Vulkan kontra Erde Chaotische Begegnung zweier Planeten
Cecil O. Mailer »Wie kommen Sie zurecht?« fragte Leclera. Nur ...
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Vulkan kontra Erde Chaotische Begegnung zweier Planeten
Cecil O. Mailer »Wie kommen Sie zurecht?« fragte Leclera. Nur wer genau hinhörte, merkte seinem Deutsch den leichten französischen Akzent an. Kellermann machte ein unzufriedenes Gesicht. »Mäßig«, sagte er. »sehr mäßig! Dieser Transpluto macht einem das Leben schwer. Als ich anfing, war ich überzeugt, es gebe keinen. Aber die Unregelmäßigkeiten in den Bahnen von Pluto und Neptun lassen sich anders wirklich nicht erklären.« Leclera klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Machen Sie weiter, mein Lieber, machen Sie weiter! Warum sollen Sie es leichter haben als andere Leute. Eine Doktorarbeit ist eben kein Pfannkuchenrezept!« Kellermann seufzte noch, als Leclera die Tür schon hinter sich geschlossen hätte. Er klappte mißmutig den Aktendeckel mit den gesammelten Notizen zu, starrte eine Weile auf das Wort »Transpluto«, das er vor ein paar Monaten als stolzer Inhaber eines Arbeitsthemas für seine Promotionsarbeit lässig auf den Deckel gemalt hatte, und fragte sich zum zwanzigstenmal, warum er ausgerechnet diesen Vorwurf gewählt hatte. Bestimmt war das Problem nicht schwieriger und nicht leichter als manches andere zu lösen. Es galt die Unregelmäßigkeiten in den Bahnen von Pluto und Neptun - vielleicht noch Uranus - formelmäßig festzuhalten und nach einem kompakten Störkörper zu forschen. Die Suche nach diesem Störenfried sollte nicht mit dem Teleskop, sondern an Hand der festgestellten Bahnunregelmäßigkeiten betrieben werden, die abschließende Schlußfolgerung über die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines bis jetzt noch unentdeckten Planeten sollte allein aus den mathematisch unanfechtbaren Erkenntnissen der Arbeit gezogen werden und unabhängig sein von der privaten Meinung des Doktoranden. Nun war Günther Kellermann nicht der Mann, der sich einer privaten Stellungnahme hätte entziehen können. Für ihn war der
persönliche Standpunkt sogar die Voraussetzung für das Gelingen der Arbeit. Ursprünglich hatte er geglaubt, den Utopisten, wie er sie nannte, beweisen zu müssen, daß ihre Träume vom zehnten Planeten Phantasterei seien. Beim Durchrechnen älterer Aufzeichnungen und bei eigenen Beobachtungen hatten sich inzwischen jedoch so viele verschiedene Aspekte ergeben, daß Kellermann in ernsthafte Gewissensschwierigkeiten geraten war, welchen Standpunkt er nun als endgültigen einnehmen solle. Für die eine Möglichkeit sprachen ebenso viele Punkte wie für die andere, und es schien Kellermann unmöglich, die Arbeit zu Ende zu bringen, ohne sich selbst - wenn er es auch in seiner Arbeit gar nicht zum Ausdruck bringen sollte - zu einer eigenen Meinung durchzuringen. »Sie sind zu sehr Philosoph«, hatte Professor Walther gesagt, »und zu wenig Naturwissenschaftler. Kümmern Sie sich einen Dreck um Ihre Phantasie. Rechnen Sie das Zeug durch, wie es sich gehört!« Das jedoch war Kellermann unmöglich. Er schlug mit der Faust auf den Aktendeckel, um damit seinen Entschluß zu unterstreichen, die Arbeit und gleichzeitig die Verhältnisse jenseits der Plutobahn wenigstens für die nächsten fünf Stunden sich selbst zu überlassen. * Aber Kellermann hatte Pech, denn Leclera war im Augenblick unabkömmlich. Leclera arbeitete seit einigen Jahren an der Frankfurter Universität als Gastdozent für astronomische Mathematik und hatte sich schon in den ersten Wochen nach seiner Ankunft an Kellermann, den Hauptassistenten des Lehrstuhls für Astronomie, angeschlossen. Später wechselte das Freundschaftsverhältnis seine Vorzeichen, denn der gewandte Franzose schleppte Kellermann in verschiedene Frankfurter Nachtlokale und sorgte dafür, daß die wenigen Stunden der Freizeit nie langweilig wurden. Kellermann beschränkte sich notgedrungen darauf, seine Sorgen in einem Film zu vergessen, bummelte anschließend noch ein wenig durch die Stadt und machte sich dann auf den Rückweg zum Institut. Er hatte sich für heute nacht zur Arbeit an dem
neuen Dreimeter-Teleskop vormerken lassen, und da die Sicht ausgezeichnet war, wollte er keine Sekunde versäumen. Im Institut verabschiedete er sich von Leclera, der immer noch arbeitete, nahm den Dienstwagen und fuhr in den Taunus. Die neue Sternwarte lag auf dem Gipfel des Kleinen Feldberges. Kellermann brauchte eine Stunde, um hinaufzukommen. Bahr, der Nachtwächter, erwartete ihn schon. »Prachtvolles Wetter heute, nicht wahr. Herr Kellermann?« »Ja - ganz ausgezeichnet!« »Vielleicht entdecken Sie heute was Neues!« Bahr, der langjährige Institutsdiener, hätte eigentlich wissen müssen, daß große Entdeckungen im Leben eines Astronomen so selten sind wie Prämie und Hauptgewinn auf einem Lotterielos. Aber seinem speziellen Liebling Kellermann gönnte er den ganz großen Schlag. Es verging kein Tag, an dem er nicht die Hoffnung aussprach: Vielleicht entdecken Sie heute was Neues. Kellermann gab Bahr die genauen Daten zur Einstellung des großen Spiegelteleskops, trank eine Tasse Kaffee, die wie üblich für ihn gerichtet wurde, und machte sich dann an die Arbeit. »Ich kann wohl ins Bett gehen, Herr Kellermann«, gähnte Bahr. »Oder brauchen Sie mich noch?« »Nein - gehen Sie ruhig schlafen, Herr Bahr. Wenn wirklich etwas sein sollte, rufe ich Sie.« »Schön. Also dann gute Nacht, Herr Kellermann. Und viel Erfolg!« »Gute Nacht. Herr Bahr. Danke.« Kellermann erledigte zunächst die Routinearbeit. Er machte Aufnahmen von Pluto und hoffte auf das kleine Wunder, das es ihm endlich ermöglichen sollte, sich für oder gegen die Existenz des Transpluto zu entscheiden. Gewöhnlich entwickelte er die Aufnahmen sofort selbst, und er wich auch heute nicht von dieser Gewohnheit ab, um morgen früh gleich neues Arbeitsmaterial zur Hand zu haben. Bei der Arbeit in der Dunkelkammer wurde er müde. Er hatte schon zu viele Platten entwickelt; die Begeisterung und die fast unerträgliche Spannung, die ihn vor Monaten noch bei der Auswertung seiner ersten Aufnahmen gefangengehalten hatten, waren längst geschwunden. Er wußte, was er sehen würde: einen schwarzen Punkt unter vielen anderen schwarzen Punkten, der sich im Gegensatz zu den anderen von Aufnahme zu Aufnahme gegen das Koordinatennetz der Platte verschob.
Er beeilte sich, um wieder an das Teleskop zurückzukommen; er wollte noch ganz privat einen Himmelsspaziergang unternehmen, nur zur Entspannung. Seine große Entdeckung machte er durch puren Zufall. Er hielt zwei Platten übereinander, um zu sehen, ob sich die Punkte der Fixsterne deckten, und stellte dabei fest, daß sich außer Pluto noch ein anderer schwarzer Punkt gegen seine ursprüngliche Lage verschoben hatte. Der Punkt zeigte nicht die verwaschenen Konturen der Fixsterne, sondern hatte, wie Pluto, einen klaren, deutlichen Rand. Sein Durchmesser war eine Spur geringer als der von Pluto. Kellermann dachte an einen Asteroiden. Immerhin mußte es einer der größeren sein, und er ging, um in einer Tabelle nachzusehen, welchen er da eingefangen hatte. Die Tabelle besagte jedoch, daß sich um diese Zeit keiner der größeren Planetoiden in der Plutogegend befand. »Ruhig, alter Junge!« knurrte er sich selbst an. »Du glaubst doch selber nicht, daß du etwas gefunden hättest!« Er rannte zum Teleskop zurück, legte neue Platten ein und begann, wie ein Wilder zu fotografieren. Die Stunden vergingen nur langsam. Die Zahl der Zigaretten, die er zwischen zwei Aufnahmen rauchte, nahm ständig zu. Es drängte ihn, jedesmal nach einer Aufnahme wegzulaufen und die Platte schnell zu entwickeln, aber er fürchtete, dadurch etwas zu versäumen. So blieb er bis zum Morgengrauen am Objektiv, und als er eine Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang das Teleskop ausschaltete, wunderte er sich, wie wenig Aufnahmen er gemacht hatte. Es würde nie und nimmer für eine Bahnbestimmung des seltsamen Objektes ausreichen. Er hatte in der Dunkelkammer selten so mechanisch und präzise gearbeitet wie ausgerechnet jetzt in den Minuten der höchsten Erregung. Obwohl es ihm in allen Fingern kribbelte, holte er keine Platte vor Ablauf der vorgeschriebenen Zeit aus dem Fixierbad. Als er sie schließlich alle miteinander verglich, wußte er, daß er eine Entdeckung gemacht hatte. Der unbekannte schwarze Punkt war mit der Sturheit eines Planeten weitergewandert. Seine scheinbare Geschwindigkeit lag über der von Pluto. Kellermann schrie vor Begeisterung laut auf, als er sah, daß er sogar einen Plutodurchgang aufgenommen hatte. Er hatte nicht nur eine Neuentdeckung gemacht, er hatte auch das unwahrscheinliche Glück,
aus seinen ersten Aufnahmen herauslesen zu können, daß der entdeckte Körper hinter Pluto durchgegangen war - daß er also von der Erde weiter entfernt war als Pluto. Demnach mußte er mindestens von der Größenordnung des Pluto sein; wenn man die geringe Lichtstärke der Aufnahme betrachtete, konnte man sogar getrost annehmen, daß er sehr weit hinter Pluto stand und vermutlich weit größer war als dieser. Diese Erkenntnis und die Tatsache, daß der Körper scharfe Konturen hatte, schlossen den Gedanken an einen Kometen von vornherein aus. In fieberhafter Eile zog Kellermann ein paar seiner Platten ab, und während sie trockneten, legte er sich auf die Couch, die im Vorraum stand, um ein wenig zu entspannen. Die ersten Bedenken kamen. Es war kein Komet - schön! Aber es konnte auch kein Planet der Sonne sein, etwa der gesuchte Transpluto, denn dann wäre er schon längst entdeckt worden. Objekte dieser Größe konnten sich in der Zeit der Überteleskope nicht lange verstecken. Blieb nur noch die Möglichkeit, daß es sich um einen Eindringling aus den Tiefen des Raumes handelte. Kellermann bedachte die geringe Lichtstärke der Aufnahme, fernerhin die Tatsache, daß es auf der ganzen Erde nur etwa zehn Teleskope gab, die ebenso leistungsstark oder stärker waren als das benutzte. So ließ es sich erklären, daß der Fremdkörper bis jetzt noch nicht an anderer Stelle entdeckt worden war. Kellermann hatte bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte - aber er nahm an, daß das Objekt noch nicht länger als ein paar Tage oder vielleicht zwei Wochen sichtbar war. Immerhin hatte er allen Grund, sich zu seinem Glück zu gratulieren. Die Positive seiner Aufnahmen zeigten nicht allzuviel mehr als das, was Kellermann schon beim flüchtigen Vergleich der entwickelten Platten gesehen hatte. Die Umrisse des Entdeckten waren klar, aber Konturen auf ihm ließen sich nicht mit Sicherheit erkennen. Auf jeden Fall nichts, was auf die Existenz einer Rotation hingedeutet hätte. Er hatte es eilig, nach Frankfurt zurückzukommen. Er wollte Professor Walther und Leclera von seiner Entdeckung berichten. Professor Walthers Reaktion war die des alten, erfahrenen Astronomen.
»So, wie ich die Sache bis jetzt betrachte, haben Sie etwas zuviel von Bahrs Kirschwasser getrunken. Aber bevor ich Sie weiter entmutige, zeigen Sie mir erst mal Ihre Aufnahmen!« Kellermann hatte diese Erwiderung erwartet, sie störte ihn nicht. Walther nahm ihm die Platten ab, besah sich in lässiger Haltung einige von ihnen, stöhnte dann plötzlich auf. riß sich die Brille von den Augen und knurrte: »Da muß ich mich erst mal setzen!« Kellermann holte ihm einen Stuhl und breitete die Platten vor Walther auf dem Tisch aus. Der Professor beugte sich wieder darüber, diesmal allerdings mit äußerst gespanntem Gesicht. Das frivole Grinsen, mit dem er die Bemerkung über Bährs Kirschwasser begleitet hatte, war verschwunden. Nach einigen Minuten richtete er sich auf, setzte sich die Brille wieder auf die Nase und schaute Kellermann an. »Mit solchen Dingen sollte man vorsichtig sein«, fing er an, und Kellermann glaubte schon, er wolle ihm erklären, daß er etwas ganz Banales fotografiert hätte, »aber dieser Fall scheint mir eindeutig zu liegen; ich gratuliere Ihnen. Sie Sonntagssterngucker!« Er freute sich ehrlich, das war deutlich zu erkennen. An der Stärke der Schläge, die er Kellermann auf die Schulter verabreichte, merkte man das Ausmaß seiner Begeisterung. Er drückte die Taste seines Sprechgerätes. »Fräulein Winter - sehen Sie mal nach, ob Leclera schon im Hause ist. Wenn ja, dann soll er sofort herkommen!« »Jawohl. Herr Professor!« Walther wandte sich zu Kellermann. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir ihn mit ins Vertrauen ziehen?« »Nein - im Gegenteil. Ich wollte es ihm ohnehin sagen.« Leclera war gerade zur Haustür hereingekommen, als Professor Walthers Sekretärin nach ihm zu suchen begann. Sie ließ ihm nicht einmal Zeit, die alte Mütze abzusetzen - Objekt schadenfrohen Grinsens im ganzen astronomischen Institut -, sondern schubste ihn sofort die Treppe hinauf in Professor Walthers Zimmer. »Nom de Dieu!« rief Leclera atemlos. »Was ist denn los? Geht die Welt unter?« Walther lachte.
»Im Gegenteil - die Sonne geht auf. Die Sonne des Weltruhms für unseren jungen Freund Kellermann!« Leclera blickte ratlos von einem zum anderen. »Ich verstehe gar nichts!« sagte er. »Können Sie auch nicht«, strahlte Walther. »Wir haben es auch bis jetzt kaum verstanden. Aber sehen Sie sich das mal an!« Er schob Leclera die Platten hin. Leclera setzte sich hin, wollte sich durch die Haare fahren und wurde verlegen, als er merkte, daß er seine Mütze noch aufhatte. Leclera war Theoretiker reinsten Wassers. Er hatte schon eine Unmenge von schwierigen Bahnberechnungen nach Aufnahmen durchgeführt. Aber da hatte man immer das in Frage kommende Objekt mit einem roten Pfeil gekennzeichnet. Mit Platten ohne roten Pfeil konnte er nichts anfangen. »Ich weiß nicht recht ...«. murmelte er. Walther riß ihm die Platten aus der Hand. »Das hier ist Pluto!« Er drückte mit dem Zeigefinger so oft auf die Platte, daß ein deutlicher Abdruck blieb. »Er verändert seine Position von Platte zu Platte«, fuhr er fort. »Klar? Alle anderen Sterne tun das nicht, denn es sind ja Fixsterne, nicht wahr? Einer tut's aber doch! Und das ist Kellermanns große Entdeckung. Begriffen?« In seiner komischen Wut wirkte er überaus erheiternd. »Vielleicht ist es ein Komet?« wagte Ledea einzuwerfen. »Haben Sie schon einmal einen Kometen auf einer Platte gesehen?« fragte Walther zornig. »Nein!« gab Leclera zu. »Na also! Ein Komet hat einen Schwanz, das weiß jedes Kind. Und wenn er mal keinen Schwanz hat, dann besteht er wenigstens aus einem festen Kern mit viel mehr gasförmiger Materie drumherum und hat keine feste Kontur. Da dieses Ding aber eine feste Kontur hat, ist es kein Komet - wenigstens nicht im herkömmlichen Sinne!« fügte er dann hinzu. Leclera schüttelte geistesabwesend den Kopf. Als Mathematiker stand er handfesten Überraschungen immer zweifelnd gegenüber. Die Mathematik kannte keine Überraschungen. »Ich - ich komme da nicht so schnell zurecht«, stammelte er fassungslos.
»Das ist doch ganz einfach!« schrie Walther fast. »Er hat ein Ding entdeckt, das aussieht wie ein Planet, und wir wollten von Ihnen wissen, ob Sie an Hand dieser Paar Aufnahmen in der Lage sind, mit Ihren komischen modernen Näherungsmethoden eine ungefähre Bahngleichung aufzustellen!« Leclera tat Kellermann leid. Ein neuer Planet auf den nüchternen Magen eines Mathematikers - das war stark. Aber Leclera fand sich, als er hörte, daß es um Bahngleichungen ging, schon wieder zurecht. »In welcher Zeit wurden diese Aufnahmen gemacht?« fragte er. »Von kurz vor Mitternacht bis zum Morgengrauen«, sagte Kellermann. »Hm.« Leclera ließ die Platten unschlüssig durch seine Hände gleiten. »Wenn das Ding schnell genug ist, müßte man eigentlich etwas herausbekommen können. Ich will es zumindest versuchen.« »Versuchen Sie es - je schneller, desto besser. Ich möchte nicht, daß wir bei der Veröffentlichung mit halben Sachen aufwarten, und ich möchte noch viel weniger, daß ein anderer Kellermann zuvorkommt.« Leclera erhob sich. Er hatte sich von der Überraschung erholt, lachte seinen Freund Kellermann an und sagte: »Ich gratuliere Ihnen, alter Junge!« Dann wandte er sich an Professor Walther. »Ich fange gleich mit der Auswertung an. Kellermann muß mir nur ein paar Pfeile auf seine Platten malen. Wenn ich meine Vorlesung ausfallen lasse und außerdem die große IBM haben kann, bin ich vielleicht heute Nachmittag fertig. Allerdings wird es nur ein grober Überschlag sein.« Die große IBM war der Stolz des Instituts - eine neue elektronische Rechenmaschine mit Fähigkeiten, die selbst Professor Walther immer wieder in Erstaunen versetzten. »Ich mache die IBM für Sie frei«, sagte Walther. »Rechnen Sie. so schnell Sie können, Kellermann, machen Sie Pfeile auf das Ding!« Sie alle waren von einer ungeheuren Erregung erfüllt. Solche Augenblicke gab es nur wenige in der Geschichte der Astronomie. Ein unbekannter, großer Körper außerhalb der Plutobahn! Die Welt würde aufhorchen.
* Das Problem gestaltete sich schwieriger, als sie gedacht hatten. Leclera kam gegen Abend mit ratloser Miene in Professor Walthers Sprechzimmer. »Die Sache sieht schlecht aus!« sagte er verdrießlich. »Die Bahn dieses Dinges da bildet einen so spitzen Winkel mit der Beobachtungsgeraden, daß man so gut wie gar nichts sagen kann. Die Bahn kann eine flache Ellipse oder eine Gerade sein. Wenn es eine Gerade ist, dann führt sie ziemlich genau auf uns zu - oder von uns weg. Man ...« »Von uns weg kann sie nicht führen, sonst hätte man das Ding schon früher entdeckt«, unterbrach ihn Walther. »Also auf uns zu!« »Gut - auf uns zu«, nahm Leclera wieder das Wort. »Um Genaueres sagen zu können, müßte man Angaben über die Entfernung des Objektes haben.« Walther nickte. »Daran habe ich sowieso schon gedacht. Ich habe an meinen Freund Hawthorne an der Universität von Durban in Südafrika telegrafiert. Kellermann - Sie werden hinunterfliegen, und dort Aufnahmen machen.« Kellermann war entgeistert. »Ich soll nach Durban?« fragte er. »Natürlich Sie - wer sonst? Die Kosten trägt das Institut.« Kellermann starrte ihn immer noch ungläubig an. »Menschenskind ...!« schrie Walther. »Sind Sie noch nicht fort, um Ihre Flugkarte zu buchen?!« Kellermann erhob sich schwerfällig und verließ ohne Gruß, völlig erschüttert den Raum. Entfernungsbestimmungen von Sternen mußten trotz aller Hilfsmittel der Mathematik immer noch von zwei möglichst weit auseinanderliegenden Punkten erfolgen. Man verabredete sich daher über die Beobachtungszeiten und beschloß, daß Kellermann seine Aufnahmen in Durban einen Monat lang durchführen solle. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, redete Walther ihm zu. »Ich sorge dafür, daß vorläufig unter der Hand schon bekannt wird, daß das neue Ding Ihre Entdeckung ist. Apropos Ding: Wie wollen Sie es eigentlich nennen?«
Kellermann hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Er überlegte eine Weile und meinte dann: »Wenn wir schon etwas Planetenähnliches gefunden haben, dann wollen wir es auch so nennen, wie man seinerzeit den vermuteten sonnennächsten Planeten innerhalb der Merkurbahn nannte: Vulkan.« Walther sah ihn erstaunt an. »Sie haben wenigstens Respekt vor der Astronomie, mein Freund«, sagte er. »Ich hatte Angst, ihr jungen Leute würdet so etwas Marilyn Monroe oder Sofia Loren nennen!« * Die Zeit in Durban verging für Günther Kellermann quälend langsam. Er machte jede Nacht zu den verabredeten Zeiten seine Aufnahmen und sehnte den Tag herbei, an dem er endlich wieder nach Frankfurt zurückfliegen und sich mit Leclera zusammen an die Bahnberechnung machen könnte. Er schlief tagsüber, kannte die Stadt Durban am zwanzigsten Tag so gut wie am ersten, arbeitete nachts verbissen und vertelefonierte insgesamt fünftausend Mark mit Gesprächen nach Frankfurt, die zum Teil noch miserabel verständlich waren. Er machte auch eine Menge spektralanalytischer Aufnahmen, die er jedoch erst zu Hause auswerten wollte, obwohl sich seine Ungeduld, seinen Stern kennenzulernen, kaum mehr bezähmen ließ. Auch dieser Monat verging - entgegen Kellermanns Befürchtungen -, und es kam der Tag, an dem er die Maschine nach Frankfurt bestieg und die Zeit des Rückflugs damit verbrachte, an seinen Meßergebnissen herumzurechnen. Er hatte sich während der Telefongespräche einige Meßwerte aus Frankfurt durchgeben lassen und erhielt daraus in Verbindung mit seinen eigenen erstaunliche Resultate. Er war jedoch Wissenschaftler genug, um sich über diese groben Werte nicht aufzuregen: er beschloß vielmehr, bis zur endgültigen Auswertung zu warten. Auf dem Flughafen in Frankfurt wurde er von Walther und Leclera abgeholt. Sie begrüßten ihn herzlich. Erst im Laufe, der weiteren Unterhaltung stellte Kellermann fest, daß sie bedrückt waren. »Ist etwas schiefgegangen?« fragte er.
