchte ich das von Foucault in seinem Methoden buch Archäologie des Wissens aus dem Jahre 1969 skizzierte Schema durch spielen und erproben. Betrachten wir die Sache als eine Art Experiment, das zwei Stoßrichtungen hat. Zum einen soll das von Foucault vorgeschla gene Analyseschema am Testfall Bioethik auf seine Brauchbarkeit hin ab geklopft werden - bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, denn für einen >echten< Einsatz bleiben meine Ausführungen viel zu kursorisch. Zum anderen soll das diffuse Phänomen Bioethik gleichsam durch das Nadelöhr einer schematischen >Prüfung< getrieben werden. Ein solcher Versuch wirft Licht auf den Status und die Kohärenz der bioethischen Redeordnung — nicht nur, aber auch jenseits der bloßen Inhalte, die Bioethik kommuni ziert. Ob der Konfrontationsversuch sich nun als ergiebig herausstellt oder auch nicht, auf beides wirft er jedenfalls ein Licht: Auf Foucaults Werk zeuge und auf einen Zusammenhang von Macht und Ordnung. Denjeni gen nämlich, der das bioethische Reden prägt. Allerdings gehe ich nicht induktiv vor. Nach Foucault müsste zunächst die Fülle der Aussagen entfaltet werden, um dann - mit vielen Belegen — den Diskurs herauszupräparieren. Ich hingegen erprobe das methodische Schema eher im Modus des Als ob - gleichsam im Urteilsstil. Nehmen wir an, die Bioethik sei ein Diskurs, in welcher Weise würde sie Foucaults »vier Achsen der Analyse« in einer unverwechselbaren Weise der Gruppierung ihrer Aussagen erfüllen, das wäre die Arbeitsfrage. Eine »Diskursanalyse« 2 »Eine diskursive Formation wird individualisiert werden, wenn man das Formationssys tem der verschiedenen sich darin entfaltenden Strategien definieren kann; in anderen Worten, wenn man zeigen kann, wie sich alle (trotz ihrer manchmal extremen Unterschiedlichkeit, trotz ihrer Verstreuung in der Zeit) vom selben Mechanismus von Relati onen ableiten.« (Foucault 1969, S. 101).
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der Bioethik unternimmt das nachfolgende Kapitel also nicht. Es bietet aber Vorschläge, wie sich das Foucaultsche Prüfmuster im Feld der Bio ethik bewähren kann.
2. Die Formation der Gegenstände In der Archäologie werden vier Achsen der Untersuchung unterschieden. Eine Aussagenanalyse betrachtet (a) »Gegenstände«, (b) »Äußerungsmodalitäten«, (c) »Begriffe« und (d) »Strategien«. Prüfen wir also zunächst - in der von Foucault vorgeschlagen Formulierung —die so genannte »Forma tion der Gegenstände«, an denen man einen Diskurs erkennt. Abstrakt ist diese Dimension der Gegenstandsformation definiert als das »Spiel der Regeln, die während einer gegebenen Periode das Erscheinen« sowie die Transformation von bestimmten diskurstypischen Objekten möglich ma chen (vgl. Foucault 1969, S. 50). Ein Diskurs erscheint also als der Profilie rungsraum eines oder mehrerer neuer Objekte, die es ohne ihn (so) nicht geben würde. Nehmen wir an, die Bioethik sei ein Diskurs, und übertragen wir das. Bereits der Name Bioethik spricht die Besonderheit der Gegenstände eines Diskurses präzise aus: Der Objektbereich der Bioethik ist das >Leben<, und zwar in der pseudogriechischen Vorsilbenversion Bio, die im 18. Jahr hundert erst nur äußerst vereinzelt auftaucht, um dann aber - seit etwa dem Jahre 1800 - als Teil des Namens der Naturwissenschaft Biologie Karriere zu machen. Objekt der Bioethik ist also das biologische Leben, das stofflich-naturhafte Objektfeld der Naturwissenschaft namens Biologie, so wie es mit dieser Wissenschaft entstanden ist und sich mit ihr wandelt.
2.1. Flächen des Auftretens der Objekte? Präzisieren wir mit Foucault das »Auftauchen« der Objekte, so lassen sich die Gegenstände eines Diskurses Bioethik noch genauer fassen. Das biolo gische Leben gibt es seit zweihundert Jahren. Als typische Objekte des bioethischen Erwägens kristallisieren sich jedoch ab Ende der 1960er Jahre sehr viel konkretere Sachverhalte heraus.
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Zum einen sind es bestimmte kritische Zonen des >Lebens<, auf die die Bioethik sich konzentriert: Lebensweg/«« und Lebense«ife. Tatsächlich findet man diese Paarung von Anfang und Ende fast wie eine symmetrische Formel —Alpha und Omega —als Stellvertreter für den bioethischen Ge genstandsbereich genannt. Etwas weniger malerisch, aber ebenfalls ein durchlaufender potentieller Gegenstand der Bioethik ist außerdem die Lebensqualität —ein Begriff, in dem eine enge Verbindung der Biopolitik und Sozialpolitik sich andeutet, die für moderne Wohlfahrtsstaaten be zeichnend ist.3 Zum anderen tauchen als Gegenstände der Bioethik bestimmte, genuin als »Leben« definierte, stoffliche Entitäten wahrhaft >neuc auf —nämlich die aus sich heraus >reproduktiven< biomedizinischen Dinge im Körper. Da ist zunächst das Resultat der KeimzeUverschmelzung: »werdendes mensch liches Leben« in seinen technisch zu unterscheidenden Stadien und Exten sionen: Embryonen, Föten, Stammzellen, Vorkeime, Zygoten, aber auch so etwas wie die Zelllinie, der Genpool, die Keimbahn —und dann ist da neben den Dingen eine neuralgische Schwelle: das in eine regulierbare Definitionssache transformierte Lebensende anstelle des Todes. Und schließlich sind da die Substanzen, die der Zellkernverschmelzung voraus gehen: Eier und Spermien. Letzteres, das Sperma, ist zwar eine jahrtausen dealte Substanz, aber das einzelne, individualisierte »Spermium« als das tatsächlich biomedizinisch relevante Objekt tritt genauso neu auf den Plan wie das einzelne, manipulierbare Ei. Selbst die gute alte Nabelschnur hat um das Jahr 2003 plötzlich eine Karriere als bioethisches Objekt begonnen - als Organ, in dem man embryonale Stammzellen fand.
3 Der Begriff Lebensqualität ist semi-biologischer Herkunft: Er hat einerseits eine sozial medizinische (und gattungsmedizinische) Dimension, andererseits eine sozialpolitische. In der zweiten, allgemeineren Bedeutung kann die Forderung »mehr Lebensqualität« ihre Herkunft im Volksgesundheitsgedanken vergessen machen und (wie in den 1960er Jah ren in der BRD geschehen) zur Formel für sozialdemokratische Reformpolitik werden. Der Ausdruck zielt dann nicht nur auf biomedizinische Parameter, sondern verheißt ge nerell ein durch Wohlfahrt und Konsummöglichkeiten abgesichertes »gutes Leben«. Seine biomedizinische Schärfe hat das Konzept aber nicht verloren. Im Gegenteil: Zum Zweck des Einsatzes vor kostspieligen Eingriffen existieren heute medizinstatistische Evaluationsverfahren, welche die durch die Behandlungsmaßnahme zu erzielende künf tige Lebensqualität ermitteln. Das Ziel solcher Verfahren ist, vorsichtig gesprochen, eine Rentabilitätsprognose: Wie viel Mitteleinsatz erbringt wie viel »Qualität«? Zur Ge schichte der politischen Ökonomie als Hintergrund von Biopolitik vgl. Foucault 1978/2004; Foucault 1979/2004.
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Fassen wir das als These: Vor dem allgemeinen Hintergrund der Biolo gie erscheinen als Objekte an der Oberfläche eines regelrechten bioethi schen >Diskurses< etwa ab den 1960er Jahren eine Menge eigens definierter Lebensphasen und Lebensstoffe, auf die sich seither die Sorge und die Aufmerksamkeit der Bioethik konzentriert. Auf die entscheidende epistemische und technische Vorbedingung dieser neuen Objektwelt weist dabei die Datierung (ab den 1960er Jahren) hin. Nicht nur allgemein die Biologie der letzten zweihundert Jahre, sondern die durch die Genetik und die Gentechnik biochemisch bzw. biophysikalisch vereinheitlichten »Biowissenschaften« bilden den Hintergrund des Diskur ses der »Bioethik«, der in Europa nach dem Vorbild der angelsächsischen Bioethics leicht zeitversetzt öffentlich wirksam wird. Wichtig ist: Die den Gegenstand der Bioethik bildenden Lebensstoffe sind samt und sonders keine >vorfindlichen< Stoffe, sondern alle technisch präpariert oder herge stellt. Zum Gegenstand der Sorge können sie werden, weil sie Neues ver sprechen —sofern man auf genetischer oder sonstiger Basis mit ihnen neu umgeht bzw. neu umgehen zu können erwartet. Ich vermute, dass es neben diesen Lebensphasen und -stoffen noch eine zweite Batterie von bioethischen Objekten gibt, die sich unmittelbar an die dadurch neu eröffneten Spielräume knüpfen: die »legitimen Wün sche« und die »legitimen oder unnötigen Ängste« nämlich, mit denen nachfragbare Biotechniken stets korrespondieren. Heilungswunsch, Kin derwunsch, Kinderqualitätswunsch, Lebenswunsch, Lebensverlängerungswunsch, Wunsch nach unspürbarem Sterben, Sicherheitswunsch. Und demgegenüber: Angst vor Schmerzen, Angst vor Unsicherheit, Angst vor »Risiken« etc. Jedes einzelne Stichwort wäre ein Objekt für sich. Definieren wir die genuin bioethischen Gegenstände (Lebensphasen, Lebensstoffe, diesbezügliche Bedürfnisse und Ängste) als diejenigen, die erstens unmittelbar an die genetisch grundierten Biowissenschaften gebun den sind und die zweitens tatsächlich nicht nur allgemein auf das biologi sche Leben verweisen, sondern - spezieller —die biologische Reproduktion dieses Lebens tragen, die genetische Selbstreproduktion des biologischen Le bens, und zwar als eine, die sich zugleich, eben weil sie als JiV/fo/steuerung erkannt ist, als technisierbar und als potentieller Produktionsvotgang auffassen lässt.4 4 Ein Merkmal diskursiver Gegenstände ist nach Foucault, dass dank ihrer das System diskursiver Beziehungen sich gleichsam ein Stück weit von der Welt ablöst —nämlich über ein System »primärer oder wirklicher Beziehungen« in eines der »sekundären oder
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2.2. Instanz der Abgrenzung? Neben einem darierbaren Auftauchen diskurseigener Gegenstände fordert Foucault »Instanzen«, die für deren Abgrenzung sorgen. In der Bioethik dürften dies all diejenigen Filtermechanismen sein, die in massenmedial vermittelten Öffentlichkeiten für die Abgrenzung dessen sorgen, was »den Menschen« betrifft. In der Tat lebt die Bioethik mehr implizit, als dass es dafür eigens Begründungen gäbe, von der Eingrenzung auf das menschliche biologische Leben und auf das menschlich Relevante. Fragen der Pflanzen forschung oder auch der Tierethik wird man unter dem Titel Bioethik nicht finden —desgleichen fallt das Feld der Umweltethik und allgemein der Technikfolgenforschung nicht einfach in die Bioethik hinein. Auch inner halb des Betroffenheitsbereichs »menschliches Leben« grenzt die öffentli che Diskussion die Art des Lebensbezugs noch einmal klar ab: Es geht um das schon genannte Gegenstandsfeld der humanbiologischen Regulation und Reproduktion, um die mobilisierbaren Potentiale des »Lebens selbst«. Die kontroversen Fragen der Hirnforschung zählen daher ebenso wenig zur Bioethik wie das Thema Menschenversuche. Der Umgang mit geneti schen Daten ist durchaus als bioethisches Thema diskutierbar, nicht jedoch die Erprobung riskanter Pharmaka oder gany. allgem ein Public Health. Letzteres wird mehr oder weniger selbstverständlich der Medizinethik (oder der so genannten Forschungsethik) zugeschlagen - und zwar obwohl die >Dinge<, um die es geht, gerade aus der fachwissenschaftlichen Optik auf biophysikalische und biochemische Mikromechanismen durchaus ver gleichbar sind. Die Abgrenzungsprobe bestätigt nicht nur unsere Vermutung hinsicht lich >bioethischer< Gegenstände, sie zeigt auch, dass die Überschrift Bio ethik tatsächlich etwas unterscheidet - mittels des Kriteriums des Men schen- und des Reproduktionsbezugs. Mit wissenschaftlichen Disziplinen reflexiven Beziehungen« vergleichsweise lose (und daher beweglich) hinübetgleitet. (Foucault 1969, S. 69) Dies ist im Falle der bioethischen Gegenstände klar gegeben. Es besteht eine geradezu sinnfällige Ferne der diskursiven Objekte zur Alltagswirklichkeit und zur alltäglichen Reflexivität. Man denke nur an den hohen Bebilderungsbedarf der Reproduktions- wie der Populadonsnnedizin. Wo immer etwa Reproduktionsmedizin tätig wird, muss erst einmal ausführlich erklärt, mittels digitaler Bilder »gezeigt* und Be ratern werden. So etwas wie ein einzelner Zellkern, eine Stammzelle oder ein Genpool haben im Grunde einen imaginären Charakter. Allerdings ist eben diese >utopische< Seite ihrer Objekte —man denke an das Faszinosum >Klon<—inzwischen fester Bestandteil der bioethischen Sensation.
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grenzen fallt diese weiche und doch auch enge Fokussierung nicht zusam men. Was bei dieser Abgrenzung der bioethischen Objekte offenkundig wirksam wird, ist nicht die innerwissenschaftliche Ratio, sondern eher eine Art öffentlicher —und also massenmedial vermittelter —Gemeinsinn. Aus der Sicht dieses Gemeinsinns muss das menschliche Leben als solches >betroffen< sein, und zwar immer auch das sich selbst reproduzierende Konti nuum in seiner Substanz —und nicht allein das Einzelleben.
2.3. Spezifikationsraster? Foucault fordert drittens einen »Spezifikationsraster«, durch den ein sich formierender Diskurs seine Gegenstände ordnet. Man könnte sagen, dass im Feld bioethischen Aussagen dergleichen existiert - wenn auch in einer eigentümlichen Form. Die Bioethik spezifiziert nämlich ihre Objekte, in dem sie sie denjenigen Biotechnologien %uordnet, denen sich das Auftauchen und >ethische< Brisantwerden eben dieser Objekte verdankt. In der Einleitung wurde diese Beobachtung schon einmal notiert: Das diskursive Terrain der Stammzelle ist das Terrain der Stammzelltechnologie, das des Embryo die verbrauchende Embryonenforschung, das der Keimbahn die biomedizi nisch projektierte Keimbahntherapie und so fort. Bioethische Diskussio nen verlaufen entsprechend: Sie gruppieren sich technologiebezogen und bleiben schon deswegen partikular. Der Diskurs Bioethik schafft auf diese Weise mit der Zeit eine Serie technischer »Verursacher« von bioethischen Problemstellungen - und ordnet die bioethischen Objekte diesen Verursa chertechnologien5 zu. Die Schärfe der Trenngrenzen der so sich sedimentierenden technolo giegebundenen Spezifikationen ist beachtlich, das zeigen Beispiele. Etwa als um das Jahr 2000 herum der so genannte Embryonenschutz von Kriti kern der Forschung abverlangt wurde. Man brachte damals in technologie kritischer Absicht Substanzwert-Argumente in Anschlag, und zwar auch von >feministischer< Seite. Die Debatte verlief zunächst vollständig tech 5 »Technologien« heißt es hier bewusst —denn konkrete Techniken haben nicht diese spezifizierende Kraft. Die konkreten Techniken, die im Labor zur Anwendung kommen, sind im Gegenteil quer durch die Technologien hindurch oft eher auffallend ähnlich: ob es sich um einen PID Gencheck, um ein »verbrauchendes« Embryonenexperiment oder um eine Klonierung handelt - die Handgriffe (und auch Geräte) im Labor unterscheiden sich kaum. Ihre finale »Bedeutung«, nämlich das Produkt, macht aus den Techniken das, worum gestritten wird: die »Technologie«.
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nologiebezogen —so dass man sich letztlich geradezu blind verhielt gegen über der politischen Nähe des Themas Embryonenschutz zum Thema Abtreibung - und prompt dem bioethischen Objekt Embryo zur Realität verhalf. Erst nachträglich bemerkten die feministischen Protagonistinnen der Debatte, dass hier die Logik der partikularen Aufwertung eines tech nologiegebundenen bioethischen Objekts (des Embryo in seiner biorecht lichen Definition als »werdendes menschliches Leben«) zu einem breiten Aufschwung alter Lebensschutzargumente führte. Die multiple Rolle der In w/rö-Befruchtung (IVF) bildet ein weiteres schönes Beispiel für die technologiegebundene Spezifikationslogik, die den bioethischen Diskurs prägt. Das komplexe und eigentlich die Technologie übergreifende Problem des Zusammenhangs von prospektivem Wissen und durch Präferenzwahl faktisch lancierter Ausgrenzung/Selektion kann bis heute aufgrund der partikularisierten, technologiegebundenen Diskurslage nicht politisch diskutiert werden: Jeweils an bestimmte Technologien scheinen immer nur bestimmte Wahlentscheidungen gebunden — und werden separat zum Thema. Auf diese Weise diskutierte man das Selekti onsproblem nie prinzipiell. Technisch war die Möglichkeit der KinderSelektion mit der IVF mit einem Schlag in der Welt. Man unterschätzte zunächst die grundsätzliche Bedeutung der IVF (die >harmlosere< Selekti onsentscheidungen umfasst) und diskutierte im Zusammenhang mit der IVF eher Fragen wie die >Künstlichkeit< der Laborbefruchtung und den Zerfall der Familie. Die technologiegebundene Diskussion kommt nun nachträglich sowohl im Kontext der Technologie PID (weniger >harmlos<) als auch im Großzusammenhang >Gentests< (sozialpolitisch folgenschwer) auf das Selektionsproblem zurück —um erschrocken festzustellen, dass durch IVF im Feld der Reproduktion längst üblich geworden ist, was man nun auch anderswo wohl nicht mehr zurückholen kann. Zusammengefasst ergibt sich auch hier eine These: Ein eigentümlicher Nominalismus der technologiegebundenen Spezifikation der Objekte und Rele vanzen beherrscht das bioethische Feld. Wahrscheinlich könnte man die Gegenstände eines Diskurses der Bioethik Stück für Stück mühelos inven tarisieren, indem man gewesene und aktuell noch laufende »Debatten« um (spezifizierende) Technologien abschreitet: Die Abtreibungsdebatte (Fötus und werdendes Leben), Diskussion um das Lebensende (Hirntod), Debatte um Gentherapie und Genbanken (Genpool), die Auseinandersetzung um IVF (Embryo 1), die Stammzell-Debatte (Stammzelle), die Klonierungs-
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Debatte (Embryo 2), die Gentest-Debatte (genetische Information) und so weiter.
3. Die Formation der Äußerungsmodalitäten Etwas kryptisch wird in der Archäologe des Wissens die zweite Achse der Aussagenanalyse diejenige der Formation von »Äußerungsmodalitäten« genannt. Gemeint sind die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass eine Aussage geäußert und mit anderen Aussagen »verkettet« werden konnte, also die Regeln, denen zufolge sie materialiter in die Welt kommt —vom Aufschreibesystem bis zur Stilisierung eines »Autors«, der eine Aussage tätigt.6 Welches wären die charakteristischen Äußerungsmodalitäten in einem möglichen >Diskurs< Bioethik? Ein Vorschlag zur Beantwortung der Frage könnte heißen: Grundsätzlich handelt es sich um den Äußerungsmodus des betroffenen Interesses. Es kann sich dabei mehr oder weniger um ein Ei geninteresse handeln, aber auch um eine Form der Verantwortung oder des Interesses am Anderen und am Ganzen. Entscheidend ist, dass dieses Interesse als rationalisierungswilliges Interesse auftritt und eben daher »kon struktive« Partizipationsbereitschaft signalisiert —mit dem Ziel der >Lösung< eines zur Sache aller erklärten Problems.7 Diese allgemeine Umschreibung kann auch wieder spezifiziert werden, analog zum Schema der Archäologe.
6 Für den medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wäre dies beispielsweise »die Gesamtheit der Regeln, die gleichzeitig oder nacheinander reine perzeptive Beschrei bungen, aber auch durch Instrumente vermittelte Beobachtungen, Erfahrungsprotokolle aus Laboratorien, statistische Berechnungen, epidemiologisch oder demographische Feststellungen, institutionelle Regelungen, therapeutische Vorschriften möglich gemacht haben« (Foucault 1969, S. 52). 7 Weder der geforderte Rationalisierungswille (man könnte auch sagen: die Lembereitschaft) noch das Ziel der Problemlösung sollte für meine Begriffe mit einer Vernunftöder Konsensorientierung Habermasschen Typs verwechselt werden, auch wenn Ha bermas selbst dies inzwischen tut, wo er biotechnologisch heraufbeschworene Orientie rungskrisen durch »Gattungsethik« beheben will (vgl. Habermas 2001). Die explizite Vernunftorientierung wohnt dem Rationalisierungswillen der Bioethik jedoch nicht inne. Es geht eher um Kompromissbildung, bei der auch strategische Argumente rational sind und Eigeninteresse durchgesetzt werden darf.
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3.1. Wer spricht? Eine >erste Frage< lautet: Wer spricht? (Vgl. Foucault 1969, S. 75) Wer wird durch den Diskurs eigens und auf singuläre Weise 2ur Äußerung autori siert? Tatsächlich scheint ein solcher durch einen Diskurs der Bioethik ganz neu autorisierter Sprecher zu existieren: Es ist der säkulare Ethikex perte, der Ethiker —eine historisch völlig neue Figur. Dem Ethiker kommt im Diskurs der Bioethik gleichsam eine Moderationsaufgabe zu; er hat aber auch eine auf besondere Weise >wissende< und eine resümierende Funktion. Er ist derjenige, dessen Wort nie von irgend jemandem kommen könnte, und dessen durch einen Status wie auch individuell definierte »Persönlich keit« den Wert seiner Worte entscheidend bestimmt. Nicht der Ethiker allein ist allerdings autorisiert, in der Bioethik zu sprechen, sondern es existieren zwei weitere prototypische Rollen: der Be troffene und der naturwissenschaftlich-technische Experte, wobei der Experte mög lichst authentisch eine Fachwissenschaft zu repräsentieren hat.8 Ethiker, Betroffener, Experte: Alle drei zusammen bestücken den für die Bioethik prototypischen Äußerungsort, nennen wir ihn: das bioethische >Podium<. Der Bioethiker ist autorisiert, über die Aussagen der anderen beiden Gruppen in verallgemeinernder Form zu disponieren. Er beschreibt, re konstruiert, bilanziert. Die Betroffenen wie auch die Experten haben diese Verallgemeinerungskompetenz gerade nicht. Betroffene und Experten spre chen auf dem Podium jeweils nur für sich selbst. Ihre Aussagen werden gleichsam als >Meinung< zur Kenntnis genommen. Für die Diskurskonstel lation entscheidend ist ihr einerseits offener (und repräsentativer), anderer seits exklusiver Charakter. Jenseits der drei Rollen wie auch außerhalb des bioethischen Podiums gibt es keine weiteren Rollen, keine gleichrangigen Äußerungsmöglichkeiten und auch keine legitime Beobachtetposition. Für die Bioethik ist jeder Beobachter Partei. Das hat seinen Grund in einer spezifischen Universalisierbarkeit der Betroffenen-Kategorie. In der Bio ethik ist das Publikum stets auch potentiell aus Betroffenen zusammenge setzt - oder, anders gesprochen, wenn jemand aus dem Publikum spricht, so kann er nicht als Beobachter, Zeuge etc. sprechen, also aus einem Au ßerhalb des bioethischen Diskurses. Diese Äußerungsform ist nicht vorge sehen. Das bioethische Podium hat kein Außen, man erhält nur als Ethi8 Konkret kann er also durchaus Naturwissenschaftler, Ingenieur oder Jurist sein und auch Politiker sind denkbare Experten, allerdings nur Politiker, die in der fraglichen An gelegenheit nicht direkt als Entscheider firmieren.
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ker, Betroffener oder Experte eine aktive Sprecherposition. Zeugen oder Beobachtern fallt pauschal die Rolle zu, als potentiell Betroffene zu spre chen.9 Spitzen wir diese Antwort auf die Frage nach dem spezifischen »Wer« bioethischer Aussagen noch einmal thesenförmig zu. Der Diskurs der Bioethik fordert Individuen zum Sprechen, zur Stellungnahme auf. Dabei autorisiert er jedoch erstens lediglich die genannten drei prototypischen Rollen —und zweitens beinhalten diese, dass den Betroffenen und den Experten die konstatierende Kompetenz abgesprochen wird. Betroffene und Experten können nicht sagen, was (bioethisch) der Fall ist. Betroffene ken nen lediglich Wünsche und Ängste (in diesem Sinne kann auch das Publi kum nur aus potentiellen Betroffenen bestehen). Der wissenschaftliche Experte wiederum kennt die Reichweite und die erwartbare Leistungsfä higkeit der Biotechnologien bzw. (im Falle des Juristen) die Welt der bishe rigen biorechtlichen Belange. In der Bioethik gelten beide als zwar relevante, aber per se relative Perspektiven. Privileg des Ethikers ist es demgegenüber, verbindliche Perspektiven an zubieten, und zwar solche, die aus der Diskussion >resultieren<. Auch die Aussage des Ethikers ist lediglich pragmatisch-letztgültig. Sie ist nicht in einem metaphysischen Sinne >wahr<. Es gehört vielmehr zum Diskurs, dass es verschiedene Ethiker gibt - und dass diese sich exemplarisch uneins sein können über die Bilanzierung der »bioethischen« Situation. Es macht einen Teil der Autorität von Bioethikem aus, dass sie untereinander einen kompe tenten Disput über die abschließende >Lösung< einer ethisch konflikthaften Lage führen. Sie tun dies dann gleichsam in stellvertretender Verallgemei nerung vor den Augen aller - quasi als Lehr-Disput. Wer >ist< schließlich der Bioethiker? Sein Status markiert eine Mittelpo sition zwischen einem wissenschaftlichen >Experten fürs Normative< und (von der Wissenschaft her gesehen) einem >informierten Laien< sowie (von der Politik her gesehen) einem >mündigen Bürgere Der Ethiker benötigt also eine berufliche Expertise im philosophisch-normativen Bereich: 9 In der Folge kann man beobachten, dass gerade die Rolle des Journalisten gleichsam automatisch zur Positionierung innerhalb des Dreiecks zwingt: Entweder der Reporter berichtet als Bürger (damit als Laie, »Betroffener«), diesen Autorisierungsweg findet man oft zum Beispiel im Spiegel. Oder aber er berichtet als »Fachmann«, flaggt also deutlich eine wissenschaftsjournalistische Expertise aus, so etwa die Autoren auf der E/lZ-Wissenschaftsseite. Der Sonderfall, dass sich der Journalist die Rolle des Ethikers anver wandelt, kommt ebenfalls vor. Diesen Typus findet man etwa im FAZ- oder Zeit-Feuil leton.
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Theologen sind prädestiniert, Psychologen nicht. Philosophen sind prä destiniert, Mathematiker oder Künstler nicht. Wer nicht als Theologe oder Philosoph einsteigt, muss eine qua Biografie verbriefte Zusatzkompetenz in allgemeinen Fragen der Moral, der >Werte< oder der Mitmenschlichkeit mitbringen. Eine solche Kompetenz kann man auch im Kontext der Bioethik er werben. Interessanterweise rekrutieren bioethische Debatten ihren Ethikernachwuchs selbst. Im Zuge von Debatten können nämlich sowohl Betroffene als auch Experten allmählich zum Ethiker avancieren —und bilden dann einen Pool von besonders glaubwürdigen »auch betroffenen« oder »auch expertenkulturell ausgewiesenen« Bioethikem, aus dem sich vor allem die Politikberatung versorgt. Im einen Fall geschieht dies etwa, in dem Vertreter von Betroffenenverbänden in Ethikkommissionen berufen werden (die Vorsitzende der Huntington-Gesellschaft sitzt im Nationalen Ethikrat) oder indem publizierende Kritiker mittels eines so genannten >Partei-Tickets< in parlamentarischen Gremien tätig werden (ein ausge wählter Psychiatriekritiker landet in einer Enquete-Komission). Im anderen Fall kann etwa der einzelne Mediziner oder Politiker in Feuilletons und Talkshows sich zusätzlich zu seiner Expertise auch unter allgemein menschlicher Perspektive und als Bürger präsentieren und sich so, gleich sam obwohl er Experte ist, zum Ethiker qualifizieren. Auf diese Weise liest man von einem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten oder von ei nem SPD-Altvorsitzenden bioethische Essays im Feuilleton.
3.2. Institutionelle Plätze? Der Ort der ethischen Aussage - das wäre ein weiterer Aspekt der Äuße rungsmodalität. Der Ort der Bioethik ist in der Tat ein spezifischer Ort, denn sie tätigt ihre Aussagen nicht allein in die Wissenschaft hinein, son dern vielleicht sogar hauptsächlich für eine der Wissenschaft nahe ge rückte, qualifi^erte Öffentlichkeit. Bioethik adressiert sich an das einschlägig vorinformierte (mündige) und lernwillige Publikum, das sich in einem weichen Sinne von Demokratie als politischer Partizipant versteht. Etliche heterogene institutionelle Funktionen vereint dieses Publikum auf sich: es ist Betroffener, Lemer, Wähler —und also bis zu einem gewissen Grad MitEntscheider in einer von der Bioethik in der ersten Person Plural themati sierten Frage.
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Lokalisierbar ist Bioethik in einem Spektrum von Institutionen, das man zwischen den Polen »wissenschaftsnah« und »wissenschaftsfern« auffächern könnte. Am mssenschaftsnahen Pol finden sich die einschlägigen Forschungsinstitute, etwa das »Institut für Wissenschaft und Ethik« der Universität Bonn; das »Zentrum für Ethik in den Wissenschaften« der Universität Tübingen, dort das DFG Graduiertenkolleg »Bioethik« —oder auch die »Europäische Akademie für Technikfolgenforschung« in Bad Neuenahr. Am mssenschaftsfemsten Pol würde ich zum Beispiel die Spielfilmproduktion ansiedeln, die von Biotech-Firmen in Auftrag gegebenen Pro dukte von PR-Agenturen oder auch bestimme popularisierende TV-Foren: Talkshows wie »Hart aber Fair« oder Human-Touch-Features. Irgendwo zwischen diesen Polen bewegen sich die publikumsoffenen Tagungen kirchlicher oder anderer Bildungsstätten und Verbände, die PRArbeit der Ministerien, Parteien und der parteinahen Stiftungen, von poli tiknahen Verbänden betriebene Forschungsinstitute wie das Berliner In stitut »Mensch, Ethik, Wissenschaft« und die bewusst an Naturwissenschaftsvermitdung arbeitenden Feuilletons der leitenden Print-Medien, also die so genannte >dritte Kultur< in der FAZ, der Zeit, der SZ und der FR Gerade den großen Feuilletons kommt für den Diskurs Bioethik eine Jo kerposition zu. Sie organisieren regelrechte Debatten-Zyklen, sorgen für Polarisierung und versorgen über Sonderhefte oder Sammelbände Öffent lichkeit und Wissenschaft gleichermaßen.
3.3. Subjektpositionen im Verhältnis zu den Gegenständen? Unter die Äußerungsmodalitäten fallt nach Foucault auch die typische Fon» von Subjektivität, die man in einem Diskurs mit einer Aussage verbinden kann: Zur Strafjustiz gehört ein anderes Repertoire von »subjektiven« Äu ßerungen als zum Beispiel zur Familie oder zur Kunst. Übertragen wir diesen Gedanken, so lässt sich vielleicht auch für die Bioethik eine bestimmte Subjekt-Form ausmachen. Es ist die Form der normativ überforderten und in eine verallgemeinerbare Lage der Unentscheidbarkeit gestellten Subjektivität. Diesen Gestus trifft man jedenfalls immer dann an, wenn sich die ansonsten verschiedenen Sprecherpositionen auf dem Podium in der ersten Person Singular äußern oder zu äußern haben. Bio ethik ist derjenige Diskussionsraum, in dem alle bekunden, dass sie sich
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eine >Lösung< wünschen, in dem aber dennoch niemand eine Entscheidung mit dem eigenen Namen signieren will. Bedeutsam ist, dass dieses normativ übeiforderte Subjekt der Bioethik tat sächlich ein >allgemeines< Subjekt ist. Man kann dies daran ablesen, dass die bioethische Erwägung letztlich stets im Kollektivsingular der ersten Person Plural konvergiert: >Wir< stehen vor einer normativen Problematik, die zur ethischen Entscheidungsfindung zwingt. >Wir< müssen handlungsfähig bleiben - oder auch: >Wir< werden gemeinsam vom biotechnischen Fort schritt überrollt. Das Gegenüber dieses Kollektivsubjekts bilden mikrolo gisch unaufgeschlüsselte Mächte: die neuen Technologien, der wissen schaftliche Fortschritt, das Machbare - oder ganz generell die >neuen Mög lichkeiten.10
4. Die Formation der Begriffe Als eine dritte Achse, auf der ein Diskurs charakteristische Züge zeigt, nennt die Archäologe die Begrifflichkeit, die einem Diskurs eigen ist und von ihm selbst elaboriert wird. In der Frage der Begriffe ergibt sich für die Bioethik im Ganzen ein eher unklares Bild. Lässt sich hier wirklich - nach dem Vorbild der Be griffsordnungen der von Foucault untersuchten Wissenschaften —»ein System des Vorkommens zwischen ihnen finden, das keine logische Systematizität ist?« (Foucault 1969, S. 83) Unverkennbar werden die technolo gienah auftauchenden Gegenstände im bioethischen Diskurs überwölbt durch eine Schicht von für die weitere Diskussion zentralen Begriffen. Zu nennen sind Wert, Würde, Leben, Person, Risiko, Verantwortung, Ge rechtigkeit, Zukunft und weitere mehr. Gleichwohl gewinnen alle diese 10 Sofern das Schema des mit-Möglichkeiten-konfronriert-Seins und Entscheiden-Sollens (und -Wollens) die einzig zulässige bioethische Subjektposition definiert, fallen Alternati ven aus. Man kann sich im Diskurs um Biotechnologien beispielsweise nicht als bloßer geschichtlicher Zeuge fühlen. Auch in ihrer Vernunftvorstellung anachronistische oder radikal parteiliche Subjektpositionen finden keinen Platz, sie erscheinen als >Wissenschaftsfeindlichkeit< oder als >Fundamentalismus< (und werden von Ethikem auch so ge nannt). Was dies politisch bedeutet, ist klar: Wer nicht am Diskurs vorbeireden will, muss eben die »bioethische« Subjektposition einzunehmen lernen. Den damit ver knüpften Mechanismus der entpolitisierenden Rollenübemahme hat Niklas Luhmann als »Selbstbindung« beschrieben (vgl. Luhmann 21989).
