Christian Tielmann
Verrat am Nil Die Zeitenläufer #03
s&c 11/2008
Ihre neueste Aufgabe führt die fünf Zeitenläufer Le...
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Christian Tielmann
Verrat am Nil Die Zeitenläufer #03
s&c 11/2008
Ihre neueste Aufgabe führt die fünf Zeitenläufer Lenz, Henrik, Fenne, Silvester und Cornelia ins alte Ägypten. Wird es ihnen gelingen, die magische Statue des Hethiterkönigs Hattuschili zu finden, um sie vor der Zerstörung zu bewahren und so den König vor einem raschen Tod? Wenn nicht, haben die Hethiter Vergeltung angedroht, und das ägypti sche Reich und sein Herrscher Ramses II. wären dem Untergang geweiht. ISBN: 978-3-570-13298-2
Verlag: cbj
Erscheinungsjahr: 2007
Umschlaggestaltung: Michael Bayer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Christian Tielmann
Verrat
am Nil
Mit Illustrationen von
Michael Bayer
Autor
Christian Tielmann wurde 1971 in Wuppertal ge boren. Er studierte Germanistik und Philosophie in Freiburg und Hamburg. Heute lebt er in Köln. Seit 1999 schreibt er für verschiedene Verlage Kinderund Jugendbücher.
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Mix Produktgruppe aus vorbildlich
bewirtschafteten Wäldern und
anderen kontrollierten Herkünften
Zert.-Nr.SGS-COC-1940
www.fsc.org
© 1996 Forest Stewardship Council
Verlagsgruppe Random House FSC-deu-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Pölten.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform 1. Auflage 2007
© 2007 cbj, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagbild und Innenillustrationen: Michael Bayer
Lektorat: Martina Patzer
Umschlagkonzeption: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf
MP • Herstellung: WM
Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-13298-2
Printed in Germany
www.cbj-verlag.de
Die Zeitenläufer
1. Kapitel
Gebackene
Kacke!« Lenz konnte es kaum glauben. Er lag im Bett, sah auf den Wecker und der Wecker zeigte diese zwei Zahlen an: Eine Sieben und eine Vierundvierzig. Viertel vor acht! Um acht Uhr würde der Schul gong gnadenlos die erste Stunde einläuten. Mit einem Satz sprang Lenz aus dem Bett, stieß sich fast den Kopf an der Dachschräge, hüpfte in seine Jeans, zog das T-Shirt über den Kopf und hechtete am Wasch becken vorbei die zwei schmalen alten Treppen hin unter ins Erdgeschoss. Die Küche sah noch genau so verwüstet aus, wie sein Onkel und er sie am Vorabend hinterlassen hat ten: Die Teller hatten sich über Nacht nicht von selbst abgewaschen, die drei Töpfe mit dem ange brannten Reis am Boden standen noch immer im Spülbecken und wurden von den beiden Pizzakartons nur notdürftig verdeckt. Außerdem hing dieser ver kohlte Geruch noch im Raum. Dr. Mo, wie alle Welt
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Lenz’ Onkel nannte, war zwar ein netter Kerl, aber als Koch die blanke Katastrophe. Zum Glück wohnten Lenz’ Eltern so zentral in Köln, dass es zur nächsten Pizzeria, in egal welche Himmelsrichtung, nicht wei ter als fünf Gehminuten war. Verhungern war im Haus in der Kettengasse daher ausgeschlossen – solange man genug Geld für eine Pizza in der Tasche hatte. Lenz öffnete den Kühlschrank, schnappte sich die Milchtüte, die Butter und das Marmeladenglas. Für ein gescheites Frühstück mit Müsli, Toastbrot, Bröt chen, Obst und allem Drum und Dran, das er so liebte, war keine Zeit. Schuld daran waren Dr. Mo und die Pharaonen, dachte Lenz, während er unge duldig auf das Brot im Toaster wartete und einen Schluck Milch trank. Eigentlich mochte er diese Stimmung im Haus. Es war Freitagmorgen, und das Erdgeschoss des schma len Hauses, in dem er mit seinen Eltern wohnte, gehörte ganz und gar ihm. Die Vögel in dem verwil derten Garten, den