»Nicht das Geringste«, beeilte sich Leclera zu versichern. »Vulkan ist inzwischen noch von zwei anderen Sternwarten gesehen worden«, fügte Professor Walther hinzu. »Wir haben feststellen lassen, daß er zuerst von Ihnen entdeckt wurde. Diese Tatsache wird von niemandem angezweifelt.« Kellermann wunderte sich. »Aber ich habe in keiner Zeitung gelesen ...« Walther nickte. »Das ist es eben. Die Entdeckung des neuen Planeten wird geheimgehalten!« »Und warum?« Sekundenlang sah ihn Walther mit traurigen Augen an. »Weil die Bahn des Vulkan sehr problematisch zu sein scheint.« »Was heißt das?« »Unsere Berechnungen sind bis letzt noch ungenau - wir warten auf Ihre Meßwerte. Aber nach allem, was wir bis jetzt schon wissen, wird sich eine Katastrophe nicht vermeiden lassen!« »Wird er...?« Leclera zuckte mit den Schultern. »Entweder mit uns kollidieren oder sehr nahe an uns vorbeiziehen. Das bleibt sich im Endeffekt gleich.« Auf der Fahrt zum Institut sprachen sie kein Wort. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Obwohl es später als sieben Uhr abends war. als sie ankamen, machten sie sich sofort an die Arbeit. Bis sie das endgültige Resultat in den Händen hatten, würden etwa fünf Tage vergehen. Kellermann leistete den Löwenanteil dieser Arbeit. Es schien so, als fühle er sich für seinen Planeten, den Vulkan, verantwortlich. In diesen fünf Tagen schlief Kellermann insgesamt nur zehn Stunden. Er verbrachte Tag und Nacht im Institut, den größten Teil dieser Zeit vor der großen elektronischen Rechenmaschine, In der letzten Nacht schlief er von zehn Uhr bis Mitternacht. Um Mitternacht stand er von seiner primitiven Liege auf. kochte sich einige Tassen starken Kaffee und machte sich an die Arbeit. Er begann, die bisher ermittelten Rechenwerte in die große Maschine zu programmieren. Nachdem das geschehen war, schaltete er das Licht aus und überließ das Gerät sich selbst. Es war von jeher Kellermanns Eigenart gewesen, im Dunkeln zu sitzen, wenn er nichts zu tun hatte. Jetzt - in diesen Tagen, in denen sich all seine Gedanken auf
das herannahende Unheil konzentrierten - hatte er Entspannung und Stille, die nur unterbrochen wurde durch das unregelmäßige Klicken der Relais im Elektrongehirn, besonders nötig. Er fuhr aus seinen Gedanken auf, als er Geräusche vor der Tür zum Maschinenraum hörte. Schlüssel zu dieser Tür besaßen nur Professor Walther als Leiter des Instituts, der Hausmeister und im Augenblick er selbst, weil er dauernd hier arbeitete. Er hatte vorhin die Tür hinter sich abgeschlossen. Der Unbekannte schien jedoch auch über einen Schlüssel zu verfügen, denn nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür leise. Kellermanns Augen hatten sich in der Zwischenzeit so gut an das Dunkel des Raumes gewöhnt, daß er die beiden eintretenden Gestalten halbwegs deutlich erkennen konnte. Sie zogen die Tür hinter sich vorsichtig ins Schloß. Kellermann stand leise auf und ging auf Zehenspitzen zu dem nächsten Lichtschalter. Im Schein der bläulichweißen Leuchtröhren erkannte er eine junge Frau und einen Mann, die entsetzt zusammengefahren waren. »Guten Abend!« sagte Kellermann höflich, wenn auch ein wenig spöttisch. »Was führt Sie hierher?« »Was geht Sie das an?« fragte der Mann barsch. Die Überraschung hatte ihn offensichtlich den Überblick verlieren lassen. Das Mädchen legte, als wolle es ihn beruhigen, die Hand zaghaft auf seinen Arm. »Verzeihen Sie«, sagte sie leise, »wir wollten nur etwas durchrechnen.« Kellermann nickte. »Und was - Wenn ich fragen darf?« Das Mädchen sah den Mann fragend an. Der schüttelte hastig den Kopf. »Sag es ihm nicht, Beate!« Kellermann bemerkte mit Erstaunen, daß er froh darüber war, zu wissen, wie das Mädchen hieß. Er wandte sich an den Mann. »Lieber Freund - Sie haben entweder die Möglichkeit, das Institut so schnell wie möglich zu verlassen, oder von der Polizei abgeführt zu werden. Welche Möglichkeit Sie davon wählen, überlasse ich Ihnen. Aber in zwei Minuten müssen Sie sich entschieden haben!« Der Mann wollte protestieren, aber Kellermann schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Raus mit Ihnen! Oder ich rufe die Polizei!« Der Mann drehte sich um und verließ den Raum, ohne noch einmal zurückzuschauen. »Und Sie sagen mir jetzt bitte, was Sie zu diesem Eindringen veranlaßt hat, nicht wahr?« Beate zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich glaube, ich habe eine Entdeckung gemacht«, sagte sie zögernd. »Ich habe vor einigen Tagen - lachen Sie bitte nicht - einen neuen Planeten entdeckt. Ich wollte seine Bahn berechnen.« Kellermann erschrak. Er erinnerte sich plötzlich, daß er Beate einige Male in Professor Walthers Vorlesungen gesehen hatte. Sie war Astronomie-Studentin. »Womit haben Sie ihn entdeckt?« »Mit einem einigermaßen leistungsfähigen Teleskop, das mir mein Vater letztes Jahr geschenkt hatte.« Kellermann dachte nach. »Setzen Sie sich eine Weile.«, sagte er. Die Lage war schwierig. Die Entdeckung des neuen Planeten mußte vorerst vor der Öffentlichkeit geheimgehalten werden. Auf keinen Fall durfte aber das Ergebnis der Bahnberechnung bekannt werden. Kellermann erklärte das Beate. Sie wurde blaß. »Ist es wirklich so schlimm?« Kellermann nickte. »Es ist das Schlimmste, was der Welt überhaupt zustoßen kann!« Unvermittelt, und ohne daß Kellermann es hätte vorhersehen können, begann sie leise zu weinen. Kellermann fühlte sich hilflos. Er stand auf und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Beruhigen Sie sich, Beate!« sagte er. Es bereitete Kellermann nicht geringen Kummer, daß ihm die seelische Verfassung des jungen Mädchens im Augenblick weitaus mehr Sorgen machte als die Gefahr, seine Entdeckung könne durch sie in der Öffentlichkeit bekannt werden. Einen Tag später stand folgendes fest: Vulkan war im Augenblick von der Erde zehn Milliarden Kilometer entfernt. Seine Geschwindigkeit betrug nahezu 60 km/sec sie konnte also nicht nur von der Gravitation der Sonne herrühren, sondern Vulkan mußte von vornherein eine eigene Anfangsgeschwindigkeit nicht geringen Ausmaßes besessen haben. In etwa fünf Jahren würde Vulkan die Erdbahn an einer Stelle
schneiden, an der sich zu diesem Zeitpunkt die Erde befand. Es war müßig zu ermitteln, ob er voll oder halb mit der Erde kollidieren oder nur dicht an ihr vorbeiziehen würde. Die Katastrophe war der Erde sicher. Den Abschluß ihrer fünftägigen Rechenarbeit bildeten Professor Walthers schwerwiegende Worte: »Die Chance dafür, daß so etwas geschah, betrug eins zu unendlich. Dennoch ist sie eingetreten. Unsere Aussichten zu überleben sind noch geringer. Es wäre zuviel vom lieben Gott verlangt, wenn wir ihn darum bäten, daß er auch diese Aussicht sich verwirklichen lassen möge.« * Der Raum hatte die Größe eines mittleren Saales und war nur schwach beleuchtet. An seiner Stirnseite saß hinter einem kleinen Tisch ein Mann mit einer schwarzen Gesichtsmaske. Die Leute, die Wert darauf legten zu hören, was er ihnen zu sagen hatte, standen in einzelnen Gruppen im Raum herum - der vorderste von ihnen immerhin noch so weit von dem Maskierten entfernt, daß er nicht nach ihm greifen konnte. Der Maskierte sah auf die Uhr und begann zu sprechen: »Meine Herren! Die Gesellschaft hat mittlerweile den Beweis dafür erhalten, daß ihre Absichten gerechtfertigt sind. Es wird durch das Eindringen des neuen Planeten in unser Sonnensystem nicht zu einer völligen Katastrophe kommen!« Unter den Zuhörern erhob sich leises Gemurmel. Der Redner wartete, bis es abgeklungen war. »Der Planet wird die Erde nicht treffen, sondern nur dicht an ihr vorbeiziehen. Die Ausführungen unserer Wissenschaftler zeigen, daß zumindest die Gegenden, die im Augenblick des Durchgangs von dem neuen Planeten am weitesten entfernt sind, Chancen zum Überstehen haben. Die Regierungen der einzelnen Länder müssen davon überzeugt werden, daß bei der Evakuierung in die weniger gefährdeten Gebiete in erster Linie Maschinen und wertvolle Menschen berücksichtigt werden müssen. Es kann nicht unser Ziel sein, so viele Menschen wie möglich vor der Katastrophe zu retten; es ist vielmehr angebracht, nur die Besten zu bewahren und ihnen einen
gesicherten Start für die Zukunft mitzugeben. Wir werden versuchen, die Regierungen davon zu überzeugen, wer die Besten sind!« Im Saal erhob sich gedämpfter Applaus. Der Redner fuhr fort: »Es wird jetzt Zeit, daß wir uns an die aktive Arbeit begeben! Ich bitte folgende Herren, zu mir zu einer kurzen Besprechung zu kommen.« Er nannte zehn Namen. »Den anderen danke ich für ihr Erscheinen.« Er machte hinter seinem Tisch eine leichte, Verbeugung. Die Zuhörer entfernten sich langsam durch den einzigen Ausgang, während die zehn Aufgerufenen im Saal blieben. * Kellermann hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als den Professor von dem Vorfall im Rechenmaschinenraum zu unterrichten. Professor Walthers Reaktion war so einfach, daß Kellermann sich nachträglich wunderte, warum er nicht selbst auf den Gedanken gekommen sei. »Wir haben nur eine einzige Möglichkeit. Kellermann«, sagte Professor Walther. »Wir müssen die junge Dame in unser Team mit aufnehmen. Aber was macht das schon? Unsere trockene Arbeit wird durch die Anwesenheit einer Dame höchstens angenehmer.« Dabei lächelte er Kellermann an. * Kellermann befand sich auf dem Heimweg. Seine Zimmerwirtin hatte ihn seit mehr als einem Monat nicht mehr gesehen. Kellermanns Gedanken waren jedoch weniger mit dem beschäftigt, was seine Wirtin sagen werde, als mit der Verwirrung, die Beate in ihm hervorgerufen hatte. Kellermann konnte mit seinen sechsundzwanzig Jahren den Ruf für sich beanspruchen, daß er bisher seine Arbeit für wertvoller gehalten hatte als den Umgang mit Frauen. Die Begegnung mit Beate war daher etwas, was ihn auf völlig ungewohnte Art faszinierte.
Er schreckte auf, als neben ihm am Straßenrand ein Taxi mit quietschenden Bremsen hielt. Drei Männer sprangen heraus und stellten sich ihm in den Weg. »Steigen Sie ein - machen Sie kein Aufsehen!« sagte einer von ihnen. »Warum ...?« »Einsteigen!« Sie unterstützten ihre Aufforderung durch einige Rippenstöße, die Kellermann in Richtung der geöffneten Wagentür trieben. Er fiel in die Polster. Das Taxi schoß davon. Kellermann war vorläufig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer, sich auf diese Art und Weise mit ihm in Verbindung setzen wollte. Er wandte sich an seinen Nebenmann. »Was ist los? Was wollen Sie von mir?« Statt einer Antwort erhielt er von der anderen Seite einen derart harten Schlag auf den Hinterkopf, daß er sofort bewußtlos wurde. Er erwachte auf dem Boden eines kleinen Raumes, dessen Wände weiß getüncht waren und der nur eine Tür, aber kein Fenster besaß. Kellermann fühlte sich übel. Sein Schädel brummte, und als er versuchte sich aufzurichten, stellte er fest, daß ihm noch schwindlig wurde. Er taumelte zur Tür und stellte fest, daß sie verschlossen war. Er trommelte mit den Fäusten dagegen und hoffte, daß jemand nach ihm sehen werde. Hinter ihm erklang plötzlich eine Stimme: »Hören Sie zu, Kellermann!« Kellermann fuhr herum. In der kleinen Zelle war außer ihm niemand. In der Hoffnung, daß der unsichtbare Sprecher ihn verstehen könne, antwortete er: »Ja?« Die Stimme fuhr fort: »Wir haben Sie hierhergebracht, weil Sie sich wahrscheinlich geweigert hätten, freiwillig hierherzukommen. Wir haben Ihnen etwas zu sagen. Zu Ihnen spricht ein Vertreter der Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit. Wir haben sichere Beweise dafür, daß der Erde eine völlige Katstrophe bevorsteht. Ein Teil der Menschheit kann gerettet werden! Wir haben uns die Aufgabe gestellt, nur die wertvollsten Menschen vor der Katastrophe zu
retten! Dazu brauchen wir die Unterstützung namhafter Wissenschaftler - besonders derer, die an der Entdeckung des neuen Planeten beteiligt sind. Den Regierungen muß nahegelegt werden, daß sie nur wenigen auserwählten Menschen die Rettung zugestehen. Auf der anderen Seite muß diesen Menschen alles mitgegeben werden, was sie für einen neuen Anfang brauchen! Wir halten diesen Plan für notwendig und gerecht. Wir fordern Sie zur Mitarbeit auf! Entschließen Sie sich im Laufe der nächsten achtundvierzig Stunden. Wir werden uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen, um Ihre Antwort auf unseren Antrag zu erfahren. Hüten Sie sich jedoch, uns zu hintergehen. Sie sind jetzt hier. Die Tür ist offen!« Kellermann stand wie versteinert. Er hatte eine Menge Fragen auf der Zunge. Aber auf seine Frage: »Hören Sie?« antwortete ihm niemand mehr. Der Lautsprecher, aus dem die Stimme gesprochen hatte, war abgeschaltet. Kellermann drückte die Klinke herunter. Die Tür war wirklich offen. Er verließ die Zelle und trat auf einen Gang. Nach der Aufregung merkte er an dem Geruch, der ihn umgab, zum erstenmal, daß er sich in einem Keller befand. Der Gang schloß fünf Meter hinter ihm ab. Kellermann wandte sich nach der anderen Seite. Nach etwa zwanzig Metern kam er zu einem Aufgang. Er stieg ein paar Stufen hinauf und stand in der Halle eines leeren Lagerraumes. Die Halle mochte etwa dreihundert Quadratmeter groß sein. Kellermann verließ sie durch eines der beiden großen Tore. Draußen war es dunkel. Kellermann sah auf die Uhr und stellte fest, daß seit der Entführung zwei Stunden vergangen waren. Das Kopfweh plagte ihn, so daß er beschloß, geradewegs nach Hause zu gehen und erst am nächsten Morgen über die Dinge nachzudenken, die er heute Abend erlebt hatte. Kellermann war auch am nächsten Morgen unfähig, die Absichten der Leute zu beurteilen, mit denen er es am vergangenen Abend zu tun gehabt hatte. Er fragte Leclera um Rat. Er sagte: »Ich weiß nicht, ob ich damit, daß ich Ihnen die Geschichte erzähle, schon gegen die Interessen dieser Gruppe handele. Aber ich weiß mir keinen Rat.« Leclera dachte nach. »Setzen Sie sich erst mal. Kellermann - und rauchen Sie eine Zigarette mit mir.«
Leclera streckte die Beine von sich, blies den blauen Rauch vor sich hin und begann: »Jeder Gangster - wenn er nicht geisteskrank ist - hat die Absicht, sich ein angenehmes und finanziell gesichertes Leben auf schnellere Art zu beschaffen, als dies in der heutigen Gesellschaft auf gesetzlichem Wege möglich ist. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich der Ansicht, daß auch diese Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit keine anderen Ziele hat. Im Grunde genommen sind das doch Verbrecher.« Kellermann nickte. »So, wie Sie es darstellen, leuchtet es ein. Ich werde mich danach richten.« Leclera warnte. »Vorsicht! Mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen! Ich bin fest davon überzeugt, daß es für Sie gefährlich werden wird, sich offen gegen die Interessen dieser Gruppe zu stellen.« Kellermann nahm sich diese Warnung so zu Herzen, daß er gegen Abend, als er seine Arbeit beendet hatte und sich auf den Heimweg machte, unter einem Verfolgungskomplex litt. Mehrere Male am Tage hatte er sich überlegt, ob es um seiner eigenen Sicherheit willen nicht besser sei, auf das Angebot der Gesellschaft wenigstens zum Schein einzugehen. Abgesehen davon jedoch, daß ihm ein solcher Kompromiß eines Wissenschaftlers unwürdig erschien, war er ihm auch persönlich unsympathisch - und Kellermann blieb standhaft. Auf dem Heimweg benutzte er nur belebte Straßen. Er schaute mehr rückwärts als auf seinen Weg. Als er zu Hause ankam, schalt er sich wegen seiner Dummheit, denn die Gesellschaft konnte ja von seiner Ablehnung noch nichts wissen. Seine Wirtin begrüßte ihn an der Tür. »Ist irgend etwas vorgefallen?« fragte er. »Nein. Herr Kellermann! Nichts!« Kellermann ging ins Bad, wusch sich die Hände und öffnete dann die Tür seines Zimmers. Er war starker Raucher und konnte eine Zigarettensorte an ihrem Geruch von der anderen sehr gut unterscheiden. Der schwache Dunst, der ihm jetzt aus dem dunklen Zimmer entgegenschlug, stammte von einer Sorte, die Kellermann nie im Leben angerührt hatte. Kellermann zögerte eine Welle. Dann huschte er schnell durch die halbgeöffnete Tür, stellte sich zwei Meter weiter links an der
Wand auf und lauschte. Von irgendwoher kamen regelmäßige Atemzüge. »Ist hier jemand?« fragte Kellermann. Aus der Ecke, in der der einzige Sessel des Raumes stand, kam die Antwort: »Ja. Machen Sie ruhig Licht.« Kellermann verbarg das Zittern seiner Hände, so gut er konnte, als er den Schalter drückte. Im Sessel saß ein kleiner, dicker Mann von etwa vierzig Jahren, der ihn freundlich anlächelte. »Eine Überraschung, nicht wahr, mein Freund?« Kellermann zuckte hilflos mit den Schultern. »Meine Wirtin sagte mir, es sei niemand ...« Der Fremde nickte. »Ihre Wirtin konnte auch nichts wissen. Wir besitzen die Fähigkeit, dort hinzukommen, wo man uns hinschickt, auch ohne gesehen zu werden - wenn es sein muß. Übrigens: mein Name ist – na, sagen wir - Schmids.« In seiner Verwirrung machte Kellermann eine leichte Verbeugung. Schmids' Lächeln verzog sich ins Ironische. »Und was führt Sie zu mir, Herr Schmids?« »Die Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit hat Ihnen gestern Abend ein Angebot gemacht. Sie hat Sie darauf aufmerksam gemacht, daß Sie ...« »Sie hat mir achtundvierzig Stunden Zeit zum Überlegen gelassen«, brauste Kellermann auf. »Gewiß, gewiß! Aber es hätte ja sein können, daß Ihre Meinung heute abend schon feststeht.« Kellermann wurde wütend. »Ja - meine Meinung steht fest! Für mich sind Sie eine Bande von Verbrechern! Ich denke nicht daran, mit Ihnen zusammenzuarbeiten!« Schmids zog die Brauen hoch. Sein Gesichtsausdruck wurde leicht mißmutig, obwohl er dabei nicht aufhörte zu lächeln, »Ich glaube nicht, junger Freund, daß Sie sich diese Antwort gut überlegt haben.« »Nennen Sie mich nicht immer Ihren Freund.« »Nun gut, Herr Kellermann! Die Gesellschaft ist an wertvollen Mitarbeitern interessiert. Sie bietet Ihnen alles, was Sie sich jemals wünschen könnten. Andererseits sind wir nicht gewillt, ge-
fährliche Mitwisser frei herumlaufen zu lassen. Wir wenden jedes Mittel an, um einen Gegner aus dem Wege zu schaffen!« Kellermann war weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen. »Wir leben im Jahre 1973. Vor hundertfünfzig Jahren wäre vielleicht jemand auf Ihre Drohungen hereingefallen. Heute klingen sie nur lächerlich. Darf ich Sie bitten, meine Wohnung sofort zu verlassen!« Schmids stand auf und verbeugte sich. Dabei sagte er: »Es bereitet mir immer wieder ein unbehagliches Gefühl, mich von jemand zu verabschieden, von dem ich genau weiß, daß er in zwei Tagen nicht mehr leben wird!« Daran schloß er noch eine Verbeugung und verließ das Zimmer mit einem Lächeln, für das Kellermann, nachdem sich seine Aufregung ein paar Minuten später gelegt hatte, nur die Bezeichnung diabolisch fand. Seine Wirtin kam hereingestürzt. »Wer war denn der Herr? Ich habe ihn gar nicht kommen sehen.« Sie schlug entsetzt die Hände zusammen. Kellermann winkte ab. »Lassen Sie nur. Uns entgeht eben manches.« Außer dieser kümmerlichen Bemerkung war nichts mehr aus ihm herauszubekommen. Seine Wirtin war gezwungen, ihre Neugierde unbefriedigt zu lassen. Kellermann ließ sich in den Sessel fallen, in dem vor wenigen Minuten noch Herr Schmids gesessen hatte, zündete sich eine Zigarette an und begann nachzudenken. Für ihn war es unerklärlich, was die Leute der Gesellschaft im Schilde führten. Offenbar glaubten sie, daß sie die Katastrophe überleben würden - wenn man nicht annehmen wollte, daß es sich um eine Versammlung von Geisteskranken handele, Kellermann begann, im Geiste noch einmal alle Rechnungen durchzuführen, die er im Zusammenhang mit dem Planeten Vulkan angestellt hatte. Er war so vertieft, daß er das Klingeln an der Haustür überhörte. Seine Wirtin klopfte zaghaft an und steckte den Kopf herein. »Es ist Besuch für Sie da, Herr Kellermann. Eine nette junge Dame. Soll ich sie hereinbringen?«
Kellermann nickte - noch halb in Gedanken. Er fuhr jedoch erstaunt auf, als Beate ins Zimmer trat. »Wie geht es Ihnen, Herr Kellermann?« fragte sie. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie am Feierabend störe - aber ich habe etwas auf dem Herzen.« Kellermann brauchte eine Weile, um seine Verwirrung zu meistern. »Nehmen Sie doch bitte Platz, und legen Sie ab«, sagte er. »Oder umgekehrt.« Sie lachten beide. »Also - was gibt's?« fragte Kellermann, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten. »Passen Sie auf: Wenn Vulkan die Erde nicht trifft, sondern an ihr vorbeizieht - glauben Sie nicht, daß die Katastrophe dann ein begrenztes Gebiet unberührt lassen würde?« Kellermann schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Auch wenn Vulkan vorbeigeht, wird er Erdbeben, Überschwemmungen und vulkanische Ausbrüche hervorrufen, wie sie die Erde noch nie erlebt hat. Nach der Katastrophe wird es kein Leben mehr geben - außer Einzellern vielleicht, die auch solche Dinge überstehen können.« Beate fuhr auf. »Aber woher nehmen Sie denn diese Kenntnis?« rief sie heftig. »Haben Sie das Problem schon einmal durchgerechnet?« »Nein, Das ist wohl auch kaum nötig.« »So - denken Sie. Setzen Sie sich hin und rechnen Sie es durch. Sie brauchen dazu die Masse des Vulkan, seine Bahnelemente und das Newtonsche Gravitationsgesetz - das ist alles.« Kellermann wurde unsicher. Auch die Gesellschaft war sicher, daß sie den Weltuntergang überleben werde. »Ich mache mich morgen früh sofort an die Arbeit. Aber ich glaube nicht, daß ...« »Hören Sie auf zu glauben. Versuchen Sie lieber, es zu wissen.« Kellermanns Wirtin kam herein. »Ich habe Ihnen einen Tee gemacht«, sagte sie. »Bei dem kalten Wetter tut er gut.« Bei dem dampfenden Tee erzählte er Beate von dem, was ihm gestern und heute Abend zugestoßen war. »Mein Gott! Sie müssen sich in acht nehmen«, sagte Beate. »Das hört sich sehr gefährlich an.«
Kellermann lachte. »Ich halte es für eine Räuberpistole.« »Nein - das dürfen Sie nicht. Sie haben es mit Verbrechern zu tun. Die Leute können es sich nicht leisten, jemand am Leben zu lassen, der über ihre Absichten Bescheid weiß.« Kellermann zuckte mit den Schultern. »Ich sehe da noch nicht ganz klar. Ich kann mir aus der ganzen Geschichte keinen Reim machen.« Beate verabschiedete sich ein paar Stunden später - zu einer Zeit, die jede andere Wirtin als unzivil bezeichnet hätte - und ließ Kellermann mit dem glücklichen Gefühl zurück, daß sie sich um ihn ernsthafte Sorgen mache. * In der Zwischenzeit waren die Meldungen von der Entdeckung des Planeten Vulkan und die ersten exakten Bahnberechnungen den Regierungen der Länder unter Wahrung aller Vorsichtsmaßnahmen auf geheimem Wege übermittelt worden. Angesichts der furchtbaren Erkenntnis verzichteten alle Präsidenten darauf, dieses Problem nach den Spielregeln der Demokratie verhandeln zu lassen. Es wurden geheime Sonderausschüsse gebildet, die über den Fall zu beraten und Entscheidungen zu fällen hatten. Der westeuropäische Ausschuß unter Leitung von Dr. d'Astuzia, einem Astrophysiker, tagte in Straßburg. Der Ausschuß bestand aus fünfundzwanzig Mitgliedern. Er sagte schon auf seiner ersten Sitzung, was überhaupt zu sagen war. »Meine Herren«, erklärte Dr. d'Astuzia, »unsere Situation ist völlig aussichtslos. Nach den Aussagen der Astronomen, denen ich mich voll anschließe, ist die Katastrophe unabwendbar. Und die Erde besitzt keine Mittel, sich dagegen zu sichern.« Aus dem Hintergrund kam ein Einwand. »Wie steht es mit unseren Raketen?« Dr. d'Astuzia wischte diese Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Eine Evakuierung der Bevölkerung in den bis jetzt zur Verfügung stehenden Raketen ist völlig indiskutabel. Erstens fehlen uns Raketen. Im Augenblick könnten wir höchstens eintausend Menschen von der Erde fortbringen. Dann sind diese Raketen nur
in der Lage, bis zum Mars oder zur Venus vorzudringen. Von den ersten Expeditionen zu diesen beiden Planeten wissen wir aber, daß Venus gar keine und Mars nur ungenügende Lebensmöglichkeiten bieten. Und was den Raketen an Transportgütern mitgegeben werden könnte, würde ausreichen, um den evakuierten Menschen ein Leben für die Dauer von etwa sechs Monaten auf dem Planeten Mars zu ermöglichen - ganz abgesehen davon, daß höchstwahrscheinlich auch Mars von der Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach diesem Zeitpunkt wären sie gezwungen, zur Erde zurückzukehren. Innerhalb eines halben Jahres kann sich die Erde jedoch nicht von dem Zusammenprall erholt haben; vorausgesetzt, daß von unserem Planeten überhaupt noch etwas übrigbleibt.« Dr. d'Astuzia wurde durch ein Klingelzeichen unterbrochen. Er nahm den Hörer des Telefons auf, das auf seinem Tisch stand. Die Mitglieder des Ausschusses hörten, wie er sagte: »Bringen Sie den Mann herein!« Er wandte sich an den Ausschuß. »Meine Herren - wir bekommen Besuch. Ein Sachverständiger.« Mit einem Strahlen auf dem Gesicht, das jedem Anwesenden zeigte, daß er etwas Erfreuliches zu berichten hatte, betrat Kellermann den Raum. Er begrüßte Dr. d'Astuzia und übergab ihm ein großes Kuvert. Dr. d'Astuzia riß es auf, entnahm den Inhalt und begann durchzulesen. Man bemerkte deutlich, daß er im Laufe seiner Lektüre aufgeregt wurde. Nachdem er aufgehört hatte zu lesen, sah er die Versammlung zunächst eine Weile schweigend, aber glücklich an, bevor er begann: »Nach den neuesten Ermittlungen der Volkssternwarte Frankfurt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß Vulkan die Erde nicht treffen, sondern an ihr vorbeiziehen wird. Noch mehr: Er wird an ihr in einer Entfernung vorbeiziehen, die gewissen Gebieten der Erde eine Chance gibt. Die Katastrophe wird verheerend sein - verheerender als je zuvor eine Katastrophe in der Geschichte der Erde. Aber ein Teil der Menschheit hat eine kleine Möglichkeit, am Leben zu bleiben.« Zwei Sekunden lang war es völlig still im Raum. Dann begannen die Abgeordneten zu klatschen. Ein paar schrien laut und rissen die anderen mit. Sie begannen zu trampeln. Eine halbe Minute später glich die würdige Versammlung einem Tollhaus bezechter Studenten. Jeder machte seiner Freude und seiner Begeisterung
auf die Art Luft, in der er glaubte, daß sie am besten zu erkennen sei. In dem Lärm, den fünfundzwanzig würdige Männer verursachten, ging das Geräusch des Schusses völlig unter. Niemand achtete zunächst auf Kellermann, der sich plötzlich an die Schulter griff, blaß wurde und zu Boden sank. Selbst Dr. d'Astuzia, der keine zwei Meter von Kellermann entfernt stand, fiel erst eine volle Minute später auf, daß Kellermann bewußtlos war. Er beugte sich zu ihm nieder. Auf der rechten Schulter zeichnete sich ein Blutfleck ab. Mit verwirrtem Gesicht fuhr d'Astuzia hoch. »Einen Arzt!« schrie er. »Einen Arzt!« Er brauchte geraume Zeit, um, sich in dem Durcheinander verständlich zu machen. Ein Bote wurde geschickt, um einen Arzt zu holen. Er kehrte nach zehn Minuten zurück. »Der Arzt ist direkt hinter mir!« keuchte er. * Kellermann erwachte im Bett eines Krankenhauszimmers. Neben ihm saß Professor Walther und grinste. »Na - aufgewacht?« Kellermann fühlte sich schwach, obwohl er nicht hätte sagen können, daß ihm dieser Zustand nicht behage. Er versuchte »Guten Tag!« zu sagen, aber seine Stimme klang ungewöhnlich matt. Professor Walther nickte. »Sie haben eine Menge Blut verloren, mein Lieber. Das schwächt.« Kellermann begann sich Stück für Stück an das zu erinnern, was geschehen war. Die zweite Durchrechnung der Vulkanbahn, diesmal mit genaueren Meßwerten - die Fahrt nach Straßburg - die Überbringung der Botschaft an Dr. d'Astuzia - der Jubel - der Schuß, den er selbst kaum gehört hatte. »Wer hat geschossen?« fragte er ohne Übergang. »Niemand weiß das, Kellermann. Die Polizei hat nicht das Geringste herausgefunden. Haben Sie keinen Anhaltspunkt?« Kellermann schüttelte den Kopf und zog sich dabei einen leichten Schwindelanfall zu. Er hatte Zeit gehabt, sich zu überlegen, daß es Professor Walther nur schaden würde, wenn er die Zu-
sammenhänge der Dinge erfuhr. Kellermann selbst war es völlig klar, daß die Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit zugeschlagen hatte. »Es muß eines der Ausschußmitglieder gewesen sein«, sagte Professor Walther. »Das ist aber auch das einzige, was feststeht.« Kellermann wechselte das Thema. »Was macht die Arbeit im Institut?« fragte er. Professor Walther nickte zufrieden. »Sie macht Fortschritte. Nachdem jetzt eine ganze Menge Bahnelemente des Vulkan bekannt sind, konnten wir noch einmal feststellen, daß Sie sich bei Ihrer zweiten Durchrechnung nicht geirrt haben. Vulkan wird an der Erde vorbeiziehen - ziemlich nahe zwar und mit verheerenden Folgen, aber doch mit einer kleinen Chance für uns.« Kellermann dachte nach »Wie geht es Fräulein Schläger?« fragte Kellermann matt. »Sie hat sich fürchterlich viel Sorgen um Sie gemacht. Im Augenblick steht sie draußen vor der Tür und wartet darauf, daß ich sie hereinlasse.« Kellermann fuhr aus den Kissen hoch, griff sich an den Kopf und fiel mit einem Stöhnen wieder zurück. »Nur keine Aufregung, junger Mann!« brummte Professor Walther väterlich. »Ich hole sie schon herein.« Er rief Beate herein. An dem Ausdruck ihrer Augen und noch mehr an der Tatsache, daß Kellermann von dieser Sekunde an kaum mehr ein Wort für ihn übrig hatte, erkannte er bald, daß er überflüssig war. Er verabschiedete sich mit der Bemerkung: »Ich habe noch im Institut zu tun. Gute Besserung. Kellermann - und lassen Sie sich bald entlassen.« Das Gespräch der beiden jungen Menschen drehte sich eine Zeitlang um die Straßburger Vorfälle. »War es jene Gruppe?« fragte Beate. Kellermann nickte. »Sicher. Es gibt keinen Zweifel. Eines der Ausschußmitglieder muß zu der Gesellschaft gehören.« Beate öffnete ihre Handtasche. »Ich fürchte, Sie sind vor diesen Leuten nirgends sicher. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Sie zog eine zierliche Pistole aus der Tasche. Kellermanns Augen wurden groß.