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Begriffe in der Art, wie sie sich zueinander ordnen, nicht wirklich eine für die Bioethik spezifische Kontur. Eher scheint es als liege ihr Spezifikum darin, dass es sich zwar jeweils um philosophische Traditionsbegriffe han delt, dass diese dann aber mit der Übernahme in den bioethischen Kontext an Kontur verlieren.
4.1. Abfolge von Begriffen? Die von Foucault geforderte »Abfolge« ist in die Sterne am Begriffshimmel also schlecht zu bringen. Die Frage nach der Anordnung läuft auf die an gedeutete Verlustanzeige hinaus. Die Bioethik eliminiert sowohl eine be stimmte genuin alltagsmoralische als auch eine bestimmte wissenschaftli che Form zu reden. Die Alltagsbegrifflichkeit wird szientifisch überlagert. In formalem Sin ne unausgewiesene Ausdrücke und traditionsmoralische Formeln wie »Menschlichkeit«, »Fürsorge«, »Anstand«, »Respekt« oder auch Maximen wie »das tut man nicht« werden im bioethischen aufgeklärten Diskurs er setzt und in ihrer Funktion - nämlich relativierende Diskussionen zu ver hindern —beseitigt. Statt solcher alltagsmoralischer Gebotswörter werden — zumeist der Philosophie endehnte - Abstrakta mobilisiert. Eine im vollen Sinne wissenschaftliche Redeweise bringt die Bioethik gleichwohl nicht mit sich. Im Zuge der >öffendichen< Adressierung wird die Fachbegrifflichkeit vielmehr trivialisiert. Philosophische Begriffe etwa finden sich undifferenziert verwendet, sie werden mit theologischen oder politiksprachlichen Konnotationen vermischt und ihrer Geschichte ent kleidet. In längeren ethischen Diskussionen werden sie als »Plastikwörter«11 beliebig geformt. Für Fachphilosophen bringt das die erschreckende Er fahrung mit sich, wie schnell Bioethik wichtige Konzeptbegriffe mit einer verzweigten, aber präzisen Tradition innerhalb von wenigen Jahren völlig zu zerreden vermag. Etwa die Würde. Oder auch den Wert.
11 Dieser schöne Diagnosebegriff stammt von Uwe Pörksen: Plastikwörter sind aus der Wissenschaft in die Gesellschaft freigesetzte und dort leer gewordene Termini, die gleichwohl eine diffuse szientifische Aura ausstrahlen (vgl. Pörksen 1988).
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4.2. Koexistenz? Was die von Foucault so genannte »Koexistenz« der Begriffe im Diskurs angeht, ist neben dem schon genannten flexiblen Charakter von in anderen Kontexten wohldefinierten Begriffen das Nebeneinander einiger Schlüssel begriffe zu nennen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine moralischethische und eine ökonomische Bedeutung in sich vereinen. Es sind dies der >Wert< sowie die >Gerechtigkeit< und auch die >Verantwortung<, denn die >Verantwortlichkeit< (im Sinne der Schadenshaftung) spielt in die Verant wortung mit hinein. Auffällig ist ansonsten das Fehlen von Bezügen zwischen den partikula ren Debattenbegriffen. Aus jeweils drei willkürlich ausgesuchten Begriffen der Reihe Mensch —Leben —Technik —Würde —Zukunft —Ethik —Natur - Verantwortung ließe sich eine Fülle von Titeln für Bioethik-Sammelbände zu beliebigen Technologien generieren. Wobei sprechend eben ist, dass diese Titel exakt gleichwertig wären. Das Ensemble der Begriffe überschreibt in seinem Nebeneinander jedes Thema gleich gut und gleich schlecht. Schließlich ist noch ein Drittes auffällig, In der Bioethik koexistieren eine Fülle von philosophischen, ökonomischen, politischen Großvokabeln. Was jedoch fehlt, ist jeder Bezug zur strafrechtlichen Begrißichkeit - wie über haupt die Bioethik und das Strafrecht einander geradezu auszuschließen scheinen. Dieser Punkt scheint mir bemerkenswert, er lohnt der näheren Beschreibung. Ist ein Handlungsfeld als bioethisch relevant in der Diskus sion - dann ist die Berufung auf geltendes Recht ein Argument ohne Fol gen. Das in Rede stehende normative Feld wird gleichsam per se zu einer rechtlichen >Grauzone< erklärt, über die man nachdenken müsse. Die Ethik stellt sich also über das geltende Recht - und die Öffentlichkeit wird ein geladen zu einer Art potentiellen Rechtsänderungsdebatte. Im Bereich des Strafrechts werden dabei durch die Deaktivierung von Begriffen gleichsam Amnestien erteilt. Einige Beispiele: Die bioethische Begrifflichkeit verweigert alle Anklänge an den Tatbestand der Körperverlet zung, der im gesamten Feld der nicht heilenden biomedizinischen Eingriffe juristisch gesehen natürlich erfüllt ist —bei der Organentnahme etwa oder in der Reproduktionsmedizin.12 Bioethik würde auch nie das Tatbestands 12 Zwar gilt ungewollte Kinderlosigkeit inzwischen als Krankheit, jedoch wird ja oft der gesunde Partner eines reproduktionswilligen »Paares« behandelt. Zur Problematik vgl. Saborowski 2005.
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feld der Nötigung in Betracht ziehen, wo Beratungs- und Aufklärungsge spräche oder auch Behandlungsverfahren möglicherweise aufgedrängt werden. Desgleichen sprechen Ethiker zwar inzwischen zuweilen (und dies nun wiederum strafrechtswidrig) von der >Tötung< von Embryonen, ver meiden aber die Rede vom Mord im Zusammenhang mit Handlungen der Sterbehilfe, wenngleich die so genannte >passive< Sterbehilfe tatbestandlich zweifelsfrei eine vorsätzliche Tötung durch eine Unterlassung von fremder Hand darstellt.13
4.3. Begriffliche Interventionsprozeduren? Als »begriffliche Interventionsprozedur« —Foucault nennt als Beispiele »Techniken der Neubeschreibung«, Transkriptionen, Systematisierungen anderer Art (vgl. Foucault 1969, S. 87) —sticht für die Bioethik wohl eine besonders wirksame Politik der Taufe von Problemen ins Auge. Jede neue Strophe in der bioethischen Ballade beginnt mit dem neuen Namen einer neuen Technologie. Deren Eigenname präsentiert sich dabei als die neue singuläre, nie dagewesene »ethische« Herausforderung. Solche Taufnamen eines ganzen bioethischen Feldes haben eine globa lisierte Form, sie sind ans Englische angelehnt (zum Beispiel cloning/Ylonen oder Klonierung, i/m»-«///Stammzelle) und oft mit einem techni schen Kürzel versehen (ICSI steht für eine bestimmte Befruchtungstech nologie, PID für die Selektion vor der Embryonen-Implantatdon). Der Diskurs akzeptiert die expertensprachlichen Kürzel als Namen für die Sache und zugleich das Dilemma, das sie mit sich bringt. Ominös bleibt, was jenseits der technischen Neuerung im Ergebnis denn das wirklich einschneidend Neue einer neuen Technologie sein wird. Statt Klonierung hätte man beispielsweise auch »Herstellung von Zwil lingen« sagen können und der Debatte vielleicht ein Stück der Aura des Sensationellen genommen. Die Invitrofertilisation (oder IVF) könnte ein
13 Woran der Diskurs ebenfalls nicht rührt, sind die fragwürdigen Voraussetzungen von Willenserklärungen im Bereich biomedizinischer Eingriffe. Das zu den so genannten »Einwilligungen« gehörige Prozedere wird zum Rest des Rechts einfach nicht ins Ver hältnis gesetzt. Jeder Kauf an der Haustür oder jede Anmietung eines Leihwagens unter liegt juristisch strengeren Bedingungen als die Einwilligung in einen Heilversuch oder die dank Bioethik einge führte Verfügung über die so genannten lebenserhaltenden Maß nahmen, für den Fall dass ich alt oder schwer krank bin.
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fach Laborbefruchtung heißen —und würde sich dann mit ihrer Schwester, der PID, der Selektion im Reagenzglas als verwandt erweisen. Der euphemistische Name »Sterbehilfe« für die Tötung zum Lebens ende ist ein Sonderfall. Der Begriff wurde schon 1915 erfunden, ist kein Fremdwort, funktioniert jedoch so ähnlich wie die aus Orwells Zukunfts szenario bekannte Bezeichnung »Wahrheitsministerium«. Der Akt der vorsätzlichen Tötung erhält den Eigennamen einer Hilfe beim Sterben — als hülfe diese Hilfe zu einem Tod, der gerade nicht durch Tötung erfolgt. Das von Foucault in der Archäologe des Wissens so genannte »Erinne rungsfeld«, über das jeder Diskurs durch die Anordnung seiner Begriffe implizit verfügt - indem er nämlich Früheres nicht mehr zulässt und disku tiert (vgl. Foucault 1969, S. 86—88) und lediglich eigene Suggestionen hin sichtlich seines eigenen Herkommens anbietet scheint mir im Falle der Bioethik auffällig klein. Die Bioethik präsentiert sich geschichtslos - als ein Diskurs, der spontan entstand und einfach deshalb erscheinen musste, weil >die Gesellschaft« Umgangsformen für das ganz Neue finden und formulie ren muss. Ein solches >leeres< Erinnerungsfeld ist allerdings auch ein Erinnerungs feld und als solches wirksam. Der Gestus der vergangenheitslosen Notre aktion mag durchaus einen besonderen Druck erzeugen. Jedenfalls hat er einen Autorisierungseffekt und gibt dem bioethischen Diskurs ein Maxi mum an Definitionsmacht. Der Diskurs selbst bietet keine historischen Maße und keinen Vergleich.
4.4. Vorbegriffliche Ebene? Nach Foucault zeigt sich in jeder diskursiven Formation von Begriffen schließlich auch eine vorbegriffliche Ebene an, auf der der Diskurs ruht wie auf einem von innen her tragenden Skelett. Im Falle der Bioethik sto ßen wir auch hier wieder auf das Undeutlichkeitsproblem —einfach weil die Bioethik wie ein Schwamm moralisch-ethische Allgemeinbegriffe aus ver schiedensten Bereichen aufsaugt und für ihre eigenen Belange wendet. Trotzdem kann man vielleicht ein Grundmuster angeben, durch das Bioethik auf die vorbegriffliche Ebene, auf >Verfahren< und auf institutio neile Praktiken verweist. Bioethische Begriffe ordnen sich nämlich nach dem Grundmuster der dringlichen Entscheidung, der am Ende unausweichli chen Dezision. Einerseits gibt es da die Aktualität einer krisenhaften Lage —
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andererseits die Fälligkeit einer Weichenstellung, auf die sich der Erwä gungsprozess hinordnet. Sollte je das ethische >Wir<, die überforderte Sub jektivität, sich zu keiner Meinung durchringen, dann entscheidet der Lauf der Dinge von selbst - das ist die ergänzende Suggestion und Drohung. Inwiefern ist es so etwas wie vorbegriffliches Handeln, das sich hier kundtut? Hier legt sich eine auf die Macht der Technik abzielende These nahe: Die vorbegriffliche Dimension der Bioethik liegt in den Techniken und in der Eigenlogik der Technikentwicklung selbst. Das schweigende und schweigend akzeptierte Werk der Technik sowie der Forschung, die die Technik- und die Technologieentwicklung forciert, zeichnet sich in einer Dringlichkeit ab, die der Bioethik innewohnt, ohne dass sie sich selbst darüber Auskunft geben könnte. Dies gilt auch für die Theoriebil dung: Bioethik verfügt über eine Fülle von normativen Kategorien. Ich kenne jedoch keine mit dem bioethischen Sprachspiel irgendwie vermittel bare Techniktheorie. Das stumme Drängen der Technologieentwicklung, von der die bioethische Entscheidungsrhetorik lebt, ist gleichsam das Schicksal der Bioethik, denn es ist ihr blinder Fleck. Anders ausgedrückt: Die idealtypisch stets geforderte Entscheidung muss —und diese Dimension liegt tatsächlich vor ihren eigenen Begriffen — in der Bioethik immer eine Neupositionierung sein, die eingefordert wird durch eine in einer technischen Innovation verkörperte Verheißung. So gibt es in dieser Ethik, wie im vorigen Kapitel entfaltet, kein Verharren beim ethi schen Status quo. Ebenso kann jene geforderte Entscheidung, auch wenn sie sich so geben muss, niemals endgültig sein —schon deshalb, weil die äußere Form der Wertekollision und damit der rationalen Unentscheidbarkeit14 einer bioethischen Problemlage ebenso erhalten bleibt wie das reak tive Grundverständnis, das den bioethischen Diskurs stets wieder neu an die nächste technologische Neuerung bindet.
14 A uf die strukturelle Unentscheidbarkeit, die der Kommunikation von »Wetten« inne wohnt, hat Nikks Luhmann hingewiesen (vgl. Luhmann 1978). »Werte« kollidieren gleichsam per se, sie stehen in einer unentscheidbaren, quasi-räumlichen Konstellation zueinander, wie »Fixsterne« (Luhmann). Sie lassen sich dabei logisch aber nicht aufein ander beziehen, sondern allenfalls konstatieren und in immer wieder neue Verhältnisse setzen. Ohne dass eben das reflektiert wird, bestimmt sich die Begrifflichkeit der Bio ethik rund um solche unentscheidbaren, lediglich variierbaren Kommunikationen von »Werten« herum.
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5. Die Formation der - ganze Themenkomplexe implizierenden - Strategien Die vierte und letzte Analyseachse bilden die so genannten >Strategien<, die Foucaults Methodenbuch sehr umfassend definiert. Es handelt sich um alles, was - über Gegenstände, Rahmenbedingungen des Sichäußems und Begriffe hinausgreifend —die Themenwahl, die Gesamtpositionierung und die Stoßrichtung eines Diskurses ausmacht: Ausgestaltung, Wiederbele bung oder Einbettung, strategische Wahl oder Ausgrenzung von Themen. Auch das differentielle Verhältnis eines Diskurses zu anderen Diskursen — so etwas wie der Kampf zwischen den Diskursen —gehört in diesen Be reich.
5.1. Bruchpunkte, Punkte der Inkompatibilität? Foucault gibt für die Suche nach der strategischen Dynamik eines Diskur ses ein Findkiiterium an die Hand. Auf die Spur soll man ihr mittels dessen kommen, was die Archäologie »Bruchpunkte« nennt. Hartnäckig milgefuhrte Inkompatibilitäten, letzte »Äquivalenzpunkte«, nämlich Stellen, wo im Diskurs etwas gleichwertig-unvereinbar nebeneinander steht, müssen frei gelegt werden. Foucault zufolge sind solche Bruchpunkte zugleich »Aufhängpunkte einer Systematisierung« (Foucault 1969, S. 96). Sie enthalten den »Leitdifferenzen« Luhmanns nicht unähnlich (vgl. Luhmann 1984, S. 19, 57, 105) - den Schlüssel zu den strategischen Pointen des Diskursaufbaus. Welche >Bruchpunkte< kennzeichnen nun aber einen möglichen bioethischen >Diskurs Ich gebe eine Antwort auf Probe, und diese Ant wort fällt abstrakt aus. Sucht man nach grundlegenden Paradoxien, so kann man fündig wer den, sobald bioethische Problemstellungen gründlich ausdiskutiert sind. Stets stehen dann nicht nur zwei, sondern eigentlich drei Letztgrößen neben einander. Sie schließen einander begrifflich aus und sind doch äquivalent. Alle drei erscheinen jeweils für sich als letzte Notwendigkeiten, als höchste Schicksalsmacht (wie auch als höchste Norm). Alle drei erscheinen aber auch jeweils wie durch den besagten »Riss« oder »Bruch« getrennt, der es verhindert, dass man sie gegeneinander ausspielen könnte. Die Diskussion läuft zwischen ihnen hin und her und setzt sich gleichsam zwischen den
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Äquivalenten fest. Es handelt sich bei den drei Letztgrößen um die drei kandidierenden Instanzen einer modernen Quasi-Ontologie. Erstens ist da das sich selbst reproduzierende biosoziale >Leben< der Menschengattung selbst, also die lebendige, nämlich die den Lebenssubstanzen Zgtgesprochene Selbstreproduktion - wenn man so will: der biologischen, viel leicht aber auch der soziobiologischen Natur, wobei gerade der Naturbe griff hier mit der Idee von so etwas wie der rohen Sozialnatur, einer >Anthropologie< des Menschen, verschwimmt. Diesem Typ der materiellen Selbstorganisation der Gattung kommt jedenfalls namentlich für die Bio ethik angelsächsischer Prägung eine letzte Notwendigkeit zu, sie hat einen im Prinzip konkurrenzlosen Wert. Zweitens ist da die technische Kreation, die traditionell auf >Kultur< zu rückgerechnete Selbstschöpfung des Menschen —jenes Menschen, der sich nach Foucault zwischen Natur und Freiheit, den beiden Leitideen des 19. Jahrhunderts, nur noch als eine empirisch-transzendentale Doublette reflektieren kann (vgl. Foucault 1966, Kap. 9). Dieses Kultursubjekt ver wirklicht sich aber eben selbst. Und dies tut es in Gestalt seiner vernunftgeborenen, auf pathetische Weise >künstlichen< und also im weitesten Sinne technischen Errungenschaften, weswegen der Mensch auch nur in diesem Medium der technischen Selbstverwirklichung nach Humanität und Fort schritt streben kann. Eben dieser Weg der Selbstschöpfung mündet konse quenterweise auch in das kulturelle Unternehmen der technischen >Reproduktdon< seiner selbst15, bis hin zum biomedizinischen und biotechnischen Artefakt. Drittens ist da die »Autonomie«, also die handlungspraktische und klassisch gesprochen —>sittliche< Selbstbestimmung und potentielle Selbstverant wortung des Menschen —und zwar im Individualmaßstab wie auch im Ideal einer als Freiheit verstandenen kollektiven Selbstbestimmung. Neben der biosozialen und der technischen Wirklichkeit steht die schwindelerregende Wirklichkeit der Dezision —und auch sie hat den Charakter einer letzten Instanz, in die Ethik münden muss, ohne sie ihrerseits noch einmal trans zendieren zu können. S&Vdstreproduktion des biologischen Lebens, Selbstproduktion des kultu rell-technischen Lebens und S>e\bstbestimmung des Freiheitslebens —jedes 15 Auch die Reproduktion, die Fortpflanzung war historisch gesehen nie ein nicht-technischer Vorgang, so gesehen ist das Thema der >Züchtung< mit dem Thema der Selbst züchtung des Menschen identisch, jedenfalls unter dem Vorzeichen einer kulturell-technischen Ontologie. Das nachfolgende Kapitel nimmt diesen Faden wieder auf.
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Mal könnte man hinzusetzen: des Menschen. Hier erkennt man sie wieder, die oben unter Punkt 3 (Äußerungsmodalitäten) beschriebene mberforderte< Subjektivität, die für jenen hier probehalber durchkonstruierten >Diskurs< der Bioethik kennzeichnend ist. Das Subjekt der Bioethik wäre dasjenige, das sich als zur Normensetzung aufgefordert wahmimmt und dennoch nicht weiß, wie und an was orientiert es sich zwischen diesen drei Zirkeln seiner selbst entscheiden soll. Alle drei Figuren dieses >Lebens< ähneln sich. In losem Anschluss an Foucault würde man wahrscheinlich sagen: Sie reproduzieren auf einer allzu allgemeinen Ebene den anthropologischen Kurzschluss. Zugleich - oder eben deshalb? —ist es die geradezu verzwei felte Suche nach der qualitativen Unterschiedenheit wie auch Vereinigung dieser drei Zirkel des menschheitlichen >Selbst<, um die die begriffliche Anstrengung bioethischer Debatten kreist.
5.2. Ökonomie der zugehörigen diskursiven Konstellation? Zum vorletzten Punkt, der Frage nach der diskursiven Konstellation rund um die Bioethik herum. Hat die Bioethik Nachbardiskurse? Und bestehen zu diesen Verhältnisse der Analogie, Komplementarität, Opposition? Eine Komplementarität wurde oben schon angedeutet: Die Bioethik verhält sich komplementär zur politischen Gesetzgebung und leistet in diesem Feld eine experimentelle Form von Öffentlichkeitsarbeit Auf dem bioethischen >Podium< organisiert sich gleichsam ein informelles öffentli ches Anhörungs- und Abwägungsdrama - mit Betroffenen, Experten und dem Bioethiker in der Joketposition. Sukzessive wird ein Publikum invol viert, das keine eigene Rolle hat, sondern sich mit der Betroffenenperspektive anfreunden soll. In dieser weichen, öffentlich aber hochwirksamen Rolle kann Bioethik Themen setzen, Positionierungsdruck aufbauen, Stimmungen anheizen und die Fälligkeit von administrativen oder parla mentarischen Maßnahmen suggerieren —oder aber konterkarieren. Dass sie auf diese Weise nicht nur Parlamenten zuarbeitet, sondern auch eine Drehscheibe für Lobbypolitik ist, liegt auf der Hand. Interessanter ist jedoch der Effekt, dass es ihr tatsächlich zu gelingen scheint, so etwas wie kollektive >Partizipation< zu suggerieren, also einen Diskurs im Sinne von Habermas, der in der Lebenswelt beginnt und nicht von professionellen Ethikern ausgeht. In der Tat hat sich Bioethik bis heute nicht als undemokratische Veranstaltung diskreditiert - und dies
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ungeachtet der Tatsache, dass sowohl der Zeitfahrplan als auch die Inhalte einer bioethischen Debatte ausschließlich von Ethikem bestimmt werden, und zwar oft von Ethikern, die zugleich auch Medienleute oder Politiker sind, was die Sache demokratietheoretisch nicht besser macht. Von daher noch einmal eine zusammenfassende These zur Frage der Nachbardiskurse: Wenn Bioethik ein Diskurs ist, so verhält sie sich kom plementär zur parlamentarischen Gesetzgebung und zur Politikerpolitik, sie opponiert aber auch gegen eine —aus Sicht der innovationsgierigen Diskurse der Wissenschaft und der Wirtschaft —stets immer noch zu lang same und zu träge Arbeit des politischen Systems. Das Wissenschaftssys tem allein könnte nie eine >Debatte< lostreten —es sei denn, mehrere expo nierte Wissenschaftler würden in dieser Hinsicht über längere Zeit strate gisch operieren und ihrerseits aktiv und gezielt die Medien einsetzen sowie parallel auf der Ebene von Unternehmens- und Politikberatung operie ren.16 Das Wirtschaftssystem allein könnte ebenso wenig die angenom mene >Debatte< initiieren. Es bekommt auch für Geld nicht die erforderli che moralische und politische Reputation. Bioethik kann dies tun, indem sie Mimikry an Wissenschaft mit Offenheit für Wirtschaft und einem Sinn für »konstruktive« politische Oppositionsarbeit verbindet. Sie ersetzt die Frage nach ökonomischen Motiven durch Sorge um die Zukunft und sie ersetzt die Esoterik der Wissenschaft durch Öffnung in Richtung auf eine Öffentlichkeit, in der sie —dank der sanften Expertensprache des Ethikers —gleichwohl genug Wissenschaftlichkeit ausstrahlt, um Diskussionen zu dominieren. Ethik kann schließlich zwischen den Diskursen Verantwor tung verteilen und Akteure unsichtbar machen. Um es ein wenig zu überspitzen: Ein Diskurs der Bioethik ersetzt Recht und ersetzt Politik —bzw. überformt beide Bereiche durch seine Argumen tationsangebote. Präpariert wird so ein Vorfeld, in dem potentiell nicht diskurskonformen Konfliktlagen möglichst politikfrei die Spitze genommen wird. Zeit und Energie werden gebunden, öffentlich wirksame Argumente schälen sich heraus und durchlaufen gleichsam einen Akzeptanztest, so dass Recht und Politik - erst ausgeschlossen, dann wieder eingeschlossen -
16 Als Lehrstücke hierzu können gelten: der durch den Unternehmer Craig Venter bravou rös inszenierte »Wettlauf« der privat finanzierten Entschlüsselung des Genoms gegen das länderfinanzierte Verbundprojekt HUGO - oder auch die von den Neuroforschern Gerhard Roth (Roth 1994; Roth 2001; Roth 2003) und Wolf Singer (Singer 2002; Singer 2003) pünktlich zum Ende des Jahrzehnts des Gehirns hartnäckig immer wieder ange schobene deutschsprachige Willensfreiheit-Debatte.
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sich in der Fülle der aufgebotenen Aussagen gleichsam wahlfrei bedienen können, um ihr Entscheiden zu begründen. 5.3. Nicht-diskursive Praktiken? Bleibt der Bereich der nicht-diskursiven Praktiken; Welche nicht-diskursi ven Praktiken finden sich in die Bioethik verflochten? Welche nicht-dis kursiven Praktiken hebt Bioethik auf? Der institutionelle Charme von Bioethik hat mit der politischen Ak zeptanz (wenn nicht mit dem Begehren nach) einer politischen Regierung des >Lebens< zu tun, die für moderne Konsum- und Sicherheitsdemokratien augenscheinlich charakteristisch ist. Bioethik weckt Risikobewusstsein, aber vielleicht lehrt sie auch das Pathos der biopolitischen Entscheidung und die dazugehörigen Risiken in der Art eines >Gattungsabenteuers< zu genießen. Damit sind wir bei der von Foucault aufgeworfenen Frage nach den »möglichen Positionen des Begehrens im Verhältnis zum Diskurs« (Foucault 1969, S. 100). Wer den bioethischen Diskurs begreifen will, muss wohl nach dem Begehren fragen, das er zu wecken vermag und das er dann tatsächlich auch befriedigt. Schaulust? Angstlust? Ein Begehren nach Absi cherung? Nach Kontrolle? Nach Spiel und »Chance«?
6. Schluss Der Nachteil an einem Probierverfahren ist, dass wer Ähnlichkeiten und probehalber Ergebnisse sucht, auch immer welche findet. Das in diesem Kapitel durchgespielten Gedankenexperiment hat eine Menge Indizien erbracht, denen zufolge die Bioethik sich tatsächlich als ein >Diskurs< im Sinne der von Foucault aufgestellten Kriterien »individualisie ren« lässt. Lediglich auf der Achse der Begriffe hat sich die Bioethik als ein eher unklares Ganzes von geringer Signifikanz erwiesen. Wäre freilich gerade das Gleiten und eine intendierte Beliebigkeit der Begriffe für den Diskurs der Bioethik signifikant, dann könnte man sich auch hier bestätigt fühlen. Die Bioethik >ist<ein Diskurs. Gleichwohl möchte ich zum Schluss einen Einwand formulieren, den man gegen alles bisher Gesagte eigentlich erheben muss. Von vornherein habe ich mich nicht nur sehr selektiv aus Foucaults Werkzeugkiste bedient,
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sondern ich habe dabei einen wesentlichen methodischen Verankerungs punkt übergangen. Als Diskurs kann - mit Foucault —vollgültig nur in Frage kommen, was wir am historischer Distan%untersuchen können. Das aber heißt: Eine Aussagenanalyse in einem Feld von uns zeitgenössischen (neuen) Aussagen ist eigentlich nicht möglich —schon deshalb, weil wir das vollständige Streuungsfeld der Aussagen gar nicht vor uns ausbreiten können. Es ist also eine einschränkende Schlussbemerkung fällig. Jener ver meintliche Diskurs der Bioethik, von dem hier die Rede war, ist nicht wirklich eine Formation, die wir bereits im >Archiv< aufsuchen können und deren Dichte inventarisiert und sauber beschrieben werden kann. Das Aussagefeld ist überdies - zumindest in Richtung auf die Zukunft - schwer zu datieren, denn wir kennen seine Erstreckung (noch) nicht. Möglicher weise schlummern ganze Pakete relevanter Aussagen in Schränken oder liegen direkt vor unseren Augen und werden von uns heute einfach des halb übersehen, weil wir selbst nur selektiv, aufgeregt, parteilich und empfindlich-überreizt wahrnehmen können. Die Anwendung der Methoden der Aussagenanalyse würde sich also schlicht deshalb verbieten, weil wir in unserer eigenen Gegenwart stecken und daher nicht in der theoretisch erforderlichen Weise als Historiker denken und arbeiten können. Ich lasse diesen Selbsteinwand im Raum stehen. Foucaults Analyseverfahren sollte man in der Tat nicht als sozial wissenschaftliches Verfahren missverstehen. Es liefert keine wirklichkeits wissenschaftliche >Empirie<, sondern allenfalls eine historische und politi sche Phänomenologie der eigenen Gegenwart.
Kapitel 8 Zwischen Menschenpark und soft eugenics\ Zur Aktualität des Züchtungsbegriffs
Mindestens zweimal hat in der jüngeren Zeit der Ausdruck »Menschenzüchtung< der philosophischen Theoriebildung als Stichwort gedient, wenn nicht gar als eine Art Kampfvokabel: Einmal in der nachträglichen Kon frontation mit der eugenischen Geburtenpolitik, die vor und während des Dritten Reiches ideologisch - aber eben auch wissenschaftlich - propagiert und tatsächlich praktiziert wurde (Conrad-Martius 1955). Und ein weiteres Mal angesichts der konkreten Möglichkeit von gezielten Eingriffen ins menschliche Erbgut durch den Einsatz von Gentechnologie, und zwar namentlich der so genannten Klonierung (Altner/Benda/Füllgraf 1985). Die erste Debatte datiert um die Mitte des 20. Jahrhunderts, die zweite begann mit seinem letzten Jahrzehnt und sie dauert noch an. Menschen züchtung fungierte beide Male als Reizwort. Der Begriff inkriminiert Prak tiken und er warnt vor definitiver Grenzüberschreitung. Doch was genau war und ist mit dem Wort gemeint? Mit den Mitteln der Begriffsgeschichte lässt sich eine lange Linie zeich nen. Als Gedanke scheint Züchtung nicht nur von Pflanzen und Tieren, sondern als regelrechte Züchtungspolitik von Menschen immer schon vorhanden - oder jedenfalls seit Platon. So gesehen ist man versucht zu sagen, politische Entwürfe, die sich als Menschenparkmodelle lesen lassen, seien so alt wie die europäische Welt, Andererseits ist der Züchtungsbegriff modern. Er ist mit dem historisch jungen Diskurs des naturwissenschaft lich definierten >Lebens< verbunden: mit der Populationsstatdstik, mit der modernen Evolutionstheorie, mit der Biologie der Vererbung, mit der Genetik. Wie sind die kurze und die lange geschichtliche Linie miteinander ver flochten? Das ist die Frage, der in diesem Kapitel nachgegangen werden soll.