er durch das Küchenfenster sehen konnte, zwitscherten um die Wette. Ansonsten war es ruhig im Haus. Er musste nur noch diesen einen Tag Schule hinter sich bringen, dann war endlich Wo chenende. Und das würde sicherlich spannend wer den. Denn Lenz’ Eltern waren in ihrem Beruf als Schauspieler gerade auf einer Tournee und hatten ausgerechnet Dr. Mo, den Bruder von Lenz’ Mutter, als Babysitter engagiert. Dr. Mo war der verrückteste und netteste Onkel, den Lenz kannte. Er konnte zwar nicht kochen, dafür war es ihm vollkommen egal, wann Lenz ins Bett 8
ging; es war ihm sogar gleich, ob Lenz pünktlich in die Schule kam. Aber vor allem hatte Dr. Mo eine Menge Ahnung von der Geschichte der Menschheit. Lenz sah in das leere Milchglas. Es war unglaub lich gewesen, was sein Onkel ihm am Vorabend alles erzählt hatte. Dr. Mo war auf der Suche nach dem vergessenen Totentempel einer ägyptischen Königin. Er hatte sich regelrecht in den Gedanken verliebt, dass es am Nil noch eine ganze Reihe von Gräbern und Tempeln geben müsste, die vom Wüstensand verdeckt waren und nur darauf warteten, gefunden zu werden. Er hatte sogar einen heißen Tipp bekommen. Ein Freund von ihm hatte angerufen und ihm gesagt, dass er auf dem Schwarzmarkt in Kairo einige hochin teressante Gegenstände angeboten bekommen hatte, die vermutlich um die 3000 Jahre alt seien und aus einem Totentempel oder einem Grab in der Nähe von Luxor stammen mussten. Dr. Mo hatte sich prompt schwarzgeärgert, dass er nicht sofort nach Ägypten fliegen konnte, weil er auf Lenz aufpassen musste. Und Lenz hatte sich den ganzen Abend einen aus ufernden Vortrag über die ägyptische Geschichte angehört: vom Bau der Pyramiden über die Pharao nenmumien und die komplizierte Hieroglyphenschrift bis zu den großen Tempeln von Memphis, Theben und Abu Simbel – Dr. Mo hatte nichts ausgelassen. Selbst über das jährliche Hochwasser des Nils hatte er sich eine geschlagene Stunde verbreitet. Die Klingel riss Lenz aus seinen ägyptischen Träumen, in die er gerade wieder versunken war. Er stellte das Milchglas auf den Küchentisch und rannte zur Haustür. 9
»Weißt du, wie viel Uhr es ist?« Henrik Arnheim hatte seine sonst immer strahlenden braunen Augen weit aufgerissen. »Heute sind wir nicht nur spät dran, Lenz! Wir sind ultra spät dran!« Lenz versenkte seine Füße in die ausgelatschten Turnschuhe, ohne die Senkel zu öffnen, und wollte schon aus dem Haus stürmen, als Henrik kopfschüt telnd sagte: »Dein Schulzeug, Lenz!« »Gebackene …«, murmelte Lenz und machte kehrt. Ohne Henriks Tipp hätte er seine Schultasche glatt neben der Kellertür im Flur vergessen. Lenz wollte gerade aus dem Haus rennen, als er Schritte auf der Kellertreppe hörte. Das konnte unmöglich Dr. Mo sein, denn der schnarchte noch im ersten Stock des Hauses vor sich hin. Lenz war sich ziemlich sicher, wer das war. Die sen Gang, diese eiligen und doch sicheren Schritte, kannte er. Die quietschende Kellertür schob sich wie von Geisterhand auf – und dann stand sie vor ihm: Fenne, seine rothaarige Freundin aus dem Mittelal ter. Lenz hätte gar nicht sagen können, wie sehr er sich freute, sie wiederzusehen. Nur der Zeitpunkt, den sie für ihren Besuch gewählt hatte, war denkbar ungünstig! Und daran konnten noch nicht mal ihre himmelblauen Augen, an denen Lenz sich gar nicht satt sehen konnte, etwas ändern. Fenne hielt ein zusammengerolltes Blatt aus gelb lichem Papier in der Hand. »Ich muss dir was zeigen und es ist verflixt eilig, Lenz!« »Lenz! Wir haben es verflixt eilig!«, rief Henrik von der Haustür. Lenz sah von Fenne zu Henrik und wieder zurück 10