»Wo haben Sie das her?« »Ich habe sie schon seit langer Zeit. Ich denke, Ihnen kann sie im Notfall gute Dienste tun.« »Glauben Sie, daß mir hier im Krankenhaus etwas zustoßen wird?« Beate zuckte mit den Schultern. »Im Augenblick, glaube ich, gibt es keinen Ort, an dem Ihnen nichts zustoßen könnte. Nehmen Sie sie - bitte!« Kellermann nahm sie in die Hand, streichelte sie, bis er merkte, daß er dabei nicht wie ein erwachsener Mensch aussah, und steckte sie dann unter sein Kopfkissen. »Solange Sie da sind, Beate, merke ich, wie es mir von Sekunde zu Sekunde besser geht«, sagte er glücklich. Er hielt das für eine äußerst kühne Bemerkung. * Mit der Schnelligkeit, die weittragende Entschlüsse in dieser Zeit forderten, hatten die Regierungen begonnen, Bunker zu bauen. Nach allem, was bisher bekannt war, würden Westeuropa und ein Teil Nordwestafrikas in der am wenigsten gefährdeten Zone liegen. Für Bunker, die tief genug vorgetrieben und fest genug verankert wurden, bestand Aussicht, daß sie die Katastrophe überstehen würden. Während Beate der Ansicht war, daß man Kellermann von diesen Dingen wenig erzählen sollte, um den Kranken nicht zu beunruhigen, hatte Leclera bei seinen allerdings selteneren Besuchen nichts anderes zu berichten als das, was draußen in der Welt vorging. Eines Tages erschien er, völlig aufgelöst, in Kellermanns Krankenzimmer. »Stellen Sie sich vor, Kellermann, die Gesellschaft zur Bewahrung der Menschheit beginnt Reklame zu machen.« Kellermann war erstaunt. »Was wollen sie?« »Sie verlangen eine sorgfältige Auslese derer, die die Katastrophe überstehen sollen. Sie verlangen weiterhin, daß hauptsächlich Maschinen und technische Anlagen in den Bunkern eingela-
gert werden. Sie bringen das alles so vor, als hätten, sie die humansten Absichten der Welt.« Kellermann atmete auf. »Da sie von selbst an die Öffentlichkeit getreten sind, ist die Gefahr für mich wohl vorbei.« »Seien Sie nicht zu voreilig - freuen Sie sich nicht zu früh. Sie haben tiefer in die Methoden der Gesellschaft hineingeschaut als irgendein anderer Mensch: Sie sind der einzige Außenstehende, der aus eigener Erfahrung weiß, daß es sich hier nicht um eine Vereinigung mit humanistischen Zielen handelt, sondern um eine Bande von Verbrechern. Nehmen Sie sich lieber noch eine Weile in acht.« Kellermann griff verstohlen nach seiner Pistole unter dem Kopfkissen. Er hatte den Eindruck, ihm könne so schnell nichts passieren. Kellermanns Wunde heilte schnell - vielleicht nicht so sehr deswegen, weil sie ungefährlich war, sondern vielmehr auf Kellermanns drängenden Wunsch hin, wieder hinauszukommen, weiterzuarbeiten und Beate den ganzen Tag lang zu sehen. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, hatte schlecht gezielt. Anstatt ihm ans Leben zu gehen, hatte die Kugel die rechte Schulter weit oben glatt durchschlagen. Gegen Ende der dritten Woche im Krankenhaus eröffnete ihm der behandelnde Arzt, daß er in drei oder vier Tagen wieder entlassen werde. In der letzten Nacht vor seiner Entlassung schlief Kellermann unruhig. Die Gedanken und Pläne, die er sich für die nähere Zukunft gemacht hatte, beschäftigten ihn im Halbschlaf. Kurz vor Mitternacht betrat die Nachtschwester das Zimmer. Sie machte kein Licht, um ihn nicht zu stören. Kellermann erkannte sie undeutlich im Licht des roten Lämpchens über der Tür. »Haben Sie noch Wünsche?« fragte sie. Kellermann kam ihre Stimme merkwürdig tief vor. Er richtete sich halb auf und wollte die Nachttischlampe anknipsen. »Lassen Sie nur - ich finde mich auch so zurecht.«, sagte die Schwester. Kellermann tastete vorsichtig nach der kleinen Pistole. Geräuschlos zog er sie hervor und entsicherte sie unter der Bettdecke. »Was tun Sie da?« fragte er die Schwester.
»Aufräumen.« »Machen Sie sich doch Licht. Ich bin ohnehin wach.« »Na gut.« Die große Deckenlampe flammte auf. Die Schwester hatte ihre Haube abgelegt und bot in dem kurzgeschnittenen Haar und dem männlichen Gesichtsausdruck zusammen mit der Schwesterntracht einen grotesken Anblick. Die Schwester war Herr Schmids. »Ich dachte nicht, lieber Freund, daß ich mich selbst mit Ihnen befassen müßte«, sagte Schmids mit wehmütigem Lächeln. »Aber jemand muß es ja besorgen.« Kellermann tastete nach dem Klingelknopf. Ohne sein Lächeln zu verlieren, zog Schmids blitzschnell eine Pistole und richtete sie auf ihn. »Lassen Sie die Finger lieber unten, lieber Freund!« Kellermann erkannte, daß die Pistole einen Schalldämpfer hatte. Die Schüsse, mit denen er umgebracht werden sollte, würden nicht lauter zu hören sein als das Knallen von Sektkorken. »Was wollen Sie noch von mir? Sie haben Ihre Absichten ohnehin der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Was kann ich Ihnen schaden?« Kellermann spielte absichtlich den Furchtsamen. Selbst mit der kleinen Pistole in der Hand war er keineswegs sicher, daß Schmids' Schüsse ihn nicht mehr treffen würden. »Sie wissen wesentlich mehr als die Öffentlichkeit. Sie kennen unsere Methoden und wären durchaus in der Lage, uns das Handwerk zu legen. Ein solches Risiko können wir nicht eingehen. Sie werden jetzt sterben.« Kellermann hatte den Lauf seiner Pistole vorsichtig unter dem Deckbett hervorgeschoben. Er feuerte ein-, zwei-, dreimal. Schmids begann, auf seinen Zehenspitzen zu wachsen, verlor sein Lächeln und machte ein ungläubiges Gesicht. Es schien Kellermann eine Ewigkeit zu dauern, bis er langsam zur Seite sank und hart auf dem Boden aufschlug. Er war nicht mehr dazu gekommen, seine Waffe abzufeuern. Kellermann wurde am nächsten Tag entlassen. Schmids war tot. Der Fall hatte beträchtliches Aufsehen erregt. Kellermann weigerte sich jedoch, irgendwelche Auskünfte zu geben. Er übertrug den Fall der Kriminalpolizei mit der sicheren Gewißheit, daß sie ihn im
Laufe der viereinhalb Jahre, die ihr noch zur Verfügung standen, nicht lösen würde. Der Bunker versprach, ein Wunderwerk der Technik zu werden. Im Laufe von zweieinhalb Jahren wurde seine Sohle bis auf dreißig Kilometer Tiefe vorgetrieben. Zwischen fünfundzwanzig und dreißig Kilometern Tiefe enthielt er hundert Stockwerke, in denen Menschen und Material untergebracht werden sollten. Der Aufzugsschacht hatte einen Durchmesser von fünfzig Metern. An der Erdoberfläche besaß er eine Luftschleuse, die den Insassen des Bunkers ein Verlassen auch dann ermöglichen sollte, wenn der Bunker nach der Katastrophe überschwemmt war. Die Konstruktion ruhte nicht in der Erde, sondern war vielmehr modellmäßig ausgedrückt - an der Erdoberfläche aufgehängt. Das brachte den Vorteil, daß der Bunker Verschiebungen im Erdinneren, wenn sie nicht zu heftig auftraten, überstand. Es war vorgesehen, im Bunker auch Bergbaugeräte aller Art unterzubringen. Es mußte damit gerechnet werden, daß nach dem Abklingen der Erdbeben der Schachtausgang entweder mit Wasser oder mit Erde bedeckt war. Für beide Fälle wurde vorgesorgt. Der Öffentlichkeit, der der Bau des Bunkers nicht entgehen konnte, wurden frisierte Meldungen vorgesetzt. Danach handelte es sich um das neueste Forschungsprojekt der Akademie für Bergbauwissenschaften. * In den ersten Tagen des Mai 1977, als Vulkan schon so deutlich am Nachthimmel stand, daß er auch einem Laien wegen seiner Größe nicht entgehen konnte, gab das Sicherheitsministerium die Erklärung heraus, ein ungewöhnlich großer, schwanzloser Komet nähere sich der Erde und werde im Oktober 1978 in geringer Entfernung an ihr vorbeiziehen. Die Erklärung bestritt, daß der Erde irgendwelche Gefahr drohe: sie kündigte Strafmaßnahmen für alle an, die Unruhen verursachten. Man gab weiterhin an. daß die Nähe des Kometen während einer Periode von zehn Tagen außergewöhnliche Wetterverhältnisse mit sich bringen könne. Dies sei jedoch, so wurde gesagt, die einzige Gefahr, die der Erde drohe. Kellermann besichtigte mit Beate den Bunker. Er lag in den Vorbergen des Taunus und war nahezu fertiggestellt. Beate und
Kellermann fuhren zur Sohle hinunter. Die Fahrt dauerte eine knappe halbe Stunde. Im untersten Geschoß waren die letzten Arbeiter damit beschäftigt, Lichtleitungen zu legen. Die Wände der Gänge aus Metallplastik schimmerten kalt und feindselig. Obwohl die Klimaanlagen einwandfrei funktionierten und die Temperatur der Räume auf zwanzig Grad Celsius hielten, schauderte Beate. »Unfreundlich ist das hier unten!« sagte sie. »Und doch für zweihunderttausend Menschen Aufenthaltsraum für mindestens drei Jahre.« Beate hielt sich fester an Kellermanns Arm. »Ob wir auch dabei sein werden?« Kellermann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht - es hängt nicht von uns ab.« Sie fuhren wieder hinauf. Inzwischen war es Nacht geworden. Dicht über dem östlichen Horizont stand Vulkan - eine faustgroße, blaßweiße Kugel. Sie starrten ihn eine Weile ah. »Furchtbar sieht er aus«, flüsterte Beate. Langsam gingen sie zu ihrem Wagen zurück. Auf der Straße polterte ein Lastwagen vorbei ... »Was will der noch so spät hier?« fragte Kellermann. Als sie ihren Wagen erreichten, sahen sie im schwachen Licht der Sterne etwa fünfzig Meter weiter oben auf der Straße einen dunklen Gegenstand. »Der Lastwagen hat etwas verloren«, sagte Beate. »Sehen wir es uns an.« Es war eine quaderförmige, anderthalb Meter lange Kiste, die mitten auf der Straße lag. Sie trug keinerlei Beschriftung. »Wir haben keine Ahnung, wem wir sie bringen sollen«, sagte Kellermann. »Machen wir sie auf«, schlug Beate vor. Mit Hilfe seines Taschenmessers gelang es Kellermann, den Deckel der Kiste abzuheben. Zunächst sahen sie nur Holzwolle. Sie räumten sie beiseite und stießen auf ein Stück Metall. Kellermann zog es heraus. Es war fast ebenso lang wie die Kiste, zylinderförmig mit fünf Zentimetern Durchmesser und wies eine Reihe von Löchern auf. »Was könnte das sein?« Kellermann drehte das Rohr hin und her. »Keine Ahnung!«
Sie packten das Rohr in die Kiste zurück, luden sie in ihren Wagen und fuhren nach Hause. Am nächsten Morgen zeigten sie dem Professor ihren Fund. »Räumen Sie aus!« sagte Walther. Kellermann brachte abermals das Rohr zum Vorschein und außerdem noch andere Gegenstände, die er am vergangenen Abend übersehen hatte. »Was ist das?« fragte Professor Walther. »Wir haben keine Ahnung.« »Was - das wissen Sie nicht?« Beate und Kellermann schüttelten den Kopf. »Das ist«, sagte Professor Walther gewichtig, »ein vollständiges, in seine Einzelteile zerlegtes Maschinengewehr!« * In diesen Tagen sprach irgendwo in der großen Stadt Frankfurt ein schwarz maskierter Mann zu seinen unmaskierten Zuhörern: »Nachdem vor drei Jahren unser Plan A fehlschlug, leiteten wir Plan B ein. Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß Plan B abgeschlossen ist. Wir sind nicht nur auf die Katastrophe vorbereitet, wir sind auch dafür gerüstet, nach dem Untergang der Welt weiterzuleben!« Diese Mitteilung wurde mit derselben Art von Applaus aufgenommen, die man schon seit Jahren dem Maskierten zollte - zögernd und verhalten, als fürchte man sich. * Gegen Mitte September wurde die Lage kritisch. Die Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit - von vielen kurz GEM genannt überschüttete die Bevölkerung mit Meldungen, in denen der wahre Zweck der angelegten Bunker enthüllt wurde. Die Wut der Menschheit richtete sich gegen diese Bauwerke, in denen wenige überleben sollten. Nur der Tatsache, daß die Bunkereingänge von Truppen verteidigt wurden, denen auf Grund der ärztlichen Gutachten zugesagt worden war, daß sie ebenfalls zu den Auser-
wählten gehörten, war zu verdanken, daß die Bunker intakt blieben. Inzwischen, waren die Befunde vom Innenministerium beurteilt worden. Durch ein eigens dazu eingerichtetes Botensystem wurden die Tauglichen von ihrem Glück benachrichtigt. Auf dem Schreiben, das Kellermann erhielt, stand kurz und bündig: Sie bewohnen mit Herrn Professor Dr. Walther und Herrn Dr. Leclera zusammen Zelle Nr. 231 auf Sohle 86 des Bunkers C 57. Eine entsprechende Benachrichtigung hatten Walther und Leclera erhalten. Vor Angst und Sorge zitternd, rannte Kellermann zu Beate, um zu erfahren, welchen Bescheid man ihr gegeben hatte. Er atmete auf, als er erfuhr, daß auch Beate eine Benachrichtigung bekommen hatte. Am 14. Oktober 1978 war die Einlagerung von Maschinen und Geräten in dem Bunker beendet. Man begann mit der Einweisung der Menschen. An jedem Tag wurden fünfzehntausend Menschen eingelassen, so daß man hoffen durfte, etwa fünfzig Stunden vor der Katastrophe die Bunkertüren zu schließen. Der Transport der Bunkerbesatzung erwies sich als äußerst schwierig. Die grenzenlose Wut der Bevölkerung richtete sich gegen die gepanzerten Wagen, mit denen die Menschen zum Bunker gebracht wurden. Hunderttausend Soldaten übernahmen den Schutz der hunderttausend Zivilisten. Nur der vorzüglichen Bewaffnung war es zu verdanken, daß keinerlei Verluste zu beklagen waren. Professor Walthers Arbeitsteam sollte am 26. Oktober eingeschleust werden. Das war knapp zwei Tage vor der Sekunde X. Jetzt nahm Vulkan schon die Hälfte des Firmaments ein. Die Nächte waren taghell - erfüllt von dem grausamen weißen Licht des riesigen Planeten. Die Wetterwarten meldeten Stürme nie gekannter Stärke. Vulkane brachen in Gebieten aus, die seit Jahrtausenden ruhig gewesen waren. Seebeben traten auf, zur Zeit der Flut trieb das Meer über die deutsche Küste bis hundert Kilometer ins Land hinein. In Professor Walthers Institut wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Walther selbst dirigierte seine Helfer. »Nehmen Sie mit, was für unsere Arbeit wichtig ist, und lassen Sie das andere liegen.« Diese Bemerkung wiederholte er in kurzen Abständen und kümmerte sich nicht darum, wie wenig sie von Nutzen war.
Gegen Mittag erschien Kellermann. Er war am Bunkereingang gewesen, um die Einschleusungsarbeiten zu überwachen. »Wo ist Beate?« fragte er. »Schon zum Bunker gefahren«, antwortete Walther kurz angebunden. »Aber dann hätte ich ihr begegnen müssen«, sagte Kellermann erschreckt. Walther zuckte mit den Schultern. »Bei dem Verkehr?« Kellermann ging zum Telefon. Es dauerte eine Weile, bis sich die Bunkerwache meldete. »Ist Fräulein Schläger dort?« fragte Kellermann. »Nein - sie ist nicht hier.« »Sind Sie sicher, daß sie nicht schon eingefahren ist?« »Absolut sicher! Dann wäre sie ja registriert.« Kellermann knallte den Hörer auf die Gabel. Sein Gesicht war weißer als das Licht des Vulkan. »Sie ist nicht dort!« keuchte er. Walther und Leclera hielten in ihrer Arbeit inne. »Aber wo soll sie sein?« fragte Leclera ratlos. »Ich weiß nicht. Ich gehe sie suchen«, sagte Kellermann. »Aber der Bunker wird in ein paar Stunden geschlossen!« Kellermann sah Leclera wütend an. »Glauben Sie, ich will allein im Bunker sitzen - ohne Beate? Machen Sie Ihren Bunker ruhig zu, wenn ich sie nicht finde.« Er stürmte davon, ohne auf Walthers und Lecleras Einwände zu hören. Erst als er seinen Wagen anließ, begann sein Verstand wieder normal zu arbeiten. Er griff nach der Maschinenpistole, die er in den letzten Wochen stets auf dem Sitz neben sich liegen hatte, und überzeugte sich davon, daß sie geladen war. Die Straßen der Stadt wimmelten von Fahrzeugen aller Art. Die Menschheit hatte der Wahn erfaßt, sie sei im Gebirge sicherer als in der Steinwüste der Stadt. Autos waren fast keine mehr zu sehen, weil die Tankstellen seit Wochen ihren Dienst eingestellt hatten - dafür um so mehr selbstgezimmerte Handwagen und Schiebekarren. Kellermann erzwang sich seinen Weg, indem er ab und zu zum geöffneten Fenster hinaus Warnschüsse mit der Maschinenpistole abgab. Er schämte sich seiner Brutalität: aber er gestand sich auch ein, daß es keinen anderen Weg gab, um Beate zu helfen.
Ohne einen Beweis dafür zu haben war er fest davon überzeugt, daß sie in Gefahr schwebte. Er erreichte die Ausfallstraße, die zum Bunker führte. Er war sich darüber im klaren, daß er bei seiner Suche nur dann Erfolg haben könne, wenn Beate ebenfalls diese Straße erreicht hatte. Von hier gab es außer ein paar kümmerlichen Feldwegen keine Abzweigungen. Wenn jemand Beate überfallen hatte, dann mußte er sie entweder auf der Straße liegenlassen oder sie auf dieser Straße mitnehmen. Kellermann knirschte mit den Zähnen, als er daran dachte, daß Beate ebensogut im Gewühl der Stadt schon etwas zugestoßen sein könne. »Lieber Gott - gib, daß es nicht so ist!« flehte er inbrünstig. Je weiter Kellermann sich von der Stadt entfernte, desto spärlicher wurde der Verkehr. Offenbar hatte die Welle der Stadtflucht eben erst begonnen. Kellermann trieb den Wagen auf hundertfünfzig Stundenkilometer: er begann jedoch vorsichtiger zu fahren, als er zum erstenmal feststellte, daß der Sturm ihn mit einer Bö erfaßt hatte und ihn um zwei Meter zur Seite hob. Er untersuchte jeden der sieben Feldwege, die zwischen dem Stadtrand und dem Bunker von der Straße abführten. Bei den anhaltenden Regenfällen der vergangenen Tage mußte leicht zu erkennen sein, ob der Weg in der letzten Zeit von einem Wagen benutzt worden war. Kellermann fand keinen Hinweis. Fünf Kilometer vor dem Bunker fand er Beates Wagen. Er lag umgekippt im Straßengraben: die Motorhaube war eingedrückt. Kellermann stieg aus und untersuchte das Fahrzeug. Nach wenigen Sekunden hatte er die Einschußstellen im linken Hinterrad gefunden und festgestellt, daß man Beate durch Schüsse in den Reifen zum Halten gezwungen hatte. Wahrscheinlich war der Wagen beim Bremsen von der Straße abgekommen und in den Graben gefahren. Kellermann nahm sich Zeit, seine Maschinenpistole frisch aufzuladen, und fuhr weiter. Beim Bunkereingang hielt er an. »Ist Fräulein Schläger immer noch nicht angekommen?« fragte er die Wache. »Nein.« »Was ist in der letzten Zeit hier alles vorbeigekommen?« Der Posten zuckte mit den Schultern. »Ein paar Leute mit Schiebekarren und eine Kolonne von etwa zehn Lastwagen.«
»In welcher Richtung?« »Dort hinauf!« Der Posten deutete mit dem Daumen über die Schulter. Kellermann bedankte sich flüchtig und fuhr weiter. Nach zehn Kilometern sah er zweihundert Meter vor sich den letzten Lastwagen der Kolonne. Sie schob sich, als sei sie schwerbeladen, im Fußgängertempo die steile Straße hoch. Kellermann hatte eine Idee. Er hängte sich die Maschinenpistole um, stieg aus und hetzte den Bergrücken hinauf, um den die Straße eine Serpentinenkurve bildete. Als er den Kamm erreichte, bog der letzte Wagen der Kolonne schon hinter ihm um die Kurve. Kellermann rutschte mehr, als er lief, den Hang bis zur Hälfte hinunter und verbarg sich hinter einem Busch. Er war nicht sicher, ob er so gut schießen könne, daß es ihm gelingen würde, den letzten Wagen aufzuhalten: aber er wußte, daß wenigstens das Geräusch der fahrenden Kolonne so laut war, daß man seinen Schuß nicht hören konnte. Er legte den Bedienungshebel seiner Waffe auf Einzelschuß und wartete. Mit quälender Langsamkeit schlich die Kolonne vorwärts. Die Wagen hielten einen Abstand von etwa fünfzig Metern. Kellermann legte an. Er zielte auf eine Stelle der Straße, die in Höhe der Lastwagenräder lag, und wartete, bis eines der Räder des letzten Wagens in sein Visier kam. In diesem Augenblick drückte er ab. Trotz seiner Angst begann Kellermann zu grinsen, als er sah, daß der Wagen jetzt hinkte. Er fuhr noch etwa zehn Meter weiter und blieb dann stehen. Zwei Männer stiegen aus, stellten sich vor den zerschossenen Reifen und gestikulierten aufgeregt. Auch der zweitletzte Lastwagen blieb stehen. Ein Mann stieg aus und lief zurück. Einer der beiden Männer sah ihn kommen und rief ihm etwas zu, was Kellermann wegen des Motorenlärms nicht verstehen konnte, was aber den anderen bewog, umzukehren, wieder einzusteigen und weiterzufahren. Fünf Minuten später war die Kolonne um die nächste Biegung verschwunden. Der beschädigte Wagen stand allein. Kellermann kroch das letzte Stück des Hanges hinunter. Mit der Maschinenpistole im Anschlag übersprang er den Straßengraben und stand den beiden Fahrern auf fünf Meter Entfernung gegenüber. »Hände hoch!« kommandierte er.
Die beiden fuhren herum und hoben zögernd ihre Arme. »Wo ist das Mädchen?« Die beiden sahen sich an. Sie verstellten sich so schlecht, daß Kellermann auf den ersten Blick erkannte, daß ihre Bestürzung gespielt war. »Wir drei haben nicht viel zu verlieren - wenn das Mädchen nicht gefunden wird«, sagte er kalt und sachlich. »Ich zähle bis drei. Wenn ich bis dahin nicht weiß, wo sie ist, mache ich meinen Finger krumm!« Die beiden Männer zuckten wie auf Kommando mit den Schultern. »Eins ... zwei ...« »Im vordersten Wagen!« knirschte einer von den beiden. Kellermann blieb kalt: er bemühte sich, seine Erleichterung nicht zu zeigen. »Umdrehen!« befahl er. Die Männer drehten sich um. »Ich werde euch jetzt zusammenschnüren! Wenn ihr mich belogen habt, komme ich zurück und schicke euch in die Hölle.« »Es stimmt«, sagte der eine leise. »Was habt ihr geladen?« »Munition.« Mit dem Lauf seiner Waffe schlug Kellermann hart und erbarmungslos zu. Er fesselte die Bewußtlosen provisorisch - dabei gab er sich nicht der Hoffnung hin, daß sie sich nicht befreien könnten, sobald sie erwachten. Er hatte den Eindruck, sie hätten die Wahrheit gesagt. Kellermanns Plan in seiner Einfachheit und Durchschlagskraft war in Sekunden fertig. Er hatte eine Möglichkeit, die langsam fahrende Kolonne zu überholen, wenn sie noch weit zu fahren hatte und er sich beeilte. Er kannte diese Straße wie seine eigene Hosentasche und wußte genau, welchen Weg er zu nehmen hatte, um die zahllosen Haarnadelkurven abzukürzen. Er war am Ende seiner Kräfte, als er eine Dreiviertelstunde später eine Stelle erreichte, die die Kolonne im Laufe der nächsten zwanzig Minuten passieren mußte. Kellermann lag auf dem steilen Stirnhang einer Bergnase, um die herum die Straße eine besonders scharfe Kurve beschrieb.