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Z w ischen M e n sc h e n p ark u n d s o f t e u g e n i c s
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1. Züchtung und Zucht Von züchterischen Manipulationen im Allgemeinen berichtet schon das Alte Testament. Mittels einer List vermehrt der in den Dienst des Laban genommene Jakob gezielt die starken und auf spezielle Weise gefleckten Schafe einer ihm anvertrauten Herde. »So wurden die schwächlichen Tiere dem Laban zuteil, aber die kräftigen dem Jakob. Daher wurde der Mann über die Maßen reich ...«. Nachträglich zur Rede gestellt, leugnet Jakob jede Verantwortung. Gott allein habe ja doch die Güter Labans »ihm ent wunden und mir gegeben« (1. Mose 30, 37 ff., hier 42 ff.). Man kann die zweideutige Stellung des Züchtungsproblems auf Anhieb erkennen: Die Kunst des Züchters funktioniert als manipulatorische Will kür —jedoch in einem Feld der gleichwohl geglaubten Notwendigkeit. Eine solche Kunst ist Macht, sie ist Neuerung, Vorsprung, sie ist in einem nicht nur metaphorischen Sinne Schöpfung und Gestaltung des Lebendigen. Als verborgene oder offene Maßnahme ist sie damit attraktiv und verdächtig zugleich. Eigentlich brisant wird diese Perspektive, sobald die züchterische Ma nipulation der Nachkommenschaft des Menschen gilt. Platons berühmtes ideales Gemeinwesen, von Sokrates in der Politeia im Gespräch entworfen, sieht ein Verfahren der institutionalisierten Zuchtwahl für die Fortpflan zung ausdrücklich vor. Der Gesetzgeber soll die besten Männer und Frauen »auswählen«, damit sie in besitzloser Gemeinschaft notwendiger weise —Platon präzisiert: durch eine zwar nicht »geometrische«, aber doch »geschlechtliche« Notwendigkeit - »getrieben werden, sich miteinander zu vermischen« (vgl. Platon, Politeia 458c—d). Wie bei edlen Tieren solle dabei die Entstehung des Nachwuchses nicht ohne Ordnung geschehen, viel mehr »jeder Trefflichste der Trefflichen am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollen aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel blei ben soll« {Politeia 459d). Die Häufigkeit des Verkehrs wird von den Oberen diskret reguliert —zugunsten einer gleich bleibenden Größe der Polis. Elternschafdiche Zuordnung wird durch gesonderte, kollektive Aufzucht der Kinder der Tugendhaften vermieden. Alle anderen Kinder sowie die ver stümmelt Geborenen werden die Kinderwärterinnen »verbergen«, heißt es dann, und zwar »wie es sich ziemt, in einem unzugänglichen und unbe kannten Ort« {Politeia 460c). Zur Zeugung vorgesehen ist das körperlich kräftigste Alter. Jenseits dieses Alters sollte man sich bemühen, »Empfan
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genes, wenn sich dergleichen findet, nicht ans Licht zu bringen, sollte es aber nicht zu verhindern sein, dann cs aussetzen, weil einem solclicn keine Auferziehung gestattet wird« (PoUteia 461c). Was Platon bei allem betont — ein im historischen Vergleich wichtiger, weil in späteren Zeiten sich wan delnder Punkt - ist die politische Notwendigkeit, das züchterische Arran gement vor den Betroffenen und auch der Öffentlichkeit geheim zu halten. Nur so werde die Gemeinschaft soweit möglich ohne »parteiliche Zwie tracht« bleiben (vgl. Poiiteia 459d). Sokrates vergleicht seine Fortpflanzungselite mit edlen Vögeln, Hun den, Pferden. Die Analogie entspricht dem Modell, Politik sei dem Hüten einer Herde vergleichbar. Im Rahmen dieser archetypischen Vorstellung bildet jedoch die Zuchtwahl, also die Sorge für die möglichst gute Nach zucht, allenfalls einen Teilaspekt der Hittentätigkeit der Regierung. Bei Platon wird er fiktiv erwogen. Im lykurgischen Sparta sind hingegen die öffentliche Aufzucht der Kinder und die Tötung schwacher und missgebil deter Nachkommen wohl tatsächlich praktiziert worden. Hier wie dort gilt dabei die Politik als »Zucht« in dem ganz umfassenden Sinne einer For mung. Nichts Grundsätzliches unterscheidet die auf eine Steuerung der Nachkommenschaft abzielenden Praktiken von den Praktiken der Erzie hung —und eben dies entspricht der Körperpolitik in der griechischen Antike ganz allgemein. Ein und derselbe diätetische Diskurs der Ertüchti gung und Steuerung ergreift im Zweifel Leib und Seele. Ein separates Wort für die in die Lenkung des Gemeinwesens integrierte Fortpflanzungspolitik kristallisiert sich nicht heraus. Statt dessen legt Platon ein Kontinuum nahe. Eine durchgehende und allgemeine Maxime der Formung und Bildung schließt die züchterische physische Ertüchtigung (wenn auch diskret) mit der Seelenlenkung bzw. »Umlenkung« der Seele (vgl. Politeia 521c) zusammen. Mit der Züchtung beginnt die Bildung. Wie lässt sich eine solche, in ihrer Offenheit nachgerade entwaffnende Züchtungs-Logik fassen? Wollte man den durchgängigen Charakter dieser in einem politischen Sinne bildnerischen Maßnahmen in der Antike eine >Biopolitik< nennen (so Agamben 2002), dann würde nur ein gräzisierender Neologismus zurückprojiziert. Die eigentümliche Leichtigkeit der platoni schen Erwägungen, die sich ja auf Biologisches im heutigen Verständnis überhaupt nicht beziehen, entgleitet dem Wort. Platons Körperpolitik ist unserer politischen Wirklichkeit fremd. Als in der Neuzeit die Epoche einer christlichen >Pastoralmacht< zu Ende geht, in der sich die Figur des guten Hirten christlich wendet (vgl.
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EücENic.r
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Foucault 1981), hat sich das politische Modell des Hütens der Herde wie auch das Schöpfcrprivüeg in die Transzendenz verlegt. Auf neue Weise haben nun politisch reflektierte Modelle der Menschen-Züchtung wieder Konjunktur. Sic haben ihren Platz erneut in der fiktiven Erörterung nämlich in der utopischen Literatur. Die rationalistische Philosophie entwirft das Thema im Modus der alternativen Realität: Ein fortschrittli ches Gemeinwesen mit einem Eigennamen wird in einer imaginären Geographie positioniert - exotisch und zeitgenössisch zugleich. Nicht die im Dialog erörterte Phantasie von der Idealgestalt des eigenen Gemeinwe sens entwirft eine Züchtungspolitik, sondern das als Reportage entfaltete Kontrastbild eines perfekten Gemeinwesens in der Ferne. Strenger als Platon, der ja doch wohl auch Tötungen vorsah - wenn nicht die aktive Kindstötung, so doch die Nichtaufzucht, also eine ver nachlässigende Verwahrung des unerwünschten Nachwuchses —, be schränkt sich die Reflexion der frühen Neuzeit auf das präventive Mittel einer Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens. Stabile Paarungspolitik soll die Nachwuchsproduktion selektiv intensivieren. Die neuzeidichen Ideal staaten wählen nicht den platonischen Weg eines FortpflanzungskoUcktivs mit elternloser Aufzucht der Kinder, sondern denjenigen einer auf Eltern schaft gestützten Familienpolitik. Bei Morus, Campanella und Bacon ist die Ehe der einzige legitime Ort der Kinderzeugung und in ihren Vorausset zungen rigide geregelt. Campanella zufolge bedarf sie in jedem einzelnen Fall der Genehmigung, denn eine Fortpflanzung der Kranken und Schwa chen soll explizit verhindert werden: Die Ehe-Erlaubnis fungiert als Züchtungsmaßnahme. Die staatliche Zuchtwahl soll den Kreis legitimer Geschlechtspartner beschränken, und zwar ausdrücklich zu dem Zweck, die körperlich wie moralisch »guten« unter den natürlichen Anlagen des Kollektivs langfristig zu stärken. Die Erziehung nämlich rcicht an die na türlichen Anlagen nicht heran. »Sie behaupten«, berichtet Campanellas Erzähler von den Beamten der utopischen Civitas So/is, »daß eine gute Veranlagung, von der die Tugenden herrühren, nicht durch irgendwelche Bemühungen erworben werden könne«, die »von Natur aus schlechten Menschen« aber richteten unmerk lich oder offenkundig den Staat zugrunde; man müsse also »seine ganze und hauptsächliche Sorgfalt auf die Fortpflanzung verwenden und die natürlichen Eigenschaften müßten erwogen werden, nicht aber die trügeri schen Mitgaben und Adelstitel« (Campanella 1623, S. 132). Zugunsten der natürlichen Qualität des Nachwuchses sind in Campanellas Idealfamilie
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auch die hygienischen Einzelheiten des ehelichen Verkehrs streng rituali siert. Dass es sich nicht um allgemein moralisch, sondern ausschließlich fortpflanzungspolitisch motivierte Vorschriften handelt, zeigen die an sonsten freien Sitten in der Civitas Solis. Wo Nachkommenschaft nicht befürchtet werden muss —im Verkehr mit unfruchtbaren, schwangeren oder älteren Frauen nämlich —, bleiben alle Vergnügungen, die den Ehe leuten untersagt sind, erlaubt. Auch in Bacons Nova Atlantis soll Verhaltenslenkung —Keuschheit oder aber rigide Einehe —die Natur der Einwohnerschaft verbessern. Tö tung oder andere körperliche Manipulationen am Menschen sieht Bacon nicht vor. Allerdings rückt das Sozialexperiment an die Idee einer generali sierten Naturforschung und einer technischen Entgrenzung heran. Im neuen Atlantis, so wird berichtet, seziert und manipuliert man Tiere, »um dadurch soweit wie möglich auch Einblick in den menschlichen Körper zu gewinnen«, und hat dabei auch »viele wunderbare Entdeckungen gemacht, etwa über die Fortdauer des Lebens«. —»Wir machen an diesen Tieren Versuche«, heißt es an der fraglichen Stelle weiter, »[w]ir machen [...] die einen künstlich größer und länger als sie von Natur aus sind, andere wie derum umgekehrt zwergenhaft klein und nehmen ihnen ihre natürliche Gestalt. Außerdem machen wir die einen fruchtbarer [...], als sie ihrer Na tur nach sind, die anderen umgekehrt unfruchtbar und zeugungsunfähig. [...] Wir sorgen ferner für Kreuzungen und Verbindungen von Tieren verschiedener Arten, die neue Arten hervorbringen«. Bei allem handle man, so zitiert Bacon seinen fiktiven Repräsentanten von Neu-Atlantis, »nicht aufs Geratewohl«, sondern aufgrund von präzisem Wissen (vgl. Bacon 1683, S. 208). Das Pathos des rationalen Zugriffs, mittels der experimentellen Me thode sei der ergebnisoffene Aufbmch in das ganz Neue möglich und legitim, gilt also erstens den Praktiken der Züchtung ganz allgemein - von der Manipulation der Fruchtbarkeit bis zum systematischen Erzeugen nie dagewesener Arten. Zweitens bleibt, trotz dieser verwissenschaftlichten Form, das Element der Züchtung ein Zug eines politischen Entwurfs. Das Ideal der Lenkung der Herde wird allerdings überlagert und durchdrungen von der Logik des wissenschaftlichen Experiments. Ohne die Thematik der Menschenzüchtung direkt anzusprechen, präsentiert Bacon den Men schen als einen, der durch den souveränen Einsatz von Fortpflanzungs technologien über eine Natur, die auch seine eigene Natur ist, triumphiert.
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Mit der >policeylichen< Rationalisierung des Politischen gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt der sich modernisierende Zentralstaat, empiri sches Wissen über den Gesellschaftskörper zu akkumulieren. Auch dieses Wissen hat 2unächst nicht die Form einer >Biologie<, sondern es versteht sich weiterhin als Teil der Staatslenkungskunde - aber auf der neuen Basis von »Sozialstatistik«, das heißt praktisch vor allem: ökonomischer, forensi scher und hygienischer Demographie. Diese politische Arithmetik ver dichtet sich im 19. Jahrhundert zur Wissenschaft einer »sozialen Physik«. Im Rahmen der guten Polizei und unter dem leitenden Gesichtspunkt der öffentlichen Wohlfahrt geht es in dieser Zeit zwar nicht nur um quan titative, sondern auch um qualitative Aspekte eines kontrollierten Wachs tums der Population. Dennoch bleibt die Bevölkerungspolitik des entste henden modernen Staates, pauschal gesprochen, Geburtenpolitik. Die Ziele sind Senkung der Kindersterblichkeit, Senkung der Müttersterblich keit im Kindbett, Förderung der Ehe und Absenkung der Ledigen-Quote beiderlei Geschlechts.1 Die damit korrespondierende medizinische Ratgeberliteratur2 beschränkt sich auf konventionelle Ratschläge, die Fortpflanzung solle »gesund« sein, »gesund« sei dann auch der möglichst reichliche Nachwuchs - eine diätetische Aufgabe ist gestellt und zugleich eine Frage der Haltung, es geht nie um die Körper allein. Das Kontinuum zwischen Züchtung und Bildung scheint noch nicht ganz zerrissen. Dem entspricht bis zu einem gewissen Grade der sprachliche Befund. Das deutsche Substantiv »Züchtung« wird in der Pflanzen- und Tierzucht zwar sporadisch verwendet, aber selbst in Bezug auf Tiere heißt »zuchtfahig« neben der fortpflanzungsbezogenen Bedeutung auch »folg sam, fügsam«, und generell dominiert das Verb »züchten« in der weiten Bedeutung einer Ausübung von »Zucht«. Der Ausdruck »Züchding« hat die allgemeine Bedeutung »Zögling«. Über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg regiert so die erzieherische Vorstellung das Wortfeld, und die fort pflanzungsbezogene Bedeutung bildet einen speziellen Fall.3 1 Gegen die männliche Ehe- und Kinderlosigkeit der Kleriker und »Hagestolze« agitiert etwa der frühe preussische Sozialarithmetiker Johann Peter Süssmüch 1741,31765. 2 Vgl. zur Rekonstruktion eines »hygienischen Diskurses« der Medizin im 18. Jahrhundert (allerdings in seinen Schlussfolgerungen für das 19. und 20. Jahrhundert problematisch) Sarasin 2001. 3 Vgl. den umfangeichen Komplex »züchten«, »Zucht« und Komposita in Grimm/Grimm 1954, Sp. 257-280. Ein eigenes Lemma »Züchtung« gibt es nicht, im 18. Jahrhundert deckt »Zucht« das »landwirthschaftliche Berufswort« (Grimm/Grimm 1954, Sp. 258) mit ab.
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Der Aufklärungshumanismus verwirft sowohl die Idee der Menschenherstellung als auch die physisch motivierte Auswahlentscheidung in Bezug auf den Menschen —teils ihrer instrumentalisierenden Logik wegen, teils weil (und sobald) die angewandten Mittel barbarisch erscheinen. Nament lich das >spartanische Modell< wird im Zeichen der Menschlichkeit, der Freiheit und der Gleichbehandlung verworfen. Ohne Gewissen »in Betreff der Sittlichkeit« habe Lykurg seine politischen Ziele verfolgt, prangert etwa Friedrich Schiller die spartanische Gesetzgebung an: »Er opferte die weib liche Treue auf, um gesunde Kinder für den Staat zu gewinnen.« (Schiller 1790, S. 809) Freilich habe sich, merkt Schiller an, die »Entweihung der Ehen« in Sparta politisch nicht so verhängnisvoll ausgewirkt, wie es »in jedem anderen Staate« der Fall gewesen wäre (Schiller 1790, S. 810). Be wunderung für die sittliche Konsequenz der Epoche schwingt mit. Eben falls nicht ohne Faszination stellt Goethe die Hybris des Laborwissen schaftlers Wagner vor, der in der Glasphiole einen »Homunkulus« fabri ziert - welcher dokumentiert, der Mensch müsse »mit seinen großen Ga ben« im Gegensatz zum Tier »künftig hohem, hohem Ursprung haben«.4
2. Bevölkerung - Evolution - Rasse Der Diskurs um die >humane< Verbesserung der Bevölkerungslage ver schiebt sich, als die Frage nach der F o rtp flan zu n g im 19. Jahrhundert unter den Druck der Gattungsfrage gerät - genauer gesagt: unter den gemeinsa men Druck der ökonomischen Theorie der Population und der biologi schen Evolutionstheorie. Zunächst erschüttert noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert die Bevölkerungsprognostik von Malthus die polizeiwis senschaftliche Wohlfahrtsidee, den Fortschrittsglauben der idealistischen Gesellschaftslehren und alle rein geistigen Vervollkommnungsideale. Un gehindertes Bevölkerungswachstum, so das malthusianische Argument, führe statistisch zwingend in die globale Verelendung —erforderlich seien
4 Goethe, Faust II, 2. Den Topos der künstlichen Zeugung als einer magischen creatio — also der Schöpfung von »Leben« ex nihilo —sollte man gleichwohl mit der Thematik der Züchtung nicht vorschnell vermischen. Das Züchtungs-Phantasma gehorcht gerade nicht dem Paradigma der momenthaften Schöpfung, sondern eher dem Paradigma der fortwährenden Regie, der heimlichen Steuerung und der Lenkung der Zukunft, als einer annähernden oder vollständigen >kunstvollen< Beherrschung eines Prozesses in der Zeit
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daher »efforts to improve man«: Maßnahmen gegen Kindersterblichkeit seien allenfalls selektiv sinnvoll, durch Beförderung des frühen Todes und einer dadurch bedingt geringen Fortpflanzung der (armen) Kranken und Schwachen helfe die Politik der Natur. Malthus befürwortet nicht im di rekten Sinne Züchtung, aber ein »improvement of breeding« durch wohlfahrtsstaatliche Ungleichbehandlung: Unterstützung soll es ausschließlich für vermögende Familien geben sowie für gesund und ehelich geborene Kinder. Eine der zentralen Analogien, mittels derer Charles Darwin 1859 seine Evolutionstheorie einfuhrt, verallgemeinert dann ausdrücklich das aus Tierhaltung und Gartenbau bekannte Bild der Zuchtwahl zum Paradigma: »|T|he principle of selection, which we have seen is so potent in the hands of man«, wirke auch »most effkiendy« in der Natur. Allerdings bleibt Darwin vorsichtig: Die Natur sei eine unvergleichlich bessere Züchterin als der Mensch: »She can act on every internal organ, on every shade of constitutional difference, on the whole machinery of life«. — »Man selects only for his own good: Nature only for that of the being she tends.« (Darwin 1859, S. 65 [Kap. IV]) Die Zuchtwahl der Natur realisiert damit eine ihr eigene, dem Menschen nur retrospektiv, vom sichtbaren Ergebnis her erschließbare Logik: »Under nature, the slightest differences of structure or constitution may well turn the nicely-balanced scale in the struggle for life, and so be preserved. How fleeting are the wishes and efforts of man! how short his time! and consequently how poor will be his results, compared with those accumulated by Nature during whole geologi cal periods!« (Darwin 1859, S. 65) Die Zwecke, die der »natural selection« innewohnen, sieht Darwin dabei auf spezifische Weise limitiert. Die natür liche Auswahl bezieht sich erstens nur auf die jeweiligen Lebensumstände eines Lebewesens (mit der je optimalen Anpassung als dem endgültigen Zweck). Und die natürliche Auswahl kommt zweitens lediglich reaktiv zum Zug: Variation und Selektion sind getrennt, und die erstere liegt logisch voraus, jedoch verläuft sie ganz ungerichtet. Nicht die Variabilität als sol che ist es also, der sich der Selektionsmechanismus verdankt. Sondern ganz wie beim menschlichen agrikulturellen Züchter ist es »only the preservation o f such variations as arise« (Darwin 1859, S. 63), durch welche die Evolu tion tatsächlich operiert und ihre >Zwecke< verfolgt, also die Bewahrung oder auch die gegebene »Chance« zum Überleben und zur Weiterfortpflan zung.
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Darwin selbst ist erkennbar bestrebt, die Züchtungs-Vorstellung von personalisierenden Anklängen frei zu halten. Das Bild vom Züchter bleibt metaphorisch, denn die Perspektive einer nicht nur theoretischen, sondern auch steuernd eingreifenden Draufsicht auf die Evolution —auch diejenige des Menschen —blendet Darwin weitgehend ab; ihm kommt es auf eine anonyme, rekonstruktiv zu erforschende Wahrscheinlichkeitslogik an. »Natural selection« sei keine »active power or Deity«. - »I mean by Na ture,« heißt es, »only the aggregate action and product of many natural laws, and by laws the sequence of events as ascertained by us« (Darwin 1859, S. 63). Dieser zurückhaltenden Logik werden einige Forscher folgen, etwa der Zellbiologe August Weismann, der 1883 präzisierend die Überle genheit der »Naturzüchtung« gegenüber der nicht mehr durch die Natur kontrollierten »Panmixie« in der künstlichen Züchtung hervorhebt. Anders als der Mensch operiere die Züchtung der Natur »nur scheinbar mit den Qualitäten des fertigen Organismus, in Wahrheit aber mit den in der Keimzelle verborgenen Anlagen dieser Eigenschaften« (Weismann 1883, S. 119). Die Naturselektion beruht also auf einer dem Menschen unzu gänglichen Perspektive. Sie kontrolliert jenseits der sichtbaren Merkmale auch alles Verborgene, sie kennt und selektiert das Erbgut bereits in seiner Latenz, wobei sie dennoch ein fremdes Zusammenspiel von Einwirkungen und damit technisch unerreichbar bleibt. Nicht die vorsichtigen Stimmen beherrschen jedoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Bild und vor allem die populärwissenschaftliche Diskussion. Tatsächlich löst der Darwinismus eine Fülle von sozialpoliti schen und kulturhistorischen Spekulationen aus. Zunächst stehen weniger die Thematik der Züchtung als das Darwinsche Theorem vom »struggle for existence« und dem »survival of the fittest« sowie die Frage nach der Abstammung des Menschen im Vordergrund. Mit der von Francis Galton betriebenen >Eugenik< - einer neuen Wissenschaft, die sich zugleich als ein sozialmedizinisches Reformprogramm formuliert - ist jedoch ein Diskurs eröffnet, demzufolge die Evolution des Menschen nun nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben soll. »Die Natur ist schwanger von latentem Le ben, und es steht in der Hand des Menschen, dieses Leben hervorzurufen, in welcher Form immer er will und in dem Ausmaße, das er will«, ist bei Galton zu lesen (Galton 1869, 21892, S. 399). Und: »Ich behaupte, daß jede Generation eine ungeheure Macht über die natürlichen Gaben der ihr folgenden hat und behaupte weiter, daß es unsere Pflicht gegen die Menschheit ist, den Umfang dieser Macht zu untersuchen und sie in einer
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Weise auszuüben, die für die Bewohner dieser Erde am vorteilhaftesten werde, ohne daß wir gegen uns selbst töricht handeln.« (Ebd., S. 1) Und: »Wenn wir die Durchschnittsnorm [an Begabung, Fähigkeiten, PG] unserer Rasse nur um einen Grad erhöhen könnten, welche gewaltigen Verände rungen würden wir damit erreichen!« (Ebd., S. 356) Mit der Eugenik und der durch Alfred Ploetz begründeten »Rassenhygiene« —nach der Jahrhun dertwende verstehen sich die Rasse- und Erbgutverbesserer als politische Bewegung —verliert der biologische Züchtungsbegriff in der Anwendung auf den Menschen viel von seiner anstößigen Konnotatdon. »Bei seinen Untersuchungen über Vererbung hatte er von Anfang an das Problem vor Augen: Wie kann man eine menschliche Rasse züchten, die unseren Idea len am meisten entspricht?« lobt der Philosoph Otto Neurath im Jahr 1920 als Übersetzer Galtons dessen Werk (vgl. Neurath in Galton 1869, 21892, S. VT). Anders als die Elitezüchtung früherer Zeiten zielt die moderne Eugenik der Idee nach aufs Ganze: die menschliche Gattung (»Rasse«) oder min destens die Gesamtbevölkerung eines Landes oder einer Nation. Praktisch konzentrieren sich die Vorschläge von Galton auf wirksame Maßnahmen gegen die Fortpflanzung kranker und erbschwacher Individuen —von der eugenischen Empfehlung für die Ehegattenwahl bis zu Schwangerschafts abbruch und Sterilisation. Die Schwelle dazu, auch Tötungen zu befür worten, als Sterbenlassen oder durch ärztliche Maßnahmen, wird schon vor der Jahrhundertwende genommen. 1895 plädiert der Rassenhygieniker Ploetz einerseits für die systematische Zeugung, die Erlaubnis der Ehe nur für Erbgesunde, andererseits für ein »Ausmerzen der Neugeborenen« bei schwächlicher oder missratener Konstitution. Gegebenenfalls sei »ein sanfter Tod« für die Kinder angebracht. Des Weiteren rät Ploetz eine limi tierte Armenunterstützung an; nur »diejenigen, die keinen Einfluß mehr auf die Brutpflege haben«, sollen sie erhalten, sowie eine Verwendung der »schlechten Varianten« als »Kanonenfutter« im Krieg (Ploetz 1895, S. 145 ff.). Unter dem doppelten Eindruck von Malthusianismus und Evolutions theorie werden nicht nur die Möglichkeit oder auch konkrete Programme einer erbbiologischen Höherzüchtung des Menschen zum Mittelpunkt eines ganzen Reformdiskurses, der quer durch alle politischen Lager reicht. Sondern es teilt sich die Semantik des Worts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts treten die beiden traditionell verflochtenen Bedeutungs felder der Züchtungs-Begrifflichkeit auseinander: das der Züchtung als
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Zucht oder auch Selbstzucht im erzieherisch-ethischen Sinn und das der Züchtung im biologischen Sinn einer Weitergabe von determinierenden Erbanlagen durch Fortpflanzung.5 Zeitweilig wird der Sprachgebrauch nun mehrdeutig, und es ist manchmal schwer zu sagen ob gewollt oder ungewollt. Zucht als bloßer Verhaltenszwang im Kontext von Aufzucht und strafender Erziehung und Züchtung als erbbiologische Einwirkung auf die determinierende Physis der Population oder der Gattung durch Zuchtwahl/Auswahl unter Nut zung des Zusammenspiels von Variation und Selektion? Zucht als Verbes serung des Individuums, Züchtung als Erhöhung der »Rasse«? Die Per spektiven spielten traditionell zusammen. Stellt man sie gegeneinander, eröffnet sich ein Feld der Polemik oder auch - möglicherweise —der Iro nie. Zumindest in etlichen Passagen seines Werkes hat insbesondere Fried rich Nietzsche Züchtung noch im Sinne von »jemandem etwas anerziehen« verwendet.6 Wie man weiß, wurde gerade der polemische, von materialisti schen Wendungen durchzogene Sprachgebrauch Nietzsches später meist im biologischen oder biologistischen Wortsinn interpretiert.7 Nietzsche bezeichnet jedoch nicht nur Erzieher als »Zuchtmeister« und Schüler als »Züchtlinge« (vgl. KSA 1, S. 341; KSA 5, S. 219). Er hält auch eines seiner 5 Dass durch Erziehung allein der Phänotyp und nicht der Genotyp des Individuums erreicht wird, wird mit den Forschungen Weismanns ab dem Ende der 1880er Jahre zur Mehrheitsmeinung in der Vererbungslehre. Diese Vorstellung eines autonomen Gangs der (mit Mendel dann: überdies auch latenten) Merkmale korrespondiert zeitlich mit dem Erlöschen der pädagogischen Bedeutung des Wortes »Züchtung« —auch wenn na mentlich im sozialistischen Lager der Lamarckismus (also die Hypothese, erworbene Ei genschaften könnten zu erblichen werden) noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts weiter vertreten wird. 6 Vgl. Friedrich Nietzsche, KSA 5, S. 219; KSA 5, S. 194; KSA 11, S. 564. Zum philologi schen Befund vgl. überaus detailliert Schank 2000. Schank vertritt die These, Nietzsches Konzepte eines höheren Typus bzw. der Erhöhung des Menschen seien im Kern gar nicht »darwinistische oder auf Vererbung bezogene Ideen« (S. 16); Nietzsche habe diese Konzepte in ihrer biologischen Bedeutung vielmehr nur rezipierend angesprochen und als »Vorstellungen Dritter [...] kritisiert« (S. 148). 7 Nietzsche und Goethe avancierten im deutschsprachigen Raum zu den zentralen Ge währsleuten sowohl fiir die populären Spielarten wissenschaftsreligiöser oder lebensreformerischer Emeuerungsbewegungen —mit Autoren wie Ernst Haeckel, Ludwig Bölsche, Rudolf Steiner - als auch für die rassenhygienische Propaganda im engeren Sinn. Rassehygienisch und/oder völkisch motivierte Nietzsche-Kolportagen sind bei Ploetz selbst, bei Wilhelm Schallmayer, Alexander Tille, Christian von Ehrenfels und anderen zu finden (über etliche der zahlreichen englischen Quellen: Conrad-Martius 1955).
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philosophischen Grundmotive, die »Erhöhung« des Menschen als »Züch tung« einer stärkeren »Rasse«, begrifflich durchaus in der Schwebe zwi schen einer erzieherischen und einer fortpflanzungs-physiologischen Inter vention. Trotz der materialistischen Wortwahl werden die Pointen vielfach ironisch mehrdeutig - wenn Nietzsche etwa die Demokratisierung Europas als »eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen« bezeich net, »das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im Geistigsten« (KSA 5, S. 183); oder wenn er den Zusammenhang einer radikalen Umbildung der Moral wie folgt aufgreift: »Alle Moralen gehen darauf aus, Gewohnheiten anzupflanzen, d. h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? aufzuheben, so dass sie instinktiv getan werden [...]. Eine Rasse mit star ken Instinkten züchten - das will die Moral.« (KSA 9, S. 115) Hier dient gerade die alte Übergängigkeit von Züchtung und Zucht als Mittel, den herkömmlichen Sinn von Moral umzugießen in die radikalere Idee eines am Menschenkörper möglichst buchstäblichen >Machens< der Moral.8 Vom physisch gewaltsamen Eingriff ist hier die Rede, von Biologie jedoch nicht. Für die von Nietzsche geforderte Züchtung des stärkeren Typus oder der stärkeren Rasse werden von ihm als Werkzeuge vielmehr die folgenden genannt: »die, welche die Geschichte lehrt: [1] Die Isolation durch umge kehrte Erhaltungs-Interessen als die durchschnittlichen heute sind; [2] die Einübung in umgekehrten Werthschätzungen; [3] die Distanz als Pathos; [4] das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten.« (KSA 12, S. 425) »Meine Philosophie«, heißt es in einem ähnlichen ethischen oder viel leicht >haltungspathedschen< Sinne an anderer Stelle, »bringt den siegrei chen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen.« (KSA 11, S. 250) Mit dem »siegreichen Gedanken« ist derjenige der ewigen Wiederkunft gemeint, Nietzsches »größte Lehre«, die w ir uns, indem wir sie lehren, »einverleiben« können (KSA 9, S. 494). Wo der späte Nietzsche Anfang der 1880er Jahre auf seine Weise ei gentlich gerade die traditionellen Übergänge zwischen Geist und Leib in der Sem an tik von Zucht und Züchtung pflegt, hat sich dreißig Jahre später, bei O sw ald Spengler, der Diskurs umgekehrt. Spenglers Untergang desAbendlan g Vgl. KSA 6, S. 102; von Plato über Konfuzius bis zum Juden- und Christentum seien die Mittel, um die Menschheit moralisch zu machen, stets »von Grund aus« unmoralische Mittel gewesen, stellt Nietzsche an dieser Stelle fest.