zu Fenne. An diesem Freitagmorgen schienen es irgendwie alle verflixt eilig zu haben. Aber Fenne war ungefähr 800 Jahre weit gereist und hatte es eilig, während Henrik nur pünktlich zur Schule kommen wollte. »Es ist Fenne!«, rief Lenz. »Du hast leider einen ganz abscheulich schlechten Moment erwischt, wir müssen zur Schule«, sagte er zu Fenne. Henrik kam ins Haus und schloss die Tür. »Quatsch, die Schule kann warten. Schließlich gibt es Wichtigeres als diesen Jürgensen mit seiner blöden Geometrie.« Henrik rieb sich die Hände. »Hat die Alte Wöhr was für uns? Wie lautet unser Auftrag?« Lenz verdrehte die Augen. Henrik tat immer so, als wären sie so eine Art Geheimagenten, die die unglaublichsten Spezialaufträge von der Alten Wöhr bekämen. Dabei waren sie eher so was wie Postboten. Sie brachten für die Alte Wöhr, die im Mittelalter lebte, Nachrichten, Briefe oder kleine Pakete von hier und jetzt nach da und dann. Der entscheidende Un terschied zu normalen Postboten bestand allerdings darin, dass sie diese Botengänge nicht nur von einem Ort zu einem anderen machten, sondern auch von einer Zeit in eine andere. Fenne reichte Lenz das zusammengerollte Blatt Papier. »Könnt ihr das lesen?« Lenz befühlte das Blatt. Das war kein Papier und auch kein durchschimmerndes Pergament. Die Seite, die Fenne ihm gegeben hatte, war aus Streifen eines recht groben Materials, das Lenz nicht kannte, zu sammengeklebt. 11
»Was ist das für ein Papier?«, fragte er, während er die Rolle öffnete. Fenne pustete sich ungeduldig eine Haarsträhne aus der Stirn und fragte: »Spielt das denn eine Rolle? Es ist Papyrus.« Henrik sah Lenz über die Schulter. »Ich kenne diese Schrift jedenfalls nicht.« Erst jetzt betrachtete auch Lenz die Schriftzeichen genauer. In roter und schwarzer Tinte waren Zeichen aufgemalt. Es waren keine lateinischen und auch keine griechischen Buchstaben. Was da auf dem Papyrus stand, erinnerte Lenz an die Hieroglyphen, die Dr. Mo ihm am Vorabend gezeigt hatte. »Könnt ihr rauskriegen, was da steht?« Fenne trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Und zwar schnell? Die Alte Wöhr kann diese Schrift nicht lesen, und es scheint auch niemanden in unserer Zeit zu geben, der ihr dabei helfen könnte.« Henrik zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was das überhaupt für eine Schrift ist. Wo her habt ihr die denn?« »Aus Ägypten, stimmt’s?« Lenz hielt den Papyrus noch immer in seinen Händen. Zwei Zeichen hatte er wieder erkannt: den Mund und das Auge. Fenne nickte. Henrik glotzte Lenz von der Seite an. »Kannst du jetzt etwa Ägyptisch?« »Ich nicht. Aber Dr. Mo.« Lenz rollte den Papyrus zusammen. »Vergiss es!«, sagte Henrik zu Fenne, als diese schon erleichtert aufatmete. »Das ist Lenz’ Onkel. Der versucht zurzeit, auf Lenz aufzupassen. Wenn du 12
mich fragst, dann …« Er tippte sich mit dem Zeige finger an die Stirn. »Dr. Mo hat einen Vogel, keine Frage«, sagte Lenz. »Aber er kann Hieroglyphen lesen. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind das hier ägyptische Hieroglyphen.« Lenz sah Fenne an. »Reicht es, wenn wir das nach der Schule erledigen?« Fenne schüttelte den Kopf. »Diesmal geht es um Leben und Tod.« Lenz hatte für einen Augenblick das Gefühl, als würde der Boden unter seinen Füßen schwanken. Wenn Fenne sagte, dass es um Leben und Tod ging, dann hatten sie es nicht nur verflixt eilig – dann war es eigentlich schon so gut wie zu spät. Auch Henrik war etwas bleich um die Nasenspitze geworden. »Dann wecken wir deinen Onkel eben. Er soll uns das sofort übersetzen.« »Also gut, versuchen wir es. Aber das wird nicht ganz ungefährlich.« Lenz stellte seine Schultasche wieder ab und stieg mit dem Papyrus in der Hand die Treppe hinauf in den ersten Stock. »Was meinst du? Und was wird gefährlich?« Fenne und Henrik folgten ihm. »Ich habe Dr. Mo noch nie geweckt«, flüsterte Lenz. Er öffnete die quietschende Tür zum Schlaf zimmer. »Und ich habe keine Ahnung, wie ihm und uns das bekommt.«