Nach fünf Minuten wurde das Motorengeräusch der Lastwagen hörbar. Sie bewegten sich immer noch im Schrittempo. Kellermann schaltete seine Waffe auf Dauerfeuer. Zehn Minuten später erkannte er, daß der Abstand zwischen den einzelnen Wagen sich vergrößert hatte. Er schnaufte befriedigt. Den ersten Lastwagen ließ er ungehindert die Kurve passieren. Auf den zweiten legte er an. Die Maschinenpistole rüttelte und stieß in seiner Hand, als sie ein ganzes Magazin in den Kastenaufbau des Verbrecherfahrzeuges spie. Eine Stichflamme schoß aus dem Verdeck. Der Druck der Explosion preßte Kellermann fest an den Boden, der Donner nahm ihm fast das Gehör. Er war jedoch sofort auf den Beinen. Mit einem kurzen Blick überzeugte er sich davon, daß der explodierte Lastwagen die Straße versperrte. Er sprang los und hetzte über den Rücken der Bergnase hinüber auf die andere Seite. Der erste Lastwagen hatte haltgemacht. Der Donner der Explosion mußte auch durch das Motorengeräusch hindurch hörbar gewesen sein. Durch dichtes Buschwerk sprang Kellermann hinunter auf die Straße. Zwei Männer waren im Begriff, auszusteigen und zurückzulaufen. Kellermann hielt sie auf. »Geben Sie das Mädchen heraus!« Seiner Stimme war nicht die leiseste Aufregung anzumerken. Die beiden waren bewaffnet - ihre Hände fuhren blitzschnell zu den umgeschnallten Pistolentaschen - aber Kellermann hob mit einem Ruck die Maschinenpistole und richtete ihren Lauf so, daß niemand über seine Absichten Zweifel haben konnte. »Also wo?« fragte er. Sie deuteten gleichzeitig mit dem Daumen über ihre Schulter. Kellermann trat auf sie zu und riß ihnen die Waffen fort. »Hinten drin«, sagte der eine. »Aufmachen!« befahl Kellermann. »Es macht mir wirklich nichts aus, bei der geringsten verdächtigen Bewegung sofort zu schießen.« Die beiden machten sich an der Tür des Kastenaufbaues zu schaffen. »Einer genügt«, sagte Kellermann. »Der andere auf die Seite aber so, daß ich ihn sehen kann!« Er ließ ihnen keine Chance. Er mußte damit rechnen, daß jeden Augenblick Leute von den hinteren Wagen auftauchen konnten.
Zweien gegenüber fühlte er sich mit seiner Maschinenpistole sicher; aber gegen mehrere konnte er sicher nicht aufkommen. Der Mann hatte die Tür geöffnet und deutete in das Innere des Aufbaues hinein. »Soll ich sie holen?« Kellermann dachte an Waffen und Munition im Wagen und sagte: »Nein. Stellen Sie sich mit Ihrem Kumpan hierhin!« Er deutete auf eine Stelle, die er auch sehen konnte, wenn er in den Wagen hineinkletterte. Die beiden Männer gehorchten. Mit einem Satz sprang Kellermann auf den Wagen und wandten den beiden sofort wieder das Gesicht zu. »Beate?« rief er. »Ja - hier!« kam eine leise Stimme aus dem Innern des Aufbaues. Kellermann tastete sich vorsichtig rückwärts. Die beiden Fahrer ließ er keine Zehntelsekunde aus den Augen. Beate lag auf einer länglichen Kiste. Sie war gefesselt. Kellermann zog ein Taschenmesser hervor und riß es mit den Zähnen auf. Ohne hinzusehen, schnitt er die Fesseln durch. »Können Sie sich bewegen?« »Ja.« »Stehen Sie auf. Kommen Sie mit!« Beate sprang vom Wagen. Eine Sekunde lang mußte er den beiden Männern den Rücken zudrehen. Als er herumfuhr, griff der eine gerade nach der Pistole, die Kellermann in den Straßengraben geworfen hatte. Kellermann schoß, ohne zu zögern. Der Mann kam nicht mehr dazu, einen Schuß abzufeuern. Sein Kumpan stand sekundenlang bleich und zitternd da, dann drehte er sich um und lief zurück, auf den explodierten Wagen zu. »Los - weg von hier! Wahrscheinlich sind die Schüsse gehört worden!« Sie hetzten den Hang hinauf. Sie hörten Schreie hinter sich. »Man hat den Toten gefunden!« keuchte Kellermann. »Weiter los!« Sie nahmen den gleichen Weg, den Kellermann hierher benutzt hatte. Die Tatsache, daß die Verfolger keine Ahnung hatten; in welcher Richtung sie sich bewegten, gab ihnen einen kleinen Vor-
sprung. Sie benutzten ihn, um sich eine Weile auszuruhen und zu verschnaufen. »Sie scheinen mächtige Angst vor dem zu haben, was ich weiß!« »Glauben Sie, daß sie uns einholen?« fragte Beate ängstlich. Kellermann schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Sie wissen ja nicht, wohin wir wollen!« Er glaubte selbst nicht an das, was er sagte - auch Beate verlor ihre Zuversicht, als sie einige Minuten später das Rufen der Verfolger hinter sich hörten. »Weiter!« keuchte er und lief schneller. Auf geradem Weg waren es bis zum Wagen, wenn sie ihr bisheriges Tempo beibehielten, noch etwa zehn Minuten. Kellermann betete zum zweitenmal an diesem Tag - daß es ihm gelingen möge, das Auto zu erreichen. Die Verfolger waren bessere Läufer als der ermattete Mann und die furchtsame Frau. Vier Minuten, bevor sie den Wagen erreichten, mußte Kellermann schießen. Der vorderste der Verfolger warf die Arme hoch und brach zusammen. »Schneller!« schrie Kellermann. Im Laufen gab er Beate den Wagenschlüssel. »Fahr - ich schieße!« Sie rutschten den letzten Hang hinunter. Oben auf dem Kamm tauchten die Verfolger auf. Sie konnten sie nicht sehen: aber sie schossen pausenlos. Im Straßengraben verschnauften sie zum letztenmal. Vor ihnen lag eine sechs Meter breite freie Fläche, die sie zu überqueren hatten. »Laufen Sie um den Wagen herum!« keuchte Kellermann. »Ich decke Sie!« Beate hastete los. Kellermann hatte sich umgedreht, um die Verfolger im Auge zu behalten. Beate erreichte den Wagen, ohne beschossen zu werden. Sie winkte durch die Seitenfenster hindurch. Kellermann sprang auf und hetzte über die Straße. Schüsse bellten auf - Geschosse sirrten an ihm vorüber. Er warf sich in den Hintersitz. »Los! Fahren Sie im Rückwärtsgang!«
Der Wagen stand verkehrt. Aber es ging jetzt nur darum, so schnell wie möglich aus dem Schußbereich der Verfolger zu kommen. Zum Wenden blieb keine Zeit. »Ziehen Sie Ihren Kopf ein!« rief Kellermann Beate zu, während er mit dem Lauf seiner Waffe die Seitenscheibe durchstieß. Er gab einige ungezielte Schüsse ab und zwang dadurch die Verfolger in Deckung. Sie hatten Zeit, den Wagen um die nächste Kurve zu bringen. Damit waren sie außer Sichtweite des Gegners. »Der rechte Vorderreifen ist platt!« sagte Beate. Kellermann lachte grimmig ... »Ziemlich viel platte Reifen heute«, sagte er. »Wir fahren weiter - wenden Sie!« Beate war eine ausgezeichnete Fahrerin. Trotz der zahlreichen Kurven und des lädierten Vorderreifens schaffte sie die Strecke bis zum Bunker in kurzer Zeit. »Wie sind Sie eigentlich in die Hände dieser Verbrecher geraten?« fragte Kellermann. »Ich fuhr die ganze Strecke hinter ihnen her. Vielleicht glaubten sie, ich hätte das Verladen der Munitionskisten beobachtet. Jedenfalls zwangen mich zwei Bewaffnete, die plötzlich an der Straße standen und meinen Reifen durchschossen, zum Aussteigen.« »Die GEM?« Beate nickte nur. »Keine Ahnung, was die jetzt noch mit so viel Munition wollen.« »Was ist denn da los?« fragte Kellermann entgeistert, als sie um die letzte Kurve bogen. Vor der Bunkerschleuse tobte eine tausendköpfige Menschenmenge. »Sie berennen den Bunker!« sagte Beate ängstlich. »Wie sollen wir da durchkommen?« »Fahren Sie einfach drauflos!« sagte Kellermann. Beate gab Gas. Der Wagen schlingerte und schien dadurch auf die Bedrohten gefährlicher zu wirken. Widerwillig wichen sie zur Seite. Fäuste trommelten auf das Wagendach, Steine polterten gegen die Türen. Einer flog durch die zertrümmerte Scheibe herein und verletzte Kellermann am Kopf. Beate schrak zusammen. »Sind Sie verletzt?« »Macht nichts! Weiter!« Kellermann gab ein paar Warnschüsse ab - die letzten Patronen, die er hatte. Sie erreichten das Tor. Wachen rissen es auf und
hielten diejenigen zurück, die nachdrängen wollten. Steine flogen über den Zaun. »Es wird höchste Zeit!« rief ein Posten. »Sie verdanken es Professor Walther, daß wir noch hier draußen stehen!« Sie hasteten zur Schleuse hinüber. Walther stand in der geöffneten Tür und winkte ihnen. Stolpernd erreichten Kellermann und Beate den Eingang. »Gott sei Dank, daß Sie endlich da sind!« sagte Walther. »Ich dachte schon, ich müßte mir Vulkan allein ansehen.« Von jenseits des Zaunes fiel ein einzelner Schuß - jemand mußte eine Schußwaffe besitzen. Professor Walther wurde blaß, stöhnte schwach und sank zu Boden. Einer der Posten wollte hinausrennen, um festzustellen, wer geschossen hatte. »Lassen Sie das!« schrie ihn Kellermann an. »Schließen Sie die Tore!« Mit leisem Surren schlossen sich die mächtigen Tore aus Metallplastik. In dem Augenblick, in dem die rote Kontrollampe an der Decke aufleuchtete, war der Bunker hermetisch von der Umwelt abgeschlossen. Zahlreiche Sicherheitsvorrichtungen sorgten dafür, daß er von der rasenden Menge nicht gestürmt werden konnte. Kellermann wandte sich zu Professor Walther. Er hatte die Augen aufgeschlagen und sah ihn mit traurigem Lächeln an. »Nun werden Sie sich das Wunder doch allein ansehen müssen«, sagte er matt. »Unsinn, Professor! Sie kommen mit uns hinunter - Sie werden es überstehen!« Er schob dem Professor die Hand unter den Kopf, um seine unbequeme Lage zu erleichtern. Er spürte, wie Walther versuchte, den Kopf zu schütteln. »Es ist vorbei. Ich bleibe hier oben.« Kellermann machte Anstalten, ihn vom Boden aufzunehmen. Walther aber winkte ab. »Lassen Sie das!« Mit letzter Kraftanstrengung hob er den linken Arm, um auf seine Uhr zu sehen. »Ihr habt noch genau zwanzig Stunden und dreiunddreißig Minuten Zeit, Kinder. Der Durchgang beginnt morgen um vierzehn Uhr fünfundfünfzig. Seht zu, daß ihr hinunterkommt. Und macht eure Sache - gut!«
Kellermann spürte, wie sein Körper sich ein letztes Mal aufbäumte. Fassungslos und mit Tränen starrte er auf die gebrochenen Augen. Mit behutsamer Geste drückte er sie zu. »Wir fahren ein!« kommandierte er lauter, als es nötig gewesen wäre. Die letzten Stunden der alten Erde verbrachten die Menschen schweigend im Bunker. Beate Kellermann und Leclera verbrachten die Zeit bis zur Katastrophe zusammen in Zelle 231 auf Sohle 86. In diesen zwanzig Stunden fiel kaum ein Wort. Walthers Tod hatte ihnen den letzten Rest von Zuversicht geraubt, der ihnen angesichts der Katastrophe noch übriggeblieben war. Gegen Mitternacht machten sich die ersten Erdstöße in der Nähe des Bunkers bemerkbar. Das Gebilde begann zu schwanken. Die Apathie unter den Menschen wich der Angst. Jedermann wußte, daß der Bunker die Katastrophe nur überstehen konnte, wenn er in der Lage war, den Erdstößen elastisch nachzugeben: aber in der uralten Angst der Menschheit vor dem Unbekannten wäre es den Leuten lieber gewesen, der Bunker hätte sich nicht bewegt. Die ersten Vorboten der Katastrophe bewirkten wenigstens in Zelle 231, daß die Gedanken der drei Trauernden sich anderen Dingen zuwandten. »Ich bezweifle immer noch, daß der Bunker der Katastrophe standhalten wird«, sagte Leclera. Kellermann wiegte bedächtig den Kopf. »Was in unserer Macht stand, wurde getan. Alles andere sollten wir höheren Mächten überlassen. Es liegt längst nicht mehr in unserer Hand, ob wir überleben werden oder nicht.« »Sie haben recht. Kellermann!« Kellermann stand auf. »Ich werde mich mit Oberst Henning in Verbindung setzen. Er muß über Professor Walthers Tod informiert werden.« Er verließ die Zelle. Oberst Henning war der militärische Kommandant des Bunkers, während Professor Walther sein ziviler Vorstand gewesen war. Kellermann erschien es völlig unsinnig, kurz vor der Katastrophe an die Neuwahl eines zivilen Vorstandes zu denken: aber ein Funke des alten Ordnungsgeistes war noch in ihm lebendig.
Oberst Henning wohnte auf Sohle 100 - dem tiefsten Teil des Bunkers. Kellermann benutzte einen der zahlreichen kleinen Aufzüge, die die hundert Sohlen des eigentlichen Bunkers miteinander verbanden. Den Verkehr auf den einzelnen Sohlen hielten eine große Anzahl von Elektrokarren aufrecht. Sie konnten durch den Druck auf einen Knopf der in Zweihundert-Meter-Abständen in die Wände eingelassenen Rufanlagen herbeigeholt werden. Oberst Henning wohnte nicht nur auf der untersten Sohle des Bunkers, sondern seine Zelle lag zudem noch am äußersten Ende des Ganges. Von seinem Aufzugsschacht aus hatte Kellermann noch etwa vier Kilometer zu fahren. Er mochte die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben, als ein weiterer heftiger Erdstoß den Bunker erschütterte. Der Stoß traf Kellermann mit voller Wucht und riß ihm das Steuer des Wagens aus den Händen. Das Fahrzeug beschrieb eine Kurve und prallte mit beträchtlicher Geschwindigkeit gegen die Wand des Ganges. Etwas benommen stieg Kellermann aus. Der Wagen war leicht genug, daß er ihn herumheben und an die Wand stellen konnte, so daß er den übrigen Verkehr nicht mehr behinderte. Er ging hundert Meter bis zur nächsten Rufanlage. besorgte sich einen neuen Wagen und legte den Rest der Strecke unbehindert zurück. Oberst Henning nahm Kellermanns Meldung schweigend entgegen. »Das ist ein schwerer Schlag für uns!« sagte er. »Abgesehen davon, daß ich Professor Walther gern leiden mochte, hätte er uns später weiterhelfen können.« »Ich denke, sein Tod macht eine Neuwahl notwendig«, sagte Kellermann. Oberst Henning lachte böse. »Glauben Sie, daß jetzt jemand an eine Verwaltung denkt?« »Nein. Aber etwas muß geschehen!« Henning legte sich in seinem Sessel zurück und streckte die Beine unter den Schreibtisch. »Warum werden Sie nicht der Nachfolger?« »Ich?« Henning nickte. »Natürlich! Erstens wissen wir nicht, ob wir in vierundzwanzig Stunden überhaupt noch einen Vorstand brauchen - und zweitens läßt sich eine Wahl ohnehin erst dann durchführen, wenn die Ge-
müter sich beruhigt haben. Bis dahin sind Sie, denke ich, der geeignete Mann.« Henning war nicht umzustimmen. »Wollen Sie einen Blick in die Außenwelt werfen?« fragte Henning, und als Kellermann nickte, führte er ihn in die Beobachtungskabine nebenan. »Lange werden die Telesender nicht mehr arbeiten.« Auf dem Bildschirm war ein Trümmerfeld zu sehen, das von haushohen Wogen überschwemmt wurde. Auf den Wellen trieben winzige Nußschalen, in denen Menschen - nur als kleine Punkte sichtbar - saßen. Riesige Lastkähne lagen zerschmettert zwischen den Ruinen der Häuser. »Welche Stadt?« konnte Kellermann nur hervorbringen. »Hamburg«, sagte Henning und biß sich auf die Lippen. Er stellte einen anderen Sender ein, und auf dem Bildschirm erschienen lodernde Feuerbrände. Glühende Lavaströme ergossen sich durch Straßen und räumten Hochhäuser fort, als wären es Streichholzschachteln. »Das ist ...?« »Das war München.« Fast im selben Augenblick wurde der Bildschirm dunkel, ohne daß Henning ausgeschaltet hatte. »Man muß sich beeilen, wenn man das Ende sehen will«, murmelte er und suchte nach anderen Stationen. Jetzt erschien das Bild einer Stadt, die man an ihrem einstigen Symbol noch erkennen konnte, wenn es auch schon halb zerstört war: Paris. Die Seine glich einem kochenden Schwefelmeer: sie trat an verschiedenen Stellen über die Ufer und wurde überall vom zuckenden Rot der Brände beleuchtet. Viele sprangen aus Angst vor dem Feuer in den Fluß und fanden hier den Tod. Kellermann wandte sich ab. »Das ist unerträglich!« Henning saß mit grauem, verfallenem Gesicht vor dem Gerät. »Sie sollten sich zwingen, das zu beobachten. Wir sind die einzigen Augenzeugen. Lange werden die Kameras sowieso nicht mehr ...« Er kam nicht weiter. Vor dem Objektiv fiel eine Hochspannungsleitung in den Fluß, und im selben Augenblick wurde der Schirm schwarz. Während der Oberst weiter verbissen an den Knöpfen drehte, ging Kellermann hinaus. Niemand konnte von ihm verlangen, sich diese grausigen Szenen anzusehen.
Kellermann kehrte zu seiner Zelle zurück. Weder Beate noch Leclera interessierten sich dafür, was er erreicht hatte: Kellermann setzte sich und nahm an ihrem Schweigen teil. Gegen Morgen begannen die Erdstöße zahlreicher zu werden. Ab elf Uhr vormittags gab es keine Unterbrechung mehr. Der Bunker schwankte wie ein dünner Baum im Sturm. Die ersten Fälle akuter Angstpsychose wurden vom Wachdienst gemeldet. Kellermann schnallte seinen Waffengürtel um und verließ die Zelle, um an Ort und Stelle nach dem Rechten zu sehen. Er kam keine hundert Meter weit. Eine Horde von hundert johlenden Menschen kam ihm durch den schwankenden Gang entgegengestürmt. Kellermann stellte sich ihnen breitbeinig in den Weg und feuerte ihnen ein paar Warnschüsse entgegen. Die Horde kam zum Stehen. »Was ist los?« fragte Kellermann hart. »Wir wollen raus!« schrie jemand aus dem Hintergrund. Kellermann blieb ruhig. »Sie wissen ganz genau, daß es nur eine Möglichkeit gibt, die Katastrophe zu überleben - nämlich hier im Bunker. Wenn Sie hierbleiben, haben Sie eine kleine Chance. Wenn Sie hinauffahren, haben Sie gar keine mehr!« Die Menge ließ sich nicht beschwichtigen. »Raus hier!« brüllten ein paar Stimmen. Kellermann zuckte mit den Schultern. »Sie sind auf dem falschen Wege! Drehen Sie um - ich bringe Sie zum Aufzug!« Mit gezogener Waffe trieb er die Meute vor sich her. Bis zum Hauptaufzug, der an die Oberfläche führte, waren es knapp dreihundert Meter. Kellermann rief die große Aufzugskabine herbei. »Sie haben alle auf einmal Platz drin. Steigen Sie ein!« Die Leute zögerten. »Worauf warten Sie?« rief Kellermann. »Beeilen Sie sich - wir legen keinen Wert auf Feiglinge hier unten!« Der Erste, der Zweite, der Dritte betraten unsicher die Kabine. Einer wandte sich um. »Warum halten Sie uns für Feiglinge? Wir sind mutiger als die, die sich hier unten verkriechen!« Kellermann machte eine verächtliche Handbewegung.
»Ihr seid verrückt - verrückt vor Angst, das ist alles! Ihr könnt nicht mehr klar denken. Sonst würdet ihr einsehen, daß eure einzige Chance hier unten liegt.« Er sprach mit Absicht so laut, daß jeder ihn verstehen konnte. Fünf Mann waren in der Kabine, keiner folgte ihnen mehr. Durch das Schwanken und Ächzen des Bunkers hindurch brachte Kellermanns Sicherheit Zweifel in die Herzen der Meuterer. »Meinen Sie?« fragte einer unsicher. »Da gibt es nichts zu meinen - ich weiß es!« Minuten vergingen in totem Schweigen. Das Stöhnen und Kreischen des durch die Schwankungen überanspruchten Materials war mit beängstigender Deutlichkeit zu hören. »Gut, wir bleiben«, sagte einer der Leute. Kellermann nickte ernst. »Natürlich! Aber merkt euch eines: Von diesem Augenblick an herrscht Ausnahmezustand. Jeder, der zum zweitenmal an einer Meuterei teilnimmt, wird erschossen! Geht zu euren Zellen zurück, haltet euch ein paar Stunden lang die Ohren zu und betet, daß wir es überstehen!« Kellermann setzte den Wachdienst davon in Kenntnis, daß im Bunker Ausnahmezustand herrsche. Um dreizehn Uhr fünfzig herrschte im ganzen Bunker wieder völlige Ruhe. Die Schwankungen wurden von Minute zu Minute stärker. »Wenn uns etwas passiert«, sagte Kellermann nachdenklich, »dann nicht deswegen, weil wir ertrinken oder ersticken, sondern weil das Material diese Schwankungen nicht aushält.« Bisher lag jedoch noch keine Meldung vor, daß eine Wand oder eine Decke gesprungen sei. In Zelle 231 erwarteten Beate, Leclera und Kellermann geduldig und ängstlich zugleich den Zeitpunkt der Katastrophe. »Noch zwanzig Minuten«, sagte Kellermann dumpf. Dabei durchfuhr die Zelle ein Stoß, der ihn fast vom Stuhl warf. Keiner von ihnen hätte später zu sagen vermocht, an was er in diesen letzten Minuten dachte. Niemand war mehr fähig, seine Gedanken beisammenzuhalten. Sie liefen wirr durcheinander zeigten abrißartig Bilder aus vergangenen Abschnitten des Lebens und gaukelten grausige Szenen vor, die im Augenblick sich auf der Oberfläche der Erde abspielten. Über allem aber stand die Bitte: »Herrgott - laß es uns überstehen!«
»Noch acht Minuten«, sagte Kellermann. »Hör auf damit!« Leclera fiel mitsamt seinem Stuhl um, als ein neuer, harter Stoß durch den Bunker fuhr. Kellermann half ihm auf. Er stemmte die Beine fest ein, um nicht umzufallen. Der Lärm steigerte sich. Sie konnten sich nur noch schreiend verständigen. Beate legte sich dicht an der Wand auf den Boden. »Hier kann ich wenigstens nicht mehr umfallen«, schrie sie. Kellermann kauerte sich neben sie. Sein Handgelenk hatte er auf sein linkes Knie gelegt und betrachtete ohne Unterbrechung die Uhr. »Ob Ihr es wissen wollt oder nicht«, schrie er plötzlich, »es ist soweit!« Außer an der Uhr war es nicht zu erkennen. Die Schwankungen hatten ihren Höhepunkt erreicht. Sie waren nicht rhythmisch, sondern völlig unregelmäßig. Um fünfzehn Uhr drei traf die Zelle einer der letzten, ganz harten Stöße. Kellermann wurde durch den Raum geschleudert und prallte mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Wand. Er verlor sofort das Bewußtsein. Als er aufwachte, hatte das Schwanken aufgehört. Er riß seinen Arm hoch und sah auf die Uhr: Siebzehn Uhr achtundzwanzig. »Was ist los?« keuchte er. Beate und Leclera standen neben ihm. »Es scheint vorbei zu sein!« * Am 30. Oktober 1978 beschloß Kellermann, Tagebuch zu führen. Als Vorstand des Bunkers fühlte er sich dazu verpflichtet, der Nachwelt eine Schilderung der großen Katastrophe zu übermitteln. 1. November 1978: Es sieht so aus, als hätten wir Glück gehabt. Die Katastrophe ist vorüber, und wir leben noch. Die Erdstöße haben zwar noch nicht an Wucht, aber an Zahl ganz deutlich nachgelassen. Nach Lecleras provisorischen Messungen registrieren wir etwa dreißig stärkere Erdbeben pro Tag.
Unser Bunker hat offenbar nicht in seine Normallage zurückgefunden. Wir registrieren eine Abweichung von der Senkrechten um etwas mehr als 4 Grad. Soweit feststellbar, sind der Katastrophe in unserem Bunker etwa fünfzig Menschen zum Opfer gefallen. Die meisten von ihnen starben an Herzschlag - etwa zehn durch unglückliche Stürze während der Periode der stärksten Schwankungen. Fünfzig von zweihunderttausend - das ist ein vierzigstel Prozent. Mit dieser Quote können wir zufrieden sein. 26. Januar ( PacTys Geburtstag) 1979: Wir haben den Aufzug zum erstenmal leer bis an die Oberfläche hinauffahren lassen. Dabei traten keine Hindernisse auf. Wegen der geringen Schräglage des Bunkers werden wir den Aufzug in Zukunft zwar nicht mehr voll beladen können, aber in unserer Situation macht es niemandem etwas aus, wenn er zur Entladung des Bunkers zwölfhundertmal anstatt tausendmal fahren muß. Wir registrieren nur noch zwanzig Beben pro Tag. Die Erde scheint langsam zur Ruhe zu kommen. Von den Fernsehaufnahmegeräten, die wir vor Eintritt der Katastrophe auf der Erdoberfläche installiert haben, ist keines übriggeblieben. Wir wissen nicht, wie es oben aussieht. Das Ertragen dieser Spannung erfordert ein großes Maß an Willenskraft. Der Bevölkerung des Bunkers geht es gut. Sie lebt in einer leichten Art von Melancholie und ist deshalb weniger empfänglich für Sorgen, die von außen her auf sie eindringen. 29. April 1979: Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und Beate einen Heiratsantrag gemacht. Sie sagt, ich sei ein Trottel, weil ich sie so lange hätte darauf warten lassen. Wir wollen in zehn Tagen heiraten. Die Zahl der Erdbeben hat weiterhin abgenommen - zum erstenmal auch ihre Stärke. Wir nehmen etwa zehn Beben pro Tag wahr. Die Erde ist noch lange nicht zur Ruhe gekommen. Wir müssen mindestens noch drei Jahre warten, wenn wir vorsichtig sein wollen, bis wir zum erstenmal an die Erdoberfläche vorstoßen. 12. Dezember 1979: Aus den letzten Meßwerten, die wir noch im Institut ermittelt haben, hat Leclera die exakte Bahngleichung des Vulkan aufgestellt. Er behauptet, daß Vulkan jetzt als Komet um die Sonne laufen und wegen seiner ungewöhnlich flachen Bahn nur alle achttausend Jahre in das Sonnensystem eindringen
werde. Meiner Ansicht nach hat er versäumt, den Einfluß der Erdschwere auf die Bahn des Vulkan einzubeziehen: aber er will meine Einwände nicht gelten lassen. 25. Mai 1980: Wir haben seit einem Monat kein Erdbeben mehr registriert. Dafür macht sich unter den Bunkerbewohnern eine Krankheit breit, die die Ärzte als Bunkerkrankheit bezeichnen. Wir sind gezwungen, eine Station für Nervenkranke einzurichten. 13. Dezember 1980: Vor zwei Stunden ist der stärkste Erdstoß durch den Bunker gelaufen, den wir jemals registriert haben. Er hat den Hauptschacht etwa sieben Kilometer unter der Erdoberfläche zusammengequetscht. Der Aufzug kommt nicht mehr durch. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß noch eine schmale Öffnung frei ist. Die erste Expedition an die Erdoberfläche wird also sieben Kilometer weit klettern müssen. Die Zahl der Nervenkranken ist inzwischen gewachsen. Wir werden mit dem Verlassen des Bunkers nicht mehr allzu lange warten dürfen. Andererseits haben wir auch erfreuliche Ereignisse zu verzeichnen: Im Laufe des letzten halben Jahres wurden mehr als fünfhundert Kinder geboren. Die Menschheit scheint sich auf ihre Pflichten zu besinnen. 20. März 1981: Die Bunkerkrankheit hat etwa dreißig Prozent der Bewohner erfaßt. Wir können nicht mehr länger warten. Seit dem starken Erdbeben vom 13. Dezember vorigen Jahres sind keine Stöße mehr registriert worden. Es sieht so aus, als sei die Erde nach der gewaltigen Katastrophe in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zur Ruhe gekommen. Der Bunker liegt immer noch schief. Unsere Instrumente zeigen eine Gravitation von 0 89 g an. Irgend etwas muß mit der Erde geschehen sein, was wir bis jetzt noch nicht erkennen können. Ich habe die Absicht, in den nächsten Tagen mit Leclera und ein paar anderen Männern zum erstenmal an die Erdoberfläche vorzustoßen. Leclera und ich sind davon überzeugt, daß es ungefährlich ist. 23. März 1981: Wir sind vor fünf Tagen aufgebrochen. Der Aufzug brachte uns bis an die Stelle, an der der letzte Erdstoß den Hauptschacht zusammengepreßt hat. Eine Öffnung von etwa drei Meter Weite ist freigeblieben. Ich hatte außer Leclera noch fünf gesunde Männer mitgenommen.