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des von 1919 - in der Zwischenkriegszeit wahrscheinlich noch breitenwirk
samer als der dann ebenfalls populäre Nietzsche —bringt die pädagogische Zucht und die Züchtung in ein Ausschließlichkeitsverhältnis: »Das Wort für die rassemäßige Art von Erziehung ist Zucht, Züchtung, im Unter schied von Bildung, die durch die Gleichheit des Gelernten oder Geglaub ten Wachseinsgemeinschaften begründet« (Spengler 1919, S. 966). Spengler will weniger auf eine im modernen Sinne biologische als vielmehr auf die aristokratisch-blutsmäßige Züchtung hinaus, »Zucht, Züchtung erstreckt sich aufs Blut« (ebd., S. 979). Deren politisches Ziel sind »in Vollendung« gezüchtete Stände: »Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der Or ganischen Welt [...] der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte der Natur erhebt und selbst Schöpfcr wird. Noch als Rasse ist er Schöpfung der Natur; da wird er gezüchtet; als Stand aber züchtet er sich selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen, mit denen er sich um geben hat; und eben das ist im höchsten und letzten Sinne Kultur.« —Ver körpert wird das Zuchtziel einer »starken Rasse« durch den Adel. »Bildung kann die Zucht verfeinern, aber nicht ersetzen« (ebd., S. 967, 1078, 1109); Spengler zufolge entspricht dies der Tatsache, dass der Krieg die »Urpolitik alles Lebendigen« ist und daher in der Politik Stärke, nicht Bildung zählt. Weil Produkt von Züchtung und nicht (bloß) gebildet, sei der Adel »der eigentlich politische Stand« (ebd., S. 1109). Rassisches Elitedenken einerseits, eugenischer Reformdiskurs und reli gionskritischer Materialismus andererseits - denn nicht zuletzt im kirchenkritisch-sozialistischen Lager werden die eugenischen Konzepte von Gal ton, Ploetz, Haeckel, Tille und auch die durch Mediziner wie August Forel und Ernst Rüdin eingelciteten eugenischen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie intensiv und befürwortend rezipiert - und schließlich volkswirtschafüiche Kosten-Nutzen-Argumente begünstigen die Eskalation des rassischen Elite-Diskurses. Programme für eine staatliche Rassenhygiene liegen bereits zur Jahr hundertwende vor, etwa in Gestalt der 1903 erschienen Preisschrift von Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese, die eine »Ediik des Rasse dienstes« entwirft. Diese soll als »Gattungsethik« jenseits der bloßen »Le bensauslese« auch die »Fruchtbarkeitsauslcse« künstlich unterstützen (vgl. Schallmayer 1903, S. 329 f.). Nirgendwo fehle es wirklich, stellt Schall mayer fest, »an dem erforderlichen Züchtungsmaterial«, um »durch geeig nete Zuchtwahl« die Vereinigung positiver Anlagen »schließlich allgemein zu machen«. Allerdings »würde sich dieses Ziel durch unmittelbare positive
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Zuchtwahl raschcr erreichen lassen als mit den Methoden, auf welche die Volkseugenik in Wirklichkeit angewiesen ist, nämlich vorwiegend nur mit telbare Beeinflussung der Fruchtbarkeitsverhältnisse« (ebd., S. 375). Unter den Vorzeichen des - vermeintlich - »Tausendjährigen Reichs< können sich die Langzeitvisionen dieser >volkseugenischen< Rassenhygiene mit den Langzeitvisionen des völkischen Gattungsdenkens aufs engste verbinden: In den 1930er Jahren wird die Züchtung und »besondere För derung der nordischen Leitrasse« (Endrcs 1938, S. 40) zum Ziel. Projekte der gezielten Fortpflanzung bilden das Parallelstück zur Selektion durch Sterilisation und Tötung - und nicht nur die Selektionen, sondern auch die Züchtungsprojekte haben ihre Vorgeschichte zwischen Lebensphilosophie, Germanenkult und Sexualreform. Schon zu Jahrhundertbeginn propagierte beispielsweise ein Autor namens Willibald Hcntschel die rassezüchterische Landgemeinschaft »Mittgart« (Hentschel 1904), in der hundert Männer und tausend Frauen zum Zweck der Erzeugung germanischer Kinder Zusam menleben sollen. »Alle Wissenden«, lautet ähnlich früh die Botschaft des Sexualethikcrs Christian von Ehrenfels, »müssten einen Zeugungs- und Züchtungsidealismus von rücksichts- und bedingungsloser Zielstrebigkeit als einzig zulässiges moralisches Prinzip proklamieren und in Taten umsetzen«. Ehrenfels proklamiert ein neues Zeitalter angesichts rassisch-kultu reller Gefahr. Die Völker des Abendlandes seien »ungezücbtet, zusammen gewürfelt, ausgemergelt« durch Jahrhunderte der kulturellen Überproduk tion und so namendich den Völkern des Ostens unterlegen (vgl. von Eh renfels, 1907, S. 88, 90). Der »virile Faktor« müsse sich daher durchsetzen: Abschaffung der Einehe und »Polygynie im Dienste der Auslese«, nämlich Befruchtung und gegebenenfalls künstliche Besamung möglichst vieler Frauen durch eine kleine Elite von erbstarken, zur Fortpflanzung eigens ausgesuchten Männern (vgl. ebd., S. 603 f.). »Grundlegend für alle Zucht und Züchtung ist der sinnvolle Aufbau derselben nach dem Prinzip der Rangordnung (Hierarchie der Leistung), welches gewissermaßen das Motiv der Züchtung darstellt«, heißt es dann 1938 aus völkischer Perspektive, »deren Methode bildet die Art und Weise der Ausmerze und Auslese im Natürlich-Körperlichen einerseits und der Erziehung und Bildung im Seelisch-Charakterlichen andererseits, beides in organischer Wechselwirkung und Ergänzung« (Endres 1938, S. 14). Gene rell werden die Begriffe Krankheit und Gesundheit nunmehr »zweckmäßig letzten Endes nicht auf die Erhaltung des Individuums, sondern auf die Rasse bezogen« - so ist »Unfruchtbarkeit z. B.« krankhaft (ebd., S. 109). Im
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NS-Staat erfährt dann - als ein die biologische Züchtung wie auch eine Art rassenpädagogische »Zucht« umfassendes staatliches Züchtungsprojekt die SS-Aktion »Lebensbom« Schritte einer Realisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg reagieren die deutschsprachige Eugenik zerknirscht und die deutschsprachige Philosophie betroffen. Die biologistische Rede von der Züchtung, die offen eugenischen und auf die Erhöhung der Rasse abzielenden Programme werden kassiert. Gleiches trifft auch die Züchtungsbegrifflichkeit des —nun als Vordenker der NS-Ideologie ver dächtigten —Nietzsche. Für die Eugenik verspricht einer ihrer Protagonisten, Othmar von Verschuer, die Entpolitisierung des Fachs, erklärt aber, es gebe gute Chancen für dessen Neugründung und bekräftigt Empfehlungen wie diejenige, »für Hochbegabte« sei »die Gattenwahl mit einer besonderen Verantwortung verbunden« (von Verschuer 1966, S. 22, 81). In der Philosophie ver schwindet zumindest das Wort. So redigiert der Begründer der philosophi schen Anthropologie, Arnold Gehlen, seine 1940 in der ersten Auflage von Der Mensch getroffene Aussage, die zunächst als innerliche Kräfte sich ausbildenden Antriebe würden, indem sie manifest sind, »zugleich der Stel lungnahme ausgesetzt und Material der Zucht, der Erziehung, Selbstzucht und Höherzüchtung des Menschen. Dass der Mensch sich selbst Aufgabe ist, geht bis in die Verantwortung für die Qualität der Physis«. Gehlen streicht 1944 den Passus »und Höherzüchtung« (Gehlen 1940, 31944, Bd. 3.1, S. 408, Bd. 3.2, S. 680). Nur wenige kritische Reflexionen problematisieren das Züchtungs thema jenseits der allzu nahe hegenden Frage nach der NS-Geschichte und -Ideologie. Einen Versuch unternimmt der Theologe Philipp Dessauer anhand der Begrifflichkeit Nietzsches. Im Kern habe schon Nietzsche Zucht durch Züchtung ersetzt —denn schon die Idee der aktiven Züchtung seiner selbst, das Denken des Menschen im Modell des Experiments, halte Leib und Geist nicht mehr getrennt. »Wer seinen Leib ernsthaft der Züchtung unterwerfen wollte, müßte den Geist mitzüchten —normieren, regulieren, und das ist etwas anderes als erziehen und in Zucht halten.« (Dessauer 1946, S. 35) Dessauer unterscheidet drei Zielsetzungen in der züchterischen Entscheidung: die eugenische, die positive und die ge schichtskorrigierende Intention. Er stellt die dramatischen Folgen der ersten beiden Momente nicht in Abrede, hält philosophisch aber besonders die letztere für brisant, denn sie führt in Sachen Freiheit in ein Paradox hinein. »Zweifellos steht am Anfang des Züchtungsuntemehmens die Frei
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heit —wenn auch die mißbrauchte der Entschluß, die Grundrichtung der Züchtung einzuschlagen. Der Spielraum [...] wird aber immer enger wer den —, wenn der Züchtungsgedanke ernsthaft ist oder auch seine realge schichtlichen Konsequenzen sich auszuwirken beginnen.« (Ebd., S. 32) Der »Einfall einer Menschenzüchtung« sei »Produkt einer Zwischenzeit, [...] einer Zeit der Krise«, ein »aktiver Geschichtswille« erwachse »aus dem biologischen Denken - ein Wille zu planen und den Erfolg, der in der menschlichen Geschichte ausblieb, zu erzwingen«, insofern sei der ZuchtGedanke das »Ende der Geschichte« (ebd., S. 33,7, 42).
3. D ie biotechnologische Option Im deutschsprachigen Raum sind es erst wieder internationale Debatten, die an die heikle Frage nach der Menschenzüchtung rühren. Plötzlich taucht das Thema gänzlich außerhalb der Frage nach der NS-Geschichte auf und sucht nach einer neuen Anbindung. Gewesenes und Kommendes wirbelt durcheinander. Das Stichwort lautet nun »Gentechnologie«.9 Eine initiale Bedeutung für die globale Diskussion um den biologisch besseren Menschen haben die Expertenszenarien, die 1962 auf dem so genannten Ciba-Symposium für die Zukunft das Bild einer »biologischen Revolution« entwerfen. Durch den gentechnologischen Fortschritt stehe der Zeitpunkt bevor, mit welchem die Physis der Gattung Mensch zum bloßen Objekt von biopolitischer Steuerung werden könne. Das Expertengespräch hat den Charakter einer futurologischen Spekulation. »Welche Tendenzen können wir bei bewußter Evolutionssteuerung erwarten?« fragt etwa der US-amerikanische Genetiker John Burdon Sanderson Haldane in seinem Beitrag Biologische Möglichkeiten ß r die menschliche Rasse in den nächsten zehntausend Jahren, und seine Antworten lauten: »Es wäre [...] wünschens wert, die Zahl der Menschen mit höheren Fähigkeiten zu steigern«. Auch die bewusste »Züchtung einer Elite« sei sinnvoll; beispielsweise hätte es Sinn, »strahlungsresistente Typen zu züchten, sobald wir wissen, wie man es macht« (Haldane 1962, S. 372, 387, 385). »Ich glaube«, stellt Haldane im Blick auf die Zukunft fest, »daß sich schon in zehntausend Jahren eine echte Aussicht abzeichnen wird, unsere Art in 2wei oder mehr Zweige 9 Soll heißen: Man diskutierte zunächst nicht >Eugenik< und auch nicht im heutigen Sinne >Biopoütik<.
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aufzuteilen, entweder durch Spezialisierung für ein Leben auf anderen Sternen oder durch Entwicklung verschiedener menschlicher Fähigkeiten« (ebd., S. 389). Die Reaktion auf die von der Forschung selbst so spektakulär dekla rierte Zielperspektive der Menschenzüchtung als Errungenschaft und Fort schritt ist mehrfach gespalten und zumeist zuriickweisender Natur. Die einen wittern sozialistische Staatsplanung —mit dieser Stoßrichtung pole misierte der Philosoph Karl R. Popper schon früh und populär gegen alle an Platon gemahnenden Politikmodelle, denn diese beruhten »auf einer Art Metabiologie«, und Platon sei »der erste Vertreter einer biologischen Ras sentheorie der Sozialdynamik« gewesen (Popper 1952, S. 99). Aber auch Biologen warnen —vor der bloßen Science Fiction: Das Wissen über die menschlichen Gene sei noch immer so gering, dass es anmaßend und dumm sei, positive Prinzipien für die menschliche Fortpflanzung festzule gen (vgl. Penrose 1967, S. 22 f.). Tatsächlich variiert in den 1970er Jahren nicht zuletzt die Science Fiction-Literatur das Thema der Menschenzüch tung und ventiliert auf philosophischem Niveau deren Paradoxien und Probleme. Zur »autoevolutiven Maschine«, schreibt der Schriftsteller Sta nislaw Lern, werde das Gemeinwesen der Zukunft am Ende keineswegs allein durch aufsehenerregende chirurgische oder genetische Methoden, sondern auch durch die viel unauffälligere, aber leicht mögliche informati onelle Steuerung der Evolution —etwa durch rechnergeleitete Zuchtwahl der passenden Genotypen im Großmaßstab: »Die Evolution ist eine milli ardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen. Ließe sich diese Aufgabe nicht derart generali sieren, dass man nach der evolutionären Methode jegliche Information züchtet? Jegliche Art von Wissen?« (Lern 1969, S. 502 ff.) Wo auch die Autoevolution definitive Grenzen habe, sei jenseits der Identitätsmaxime an eine nicht länger rekonstruktive, sondern konstruktive »Prothetik« zu denken, also Verfahren, die den Menschen als synthetische Gattung gene tisch radikal neu entwerfen (vgl. ebd., S. 586). In den 1970er und 1980er Jahren etablieren sich öffentliche Kritikposi tionen an den »neuen Möglichkeiten< der Genmanipulation entweder als anthropologisch-politische Wissenschaftskritik oder aber als Forderung nach Grenzen, die eine limitierende Ethik setzen solle. Die Menschen züchtung —verstanden als inhumane Perfektionierung, aber auch als Ver änderung und Überschreitung der natürlichen Grenzen der Art —avanciert in beiden Fällen zum symbolischen Hauptpunkt der Debatte.
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Der Mensch überschreite, argumentiert der Philosoph Günther Anders, durch die Gentechnologie eine Schwelle, die noch jenseits der NS-Versuche gelegen sei, denn damals habe man den physiologischen Typ des Men schen lediglich verbessern wollen, nun aber sei im vermeintlich neutralen Inneren der Wissenschaften die technogene Schwelle zur Herstellung des nie Dagewesenen, die Schwelle zur »Vernichtung der Species qua Species« erreicht (Anders 1980, 21992, S. 24). Anders’ Wissenschaftskritik ist deutlich, aber sie ist historisch beschreibend gehalten. In ähnlicher Weise diagnostisch-deskriptiv setzen etwa auch die wissenschaftskritischen Über legungen des Genetikers Erwin Chargaff an —oder auch die historische Machtkritik von Foucault, der in den 1970er Jahren nicht nur das Theorem der Biomacht prägt, sondern auch den »Staatsrassismus« der NS-Eugenik analysiert (vgl. Foucault 1975 f./1996). Wuchtiger als diese Wissenschaftskritik artikuliert sich die Sorge vor der Menschenzüchtung jedoch in Gestalt der Forderung nach einer limitie renden Ethik. Vom Standpunkt einer neuen Ethik, die den wissenschaft lich-technischen Fortschritt an ein »Prinzip Verantwortung« binden will, plädiert etwa der Philosoph Hans Jonas dafür, die genetischen Steue rungsmöglichkeiten der menschlichen Evolution künftig nicht von ihren Verfahren her, sondern von ihren Zielen her zu unterscheiden und ethisch zu bewerten. Jonas hält - gemäß einer in der eugenischen Diskussion schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts eingefuhrten Unterscheidung —die so genannte >negative< Eugenik für vertretbar, diese verkörpere eine primär »schützende oder vorbeugende biologische Steuerung«. Er lehnt aber so wohl die so genannte >positive< Eugenik, die »planmäßige menschliche Zuchtwahl mit dem Ziel der Artverbesserung«, als auch ein »futuristisches« freies Schöpfertum —die Klonierung des Menschen und gänzlich neuer Arten aus reiner Nützlichkeitserwägung —ab: »Unwiderstehlich wird sich von da die Ansicht ausbreiten, daß Menschen überhaupt für den Nutzen von Menschen da sind, und niemand bleibt ein Zweck an sich selbst. Wenn aber kein Mitglied der Gattung, warum dann die Gattung? Das Da sein der Menschheit um ihrer selbst willen verliert seinen ontologischen Grund.« (Jonas 1980, S. 199) Generell sei, so Jonas’ autonomie-theoreti sche Begründung, die »Kehrseite heutiger Macht [...] die spätere Knecht schaft Lebender gegenüber Toten« (ebd., S. 168). Weil »die Grenze zwi schen medizinischer Korrektur und züchterischer Verbesserung leicht verschiebbar« sei, gelte es in der Politik, »einem drohenden Mißbrauch genetischer Techniken zu Zwecken der Menschenzüchtung schon im Vor
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feld entgegenzuwirken«, betont in einem ähnlichen Sinne auch der Ab schlussbericht einer Enquete-Kommission »Gentechnologie« des deut schen Bundestages im Jahre 1987 (EK Chancen und Risiken der Gentechnologe 1987, S. 188 f.). Mit der »bioethischen« oder auch »forschungsethischen« Diskussion zu Beginn der 1990er Jahre sind wir beinahe - aber erst beinahe —in der Ge genwart angelangt. Der deutschsprachige ethische Konsens dieser Zeit lautete in etwa: Es gelte, medizinisch gebotenen Gebrauch von einem darüber hinausgehenden >Missbrauch< der das menschliche Genom und die Keimbahn betreffenden Eingriffe zu unterscheiden —oder auch: zu unter scheiden zwischen einer Eugenik, die sich selbst lediglich als Gefahrenab wehr versteht, als Eugenik zu bloß >therapeutischen< Zwecken, und einer weitergehenden Eugenik, die die biologische Konstitution regelrecht zu >verbessern< trachtet. Mindestens zwei konkurrierende Positionen stehen in den Pro-KontraDebatten Anfang der 1990er Jahre ebenfalls im Raum: Zum einen die schöpfungstheologisch oder auch mittels eines eng ausgelegten Kantischen Instrumentalisierungsverbots begründete Forderung nach einem Verzicht auf Genmanipulation, Klonierung und vor allem Eingriffe in die Keim bahn. Zum anderen die utilitaristisch begründete Forderung nach Freigabe und experimenteller Erschließung der neuen Möglichkeiten einer evolutio nären Verbesserung des Menschen - umfassend die selektive Tötung von lebensunwerten Kindern und die systematische Nachzucht oder auch ganz ins Labor zu verlegende Produktion von Menschen - einschließlich Klo nierung und Züchtung transhumaner Wesen oder Mensch-Tier-Chimären. Namentlich im Streit um die zuletzt genannten Optionen —ein Anlass war die nicht nur in Deutschland heftig geführte Kontroverse um die Positio nen des australischen Ethikers Peter Singer10, weitere Anlässe boten die ersten Gesetzesvorhaben zur Forschung am Embryo und zur Klonierung11 —übernimmt der Begriff der Züchtung eine Fülle von polemischen Gehal 10 Kuhse/Singer 1985; Singet 199S. Singer betrachtet die Anstrengungen zur Steuerung der Evolution des Menschen als Befreiungsversuche im Kampf gegen eine feindliche Natur und auch gegen eine bislang durch die Natur, nämlich genetisch festgelcgte Moral; vgl. Singer 1981, S. 173: »When we know more, we will truly be able to claim, that we are no longer the slaves o f our genes.« 11 Für die deutsche Diskussion waren dies in den 1990er Jahren namentlich die - gemessen am deutschen Embryonenschutzgesetz - damals lockeren Maßgaben der Bioethik-Konvention des Europarates: Forschung an bis zu 14 Tage alten Embryonalzellen (und StammzelUinien) sowie ein nur befristetes Verbot der Klonierung.
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ten: Anklänge an die rassistischen NS-Selekdonen, die Entwürdigung des Menschen zum Tier, die Hybris der vollständig künstlichen Neuschöpfung, die Anmaßung totaler Herrschaft. Der Topos >Menschenzüchtung< wird zum Synonym für einen finalen biotechnologischen Tabubruch und eine sich darin dokumentierende Kapitulation der Moral - und zugleich für die historische Tragödie der modernen Wissenschaft, die eine als unaufhaltsam empfundene Technologieentwicklung in sich zu tragen scheint.
4. Zwischenüberlegung Was lehrt nun die Begriffsgeschichte? Zunächst etwas Überraschendes: D er terminologische Befund ist der einer nur schmalen und kurzen histori schen Spur. Erst spät steht ein Wort für die Sache und in diese Sache mi schen sich die ethisch-pädagogischen Bedeutungsfacetten von >Zucht< hinein. Eine rein biologisch bestimmte Züchtungsbegrifflichkeit kristalli siert sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts heraus. Selbst in Zeiten eines sich bereits verbreitenden Sozialdarwinismus bleibt die traditionelle >erzieherische< Komponente in der Idee einer >Zucht< des Menschen zunächst mit im Spiel. Die eigentliche Eskalationsphase des biologischen Züchtungsthemas beginnt mit der Wende zum 20. Jahrhundert. Zeitlich fallt sie also nicht mit der ersten Wirkungsphase der Evolutionslehre zusammen, sondern sie beginnt erst mit dem Hinzutreten der modernen Genetik —also dem Voll bild einer Erblehre der >verborgenen< Merkmale, einer Erblehre, die den Habitus, Charakter etc. zu Epiphänomenen macht und nur noch den Ge notyp fokussiert. Mit der Genetik trennen sich die Erziehung und das gattungshygienische biotechnische Projekt. Sowohl die über Bevölkerungsre gulierung hinausgehenden eugenischen Züchtungsprogramme und die diesbezüglichen experimentellen Projekte als auch der Tabubegriff der >Menschenzüchtung< sind an die Genetik des 20. Jahrhunderts geknüpft. A uf eine lange Dauer oder auf historische Konstanten verweisen sie nicht. Mit dem motivgeschichtlichen Befund verhält es sich anders. Das er zählerische Motiv eines Züchtens der Individuen einer Gruppe —Züchten verstanden als die möglichst tief greifende »Zucht«, also die künsdiche präparation und Verbesserung aller Eigenschaften, der erworbenen Eigen schaften wie auch der natürlichen Anlagen des Menschen - reicht im
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scharfen Gegensatz zur Wortgeschichte historisch weit zurück. Gerade der technische Sinn (die Idee des Tricks) und auch der Sinn für die politische Willkür (der Vorsatz zur Aussonderung einer Elite) scheinen immer schon vorhanden, sobald man nur überhaupt explizit auf manipulative Fortpflan zungsarrangements reflektiert. Eine Spannung, die in der Perspektive liegt, mit natürlichen (oder jedenfalls: für die Betroffenen fraglosen) Notwendig keiten könne man strategisch hantieren, und auch die Idee des Besseren, der nie dagewesenen Schöpfung, prägen dieses Züchtungsmotiv. Dazu kommt das reflexive Bewusstsein für die mit dem Öffentlichwerden einer solchen Technisierung der Fortpflanzung verbundene Gefahr für den sozialen Frieden. Schon bei Platon findet sich nicht nur das Projekt einer selektiven Höherzüchtung, sondern auch das Ideal einer wie immer zu organisieren den >Diskretion< der Planungsperspektive. Allerdings erfährt auch das Motiv im 19. Jahrhundert einen Wandel. Wollte man angesichts der langen Linie seit Platon einmal kurz behelfsmä ßig von einem >Diskurs< der Menschenparkmodelle sprechen, so zeigen sich die älteren Thematisierungen eines Züchtens als Option auch unter Menschen in mindestens zwei Hinsichten unterschieden gegenüber der modernen Situation. Erstens umgreift die traditionelle Vorstellung von der >Zucht< stets die bereits angesprochene Vielfalt der Aspekte, die wir im Rückblick allenfalls graduell unterschieden finden. Dasjenige, was wir heute als die >Biologie< des Menschen bezeichnen, sprich: seine vererbten Anlagen, sowie dasje nige, was im Laufe einer Biographie durch Erziehung geprägt oder sonstwie hinzuerworben wird. Die Formung des einen und die Formung des anderen hängen vor dem Auftauchen einer biologischen Genetik un unterscheidbar zusammen. Eingriffe werden von der prägenden Aktivität her gedacht und sie erfolgen in einem analogen Griff. Dieser enge Zu sammenhang löst sich in einer Moderne auf, in der nicht mehr die len kende Aktivität des Züchtens, sondern das biologische Substrat, der pre käre »Stoff« des zu Züchtenden im Mittelpunkt steht. Im Zeitalter der Biomacht ist die Menschenzüchtung zu einer reinen Technologie der Sub stanzen geworden. Zweitens konzentrieren sich die historisch älteren Utopien auf andere Praktiken der züchterischen Intervention als die modernen - oder besser: Den verwendeten Techniken wohnt eine andere Logik inne. Traditionell soll Menschenzüchtung mittels durch Moral oder Sitte institutionalisierter Verhaltenslenkung funktionieren, sie setzt auf Inklusion in ein Gruppen-
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ethos als Mittel der Politik, und genauer dann: Auf die Steuerung der Partnerwahl und der Zeugung als Mittel zur Verbesserung des Kollektivs. Diese Eingriffsebene - Verhaltenslenkung und nicht eine minimale, un sichtbare Manipulation an der körperlichen Substanz —korrespondiert mit dem holistischen Charakter der »Zucht«, der die gesamte Haltung der Per son umfasst. Paradoxerweise wird man sogar die Tötung (etwa der schwa chen Neugeborenen nach spartanischem Muster) sowie alle Muster des Vertreibens, Einsperrens etc., um Fortpflanzungen zu verhindern, eher dem Register der >Zucht< zuordnen als demjenigen der biotechnologischen Züchtung. Die Exklusion aus dem Gemeinwesen ist eine im archaischen Sinne die ganze Person betreffende Maßnahme, sie fugt sich zur Men schenzüchtung im historisch weiten, nicht medizinisch-biologischen, auf das Erbgut verengten Sinn. Das Individuum und nicht lediglich sein Erbgut hatte früher den politischen Raum und seine Verhaltensordnung zu verlassen. Mit der Vererbungslehre und dem genetischen Paradigma er scheinen dagegen historisch neue Maßnahmen, die allein auf einen biologi schen oder biomedizinischen Körper zielen. Das Individuum wird nicht mehr als Ganzes adressiert, sondern nur noch, soweit es den Genotyp der Gattung tangiert. An die Stelle eines integralen Modells der ethischen Selbstzucht, durch die das Individuum sich ins Gemeinwesen zu integrie ren hat, treten kleinere, verhaltensneutrale Maßnahmen, die allein den Körper treffen und die reproduktive Substanz: (Zwangs-)Sterilisation, genetische Tests und genetische Prognostik mit gegebenenfalls >automatischer< medizinischer Behandlung, das Angebot zur Nutzung reprodukti onsmedizinischer Möglichkeiten wie künsdiche Befruchtung, Klonen etc. Diese Techniken zielen nicht mehr in letzter Instanz auf das Individuum als Teil eines Verhaltenskollektivs, sondern allein auf die biologische Spur jn seinem Körper. Im Zweifel ist der Einzelne nur Übermittler einer be stimmten Menge an codierter Information, eben derjenigen Information allerdings, die zum »Pool« aller relevanten Merkmale der Gattung zählt, und die deshalb idealerweise gewissermaßen >separat< hantiert und gezüch tet werden kann. Was man im Zeitalter des Lebens herstellt und dem politischen Regime überantwortet, ist das Erbgut selbst. Züchtungspolitik gilt nicht mehr Fe rnande!™. Es entfällt die Person. Damit rückt eine weitere vergleichende Frage in den Blick. Sie gilt dem Verhältnis des Individuums zum kollektiven Ganzen, so wie es die lange Reihe der Züchtungsideale in verschiedener Form doch immer vorsieht.
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Stets geht es ja um eine Sozialisierung der Generativität. Was auf der Hand liegt: Jede Moral oder Politik der Fortpflanzung setzt ein »Ganzes« ins Werk, dem etwaige Einzelne unterstellt sind oder - wenn man so will —nur mehr »dienen«. Insofern ist das Spannungsverhältnis zur »Person«, zum liberalen Individuum, gleichsam vorprogrammiert. Auch an diesem Punkt lässt sich aber mit der Moderne eine Verschiebung feststellen. Betrachtet man das Individuum und die sich durch es reproduzierende Gemeinschaft als zwei Pole in ein und demselben Geschehen, so treten im Zeichen der Biologie diese beiden Pole schärfer auseinander denn je. Ein Diskurs der nicht länger sittlich, sondern nun biologisch definierten Gattung absorbiert das Individuum bzw. das, was allein an ihm relevant sein soll: sein erbbio logisches Profil. Das Individuum wiederum ist arbiträr —jedenfalls ist es selbst sogar bei optimaler Erbqualität mit der einzigen Ausnahme seiner reproduktiven Substanzen für Gattungsbelange entbehrlich. Die Eugenik wird durch die Verengung auf die nackte Substanz von je dem ethisch-politischen Zielbild des Züchtens weggerückt - und so be denkenlos wie nie. Wo nur die Biologie zählt, mag das Individuum im »Rassedienst« negiert und vernichtet werden, ohne dass es noch der sozia len Fassung eines Todes bedarf. Eben das hat Foucault Biomacht genannt: Im Zeitalter des biologischen Lebens muss gar kein individueller Tod mehr >gegeben< werden. Im Zuge der Lebensherstellung erfolgt das Sterben tendentiell als faktischer Effekt, als Sterbenlassen, als formlose Vernich tung.12 Und auch die Kehrseite derselben Verschiebung betrifft unsere politische Gegenwart: Die gesamtgesellschaftliche Verbesserungsanstrengung, die Eugenik, wird durch die Fixierung auf die Substanz so unauffällig wie nie. Wo nur die Biologie zählt, kann das Individuum sein Verhalten von der Fortpflanzungsfunktion lösen. Bis auf kleine »Opfer«, die Einwilligung in die genetische und/oder reproduktionsmedizinische Operation, kann der Einzelne scheinbar von den alten Härten der Menschenzüchtung freigestellt werden. Eine ethische Zucht, eine aktive Disziplinierung hat das kollektive Ganze, das sich auf dem biomedizinischen Wege >kleiner< Ge sundheitsmaßnahmen verbessern will, kaum mehr nötig.
12 An die Stelle der traditionellen Macht des Souveräns, die darin bestand, Untertanen sterben zu machen, tritt »die Macht, »leben zu machen«!. - »Die Macht kennt den Tod nicht mehr. Strenggenommen läßt die Macht den Tod fallen«, lautet Foucaults Folge rung. Sie läuft auf den genannten paradoxen Effekt hinaus: Der politische Zugriff auf das Leben entgrenzt, legitimiert, vervielfacht die Formen der anonymen, angelegentlich beiläufigen Vernichtung (Foucault 1975 f./1996, S. 285,287; Foucault 1976).
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Der Philosophie kommt mit der Übergangszeit um 1900 die traditio nelle Breite des semantischen und des praktischen Zusammenhangs der >Zucht< abhanden. Nietzsche wie wohl auch Spengler können hier als Bei spiele dienen. Beide hantieren mit einer Begrifflichkeit, die ihre Veranke rung in der Ethik oder der Politik zu verlieren droht. Eben dadurch ist ihr Vokabular extrem zeitgebundenen und nimmt schon damals systematische Missverständnisse in Kauf. Diese Missverständnisse oder besser: Nichtver ständnisse namentlich Nietzsches im Dritten Reich sind mehr als nur Pan nen. In ihnen bestätigt sich vielmehr eine fortdauernde Ortksigkeit des modernen Züchtungsparadigmas. In der Epoche der Genetik scheint das Züchtungsmotiv nur noch im Sinne einer >technischen< Option im Raum zu stehen. Ohne die >Zucht< ist der direkte Bezug zur Moral, zur Ethik oder zur Politik gleichsam am Horizont verschwunden. Eben das aber bereitet einer neuen Kühle des Planens und Zugreifens den Boden.