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Aus den geheimen Lebenserin nerungen der Alten Wöhr
Teil I
Als damals diese Sache mit Ägypten begann, hatten meine fünf Zeitenläufer schon einiges erlebt und sich mehrfach bewährt. Und auch dieses Mal war es von unschätzbarem Vorteil für mich, dass ich fünf Kinder aus so unterschiedlichen Zeiten und mit so unter schiedlichen Fähigkeiten gefunden hatte, die mutig genug waren, Botengänge zu übernehmen. Die bisherigen Zeitreisen, die Henrik, Lenz, Fenne, Silvester und Cornelia in meinem Auftrag angetreten hatten, waren zwar auch in ihrem Verlauf recht abenteuerlich geworden, aber keine hatte gleich schon zu Beginn auch nur annä hernd so brisant und gefährlich gewirkt wie diese verflixte Ägypten geschichte. Der ägyptische Zeitenläufer, der damals aus dem Zeitloch bei mir in Köln geklettert kam, war in seiner Zeit schwer verletzt von Ägypten nach Köln gereist, um meine Hilfe zu erbitten. Aber sein Leben konnte ich nur retten, indem ich ihn sofort in einen erholsamen Schlaf versetzte, und so hatte er mir die Nachricht, die er überbracht hatte, nicht mehr vorlesen können. Es war zum Aus-der-HautFahren. Ich verstand zwar die altägyptische Sprache, aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt ihre Schrift noch nicht lesen. Also schickte ich meine gute Fenne ins 21. Jahrhundert. Sie soll te mit Lenz’ und Henriks Hilfe herausfinden, ob es in ihrer Zeit jemanden gab, der die Schrift verstand und die Botschaft für mich entschlüsseln konnte.
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Dass Lenz nicht nur wusste, wo man suchen musste, sondern sogar unter einem Dach mit einem Schriftgelehrten wohnte, hatte meine kühnsten Hoffnungen bei Weitem übertroffen.
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2. Kapitel
Es gab Tage, an denen rauschte die Zeit in der Schu
le vorbei wie durch eine Klospülung. Es gab aber auch diese Kaugummi-Schultage, Tage, an denen der Sekundenzeiger von Lenz’ Uhr einzuschlafen schien und die Schulstunden einfach kein Ende nehmen wollten. Der Freitag war leider ein Tag der zweiten Art. Erst kriegten Henrik und er Ärger mit dem Ma the-Jürgensen, weil sie mal wieder viel zu spät ge kommen waren. Und dann zogen sich die Stunden schier unendlich in die Länge. Selbst die Pausen schienen plötzlich von der Kaugummi-Krankheit befallen zu sein. Als der Schulgong endlich das Ende der sechsten Stunde verkündete, konnte Lenz für einen Moment kaum glauben, dass er diesen Schultag tatsächlich überlebt hatte. Er keuchte hinter Henrik über den Schulhof, die Alte Wallgasse hinunter. Die beiden Jungs kreuzten die belebte Ehrenstraße mit ihren
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vielen kleinen Geschäften und Boutiquen. Henrik wäre um ein Haar mit einem schimpfenden Radfahrer zusammengestoßen, als sie in die Pfeilstraße einbo gen, von der die schmale Kettengasse abzweigte. Das Haus, in dem Lenz mit seinen Eltern wohnte, war so unscheinbar, dass es keinem Passanten auffiel. Dabei war es das einzige Fachwerkhaus der Straße. Klein und schmal wie es war, fristete das alte Häuschen hier ein unauffälliges Dasein. Aber wenn jemand gewusst hätte, dass ein echtes Zeitloch im Keller dieses Hauses versteckt war, wäre es mit der Ruhe in der Kettengasse sicherlich vorbei gewesen. Denn durch das Loch konnten Kinder, die noch nicht älter als elf Jahre waren, durch die Zeit reisen. Aber wenn so etwas in der Zeitung stünde, würden die Leute es vermutlich eh nicht glauben, dachte Lenz, als er die