Beim Bau des Bunkers hatte man glücklicherweise darauf geachtet, daß durch die Katastropheneinwirkungen der Aufzug unter Umständen ausfallen könne. Man hatte daher in die Schachtwände Leitern eingebaut und in Abständen von fünfhundert Metern kleine Vorsprünge eingelassen, auf denen wir uns jetzt ausruhen konnten. Wir schleppten eine Menge Geräte und Waffen mit uns. Waffen schienen zwar völlig sinnlos zu sein, aber Leclera meinte: »Es gibt mehr Bunker auf der Erde als nur unseren einen. Niemand kann wissen, wie die anderen die Katastrophe überstanden haben. Vielleicht sind sie völlig durchgedreht und behandeln uns als Feinde.« Wir schafften die sieben Kilometer Steigmarsch in anderthalb Tagen, Wir hatten nicht geglaubt, daß es so anstrengend sein würde. Jemand, der eine Strecke von sieben Kilometern in der Ebene zurücklegt, kann sich keine Vorstellung davon machen, wie schwierig und anstrengend es ist, die gleiche Strecke in die Höhe zu klettern. Am Abend des 27. März erreichten wir die Schleuse. So müde wir auch waren, hielt uns dennoch nichts davon ab, sofort die eingebauten Geräte zu untersuchen. Sie waren völlig intakt. »Der Ausgang liegt frei!« schrie Leclera. Er fiel mir vor Begeisterung um den Hals. Das Außenmanometer zeigte an, daß auf den Bunkertoren nur der normale Luftdruck lag. Wir würden uns also nicht die Mühe machen müssen, durch eine hundert Meter dicke Wasserschicht oder durch einen neu entstandenen Berg hindurchzustoßen. Mit vor Freude verzerrtem Gesicht ging Leclera zu den Instrumenten zurück. »Außentemperatur 43° C«, sagte er, und etwas von der gewohnten Sachlichkeit kehrte in seine Stimme zurück. »Luftfeuchtigkeit 98 %.« Einer der Männer begann zu stöhnen. »Das ist ja das reinste Treibhaus!« »Besser als vierzig Grad minus«, tröstete Leclera. Er las weiter ab. »Gravitation 0,89 g. Auch hier - ich möchte wissen, was da draußen los ist.« Wir biwakierten in der Schleuse. Wir schalteten das Licht aus und schufen uns so die Illusion, es sei Nacht.
Am nächsten Morgen waren wir früh auf den Beinen. Niemand von uns hatte vor Aufregung länger als zwei Stunden schlafen können. Wir hätten müde sein sollen, aber wir waren die lebendigsten Menschen, die man sich vorstellen konnte. Als zivilem Vorstand des Bunkers stand es mir zu, die Schleusentore zu öffnen. Meine Hand zitterte vor Aufregung, als ich den Hebel umlegte. Summend begannen die Tore zur Seite zu gleiten. Sand knirschte. Brütend heiße Luft schlug uns entgegen. Draußen war es nicht sonderlich hell, obwohl wir nach unserer Uhr schon volles Tageslicht hätten erwarten dürfen. Wir traten hinaus. Heißer Wind umspülte uns. Die Umgebung war nicht wiederzuerkennen. Es war, als seien wir fünf Jahre mit der Untergrundbahn gefahren, um jetzt an einer anderen Stelle wieder an die Erdoberfläche zu treten. Nichts gar nichts erinnerte mehr an das, was früher hier gewesen war. Die Berge waren verschwunden. Unendlich weite Ebene breitete sich nach allen Seiten aus. Mit dem bloßen Auge konnte man kaum erkennen, daß sie leicht anstieg. »Der Anstieg liegt genau in nordöstlicher Richtung«, sagte Leclera. »Das ist unmöglich!« antwortete ich. »Unser Bunkertor zeigte ungefähr nach Südosten.« Leclera schaute mich verblüfft an. »Sieh dir doch den Kompaß an. Er zeigt die Steigung hinauf genau nach Norden.« Das stimmte. »Wahrscheinlich hat sich die ganze Geomagnetik während der Katastrophe verschoben«, vermutete ich. Leclera zuckte mit den Schultern. »Eine andere Erklärung gibt es kaum.« Wir schritten um den kleinen Hügel herum, der sich über dem Ausgang des Bunkers gebildet hatte. Der vorderste unserer Leute stieß einen erstaunten Ruf aus, als er um die Hügelkante bog: »Wasser! Ein See!« Wir liefen hinter ihm her. Von der Rückseite des Hügels aus war das Ufer eines Sees in etwa fünfhundert Meter Entfernung zu erkennen. Bis dorthin fiel die Ebene sanft ab. Wir rannten hinunter und erkannten im Laufen, daß es ein Meer sein mußte. Nirgendwo war auf der gegenüberliegenden Seite auch nur die Andeutung eines Ufers zu erkennen. Keuchend blieben wir am Wasser stehen.
»Wenn wir uns nach der alten Gradeinteilung richten«, sagte Leclera, »dann bedeckt dieses Wasser ganz Süddeutschland. Das läßt wenig Hoffnung für die Bunker, die in dieser Gegend gestanden haben.« Ich gab ihm recht. Die Tore eines jeden Bunkers waren gegen Wasserdruck bis zu einer Tiefe von fünfhundert Meter gesichert. Jeder Bunker, der tiefer als fünfhundert Meter unter der Wasseroberfläche lag, mußte ertrinken. Uns blieb nur die Hoffnung, daß dieses Meer flach sei. Wir nannten es das Süddeutsche Meer - obwohl wir von hier aus nicht übersehen konnten, welchen Bruchteil seiner Oberfläche das ehemalige Süddeutschland ausmachte. Es konnte ebensogut sein, daß dieses Meer bis weit nach Afrika hineinreichte. Zum erstenmal erinnerten wir uns daran, daß wir Ferngläser mitgebracht hatten. Wir betrachteten unsere Umgebung durch die leistungsstarken Gläser und erhielten andere Aspekte. Im jetzigen Norden, dem ehemaligen Westen also, zeigten sich am Horizont undeutlich Konturen eines Gebirges. Leclera pfiff durch die Zähne. »Nach der Sicht zu urteilen, ist es mindestens hundertfünfzig Kilometer von uns entfernt. Wenn das stimmt, dann liegen die höchsten Bergspitzen schätzungsweise bei sechstausend Metern.« Das war eine der Überraschungen, mit denen die neue Erde uns bedachte. Bergspitzen bis zu sechstausend Meter Höhe zwischen Bad Kreuznach und Kaiserslautern. Der Himmel war mit jagenden Wolken bedeckt; wir konnten die Sonne nicht sehen. Wir konnten nicht einmal erraten, wo sie steckte. Den Boden bedeckte dünner Graswuchs. Wir stellten es mit Befriedigung fest: Die Erde lebte noch. Bäume waren nicht zu sehen, ebensowenig Tiere. Aber uns war es vorerst wichtig genug zu wissen, daß überhaupt noch etwas am Leben war. Die Dinge, die wir brauchten, auch Tiere, hatten wir im Bunker. Das Gras zeigte uns, daß für alles eine Lebensmöglichkeit bestand. »Ich schlage vor, daß wir nicht mehr zurückkehren«, sagte Leclera. »Wir warten hier oben, bis der ganze Bunker entladen ist.« Ich war einverstanden. Wir konnten uns ein paar Zelte nach oben schicken lassen und hier ein Lager aufschlagen. Auch die Telefonverbindung zwischen Schleuse und Bunker hatte die Katastrophe überstanden. Ich benachrichtigte Oberst Hen-
ning davon, daß bei uns alles in Ordnung sei. Er versprach mir, ein paar Leute mit Zelten und Geräten zu schicken. Wir streiften fünf Stunden lang in der Gegend herum. Wir fanden nichts anderes als die ansteigende Ebene, das Gras und das Meer. Niemals wagten wir es, uns mehr als zwei Kilometer vom Bunkereingang zu entfernen. Leclera stieß mich plötzlich an. »Hast du nicht auch das Gefühl, daß es dunkler wird?« Ich hatte bisher noch nicht darauf geachtet - aber wenn ich mir den Himmel ansah, dann hatte ich deutlich den Eindruck, daß die Nacht hereinbrach. »Ja - und was ist Besonderes daran?« fragte ich. Leclera zeigte auf seine Uhr. »Wir haben zwei Uhr Nachmittags. Und jetzt wird es schon dunkel.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wer sagt dir, daß die Erde noch die alte Rotationsdauer hat? Oder - es muß noch gar nicht einmal so schlimm sein. Die Tageszeiten können sich ebensogut verschoben haben.« »Tatsächlich!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das hatte ich nicht bedacht.« Eine Viertelstunde später war es uns klar, daß die Nacht hereinbrach. Mit einer Schnelligkeit, die wir aus unseren Breiten nicht gewöhnt waren, wurde es dunkel. »Wie in der Äquatorgegend«, sagte einer der Männer nachdenklich. Wir verbrachten eine zweite Nacht in der Schleuse. * An dieser Stelle brach Kellermanns Tagebuch ab, weil er durch wichtige Ereignisse daran gehindert wurde, es weiterzuschreiben. * Gegen Morgen erwachte Kellermann früher, als er beabsichtigt hatte. Während er noch darüber nachdachte, was ihn geweckt haben mochte, hörte er das leise Kratzen an der Schleusentür.
Kellermann drehte sich auf die Seite und stieß Leclera an. Er war sofort wach. »Was ist?« Kellermann deutete auf die Tür, obwohl Leclera das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Hör mal!« Das Kratzen hatte nicht aufgehört. Jemand machte sich an der Schleusentür zu schaffen. Allein aus dem Geräusch war nicht zu erkennen, ob es Tiere oder Menschen waren. Leclera richtete sich auf. »Jemand will herein.« Sie krochen leise und vorsichtig zur Tür hin. Wenn sie die Ohren an das Metall preßten, hörten sie Stimmengemurmel, das von draußen kam. »Menschen«, flüsterte Leclera. Sie krochen zurück und weckten die übrigen Männer. »Jeder verhält sich so ruhig wie möglich!« befahl Kellermann. »Unbekannte versuchen, in den Bunker einzudringen. Wir werden sehen, wer das ist. Halten Sie Ihre Waffen schußbereit!« Kellermann überlegte fieberhaft. In Sekundenschnelle war sein Plan fertig. »Wir ziehen uns in den Schacht zurück. Dann öffnen wir das Schleusentor und lassen die Unbekannten herein. Sie werden glauben, daß sich das Tor durch ihre Manipulation von außen geöffnet hat. Sie werden nicht mißtrauisch sein. Das ist für uns die beste Möglichkeit, sie zu überwältigen.« Der Befehl wurde sofort befolgt. Die Männer kletterten in den Schacht hinein und postierten sich auf dem ersten Vorsprung, der knapp vier Meter unterhalb des Schachtrandes lag. Kellermann wartete, bis alle verschwunden waren. Dann löste er die Öffnung der Tore durch einen Knopfdruck aus. Während die Tore langsam zur Seite glitten, war er mit einem Satz bei der Schachtleiter und kletterte ein paar Stufen hinunter, so daß er gerade noch über den Schachtrand hinwegsehen konnte. Er hoffte, daß genügend Zeit verstreichen würde, bevor die Eindringlinge ihn entdeckten. Die gewaltigen Tore der Schleuse brauchten einige Sekunden, um so viel Platz freizugeben, daß ein Mensch hindurchschlüpfen konnte. Erstaunt stellte Kellermann fest, daß von draußen volles Tageslicht hereinfiel. Er fand jedoch keine Zeit, dieser Frage
nachzugehen. Der erste der Eindringlinge kam ihm merkwürdig bekannt vor. Im Bruchteil einer Sekunde registrierte er, daß es der Mann war, der damals mit Beate zusammen in den Rechenmaschinenraum des Instituts eingedrungen war, nachdem er ihr obwohl sie ihn gar nicht kannte - vorgelogen hatte, er habe Vulkan ebenfalls entdeckt. Hinter ihm kamen noch vier andere Männer, die Kellermann nicht kannte. Sie begannen, sich in der Schleuse umzusehen. Sie untersuchten die eingebauten Geräte, und Kellermann hörte, wie einer von ihnen sagte: »Donnerwetter! Dieser Bunker ist wesentlich feudaler eingerichtet als unserer.« Ein anderer antwortete: »Kunststück! Dieser hier hatte auch staatliche Unterstützung.« Kellermann erkannte, daß sie alle bewaffnet waren. Sie trugen Pistolen in der Hand bis auf den Mann, den Kellermann kannte er hatte eine Maschinenpistole umgehängt. Über dem Betrachten der Geräte und der Tatsache, daß die Schleuse leer war, vergaßen sie ihr Mißtrauen. Einer nach dem anderen steckte seine Pistole in die Halfter. Kellermann gab mit der Hand ein Zeichen nach unten, daß die Männer sich bereithalten sollten. »Was tun wir mit diesem Bunker?« fragte einer der Eindringlinge. Der Mann, den Kellermann kannte, antwortete: »Wir beziehen hier unseren Posten. Mit unserer Bewaffnung dürfte es keine Schwierigkeit sein, einen nach dem anderen von denen, die hier herauskommen, zu überwältigen.« »Und wenn sie sich wehren?« »Ich glaube nicht, daß sie das tun werden. Wir postieren uns im Halbkreis um die Schleusentore und zeigen ihnen, welche Waffen wir besitzen. Wer sich durch dieses Argument noch nicht überzeugen läßt, wird zusammengeschossen.« In der Zwischenzeit hatten alle ihre Waffen eingesteckt. Kellermanns Augenblick war gekommen. Mit einem Sprung überwand er den Schachtrand und stand auf dem Boden der Schleuse. »Hände hoch!« befahl er. Erschrocken hoben die Eindringlinge ihre Arme. Als ihre Denkfähigkeit zurückkehrte und sie zu überlegen begannen, daß ein einzelner Mann ihnen selbst mit gezogener Waffe kaum gefährlich
werden könne, tauchte Lecleras Kopf über dem Schachtrand auf daneben der Lauf einer Maschinenpistole. »Keine dumme Bewegungen!« rief Leclera. »Ich habe euch alle prächtig im Schußfeld.« Leclera überzeugte sich, daß man seinen Worten Folge leistete, und sprang herauf. Hinter ihm kamen die anderen Männer mit den Waffen im Anschlag. »Nehmen Sie ihnen die Waffen ab!« befahl Kellermann. Die Männer, die er auf diese erste Expedition mitgenommen hatte, waren früher Polizisten gewesen. Sie verstanden es, einen Gegner zu entwaffnen, ohne dem eigenen Mann dabei in die Schußlinie zu kommen. Nach wenigen Sekunden lagen die Pistolen und Maschinenpistolen der Eindringlinge in einer Ecke des Schleusenraumes auf einem Haufen. Kellermann begann mit dem Verhör. »Was wollen Sie hier?« Die Antwort auf diese Frage kannte er selbst: er hatte das Gespräch mit angehört. »Wir wollten nur nachsehen, ob andere Bunker die Katastrophe auch überstanden hätten«, antwortete der Mann, den Kellermann kannte. Er begleitete seine Antwort mit einem so heftigen Schulterzucken, daß auch ein Unbefangener bemerkt hätte, daß er log. »Wie heißen Sie?« fragte Kellermann. »Schüler - aber was geht Sie das an?« »Ich habe Ihre Unterhaltung gehört. Genügt Ihnen das?« Schüler wurde blaß. »Was wollen Sie von uns?« fragte er unsicher. »Wissen, von welchem Bunker Sie kommen. Meiner Ansicht nach gibt es keinen Bunker mehr im Umkreis von zweihundert Kilometern.« »Wir kommen aus dem Offenburger Bunker«, beteuerte Schüler zu heftig. »Lüge!« sagte Kellermann ruhig. »Der Offenburger Bunker liegt unter Wasser. Niemand lebt dort mehr.« Das war eine Vermutung: aber Schüler antwortete nicht. Kellermanns Stimme wurde noch um eine Spur leiser, als er sagte: »Wir kennen Ihre Absichten, Schüler. Sie dürfen mir glauben, daß ich keine Rücksicht gelten lassen werde, sobald es darauf
ankommt, aus Ihnen herauszubekommen, wo der Rest Ihres Gelichters steckt.« Schülers Mund verzog sich trotzig. »Ich weiß nicht, was Sie wollen.« Kellermanns Zorn explodierte. Er öffnete die rechte Hand, und während die Pistole auf den Boden klirrte, war er schon bei Schüler und schlug ihm die geballte Faust zwei-, dreimal ins Gesicht. Schüler hob sich vom Boden ab und krachte schwer gegen die Schleusentür. »Wo kommt ihr her?« fragte Kellermann. Schüler wimmerte. »Aus dem Offenburger ...« Kellermann ließ ihn nicht weiterreden. Am Kragen seiner Kombination riß er ihn hoch. Der Wissenschaftler sah keinen anderen Weg, den Verbrecher zum Sprechen zu bringen. Und das Leben aller noch übriggebliebenen Erdbewohner hing von der Aussage ab. Erneut bearbeitete er ihn mit den Fäusten. Schüler riß die Arme vor das Gesicht und dachte nicht an Gegenwehr. Sein Wimmern schwoll an zum Heulen, und schließlich schrie er: »Aufhören! Ich sage alles!« Kellermann hörte auf. »Na - und?« Schüler keuchte. Er pumpte seine Lungen voll Luft und antwortete dann: »Unser Bunker liegt etwa dreißig Kilometer von hier. Es ist ein privater Bunker, und niemand weiß von seiner Existenz. Er gehört der Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit.« Kellermann atmete tief ein. »So ist das also!« Er wandte sich zu Leclera um. »Das waren also ihre Absichten.« Leclera nickte. Kellermann wandte sich wieder an Schüler. »Wieviel Menschen?« »Knapp fünftausend.« »Und außerdem?« Auf Schülers Gesicht zeigte sich ein höhnisches Grinsen. »Nur Waffen.« Kellermann nickte. »Wozu?« Schüler gab keine Antwort. »Um die Überlebenden unter Ihre Knute zu zwingen, nicht wahr?«
Schüler blickte vor sich auf den Boden, ohne sich zu regen. »Sie werden uns zu Ihrem Bunker führen!« ordnete er an. Schüler wurde aufsässig. »Nein! Das werde ich nie tun!« Kellermann sah ihn kalt an. »Sie werden es tun! Oder ich setze Sie auf der untersten Sohle so lange in Dunkelhaft, bis Sie weich sind!« Schüler ließ die Schultern sinken. »Also gut!« Kellermann ging ans Telefon und rief Oberst Henning an. »Schicken Sie uns hundert Mann Militär oder Polizei mit ausreichender Bewaffnung. Bevor wir anfangen, die Erde neu zu kultivieren, müssen wir uns erst einmal wehren!« Er berichtete Henning, was vorgefallen war. Durch die dreißig Kilometer lange Leitung hindurch spürte er, wie der Oberst in Wut geriet. »Ich schicke Ihnen zweihundert Männer!« schrie er. »Machen Sie dieses Ungeziefer unschädlich!« Kellermann legte den Hörer auf und wandte sich wieder an Schüler. »Werdet ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückerwartet?« Schüler schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind losgeschickt worden mit der Anweisung, den benachbarten Bunker zu finden. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie lange das dauern werde.« »Gut!« sagte Kellermann zu Leclera. »Was tun wir?« Leclera zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bauen wir einen Graben vom Süddeutschen Meer bis zu diesem Bunker. Es wäre ein leichtes, ihn bis obenhin vollaufen zu lassen.« Kellermann schüttelte den Kopf. »Sie hätten es ohne Zweifel verdient. Aber es sind fünftausend Menschen. Wir brauchen jeden einzelnen, wenn wir von vorn anfangen wollen. Wir werden sie gefangennehmen und zu Strafarbeiten heranziehen.« Die Gefangenen wurden gefesselt und in der Schleuse niedergelegt. Während Kellermann und Leclera mit zwei Männern einen neuen Ausflug nach draußen unternahmen, blieben die übrigen drei als Wache bei den Gefangenen zurück.
Die Exkursion brachte keinerlei neue Erkenntnis außer der, daß die Tagesperiode der Erde nach der Katastrophe nur noch fünf Stunden lang war. »Vulkan ist so nahe an der Erde vorbeigegangen, daß er ihr einen zusätzlichen Drehimpuls mitgegeben hat«, sagte Leclera. Schwieriger war es für die Menschen, sich abseits aller naturwissenschaftlichen Erklärungen an diesen neuen Zustand zu gewöhnen. Eine Tagesdauer von insgesamt zehn Stunden anstelle der gewohnten vierundzwanzig erforderte eine grundlegende Umstellung. Zwölf Stunden später trafen Oberst Hennings zweihundert Polizisten ein. Sie waren mit Maschinenpistolen, Maschinengewehren und leichten Minenwerfern bewaffnet. Kellermann ließ Schüler zu sich bringen. »Es geht los, Schüler! Führen Sie uns!« Schüler zuckte resigniert mit den Schultern, wandte sich um, zeigte den Abhang hinauf und sagte: »In dieser Richtung!« In breiter Front zogen sie los. Dreißig Kilometer waren eine lange Strecke, aber Kellermann wußte nicht, ob nicht in der Zwischenzeit noch andere Gruppen außer der Schülers den Bunker der GEM verlassen hatten und durch die Gegend zogen. Es mußte auf jeden Fall vermieden werden, daß die Besatzung des Bunkers vor dem Anrücken der Polizeigruppe gewarnt wurde. Kellermann hatte inzwischen von einem der Gefangenen erfahren, daß der Bunker der GEM nur zehn Kilometer tief war. Für eine sicherere Konstruktion hatten die finanziellen Mittel der Gesellschaft nicht ausgereicht. Während der Katastrophe waren zwei Stockwerke des Bunkers mit insgesamt tausend Menschen zusammengedrückt und vernichtet worden. »Aber sonst ist alles in Ordnung«, fügte der Gefangene noch hinzu. »Sogar die Telefonanlage vom Eingang zum eigentlichen Bunker.« Das war eine Erleichterung, auf die Kellermann Wert legte. Infolge der verminderten Schwerkraft, die das Gehen erleichterte, erreichten sie die Gegend des GEM-Bunkers nach wenigen Stunden. Fast ein ganzer neuer Erdentag war in der Zwischenzeit vergangen. Kellermann gab seinen Leuten Anweisung, sich im Halbkreis um den Bunker einzugraben. Mit diesem schwerbewaffneten Halb-
kreis, der einen Radius von knapp hundert Metern hatte, war Kellermann in der Lage, jeden Ausbruchsversuch der GEM-Leute abzuwehren - selbst dann, wenn alle fünftausend auf einmal an die Oberfläche kommen sollten. Der Bunkerausgang machte jedoch nicht den Eindruck, als besitze er eine sonderlich große Kapazität. Kellermann schätzte, daß der Fahrstuhl des Bunkers höchstens dreißig Personen faßte. Kellermann wandte sich an Schüler. »Ich möchte Ihre Leute anrufen. Kommen Sie mit!« Schüler hatte sich der Resignation ergeben. Er leistete keinen Widerstand mehr, was auch immer von ihm verlangt wurde. In langen Sprüngen liefen sie auf die Bunkertür zu. Schüler öffnete sie mit der Langsamkeit eines Gefangenen, der sich zwar in sein Schicksal ergeben hat, jedoch bei jeder Situation versucht, etwas Zeit herauszuschinden. Die beiden Türflügel glitten zur Seite. »Bitte sehr!« sagte Schüler mit einer Mischung von Ironie und Wut, während er mit dem rechten Arm in den Bunkereingang hineindeutete. »Wo ist das Telefon?« Schüler deutete wortlos in die dunkelste Ecke des Raumes. Kellermann fand das Gerät ohne Schwierigkeiten. Es hatte keine Wählscheibe. »Wen kriege ich, wenn ich den Hörer abnehme?« »Die Zentrale - wenn Sie Glück haben, den Chef.« Kellermann nahm den Hörer ab. Der konstante Summton des Gerätes wurde nach wenigen Sekunden unterbrochen. Eine Stimme meldete sich. »Ja?« »Hier ist Kellermann, ziviler Kommandant des Staatsbunkers C 57. Wir haben die Leute, die Sie zur Erkundung unserer Lage ausgeschickt haben, gefangengenommen und ausgefragt. Wir sind über Ihre Absichten informiert. Ich fordere Sie auf, mit allen Ihren Leuten heraufzukommen und sich zu ergeben. Ihr Bunker ist umstellt. Sie haben keine Chancen mehr!« Kellermann wartete eine Zeitlang auf die Antwort. Er ließ dem Mann Zeit; er hatte gewußt, daß er diese Aufforderung erst verdauen mußte. »Und wenn wir es nicht tun?« fragte eine gepreßte Stimme.