5. »Menschenpark« und »Gattungsethik« Die eigentümliche Ortlosigkeit des ins Biologisch-Gentechnische gewen deten Züchtungsthemas und auch philosophische Sprachlosigkeit waren exemplarisch zu beobachten an dem kleinen deutschen Skandal, den im Jahre 1999 die fachöffentlich vorgetragene Erwägung des Philosophen Peter Sloterdijk auslöste, man benötige in der heutigen biotechnologisch ent-humanisierten Lage möglicherweise »Regeln für den Menschenpark«. Die entrüsteten Reaktionen auf Sloterdijks eher beschreibend gehaltenen Aussagen 2um Thema waren erstaunlich - in Heftigkeit und Ton. An was rührt der Text von Sloterdijk und welche Rolle spielt nament lich die Frage nach der Züchtung? Jedenfalls verwendet der Text eine tabuisierte und im Kern mehrdeutige Vokabel. Ob die Epoche einer eigens regulierungsbedürftigen Züchtung des Menschen bereits begonnen hat oder nicht —das ist eine Frage, die Sloterdijk resümierend aufwirft. Was dem vorangeht, ist ein historischer Durchgang, der sich mit viel Geschick von Heidegger und Nietzsche geliehener Bilder bedient: Die Epoche des Humanismus als eine der Selbstdomestikation des Menschen habe die rohe, körperliche »Züchtung« durch die subtilere geistige »Zucht« bzw. »Zähmung« ersetzt. Von den humanistischen Institutionen unbemerkt sei unsere Gegenwart de facto aber längst zur Züchtung zurückgekehrt. Die
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durch ethische Appelle oder dergleichen (»Zähmung«) nicht imtierbaren Selbstanwendungspotentiale der Biotechnologien (»Züchtung«) seien Teil eines posthumanistischen Zeitalters —oder jedenfalls einer Lage, in der das humanistische Selbstbild fehlgeht. Weswegen, so Sloterdijk, eine neue »Anthropodizee«, »eine Bestimmung des Menschen angesichts seiner bio logischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz« (Sloterdijk 1999, S. 19) erforderlich sei. Als Seismographen und Gewährsmann fuhrt Sloter dijk Nietzsche ins Feld. Nietzsche habe —»Darwin und Paulus gleich aufmerksam gelesen« habend (ebd., S. 39) —einen zweideutigen Diskurs zugunsten der Züchtung und gegen das naive Konzept der Erzie hung/Zähmung geführt. »Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen wird der humanistische Horizont gesprengt, sofern der Huma nismus niemals weiter denken darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungs frage.« (Ebd.) Zweideutig bleibe das Züchtungspathos gleichwohl, denn auch Nietzsche selbst sei interpretierbar als Parteigänger eines »Nachden kens über die Humanität jenseits der humanistischen Harmlosigkeit« (ebd., S. 43). Es sei die Signatur des »anthropotechnischen Zeitalters«, so Sloterdijks Resümee, »daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne, daß sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müßten«. Es gebe allerdings auch »ein Unbe hagen in der Macht der Wahl« und werde daher bald »eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben«. Da aber »bloße Weigerungen oder Demissionen« zu scheitern pflegen, werde es »in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren«. Was der Menschheit bevorstehe, seien jeden falls »Perioden der gattungspolitischen Entscheidung«, in denen sich zeigen werde, »ob es der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wieder wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen« (ebd., S. 46). Die Reaktionen auf die Regelnfü r den Menschenpark - anders als der Titel nahe legen mag, schlägt der Aufsatz keinerlei »Regeln« vor, sondern ver harrt bei den zitierten prinzipiellen Erwägungen - führten weg vomText. Sloterdijks längs der Differenz Zucht/Züchtung getroffene Diagnose, in der aktuellen Konfrontation mit den modernen Realitäten biotechnolo gischer Menschenproduktion gebe es ein Versagen der klassisch humanisti schen Kritikstrategie, blieb weitgehend undiskutiert. Gleiches gilt für den
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Vorwurf, die Intellektuellen hätten im 20. Jahrhundert die latente Wieder kehr und Präsenz der Züchtung in der Zucht verleugnet, man habe »den Zusammenhang zwischen Lesen und Auslesen« nicht realisieren können (ebd., S. 43). Aufgegriffen wurde statt dessen die im Text gar nicht direkt gestellte Frage, ob »eine künftige Anthropologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung« Vordringen solle oder nicht (ebd., S. 46). Namentlich Jürgen Habermas hat 2001 in einer Schrift Die Zukunft der menschlichen Natur dieses Thema aufgenommen und fortgeführt. Einerseits polemisiert Habermas gegen Intellektuelle, die versuchten, »aus dem Kaffeesatz eines naturalistisch gewendeten Posthumanismus die Zukunft zu lesen« und die nichts anderes täten, als »den >kulturellen Hauptfraküonen< Mut [zu] machen, >die Seiektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben«< (Habermas 2001, S. 43). Andererseits jedoch konzediert auch er, dass es mit der Züchtung im biotechnologischen Zeitalter ein Problem gibt: Es scheint, dass »die Menschengattung ihre biologische Evolution bald selbst in die Hand nehmen könnte« und eine »Selbsttrans formation der Gattung« in Reichweite rücke (vgl. ebd., S. 42). Habermas rekonstruiert das, was Sloterdijk als ein Züchtungsproblem thematisiert - also als eine politische Frage nach der möglichen Bändigung einer biologisch-technischen Zugriffsmacht —als ein Problem der >Identität< und gegebenenfalls der Wahrung einer gefährdeten Identität. Für Ha bermas steht nicht die Zähmung von >züchterischer< Gewalt, sondern die Identität eines generalisierten Menschen auf dem Spiel, dem das Gegen über einer >Natur< abhanden zu kommen droht. Da mit dem »Verschwim men der Grenze zwischen der Natur, die wir sind, und der organischen Ausstattung, die wir uns geben«, die »Unverfugbarkeit der genetischen Grundlagen unserer leiblichen Existenz« historisch erstmals zur Disposi tion stehe (ebd., S. 44 f.), verliere die bisher auf die menschliche Natur abgestellte Moral gleichsam ihren Anker. Die »Entdifferenzierung« der Unterscheidung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, so Habermas, verändere »unser bisheriges gattungsethisches Selbstverständnis«, aber auch »das Selbstverständnis einer genetisch programmierten Person« (ebd., S. 45). Vor der Natur waren aUe gleich. Würde nun der Mensch >künstlich< den Menschen disponieren, verlöre das Individuum seine lebensgeschichtliche Autonomie, lautet also die Überlegung. Da durch den Verlust der Natur notwendigkeit das ethische Selbstverständnis der Gattung Mensch aufs Spiel gesetzt sei, setzt auch die von Habermas anvisierte Lösung explizit
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auf »gattungsethischer« Ebene an: Es gelte, »die »Moralisierung der menschlichen Natur< im Sinne der Selbstbehauptung eines gattungsethi schen Selbstverständnisses« zu begreifen, heißt es im Text. Davon, ob dies gelinge, hänge es ab, »ob wir uns auch weithin als ungeteilte Autoren unse rer Lebensgeschichte verstehen werden und weiterhin als autonom han delnde Personen anerkennen können« (ebd., S. 49). Der Schritt in eine Gattungsethik im Kollektivmaßstab als »politischer Akt selbstbezüglichen moralischen Handelns« (ebd., S. 49) soll also das Identitäts- und Autono mieproblem lösen: Wo uns angesichts der selbst zugemuteten Entschei dungsfreiheit »zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen Wegweiser halten« (ebd., S. 121). Konkret zieht Habermas die Scheidelinie des moralisch Legitimen wiederum mittels der Kategorie der >negativen< Eugenik —lediglich eine Selektion zu Heilungs zwecken wäre also vertretbar, eine beliebige Instrumentalisierung des Embryo hingegen nicht. Habermas’ Hauptgegner ist, neben dem Nietzscheanismus, die im Text so genannte »liberale« Eugenik: Ansätze, die die Bindung von Eingriffen ins Genom an den therapeutischen Zweck oder überhaupt Zweckbindun gen verneinen. In dieser Richtung könnte dem Diskursethiket das womög lich eigentliche und größere Problem erwachsen: Überhaupt noch Ethik oder nicht vielmehr nicht(s)P Im Grunde konzentriert sich Die Zukunft der menschlichen Natur mit der Forderung nach >Gattungsethik< ganz auf diese eine Antwort: Kein Selbstbindungsverzicht. Gegenüber marktliberalem Optimismus seien ein moderater »Alarmismus« —also vernunftgeleitetes Misstrauen —und auch das Dammbruch-Argument angebracht, lautet die Aussage (vgl. ebd., S. 39). Das Argument von der alarmierbaren Vernunft muss wohl so vage bleiben. Denn: Was wäre, wenn sich die >Gattung< ex plizit liberalistisch einstellt, dem Common sense den Vorzug geben will oder gar (Sloterdijks Szenario) sich längst schon auf einen technisch-barbarischen Konsens versteht? In Sachen Züchtung schließt sich mit diesem gattungsethischen Notan ker der Vernunft der Kreis. Der Ruf nach einer >Ethik< auf Gattungsebene ist der Forderung nach >Regeln< für den Menschenpark zum Verwechseln ähnlich. Die Perspektive der Menschenzüchtung als einer ethisch lösbaren Aufgabenstellung wird hier wie dort affirmiert. Und auch die liberalistische Optik, die Sloterdijk wie Habermas zurückweisen, verwendet im Grunde das gleiche Okular. Wo Habermas die reflexive Moral auf »Unverfügbar keit« stoßen lässt, könnte aus Sicht eines Pragmatikers leicht ein liberaler
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Konsens, eine Gattungsethik des laisse^faire, eingesetzt werden.13 Denkbar wäre ebenso, wie für den deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals wieder von Georg H. Fey und Carl Friedrich Gethmann vorgetragen, eine gattungsethische Pflicht, den menschlichen »Gestaltungs auftrag in bezug auf den Genpool« wahrzunehmen.14 Oder die Option hieße eben - und das wäre eine mögliche Lesart des Sloterdijkschen Ap pells —den Verzicht auf jeden >ethischen< Konsens ins Auge zu fassen, um dann für den Menschenpark bewusst rigide >Regeln< zu platzieren. Diese Regeln könnten ein gattungsethisches Verbotsregime statuieren oder die Option für den gentechnologischen historischen Status Quo. So oder so: Dem gattungsethischen Blickwinkel ist sowohl die regulatorische Perspektive des Züchters (dieser Gattung) als auch die prekäre Perspektive einer ratio nalen Selbstzucht (der Gattung) inhärent. Als Metapher genommen markiert die Züchtung die Körpergrenze der demokratisch-repräsentativen Politik. Anzunehmen, die Fiktion der Selbst regierung - >unsere< Entscheidung über die Art, wie >wir< leben - könne noch die Frage einer rationalen Autorisierung zur politischen Disposition über die Physis der Anderen mittels einer >Ethik< positiv beantworten, ist ein Abenteuer. Nicht die Natur, sondern die regulative Idee des Willkür verbots kommt abhanden, wenn man den Menschen de jure zum Züchter des Menschen ernennt (selbst wenn er es defacto schon lange und vielleicht sogar immer schon gewesen ist). Ebenfalls im Jahr 2001 hat in Ansehung der faktischen Zumutung der Menschenzüchtungsperspektive der Philosoph Volker Gerhardt von einer »Aktualität der platonischen Staatstheorie« gesprochen, die praktisch un vermeidlich sei. Gerhardt zufolge entspricht diese tragische Aktualität dem Wesen eines Politischen, das man sich durch die säkulare Freigabe des Handelns nur ganz oder gar nicht erkaufen kann: »|D]ie Möglichkeit zu politischem Handeln hat der Mensch nur unter der extremen Bedingung eines Rückzugs der Götter«. Denn: »Die Hütung der menschlichen Herde 13 Vgl. aus einer solchen Perspektive etwa Stock 1993, Stock 2002. 14 Fey und Gethmann berufen sich auf eine einschlägige Monographie des Genetikers James Watson, A Passion for DNA. Genes, Genomes, and Society, aus dem Jahr 2001. Primär populationsgenedsche Maßnahmen, so die Autoren, seien zwar inakzeptabel, es gelte aber: »Obwohl man [...] kein konkretes strategisches Programm angeben kann, wie durch Einflussnahme auf unsere Umwelt die Selektion und damit die Evolution gestaltet werden kann, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der autonome Mensch die Be rechtigung und sogar die Verpflichtung dazu hat, selbstverständlich gemäß den generel len Kriterien der Umsichtigkeit oder Nachhaltigkeit« (Fey/Gethmann 2001, S. 49).
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erfolgt ausschließlich durch den Menschen selbst.« (Gerhardt 2001, S. 135) Gerhardt unterläuft die gattungsethische Perspektive. Er beschränkt sich darauf, die Frage, die sich durch die Techniken der biologischen Verbesse rung des Menschen stellt, mit Kant als eine politisch-praktische Frage zu reformulieren: »Wie können wir hoffen, dass es bei der Beschränkung aller Perfektionsbemühungen auf Erziehung und Bildung bleibt?« (Ebd., S. 147) Aus Gerhardts Sicht scheinen zugunsten einer solchen Haltung einer lediglich hoffenden Vernunft Anhaltspunkte gegeben. Jedenfalls verweist er auf zwei Hoffnung gebende Größen: Die Rechtstradition der »angebore nen Freiheit« des als »Person« zu fassenden Individuums sowie das Behar rungsvermögen von Institutionen der Selbstbegrenzung werden für die Durchsetzung von Schranken auch in der Biopolitik sorgen (ebd., S. 146 ff.). Schützt allerdings tatsächlich das bloße Gottvertrauen in die Kraft der >bewährten< Institutionen die Politik dieser Institutionen in sub jektiv überforderter Lage vor der Barbarei? Die Formel ist auch nicht überzeugend - und läuft unter Umständen direkt auf Theorieverzicht wie auch Politikverzicht hinaus.
6. Von der Züchtung zu den
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In wenig elaborierter Form kursiert vor allem im US-amerikanischen Raum das Stichwort soft eugenics —in einer Parallele zu anderen Phänomenen, die technologisch >softpersonalisierte< Medikation, selektive Techni ken der Lebensverlängerung. Der gemeinsame Nenner dieser Angebote ist, dass sich aus ihnen gleichsam in der Addition vieler kleiner durch Konsum dokumentierter Plebiszite eine Art ungefühlter Politik, eine Politik ohne politische Entscheidung ergibt. Der Ausdruck soft zeigt eine Entwicklung an, die der Rede vom »Menschenpark« wie auch der unangenehmen Voka bel der »Züchtung« den Boden entzieht —und zwar auf eine ganz andere Weise als die philosophischen Zerrissenheiten je könnten, für die der Züchtungsdiskurs steht. Man könnte die Entwicklung eine schleichende Biologisierung des All tags nennen oder auch eine Veralltäglichung der Biologie. In der Sache ist sie mit dem Verlust des Phänomens verbunden. Wo der von Sloterdijk
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gewählte Terminus >Menschenpark< die Idee der Pflanzen- und Tierzucht immerhin geradezu frontal heraufruft und das Problem der Menschen züchtung skandalisiert, da ent-intensivieren und entgrenzen die soft eugenics das, was früher der Skandal war. Dem technischen Stand der Dinge mag das entsprechen: Ein loses Bündel von Angeboten, die weder als Maß nahme noch als Effekt angesprochen werden können, akkumuliert sich zu einem bloß noch ökonomisch-technischen oder jedenfalls nicht mehr prinzipiellen Problem. Damit jedoch ist die Dimension des Handelns verloren. Wird das >Züchten< bald an keinerlei Notwendigkeitsgrenzen mehr sto ßen, die Einheit, eine Praxis zu sein, verlieren und von daher auch kein >Züchten< mehr sein? Das, worauf Habermas mit einer regelrechten Fehl lektüre reagierte, war so besehen durchaus das, worauf auch Sloterdijk noch setzte: Dass es diese Evidenz gibt, welche die Menschenzüchtung einen moralisch-politischen Skandal sein lässt. Die Semantik der Züchtung hatte diese Evidenz immer im Blick. Mit der affirmativen oder ironischkritischen Rede von soft eugenics steht sie nun in Frage. Was eine —philoso phische? theoretische? praktische? politische? - Tragödie war, könnte nicht mehr skandalisierbar sein.
Kapitel 9 Die Hirnforschung und die Macht: Von der Willensfreiheit zur Strafrechtspolitik
Haben wir lediglich das Gefühl, einen freien Willen zu haben? Legt eigent lich das Gehirn fest, was wir wollen und tun? Seit einigen Jahren gibt es die >Neuro-Debatte<, die solche Fragen diskutiert. Der Austausch der Argu mente wird in Gang gehalten durch die vielfach wiederholten Thesen der Neurobiologen Gerhard Roth und Wolf Singer, das Gehirn bestimme unser Handeln und die menschliche Willensfreiheit sei eine bloße Illusion. Hirnforschung heute - so lautet die Botschaft - müsse Grundsatzfragen nach der Natur von Erkenntnis, Empfindung, Bewusstsein und freiem Willen radikal neu stellen. Was früher Sache der Geisteswissenschaften gewesen sei, falle zukünftig in den Zuständigkeitsbereich der Neurobiolo gie. Die Philosophie solle den Tatsachen ins Auge blicken und ihr Men schenbild ändern - wie es auch an der Zeit sei, dass die Gesellschaft umsteuert. Besonders mit der Frage der Verantwortung für das eigene Han deln müsse man künftig anders umgehen. Da der Mensch nicht frei sei, sei es auch ungerecht, ihn für das, was er tut, zur Verantwortung zu ziehen. In ihrem erkenntnistheoretischen Kern ist die Diskussion vermutlich längst festgefahren, die Beiträge der Protagonisten haben längst begonnen, sich zu wiederholen. Dennoch sollen in diesem Kapitel die Argumente der Neuroforschung vorgestellt und vor allem dort genau betrachtet werden, wo sie auf politische Forderungen hinauslaufen. Die Neuro-Debatte mag mit der Frage nach der Biomacht mehr zu tun haben, als auf Anhieb er kennbar ist. Leuchten wir also zunächst die erkenntnistheoretische Provokation der Neuro-Thesen an sowie ihren mssenschaftstheoretischen Status und be trachten dann die strafrechtspolitische Seite dieser Thesen. Dass die Hirnfor schung nicht nur allgemeine Aussagen über Willensfreiheit trifft, sondern das Recht verändern will und strafpolitisch argumentiert, wird bisher nut selten mit bedacht und ernst genommen. Gerade die juridisch-ethische Seite des von der Himforschung geforderten rneuen Weltbildes< fügt sich jedoch in den Kontext biopolitischer Veränderungen bestens ein. Der
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normative Vorstoß könnte Wirkungen zeitigen. Neurobiologen mögen also vielleicht im Bereich der philosophischen Grundfragen nicht viel ausrichten. Aber sie etablieren einen neuen naturalistischen Kurzschluss zwischen Leben und Macht.
1. Erkenntnistheorie In dem Buch Das Gehirn und seine Wirklichkeit von Gerhard Roth aus dem Jahr 1994 erfährt man viel Wissenswertes aus dem Arbeitsfeld der neurophysiologischen Hypothesenbildung über Gehirne im Allgemeinen. Die Terminologie der Darstellung ist allerdings bereits von vornherein zuge schnitten auf die Frage nach dem spezifisch menschlichen Erkennen. Roths Buch würde eigentlich besser heißen »Das menschliche Gehirn und seine Wirklichkeit«. Unterschieden wird im Text zwischen einerseits der »Kognition«, das sind die »für den Organismus bedeutungsvolle[n], d. h. für Leben und Überle ben (besonders auch das psychosoziale Überleben) relevantefn] und des halb meist erfahrungsunabhängigejn] Wahmehmungs- und Erkenntnis leistungen« (Roth 1994, S. 31), und andererseits dem »Bewußtsein« —als einem »Zustand, den ein Individuum haben kann«. Das Bewusstsein sei, ebenso wie das >Ich-Bewußtsein< »das Gefühl, daß ich es bin, der etwas tut und erlebt« (ebd., S. 213). Das Bewusstsein ist also die typisch menschliche Form der Kognition. Das Gehirn beschreibt Roth als ein geschlossenes System, wobei er sich aber gegen radikal konstruktivistische Autopoiesis-Konzepte wendet. Das Gehirn ist nicht komplett blind, sondern ein System, das die ihm unzu gängliche Außenwelt gleichsam interpretierend ermittelt: »Dem Gehirn als einem neuronalen System sind nur seine eigenen Erregungen gegeben, dessen Herkunft und Bedeutung es erschließen muß. Dies gilt natürlich auch für das Gehirn des Neurophysiologen; deshalb trifft er seine Aussagen über den Zusammenhang zwischen Umweltereignissen und neuronalen Prozessen ausschließlich innerhalb seiner kognitiven, phänomenalen Welt.«. (Ebd., S. 104) Gehirne interpretieren Gehirne —und auch diese Aussage trifft wie derum ein Gehirn. Eben hierin liegt nach Roth (und ähnlich formuliert es an vielen Stellen auch sein Kollege Singer) die gleichsam autarke, zugleich aber auch Welt stiftende »Wirklichkeit« des Gehirns. Gehirne sind das, was
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wir alle haben, aber auch das, was wir sind und dem sich unser Bild von der gemeinsamen Welt verdankt. Das Wort »Gehirn« meint in diesem Modell einerseits das Objekt der empirischen Hirnforschung, andererseits aber auch das Denken des Denkenden —einschließlich seiner selbst. Dass schon hier ein dramatischer Zirkel vorliegt - ein Zirkel, dem die Autoren nicht gerecht werden1 —das liegt auf der Hand. Dennoch rückt Roth mit dem Buch Fühlen, Denken, Handeln aus dem Jahr 2001 sowie mit nachfolgenden Aufsätzen und Feuilletons ein neues Thema spektakulär in den Mittelpunkt: Nach der Erkenntnis stiftenden Macht des Gehirns geht es nun um seine Bedeutung für die Willens- und Handlungsfreiheit. Das zur Handlung führende »Entscheiden« des Menschen soll neurophysiologisch zeigbar sein. Diese Aussage stützt sich auf Laborversuche, die Hirn-Innenleben und Verhalten ins Verhältnis setzen. Immer dann —so lautet ein Ergebnis — wenn eine Versuchsperson angibt, bewusste oder willensgelenkte Akte zu vollziehen, kann man mittels heute in der Hirnforschung eingesetzter bild gebender Verfahren parallel mehr oder weniger typische Aktionspotentiale zeigen. Das Gehirn ist dann lokalisierbar aktiv und verbraucht lokal Ener gie. Vor diesem Hintergrund konzentriert die Neurophysiologie nun ihre Überlegungen auf den Zusammenhang zwischen Energie verbrauchenden neuronalen Prozessen einerseits —und andererseits dem, was da offenbar an Aktivität gebunden scheint: Kognition, Bewusstsein oder auch >Willen<.
1 Ich zitiere eine symptomatische Stelle, die den schliddernden Wirklichkeitsbegriff ent larvt, der das ganze Modell Zusammenhalt; Roth unterscheidet Wirklichkeit und Realität (und phänomenale Welt) und schachtelt sie ineinander: »Die Wirklichkeit wird in der 'Reali tät durch das nale Gehirn hem/gebracht. Sie ist damit Teil der Realität, und zwar derjenige Teil, in dem wir Vorkommen. Dies ist eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Be schaffenheit der Reaütät mißverstanden werden darf. Machen wir aber keine solche Un terscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit, dann müssen wir entweder annehmen, daß es gar keine phänomenale Welt gibt, sondern nur Realität. Dann gibt es aber auch gar keine Wahrnehmung und kein wahrnehmendes Ich. Umgekehrt müßten wir die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt leugnen; dann aber wären alle Befunde über das Zustandekommen der >Welt im Kopf« völlig rätselhaft. Wenn ich als Himforscher den Zusammenhang zwischen Sinnesreizen, Himprozessen und bewußtem Erle ben bzw. Handeln aufzeige, so müßte ich in diesem Fall einer außerordentlich merkwür digen Täuschung unterliegen und mir überdies einbilden, es gäbe Kollegen, denen dies genauso ginge. Mit der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit lassen sich innerhalb der Wirklichkeit hingegen viele Dinge befriedigend erklären« (Roth 1994, S. 325) [Hervorhe bungen teils von mir, PG].
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Bei Roth ist zunächst noch vorsichtig von einer »Parallelität« die Rede, von »strenger« (Roth 1994, S. 278) bzw. »sehr enger Parallelität« (ebd., S. 301) zwischen Hirnaktivität und Willen. Dann aber spricht er auch da von, dass die Hirnaktivitäten den Charakter von »Beteiligungen« oder »Be dingungen« am Willensphänomen hätten: Das Aktionspotential ist dem nach nicht nur ein Umstand, sondern der Grund für das, was uns als Wille oder Entscheidung erscheint. Diese zweite und natürlich weitergehende Anmutung nutzen die Hirnforscher in ihrer Interpretation der so genann ten Libet-Experimente. Seit diesen revolutionären Versuchsergebnissen könne die Neuroforschung sagen: Dem bewussten »Willen« gehe eine neuronale Entscheidung tatsächlich ursächlich voraus. Bereits im Jahr 1983 hatte der US-amerikanische Neuroforscher Ben jamin Libet auf der Suche nach dem freien Willen den folgenden Aufbau erfunden: Versuchspersonen wurden trainiert, gleichsam aus einer HabAcht-Position heraus >frei< (nämlich zu einem selbst gewählten Zeitpunkt in der Spanne von drei Sekunden) zu agieren, bei Libet hieß dies: einen Finger zu bewegen, um einen Knopf zu drücken. Mittels einer Uhr gaben die Probanden dann selbst den Zeitpunkt an, in dem sie bewusst diese Knopfdruck->Entscheidung< getroffen zu haben meinten. Die Parallelmes sung der Himaktivitäten ergab aber: Bereits vor dem Moment, zu dem die Versuchsperson nachträglich angibt, ihre eigene Entscheidung bewusst getroffen zu haben, kann man in ihrem Gehirn bestimmte typische Aktivitätspotentiale messen. In Varianten des Experiments galt es, auf einen von zwei Knöpfen zu drücken. Die Ergebnisse waren vergleichbar. Roth interpretiert das Versuchsergebnis als Auskunft über das Zustan dekommen des menschlichen >Willens<: Der Willensakt gehe nicht, wie man immer geglaubt habe, »den neuronalen Prozessen voraus, sondern ergibt sich aus ihnen«. Menschen haben lediglich das >Gefühl< der freien Ent scheidung, dieses Gefühl sei aber »nicht die eigentliche Ursache für eine Handlung, sondern eine Begleitempfindungs. (ebd., S. 307). Das Gehirn »gau kele« uns somit das Gefühl des Handelns nur vor (vgl. ebd., S. 327). Ich überspringe die vielfache Kritik am Aufbau des Versuchs2 und halte nur fest, dass von philosophischer Seite sich die Einwände weniger gegen 2 Man kann subjektiven Zeitvetsatz beim Ablesen des >Entscheidungsmoments< ins Feld fuhren, den zeitraubenden neuronalen Verarbeitungsweg des Blicks auf die Uhr, den zu trivialen Charakter dessen, was da zu entscheiden war (sinnloser Knopfdruck) oder die enge vorgegebene Zeitspanne, die gleichsam ein pauschaler Wille von vornherein schon überbrückt.
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das richten, was das Experiment zeigt oder nicht zeigt, als gegen seine Interpretation. Vom empirischen Nacheinander des >imerlebten< Entscheidung auf Kausalität zu schließen und auf das Fehlen von Entscheidungs- oder Willensfreiheit —darin steckt derselbe Kategorienfehler, der darin gelegen hätte, aus dem Nachweis einer zeitlich umgekehrten Abfolge (also: zuerst Willensbewusstsein, dann neuronale Aktivität) >Freiheitkausal<, und auch der Begriff der Handlung (des Willens, der Entscheidung) gewinnt seinen Sinn erst jenseits der Vorstellung einer Kausalkette, in der sie als Glied betrachtet werden —unabhängig davon, dass man Handlungen jeder zeit auch als Glieder in einer solchen Kausalkette betrachten kann. Sogar ein nachgewiesener Kausalzwang (zum Beispiel: Ich werde im Wettkampf meiner Ausweichbewegung zum Trotz schmerzhaft getroffen, gehe unge wollt zu Boden und verlasse als Verliererin den Platz) schließt ja nicht aus, dass man einen Handelnden als >frei< betrachten kann (im Beispiel: Ich habe die Konfrontation gewollt und stehe auch als Verliererin zu den Re geln). In diesem Sinne lesen sich die meisten der in der Neuro-Diskussion ge äußerten philosophischen Antworten auf das LAbet-Argument als Variatio nen über Kant: Frei ist der Wille ja nicht, weil er in der Lage wäre, Kausal bedingungen gänzlich abzuschütteln, sondern weil er unter der Bedingung fortgeltender Kausalität >autonom< sein kann, nämlich seinen eigenen Ge setzen folgen.4 Soviel zu den erkenntnistheoretischen Aspekten, die in der Debatte relativ ausführlich zu Wort gekommen sind.
3 Übrigens ist der Schluss vom Nacheinander auf Kausalität ein Typ von Schluss, den Singer in einem anderen Zusammenhang selbst als »fast zwanghafte Tendenz« des Ge hirns bezeichnet und ausdrücklich für verfehlt erachtet (vgl. Singer 2002, S. 81). 4 Mit diesem Tenor eher defensiv Wingert 2004; eher lapidar Buchheim 2004; eher gedul dig Höffe 2004; eher zornig Schnädelbach 2004. In der FAZ erschienene Diskussions beiträge dokumentiert Geyer (Hrsg.) 2004.
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2. Wissenschaftstheorie Das Argument, Roth und Singer hätten Kant nicht verstanden, ist nun zwar richtig, mag für sich genommen jedoch nicht unbedingt die Ver mutung entkräften, die Neuroforschung habe doch wohl etwas grundle gend Neues entdeckt. Fragen wir also hinter die dünnen Thesen zur >Freiheit< zurück. Welchen wissenschaftstheoretischen Status haben die Aussa gen der Neuroforschung insgesamt? Gerhard Roth nennt seinen methodologischen Standort denjenigen ei nes »nicht-reduktionistischen Physikalismus« (Roth 1994, S. 23 f., 300). Eine Verortung der Neurowissenschaft in der Physik soll das Wort Physi kalismus allerdings keineswegs nahe legen. Vielmehr möchte Roth gemein sam mit seinem Kollegen Schwegler, der den Ausdruck »nichtreduktionistischer Physikalismus« mit geprägt hat, eine methodologische Eigenschaft der Physik in die entstehende Neurowissenschaft hineinkopie ren, nämlich ihre interne Erklärungslückentoleranz. Es lohnt sich, die frü hen methodologischen Aufsätze der Hirnforscher zu lesen.5 Die Physik sei bis heute eine Einheitswissenschaft, heißt es da, und zwar trotz unverbun dener Bereichstheorien. Sie gelte, »auch wenn noch keine gemeinsame, umfassende Theorie gefunden wurde«, als eine »weithin widerspruchsfreie« Disziplin (ebd., S. 300). Wissenschaftstheoretische Fragen, so schließen unsere Autoren, können sich also durch schlichtes Überspringen von logischen Konsistenzproble men, durch schlichte »Nicht-Reduktion« erübrigen, eben das sei es, was das Beispiel der Physik zeige. Man könne den Stückwerk-Charakter einer Na turwissenschaft für unproblematisch erklären, und das reiche dann offen kundig aus, um die fragliche Wissenschaft über die weiterhin fortbestehen den methodologischen Lücken hinweg in neue Bereiche hinein auszudeh nen. In diesem Sinne soll »nicht-reduktionistischer Physikalismus« heißen: Eine Disziplin kann ihre eigenen Inkonsistenzen einfach ignorieren und Bereiche besetzen —analog zum (angeblichen) Patchwork der Physik.6 5 Vgl. zum Programm des »nicht-reduktionistischen Physikalismus« namentlich Roth/ Schwegler 1995. Wolf Singer bedient sich ebenfalls des Verweises auf die Physik, die durch die Vereinigung mit der Quantenphysik nicht »falsch« geworden sei (vgl. Singer 2002,8.179). 6 Neue Bereiche - das sind im Zweifel die Bereiche einer anderen Disziplin. Deutlicher als Roth hat Schwegler das usurpatorische Motiv dieses hemdsärmeligen Programms aus formuliert. Durch Inkaufnahme von Brüchen »verschwinden« die Grenzen zur Nach bardisziplin, und man kann nach Einheitswissenschaft streben, ohne Reduzierbarkeit
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Die zweite methodologische Komponente der Neuro-Theoriebildung heißt Konstruktivismus. Roth will »erkenntnistheoretischer Konstruktivist« sein, allerdings ein Konstruktivist, der gleichwohl von der Existenz einer »objektiven Realität« ausgeht (Roth 1994, S. 23 f., 328 f.). Habe ich den Sinneseindruck oder das >Gefuhl< eines Ich, so handelt es sich also um ein Konstrukt (wie ja auch das Gehirn, das ich wissenschaftlich erforsche, ein Konstrukt ist, das der Arbeit des Himforschers entspringt). Gleichwohl — so Roth - kann ich sagen, woher die beiden Konstrukte kommen: Sie sind nämlich jeweils Konstrukte eines >realen< Gehirns. Anders gesagt: Ich falle »nicht wirklich ins Bodenlose, wenn ich erkenne, daß ich das Konstrukt eines mir unzugänglichen realen Gehirns bin« (ebd., S. 331). Noch einmal anders gesagt: Das letztinstanzliche Gehirn, auf das ich in meinen For schungen stoße, ist immer >real<, seien meine Forschungen und meine Wis senschaftstheorie auch zunächst nur relativ begründet. Und in einer letzten Variante: Das, was die Gehirne der anderen konstruieren, ist für mich nur ein Konstrukt, während hinter dem, was mein eigenes Gehirn konstruiert, ein >reales< Gehirn steckt, und zwar das Gehirn einer objektiven Realität — objektiv allerdings nur dann, wenn ich Hirnforscher bin. Denn einzig die Hirnforschung hat ja Zugang zur objektiven Realität der Gehirne. Ein solcher >Konstruktivismus<, der doch über eine letzte Realität ver fugt, wäre wohl so eine Art Zwitter. Der Konstruktionscharakter betrifft nur die erkenntnistheoretisch relativierbare Oberfläche einer Wissenschaft, die als Wissenschaft gleichwohl auf dem Boden eines Naturalismus zu gleich doch immer schon fest steht. Singer geht ähnlich vor, indem er nicht-neurowissenschaftliche Argu mente pauschal als »Selbstbeschreibungen« rubriziert, als erfahrungsge bundene und latent illusionäre Ansichten, die lediglich aus einer »ErstePerson-Perspektive« geäußert werden. Beobachtung aus der »Dritte-Person-Perspektive« leiste demgegenüber »die Wissenschaft«. Die Frage nach deren Erfahrungsbindung wiederum beantwortet Singer durch den schlichten Verweis: »In der Wissenschaft ist der Wahrheitsbeweis das Ex nachzuweisen: Die »Patchwork-Struktur endet nicht an den Grenzen einer disziplinär [...] definierten Physik, sondern setzt sich stetig in die (jeweils) benachbarten Disziplinen fort. Vim Gesichtspunkt dieser Struktur aus [Hervorhebung von mir, PG] gibt es keine er kennbare Grenze [...]. Es verschwindet die Frage nach der Reduzierbarkeit der Nach bardisziplinen auf eine disziplinäre Physik, und es erübrig sich das Nachdenken über alle >Physikalismen<.« Ausdrücklich heißt es, dabei werde »das Einheitsstreben, das üblicher weise als Argument für den Redukdonismus ins Feld geführt wird, keineswegs aufgege ben« (Schwegler 2001, S. 79 f.).
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periment« (Singer 2003, S. 60). Wissenschaft und experimentierende Na turwissenschaft sind hier also einfach gleichgesetzt. Umgekehrt gilt: Nur Naturwissenschaften sind Wissenschaft. Allein die Außenperspektive der empirischen Wissenschaft habe sich als »konsensfähig, widerspruchsfrei und gemäß der Kriterien von Wiederhol- und Voraussagbarkeit als beweis bar« erwiesen (vgl. Singer 2004, S. 240). Eine überzeugende Ortsangabe für die Neurowissenschaft bieten derlei Aussagen nicht. Das Schema Erste-Person-Perspektive/Dritte-PersonPerspektive scheint kaum mehr als eine schlichte Umformulierung des ebenfalls schlichten Musters >subjektiv>objektiv<. Den »nicht-reduktionistischen Physikalismus« wiederum - wie auch den >Konstruktivismus< muss man wohl eher als eine Art pragmatischer Quasi-Theorie betrachten. Im Grunde haben die diesbezüglichen Schriften der Hirnforscher tatsäch lich einen deutlich ironischen Unterton: Ein bisschen Patchwork ist immer, das klingt bei Schwegler wie auch bei Roth mit durch. Ein bisschen Zirkel leistet sich doch jede Disziplin. Aber sehen wir noch einmal genauer hin. Mit welchen Objektivierungs strategien arbeitet die Hirnforschung? An welche Geräte bindet sie das, was sie ihre (experimentell gewonnenen) >Daten< nennt? Was gilt ihr als >Messung Wie hält sie es mit dem selbst benannten Kriterium der >Konsistenz< der Ableitungen, der Begriffe, der Reduktionen? Betrachtet man die experimentellen Arrangements, so liegen die ent scheidenden Evidenzen der Neuroforschung weit diesseits dessen, was man Messung nennen kann. Wir haben es eher mit so etwas wie bebildern der Sichtbarmachung zu tun. Denken Sie an die zeitliche Lokalisierung des Entscheidens bei Libet: Gemessen wird allein eine geradezu basale Größe: der Energieverbrauch. Schon die andere Seite der Messung ist kaum ein Datum zu nennen: Der >gefuhite< Entscheidungsmoment, über den eine Versuchsperson nachträglich eine mündliche Auskunft gibt. Dasjenige aber, worauf geschlossen wird, Größen wie >Entscheidung<, >Bewusstsein< oder >Wille<, erscheinen allein durch komplexe, von den Beteiligten mitge brachte Vorannahmen, die dann in die Erläuterungen einfließen, bezogen auf welche die Messdaten als Sichtbarmachung erscheinen. Man sieht etwas —und hält es nur zu gern für den visuellen Gegenwert von etwas. Zum Beispiel eines bewussten >Akts<. Einhellig —wenn auch eher beiläufig — erwähnen denn die Schriften Roths und Singers als den für ihre Disziplin entscheidenden Schritt nach vorn die neuen bildgebenden Verfahren, mit denen die Neurowissenschaften seit einigen Jahren arbeiten.