Haustür aufschloss. Schließ lich hatte er selbst der Geschichte nicht getraut, bis er und Henrik ihre erste Zeitreise unternommen hatten. Im kleinen Wohnzimmer der Jacobis sah es genau so aus wie am Morgen, als die Jungs das Haus verlas sen hatten: Dr. Mo saß noch immer im Schlafanzug am Esstisch und trank Kaffee direkt aus der großen Kaffeekanne. Vor ihm lagen der Papyrus, einige Blät ter Papier, die er vollgekritzelt hatte, und ein dickes Buch, das die Hieroglyphenschrift erklärte. Drum herum türmten sich die zwölf Bände eines großen Lexikons, in dem fast alles stand, was die Menschheit des 21. Jahrhunderts über das alte Ägypten wusste. Neben Mo saß Fenne auf einem Stuhl und achtete 17
darauf, dass er den Papyrus nicht verschwinden ließ. Das hatte Lenz ihr eingeschärft. »Und?« Henrik pfefferte seine Schultasche in eine Ecke und setzte sich gegenüber von Dr. Mo an den Esstisch. »Haben Sie den Text geknackt, Herr Doktor?« Lenz’ Onkel winkte ab und knurrte: »Nicht stören, bin mitten in Gedanken!« Er schrieb noch etwas auf einen Zettel. Dann schüttelte Dr. Mo den Kopf und warf seinen Bleistift auf den Tisch. »Übersetzt hab ich die paar Zeilen schon längst. Doch es ergibt für mich keinen Sinn. Es muss eine verschlüsselte Botschaft sein, aber ich kriege den Code nicht geknackt.« Dr. Mo zog eine Seite aus dem Wust an Büchern und Papier auf dem Tisch. Er las die Zeilen, die er darauf geschrieben hatte, nahm seine runde Brille ab, rieb sich kurz die Augen und kämmte dann mit drei Fin gern seine zerzausten Haare zu einer noch viel aben teuerlicheren Frisur. »Ich kapier es nicht. Vielleicht ist es einfach noch zu früh am Morgen für mein Gehirn!« »Mal sehen, ob ich die Nachricht verstehe«, sagte Henrik. »Oder Fenne.« »Das könnte natürlich sein …« Dr. Mo musterte das Mädchen mit den roten Haaren. Und Lenz fiel gleich auf, dass dieses Mustern nicht das normale, abschätzige Mo-Mustern war, das er kannte. Es war nicht der Blick, mit dem Dr. Mo die vielen Hundebe sitzer, die er allesamt für ausgemachte Dummköpfe hielt, bedachte. Es war eher der neugierige Blick, mit dem Dr. Mo uralte Vasen oder prähistorische Ku chengabeln betrachtete. Und dass Dr. Mo Fenne für so eine Art prähistorische Kuchengabel halten könnte, passte Lenz schon deshalb nicht, weil er seinem On 18
kel vom Zeitloch im Keller bisher nichts erzählt hatte. Und dabei sollte es auch bleiben, fand Lenz. »Lassen Sie endlich hören«, drängte Henrik, unge duldig wie immer. Dr. Mo grinste. Er stand auf, ließ das Papier auf den Tisch fallen und sagte: »Ich hoffe, dass ihr we nigstens meine Schrift entziffern könnt, Leute.« Und statt die Nachricht vorzulesen, drückte er Lenz das dicke Hieroglyphenbuch in die Hand. »Falls ihr glaubt, dass ich falsch übersetzt habe – schlagt selbst nach!« Er schlurfte kopfschüttelnd aus dem Wohn zimmer, die Treppe hinauf, Richtung Badezimmer. Henrik schnappte sich sofort das Blatt Papier, wäh rend Lenz noch das schwere Hieroglyphenbuch in der Hand hielt. Auf Dr. Mos Zettel stand: Diesen Boten schickt dir Paser, Wesir des Südens. Mein Bote wird dir eine magische Figur bringen. Zerstöre diese Figur in deiner Zeit, damit sie in unse rer Zeit keinen Schaden mehr anrichten kann. Sollte dich nur diese Nachricht, nicht aber auch die Figur erreichen, sind wir in größter Gefahr und brauchen dringend deine Hilfe. Gib meinem Boten in diesem Falle deine Zeitenläufer als Begleitschutz. Gemeinsam sollen sie die Figur aus unserer Zeit holen. Betraue mit dieser Aufgabe nur die Besten der Besten. Mögen die Götter deiner Zeit und die Götter meiner Zeit uns und den Zeitenläufern beistehen. Paser, Wesir des Südens, Wedelträger zur Rechten des Pharao, Wächter der beiden Kronen.