»Geben Sie sich keinen Illusionen hin. Uns liegt nichts daran, fünftausend Leute, die die größte Katastrophe der Erde zu ihren Gunsten ausnutzen wollen, unschädlich zu machen. In dreißig Kilometern Entfernung liegt die Küste eines neuen Meeres. Mit den Maschinen, die uns zur Verfügung stehen, hätten wir in drei Tagen einen Kanal gebaut und könnten Ihren Bunker vollaufen lassen!« »Bedenkzeit?« »Zehn Minuten.« »Das ist zu wenig. Wir ...« »Das geht mich nichts an. Sie haben sich in zehn Minuten entschieden, oder Sie ziehen die Konsequenzen.« Es dauerte eine Minute, bis der Unbekannte antwortete. »In Ordnung!« sagte er mit einer Stimme, der man deutlich anmerkte, daß für ihn nichts in Ordnung war. »Ich bin in zehn Minuten wieder am Telefon«, sagte Kellermann. Während dieser Pause berichtete er Leclera, was er ausgerichtet, hatte. »Meinst du, sie werden ohne den geringsten Versuch aufgeben?« Kellermann schüttelte den Kopf. Er war ein scharfer Rechner. »Nein. Sie werden zunächst einmal probieren, ob wir keinen Bluff mit ihnen treiben. Ich denke, wir werden ihnen ziemlich schnell beweisen können, daß sie keine Aussichten haben.« Zehn Minuten später stand Kellermann wieder am Telefon. Der Mann, mit dem er sprach, war derselbe wie vorhin. »Wir geben auf«, sagte er. »Gut. Wie lange braucht Ihr Aufzug, um die erste Sendung nach oben zu bringen?« »Eine halbe Stunde.« »Gut - kommen Sie ohne Waffen.« Kellermann hatte nicht die geringste Hoffnung, daß diese Anweisung befolgt werden würde. Er zog sich deshalb mit Schüler vorsichtshalber bis zu dem Halbkreis seiner Leute zurück. Die halbe Stunde verging viel zu langsam für seine Ungeduld. Sie hatten die Bunkertore offengelassen, aber in dem ungewissen Halbdunkel der Schleuse erkannten sie die ersten Leute erst, als sie ans Tageslicht traten. Sie sprangen aus der Toröffnung heraus, warfen sich rechts und links neben dem Tor zu Boden,
brachten ihre Maschinenpistolen in Anschlag und begannen auf Kellermanns Leute zu feuern. »Feuer!« kommandierte Kellermann. Die Vorhut der GEM bestand nur aus fünfundzwanzig Mann. Nach einer halben Minute unter dem konzentrierten Feuer der zweihundert Polizisten leisteten sie keinen Widerstand mehr. Kellermann stand auf und ging abermals zum Bunkertor. Diesmal dauerte es etwas länger, bevor er mit dem Telefon Verbindung bekam. »Hören Sie!« sagte er bitter. »Ihre Leute sind tot. Sie unterlassen am besten solche Tricks!« »Ich verstehe«, sagte die Stimme, und ihrem resignierten Tonfall entnahm Kellermann, daß der Unbekannte diesmal wirklich verstanden hatte. Der Rest der Aktion verlief planmäßig. In Abständen von knapp fünfzig Minuten brachte der Aufzug des GEM-Bunkers jeweils dreißig Leute an die Erdoberfläche. Sie waren sämtlich unbewaffnet. Kellermann sah keine Schwierigkeit darin, mit der Hälfte seiner Männer wieder abzuziehen. Hundert schwerbewaffnete Polizisten, unter Lecleras Leitung, waren durchaus dazu imstande, fünftausend unbewaffnete Verbrecher in Schach zu halten. Kellermann kehrte mit seinen Leuten zum Bunker zurück. In der Zwischenzeit war Oberst Henning aktiv geworden. Die Gegend um den Bunker C 57 wimmelte von Menschen, die sich zunächst damit beschäftigt hatten, ihre Füße an der langentbehrten Erdoberfläche zu vertreten und sich jetzt damit befaßten, vor dem Bunkereingang eine kleine Stadt aus Fertighäusern zu bauen. Die Einzelteile dieser Häuser waren vor der Katastrophe in reichlicher Anzahl in den Bunker eingelagert worden. Als Kellermann von seiner Expedition zurückkehrte, zählte die neue Stadt schon mehr als hundert Häuser. Oberst Henning leitete die Bauarbeiten persönlich. Am Rande der Stadt hatte er eine Bohrkolonne darauf angesetzt, unter der Erdoberfläche brauchbares Wasser zu finden. »Wir haben Glück«, sagte er zu Kellermann. »Durch die Nähe des Meeres haben, wir einen ungewöhnlich hohen Grundwasserspiegel. Die Versorgung der neuen Stadt mit Wasser wird keinerlei Schwierigkeiten machen.« Kellermann berichtete, was am GEM-Bunker vorgefallen war.
»Es bedeutet für uns ein großes Glück, daß wir sofort hinter diese Sache gekommen sind, Die Leute wären ohne weiteres in der Lage gewesen, unsere Aufbauarbeit empfindlich zu stören.« »Was haben Sie mit ihnen vor?« fragte Henning. Kellermann zuckte mit den Schultern. »Sie werden ordnungsgemäß verurteilt. Am besten zu ein paar Jahren Zwangsarbeit. Wir können keine einzige Arbeitskraft entbehren.« »Glauben Sie, daß aus den Leuten jemals wieder brauchbare Menschen werden?« Kellermann grinste müde. »Man sollte die Hoffnung nie aufgeben, nicht wahr?« Leclera traf mit seinen fünftausend Gefangenen sechs Tage später ein. Sie zogen in langen Fünferreihen dahin. »Alles in Ordnung?« fragte Kellermann. »Alles in Ordnung! Nur ...« »Was?« »Du wirst dich wundern, wer der Anführer dieser Leute ist.« Kellermann wunderte sich tatsächlich. Der Präsident der Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit war ein Mann aus den Reihen der wahren Prominenz des ehemaligen Deutschlands. Kellermann schüttelte den Kopf, als er ihm vorgestellt wurde. »Wie konnten Sie so etwas tun?« fragte er fassungslos. Der Politiker tat beleidigt. »Halten Sie sich für fähig, meine Beweggründe voll und ganz zu erkennen?« Kellermanns Zorn über die Gesellschaft war längst verflogen, nachdem sie keine Gefahr mehr darstellte. Etwas belustigt sagte er: »Vielleicht nicht. Würden Sie die Güte haben, mich aufzuklären?« Trotz der unverkennbaren Ironie verteidigte der GEM-Anführer seine Ideen. »Unser Plan lief auf zwei Gleisen. Plan A sollte die Regierungen der einzelnen Länder dazu bewegen, nur Angehörige der GEM zu retten. Wir hatten genug einflußreiche Männer in den geeigneten Positionen: aber uns fehlte die Unterstützung der namhaften Wissenschaftler. Plan A fiel deshalb ins Wasser. Nach Plan B wollten wir die Herrschaft später übernehmen und lagerten deshalb Waffen in unserem Bunker ein. Wir wußten, daß die Überlebenden auf
alles Mögliche vorbereitet ein würden - nur nicht auf einen Überfall von Seiten ihrer mitgeretteten Artgenossen. Wir waren uns völlig sicher zu siegen.« »Wenn wir den Braten nicht früh genug gerochen hätten«, sagte Kellermann ernst. Der andere nickte. »So ist es.« »Und Ihre Ziele?« Der Mann sah Kellermann erstaunt an. »Sie liegen offen auf der Hand. Die demokratische Regierungsform, an der die Menschheit seit einiger Zeit wie an einer Krankheit leidet, ist veraltet und nicht mehr in der Lage, uns weiterzubringen. Wir strebten eine neue Welt an - eine Welt, in der nur der wirklich politisch Verantwortungsbewußte und Fähige etwas zu sagen gehabt hätte. Sie würden es wahrscheinlich eine Diktatur nennen. Aber wir waren der Überzeugung, daß diese Art von Diktatur die einzig mögliche Lebensform sei.« Kellermann nickte bedächtig. »Ich habe Sie für eine primitive Bande von Verbrechern gehalten«, murmelte er. »Jetzt muß ich meine Meinung revidieren: Sie sind eine Bande von gerissenen Verbrechern.« Der Politiker schüttelte den Kopf. »Sie zeigen damit nur, daß Sie die Situation nicht verstanden haben.« Kellermann sah ihn fast eine volle Minute lang nachdenklich an. »Sie würden es nie anders verstehen - selbst wenn man sich ein Jahr lang bemühen wollte, Ihre Meinung zu ändern.« Er ließ den Gefangenen wieder abführen. Während er ihm nachsah, dachte er über das nach, was er gehört hatte. Die Argumente des Mannes waren sachlich gewesen. Kellermann suchte eine Weile, bis er den Fehler fand. Wesentlicher als die Mängel der Demokratie waren die Dinge, die sie allein den Menschen zu geben vermochte: Die Freiheit des einzelnen und das Recht eines jeden Menschen, glücklich zu sein. Ein provisorisches Gericht verurteilte die Revolutionäre ohne Ausnahme zu zehn Jahren Zwangsarbeit. Es wurde ihnen zugesichert, daß sie nach Ablauf dieser Frist als vollgültige Mitbürger in das neue Staatswesen aufgenommen würden. Der Vorsitzende des Gerichtes sprach die Hoffnung aus, daß diese zehn Jahre aus-
reichen möchten, um die Aufrührer von ihren staatsfeindlichen Ideen zu heilen. Wenn sich auch einzelne Stimmen erhoben, die eine strengere Bestrafung forderten, so ließ sich als Gesamteindruck jedoch nicht verkennen, daß man auf beiden Seiten mit dem Urteil zufrieden war. Für Kellermann und Leclera ging die Arbeit weiter. Es galt, sich mit den anderen Überlebenden in Verbindung zu setzen. Dabei genügte der Funkverkehr nicht. Die Funkverbindung, an der sich bisher außer dem Bunker C 57 sechs weitere Bunker in mehr oder weniger großer Entfernung beteiligten, stellte nur ein ungenügendes Bindeglied zwischen den einzelnen Gruppen dar. Die Aufnahme von persönlichen Kontakten war unbedingt erforderlich. Mittel dazu standen ihnen in genügender Menge zur Verfügung. Um mit dem Bau der neuen Stadt beginnen zu können, hatte Oberst Henning die Einengung des Hauptschachtes in einer Tiefe von sieben Kilometern durch eine Arbeitskolonne von mehreren hundert Mann in wenigen Stunden beseitigen lassen. Der Aufzug verkehrte wieder ungehindert zwischen Erdoberfläche und tiefster Bunkersohle. Kellermann stellte eine Expedition von insgesamt hundertfünfzig Mann zusammen. Als Verkehrsmittel benutzten sie Autos, weiterhin Hubschrauber zur Erkundung. Beide Arten von Fahrzeugen waren in Einzelteilen im Bunker gelagert worden und wurden an der Erdoberfläche zusammengebaut. Es entstand zunächst die Frage, in welcher Richtung sich die Expedition bewegen solle. »Ich habe einen recht plausiblen und einleuchtenden Vorsehlag«, sagte Leclera feixend. »Wir sollten uns in der Richtung bewegen, die uns den geringsten Widerstand entgegensetzt.« »Also bergab?« »Ja.« Kellermann zuckte lachend mit den Schultern. »Ohne Rücksicht darauf, daß wir dann auf dem Rückweg bergauf fahren müssen, nicht wahr?« Trotzdem wurde sein Vorschlag angenommen. Die Expedition brach am 15. Mai 1981 auf. Als Marschrichtung wurde Osten - nach der neuen geomagnetischen Einteilung -
festgelegt. Die Leute waren allerdings nicht davon abzubringen, es schlechthin »bergab« zu nennen. Die Expedition war gut genug ausgerüstet, um fünf Jahre aus eigener Kraft abseits von allen Menschen existieren zu können. Sie verfügte über ein beträchtliches Arsenal von Waffen, Geräten und Nahrungsmitteln. Am Rande des Süddeutschen Meeres legten sie am ersten Tag dreihundert Kilometer zurück. Die ausgesandten Hubschrauber berichteten, daß innerhalb ihres Aktionsradius kein Anzeichen von menschlichem Leben zu bemerken sei. Auf der Höhe von Offenburg fuhr Kellermann mit einem Motorboot so weit auf das Meer hinaus, bis er ungefähr die Stelle erreicht hatte, an der sich der zweite süddeutsche Bunker befunden haben mußte. Radarmessungen ergaben eine Meerestiefe von fünftausend Metern. »Aussichtslos«, sagte Kellermann gedrückt. »Da lebt keiner mehr.« Nach der Ausdehnung des Süddeutschen Meeres zu urteilen, mußten ihm mindestens fünf der süddeutschen, südfranzösischen und Schweizer Bunker zum Opfer gefallen sein. Die Expedition erreichte den östlichen Rand des Meeres in einer Gegend, die früher zwischen Mailand und Florenz gelegen haben mochte. Für die einzelnen Expeditionsteilnehmer bedeutete es eine Sensation, auf diese Weise die Kette der Alpen überquert zu haben, ohne daß sie auch nur eine einzige Erhebung von mehr als drei Metern zu Gesicht bekommen hätten. Die Temperatur der Atmosphäre hielt sich während Tag und Nacht konstant auf 43°. Die Hitze zusammen mit einer unerhörten Luftfeuchtigkeit hatte den Männern am Anfang der Expedition sehr zu schaffen gemacht; in der Zwischenzeit hatten sie jedoch begonnen, sich daran zu gewöhnen. Zunächst machte es den Anschein, als wolle sich der Himmel für alle Ewigkeit mit dahinjagenden grauschwarzen, dichten Wolken bedecken. Es löste einen Taumel der Begeisterung unter den Männern der Expedition aus, als sie auf der Höhe von Rom zum erstenmal die Sonne durch die Wolkendecke brechen sahen. Sie sah aus wie immer. Nichts hatte sich an ihr verändert. Kellermann schämte sich der Tränen nicht, die in diesem Augenblick über sein Gesicht liefen. »Na also!« murmelte er. »Es wird alles wieder gut.«
Sie richteten ihre Zeiteinteilung nicht nach den neuen TagNacht-Perioden der Erde, sondern nach dem, was sie vertragen konnten. Sie waren durchschnittlich zehn Stunden unterwegs und rasteten acht Stunden. In dieser Nacht rasteten sie an der Stelle, an der nach Kellermanns Berechnung der Vesuv gelegen haben mußte. Wegen der Wärme verzichteten sie im allgemeinen darauf, nachts Zelte zu errichten. Sie schliefen unter freiem Himmel. Nach der großen Katastrophe bestand keine Gefahr mehr, von wilden Tieren angefallen zu werden. Die Nacht mochte etwa halb vorbei sein, als Kellermann durch leises Rütteln an seiner Schulter aufgeweckt wurde. Er war augenblicklich wach. »Was ist los?« »Sieh dir das mal an!« hauchte Leclera. Dabei zeigte er nach Osten. Kellermann richtete sich ganz auf. Die Wolkendecke war weiter aufgerissen. Etwa 40° über dem Horizont stand in der Form eines Viertelkreises ein verwaschener Lichtstreif. »Was ist das?« fragte er leise. Im Licht der Sterne und des geheimnisvollen Kreises erkannte er, daß Leclera mit den Schultern zuckte. »Ich weiß es ebensowenig wie du. Es sieht aus, als hätte die Erde einen Ring bekommen.« Kellermann schüttelte den Kopf. »Unsinn! Ein Ring wie der des Saturns zeigt sich unverwaschen und scharf. Das Ding sieht aus wie ein Nordlicht.« Diesmal protestierte Leclera. »Ein Nordlicht in dieser Gegend?« »Es ist durchaus möglich«, erwiderte Kellermann, »daß wir in der Nähe des neuen geomagnetischen Nordpols sind. Warum sollten wir also kein Nordlicht sehen?« »Hast du schon mal ein Nordlicht gesehen?« »Nein«, sagte Kellermann. »Höchstens im Film.« Leclera lachte leise. »Na, siehst du! Jeder kleine Junge aus Lappland könnte dir sagen, daß das kein Nordlicht ist.« »Was ist es dann?« »Ich weiß es nicht.« Kellermann starrte den geheimnisvollen Lichtbogen ein paar Minuten lang an.
»Vielleicht werden wir es herausfinden, wenn wir weiterfahren«, sagte er schließlich. »Vielleicht«, sagte Leclera. »Dann also weiterhin: Gute Nacht!« Es gelang beiden nicht mehr, tief einzuschlafen. Das Rätsel des leuchtenden Ringes ließ ihnen keine Ruhe. Sie suchten nach einer Erklärung des Problems: aber ihre Gedanken führten sie immer wieder an denselben Punkt zurück - auf die Hoffnung, man werde das Phänomen dann erkennen, wenn es sich zum erstenmal aus nächster Nähe zeige. * Gegen Mittag des nächsten Tages meldete sich einer der vorausfliegenden Hubschrauber: »Unter uns bewegt sich etwas, Chef. Ich glaube, es sind Menschen.« »In welcher Höhe fliegen Sie?« »Viertausend Meter.« »Gehen Sie tiefer! Sehen Sie nach, um was es sich handelt!« »Verstanden! Ich gehe tiefer. Ich melde mich gleich wieder.« Kellermann erinnerte sich, daß es in dieser Gegend keinen Bunker gab. Wenn der Hubschrauberpilot wirklich Menschen gesehen hatte, dann konnte es sich nur um solche handeln, die von einem der nächstgelegenen Bunker sich um mindestens dreihundert Kilometer entfernt hatten. - Oder? Kellermann wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Er unterhielt sich mit Leclera. »Glaubst du, daß es während der Katastrophe Umstände gegeben haben könnte, durch die auch außerhalb der Bunker Menschen am Leben geblieben sind?« Leclera holte tief Luft, blies die Wangen auf und dachte nach. »Warum nicht?« sagte er schließlich. »Es mag durchaus Gegenden geben, die von der Katastrophe völlig verschont geblieben sind.« Der Pilot meldete sich wieder. »Es sind Menschen, Chef!« sagte er mit zitternder Stimme. »Es sind fünfzehn Leute. Ich fliege jetzt in dreihundert Meter Höhe. Ich kann deutlich erkennen, daß sie mit Fellen bekleidet sind.« »Wie weit sind sie von uns entfernt?«
»Etwa achtzig Kilometer voraus.« »Wie ist das Gelände?« »Hügelig. Erhebungen bis zu dreihundert Meter Höhe.« »Ausdehnung des Geländes?« »Etwa hundertfünfzig Quadratkilometer.« »Vegetation?« »Ja. Büsche - in jeder Menge.« »Haben die Leute Sie bemerkt?« »Sie haben vielleicht mein Motorengeräusch gehört - aber gesehen haben sie mich bestimmt nicht.« »Gut - kommen Sie zurück!« »Verstanden! Ende!« Leclera kam Kellermanns Frage zuvor. »Warum so vorsichtig?« Kellermann wiegte den Kopf. »Ich erinnere mich noch zu deutlich an die Meute, die vor unserem Bunker tobte, als ich mit Beate ankam. Wenn das hier Leute sind, die nicht aus einem Bunker stammen, dann möchte ich lieber vorsichtig sein.« »Vielleicht hast du recht.« Kellermann wartete die Rückankunft des Hubschraubers ab und ließ sich von den Piloten angeben, in welche Richtung sich die Gruppe bewegt hatte. Dann brach er mit zwei Geländewagen auf und fuhr der Expedition voraus. Nach einer Stunde erkannte er am Horizont die ersten Hügel. »Rechts oder links herum?« fragte der Fahrer. »Rechts!« befahl Kellermann. Nach zwei weiteren Stunden erreichten sie innerhalb des Hügelgebietes einen Kessel, der kreisförmig war und einen Durchmesser von etwa fünf Kilometern hatte. Kellermann erkannte durch sein Glas einen kleinen, sich bewegenden Punkt am gegenüberliegenden Rand des Kessels. »Da!« deutete er. Die Wagen begannen ihre Geschwindigkeit zu vergrößern. Kellermann zog seine Waffe und feuerte drei, vier Schüsse in die Luft. Durch das Glas erkannte er, daß die Bewegung des Punktes erstarb. »Er hat uns gehört«, sagte er befriedigt. Auf dem ebenen Gelände brauchten die Wagen nur zehn Minuten, um den anderen Rand des Kessels zu erreichen. Der Punkt
hatte sich nicht mehr bewegt. Aus dreihundert Meter Entfernung entpuppte er sich auch dem unbewaffneten Auge als ein einzelner Mensch. »Ich bin gespannt, wo die anderen vierzehn sind«, sagte Kellermann mehr zu sich selbst. Der Mensch war nicht in Felle gekleidet, sondern in einen abgerissenen Anzug. Die beiden Wagen hielten etwa in zehn Meter Abstand. Kellermann stieg aus und ging auf den Fremden zu. »Guten Tag!« sagte er, da ihm als erstes Wort nichts einfiel, was besser geklungen hätte. »Buon giorno!« sagte der Fremde. Kellermann merkte, daß er zitterte. Kellermann beherrschte die italienische Sprache so, daß er sich verständlich machen konnte, und er beeilte sich, dem Mann zu versichern, daß er vor ihm keine Angst zu haben brauche. »Woher kommst du?« »Von dort«, sagte der Mann und deutete nach Norden. »Wie habt ihr die Katastrophe überlebt?« »In einer Höhle.« »Wie viele seid ihr?« »Nur noch acht.« Kellermann erfaßte die Lüge im selben Augenblick, in dem ihm auch der unstet flackernde Blick des Mannes auffiel. Was auch immer er im Schilde führen mochte - er hatte ihre Überlegenheit für den Augenblick anerkannt; aber er schien nicht gewillt, sich auf die Dauer damit abzufinden. Kellermann zeigte sein Mißtrauen zunächst noch nicht. »Können wir euch helfen?« fragte er. Der Mann nickte. »Was braucht ihr?« »Essen.« Kellermann nickte ebenfalls. »Gut. Wir haben was dabei - am besten, wir fahren gleich zu euch.« Benito war sofort damit einverstanden. Obwohl man es ihm hätte glauben sollen, daß es ihm eilig war, Lebensmittel für sich und seine Leute zu beschaffen, wirkte seine Eile verdächtig. Er sprang auf den nächsten Wagen zu und setzte sich, ohne zu fragen, auf die Kühlerhaube. Dabei grinste er Kellermann, der langsam hinter
ihm herkam, so verschmitzt an, daß ihm seine schlechten Absichten am Gesicht abzulesen waren. »Per la!« sagte er kurz und bündig und deutete mit dem rechten Arm nach Nordosten. Kellermann war gezwungen, ein Risiko einzugehen. Er wußte nicht, ob Benito Deutsch verstand. »Passen Sie auf!« sagte er zu dem Fahrer seines Wagens. »Er führt etwas im Schilde. Halten Sie die Waffen bereit!« »Jawohl. Chef!« »Fahren Sie ruhig weiter, wenn der zweite Wagen stehenbleibt und abbiegt!« Der Chauffeur zog die Brauen hoch. »Gut!« Kellermann fuhr mit dem anderen Wagen. Während die kleine Kolonne sich in Marsch setzte, informierte er seine Männer. »Wir werden genau Ausschau halten, wo uns die Bande eine Falle gelegt haben kann. Kurz vorher haben wir einen Motorschaden, bleiben eine Weile stehen, bis der Wagen vor uns außer Sicht ist, und rollen dann die Gesellschaft von hinten auf.« Die beiden Wagen fuhren langsamer, als es der verhältnismäßig ebene Boden erforderte. Sie verließen den Kessel und drangen in die Hügel ein. Vorläufig waren sie noch flach und kaum von Büschen bestanden, so daß sie einem schlechter bewaffneten Angreifer keine Chancen boten. Etwa fünf Kilometer weiter in der Fahrtrichtung jedoch zeigten sich höhere Erhebungen. »Wahrscheinlich dort«, sagte Kellermann und vermied es, mit dem Arm darauf zu deuten. Benito war ein scharfer Beobachter und könnte diese Geste richtig ausgelegt haben. Im Laufe der nächsten zehn Minuten begann die Höhe der Hügel, die sie umgaben, stetig zu wachsen. Sie drangen in eine Landschaft ein, die fast alpinen Charakter hatte, obwohl keiner der kleinen Berge nach Kellermanns Schätzung höher als dreihundert Meter war. Unverkennbar war dieses Gebiet vulkanischen Ursprungs und nicht älter als die große Katastrophe. »Jetzt aufpassen!« sagte Kellermann. Vor ihnen tat sich eine Schlucht auf. Ihre Sohle mochte etwa drei Meter breit sein. Die Wände stiegen senkrecht etwa zweihundert Meter in die Höhe. »Nicht hineinfahren! Wir haben jetzt unseren Motorschaden.« Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und würgte ihn ab. Mit
qualmendem Auspuff hielt der Wagen. Vorn drehte man sich erstaunt um und blieb ebenfalls stehen. »Weiterfahren!« schrie Kellermann. »Wir kommen gleich nach.« Die Szene wirkte unbedingt echt. Kellermann blieb in seinem Wagen sitzen, während seine Begleiter sich bemühten, den Motorschaden zu finden. Ein paar Minuten später erreichte der erste Wagen die Schlucht und verschwand mit langsamer Fahrt darin. »Es geht los!« kommandierte Kellermann. »Wir umfahren den Berg rechts.« Kellermann war sich darüber im klaren, daß die Schluchtränder wahrscheinlich auf beiden Seiten besetzt waren. Er mußte zum zweitenmal ein Risiko eingehen, indem er nur auf einer Seite angriff. Aber er rechnete mit der Wachsamkeit der Männer im ersten Wagen. Von der Rückseite erwies sich der Hügel als leidlich befahrbares Gelände. Es wäre ihrem starken Fahrzeug ohne Zweifel gelungen, bis auf die Kuppe zu fahren, jedoch ließ Kellermann etwa fünfzig Meter unterhalb anhalten und die Leute aussteigen. »Weiter dürfen wir nicht - sonst hören sie uns«, sagte er. »Haben Sie Ihre Waffen bereit?« »Jawohl!« »Gut - dann los!« In weiten Sprüngen und dennoch vorsichtig bewältigten sie die letzte Strecke. Der oberste Teil des Hügels war nur mäßig mit Büschen bestanden - dafür bedeckten ihn um so mehr Felsbrocken von Faust- bis Mannesgröße. Dreißig Meter vor dem Schluchtrand hörten sie zum erstenmal undeutliche Stimmen. Kellermann hob die Hand. »Ganz still jetzt!« zischte er. Nach seiner Rechnung konnte der erste Wagen diese Stelle der Schlucht noch nicht erreicht haben; nichts zwang sie dazu, sich zu übereilen. In der Deckung der Felsen schlichen sie sich an den Gegner heran. Sie waren im Anschleichen keineswegs geübt; aber der Gegner erwartete sie ja aus entgegengesetzter Richtung. Aus sicherer Deckung in zehn Meter Entfernung vom Schluchtrand erkannten sie die Absicht der Männer. Sie hatten mittelgroße Felsbrocken bis an die Kante geschleppt und wollten sie ohne Zweifel auf den Wagen hinabstürzen. Kellermann wartete, bis seine Leute sich orientiert hatten.