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Diese Verfahren erweitern in der Tat das zugriffstechnische Repertoire der Hirnforschung, denn als empirisches Forschungsuntemehmen war diese schon immer in einer besonders paradoxen Lage, namentlich was den Menschen angeht. Ihr fehlte fast ganz die (messende) Zugriffsmöglichkeit auf ihr - lebendiges —Objekt. Von Singer selbst gibt es einen Text, der dies forschungstechnische Dilemma der Neurophysiologie offen anspricht: Die Hirnforschung war im Grunde ein stagnativer Forschungszweig —bis die Computerentwicklung ihr Rechenkapazitäten brachte sowie diejenigen bildgebenden Verfahren entstanden, »die gegenwärtig die kognitiven Neurowissenschaften und die Neuropsychologie revolutionieren« (Singer 2002, S. 29). Konkret sind dies neben dem älteren Elektroenzephalogramm (EEG) und der Magnetenzephalographie (MEG) vor allem die PositronenEmissions-Tomographie (PET) und die (funktionelle) Kemresonanz-Spektroskopie (NMR/fNMR oder MRI/fMRI). In einer Formulierung von Roth: »PET und fMRI nennt man >bildgebende Methoden<, weil sie zu den schönen bunten Bildern des Gehirns fuhren.« (Roth 2003, S. 130) Es wäre interessant, ist aber nicht nötig, auf die messtechnischen De tails der Anlagen genauer einzugehen. Dreierlei ist bemerkenswert im Hin blick auf die Bilder, die für die Neuroforschung dasjenige sind, was sie als ihre Empirie bezeichnet. Erstens handelt es sich bei den anschaulichen »Bildern« in keiner Weise um Abbilder, sondern um Artefakte, auch wenn ihre Ausgestaltung das vergessen macht. Wir haben es mit Messverfahren zu tun, die Strahlungs werte auffangen und daraus Menge und Ort bestimmter Stoffwechselaktivitäten im Hirn errechnen (PET) oder die das Prinzip der Kemspin-Abbildung verwenden (NMR oder MRI) —eventuell ergänzt um eine Blutstoffwechsel-Komponente. Extrem ausschnitthaft gewonnene, modellgerechte (digitale) Messdaten werden also in einem gesonderten Schritt zu »Bildern« verarbeitet, bevor die Hirnforschung hier - scheinbar analog, scheinbar als blickten wir in den Kopf —etwas >zeigen< kann.7 Zweitens liegt das >Revolutionäre< der Verfahren vor allem darin, dass man erstmals (ohne eine Schädeldecke zu öffnen) überhaupt etwas aus dem lebenden Himinneren des Menschen zeigen kann. An das gesunde lebende Menschenhim darf der Forscher ja nicht heran. Freilich zeigt man mittels 7 Streng genommen wird also durch die visuelle Komponente nichts wirklich Neues gezeigt. Es werden nur die numerische Messung und das dieser zugrunde liegende Mo dell illustriert. Im engeren Sinne aussagekräftig ist auf den Bildern allein die Synopsis der Ortungen, also der Karteneffekt.
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der indirekt gewonnenen Abstrahlungsdaten eben nur den wenig verwun derlichen Sachverhalt, dass das Gehirn im Falle einer »kognitiven Aktivität« offenbar physisch arbeitet. Darüber hinaus kann man diese Arbeit lokali sieren. Man kann daher, wenn man ein räumliches Modell der Hirnfunkti onen mitbringt, die Aktivität beispielsweise als Vollzug einer bestimmten Leistung interpretieren, der man im >Raum< des Gehirns einen Ort zuweist. Mit anderen Worten: Stimmt das räumliche Modell, so handelt es sich bei den bildgebenden Verfahren allein um eine Lokalisierungstechnik. Exakt dasselbe gilt, wenn man bestimmte zeitliche Modelle mitbringt und etwa, -wie Libet, auch heterogene Daten grundsätzlich gemäß dem einfachen Zeitpfeil von Ursache und Wirkung ordnet. Was die Neuroforschung —neben diesem Ebenenwechsel der Inter pretation der Bilder - völlig ungeklärt lässt, ist das Kommunikationsprob lem zwischen Versuchsperson und Versuchsleitern, wenn von dem im Bild gesuchten Punkt der Entscheidung« oder einem >Gefiihl< oder gar dem >Bewusstsein< die Rede ist. Die innere Erfahrung, auf deren Spur sich das Experiment begibt, kann ja immer bloß die von dem Probanden mitgeteilte und bestätigte Erfahrung sein.8 Phänomenal bleibt die auf diese Weise in vermittelter Form zum Gegenstand gemachte (und zum Beispiel »lokali sierte« oder »datierte«) Erfahrung eine Black Box (vgl. Welding 2005; grundsätzlich Welding 2002). Die philosophische Wissenschaftstheorie könnte hier leicht die alten Einwände des Phänomenologen Edmund Husserl gegen den Psychologismus reaktivieren: Der vermeintliche Blick nach innen bricht sich immer an der Sprache, in der man Erfahrungen fasst. Drittens muss man folglich das synthetisch erzeugte Himbild interpretie ren können, um überhaupt zu Spekulationen darüber zu kommen, was das Gehirn hier >tut<. Ohne prüfbare, fallible Hypothesen über >Funktionen< und konkrete >Arbeitsweisen< dessen, was man da neu sichtbar machen kann, bleiben die Bilder nur unverbindliche Zeichen, die ominöse Zu stände zeigen. Sie bleiben bestenfalls Illustrationen eines bereits vorhande nen Standes der Theorie, das ergibt sich ganz immanent aus dem Selbst verständnis einer jeden Experimentalwissenschaft. Sollen die neuen Dar stellungsverfahren jenseits dessen, was sie konkret messen (Energiever brauch o. ä.), tatsächlich neues Terrain in der Frage der Hirnfunktionen
8 Von dem fragwürdigen Vor-Training ganz zu schweigen, das Versuchspersonen etwa im Iibet-Arrangement geradezu schult, dasjenige zu reproduzieren, was den Erwartungen des Versuchsleiters entspricht.
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erschließen, so bedürfen sie des - unverändert problematischen - invasi ven Experiments. Eben diesen zentralen Punkt gilt es im Auge zu behalten: Wenn die Hirnforschung die neuen bildgebenden Verfahren auch noch so oft als >Revolution< ihrer Disziplin bezeichnet: Bilder illustrieren nur. Sie liefern keinen Funktionszusammenhang. Funktionen muss man stören und auslösen können, um erprobt zu haben, ob sie Funktionen sind. Anders gesagt: Will die Neuroforschung tatsächlich als empirische Naturwissenschaft nicht nur über Orte, sondern über Funktionen von menschlichen Hirnakti vitäten sprechen, so bleibt ihr nur das Experiment als Weg. In dieser Hin sicht helfen bildgebende Verfahren überhaupt nicht weiter. Einzig Mani pulationen am Gehirn, Behandlungsexperimente und Tierversuche, können Thesen über die Hirnfunktion erbringen. »Messungen am Tier«, heißt es denn auch in einem weniger bekannten Aufsatz von Wolf Singer, bleiben »unumgänglich, wenn Hirnforschung sein soll« (Singer 2002, S. 30). Im Grunde wird man also sagen müssen: Trotz ihrer bildgebenden Verfahren steht im Mittelpunkt der neurowissenschaftlichen Modellbil dung auch heute kaum anderes (und kaum mehr) als schon zu früheren Zeiten. Neurophysiologie leistet eine zergliedernde Abschilderung von sichtbar gemachten Formen, über deren Funktion und deren Bedeutung man nach wie vor nichts Empirisches weiß. In der Arbeit mit den bildge benden Verfahren reproduziert sich - bislang —ja auch nur das uralte räumlich-sektorale Denken der Himphysiologie, eine Art dreidimensiona ler Morphologie. Hinter der neuen digitalen Zeigetechnik verbirgt sich also keine neuartige Modellierung, sondern man tut im Wesentlichen, was man in der Anatomie früherer Jahrhunderte auch schon tat: Man zergliedert am Leitfaden der sichtbaren Formen. Dem öffentlichen Interesse tut dieser Einwand freilich keinen Ab bruch, und das ist das eigentlich Erstaunliche an der Neuro-Debatte: Man hat den Eindruck, die Suggestivkraft der bewegten >Photos< oder >Filme< unseres Kopfinneren ist stärker als jedes Argument. Es ist, als möchte das Publikum »sehen«, dass da etwas hirntief sich regt und hinter dem Rücken des >Bewusstseins< lenkend tätig ist. Und geradezu gern wird vergessen, dass auch der mir nicht sogleich bewusste Teil meiner Selbst ja kein fremdes Etwas beherbergt, sondern auch nur wieder ein Stück von mir. Vielleicht wäre dies ein im weiteren Sinne wissenschaftstheoretisches Fazit: Die Himforschung ist nicht zuletzt ein Fall für die Mediensoziologie. Die Neurobiologie ist nicht als eine Bildwissenschaft entstanden. Aber seit
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sie Bilder bieten kann, seit sie gleichsam bildrhetorisch vorgeht und seit ihr Objekt zum Medienstar wurde, entwickelt sie sich rapide voran.
3. Strafrechtspolitik Der Angriff der Neuroforscher auf das Menschenbild belässt es nicht bei unverbindlichen Gedankenspielen über >den< Menschen im Allgemeinen. Die Protagonisten der deutschen Neuro-Debatte zielen mit ihren Thesen vielmehr mitten hinein in einen der politisch verletzlichsten Bereiche unse rer normativen Kultur: Das Strafrecht und die Strafjustiz. Das rneue Men schenbild« wird nicht nur mitgeteilt, es soll auch angewendet werden. In fast allen ihrer Texte kommen Roth und Singer gegen Ende auf das geltende Strafrecht zu sprechen: Gebe es - neurowissenschaftlich aufgeklärt - ei gentlich ja nur das subjektive Gefühl einer Willensfreiheit, dann gebe es auch kein Verschulden. Rechtspolitische Änderungen müssten her. Ausgerechnet im Umgang mit dem Verbrechen und der strafrechtli chen Verantwortlichkeit sollen sich also die populären Neuro-Thesen be währen. Dabei läuft das, was die Himforscher fordern, auf ein radikales Umdenken hinaus, mit dem die Strafrechtskultur des 19. und 20. Jahr hunderts tief erschüttert würde, nämlich den Verzicht auf den Begriff der persönlichen Schuld. Es müsse »sehr sorgfältig diskutiert werden, ob und inwieweit es so wohl bei der Strafe als Sühne wie auch bei der Strafe als Erziehung zum Besseren einen großen Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dies überhaupt möglich ist) oder das Gehirn«, heißt es noch etwas vage in Roths frühem Buch (Roth 1994, S. 330), bevor er sich in Fühlen, Denken, Handeln ausdrücklich gegen das geltende Schuldstrafrecht stellt: »Nach all den Befunden, die in diesem Buch präsentiert wurden, müssen wir von Folgendem ausgehen: Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden, und dies gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder nicht, ob sie sich schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen.« (Roth 2001, S. 541) Nicht die Schuld, sondern die Sozialgefährlichkeit und die Vorbeugung sollen demzufolge im Mittelpunkt des Strafvollzugs stehen. Dabei sollen an der Ermittlung neurobiologischer Ursachen von Straftaten wie auch an der
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Klärung der Frage einer individuellen Besserungsfähigkeit von Straftätern die Neurowissenschaften künftig »beteiligt werden«. Auch eine präventive psychosoziale Diagnostik bei Kindern —also die Suche nach Straftäterpro filen, bevor ein Mensch überhaupt herangewachsen ist (geschweige denn, etwas passiert ist) —bezeichnet Roth als zwar »brisant«, aber denkbar. Un ser Strafvollzugssystem solle ein »Besserungssystem« werden (Roth 2003, S. 181). Roths Antwort auf die nahe liegende Frage, wie vom Standpunkt seines Determinismus betrachtet so etwas wie >Besserung< denn überhaupt möglich sei, lautet: durch Erziehung. Die Gesellschaft habe »ihren Mitglie dern das Gefühl der Verantwortung für das eigene Tun einzupflanzen [!], und zwar nicht aufgrund freier Willensentscheidung, sondern aus der durch Versuch und Irrtum herbeigefuhrten Einsicht heraus, dass ohne ein solches Gefühl [...] das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig gestört ist« (Roth 2001, S. 544). Ganz ähnlich fordert auch Wolf Singer einen Verzicht auf die Katego rie der Schuld. Unser Umgang »mit Menschen, die wir heute als >Kriminelle< bezeichnen«, könne dadurch verständnisvoller, »humaner« werden, heißt es in Interviews, wobei Singer auf Rückfrage betont, dass auch er nicht etwa Entkriminalisierung, sondern anstelle der Schuldstrafe ein hartes Maßnahmesystem fordert: »Wir würden Straftäter [...] wegsperren und bestimmten Erziehungsprogrammen unterwerfen, die durchaus auch Sanktionen einschließen würden. Wir wissen doch, dass Erziehung sowohl der Belohnung als auch der Sanktionen bedarf. Mit anderen Worten: wir würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Betrach tungsweise hätte sich geändert.« (Singer 2003, S. 33 f.) Aus rechtsphilosophischer Sicht wird auch hier wieder naturalistisch fehlgeschlossen. In welchem Sinne von >Notwendigkeit< sollte >das Gehim< die empirische >Ursache< einer strafbaren Handlung sein? Aber eigentlich ist die Sache noch dramatischer: Roth und Singer verkennen den Kern der für das Recht maßgeblichen - eben nicht in naturwissenschaftlichen (und auch nicht in empirisch-sozialwissenschaftlichen!) Begriffen fassbaren — Logik: Schuld ist gerade keine >empirische< Kategorie. Das Recht arbeitet vielmehr mit der Vorstellung einer >Zurechnung< der Tat, und es straft auch so: Es mutet die Strafe kontrafaktisch zu. Das Strafrecht tut dies, indem es sich immer schon gleichsam zur Normativität, zum Spielregelcharakter seiner Kategorien bekennt. Daher straft es aufgrund von Zurechnungsbzw. Zuschreibungsentscheidungen. Für deren Applikation allerdings gibt es empirische Anhaltspunkte: Es gibt so etwas wie einen Grenzwert der
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Krankheit und damit auch der Schuldunfähigkeit, jenseits dessen die Zu schreibung der Folgen einer Tat unangemessen wäre. Solche Schuldbegrenzungskriterien sind aber eben nur Anhaltspunkte füir bestimmte Aus nahmetatbestände. Sie können im Einzelfall geprüft werden. Diesseits ihrer (und also im Normalfall) straft das Recht aber eben nicht aufgrund des positiven Erweises von nichtdeterminiertem Tat-Willen oder absoluter Willensfreiheit. Das Gericht arbeitet vielmehr mit einer normativen Abwä gung, die auf vergleichsweise freie Handlungsspielräume, auf >typische< Zurechnungsfähigkeit und Schuldkriterien abstellt. Juristischer ausgedrückt ist es geradezu der Witz der Dolus-Lehre, also der Vorsatz-Lehre im Strafrecht, dass für sie neben dem aktiv und bewusst »gefassten« (wohlgemerkt nicht: produzierten!) deliktischen Tatentschluss (wohlgemerkt: Entschluss, nicht ursächliche Entscheidung!) auch das zustimmende Unterlassen und die billigende Inkaufnahme von verbotenen Handlungsfolgen als Vorsatz gilt (wohlgemerkt: Vorsatz, nicht Willen!). Freiheit ist hier nur die Abwe senheit von über das Normalmaß hinausgehendem äußerem Zwang, nicht aber die nachgewiesene innere Kausalität, 'bchsildunfähigkeit wiederum ist keineswegs definiert als die Abwesenheit von Willen (oder Vorsatz), son dern vielmehr als das fehlende Vermögen zum Erfassen der strafwürdigen Bedeutung der Tat. Würde man von der —zurechnungsbasierten —Schuldstrafe umstellen auf —rein empirisch definierte —Verfahren der Besserung oder gar der präventiven Behandlung von aufgrund empirischer Diagnose ausgeson derten >potentiellen< Straftätern, so landeten wir nicht etwa in einer huma neren« Gesellschaft, sondern in der schönen neuen Welt. Stra frechtspolitdsch hat die dogmatische Kultur der Schuldzuschreibung, da sind sich die Kriminologen einig, unter anderem eine begrenzende Funktion —und zwar gerade durch den bis zu einem gewissen Gradefiktiven Charakter der Schuld. Nicht zuletzt sorgt dieser >fiktive< Charakter der Schuld dafür, dass man eine Strafe >zumessen< kann, dass Schuld also nach einer festgelegten Zeit als >verbüßt< betrachtet werden und enden kann. Nur das Schuldstrafrecht gibt Verbrechern nach Ende der Strafzeit wieder eine Chance. Die Idee einer Abschaffung des Verbrechens durch Pathologisierung der Verbre cher entstammt dem 19. Jahrhundert. Die Gesellschaft müsse klassifizie ren: Wer besserbar sei, solle behandelt und nach bewiesener Besserung entlassen werden, die Unverbesserlichen müsse man wegsperren, bis sie sterben —so lautete etwa das Programm des Strafrechtsreformers von Xiszt, der ein ganz auf die Sozialprognose des Täters abgestelltes Umgehen
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mit dem Verbrechen fordert. Nicht die Tat ist von Interesse, sondern ob der Mensch, der sie verübt hat, normal ist oder ob seine Existenz die sozi ale Ordnung bedroht. Wissenschaftliche Diagnose einer inneren Bestim mung des auffällig gewordenen Individuums und endgültige »Unschäd lichmachung« (von Liszt 1882) gehörten also zusammen. Nach von Liszt haben Unverbesserliche zu verschwinden. Realisiert wurden solche Uto pien nie. Elemente einer Verwahrungs- und Besserungsstrafe gab es aber im Nationalsozialismus und im sowjetischen Strafapparat unter Stalin. Seither gilt das Nachdenken über die Abschaffung des Schuldprinzips als aus guten Gründen beendet. Demokratien —so auch der deutsche Grundkonsens seit 1945 —leben davon, sich mit dem Verbrechen nicht »objektiv«, also durch biomedizini sche Festschreibung (und Wegsperren) abzufinden. Demokratien leben davon, begrenzt zu strafen, und Straftätern zwar soziale Hilfe zu bieten, nicht jedoch sie (oder gar ihr >Gehirn<) einer Dressur zu unterwerfen, als Voraussetzung dafür, dass man sie wieder in die Gesellschaft entlässt. Der Strafrechtswissenschaftler Klaus Lüderssen gehört zu den wenigen, die auf diese hochpolitische Dimension der Neuro-Debatte hingewiesen haben: Die Realität lehre, so Lüderssen, dass »das Beharren auf der Schuld vor willkürlichen Verurteilungen schützt« (Lüderssen 2003). Leider ist es je doch so, dass in den letzten Jahren unter dem Druck US-amerikanischer Vorbilder und einer zunehmend von Sicherheitsbefürchtungen umgetrie benen Öffentlichkeit der Strafvollzug in Europa ohnehin einer kontinuier lichen Verschärfung unterliegt. Kriminalstatistisch ist das wachsende Unsi cherheitsgefühl unbegründet: Die Zahl schwerer Gewaltverbrechen geht seit den 1970er Jahren kontinuierlich zurück. Kriminalstatistisch sind Voll zugsverschärfungen auch kontraproduktiv, denn lange Haftzeiten erhöhen die Rückfallquoten - und sie kosten Geld. Dennoch liegt ein eigentümli cher Druck auf der Strafrechtspolitik, ein Druck, den nicht zuletzt die Medien schüren. Man denke an die verheerende Nebenbemerkung des damaligen Bundeskanzlers Schröder über das lebenslängliche »Wegsper ren« aller Sexualstraftäter. Diese Bemerkung fiel im Jahr 2003. Inzwischen ist ohne viel politische Nebengeräusche die so genannte nachträgliche Sicherungsverwahrung in das deutsche Recht eingeführt worden: für unsere Rechtskultur eine dramatische Neuerung und nach Meinung von Experten ein potentielles Instrument vollzugspolitischer Willkür. Wir leben also bereits in Zeiten einer deutlichen Verschärfung des kon tinentalen Strafrechts. Mit den Forderungen von Singer und Roth kann in
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dieser Klimalage schneller als man denken mag ein tendenziell lebensläng liches« Gefährlichkeits-Verwahrwescn drohen, das durch neurowissen schaftliche Gutachten gesteuert wird. Aus der Sicht der Himforschung sitzt das Böse nicht mehr in der Seele, sondern im >Hirn<. Also würde wo möglich die Hirnmanipulation dann der einzige Weg ins Freie bleiben.
4. Schluss Sicher gibt es Motive, die den Rummel um die Willensfreiheit erklären können. Welcher Forscher präsentiert sein Fachgebiet nicht gern als eine Zukunftswissenschaft und seine Ergebnisse als «evolutionär«? Die Mobili sierung der Medien hilft den Forschem bei der Einwerbung von Drittmit teln, und die Vermarktung von Naturwissenschafts-Debatten ist für die Medien attraktiv. Blicken wir zurück, so hat der szientifische Naturalismus der modernen Naturwissenschaften Kampagnen wie die Neuro-Debatte verdächtig häufig hervorgebracht —von der KI-Forschung über die Ent schlüsselung des Genoms bis zur Debatte über die Nano-Technologie. Solche Debatten wimmeln von Ungenauigkeiten, und diese Ungenauigkei ten haben ihre Ermöglichungsbedingungen: Sie resultieren aus einer —allzu bedenkenlosen —Verallgemeinerung begrifflich und methodisch isolierter Forschung. Offenbar wird dergleichen aber institutionell honoriert. Bleibt als die vielleicht eigentlich interessante Frage diejenige nach der inneren Logik sowie den Motiven des strafrechtspolitischen Vorstoßes der Himforschung. Weshalb verlegt sich hier eine Naturwissenschaft so plötz lich auf ein brisantes und hochpolitisches Feld? Wie ist der Vorstoß me thodologisch abgesichert? Und schließlich: Um welchen Gegenstand ist der Himforschung dabei zu tun, worauf $'eit jener Schritt, der vom allgemeinen Nachdenken über Freiheit zum Schuldstrafrecht führt? Geht es allein um ein politisches Beispiel für das Determinismusproblem? Diese Fragen lenken zurück auf Biomacht. Ich antworte zunächst mit einer These und dann mit einer Spekulation. Die These lautet, dass —der Humangenetik ganz ähnlich —auch die Himforschung die Materialität des >Lebens< betrachtet und die soziale Normalität dieses >Lebens< nun zwar nicht im Genom, aber gleichsam im Kopf des Täters in verstofflichter Form zu finden, zu behandeln und zu ^verbessern« hofft. Tatsächlich ist ja das neuronale Netz, als das wir uns unser Gehirn nach Auskunft der Neuro-
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fbrschung vorzustellen haben, gar nicht so isoliert und individuell wie es den Anschein hat. Sobald wir in Rechnung stellen, dass nach den Modellen von Roth und Singer letztlich nicht Individuen, sondern —neuronal aufein ander eingestellte —Gehirne mit Gehirnen kommunizieren, erscheint viel mehr das Netz des neuronalen Soseins als eine Art Kontinuum von Le bensstoff, von lebendig-kommunizierenden Neuronen: Kommunikations netze im Hirn und Kommunikationsnetze zwischen Hirnen bildeten quasi einen gigantischen Weltzusammenhang, einen monistischen Kosmos von Bio-Energie-Signalen, von Neuro-Signalen. Auch hier verblasst der Einzelne und wird gleichsam zum Gewebestück des Kollektivs: Er ist eine individuelle Ausprägung zirkulationsfahiger, lebendig-kommunizierender Global-Materie. Hirnforscher sind keine Kosmologen, aber sie betreiben ihre Forschungen als universale Wissen schaft, als Wissenschaft von der Natur der Wirklichkeit. Sie halten KIForschung, also die Rekonstruktion von Denkvorgängen nach dem Vor bild digitaler Technologien, ebenso fiir Unsinn wie das humanbiologische Modell des Genoms: »So schön es ist, dass wir jetzt den genetischen Code haben, für das Verständnis des Lebendigen haben wir noch nicht viel ge wonnen.« (Singer 2003, S. 38 ff., hier S. 39) Das Modell des Neuro-Weltbildes ist die viel komplexere »nicht-lineare« Welt sowohl der vielfach ver netzten Nervenzellen als auch des Kontinuums, in das sie eingelassen sind. Roth sieht, wenn auch »in weiter Ferne«, die Möglichkeit, »ein biologisches neuronales Gewebe zu züchten oder künstliche neuronale Netzwerke zu erzeugen, die natürlichen neuronalen Geweben funktional gleich sind und zudem mit ihnen ohne irgendwelche Komplikationen interagieren können« (Roth 2003, S. 193). In diesem Fall könnte man alternde Himregionen vielleicht allmählich ersetzen, und »es könnte sich trotz eines langsamen, aber ständigen Ersat zes des alternden Himgewebes die bewusste Identität vielleicht erhalten« (Roth 2003, S. 192); das bewusste Ich existierte also trotz Substanzwandel »geistig-psychisch« fort. Der Tod verschwände und die Macht zum Leben —ein Leben im Übergang zu weiterem Leben —wäre gleichsam als kon trolliertes Über- und Weiterleben möglich. Der Verbrecher freilich fällt auf der anderen Seite des >unendlich< ge wordenen Lebens herab. Er wird gebessert oder gleich endgültig verwahrt. Wie Foucault an einer Stelle vermerkt, bildete das biologische Problem der »Degeneration« des Lebens mitsamt dem daraus folgenden Problem, wie mit dem einzelnen Degenerierten als »Träger eines Zustandes, der kein
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Krankheitszustand, sondern ein Zustand der Anormalität ist« (Foucault 1975/1999, S. 416), in sozialer Hinsicht verfahren werden soll, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts den Ursprung zweier neuer Wissenschaf ten: Der Eugenik und der Psychoanalyse. »Die Eugenik und die Psycho analyse sind die beiden großen Technologien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts emporkommen, um der Psychiatrie einen Zugriff auf die Welt der Triebe zu bieten.« (Ebd., S. 176) Auf dieser doppelten Basis wird die Psychiatrie - just in jener Zeit, als von Liszt seine täterbezogene Schutzstrafen-Vision verkündete —zur »Wissenschaft vom wissenschaftli chen Schutz der Gesellschaft. Sie wird zur Wissenschaft vom biologischen Schutz der Gattung« und hat daraufhin »tatsächlich die Absicht haben können, an die Stelle der Justiz zu treten« (ebd., S. 417). Foucault hat die entfesselten schutzstrafrechtlichen Visionen des ausgehenden 19. Jahr hunderts einen »Rassismus gegen den Anormalen« genannt, einen »inter nen Rassismus, der es gestattet, alle verdächtigen Individuen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft herauszufiltern«, und er hält die Medizinisierung der Anormalen in der NS-Zeit vor diesem Hintergrund für nicht überraschend: Hier wird eine auf die »Jagd nach dem unheilbaren Gefah renherd« angelegte Psychiatrie, die zum Projekt eines verallgemeinerten Gesellschaftsschutzes sich schon aufgeschwungen hat, nur konsequent ins Extrem getrieben (vgl. ebd., S. 418 f.). Wenn Foucault 1975 diesen Zusammenhang zwischen forensischer Psychiatrie und Lebensschutz-Macht richtig diagnostiziert, so wäre heute die Frage fällig, ob die moderne Himforschung sich anschickt, in der Frage der Verbrecher-Behandlung oder der Anormalen überhaupt die klinische Rolle der Psychoanalyse zu übernehmen und gleichsam die bessere Psych iatrie zu werden. Tatsächlich versteht der Himforscher Roth seine Forschungen nicht zuletzt als eine »Phänomenologie des Unbewussten« (vgl. Roth 2001, S. 227 ff.). Die Neurowissenschaft könne vor allem die frühen Vermutun gen Freuds über eine neurophysiologische Basis des Unbewussten bestäti gen lassen. Sie biete für das Unbewusste eine Empirie. Das Ziel der Neuroforschung sei daher »eine neurobiologische Grundlegung von Psychothe rapie« (ebd., S. 440). Soweit die These zum Zusammenhang von Hirnforschung und Biomacht —hier als nicht reproduktionsbiologische, sondern psychiatrische Option einer physisch direkt zugreifenden >Normalisierung< des Lebens selbst. Meine Spekulation geht noch einen Schritt weiter und betrifft einen
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oben bereits erwähnten Punkt: Die Himforschung kann über das lebende menschliche Gehirn —allen schönen Bildern zum Trotz —im Grunde nach wie vor wenig sagen, denn bis auf den klinischen Sonderfall (jemand muss operiert werden) ist das lebendige Gehirn des Menschen für die experi mentierende Forschung tabu. Ist vielleicht deshalb die Frage des >neuen Weltbildes< für die Neuroforschung so wichtig? Solange sie die Gesell schaft nicht von ihrem Perspektivwechsel überzeugen kann, muss die Hirnforschung sich am entscheidenden Punkt bescheiden: Das lebende Menschengehirn bleibt ihr entzogen. Liest man nun Roth und Singer und deren Plädoyer für eine Strafvollzugsreform zugunsten von Hirndiagnostik und unbefristeter Verwahrung, so drängt sich plötzlich ein unangenehmer Gedanke auf, den man selbst nicht glauben mag. Sollte es die Forschung am Menschen sein, für die man die Verbrecher haben will? Sind es die Hirne der Verbrecher, die jenes so überraschende forensische Interesse der Neurobiologie erklärlich machen? Einstweilen, wird man wohl sagen können, hat die Neuroforschung trotz der Rede vom >neuen Weltbild< noch wenig Dämonisches —und Po pulisten wie Roth und Singer repräsentieren auch nicht die Gesamtheit ihres Fachs. Einstweilen hat sie weder ihre eigenen Modelle oder ihr Wis sen« vom Menschen revolutioniert, sondern allein die Anblicke ihres Ge genstandes. Gleichwohl wird viel davon abhängen, ob man Forschem wie Roth und Singer auf lange Sicht auch den Schritt zur technischen, zur experimentellen Manipulation am Menschen zugesteht.
Kapitel 10 Eigenes Lebensende von fremder Hand? Geschichte und Aktualität der SterbehilfeParadoxie Es gehört augenscheinlich zu den besonderen politischen Anliegen mo derner hoch technisierter Gemeinwesen, die Möglichkeit einer rechtsstaat lich vororganisierten, ausdrücklich legalisierten Euthanasie oder auch akti ven Sterbehilfe zu diskutieren - wie auch die »passiv« genannte Sterbehilfe, also bestimmte, zum Tode führende Unterlassungen. Töten trotz Tötungsverbot, töten aus >ethischem< Grund? Das Problem bewegt Rechtswissenschaft, Soziologie, Ethik und natürlich die Ge schichtswissenschaft, die sich mit den NS-Morden und dem Euthanasie programm gegen das so genannte »lebensunwerte Leben« intensiv be schäftigt. Vor allem jedoch ist das Sterbehilfethema außerhalb der Wissen schaft präsent. Seit Jahren gibt es eine spürbare Aktualität der Sterbehilfe in den öffentlichen Medien. Spektakuläre Einzelfälle sorgen für Diskussio nen - nicht nur in den Wissenschaftsfeuilletons, sondern auch in den Il lustrierten, in Boulevard-Talkshows, im Kino und im Internet. Sterbehilfe kommt als Alltagsdrama daher, Sterbehilfe-Geschichten faszinieren als human interest stories, die Sache wird bekämpft und empfohlen. Die Rechtslage in den europäischen Ländern ist bekanntlich uneinheit lich, seit die Niederlande sowie Belgien medizinisch begründete Euthana sien mit geäußertem oder mutmaßlichem Einverständnis des Patienten legal straflos gestellt haben.1 In den Niederlanden ist man dabei, das Verfahren auf Minderjährige und psychisch Kranke auszudehnen und diskutiert die will-pill, die für Erwachsene frei erhältliche Sterbe-Pille aus der Apotheke. In der Schweiz sind ganz außerhalb der Zuständigkeit der Medizin uneigennützige Suizidhilfen legal, weswegen dort private Vereine die Sterbehilfe von Bürger zu Bürger als Dienstleistung anbieten - ein Geschäft, in das die Schweizer Ärzteschaft nach Lockerung der medizini1 Nach zwei Jahrzehnten der erklärten >Duldungc wurde die Euthanasie in den Niederlan den im Jahr 2002 und kurz danach auch in Belgien legalisiert. Vgl. zur Geschichte und Systematik der liberalen Sterbehilfe Fittkau 2006.
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sehen Richtlinien inzwischen ebenfalls eingetreten ist. In den Jahren 2003 und 2004 gab es erste Vorstöße im Europarat zur Öffnung des europa rechtlichen Rahmens für Maßnahmen der Euthanasie. Weltweit werden Deregulierungs-Forderungen von Aktivisten eines 'Right to die erhoben, und auch deutsche Sterbehilfe-Vereinigungen setzen sich für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe ein. Der Problemkomplex befindet sich europaweit in einer offenen Diskussion —mit interessanten nationalen Unterschieden bei der Codierung der Debatte. Gleichwohl soll nachfolgend auf Sterbehilfe-Initiativen, auf deren Inte ressen oder auf die >ethische< oder rechtspolitische Relevanz typischer Fallkonstellationen nicht weiter eingegangen werden (vgl. dazu Gehring 2003; BioSkop 2002). Ich möchte vielmehr aus Abstand und erneut im Weg über ein Stück Geschichte einige grundsätzliche Thesen zum moder nen Phänomen der liberalen Sterbehilfe wagen. Im Titel dieses Kapitels ist von einer »Paradoxie« die Rede. Eben dafür möchte ich die Aufmerksam keit schärfen: für eine auf besondere Weise paradoxe Verbindung von >eigener< und >fremder< Aktivität in der Idee eines Lebensendes durch >Sterbehilfe<. Außerdem soll die innere Struktur dieser Paradoxie ausgeleuchtet werden —auf der Suche nach ihrem eigentümlichen diskursiven wie auch institutioneilen und historischen Profil.