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Lenz umklammerte das Buch ein wenig fester. »Jetzt mal der Reihe nach. Bei der Alten Wöhr ist ein Zei tenläufer aus Ägypten, richtig?« Fenne nickte. »Aber er hatte keine Figur bei sich, nur dieses Schreiben.« Das Mädchen deutete auf den Papyrus auf dem Tisch. »Möglicherweise haben sie ihm die geheimnisvolle Figur abgenommen, bevor er ins Zeitloch geflohen ist.« »Sie?«, fragte Henrik nach. »Wen meinst du?« Fenne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, aber irgendjemand hat ihn übel zugerichtet, bevor er nach Köln kam. Er sah aus, als hätten sie ihn ins Rad geflochten.« Lenz schüttelte sich. Dieses Mittelalter, aus dem Fenne kam, war einfach fürchterlich: Es war lebens gefährlich, es stank an jeder Ecke, das Essen war zu fett und vor allem waren die Strafen für Gesetzesbre cher barbarisch. Wenn Fenne erzählte, dass jemand ins »Rad geflochten« wurde, dann fragte Lenz lieber nicht nach, was genau das heißen sollte – was er sich vorstellte, reichte ihm. »Wir müssen sofort zur Alten Wöhr«, entschied Henrik. »Sieht ja ganz so aus, als hätten wir einen neuen Auftrag!« »Auftaag?« Dr. Mo stand plötzlich im Türrahmen. Er hatte sich inzwischen angezogen und auch seine Frisur gebändigt. Mit der Zahnbürste im Mund fragte er: »Wasch fü ’n Auftaag?« Henrik, Lenz und Fenne schwiegen. »Was habt ihr mit dem Wesir Paser am Hut, Leu te?« Dr. Mo schrubbte weiter seine Zähne. Aber als keiner der drei antworten wollte, zeigte der Dr. mit 20
seiner Zahnbürste auf Fennes Nasenspitze. »Und woher kommst du eigentlich, Fenne? Hm? Keine Schule gehabt, heute? Und warum trägst du dieses Kostüm? Karneval ist doch längst vorbei!« Dr. Mo lief durch die stets offene Flügeltür in die Kü che und spülte sich den Mund aus. »Was ist? Wollt ihr mir nicht sagen, was die Nachricht bedeutet?« Er kam zurück ins Wohnzimmer. »Ich weiß über den Wesir Paser ver mutlich mehr, als ihr drei Spezialisten zusammen!« Die drei Zeitenläufer schwiegen. »He, Leute, so geht das nicht! Ihr könnt einen Dr. Mo nicht am helllichten Tag wecken, wenn er gerade am schönsten träumt, um Hilfe betteln und ihm anschließend nicht sagen, was gespielt wird!« Dr. Mo verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Fenne an. »Nun?« Lenz schluckte. Das hätte er sich denken können. Dr. Mo war einfach zu neugierig. Viel zu neugierig. Der würde nicht lockerlassen, bis er auch noch das letzte Geheimnis aus ihnen herausgekitzelt hätte. Es klingelte. Dr. Mo starrte Fenne an. »Es hat geklingelt«, sagte das Mädchen. »Ich bin nicht taub!« Dr. Mo ließ seinen Blick nicht von Fenne. »Wollen Sie nicht nachsehen, wer da ist?«, fragte Henrik. Endlich durchzuckte eine Art Geistesblitz den Kör per von Lenz’ Onkel. »Das muss der Installateur sein!« Er marschierte aus dem Wohnzimmer in den Flur. »Jetzt aber flott!«, flüsterte Henrik. Lenz ging es mal wieder entschieden zu schnell. Er 21
hielt noch immer das Buch mit den Hieroglyphen in der Hand, während Henrik schon durch die Küche flitzte. Fenne zerrte Lenz hinter sich her. Die Zeiten läufer huschten über den Flur und verschwanden hinter Dr. Mos Rücken in den Keller. Das Zeitloch war für den ungeübten Betrachter kaum zu erkennen. Wie ein blasser Schatten schwebte es vor dem alten Kleiderschrank im Vorratskeller von Lenz’ Elternhaus. Fenne machte den Anfang. Sie kletterte auf die Pappkartons, die schon seit dem Einzug der Jacobis hier standen, hielt sich am Rand des Lochs fest und stieg dann mit den Füßen zuerst hinein. Lenz hatte sich inzwischen an den Anblick ge wöhnt. Aber er wusste noch genau, wie verrückt er es gefunden hatte, als er es das erste Mal gesehen hatte. Fennes Beine verschwanden einfach im Nichts. Eben so ihr restlicher Körper, bis zum Schluss nur noch ihr Kopf aus dem Loch guckte. Es sah aus, als würde ihr Kopf vor dem Kleiderschrank im Keller schweben. »Bis gleich!