»Los jetzt!« kommandierte er. Gegen diesen Gegner hatten die fünfzehn Unbewaffneten nicht die geringste Chance. Als sie, von dem Geräusch der Schritte erschreckt, herumfuhren, starrten sie in die schwarzen Mündungen von sechs Maschinenpistolen. Nur einer von ihnen schnellte sich vom Boden ab und versuchte, Kellermann mit den bloßen Fäusten anzufallen. Kellermann hatte keine Mühe, ihn mit dem Kolben seiner Waffe niederzuschlagen. »Hoffentlich hebt ihr bald die Arme«, sagte er ruhig auf italienisch zu den übrigen. Ihre Arme fuhren in die Höhe. »Den Schluchtrand besetzen!« befahl Kellermann seinen Leuten. Es zeigte sich, daß er die Angriffsseite richtig gewählt hatte. Der rechte Schluchtrand lag höher als der linke. Die andere Gruppe des Gegners hielt ihn besetzt: aber sie lag gute drei Meter tiefer. Die Breite der Schlucht betrug hier etwa vier Meter. »Ich kann da hinüberspringen. Chef«, sagte einer von Kellermanns Männern. »Soll ich es tun?« »Wenn Sie sicher sind, daß Sie es schaffen?« Anstelle einer Antwort nahm der Mann einen Anlauf, drückte sich vom Schluchtrand ab und sprang hinüber. Die gegenüberliegende Gruppe hatte begonnen, sich hinter dem Felsen zu verkriechen: aber eine Salve aus der Maschinenpistole jagte sie aus ihren Deckungen hoch. Sie hoben gehorsam die Arme und ließen sich von Kellermanns Leuten in Schach halten. Wenige Minuten später hörte Kellermann das Motorengeräusch des ersten Wagens aus der Schlucht heraufdröhnen. Er ließ einen mittelgroßen Felsbrocken etwa fünfzig Meter vor dem Wagen hinunterstoßen, um die Leute aufmerksam zu machen. »Anhalten!« schrie er. »Wir kommen hinunter.« Der Grund der Schlucht war nahezu dunkel; den Wagen konnte man nur mit Mühe sehen. Aber verhältnismäßig deutlich hörte Kellermann nach ein paar Sekunden die Antwort: »Wir warten.« Kellermann wandte sich an den Gefangenen, den er für den intelligentesten hielt. Der Mann sprach ein paar Brocken Deutsch. »Was wolltet ihr?« fragte er. »Waffen und etwas zu essen!« »Wozu braucht ihr Waffen?«
»Um uns noch mehr zu essen zu beschaffen.« Sie waren alle in die gleichen ärmlichen Lumpen gekleidet wie Benito. Durch die Löcher in den Anzügen sah man ihre Rippen hervorstehen. Kellermann nickte. »Geht zu euren Leuten zurück und wartet, bis wir kommen. Wir haben genug zu essen für fünfhundert Menschen!« In den Augen des Mannes blitzte für eine Zehntelsekunde helle Freude auf; dann wurde er sofort wieder mißtrauisch. Er drehte sich zu seinen Leuten um und übersetzte, was Kellermann gesagt hatte. Dann sagte er zu Kellermann: »Sie glauben es nicht!« Kellermann zuckte mit den Schultern. »Wir werden es euch zeigen!« Der Mann, der über die Schlucht gesprungen war, wurde mit Seilen zurückgeholt. Sie kehrten zu ihrem Wagen zurück und fuhren in die Schlucht hinunter. Benito hatte inzwischen sein Grinsen verloren. Er war weiß wie Kalk und bot einen erbärmlicheren Anblick, als Kellermann je einen Menschen gesehen hatte. »Sag die Wahrheit!« fuhr er ihn an. »Wo lebt ihr?« Benito begann zu zittern. Er war nicht mehr fähig, einen artikulierten Laut über die Lippen zu bringen. Mit einem furchtsamen Grunzen deutete er weiter in die Schlucht hinein. »Ich denke, das ist jetzt die Wahrheit«, sagte Kellermann zu seinen Männern. »Also fahren wir los.« Die Schlucht zog sich beachtlich in die Länge. Erst nach weiteren fünf Kilometern erreichten die beiden Fahrzeuge den Eingang einer geräumigen Höhle. »La!« sagte Benito, der zum Teil seine Fassung zurückgewonnen hatte, und deutete in die Höhle hinein. Kellermann ließ die beiden Fahrzeuge in der Schlucht halten, um die Bewohner der Höhle nicht zu erschrecken. Sie stiegen aus und gingen mit entsicherten Waffen hinein. Das Innere der Höhle wurde schwach erhellt durch kleine Feuer, die sie an mindestens zwanzig verschiedenen Punkten erkannten. Der Geruch von verbranntem Heu erfüllte den ganzen Raum. »Wir müssen die Feuer dauernd brennen lassen«, sagte Benito leise. »Wir haben fast keine Streichhölzer mehr!«
Im unsicheren Licht der Feuer sahen sie die ausgemergelten Gestalten an den Wänden der Höhle sitzen. Sie vergaßen ihren Zorn über die hinterhältige Falle und empfanden grenzenloses Mitleid mit den Menschen, die das Schicksal übriggelassen hatte, um sie in ein Leben zu werfen, dem sie nicht gewachsen waren. Diese Leute waren so entkräftet, daß sie nicht einmal mehr Erstaunen zeigen konnten. Sie hatten sich noch nicht weit vom Höhleneingang entfernt, als ihnen ein großer, schlanker Mann entgegenkam. Aus der Nähe erkannten sie, daß er weißes Haar hatte und eine zerschlissene Mönchskutte trug. Sein Gesicht war eingefallen, aber seine Augen strahlten in einem beruhigenden Glanz. »Seid willkommen in unserer Höhle, Freunde!« rief er. »Ich bin Padre Francesco, der einzige unter all diesen Sündern, der die Stimme des Herrn wenigstens aus weiter Entfernung zu hören vermag. Den anderen knurrt der Bauch so laut, daß er alles übertönt.« Don Francesco sprach deutsch - ein Beweis dafür, daß die Leute vom Schluchtrand vor ihnen in der Höhle angekommen sein mußten. »Sie haben von dem Überfall gewußt?« fragte Kellermann erstaunt. Don Francesco nickte traurig. »Ja - ich habe davon gewußt. Aber eine Herde von wilden Löwen hätte sie nicht davon abhalten können - noch viel weniger ich allein. Es war schon immer meine Sache, meine Kinder durch ein gutes Vorbild auf den Pfad der Tugend zu bringen; aber hier versagte alle Kunst.« »Was brauchen Sie am nötigsten?« fragte Kellermann. Don Francesco schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Zu essen - zu essen - zu essen! Seit drei Jahren leben wir in dieser Höhle - mit Vorräten für anderthalb Jahre. Wir sind hierhergezogen, als wir die Katastrophe kommen sahen; Gott hat es gefügt, daß wir am Leben blieben. Aber wir hatten nicht genug Zeit, Vorräte zu stapeln. Jeder brachte nur mit, was er gerade schleppen konnte.« Er führte Kellermann und seine Mariner in der Höhle herum. Sie war ellipsenförmig, mit einem Durchmesser von etwa zweihundert Metern.
»Glauben Sie mir«, sagte Don Francesco unterwegs, »die Rationierung einzuführen, war das Schwierigste, was ich je in meinem Leben getan habe. Dabei wären wir ohne die Rationierung schon längst verhungert.« Kellermann setzte sich über Kurzwellenfunk mit dem Rest der Expedition in Verbindung. Die Wagen und Hubschrauber wurden angewiesen, den Spuren zu folgen. »Die ärgste Not wird bald ein Ende haben«, versprach Kellermann. »Gott soll es Ihnen lohnen!« Die Expedition war wenige Stunden später zur Stelle. Mit äußerster Vorsicht begann man die ersten Lebensmittelrationen zu verteilen. Die halbverhungerten Menschen verzehrten sie unter der Aufsicht von Kellermanns Leuten. Über den großen Mittelwellensender der Expedition hatte Kellermann inzwischen auch den Bunker C 57 von der Entdeckung informiert. Er bat Henning, eine Kolonne von Lastwagen herunterzuschicken, die wenigstens die Kranken und Gebrechlichen in die neue Stadt bringen sollte. Den übrigen war ein zweitausend Kilometer langer Fußmarsch, nachdem sie sich einigermaßen erholt hatten, in nicht allzu großen Etappen wohl zuzumuten. Die Expedition hielt sich etwa fünf Tage in der Nähe der Höhle auf. Kellermann gab den Befehl zur Weiterfahrt erst, als er sich überzeugt hatte, daß das Wichtigste getan war. Er verabschiedete sich von Don Francesco. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen!« Don Francesco legte seine beiden Pranken um Kellermanns Hand und schüttelte sie heftig. »Sicher, lieber Freund, werden wir uns wiedersehen. Möge Gott Ihnen danken für das, was Sie getan haben - ich kann es nicht.« * Die Expedition zog in Eilmärschen ostwärts, um die verlorene Zeit aufzuholen. Mit den Präzisionsmeßinstrumenten, die ihm zur Verfügung standen, hatte Kellermann in der Zwischenzeit festgestellt, daß die Neigung der Ebene, der sie bisher vom Bunker C 57 aus gefolgt waren, abgenommen hatte und außerdem die Erdgra-
vitation abermals geringer geworden war. Sie betrug nur noch 0,78 g. »Wie kommt das?« fragte Leclera. »Was fragst du mich? - Ich weiß es ebensowenig.« Die Temperaturen begannen zu sinken, die Tage wurden kürzer und die Nächte länger. Am 25. Juni 1981 überraschte sie mitten in der Nacht ein Gewitter, wie es noch keiner von ihnen bisher erlebt hatte. Zwei Tage später biwakierten sie auf der Höhe von Tunis. In der Nacht erwachte Kellermann beim ersten heulenden Stoß des herannahenden Sturmes. Als sie angehalten hatten, lag die Temperatur bei 28° C - sie hatten deswegen keine Zelte aufgebaut -, jetzt war sie auf zehn Grad abgesunken. Kellermann weckte das Lager. »Zelte aufbauen!« Sein Befehl wurde in höchster Eile befolgt. Als der Kern des Sturmtiefs das Lager erreichte, lagen die Männer in ihren windgesicherten, fest in der Erde verankerten Zelten. Der Sturm trieb Wolken vor sich her, die noch einmal so dick und dicht waren wie diejenigen, die sie seit Wochen begleiteten. Die Temperaturen sanken weiter. »Das scheint mir eine geheimnisvolle Gegend zu sein«, sagte Leclera. »Irgendwas stimmt hier nicht! Woher kommen diese plötzlichen Temperaturstürze? Wieso ist die Gravitation hier geringer als anderswo?« Kellermann hatte sich über diese und ähnliche Fragen in den letzten Tagen so oft den Kopf zerbrochen, daß er sich jetzt darauf beschränkte, die Achseln zu zucken. Nach der neuen Tageseinteilung war es kurz vor Mitternacht, als der Sturm abzuflauen begann. Bisher hatte keiner der Männer es gewagt, auch nur seinen Kopf zum Zelt hinauszustrecken. Kellermann nestelte den Zelteingang auf und schlug ihn beiseite. »Es hat ...« Er riß den rechten Arm hoch und bedeckte damit die Augen. Mit einem fast unmenschlichen Schrei taumelte er wieder ins Zelt zurück. Leclera fing ihn auf. »Was ist los?« Kellermann keuchte.
»Mein Gott!« Kein Wort mehr brachte er über die Lippen. Leclera ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten, winkte einem der Männer, er solle sich um ihn kümmern, und kletterte selbst zum Zelt hinaus. Eine Sekunde später hörten sie drinnen seinen markerschütternden Schrei. Sie stürzten hinaus, um ihm zu helfen; und der gewaltige Anblick in seiner grausigen, furchterregenden Schönheit riß sie zu Boden. Sie stammelten Gebete, um das Unheil von sich abzuwenden, aber das Bild blieb unverändert. Der Orkan hatte die Wolkendecke aufgerissen - der Himmel war fast völlig klar. Über dem östlichen Horizont stieg die Sichel eines Halbmondes auf - eine Sichel, die ein Viertel des gesamten Firmaments bedeckte und weit über den Zenit hinausragte, so daß die Männer in ihrer unmäßigen Angst den Eindruck hatten, sie stürze auf sie herunter und werde sie in den nächsten Sekunden zwischen sich und der Erde zerquetschen. Die anderen Zeltbesatzungen kamen auf das Geschrei hin ins Freie. Ihre Reaktion war nicht anders. Bald lagen sie alle auf dem Boden und krümmten sich vor Angst. Kellermann war wieder zu sich gekommen und trat aus dem Zelt. Er hatte nur Sekunden gebraucht, um sich zu beruhigen und eine Erklärung für das ungeheuerliche Phänomen zu finden. Gebannt starrte er hinauf zu der gewaltigen Sichel. Sie leuchtete blaß im Widerschein des einfallenden Sonnenlichtes. Kellermann erkannte Berge, Täler und Wasserflächen auf dem fremden Himmelskörper. Er sah auch seine Leute, die ihre Angst noch immer nicht überwunden hatten. Er lief zu seinem Wagen, der über eine Lautsprecheranlage verfügte, und schaltete sie ein. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, rief er den Männern zu. »Vulkan ist nicht an der Erde vorbeigezogen, sondern er hat sich einfangen lassen und bildet jetzt mit unserem Planeten ein stabiles System. Er wird nicht herunterfallen.« Die Worte waren banal und einfältig - aber sie erreichten, daß die Männer sich langsam vor der Erde erhoben und sich zwangen, das Wunder anzusehen. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, ließ Kellermann mitten in der Nacht das Lager abbrechen und die Expedition weiterziehen.
Gegen Morgen begannen dichte Wolken aufzuziehen. Kurz vor Sonnenaufgang war der Himmel verhüllt, wie sie ihn seit Wochen gewöhnt waren. Von Vulkan war nichts mehr zu sehen. Eine Woche später erreichten sie die Küste eines Meeres. Sie befanden sich auf der Höhe der Goldküste. Hier, wo früher tropische Temperaturen geherrscht hatten, maßen sie jetzt im Durchschnitt -5° Celsius. Der Tag dauerte nur noch vierzig Minuten, die Nacht mehr als neun Stunden. Die Ebene hatte ihre Neigung verloren, die Erdschwere betrug nur noch 0,67 g. Leclera hatte sich in der Zwischenzeit damit beschäftigt, die Daten auszurechnen, unter denen diese einmalige Konstellation zwischen Vulkan und Erde zustande kommen konnte. »Vulkan hat doppelten Erddurchmesser, aber nur die halbe Erdmasse. An der Stelle der geringsten Entfernung nähert sich seine Oberfläche der Erdoberfläche bis auf etwa siebenhundert Kilometer.« »Dann ist also seine Gravitation wesentlich geringer als die der Erde, und ...« Er unterbrach sich, um nachzudenken, aber Leclera setzte seinen Satz fort: »... und an der Stelle, die der Erde am nächsten ist, wirkt selbst an seiner Oberfläche die Erdschwere stärker als die VulkanGravitation.« Kellermann starrte ihn verblüfft an. »Das würde bedeuten, daß die Vulkan-Oberfläche auf die Erde herunterstürzt?!« Leclera nickte. »In der Umgebung der Stelle, die der Erde am nächsten ist, wird ohne Zweifel die Oberfläche des Vulkan auf die Erde heruntergezogen. Das dauert so lange, bis entweder eine Schicht erreicht ist, die der Erdanziehung größeren Widerstand entgegensetzt, oder bis die Vulkan-Oberfläche an dieser Stelle so weit abgetragen ist, daß die eigene Gravitation stärker zu wirken beginnt als die Erdschwere.« Die Theorie war phantastisch; aber es gab keine andere, die wahrscheinlicher gewesen wäre. Vulkan hatte sich von der Erde einfangen lassen. Er bildete mit ihr, was man in der Naturwissenschaft ein Hantelsystem nannte. Die beiden Körper hatten jede
Eigenrotation verloren und drehten sich gemeinsam um eine Achse, die zwischen ihnen lag. Um das System stabil zu erhalten, mußte die Rotationsgeschwindigkeit sehr hoch sein: das erklärte die kurze Dauer eines Tages. An der Stelle, an der sie jetzt standen, dauerte ein Tag nur noch so lange, wie die Sonne zwischen die beiden Planeten hineinscheinen konnte. »Die Stelle der geringsten Entfernung muß etwa fünftausend Kilometer ostwärts liegen«, schätzte Leclera. Noch einmal hatten sie das Glück, daß ein Orkan nie gekannter Stärke die Wolkendecke aufriß - diesmal in der kurzen Stunde der Helligkeit. Noch stärker als zuvor hatten sie den Eindruck, daß Vulkan direkt über ihnen hinge. Weit im Osten, dicht über dem Horizont, war die Stelle zu sehen, an der er die Erde fast berührte. »Seht euch das an!« schrie einer der Männer. »Ein Vulkan auf dem Vulkan.« Mit einem leistungsstarken Fernglas war deutlich der Staubschleier zu erkennen, der von Vulkan zur Erde herüberzog. Es war unschwer zu überlegen, daß der Staub nur aus dieser Entfernung ungefährlich aussah. In Wirklichkeit mußte er aus schweren Gesteinstrümmern bestehen. »Es ist also möglich«, sagte Kellermann nachdenklich, »mit einer gewöhnlichen Düsenmaschine nach Vulkan hinüberzufliegen.« »Ohne Zweifel.« Er sah Leclera an. »Warum tun wir es nicht?« Leclera nickte eifrig. Kellermann setzte sich mit dem Bunker in Verbindung. Über die Beobachtungen der Expedition hatte er schon vor einigen Stunden berichtet. »Noch etwas Neues?« fragte Oberst Henning. »Wir brauchen eine Düsenmaschine!« sagte Kellermann. »Haben Sie eine startbereit?« »Selbstverständlich. Aber wozu?« Kellermann erklärte ihm seinen Plan. »Vulkan besitzt eine eigene Atmosphäre und zeigt Spuren pflanzlichen Lebens. Er ist in jeder Hinsicht interessant.«
Henning versprach, in kürzester Zeit die angeforderte Maschine zu schicken. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!« sagte er zum Schluß. * Die Maschine war nach fünfzig Minuten zur Stelle. Oberst Henning hatte einen seiner fähigsten Piloten mitgeschickt. Das Flugzeug war in der Lage, außer dem Piloten noch zwei Passagiere mitzunehmen. Durch die Kürze der Lichtperiode wurde Kellermann dazu gezwungen, seine letzten Vorbereitungen während der Nacht zu treffen. »Ich habe Reisefieber wie noch nie«, sagte er zu Leclera. Leclera machte eine wegwerfende Handbewegung. »Freu dich nicht zu früh. Vulkan besitzt eine Atmosphäre, die sicherlich erst dann wieder aufgetaut ist, als er in die Nähe der Sonne kam. Die Pflanzenspuren, die wir von hier aus erkannt haben, sind wohl aus Samen entstanden, die im Zeitpunkt der stärksten Annäherung von der Erde durch den Luftsog hinübergetrieben wurden. Abgesehen von diesen spärlichen Spuren niederen Lebens ist Vulkan eine langweilige Steinwüste.« Kellermann fuhr fort, Meßgeräte zu verpacken. Der Pilot verstaute die Pakete in der Kanzel des Flugzeuges. Leclera stand untätig daneben. »Was summt hier?« fragte er plötzlich. Kellermann und der Pilot unterbrachen ihre Arbeit. Das Geräusch erfüllte die Luft, ohne daß jemand hätte sagen können, woher es kam. »Vielleicht hat jemand ein Aggregat laufen«, sagte der Pilot. »Ich glaube ...« Kellermann unterbrach sich mitten im Satz und deutete nach oben. »Da!« schrie er. Über dem Lager tauchte hellblauer Lichtschein auf. Er schien durch die Wolken zu sinken und wurde von Sekunde zu Sekunde intensiver. Er war deutlich lokalisierbar und hatte die Form einer Kreisscheibe. Eine halbe Minute später schien er die Wolkendecke durchdrungen zu haben. Seine Konturen waren scharf.
Das Summen hatte sich in der Zwischenzeit verstärkt. Das hellblau leuchtende Objekt trieb mit geringer Geschwindigkeit über das Zeltlager dahin. Wenn man annahm, daß es sich in einer Höhe von vierhundert Metern - also dicht unter der Wolkendecke bewegte, dann besaß es einen Durchmesser von etwa zehn Metern. »Eine recht erstaunliche Größe«, murmelte Leclera. Das Objekt gab keine anderen Anzeichen seiner Existenz von sich als das unverändert hellblaue Leuchten und den Summton. Niemand war in der Lage, allein daraus auf seine Konsistenz und Herkunft zu schließen. »Ich glaube, wir träumen«, sagte Kellermann, und er traf damit recht genau die Meinung Lecleras und des Piloten. Nach drei Minuten war das unbekannte Objekt wieder in den Wolken verschwunden. »Machen wir weiter!« sagte Kellermann. »… Wir werden es später ergründen.« Nach etwa drei Stunden riß die Wolkendecke auf - diesmal, ohne daß ein Orkan vorangegangen war. »Wir bekommen schönes Wetter«, sagte Leclera. »Ich möchte nur wissen ...« Er hatte nach oben gesehen, und in dieser Richtung blieb sein Kopf gedreht. Während er dem Piloten ein neues Paket reichte, sah Kellermann, daß sich sein Mund in Erstaunen weit geöffnet hatte. »Was ist jetzt schon wieder los?« Leclera sagte kein Wort; er deutete nur nach oben. Kellermann sah in die angegebene Richtung. Über ihnen schwebte die sonnenbeschienene Viertelkugel des Vulkan in all ihrer Größe und Unheimlichkeit. Kellermann ließ seine Augen eine Weile wandern, bis er fand, was Leclera so sehr aufregte. Kurz unterhalb des Äquators - in einer Gegend also, die gerade noch im Blickfeld lag - zuckte in regelmäßigen Abständen ein rotes Leuchten auf. Halb im Unterbewußtsein sah Kellermann auf die Uhr und maß die Intervalle. »Alle zwölf Sekunden«, flüsterte er. »Ein Signal!« sagte der Pilot. »Quatsch!« meinte Leclera. »Wir fangen schon an, Gespenster zu sehen.«
Sie konnten sich weder für die hellblau leuchtende Scheibe, noch für die roten Signale eine Erklärung geben. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Phänomene hinzunehmen und sich den Kopf erst dann darüber zu zerbrechen, wenn es an der Zeit war. Die Maschine mit dem Piloten und Kellermann startete während der vierzig Minuten der nächsten Tageslichtperiode. Leclera riet dem Flugzeugführer noch: »Vermeiden Sie Gebiete, in denen Vulkan und Erde näher als zweitausend Kilometer aneinander heranreichen.« Der Pilot nahm sofort Westkurs. Erst über der Gegend des früheren Mittelmeeres zog er die Maschine in einem steilen Bogen nach oben. »Weiter darf ich nicht gehen, sonst kommen wir aus dem Gravitationsbereich der Erde nicht heraus«, erklärte er Kellermann. Kellermann nickte nur. In etwa fünf Kilometer Höhe hatten sie die unwahrscheinlich dichte Wolkendecke endgültig unter sich gelassen. Im hellen Licht des Tages stand Vulkans gewaltige Viertelkugel über ihnen. Die Maschine schoß in senkrechtem Flug auf sie zu. Bis jetzt hatten Kellermann und der Pilot noch das Gefühl, nach oben zu fliegen. Es mußte jedoch in Kürze der Augenblick kommen, in dem die Schwere des Vulkan die Erdgravitation zu überwinden begann und ihnen den Eindruck vermittelte, sie stürzten auf seine Oberfläche. Das Gefühl, der Magen wolle ihnen zum Halse herausrutschen, nahm den beiden die Möglichkeit, dieses einmalige Abenteuer in vollen Zügen auszukosten. Sie wurden beide grün im Gesicht; aber sie rissen sich zusammen, weil sie wußten, daß eine Ohnmacht ihren Tod bedeuten würde. An dieser Stelle, an der sich die Schwerkräfte des Vulkan und der Erde gegenseitig aufhoben, befanden sie sich in einer Höhe von rund achttausend Kilometern über dem Erdboden, jedoch nur noch fünfhundert Kilometer über der Oberfläche des Vulkan. »Erstaunlich!« sagte der Pilot, nachdem er seinen Schwächeanfall überwunden hatte. »Mit dieser Maschine habe ich in normalen Zeiten höchstens eine Höhe von dreißig Kilometern geschafft.« »Die Gravitationen sind in diesen Gebieten minimal«, erklärte Kellermann. »Sie sind entgegengesetzt gerichtet. Welchen Luftdruck haben wir draußen?« Der Pilot las sein Instrument ab. »0,5 Torr!«
Kellermann nickte nachdenklich. »Auch das wäre unter normalen Umständen unmöglich.« Sie landeten in der Gegend, aus der sie vor einigen Stunden die roten Lichtsignale wahrgenommen hatten. Die Signale waren längst erloschen, aber ein kleiner, nahezu kreisförmiger See von etwa drei Kilometer Durchmesser markierte die Stelle deutlich genug. Die Atmosphäre hatte sich etwa fünf Kilometer über der Oberfläche des Vulkan so verdichtet, daß die Maschine wieder voll manövrierfähig war. Aber die Beschaffenheit der Landschaft bereitete dem Piloten ernsthafte Sorgen. »Ohne Bruch wird es kaum abgehen«, sagte er bedenklich zu Kellermann. Kellermann nickte langsam. »Solange wir uns dabei nicht die Köpfe einrennen, ist das weiter nicht schlimm. Henning hat noch eine Menge solcher Maschinen. Wir müssen auf jeden Fall hier landen!« Der Pilot machte ein gottergebenes Gesicht. »Von mir aus«, brummte er. Am 15. Juli 1983, 14.38 Uhr, empfing Leclera, der an der Küste des afrikanischen Meeres zurückgeblieben war, den Funkspruch: »In bezeichneter Gegend gelandet - Fahrgestell unbrauchbar sendet neue Maschine - bisher noch keine Aufklärung der Lichtsignale.« Leclera setzte sich mit dem Bunker C 57 in Verbindung und forderte ein neues Flugzeug an. Vulkan war ein erholsamer Planet. Seine Schwerkraft betrug an dieser Stelle nur ein Viertel der Erdgravitation - eine einfache Pistolenkugel würde ohne Zweifel bis zur Erde hinüberfliegen. Die Gegend, in der sie gelandet waren, war mit frischen Lavabrocken unterschiedlichster Größen bedeckt. Sie stammten offenbar aus der Zeit der Annäherung während der Katastrophe. Später waren Samenkörner von der Erde herübergetrieben worden; Wacholderbüsche hatten sich hier und dort angesiedelt und gaben der Landschaft einen freundlicheren Charakter. Am Ufer des Sees hatte sich ein Wald aus Kiefern gebildet. Die höchsten Stämme waren etwa drei Meter groß. Eine grobe Analyse der Vulkan-Atmosphäre hatte ergeben, daß in ihr Sauerstoff in genügender Menge enthalten war, um dem Menschen einen längeren Aufenthalt ohne jede Schutzmaßnahme
zu ermöglichen. Leichtere Gase waren nicht vorhanden - sie hatten sich infolge der geringen Gravitation des Vulkan längst verflüchtigt. Am nächsten Tag begann Kellermann mit seinen Messungen. Er hatte einen Klapptisch im Schatten der Maschine aufgebaut und seine Geräte darauf verteilt. Die Sonne an Vulkans wolkenlosem Himmel schien mit einer Kraft, die Kellermann nach drei Jahren Bunkeraufenthalt kaum mehr ertrug. Der Tuffstein, aus dem der ganze Planet zu bestehen schien, reflektierte die Hitze und machte die Gegend zu einem riesigen Backofen. Weber, der Pilot, wollte sich nützlich machen und sammelte Gesteinsproben. Im Augenblick war er außer Sichtweite. Kellermann war damit beschäftigt, das Magnetfeld des Vulkan auszumessen. Es war eine Messung, die viel Geduld und höchste Präzision erforderte. Trotz allem Eifer sank ihm mehrmals beim Beobachten der Meßinstrumente der Kopf nach vorn. »Es fehlt nur noch das Summen der Bienen«, murmelte er vor sich hin. »Dann schlafe ich ein.« Um sich wach zu halten, sah er in die Gegend. Sein Blick wanderte am Rand des Kiefernwäldchens entlang. Dabei sah er die Gestalt, die regungslos dicht vor den Bäumen stand und zu ihm herüberstarrte. »Weber!« rief er. Die Gestalt rührte sich nicht. Kellermann wischte sich über die Augen - der Unbekannte blieb. Es konnte nicht Weber sein, dazu war er zu klein und zu dünn. Kellermann sträubten sich die Haare. Er tastete nach der Pistole in dem Halfter. Langsam stand er auf, bückte sich unter der Tragfläche der Maschine hindurch und schritt auf die fremde Gestalt zu. Er mochte die Hälfte der Entfernung zurückgelegt haben, als ein Ruck durch den Fremden ging. Wie von der Sehne geschnellt, sprang er zur Seite und brach in den Wald. Kellermann lief ihm nach. Dabei zog er die Pistole und feuerte ein paar Schüsse in die Luft, um Weber aufmerksam zu machen. Die Spur, die der Fremde im Wald hinterlassen hatte, war nicht zu verkennen. Abgebrochene Äste und frisch gestreute Kiefernnadeln zeigten den Weg, den Kellermann nehmen mußte. Alle zehn Sekunden blieb er stehen, um zu hören, ob sich der Fremde noch bewegte. Nach vierzig Sekunden nahm er kein Ge-
räusch mehr wahr. Der Fremde hatte entweder den anderen Rand des Waldes erreicht, oder er war stehengeblieben. Kellermann bewegte sich vorsichtig. Die Pistole hielt er in der Hand. Er kam zu einer Stelle, an der die Spur abrupt aufhörte. Der Rand des Waldes war noch so weit entfernt, daß Kellermann ihn nicht erkennen konnte. An der Stelle, an der die Spur aufhörte, war das Holz so dicht, daß der Fremde sich nicht hätte entfernen können, ohne eine weitere Spur zu hinterlassen. Kellermann kniete nieder und untersuchte den Boden. Er fand keine Aufklärung; es sah aus, als habe der Unbekannte sich in Luft aufgelöst. Kellermann blieb ein paar Minuten reglos stehen. Außer dem leichten Wind, der vom See herüberstrich und die Bäume in leiser Bewegung hielt, war kein Geräusch zu hören. Der Fremde blieb verschwunden. Kopfschüttelnd machte sich Kellermann auf den Rückweg. Am Flugzeug stand Weber. »Was ist los?« rief er, als er Kellermann kommen sah. Kellermann erzählte ihm, was er erlebt hatte. »Sind Sie sicher, daß Sie wirklich jemanden gesehen haben?« fragte Weber. »Ich meine, bei dieser Hitze ...« Kellermann schüttelte den Kopf. »Hängen Sie mir bloß keinen Sonnenstich an. Das war zu deutlich, als daß es eine Fata Morgana hätte sein können.« Sie berührten das Thema an diesem Tag nicht mehr, obwohl jeder für sich dauernd daran dachte. Kellermann begann zwei und zwei zusammenzuzählen - die hellblau leuchtende Erscheinung am Meeresufer auf der Erde, die roten Lichtsignale aus dieser Gegend und jetzt das Erscheinen des Unbekannten. Es hätte hierfür eine ganz einfache Erklärung geben können. Aber daran wollte Kellermann nicht glauben, weil er zu sehr exakter Wissenschaftler war. * Am nächsten Tag kündigte Leclera die zweite Maschine an. »Ich habe ein Flugboot geschickt - damit nichts schiefgeht«, gab er durch.