1. Ausgangspunkte Vier Ausgangspunkte der Überlegung sollen in aller Kürze gleichsam vor die Klammer gezogen werden. Ich möchte diese Punkte als mehr oder weniger gesichert betrachten, denn sie scheinen mir so etwas wie einen aktuellen Forschungsstand zu bilanzieren. Gewiss kann man aber bereits jede dieser Vorannahmen in Zweifel ziehen. Eben daher sollen sie mög lichst klar benannt sein, als heuristische Voraussetzungen für den Explora tionsversuch, der folgen soll.
1.1. Modernität Sterbehilfe in der Form, die wir heute vor uns haben, ist erstens ein moder nes Phänomen. Diese Erkenntnis versteht sich nicht von selbst, denn auch
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in der seriösen Literatur findet man immer wieder die lange historische Li nie bis zurück zu den Griechen, die namentlich die philosophisch-ethi schen Quellen eines Nachdenkens über den Freitod oder auch die Kindsaussetzung der Spartaner zur Vorgeschichte der liberalen Sterbehilfe erklärt (vgl. Benzenhöfer 1999, Payk 2004). Die Frage der Sterbehilfe wird auf diese Weise hineingerückt in eine große, gleichsam ewigmenschliche Erzählung von Tod und Leben. Als rechtsstaatlich institutionalisiertes Angebot, das durch ein Verwal tungsverfahren autorisiert und im Rahmen von beruflichen Sonderrechten gesetzlich oder justiziell gefasst wird, um dann von privat nachgefragt oder aber in bestimmten Standardsituationen regulär »verordnet« (und voll streckt) werden zu können, - als eine solche, sagen wir >wohlfahrtsstaatliche< Institution hat es Sterbehilfe jedoch in historisch früheren Zeiten nie gegeben. Sterbehilfe setzt den modernen Rechtsstaat und eine professiona lisierte, verrechtlichte Wohlfahrtsmedizin oder besser: >soziale< Medizin voraus. Tatsächlich kann man die Entstehungszeit der modernen Sterbe hilfe beziehungsweise eines modernen Sterbehilfe-Diskurses sogar erstaun lich klar datieren, nämlich auf das Ende des 19. Jahrhunderts, ziemlich genau um das Jahr 1895 herum. Auf dieses Datum wird zurückzukommen sein.
1.2. Suizid-Legende
Zweitens halte ich die heute dominierende große Erzählung vom wesens mäßigen Zusammenhang von Freitod und Sterbehilfe nicht nur in institutioneller, sondern auch in normativer und in ideengeschichtlicher Hinsicht füir Un sinn. Die Verknüpfung der Themen Freitod und Sterbehilfe vermischt zwei Sachverhalte miteinander, für die die allermeisten Kulturen (und auch die Rechtskultur Europas) stets ein strenges sinnlich-praktisches und auch normatives Unterscheidungsvermögen hatten: Die tödliche Verrichtung an sich selbst und den tödlichen Akt, den - mit welcher Begründung auch im mer - jemand anderes vollzieht. Die Tötung von eigener Hand ist auch in der Geschichte des Strafrechts etwas radikal anderes als die Tötung von frem der Hand, juristisch gesprochen: die Tötung durch Dritte. Wenn heute oft Freitod und Sterbehilfe amalgamiert werden, hat man es (jedenfalls normenhistorisch gesehen) mit einer keineswegs selbstver ständlichen Gleichsetzung der Akte >sich das Leben nehmen< und >Tötung
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eines andern< zu tun.2 Freilich kennzeichnet es gerade die Verschiebung, von der nachfolgend die Rede sein soll, dass diese nicht nur massenmedial reproduzierte, sondern auch praktische Nähe von Freitod und Sterbehilfe inzwischen existiert —etwa indem Interessengruppen die technische Undurchführbarkeit eines Freitodes von eigener Hand (ein Fall, den man mühsam herbeikonstruieren muss) öffentlich präsentieren als den »typi schen« Fall, für den ein »Recht« auf Sterbehilfe einzurichten wäre.
1.3. Blickverengung »NS-Zeit« Die dritte Voraussetzung ist ein wenig heikel und sollte nicht missver standen werden. Speziell was Deutschland angeht, hat das mehr als nach vollziehbare Interesse an den Einzelheiten der Vernichtungs-Maschinerie und den biopolitischen Maßnahmen der NS-Zeit die Wahrnehmung des Problemkomplexes Euthanasie bzw. Sterbehilfe auf eine wenig glückliche Weise verengt. Die Fokussierung betrifft zum einen die Datierung des Phänomens: Man übersah seine sozialhygienischen Wurzeln und seine frühe Popularität. Daher neigt die Literatur bis heute dazu, die einschlägige Diskurskonstellation des 19. Jahrhunderts als bloße >Vorgeschichte< der Schrift Z«r Vernichtung lebensunwerten Thebens von Binding und Hoche 1920 zu interpretieren und diese Schrift wiederum als bloßen Nazi-Text und >Auftakt< des Dritten Reiches. Die Blickverengung betrifft zum anderen die Diskursgeographie des Problems: Sterbehilfe ist ein internationales Phänomen, und sie war dies von Anfang an. Sie formierte sich als ein europäisch-angelsächsisches Re formprojekt - oder vielleicht kann man auch sagen: als ein Projekt hoch industrialisierter, in ihrer Politik sozialwissenschaftlich-statistisch infor mierter und auch formierter Wohlfahrtsstaaten »westlichen Typs«. Mit anderen Worten: Man muss den Euthanasie-Diskurs trotz seiner unter schiedlichen Ausprägungen und Eskalationen durch etliche Länder hinweg vergleichend betrachten und mit Verallgemeinerungen, es werde durch eine 2 Das deutsche Strafrecht ist hier (in der Tradition Hegels) erfreulich präzise: Was ich mir selbst antue, ist keine Tötung, -weswegen es für die deutsche Tötungsdogmatik keinen Deliktstatbestand Suizid und auch keine »Beihilfe« zur Selbsttötung geben kann. - Auch in christlichen Zeiten war es im übrigen stets eigens verboten, sich selbst das Leben zu nehmen, so dass der Suizid zwar analog verworfen wurde (Gott allein entscheidet über den Tod). Der so genannte >Selbstmord< war aber niemals stillschweigend durch das Verbot des Mordes mit abgedeckt, ungeachtet seines Namens.
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bestimmte, zum Beispiel völkisch-rassistische Ideologie >verursacht< oder sei doch untergründig an sie gebunden, vorsichtig sein. Die Frage nach dem NS-Staat und nach Staatsrassismus sollte man nicht beiseite rücken, aber lieber möchte ich in Sachen Sterbehilfe mit dem offeneren Theorem einer anthropologisch und biologisch grundierten (und typisch sozialstaat lichen) Biomacht arbeiten. Das Thema Euthanasie sollte eher in eine all gemeine Geschichte moderner Sozial- und Herrschaftstechnologien hin eingestellt werden als in eine deutsche Nationalgeschichte (und sei es in ideologiekritischer Absicht).
1.4. Apparate-Legende Schließlich hat es —auch wenn die Idee zunächst plausibel scheinen mag wenig Sinn, das Thema primär unter dem Vorzeichen eines in der Medizin oder genauer: eines durch bestimmte technische Fortschritte in der Medizin hervorgerufenen Dilemmas für Ärzte und Betroffene zu betrachten —und so die Sterbehilfe gleichsam als eine Art von Technikfolge zu diskutieren. Mir ist klar, dass ich mit dieser Vorentscheidung eine weit verbreitete Sicht der Dinge zurückweise und auch ein weit verbreitetes Kritikmuster: die Kritik an der >Apparatemedizin<. Tatsächlich aber sprechen genauere Analysen der Intensivmedizin3 oder auch die schlichte statistische Normalität des Sterbens im Alter4 ent schieden dafür, nicht pauschal >die Geräte< für die Motoren eines Nach denkens über Euthanasie zu halten. Erstens scheint der Diskurs über die >Apparatemedizin< ausgerechnet im Rahmen der Rationierungsbestrebun
3 Für die Geschichte des Himtodes zeigen die Beiträge in Schlich/Wiesemann (Hrsg.) 2001, wie sehr einerseits die Erfindung von Geräten auf ein bereits vorhandenes Di lemma der Behandler reagiert (bevor es weitere Dilemmata schafft). Andererseits zeigt die Statistik, wie kurz die Verweildauern und wie hoch die Gesundungsraten von Inten sivpatienten tatsächlich sind. 4 Der statistische Normalfall der »ethischen Entscheidung« am Lebensende findet keines wegs auf der Intensivstation statt, sondern in einer Situation der Pflege —also zu Hause oder im Heim. Hier wie dort dürfte weniger ein Großgerät als vielmehr die Medikamentengabe, das Pharma-Regime qua Tablette oder Tropf die dominierende Form von »Technik« sein. Nicht das sprichwörtliche »Abschalten« ist denn wohl auch die verbrei tete Form der Euthanasie, sondern die Spritze bzw. die Veränderung der Zusammenset zung eines Medikamentencocktails, der sowieso gegeben wird.
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gen der NS-Zeit entstanden zu sein.5 Zweitens, und das ist wichtiger, sind im Alltag der Institutionen neben den Geräten ganz andere Faktoren wirk sam. So findet man, was das Bild vom »überforderten« Arzt am Sterbebett angeht, eine Fülle von mächtigen Zwängen: Da gibt es eine verstärkte juridische Haftbarkeit des medizinischen Personals, die dazugehörige in terne Dokumentationspflicht, eine zunehmend fordernde Haltung der Angehörigen (»Patientenrechte«), eine fehlende Toleranz des Medizinbe triebs für Zeit verbrauchende Verhaltensweisen wie lange Gespräche, Ab warten oder Untätigkeit. Und es gibt auch das, was man früher einfach den Wunsch nach einem >guten Gewissem genannt hätte: Das erleichterte Ver schieben von Verantwortung aufgrund von existierenden Vorgaben — anstelle generell fehlender sterbespezifischer Handlungsmuster, innerhalb und außerhalb der professionellen Identität. Es empfiehlt sich also, die Frage nach der Sterbehilfe nicht von der Al leinursache Apparatemedizin her aufzurollen oder generell von den beruf lichen Zumutungen her, die sich für die Medizin- und Pflegeberufe erge ben (sowie für die professionell Befassten in der Justiz).
2. Autonomie durch fremde Hand? Schärfen wir nach dieser Vorklärung den Blick für eine normenlogische Besonderheit, die der modernen Sterbehilfe zu Eigen ist. Bei näherem Hin sehen handelt es sich um einen bemerkenswerten Widerspruch, ich nenne ihn die Sterbehilfe-Paradoxie. Im Zentrum moderner Sterbehilfeforderungen steht das Ideal der Autonomie: die Vorstellung eines >eigenen<, gleich sam selbst gemachten Todes —gegeben jedoch von fremder Hand. Die Paradoxie liegt eben in jener bemerkenswerten Verbindung von «rge« und fremd. Eine Fremdtötung soll als eine Selbsttötung gelten. Betrachten wir die fragliche Rechtsfigur näher. Organisierte SterbehilfeBefurworter fordern von der demokratischen Rechtskultur (ihrem eigenen Verständnis nach) ein >Freiheitsrecht<, das darin besteht, auf eigenen Wunsch die Dienstleistung von mehr oder weniger professionellen Sterbehelfem in Anspruch nehmen zu können. Sie fordern folglich nicht ein Recht auf den selbst verübten Freitod- Sie fordern auch nicht eine Straf5 So der Medizinhistoriker Axel W. Bauer (Heidelberg) in einer Diskussion an der Techni schen Universität Darmstadt 2004 mündlich.
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Verschonung für Freitod-Zeugen oder Freitod-Mithelfer im Einzelfall, etwa
aufgrund einer nachgewiesenen Nodage. Die Möglichkeit einer solchen Strafverschonung gibt es nämlich und sie wird auch in Deutschland häufig genutzt: Richter sehen im begründeten Einzelfall von der Strafe ab. Zu nächst ermittelt allerdings der Staatsanwalt und ein Prozess wird geführt. Sterbehilfe-Befürwortern reicht eine solche de facto Straffreiheit für den tragischen Einzelfall aber nicht aus. Sie fordern vielmehr ein eigens statu iertes so genanntes Right to die —und sie begründen diese Forderung individualistisch-liberal: Die Eigenrechte des Individuums gingen so weit, dass diesem Individuum, sofern es einen solchen Weg frei wählen möchte, von der Gesellschaft auch derjenige Tod offengehalten werden müsse, der nicht einfach physiologisch von sich aus kommt oder den ich mir jederzeit selbst geben kann, sondern den jemand an mir vollstreckt - und zwar weil und allein weil er dies mit meinem Willen tut. Im Sinne einer neutralen Ver richtungshilfe. Gleichsam stellvertretend. Mit diesem Pathosbild von Autonomie —meine Freiheit zum Tode muss ich dadurch verwirklichen dürfen, dass ich ihn als eine Diensdeistung durch Dritte regulär einfordem kann —hat der Diskurs der sich selbst so nennenden internationalen Sterberechts-»Bewegung« seit den 1970er Jah ren bemerkenswerte Erfolge erzielt. Interessanterweise erlangte die Forderung nach dem Right to die diese Breitenwirkungen trotz (oder vielleicht auch wegen?) einer ansonsten na hezu vollständig fehlenden gesellschaftstheoretischen oder politischen Einbettung. Liberale Sterbehilfeforderungen scheinen gleichermaßen kompatibel mit dem antiautoritären Ideal linker Selbsthilfegruppen wie mit dem Selbständigkeitsideal einer bürgerlichen Elite oder mit offen rassisti schen New-Age-Ideologien. Sie passen zu bezahlkapitalistischen ServiceAnsprüchen wie auch zum ehemals zentralstaatlich organisierten >Atheismus< der ex-sozialistischen Länder - die Sterbehilfe-Ideologien der letzte ren werden in Deutschland heute vertreten durch den Humanistischen Ver band. Wer sich mit der Sterberechtsbewegung befasst, wird feststellen, dass dieses heterogene Bild sich auch bei näherem Hinsehen nicht in irgendeine Richtung auflöst. Zum Right to die heutiger Prägung gehört kein klar be stimmter politischer Ort. Vielmehr zeichnen sich die —zahlenmäßig eher kleinen —aktivistischen Kreise durch ein eher unbestimmtes Selbstver ständnis als Lobbyisten in guter Sache aus. Viele Engagierte sind auch »betroffen«, allerdings eher mittelbar als unmittelbar: Unter den Sterbe
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hilfe-Aktivisten bestimmen Angehörige von Schwerkranken oder freiwil lige Helfer das Bild. Ich würde deren diffuse Motivation am ehesten als ein wenig politisches, aber weltanschaulich-universalistisch >gegen den Rest der Welt< gerichtetes Helfer-Syndrom charakterisieren.6 Aktiv sind nicht unbe dingt Menschen, die selbst schwer erkrankt sind. Markant —aber nicht durchgehend vorhanden - ist ein gewisses säkulares Ganzheits-Denken. Man brandmarkt die >Künsdichkeit< des modernen Todes —zugunsten der Idee einer Versöhnung des Menschen mit seiner (sterblichen) Natur. Paradoxerweise gipfelt nun allerdings diese, sagen wir einmal: >ökologische< Motivlage, die sich gegen das Artifizielle richtet, dennoch in der Idee der aktiven Tötung. Das gesellschaftliche Tötungsverbot - kein Dritter darf mich töten und der Staat darf keine Tötung eines Menschen durch einen anderen zulassen —soll durchbrochen werden, weil ja die Fremdtötung durch den Dritten die »Autonomie« des Getöteten verwirklichen kann.
3. Um jeden Preis vor der fremden Hand schützen? Wechseln wir die Optik. Mindestens ebenso vertraut wie liberale Sterbehilfe-Fordemngen sind gute rechtspolitische Argumente dafür, dass sowohl in medizinischen Einrichtungen - Anstalten, Altenheimen, Krankenhäu ser11 - als auch >zuhause<, wenn beispielsweise Angehörige, Freunde, Pri vatpfleger sich um einen kranken oder lebensmüden Menschen kümmern, das Tötungsverbot uneingeschränkt gilt. Nicht zuletzt gibt es einen schlagenden verfahrensrechtlichen Grund: Nur, wo angesichts jeder Leiche erst einmal der Verdacht mutmaßlicher Fremdeinwirkung gilt, der Leichenfund den Staatsanwalt auf den Plan ruft und dieser dann von Amts wegen und ergebnisoffen die konkrete Vorge schichte eines Todes ermittelt, werden Morde an hilflosen Personen über haupt noch als Morde erkannt. Dies ist das Argument vom rechtsfreien Raum, der gerade durch die Beseitigung der >Grauzone< des (aber eben vollverantwortlichen) Entscheidens am Krankenbett entstehen würde. 6 Leider scheint es kaum soziologisches Wissen über die Zusammensetzung und Motivati onsstruktur von international agierenden lobbyistischen Sterberechts-Verbänden zu ge ben. Ich stütze mich hier auf Einschätzungen aus der kritischen Literatur, zum Beispiel Bönisch/Leyendecker 1993, auf vereinzelte Medienberichte und auf eigene Beobachtun gen.
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Tatsächlich kann sich eine Rechtspolitik, die vor rechtsfreien Räumen warnt, auf die Realität berufen. Es gibt eine kontinuierliche Zahl von Übergriffen in Situationen von Krankheit und Pflege. Nicht nur »hilflose Helfer« ermorden hilflose Menschen, sondern auch selbstherrliche oder habgierige Betreuer oder Erben. Ein stärker politisches Bedenken kommt zu diesem strafpolitischen Punkt hinzu. Dieses Bedenken ist historisch motiviert und kann auf ver gangene, aber auch aktuelle Programme einer negativen Eugenik, auf die Anmaßung der Gabe eines »Gnadentodes« oder auf utilitaristische Sozialnutzen-Bilanzen verweisen —sowie einfach auf das uneingestandene Motiv der Kostenersparnis. Es gibt nicht nur einzelne heimliche Mörder, sondern auch offenkundige gesellschaftliche Interessen oder regelrechte Bewegun gen^ die zum tödlichen Konsens einer Mehrheit gegen eine Minderheit fuhren können. Nicht die autonome Willensentscheidung eines Sterben den, der sich »helfen« lässt, stellt ja eigentlich die Urszene der Sterbehilfe dar, so lautet diese dezidiert politische Kritik der Euthanasie. Vielmehr stehe am Ursprung der Euthanasie die Eugenik, das sozialhygienische oder jedenfalls soziaistatistisch motivierte Interesse, bestimmten Bevölkerungs gruppen zum Wohle ihrer selbst und/oder zum Wohle des Ganzen den Tod zu geben. Wo immer Euthanasie legalisiert werde, stehe Eugenik im Hintergrund - oder zumindest: werden sich eugenische oder auf andere Weise rassistische Selektions-Logiken durchsetzen. Der untergründige Verdacht hinter solchen Überlegungen wird selten theoretisch ausbuchstabiert, aber er liegt auf der Hand: Es gibt eine Art von biopolitischem oder biorassistischem Grundzug in der Moderne — oder im Kapitalismus? In der Wissenschaft? Im Staat? In der Gesellschaft überhaupt? Das Dammbruch-Argument läuft schnell auf einen pauschalen anthropologischen Pessimismus hinaus: Euthanasie oder andere Formen des Rassismus erscheinen als Grundzüge einer Gewalt der Gesellschaft gegen ihre Schwächsten, einer Gewalt, die sich stets —und ganz unabhän gig von konkreten historischen Konstellationen - ihre Bahnen sucht, Wenn man die Schwachen nicht schützt, werden sie mit Notwendigkeit zum Opfer einer schweigend wegsehenden Mehrheit werden: Auch diese Sicht gipfelt in einem Paradox. Es scheint, als müsse man mit Natur argu mentieren —nämlich eine stets lauernde Gewaltneigung im Inneren des Sozialen zur zweiten Natur des Menschen erklären —,um ein Tötungsver bot zu rechtfertigen, dessen historische Bedeutung inan nicht benennen kann. Hier legt sich der Einwand liberaler Sterbehilfe-Befurworter nahe: In
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funktionierenden Demokratien, und wenn doch nur der autonome Wille der Lebensmüden vollstreckt wird, habe die Sterbehilfe mit jener rassisti schen Euthanasie, die wir aus der Geschichte kennen, schlicht nichts zu tun.
4. Zusammenhänge Wollte man sich im Gestus der Neutralität zurücklehnen, dann läge es nahe, die vielen spiegelbildlichen Elemente in den widerstreitenden Per spektiven der Sterbehilfe-Kontroverse herauszustreichen. Wo die einen den Staat oder die medizinischen Institutionen gar nicht erst mitdenken und schlicht leugnen, dass die Legalstellung der Tötung durch Dritte den Effekt einer Enttabuisierung der Tötung hat, da halten die anderen eben falls den Staat, vor allem aber die entfesselte Gesellschaft für grundsätzlich gefährlich - und wittern hinter der liberalen Sterbehilfe organisierte Inter essen einer gierigen Mehrheit, die ökonomisch oder erbbiologisch profitie ren will. Wo die einen als »human« gerade den Verzicht auf das universale Tötungsverbot bezeichnen, da sehen die anderen »humane« Verhältnisse nur durch einen Rechtsstaat garantiert, der das Prinzip der Fremdtötung verteidigt und daher lediglich im geprüften Einzelfall - vor Gericht - den Ausnahmetatbestand eines Notstands einränm pn kann
4.1. Verborgene Symmetrie Suggestionen, Pro und Kontra argumentierten einfach spiegelbildlich und sollten sich doch endlich voneinander lösen, halte ich für oberflächlich. Die Debatte ist keineswegs deshalb kontrovers, weil die Gegner der Eu thanasie die beiden Felder der Sterbehilfe und der Fremdtötung immer noch zu eng miteinander verbunden sehen. Die Stilisierungen der Debatte verdecken vielmehr eine Symmetrie ganz anderer Art. Der Blick auf die Sterbehilfe-Paradoxie selbst (auf die Fusion von eigen und fremd) soll das näher aufschließen helfen. Lassen Sie mich das Problem folgendermaßen wenden: Wer als >Sterbehilfe< einen Akt anspricht, der von der >normalen< verbotenen Tötung und auch Euthanasie-Massentötungen grundsätzlich
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unterschieden sein soll, rückt zwei Dinge auseinander, die einander näher stehen, als man denkt. Da ist einerseits diese eigentümliche Form von so%io-techmsch vermittelter „Autonomie —ich als Individuum >sozialisiere< gleichsam die Angelegenheit meines Todes und mache ihn zu einem institutionell bereitgestellten und von mir dann aktiv nachfragbaren Lebensende, welches ich (idealtypisch) unter individuellen Nutzengesichtspunkten >frei<selbst reguliere. Und da ist die andererseits populationsbe^pgene Rationalität, die den inversen Regulations gesichtspunkt nahe legt —das Wir eines sozio-biologischen, erbbiologi schen, sozialökonomischen Ganzen darf moralisch und auch im Sinne eines technischen Imperativs verlangen, dass das individuelle Lebensende im Interesse aller bewertet und (unter allgemeinen Nutzengesichtspunkten) einer ebenfalls >freien< Regulation unterworfen wird. Autonomer Willenskörper des Individuums auf der einen Seite —auto nomer (amoralischer) Kollektivwillen des Sozialkörpers auf der anderen. Technisierung und vermeindich freie (aber eben nicht einsam freie, son dern an Kriterien gebundene und sozial institutionalisierte) RegulationsAutonomie auf der einen Seite, Technisierung und vorgeblich freie (aber einem Kollektivsubjekt, der Gesellschaft, der Gattung zugeschriebene) Regulationshoheit auf der anderen. Meine These lautet nun: Beide Seiten der Medaille gehören zusammen. Die vermeindiche Paradoxie ist gar keine, und ein Widerspruch ist sie auch nicht. >Eigen< und >fremd< konvergieren sobald man nämlich die Perspektive eines überindividuellen Lefewj-Willens einnimmt. Sie konvergieren dann dort, wo ein >eigener< Wille mit dem, was man wollen müsste, mit dem Allgemeinnutzen der Gattung, immer schon zusammenstimmt.
4.2. Autonomie und Sozialnutzentod: Die gemeinsame Genealogie Die abstrakt-normenlogische Überlegung findet sich durch Geschichte bestätigt. In der Tat kann man beobachten, dass beide Ausprägungen eines Euthanasie-Diskurses, sowohl die Forderung nach legalisierter Sterbe-Autonomie als auch die sozialreformerische Vision der hygienisch, erbbiolo gisch und aus sozialstaatlichen Kostengründen erforderlichen MenschenTötung, zugleich entstanden sind. Diese historische Aussage möchte ich im Folgenden belegen - und zwar durch jeweils schon bekanntes Material, das
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es jedoch unter dem Gesichtspunkt der Biomacht zusammenzurücken gilt.7 Drei Fundstellen vom Ende des 19. Jahrhunderts können die Gleichur sprünglichkeit des liberalen Sterbehilfe-Motivs und des populationsbezo genen Euthanasie-Denkens exemplarisch verbürgen. Sie entstammen un terschiedlichen Diskursen und haben publizistisch unterschiedliche Felder bedient, insofern belegen sie aus meiner Sicht tatsächlich die breite Viru lenz nicht nur von sozialhygienischen Überlegungen ganz allgemein, son dern genau der Doppelmotivik, um die es mir geht. Da ist zum einen das bekannte, heute aber selten gelesene Werk des Soziologen Georg Simmel: 'Einleitung in die Moralwissenschaß. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, erste Auflage 1893, zweite Auflage 1904. Dann ist da eine kleine Schrift eines unbekannten Nationalökonomen, Adolf Jost: Das Recht auf den Tod. Sociale Studie von 1895. Und dann ist da ein Bestseller des populären Biologen und monistischen Ethikers Ernst Haeckel: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie von 1904. 4.2.1. Simmel Georg Simmels Frühwerk, eine groß angelegte Relativierung des Pflichtge dankens auf dasjenige, was sozialen Wert hat, postuliert auch eine Sozial bindung des Todes. Simmel entwickelt dies als ausdrückliche Konsequenz: Die »sittliche Perhorreszierung des Tötens« sei Aberglaube; es könne »sitt lich geboten sein, andere Menschen zu tödten, sogar innerhalb des eigenen sozialen Kreises; denn auch das Urteil über die Todesstrafe wird ein ganz besonderes für denjenigen Standpunkt, der den Menschen [...] ganz und gar nur als Glied einer Gesammtheit begreift. Da ist denn sein Tod über haupt nichts Absolutes mehr, sondern nur die Amputation eines Gliedes, um das Ganze zu retten. Diese Auflösung des absoluten Ich läßt auch den Selbstmord anders erscheinen; auch er ist dann nur ein Punkt in der Kette allmählig ineinander übergehender Relationen. [...] Gerade wie es sittlich geboten sein kann, keine Kinder in die Welt zu setzen, so kann es unter
7 Auch Ansätze zu einer kritischen Geschichte des biologisch-technischen Lebens wie das Homo Sacer-Pto)6kt von Giorgio Agamben oder auch die Arbeiten von Foucault geben zur Geschichte der liberalen Sterbehilfe nicht viel her. Eine Ausnahme in diesem Feld sind die Arbeiten von Ludger Fittkau, auf dessen Recherchen sowie auf gemeinsame Diskussionen ich mich stütze (vgl. Fittkau 2004; Fittkau 2006 sowie —polemisch —Fittkau/Gehring 2003).
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Umständen auch sittlich sein, schon vorhandene Existenzen zu vertilgen.« (Simmel 1893,21904,S. 186) An dieser Passage ist Vieles interessant. Neben dem organizistischen Gesamtheitsdenken springt jedoch besonders die Gleichsetzung von Straftod, Verhütung, Tötung »schon vorhandener« Menschen und Selbst>mord< ins Auge: Unter dem Gesichtspunkt des »Tilgens« eines Teils vom Ganzen, sprich: vom populationsstatistischen Ergebnis her, erscheinen hier alle vier Aktformen als gleich. Simmel spricht an anderer Stelle auch vom relativen »ethischen Werth«, von dem die Pflicht zur Erhaltung eines Lebens ab hängt (ebd., S. 187), und hat das spartanische Modell, die Tötung schwa cher Kinder, für die Moderne, in der die Milde »die Rasse herunterbringe«, ausdrücklich befürwortet (ebd., S. 121). Die spartanische Kindstötung ist ein Topos, der zur langen Geschichte des Züchtungsmotivs gehört und an sich des Autonomiegedankens gerade nicht bedarf: Die Gesellschaft verfügt einfach über das unnütze Neugebo rene, und diesem wird »von dem Aerzte-Collegium, das über den Bürger brief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet«, heißt es 1895 bei dem Rassehygieniker Alfred Ploetz (Ploetz 1895, S. 144). Eben weil die Kindstötung so eindeutig in das Register des Sozialnutzentodes gehört, ist jedoch Simmels Gleichsetzung des Selbstmordes mit der Kindstötung und dem Straftod bedenkenswert. 4.2.2. Haeckel Haeckel erwähnt Simmel nicht8, bringt in den Lebenswundem aber ebenfalls nicht nur das Thema eugenische Kindstötung - »Sparta« —,die er schon in den 1860er Jahren gelobt hatte, sondern amalgamiert den Freitod und die Tötung schwer leidender und unheilbarer Kranker - die Selbsterlösung und die Erlösung vom Übel. In der ersten Auflage des Buchs sind die aufeinander folgenden Abschnitte »Selbstmord« und dann »Selbsterlösung« (»Autolyse« nennt Haeckel das, mit den Unterpunkten »Erlösung vom Übel«, »Medizin und Philosophie«, »Lebenserhaltung« und »Spartanische Selection«) noch getrennt (vgl. Haeckel 1906, S. 127 f.). In der Volksaus gabe findet sich dann die Tötung von fremder Hand nahtlos der »Selbst erlösung/Autolysis« zugeordnet. Hier wird nicht nur der Selbstmörder — Selbsterlöser! - behandelt, und zwar wie folgt: »Jeder gute Mensch sollte
8 Wie auch vice versa. Simmel erklärt Haeckel nur kurz für unseriös.
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dem hoffnungslos leidenden Bruder die ewige Ruhe und Befreiung vom Schmerze gönnen, die er durch freiwillige Selbsterlösung erreicht.« (Ebd., S. 50) Sondern behandelt wird auch das Problem der »modernen Kultur krankheiten« und der überfüllten Irrenhäuser. Es erhebe sich »die wichtige Frage, ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zu erfüllen und ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen« (ebd.). Haeckel bejaht dies, »auf deren Wunsch« sollen die hoffnungslos Kran ken durch den Arzt mittels Morphium getötet werden. Bemerkenswert ist zum einen —unüberhörbar neben dem Mideidspathos —der Sozialnutzen in der Begründung: Es werde »ja vielfach durch einen solchen plötzlichen und schmerzlosen Tod nicht nur dem Nothleidenden selbst, sondern auch seiner mitleidenden Familie der größte Dienst erwiesen« (ebd., S. 51). Zum anderen reiht Haeckel, ohne dass noch von einem Sterbewunsch des zu Erlösenden die Rede wäre, einen Abschnitt über »schon als Idiot oder Kretin« Geborene und über Verbrecher an, die offenbar ebenfalls in den Dunstkreis der Autolyse gehören. Haeckel nennt eine Zahl: 200.000 unheilbare Geisteskranke —Verursacher von Sorge und Kosten - sollen getötet bzw. »von ihren namenlosen Qualen« befreit werden (ebd., S. 52). Bleibt noch zu erwähnen, dass auch Haeckel den Wert, den »Lebenswert«, in Anschlag bringt (ebd., S. 157 ff.) und dass er, wie Simmel, eine an der empirischen Realität orientierte ganzheitliche, »monistische Ethik« fordert. 4.2.3. Jost Als das eigentliche Griindungsdokument der institutionalisierten Sterbe hilfe in ihrer liberalen Form gilt die Schrift von Jost, der unter der Über schrift Recht auf den Tod ebenfalls den Freitod von eigener Hand mit der Euthanasie (und zwar der unfreiwilligen) vermischt. Es gehe ihm nicht um »das Selbstmord-Problem, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne dieses Wortes«, betont Jost zunächst, nennt dann aber die Option: »Daß es ein Recht auf den Tod geben könne, daß dieses viel wichtiger wäre, als alle sentimentalen Selbstmorde (...), daß wir vielleicht alle eine Pflicht verlet zen, wenn wir diese Unglücklichen ihrem hoffnungslosen Leben überlas sen.« (Jost 1895, S. 2) Jost erschafft das Paradigma vom »Lebenswert«. Er liefert eine neomalthusianische Nutzenanalyse, die den Lebenswert und den materiellen Aufwand der Behandlung einrechnet, und dazu den weitergehenden Scha
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den, den Kranke anrichten9: »Es kann [...] keinem Zweifel unterliegen, daß es thatsächlich Fälle giebt, in welchen, mathematisch gesprochen, der Werth eines Menschenlebens negativ wird. In diesem Fall haben wir also thatsächlich ein Recht auf den Tod principiell anzuerkennen.« (Ebd., S. 18) Von hier aus kommt er präzise zur Überschneidungsstelle, an der auch die Einwilligung des zu Tötenden nicht mehr zählt bzw. der Allgemeinwille und der »freie« Wille des Einzelnen sich mit der objektiven Notwendigkeit zusammenschieben: »Hier sterben nutzlose, ja schädliche Glieder der Ge sellschaft, hier liegt es [...] nicht blos im Interesse des Staates oder der Allgemeinheit, sondern mindestens ebenso im Interesse des Individuums selbst, daß der Tod eintrete.« (Ebd., S. 20)10 Am Punkt jener Negativität der Gesamtbilanz habe auch für das betroffene Individuum der Tod einen Vorteil. »Der Tod [...] stellt gewissermaßen den Nullwert dar, ist daher gegenüber dem negativen Lebenswerth noch immer das Bessere.« (Ebd., S. 26) Mideid und Gesellschaftsinteresse und autonomes Eigeninteresse fallen zusammen. Jost plädiert für die Tötung geistig gesunder Kranker mit Zustimmung, für die Tötung Geisteskranker ohne Zustimmung, einfach nach Diagnose. Bei den Einwilligenden bliebe allerdings das Problem eines gewissen »intui tiven Hanges zum Weiterleben«, notiert er weiter, der den Sterbewillen des Kranken (wie ja auch mancher Selbstmörder) trüben kann. Dann aber sei die Tatsache von Vorteil, dass der Kranke sich den Tod eben nicht selbst geben müsse, sondern der Arzt handele und der Kranke »passiv bleibe«. Auch sei Narkotisierung vor dem Tötungsakt sinnvoll. »Den Tod dem Schlafe ähnlicher machen, das ist die Aufgabe socialer Reform auf diesem Gebiet.« (Ebd., S. 52 f.) »Auflösung«, »Autolyse« oder Interessenkonvergenz bei negativem Le benswert und Schlaf: Bilder des Zusammenfließens überbrücken nicht nur die Sterbehilfe-Paradoxie, lassen also Selbsttötung und Fremdtötung als einen im Ganzen gleichwertigen Akt erscheinen. Das Vokabular bietet auch dem Pathos Raum, im Falle der »Erlösung« Leidender und Schwacher geschehe etwas Analoges dazu, den freien Willen eines zum Freitod Ent schlossenen zu respektieren (und ihn also als »soziales« Anliegen aller mehr oder weniger ungebeten zu erfüllen).