«, sagte Fenne. Dann war auch ihr Kopf verschwunden. »Was willst du mit dem Buch, Lenz?«, fragte Hen rik, als er auf die Kisten kletterte. »Ich, äh …« Lenz hatte gar nicht bemerkt, dass er sich die ganze Zeit an das Hieroglyphenbuch ge klammert hatte. »Ich will der Alten Wöhr zeigen, wie die Hieroglyphen zu entziffern sind.« Henrik pfiff anerkennend durch die Zähne. »Gute Idee, das interessiert sie garantiert.« Lenz wartete, bis auch Henrik im Zeitloch ver schwunden war. Dann holte er seine Stirnlampe, die er 22
in dem alten Kleiderschrank versteckt hatte. Denn Lenz wollte sich das Zeitloch endlich mal von innen angucken. Er setzte die Stirnlampe auf, schaltete sie ein, klemm te das Buch unter den Arm und kletterte über die Papp kartons zum Zeitloch. Das Loch war pechschwarz. Er schwang seine Füße zuerst hinein, hielt sich am Rand fest und tastete nach dem Anker. Der sah aus wie eine überdimensionierte Häkelnadel und war aus einem einzigen Marmorstück geschlagen. Das obere, zu einem Haken gebogene Ende hatte Fenne am Rand des Zeitlochs eingehängt. Das untere Ende des Zeitankers war ein Handgriff, der ins Loch ragte. Lenz ließ sich tiefer ins Loch gleiten und hielt sich am Griff des Zeitankers fest. »Jaja, klar, der Heizungskeller ist hier unten, aber wir können auch mal im Vorratskeller nachschauen, wegen der Isolierung der Rohre«, hörte Lenz die Stimme seines Onkels, der offensichtlich gerade die Kellertreppe hinunterpolterte. Lenz ließ schnell den Anker los. Er hatte das Ge fühl zu fallen, wobei er nicht sagen konnte, ob er aufwärts- oder abwärtsfiel. Das Loch war so pechschwarz, dass es das Licht der Stirnlampe fast vollständig verschluckte. Lenz konnte gerade mal seine Hand sehen – aber vom Loch selbst (oder gar seinen Rändern) war nichts zu erkennen. Lenz kam sich plötzlich ziemlich dämlich vor mit seiner Stirnlampe. So ähnlich musste es aus sehen, wenn ein Astronaut versuchte, mit einer Ta schenlampe das Weltall zu beleuchten. Er streckte seinen Arm aus und erwischte den zweiten Zeitanker. 23
Aus den geheimen Lebenserin nerungen der Alten Wöhr
Teil II
Lenz Jacobi hat mich im Laufe unserer Bekanntschaft immer wieder überrascht. Als er das erste Mal aus dem Zeitloch stieg, hatte er so hilflos aus der Wäsche geguckt, mit zerrissenen Hosen und seinen kleinen abstehenden Ohren, dass ich fast dachte, ihn hätte jemand ins Zeitloch gestoßen. Ferner war er ängstlich und das ist auf Zeitreisen nicht gerade hilfreich. Aber ich musste den ersten Eindruck, den ich von Lenz hatte, gründlich revidieren. Er war zwar viel vorsichtiger als der forsche Henrik oder meine tapfere Fenne, aber er war auch umsichtig und vor allem hatte Lenz Ideen. Auf die Idee, mit einer Lampe ins Zeitloch zu steigen, um sich das Loch von innen anzuschauen, wäre ich nie gekommen. Für mich waren Zeitlöcher schon in meiner Jugend, als ich selbst noch als Zeitenläuferin kreuz und quer durch die Weltgeschichte reiste, immer etwas verwirrend gewesen. Aber ich habe sie einfach als Löcher akzeptiert und nicht ver sucht, sie zu ergründen. Auch Henrik oder Fenne wären wohl niemals auf so eine Idee gekommen. Auch wenn Lenz bei seiner Untersuchung des Zeitlochs nichts erfuhr, so hat er doch später dank dieses Versuchs eine Entdeckung gemacht, die die gesamte Zeitreiserei entscheidend beeinflusst hat.
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Meine Zeitenläufer hätten das ägyptische Abenteuer, das ihnen damals gerade bevorstand, kaum überlebt, hätte Lenz nicht im Zeitloch mit Licht experimentiert.