Gegen Mittag wurde die Maschine sichtbar. Weber und Kellermann hatten ihren Platz durch ausgelegte bunte Tücher markiert. Im Tiefflug zog der Pilot die Maschine über den kleinen Kiefernwald hinweg und wasserte auf dem See. Durch die geringe Gravitation des Vulkan wurde das Flugzeug ein paarmal hart nach oben geschlagen, aber schließlich kam es kurz vor dem gegenüberliegenden Seeufer zum Stillstand. Zwei Männer kamen herübergelaufen - Oberst Henning und der Pilot des Flugbootes. »Ich möchte mir das mal selbst ansehen«, sagte Henning. »Sonst habe ich keine Ruhe mehr.« Er war enttäuscht, als Kellermann ihm erklärte, daß sie bis jetzt noch nichts gefunden hätten. »Eine Anlage, die derart starke Lichtsignale aussendet, daß man sie auf der Erde mit bloßem Auge sehen kann, muß doch zu finden sein.« Kellermann gab ihm recht. »Man sollte es annehmen.« Erst am Abend dieses Tages erzählte Kellermann von seiner Begegnung. Henning lachte. »Wenn wir einen objektiven Schiedsrichter hätten, wäre ich bereit, mit Ihnen darum zu wetten, daß es eine Sinnestäuschung war.« Kellermann sah ihn nachdenklich an. »Das würde die Sache vereinfachen. Aber ich vermute etwas anderes.« Den nächsten Tag begannen sie mit einer kleinen Beratung. »Nehmen wir einmal an«, begann Weber, »der Unbekannte falls es ihn gibt - verhalte sich menschenähnlich. Er war ohne Zweifel neugierig, wollte uns aber seinen Aufenthaltsort nicht verraten und noch weniger uns in die Finger fallen. Ein Mensch in seiner Situation würde ohne Zweifel in die Richtung laufen, die nicht zu seinem Versteck führt.« »Dann müßten wir also in der entgegengesetzten Richtung suchen, nicht wahr?« fragte Oberst Henning, und seiner Stimme war anzumerken, daß er immer noch nicht an den rätselhaften Unbekannten glaubte. »Ich find«, sagte Kellermann, »wir sehen die Sache etwas zu einfach. Wir vergessen zum Beispiel, daß der Fremde sich buch-
stäblich in Luft aufgelöst hat. Ist das vielleicht menschenähnlich?« »Trotzdem würde ich es einmal in der anderen Richtung versuchen«, wollte Weber seinen Vorschlag durchsetzen. »Es hat niemand etwas dagegen«, schloß Kellermann. In weit auseinandergezogener Kette durchstreiften sie den Wald in der Richtung, die dem Fluchtweg des Fremden vor zwei Tagen entgegengesetzt lag. Ausgerechnet Oberst Henning, der dem Problem am skeptischsten gegenüberstand, war derjenige, der das fand, was sie suchten. Seine dröhnende Stimme klang laut durch den Wald: »Herkommen - alle!« Sie brachen durch die Kiefern und achteten nicht auf die Zweige, die sie verschrammten. Henning stand auf einer kreisförmigen Lichtung von etwa drei Meter Durchmesser. Der Boden war vom Rand nach der Mitte zu gleichmäßig nach oben gewölbt. »Sehen Sie sich das an!« sagte Henning und stocherte mit einem Stock, den er sich abgeschnitten hatte, in dem weichen Erdreich herum. »Metall!« Weber sprang zur Maschine zurück und kam mit ein paar Schaufeln wieder. Verbissen machten sie sich an die Arbeit, die Erdschicht von der Metallplatte abzutragen. »Sie setzt sich unter den Bäumen fort«, stellte Kellermann erstaunt fest. Seine Erkenntnis wurde jedoch übertroffen durch Webers Entdeckung. »Hier ist eine Luke!« schrie er. In der Mitte der gewölbten Platte zeichnete sich ein Kreis von etwa anderthalb Meter Durchmesser ab. Eine kleine Vertiefung an der Peripherie des Kreises stellte offenbar einen Handgriff dar, mit dem man den Deckel nach oben ziehen konnte. Kellermann schob seine Hand hinein und begann zu ziehen. Die Klappe setzte seinen Bemühungen weit weniger Widerstand entgegen, als er geglaubt hatte. Das Luk flog mit einem Ruck auf, und Kellermann stürzte zu Boden. Sie blickten in einen mittelgroßen, von weißem Kunstlicht gleichmäßig erhellten Raum. Er besaß drei Zugänge, die mit demselben Mechanismus verschlossen waren wie das Luk, das Kellermann geöffnet hatte.
»Zwei bleiben hier oben. Ich steige mit Kellermann hinunter«, ordnete Henning an. Kellermann war einverstanden. Sie sprangen in den Raum hinunter. Keine der drei Türen ließ sich öffnen. »Vielleicht ist das eine Luftschleuse«, sagte Kellermann. »Dann müßten wir erst das Luk schließen.« Auf einen Wink warf Weber das Luk zu. Zischend saugte es sich fest. Kellermann zog an der Tür, vor der er stand. Widerstandslos glitt sie auf. Vor ihnen lag ein Gang, dessen Ende sie bei der gleichmäßigen Beleuchtung von hier aus nicht erkennen konnten. »Hallo!« schrie Henning in den Gang hinein ... Seine Stimme hallte unwirklich von den Wänden wider. Aber die Antwort blieb aus. »Gehen wir!« schlug Kellermann vor. Sie hielten ihre Waffen entsichert in den Händen. Von rechts und links mündeten in regelmäßigen Abständen Türen in den Gang. Henning öffnete eine von ihnen und schaute in den darunterliegenden Raum. Er sah aus wie eine Wohnkabine alles auf engstem Raum untergebracht. »Könnte das ein Raumschiff sein?« fragte Henning, Kellermann nickte bedächtig. »Möglich.« Sie verfolgten den Gang bis zu seinem Ende. Kellermann schätzte, daß sie bis dorthin etwa hundert Meter zurückgelegt hatten, als er auf einen zweiten, breiteren Gang mündete, der in Form eines Kreises um eine Kabine herumlief, die - wie sie sich durch einen Rundgang überzeugten - vier Türen aufwies. »Offenbar die Zentrale.« Auch diese Türen ließen sich widerstandslos öffnen. Sie betraten einen ebenfalls kreisrunden Raum von etwa zwölf Meter Durchmesser. Seine Wände waren bedeckt von riesigen Schalttafeln und einer großen Mattscheibe. »Das ist die größte Bildröhre, die ich je in meinem Leben gesehen habe«, staunte Oberst Henning. Kellermann begann sich mit den Schalttafeln zu beschäftigen. Sie waren ähnlich angelegt wie alle, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Allerdings waren die Schriftzeichen, mit denen die Schalter gekennzeichnet waren, völlig fremdartig und unverständlich.
»Der Mensch begegnet einer Bruderintelligenz«, sagte Kellermann, und es war ihm anzumerken, daß er der Feierlichkeit dieses Augenblicks gern durch einen weniger banalen Satz Ausdruck verliehen hätte. Oberst Henning verlor seinen Sinn für das Praktische auch in diesen Sekunden nicht. »Aber wo sind die Leute?« Kellermann zuckte mit den Schultern. »Wenn wir lange genug hierbleiben, werden wir sie schon finden.« Unter den Schalttafeln fand er kleine Wandschränke. Kellermann zog einige Schubfächer auf und wühlte darin herum. Er entdeckte handschriftliche Aufzeichnungen auf Metallfolien. Daten, die offenbar aus einer Rechenmaschine stammten, und schließlich einen Stoß ausgezeichneter Farbfotografien. »Sehen Sie sich das an!« sagte er. Oberst Hennig schüttelte den Kopf. »Was ist das? Ich kann nichts damit anfangen.« Eine Reihe der Aufnahmen zeigte auf völlig schwarzem Hintergrund eine spiralförmige, gelbe Wolke. »Zumindest das ist leicht zu erklären«, sagte Kellermann. »Das ist - an seiner überaus exakten Form eindeutig zu erkennen - der Spiralnebel NGC 21 335, einer der Nebel, die in den letzten Jahren von der Astronomie in mehr als fünfhundert Millionen Lichtjahren Entfernung entdeckt wurden.« Oberst Henning runzelte die Stirn. »Sollte das etwa bedeuten, daß diese Leute ...« »Diese Aufnahmen sind entweder mit nicht absorbierendem Teleskop oder aus einer Entfernung von höchstens dreißigtausend Lichtjahren gemacht worden.« »Aber man kann doch nicht annehmen, daß diese Leute eine Entfernung von 500 000 000 Lichtjahren zurückgelegt haben, nicht wahr?« protestierte Henning erregt. Kellermann sah ihn nachdenklich an. »Warum nicht?« »Aber denken Sie doch nach: Selbst wenn diese Leute mit Lichtgeschwindigkeit geflogen sind, wären sie mehr als fünfhundert Millionen Jahre unterwegs gewesen.« Hennings Gesicht war ein einziges Fragezeichen: Kellermann lachte.
»Wenn wir ihnen schon zubilligen, daß sie über die technischen Mittel verfügen, angenäherte Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, dann müssen wir ihnen auch zugestehen, daß sie sich damit im Bereich der Einstein-Lorenz-Verschiebung bewegen - das heißt: Sie können je nach ihrer Geschwindigkeit die Entfernung von NGC 21 335 bis hierher in beliebig kurzer Zeit zurückgelegt haben.« Es war Henning anzusehen, daß er nicht verstand. Kellermann gab sich keine weitere Mühe mit ihm, sondern betrachtete den Rest der Bilder. Sie zeigten alle einen Himmelskörper. Kellermann stellte fest, daß immer die gleiche Halbkugel aufgenommen war. Er erkannte es an verschiedenen unveränderlichen Kennzeichen, obwohl sich jede Aufnahme von der anderen um eine Spur unterschied. Die Bilder waren ohne Zweifel zu weit auseinanderliegenden Zeitpunkten gemacht worden. »Ich glaube, ich verstehe das«, sagte Kellermann nach einer Weile nachdenklich. »Was verstehen Sie?« fragte Henning. Kellermann tippte auf die Bilder. »Was Sie hier sehen, ist eine sogenannte langsame Kettenreaktion - in allgemeinverständlicher Sprache Atombrand genannt - in Großaufnahme. Wahrscheinlich haben die Leute, denen dieses Schiff gehört, ihren Planeten verlassen, als sie einsahen, daß der Brand nicht mehr gelöscht werden konnte.« »Und wann soll das geschehen sein?« Kellermann sah Henning verblüfft an. »Nun - vor mindestens fünfhundert Millionen Jahren.« Oberst Henning machte ein verzweifeltes Gesicht. »Aber Sie haben mir doch gerade erklärt ...« Kellermann winkte ab. Die Situation, in der sie sich befanden, war zu aufregend und zu einmalig, als daß er jetzt Interesse gehabt hätte, Oberst Henning, den eingefleischten Soldaten, über die Prinzipien der relativistischen Zeitdilatation aufzuklären. »Sagen Sie mir lieber, was wir jetzt tun sollen!« Henning sah hilflos drein. »Ich halte es für zwecklos, daß wir zwei allein das ganze Schiff durchsuchen. Wir sollten zu den beiden Piloten zurückkehren und von der Erde eine Expeditionsmannschaft anfordern.« »Das ist ein vernünftiger Vorschlag«, sagte Kellermann. Sie kehrten auf demselben Wege zurück, den sie hierher benutzt hatten. Als sie das Luk aufstießen, war es dunkel draußen.
»Endlich!« rief Weber. »Ich dachte schon, Sie seien verlorengegangen!« * Niemand schlief in dieser Nacht. Was sie gesehen hatten, beschäftigte ihre Gedanken so sehr, daß sie die ganze Nacht beisammensaßen und diskutierten. Kellermann hatte Leclera inzwischen informiert, eine Expeditionsmannschaft von mindestens fünfzig Mann zum Vulkan zu schicken. Leclera hatte die Mannschaft für den übernächsten Tag versprochen. »Merkwürdig ist immerhin«, gab Kellermann zu bedenken, »daß die Fremden ihr großes Schiff offenbar im Sand vergraben haben - natürlich nicht mit Schaufeln. Ihnen stehen bestimmt ausgezeichnete Mittel zur Verfügung, mit denen das Verbergen auch eines so großen Schiffes ein Kinderspiel ist. Ich kann mir diese Tatsache nur so erklären, daß diese Leute sehr ängstliche und mißtrauische Geschöpfe sind. Sie haben vielleicht längst erkannt, daß die Erde bewohnt ist - auch nach der Katastrophe. Offensichtlich fürchten sie uns jedoch. Die hellblaue Scheibe über unserem Lager - das rote Signallicht - die Gestalt, die ich am Mittag am Waldrand sah - das alles waren sie. Warum geben sie sich uns nicht zu erkennen?« Niemand wußte darauf eine Antwort. Als die Sonne aufging, brauten sie sich einen starken Kaffee, um die Müdigkeit zu verscheuchen. Dann begannen sie, die Umgebung des Lagers in immer größeren Kreisen abzusuchen, um eine Spur der Unbekannten zu finden. Erfolglos und mißmutig kehrten sie gegen Mittag ins Lager zurück. »Wir sollten uns später noch einmal das Schiff ansehen«, schlug Weber vor. »… Vielleicht finden wir dort doch einen Hinweis.« Niemand erhob einen Einwand. Ihre Konservenmahlzeit verzehrten sie ohne Appetit und schweigend. »Können wir gehen?« fragte Kellermann. Alle nickten. Sie durchquerten den Kiefernwald auf demselben Weg, der sie auch gestern zu dem fremden Schiff geführt hatte. Mehr aus Langeweile blieb Weber unterwegs stehen und sagte: »Ich werde mir auch einen Stock abschneiden.«
Er kniete nieder und machte sich mit seinem Taschenmesser an einem anderthalb Meter hohen dürren Stämmchen zu schaffen. Die anderen sahen ihm uninteressiert zu und warteten auf ihn. Weber begann plötzlich verblüfft vor sich hin zu fluchen. »Donnerwetter - das geht nicht!« »Ihr Messer wird stumpf sein«, lachte Henning. Weber schüttelte den Kopf. Er betastete den Stamm. »Fühlen Sie sich das an - das ist kein Holz, das ist Hartgummi!« Kellermann kniete neben ihm nieder. Mit den Fingerkuppen fuhr er über die Schale des Stammes. Sie sah aus wie Holz, aber sie fühlte sich anders an. Weber hatte Recht gehabt, wenn er das Material mit Hartgummi verglich. Kellermann stand auf und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht!« Weber holte mit der Hand zum zweiten Stoß aus, um sein Messer in den Stamm hineinzurammen. Trotz der Wucht des Stoßes glitt es jedoch ab. Weber schnitt sich dabei in den Finger und fluchte noch lauter. Kellermann lachte. »Geben Sie es auf!« sagte er. »Oder versuchen Sie es an einem anderen Stamm.« Weber richtete sich auf. Er leckte sich das Blut vom Finger und meinte: »Ich brauche ja gar keinen Stock. Aber das ärgert mich.« Sie gingen weiter. Halb unabsichtlich drehte sich Kellermann noch einmal um, nachdem sie sich fünfzehn Meter von dem mysteriösen Baum entfernt hatten. Das, was in der Zwischenzeit aus dem kleinen Stamm geworden war, nahm ihm den Atem. Aus seinem Schrei wurde ein heiseres Gurgeln. Weber, der direkt, vor ihm ging, hörte es und fuhr herum. Er sah Kellermann, der in verrenkter Körperhaltung den Weg zurückdeutete. »Dort!« krächzte er heiser. Weber sah auf das, was vor Sekunden noch ein Stamm gewesen war, an dem er mit dem Messer herumgekratzt hatte. Jetzt war er in Bewegung geraten. Er schien sich aufzublähen - Formen anzunehmen. Zwei Aststümpfe verlängerten sich und wurden zu Armen, kurz unterhalb der Spitze verdünnte er sich und bildete einen Hals. Ein Kopf wuchs darüber. Die untere Hälfte des Stammes spaltete sich und formte zwei Beine.
»Der Unbekannte!« hauchte Weber fassungslos. Sie waren keines klaren Gedankens mehr fähig. Zu unwirklich, zu unheimlich war das, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie wußten nicht, wieviel Sekunden vergingen, bis aus dem unansehnlichen, ausgedörrten Kiefernstamm ein menschliches Wesen geworden war. Es war kleiner als sie, vielleicht anderthalb Meter groß, aber es unterschied sich kaum von einem zu klein geratenen Erdenmenschen. Kellermann gewann als erster seine Fassung wieder. »Vorsicht!« flüsterte er. »Er hat sich uns zu erkennen gegeben wir dürfen ihn nicht erschrecken.« Im selben Augenblick, in dem sie begannen, auf das fremde Wesen zuzuschreiten, machte auch dieses den ersten Schritt in ihre Richtung. Kellermann ging als erster. Als er sich dem Unbekannten bis auf fünf Meter genähert hatte, blieb er stehen und hob die Arme zum Zeichen des Friedens. Auch der Unbekannte ging nicht mehr weiter und streckte die Arme in der gleichen Geste empor. Kellermann sah, daß er einen lederartigen Anzug trug - das Material, das sie vorhin für Hartgummi gehalten hatten. Die Augen des Kleinen leuchteten furchtsam. Kellermann blieb ernst. Er wußte, daß bei einer solchen Begegnung auch der Versuch eines Lächelns Furcht erregen konnte. »Wir freuen uns!« sagte er leise. Für seine Körpergröße besaß der Kleine eine volltönende, wohlklingende Stimme. Er sagte einen Satz in einer völlig unbekannten Sprache. Kellermann deutete in Richtung des fremden Schiffes. »Gehen wir dorthin?« fragte er. Der Fremde schien ihn verstanden zu haben. Er kam näher heran. Kellermann und seine Leute machten ihm bereitwillig Platz, daß er sie führen konnte. Der Kleine sah sich noch einmal um, ob alle ihm folgten, dann ging er mit festen Schritten auf die Stelle zu, an der sein Schiff an die Oberfläche ragte. Dadurch, daß Weber auf die Idee gekommen war, sich aus dem Kiefernwald einen Stock herauszuschneiden, war die Menschheit zum erstenmal im Laufe ihrer Geschichte einer fremden Intelligenz begegnet.
* Kellermanns Tagebuch enthält am 4. April 1984 folgende Eintragung: Heute hat die eigentliche Zusammenarbeit mit der Bruderrasse begonnen. Die anfänglichen Schwierigkeiten sind überwunden. Wir beherrschen ihre Sprache und sie die unsere. Sie kennen unsere Geschichte - in groben Umrissen - und wir die ihre. Ihr Bericht ist erstaunlich. Der Planet im NGC 21 335 war wirklich ihre Heimat. Ihre datierbare Geschichte umfaßt etwa zehntausend Jahre, Der Atombrand, der den Planeten vernichtete, war das Resultat einer einzigen Explosion eines großen Versuchsreaktors. So hochentwickelt ihre Technik auch ist, fanden sie doch kein Mittel, diesen Atombrand einzudämmen. Sie waren dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. In der Frühzeit ihrer Geschichte, in der die Stärke eines Mannes und eines Volksstammes allein auf der physischen Veranlagung beruhte, war ihr Planet von zwei verschiedenen intelligenten »Rassen« bevölkert. Die beiden Rassen waren von dem Zeitpunkt an, als sie aus dem unterbewußten Tierdasein in die menschliche Existenz traten, erbitterte Feinde. Die Gegnerrasse der Fremden, die auf Vulkan gelandet sind, müssen Giganten gewesen sein. In jahrtausendelangem Kampf entwickelten die Kleinen eine unwahrscheinliche, einmalige Fähigkeit: Sie verstanden es, ihren Körper dem Aussehen der jeweiligen Umgebung so anzupassen, daß sie von dieser Umgebung nicht mehr zu unterscheiden waren. Die Natur verlieh ihnen die Gabe der vollendeten Mimikry. Ihr Körperbau muß erstaunlich anpassungsfähig sein; wir werden später darüber noch mehr erfahren. Sie haben versprochen, uns ihre sämtlichen medizinischen Werke zur Verfügung zu stellen. Sie sind uns technisch weit überlegen. Leclera schätzt, daß ihre Entwicklung der unseren etwa um tausend Jahre voraus ist. Ihr Raumschiff, das sie auf Vulkan eingegraben haben aus Angst, wir könnten sie zu früh entdecken, bewegt sich durch Photonenantrieb; sie benutzen den ultravioletten Teil des Spektrums. Der Kleine, mit dem ich zuerst gesprochen habe - ich habe ihn Benjamin genannt - erklärte mir, daß sie mit Hilfe dieses Antriebs in der Lage seien, sich der Lichtgeschwindigkeit bis auf einige hunderttausendstel Prozent zu nähern. Das bedeutet, daß sie sich
praktisch ohne jeden Zeitverlust durch den Raum bewegen können. Dabei sind sie furchtsam wie kleine Kinder - ein Produkt ihrer jahrtausendelangen Furcht vor dem mächtigeren Gegner. Sie sind äußerst friedliebend, aber sie glauben nicht, daß es andere Menschen auch sein könnten. Es wird für uns eine schwierige Aufgabe sein, sie davon zu überzeugen, daß wir gegen sie nichts Böses im Schilde führen. Sie haben sich dazu bereit erklärt, mit uns zusammenzuarbeiten. Sie verließen ihren Heimatplaneten ohne festes Ziel. Mit Hilfe ihrer präzisen Ortungsgeräte entdeckten sie Vulkan, als er noch in drei Lichtjahren Entfernung von unserem System stand. Ihrer überlegenen mathematischen Technik war es möglich, die Bahn des Vulkan genau zu bestimmen. Sie wußten früher als wir, daß Vulkan nicht an der Erde vorbeiziehen, sondern sich ihr anlagern und mit ihr ein stabiles Hantelsystem bilden würde. Vulkans Tuffsteinboden ist äußerst fruchtbar. In zehn Jahren werden Erde und Vulkan wieder blühende Planeten sein. Auch jetzt, in der neuen Situation, ist die Erde in der Lage, die Menschheit zu ernähren. Wir sind dreißig Millionen Überlebende aber wie bisher immer in der Geschichte der Menschheit nach Katastrophen steigt die Geburtenziffer sprunghaft an. Unsere Biologen haben errechnet, daß noch nicht einmal tausend Jahre verstreichen werden, bevor die Zahl der Menschheit wieder den alten Stand erreicht hat. Wir haben viel verloren - aber mit Hilfe der Gäste aus dem All sehen wir erfreulichen Zeiten entgegen. * Kellermann entwickelte ein unwahrscheinliches, ihm bisher selbst unbekanntes organisatorisches Talent und wurde der große Koordinator der Nachkatastrophenzeit. Es gab auf der Erde - auch unter den Eingebunkerten - viele Gruppen, die sich wie die Leute des Padre Francesco benahmen; sie waren verstört, unfähig, klare Gedanken zu fassen und nur darauf bedacht, sich so schnell wie möglich zu bereichern - an Waffen, an Nahrungsmitteln, an Maschinen und allem, was die Erde noch aufzuweisen hatte.
Der Bunker C 57 und die neue Stadt, die sie Rom genannt hatten, wurde zum Zentrum der Koordination. Hier starteten alle Expeditionen, deren Ziel die endgültige Befriedung der Erde war. Im Jahre 1995 hatten es die Männer erreicht. Die ehemalige Gesellschaft zur Erhaltung der Menschheit hatte sich in das neue Staatsgebilde eingefügt. Die revolutionären Ideen unterlagen der weltweiten Demokratie, die von allen Überlebenden als Regierungsform anerkannt wurde. * Am 15. Januar 2001 enthält Kellermanns Tagebuch als letzte, private Eintragung: Ich habe meinen Posten als Koordinator zur Verfügung gestellt und mich ins Privatleben zurückgezogen. Beate meint, es sei endlich Zeit dazu. ENDE