9 Sie deprimieren nämlich die Gesunden, vgl. Jost 1895, S. 17. 10 An der zitierten Stelle geht es um den Tod im Krieg, auf den nachfolgenden Seiten berechnet und wertet Jost den Fall des Kranken analog.
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5. Heute alles anders? Zitate bekommen schnell einen suggestiven Charakter. Die genannten Stellen moralisch anzuprangem, ist hier nicht intendiert. Vielmehr sollen sie zeigen, dass bereits die Geburtskonstellation der sozialhygienisch motivierten Euthanasie zugleich das komplette Autonomie-Argument des heute dominierenden Diskurses der liberalen Sterbehilfe enthält. Die Frage des Fortwirkens der mit dem Jahr 1895 klar greifbaren Dis kurskonstellation gilt es freilich gesondert zu stellen. Einiges deutet auf Kontinuitäten hin: Binding und Hoche haben 1920 explizit an Jost ange knüpft, Simmel und Haeckel dürften einander gelesen haben, Haeckel und Ploetz haben sich gekannt. Von Binding und Hoche führt ein Weg zu den einschlägigen NS-Bestimmungen im Jahre 1933 und der Aktion T4 im Jahr 1940. Gleichwohl war auch hier noch ein Stück ideologischer Wegstrecke zu gehen.11 Man sollte jedoch auch andere Pfade in Betracht ziehen, die der Sterbehilfe-Diskurs im 20. Jahrhundert ging. Da sind die britische und die USamerikanische Eugenik - sie galten schon für Haeckel und seine Monisten als Vorbild. Spencer, Galton und andere, bei denen sich ähnliche wie die hier zitierten Stellen finden, wurden vor allem in den USA kontinuierlich als Referenzautoren gepflegt. Der große US-amerikanische Euthanasiever ein Euthanasia Society o f America, später umbenannt in Hemlock-Society (also Schierlings-Gesellschaft), wurde bereits im Jahr 1938 gegründet. Im Jahr 1939 bekannte ein hoher Funktionär, die Vereinigung verfolge das Ziel der medizinischen Tötung von »non-volunteers«, also von Nichtfreiwilligen. Die US-Öffentlichkeit sei für einen solchen Schritt jedoch noch nicht reif. Folglich beschränke man sich vorläufig. Einen Gesetzentwurf seines Vereins für ein Right to die Gesetz kommentiert er wie folgt: »The proposal was limited purposefully to voluntary euthanasia because public opinion is not yet ready to accept the broader principle.« (Nixdorff 1939, S. 2) Auch hier haben wir die typische Verbindung von Fremdbestimmung und Auto nomie: Freiwillige Euthanasie und »mercy death« setzen die Hemlock-Forderungen zu dieser Zeit begrifflich gleich. In Deutschland gab es nach 1945 eine Art Euthanasie-Tabu. Was im mer in Anstalten oder Arztpraxen geschehen sein mag: Über aktive Ster i l Vor allem, sofern die Nazi-Ideologie den noch eher ökonomischen Nutzen-Kalkül von Binding und Hoche durch eine völkisch-rassistische, erbbiologische Lebenswert-Frage überlagert.
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behilfe wurde nicht geredet. In der Schweiz - wo eine Strafrechtsreform bereits 1893 die Tötung auf Verlangen vorsehen wollte, die dann 1942 [!] als so genannte Suizidbeihilfe eingeführt wird — fehlte über das ganze 20. Jahrhundert hinweg ein solches Tabu. Dort wird auch in den 1950er Jahren eine Euthanasie-Legalstellung gefordert, das Thema wogt bis heute zwischen den Kantonen und der Zentralregierung hin und her (vgl. BioSkop 2002, S. 21 ff.). So etwas wie eine internationale Sterberechtsbewegung entstand dann recht plötzlich im Zeichen der Patientenautonomie in den 1970er Jahren und zwar in den USA. Diese medizinkritische Bewegung bekam den Cha rakter einer Bürgerbewegung und die Right to die Forderung erhielt als ten denziell >linkes< Anliegen ihr heutiges Gesicht. Bahnbrechend für diese neue Autonomiebewegung war der Millionenseller von 1969 On Death and Djittg der amerikanischen Ärztin Elisabeth Kübler-Ross.12 Die Idee, man solle sich frei und angstlos mit dem eigenen Tod beschäftigen, und die Forderung, man solle >unbefangen< über Sterbehilfe nachdenken, konnten auch in Europa zu Synonymen werden - jedenfalls in einem radikal liberalistischen, calvinistischen Land: Die zunächst auf politischer Basis prakti zierte Duldung der Euthanasie in den Niederlanden datiert auf die späten 1970er Jahre. Die Befürworter der niederländischen Sterbehilfepolitik wa ren Ärzte. Sie argumentierten einerseits mit Patientenautonomie, anderer seits führten sie Leid und gesellschaftliche Kostenersparnis ins Feld. Be steht hier nun eine Kontinuität zum Sozialnutzen-Tod oder besteht sie nicht?
12 Kübler-Ross 1969, deutsch erschienen unter dem Titel Interviews mit Sterbenden. —Dass gerade die freudianische Linke sich mit der Idee einet Sterbehilfe durch Dritte schnell anfreundet (und sogar mit Sterbehilfe durch den Staat), gehört zu den Eigentümlichkei ten der Geschichte der Biomacht. 1955 fordert Herbert Marcuse in seinem zunächst in den USA erschienen Werk Ems and Civiüsation die »große Weigerung« gegen den Tod in der »repressiven Kultur«. Der Tod könne aber »zum Wahrzeichen der Freiheit werden. Die Unvermeidlichkeit des Todes widerlegt nicht die Möglichkeit einer schließlichen Be freiung. Gleich den anderen Notwendigkeiten kann er vernünftig gestaltet werden — schmerzlos. Die Menschen können ohne Angst sterben, wenn sie wissen, dass das, was sic lieben, vor Elend und Vergessen bewahrt ist. Nach einem erfüllten Leben nehmen sie es auf sich zu sterben - zu einem Zeitpunkt ihrer eigenen Wahl« (Marcuse 1955, S. 233). Marcuses Vision meint vielleicht den Freitod. Max Horkheimer jedoch hat aus drücklich ein »Amt« gefordert, »an das der unrettbar Leidende, zum Tode Bestimmte sich wenden kann, um einen Arzt zu ermächtigen, auf seinen Wunsch von ihnen [den Mitteln, um in seligem Rausch schön und friedvoll hinüberzugleiten, PG] Gebrauch zu machen« (Horkheimer 1966, S. 410).
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Meine Überlegung läuft darauf hinaus, dass die Techniken und die Le gitimationsdiskurse von beidem — der institutionalisierten LebensendeAutonomie des Individuums und der institutionalisierten Form eines direkten oder indirekten Sozialnutzen-Mordes —sich wie ein Doppelfaden durch die Geschichte ziehen. Dennoch heißt das nicht, dass die liberale Sterberechts-Bewegung der 1970er Jahre sich beispielsweise aus Haeckels Euthanasie-Plänen hergeleitet hätte oder aus dem Programm der Vernich tung lebensunwerten Lebens folgte. Falsch wäre freilich auch die Diskonti nuitätsthese: dass Euthanasie-Programme populationsnutzenbezogenen Typs Mitte des 20. Jahrhunderts endgültig untergingen und dass dann die liberale Sterbehilfe unter gänzlich neuen Vorzeichen neu entstand. Die letztere Aussage ist schon deswegen Unsinn, weil die Kontinuität der eugenischen Rationalität sich gerade in den letzten Jahren abenteuerlich be stätigt: Auch negative Eugenik entsteht ohne einen totalitären oder offen rassistischen Staat. Sie wird ganz offenbar nicht allein aus Ressentiments geboren, sondern schon durch Kostenrechnungen im Gesundheitswesen plausibel gemacht. Ich plädiere daher für eine veränderte Form der Kontinuitätsthese. Es gibt keine historische Kontinuität zwischen Simmels Moralwissenschaft, Haeckels Lebensmüdem und den Forderungen der liberalen Sterbehilfe. Aber es gibt eine historische Kontinuität jener doppelgesichtigen Problem stellung einer >Macht zum Leben<, die zugleich als Lebensvermehrungsund Lebensverbesserungsmacht antritt - und dafür über Leichen geht, nämlich >lebensunwertes Lebern wegrationalisiert. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis jetzt zieht sich jener doppelte rote Faden, den es als einen genuin biopolitischen Doppelfaden zu erkennen gilt: Eine auf die Population bezogene Fremdtötungsmoral, also eine Sozialpolitik als Ster bepolitik, korrespondiert durchgehend mit einer Individualmoral, die in das Zeichen der persönlichen Autonomie des Einzelnen gestellt ist. Beide Pole des modernen Sterbehilfe-Todes —der Sozialnutzen und das Pathos der Autonomie - gehören zusammen und können sich gegenseitig stützen. >Subjektiv< herrscht der freie, vernünftige Wille, dem es nur um sein eigenes gutes Lebensende geht. >Objektiv< kann dieser Wille aber ebenfalls auf gespenstisch eingängige Weise (und über den Kopf des Individuums hin weg) herbeigeschworen werden —im Zeichen von Gesamtkosten oder Gesamtgesellschaft. Und natürlich der Verbesserung des Ganzen.
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6. Schluss Michel Foucault hat Biomacht denjenigen Machttyp genannt, der auf der Basis von Biologie und Sozialstatistik und deren an Prozessregulation ori entierten Verbesserungsmaximen »eher auf der Verwaltung des Lebens als auf der Drohung mit dem Tode beruht« (Foucault 1976, S. 175) —wobei die Verwaltung des Lebens dann Formen von Vernichtungen umfasst und legitimiert, die als >Tod< im alten Sinne gar nicht mehr erscheinen müssen. Die Biomacht ist eine Macht, in der das Ganze zählt und das Einzelne das Ganze realisiert, %u realisieren bat. In diesem Sinne scheint die liberale Ster behilfe nicht etwa die Alternative zu Gnadentod oder Gattungsnutzen morden zu sein, sondern geradezu ihr logisches und vielleicht sogar logisch unverzichtbares Pendant. Liberale Sterbehilfe ist Selbstregierung —jedoch auf der sozialpädagogischen Linie von Biopolitik. Den tatsächlich eigenen Tod kann man sich nur mit eigener Hand geben. Macht man die Gesell schaft für Todeswünsche zuständig, kann das Resultat nur die Institutiona lisierung von Tötung sein. Darüber täuschen weder der basispolitische Gestus einer lobbyistischen Betroffenenbewegung noch die im Namen eines »Rechts auf den Tod« mobilisierten Versatzstücke von Mitleidsmoral hinweg.
Nachwort: Ausgänge?
Die Wissenschaften vom Leben sind zu tief in die moderne Wirklichkeit hineingesenkt, um sie einfach abzuschaffen. Für die Techniken gilt das gleiche: Auch Biotechnologien sind nicht bloß ein aktueller Irrweg, der sich dank Demokratie oder Rechtsstaat zeitnah noch irgendwie korrigieren ließe. Eben deshalb war in diesem Buch so viel von Geschichte die Rede. Es haben sich nicht nur ein paar Experten auf die stoffliche Ausnutzung des Lebens verlegt. Es gibt auch nicht nur eine von Interessengruppen propagierte naturalistische Ideologie. Vielmehr ist die Wirklichkeitsmacht des Lebens ein mit dem 19. und 20. Jahrhundert und bis heute allmählich gewordenes, symbolisch wie sozialtechnisch fest eingewurzeltes Phäno men. Längst haben wir alle gelernt zu wissen, dass wir nicht nur ein Leben »haben« und aus dem Leben erzählen können, sondern eben auch Leben »sind«. Wir identifizieren uns so - sorgen uns um diesen Lebensstoff und sind gewöhnt, unseren Körper als Lebensstoff zu denken. Wir können uns im Zeichen des Lebens medizinisch behandeln lassen, werden als Leben betrachtet und berechnet —und sind auch an die Idee von einem gewissen stofflichen »Wert« des Lebens gewöhnt. Das Leben als ein biologischer und populationssoziologischer Stoff, der uns alle durchzieht, »in« uns steckt und »in« uns auch physisch bearbeitet werden kann, ist keine Illu sion, auf die man einfach verzichten kann. Und auch die Ökonomisierung des Lebensstoffes hat längst eine öffentliche Plausibilität gewonnen. Der Mehrwert des Lebens wird abgeschöpft - und er will abgeschöpft werden: Vom »guten Gen« über den Erwerb von Lebenszeit bis zum Tötungs-Ser vice in der Sterbehilfe ist das biotechnisch gefasste Leben als Konsumgut attraktiv. Das Spiel von Angebot und Nachfrage funktioniert. Dass so etwas wie eine steuernde Politik in der Frage der Verwertung des stoffli chen Lebens in modernen Gesellschaften unausweichlich scheint, werden gerade die Kritiker von Biomedizin und Biotechnologie kaum bestreiten. Politische Kritik an Lebenstechnologien kann somit kaum mehr tun als
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ihrerseits politische Regulierung, neue Formen von LebenstechnologiePolitik fordern. Mindestens in einem pragmatischen Sinne fuhrt kein Weg an »Biopolitik« vorbei. Vieles spricht dafür, dass die Biomacht keine Ausgänge hat. Dass sie längst zur modernen Verfassung geworden ist, zu unserer Lage, zu einer »Lebensform« in einem überaus wörtlichen Sinn. Was aber folgt daraus? Wie wäre Widerstand möglich? Und welche Maßstäbe, welche Berufungs instanzen bleiben für Kritik? Die zehn Kapitel dieses Buches treffen in dieser Hinsicht keine Pro grammaussagen. Sie versuchen Innenräume zu analysieren und vermeiden es, nach Gegenwelten zu suchen. Bestimmte handelsübliche Kritikmuster werden allerdings nicht nur vermieden, sondern ausdrücklich unter politi schen Verdacht gestellt. Dies trifft erstens die Expertise fürs Normative. Wissenschaft hat keine Lizenz zur Durchsetzung »ethischer« Vorgaben im politischen Raum. Die medien- und gremiengerechte Mediation von politi schen Auseinandersetzungen durch eine professionalisierte angewandte Bioethik halte ich daher in Sachen Biomacht nicht für eine Lösung, son dern für einen Teil des Problems. Gleiches gilt zweitens für die Berufung auf Naturtatsachen, hinter denen wissenschaftstheoretisch fragwürdige, gar nicht mehr fallible Hightech-Empirien stecken. Die Einsicht, dass »Natur« ein Konstrukt ist, hat sich in den Lebenswissenschaften herumgesprochen. Die eigentümliche Folge dieser Einsicht sind jedoch nicht größere An strengungen im Bereich der eigenen Methoden, sondern ein Auftrumpfen im Zeichen eines »konstruktivistisch« Machbaren und ein szientifischer Naturalismus, der vor allem auf PR-Zwecke ausgelegt ist. Schließlich kann ich drittens auch die Berufung auf einen »kreatürlichen« oder sonst wie theologischen Würdebegriff nicht als eine Antwort, sondern nur als einen Teil des Problems betrachten. Das Leben als »Wert« ins Feld zu führen, um dem »Lebensrecht« in einem Kampf der Werte zum Endsieg zu verhel fen - dies heißt, einen metaphysischen Begriff zum politischen Dogma zu machen. Es handelt sich aber auch um nichts anderes als um eine Biopoli tik der besonderen und vielleicht der besonders traditionsreichen Art: Wer nach vormodemen Formen einer Politik des Lebens und der Fortpflan zung sucht, muss ganz sicher auf die Politik der christlichen Kirchen stoßen. Um die Züchtung der menschlichen Herde kümmerte man sich bereits unter dem wohlwollenden Blick des alttestamentarischen Gottes, das Kapitel zur Geschichte des Züchtungsbegriffs deutet diese lange Linie an. Über Jahrhunderte waren die christlichen Kirchen die geschlechter-
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und fortpflanzungspolitisch entscheidende abendländische Macht, und in vielem würden sie es heute noch gern sein. Der Lebensbegriff vermittelt dieses Interesse, und er funktioniert recht ähnlich auch dann, wenn nicht christliche Kirchen, sondern lebensmetaphysische Sekten sich seiner be dienen —wie es etwa bei bestimmten Öko-Religionen oder »transhuma nistischen« Weltanschauungen der Fall ist Kein Essentialismus des Lebens, keine Natur, keine Moderation durch Ethik. Was statt dessen bleibt, wäre so etwas wie eine indirekte Arbeit der Kritik —im Wege von phänomenologischen, historisch-vergleichenden und dabei machttheoretisch grundierten Bewegungen der Rückfrage und Be schreibung. Als ein Hoffnungswort für die gesellschaftskritischen Effekte dieser Art der analysierenden Arbeit führen Autoren, die es mit Foucault halten, gern die Metapher der »Widerstandpunkte« ins Feld. Wo man Machtstrukturen beobachten kann, da kann man auch Widerstandspunkte beobachten: Dieses Bild hat Foucault in der Tat gewählt, und zwar in Der Wille %um Wissen, im Zusammenhang mit der Frage, ob es möglich ist, sich den Wirkungen der modernen Vorfestlegung auf »Sexualität« und »Leben« zu entziehen. Foucault skizziert einen netzförmigen Charakter der Macht, die aus »Beziehungen« besteht, aber ihre Dynamik aus dem Netz inhä renten »Widerstandspunkten« gewinnt. »Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.« (Foucault 1976, S. 115) Die Machtbe ziehungen bestehen also nur kraft solcher widerständiger Punkte und die Punkte wiederum sind »überall im Machtnetz präsent«: »einzelne Wider stände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, ein same, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompro mißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategi schen Feld der Machtbeziehungen existieren können. [...] Die Widerstände rühren nicht von irgendwelchen ganz anderen Prinzipien her, aber ebenso wenig sind sie bloß trügerische Hoffnung oder notwendig gebrochene Ver sprechen.« (Ebd., S. 117) Widerstände entstehen irregulär, sie durchlaufen alle gesellschaftlichen Schichten, sie sind zumeist verstreut, aber »strate gisch codiert« fuhren sie bisweilen zu Revolutionen. Diese anschauliche Vorstellung von der Macht als Geflecht und vom knotenförmigen, diagrammatischen Charakter der Widerstände bietet we nig Anhaltspunkte, zumal für die Frage nach den eigenen Maßstäben der politischen Kritik, denn erkennbar ist sie auf historische Gegenstände
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gemünzt. Der Machthistoriker kann Widerstandspunkte identifizieren. Keine sinnvolle Perspektive ergibt sich hingegen aus der Frage, was man tun müsste, um »widerständig« zu sein oder gar - handelnd, unterlassend oder wie immer —einen Widerstandspunkt »zu bilden« oder gar ein solcher zu »sein«. Die Rede von den Widerstandspunkten sollte nicht überbelastet werden. Ich denke, Foucault hat die Metapher des »Punktes« seinerseits durchaus konterkariert. In seinen Texten finden wir nämlich nicht pathe tisch »Ereignisse« beschworen, sondern vielmehr große und kleine Ge schichten von Widerständen erzählt (vgl. Gehring 2004 b) —sehr konkrete Geschichten von Geschehnissen, deren widerständige Effekte sich keines wegs bereits im Hier und Jetzt zeigen müssen. Foucault bezieht sich also zwar auf Widerstände, jedoch lenkt seine Perspektive mit einer gewissen Konsequenz wieder in die Nachträglichkeit des Erzählens hinein. In der Frage, wie wohl mögliche aktuelle »Punkte« in den »Netzen« aussehen oder zu finden wären, funktionieren seine Bemerkungen nicht wie Gebrauchs anweisungen. Auch Foucaults an Kant angeknüpfte, auf eine ethische Haltung des Individuums zugespitzten Formulierungen von »Kritik« als der Kunst der »willendichen Nichtknechtschaft« (,inservitude volontaire), der »reflektierten Nichtfügsamkeit« (indocilité réfléchie) oder der »Entunterwerfung« (désassujetissemenl) (Foucault 1990, S. 15) halten sich im Negativen. Man kann sagen: Es ist die Freiheit des Abweichens, mit dem die Kritik beginnt. Freilich hat man damit noch nicht viel gesagt. Das Kritikproblem bleibt offen. Zudem haben wir es mit Bio-Ökonomien, mit Technisierung, Biologisierung und Verrechtlichung von Gesundheit, Fortpflanzung, Lebensende - und allgemein mit einer »Verbesserung« von Leben zu tun, die im Alltag kaum eines manifesten Zwanges zu ihrer Durchsetzung bedarf. Lebens verbesserung ist eine gigantische Mitmach-Untemehmung, bei der die Bürger —biomedizinisch »aufgeklärt« —aus freien Stücken mittun. Biopoli tik ist erziehende, informierende und ansonsten liberale Politik: Sie erobert die Herzen nicht durch Druck oder durch Strafen, sondern durch die in Aussicht gestellte »eigene« Verbesserung. Die Logik der Biomacht ist keine Repressionslogik, sondern eine Vorteilslogik, eine Logik der optimierbaren Lebenschancen, die den anderen lediglich indirekt (damit allerdings umso zynischer) diskriminiert. Biomacht kann daher Anreizsysteme setzen und mühelos Teilhaber finden. Und sie kann dies deshalb tun, weil alle ihre Diskurse jenes aggressive »Wissen« zumuten, auf dem sie beruhen: Dass man aus dem Menschenstoff selbst, aus dem lebendigen Einzelnen, sofern
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man ihn als biologische Masse betrachtet, etwas —und »mehr« als vorher, etwas von »Mehrwert« - machen kann. Biomacht etabliert eine Profitlogik. Jeder einzelne soll zum Nutzen seiner selbst (wie zum künftigen Nutzen aller) biologische »Ressourcen« sichern, verlängern, qualitativ steigern und verschönern. Dass diese Suggestion eines Gewinnspiels erstens Risiken hat, dass es zweitens hier und jetzt stets »anderswo« oder »erst einmal« kon krete Opfer fordert (in den Menschenversuchen der Transplantationschi rurgie, Laborbefruchtung, Hirnmanipulation und in den Lebenswert-Bilanzen der Sterbehilfe) und dass dieses Gewinnspiel drittens stets mit bloß prognostizierten und in biomedizinischen Termini ausformulierbaren Zukunftsgewinnen handelt, mit Angeboten also, deren individueller »Wert« im Grunde gänzlich dahinsteht, dies denkt man nicht mit. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die schlichte Möglichkeit des Ausstiegs nicht trivial. Wenn Biomacht heute als MitmachÖkonomie organisiert ist und sich über biomedizinische, biorechtliche oder anderswie biopolitische Alltagsangebote realisiert, so wäre es ein Schritt des Widerstandes, die angebotenen Profite zu verweigern und also den Angebotscharakter in Frage zu stellen. Mache ich mir wirklich eine biomedizinische Prognose zu eigen? Interessiert mich die Prognose über haupt? Wie attraktiv ist die Option einer Verbesserung von Erbanlagen oder auch nur eines Wissens um das eigene Erbgut oder dasjenige der Kinder? Was genau erhoffe ich mir eigentlich unter den Stichworten des »langen« Lebens und der biomedizinischen Lebensqualität? Wie »tech nisch« will ich meinen Körper im Alltag erleben und kalkulieren müssen, indem ich mich auf Bio-Daten und gerätegestützte Selbstkontrollen als Teil einer Therapiestrategie einlasse? Wie will ich auch den Körper und das »Leben« der anderen wahrnehmen - etwa wenn die Transplantationsin dustrie mir nahe bringt, mich für einen mir nahe stehenden oder auch unbekannten Menschen als den potentiellen »Spender« dessen zu interes sieren, was ich als Ressource für meine eigene Lebensverlängerung »brau chen« soll? Ist es hinnehmbar, dass die Dimensionen Alter und Ge schlecht, die Liebe, die Kinderzahl und das Sterben unter dem Gesichts punkt der Biomacht zu »Faktoren« einer gesundheitsökonomischen Steue rung werden? Nicht in den Zwängen, sondern in den Angeboten des Biomacht-Zeitalters liegt die eigentliche politische Herausforderung. Gefordert sein könnte nicht bloß Opfersuche, sondern Profitverweigerung und damit so etwas wie eine Haltung der bioökonomischen Dissidenz. Nicht zu locken
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zu sein durch eine biomedizinisch definierte Währung namens Leben, könnte dies bedeuten. Statt dessen gälte es, die Agenturen des Gattungs denkens zu de-legitimieren und eine innere Freiheit anzustreben - eine Freiheit zum Verzicht auf vermeintliche biomedizinische »Chancen«, auf einen bioökonomisch errechneten »Gewinn«. Das Sprachspiel der »Chance« und der Lebenszeitgewinne wie auch des Lebenswerts zu hinter fragen, und vielleicht: sich eine konkret angebotene biomedizinische Op tion tatsächlich nicht zu »erkaufen« —auch dies könnte heißen, sich dem zweifelhaften Mehrwert des Lebens zu entziehen.
Nachweise
Einigen Kapiteln dieses Buches liegen Aufsätze zugrunde, die in den vergangenen Jahren an verstreuter Stelle erschienen sind. Zum Zweck der Neupublikation im Zusammenhang sind alle diese Texte aktualisiert, verändert und erweitert worden. Gleichwohl sei auf die früheren Fassungen ausdrücklich hingewiesen und allen Heraus gebern, Redaktionen und Verlagen für ihre Zustimmung zu dieser Form einer modifi zierenden Neupublikation gedankt. Kapitel 1: »Biomacht-Ökonomien: Zirkulierende Körperstoffe, zirkulierende Biodaten.« In: Poly log. Zeitschriftfü r interkulturelles Philosophieren. Nr. 12 (2005): Biotechnologie in interkultu reller Perspektive, S. 55-64. Kapitel 2: »Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Zur Ideengeschichte des Leibes vor aktuellem biopolitischem Hintergrund.« In: Volker Schürmann (Hrsg.): Menschliche Körper in Bewegung. Frankfurt am Main: Campus 2001, S. 41-64. Kapitel 3: »Wessen Stoffe, wessen Proben, wessen Daten? Verfugungsrechte und Eigentums kategorien im medizinischen Feld.« In: Martin W. Schnell (Hrsg.): Leib. Körper. Maschine, Interdisziplinäre Studien über den bedüiftigen Menschen. Düsseldorf: vsl 2004, S. 257-275. Kapitel 4: »Woher kommt die >Stammzelle Fünf Vorfragen zu einer phantastischen Substanz.« In: kultuKRevolution. Zeitschriftfü r angewandte Diskurstheorie. Nr. 47 (2004), S. 72-79. Kapitel 5: »Bio-Vaterschaft. Die Wiederkehr der Zeugung als technogene Obsession.« In: Figurati onen 2 (2005). [Im Druck] Kapitel 6: »Die Zukunfts-Politik der Bioethik.« In: Annemarie Gethmann-Siefert, Klaus Gahl, Ulrike Henckel (Hrsg.): Wissen und Verantwortung. Studien zur medizinischen Ethik Bd. 2. Freiburg im Breisgau: Alber 2005, S. 50-64. Kapitel 8: »Zwischen Menschenpark und soft eugenics. Zur Aktualität und zu den hermeneutischen Verlegenheiten des Züchtungsbegriffs.« In: Internationales Jahrbuch fü r Hermeneutik 2 (2003), S. 81-112.
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Register
Altern 86 Arbeit 40 f. Autonomie 112,149, 208, 213, 218 Bevölkerung 10—13, 18 bildgebende Verfahren 191-193 Biobank 67-71 Bioethik 7-9,74,110-127*128-153, 171 f., 224 Biogeschichte 13 Biologie 10-12,15,72,105-109,159 Biomacht 9-15, 33 f., 90 f., 176 Biometrie 31-33 Biopolitik 7-15 Biorecht 53, 57 Biotechnik/Biotechnologie s. Techniken) Biowissenschaften 8, 33 Blut 19 f., 44, 59, 70 Chance 74,111,152,161,227 (Körper-)Daten 17 f., 26-32, 55-73 Diskurs 16,116,128-153 Dispositiv 12 Eigentum 35-54, 62, 94 Einwilligung 64, 145 Eizelle 77,99,109,131 Embryo 21 f., 24, 74-91,135 Eugenik/Rassenhygiene 162, 168, 176,180, 201,211 Euthanasie/Sterbehilfe 9,16,120, f 146,203-221 Experiment 113,158,193 Feminismus 84, 95, 135
Forschung 61, 80, 113 Forschungsfreiheit 7, 61,115,126 f. Fortpflanzung 12,24,149 Fortschritt 115,126 Frauenkörper 28,79,109 Freiheit 45 f. Freitod/Selbstmord/Suizid 43,48* 203-221 Gattung 12 f., 23 f., 89,125,176 Gattungsethik 125 f., 137, 180 Genetik 18,29,68,133,173 Genforschung 17, 29 f. Genom 29 f. Genpool 13,29,131,134 Gentest s. Test Gesundheitspass 27 Mutterpass 28 Gewebe nachwachsendes 24, 85-90 Grauzone 60,66,101,144,210 Grenze 110-113 Hirnforschung/Neuroforschung 9, 16,134,184-202 Hirntod 21 Humangenomprojekt (HUGO) 30 ICSI 22, 98 f. Immunsystem 20 Information 18,26—30 IVF 21-23 Kausalität 188,193 Klonierung 23, 38, 89 f., 145, 172 Körper 10, 17 f., 28, 34-54, 72 Körperdaten s. Daten
240
Körperstoffe 17—25, 32, 34, 55-73, 86 ,
Krankheit 73 Labor 113 Leben 10-13,18, 25, 32-34, 44 f., 89, 131 f., 149,152, 224 Lebensqualität 132, 226 Lebensrecht 83 f. Lebenszeit 34, 227 werdendes menschliches Leben 23 f., 33, 77 Liberalismus 40 Macht 8—10 Medizin 19,28, 55-73,121 f., 207 Nanoforschung 9 Natur 28 Naturalismus 11 Ncuroforschung s. Hirnforschung Normales/Normalisierung 11,13, 26 f., 51,72 Ökonomie 10, 24, 35,115,212 f., 222 Organe 20 f., 24, 43 f., 56, 59 f., 86 Organspende s. Spende Patent 36,50,71,119 Persönlichkeitsrecht 50 Pflege 66 PID 22 f. Population 15,26,30,33,64 Prognose 26,67,117,120-123 Psychoanalyse 201 Rasscnhygienc s. Eugenik Reproduktionsmedizin 96 f., 144, 175 f. Risiko 7,68,142 Schönhcitschirurgic 87 Schrift 29 Schuld 195-197 Schwangerschaft 23, 27 f., 76, 78, 96 Screcning 30,32,64, 66, 69 Selbstmord s. Freitod Sexualität 11 f. Sicherheit 108, 123, 198
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e g i s t e r
Sittenwidrigkeit 50 Sozialdarwinismus 173 Sozialstadstik s. Statistik Soziobiologie 106 (Organ-)Spcndc 20, 44, 57—62, 86, 100
Staat 11 f., 84, 101,131 Stammzcllc 24 f., 32, 74—91 (Sozial-)Stadstik 15,26,159 Sterbehilfe s. Euthanasie Strafrecht 195—199 Substanz 18, 21, 33-36, 40, 51 f., 62, 74, 77, 79 Suizid s. Freitod Techniken) 7-9,13, 25,135,149, 169, 222 Technikfolgen 111 Technisierung 147 (Gcn-)Test 30, 63-48,101,105,107 tissue-engineering 24 Tod 21,77,82,87,131,145,203,217 Transplantation 20, 24, 86 Utilitarismus 75 Vatcrschaftstcst 64,92—109 Verantwortung 113, 125,144,196 Vertrauen 107 Wert 82, 108, 142 f., 147,216 Widerstandspunkt 224 Willensfreiheit 187 Wissenschaft 115,127,140,222 Würde 82 f., 142 f. Menschenwürde 82 Zelllinie 86 Zeugung 92—109 Zirkulation 17-34,38 f., 86,200 Züchtung 154—183 Zukunftspolitik 110—127
H u m b o ld t - U n i v e r s i t ä t z u B e r l i n U n iversitätsb ib lioth ek Z v .' e i j j b i b l i o t h e k
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Kulturwissenschaften Unter den Linden 6 ¿0099 Berlin