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3. Kapitel
Es
war jedes Mal wieder ein kleines Wunder: Lenz war im Keller des Hauses in der Kettengasse in Köln ins Zeitloch gestiegen und kam nun etwa 800 Jahre früher aus dem Loch in denselben Keller. Nur sah dieser Keller anders aus: Der Kleiderschrank und die Umzugskisten waren verschwunden. Der Raum wurde auch nicht von einer Glühbirne, sondern von Kerzen und etwas Tageslicht, das durch das kleine Kellerfens ter fiel, erhellt. Die Alte Wöhr nutzte den Keller als Werkstatt. An der Wand links neben der Tür stand ihre Werkbank mit allerlei Steinplatten. Die Wand, vor der das Zeitloch schwebte, war ganz und gar mit Regalen verbaut, in denen Gefäße, Werkzeuge und Bücher lagerten. An der sich anschließenden Wand stand eine Kleiderkiste, neben der eine Eckbank in der Wand verankert war. Auf dem Teilstück der Bank unter dem Kellerfenster saß Henrik meistens, wenn sie sich bei der Alten Wöhr trafen. Aber nun standen Henrik und Fenne vor dieser Bank, aus der die Alte 26
Wöhr notdürftig eine Bettstatt gemacht hatte. Auf den Strohsäcken lag ein Junge und schlief. Er war nicht älter als Lenz, Henrik und Fenne. Er hatte einen dunklen Teint und einen fast vollständig kahl rasierten Schädel. Nur drei Haarbüschel fielen auf seine Stirn. Auf seinem Hinterkopf schien auch noch ein Büschel Haare vor der Rasur verschont worden zu sein: eine lange Locke lag neben seinem Gesicht auf dem Kis sen. Seine linke Wange war bis zum Auge blaugrün und rot geschwollen. Sein rechter Arm war dick ver bunden und lag über der Decke. Und beim Anblick des Gesichts wollte Lenz lieber gar nicht wissen, wie der Körper des Jungen unter der Bettdecke aussah. Die Alte Wöhr saß am Kopfende und tupfte ihm die schweißnasse Stirn mit einem feuchten Lappen ab. Irgendwie hatte Lenz das Gefühl, als wäre sie noch krummer als sonst, und ihr schlohweißes Haar erschien ihm noch heller. Sie sah kurz zu Lenz herauf und nickte ihm mit todernster Miene zu. »Komm runter, Lenz. Nimm dir einen Becher Tee.« Oh nein!, dachte Lenz. Er sprang vom Rand des Zeitlochs in den Keller. Nie wieder wollte er den Tee der Alten Wöhr trinken! Sie braute dieses Gesöff aus Brennnesseln, und es schmeckte so, als wären auch einige Nacktschnecken mit im Spiel – davon hatte Lenz schon bei früheren Gelegenheiten mehr als genug gekostet. »Setzt euch.« Die Alte Wöhr sprach leise. »Was habt ihr für mich?« »Wird er sterben?« Henrik blieb am Fußende des Lagers stehen und wandte den Blick nicht von dem Jungen ab. 27
»Ti?« Die Alte sah sorgenvoll auf das Gesicht des Jungen. »Ich weiß es nicht. Ich tue alles, was in mei ner Macht steht, um es zu verhindern. Aber sie haben ihn übel zugerichtet!« Lenz schluckte. Wer auch immer diesen Jungen namens Ti überfallen hatte. Mit solchen Typen wollte er nichts zu tun haben. Lenz war nämlich nicht nur ein verflixt schlechter Schläger, er war auch ein ziem lich langsamer Wegläufer. »Lenz hat einen Onkel, der die Schrift entziffern konnte.« Fenne setzte sich auf einen der beiden Baumstümpfe, die hier als Hocker fungierten, und reichte der Alten Wöhr den Schrieb von Dr. Mo. Die Alte las die Zeilen und hielt das Blatt danach lange in der Hand, ohne sich zu regen. Schließlich ließ sie das Papier sinken. »Das ist eine schlechte Nachricht. Ti hat es nicht geschafft, diese magische Figur zu mir in Sicherheit zu bringen. Das heißt, dass wir Pasers Bitte nachkommen sollten.« Sie sah von Fenne zu Henrik, der noch immer am Fußende von Tis Lager stand und den ägyptischen Jungen betrach tete. Schließlich landete ihr Blick bei Lenz, der sich auf den zweiten Baumstumpf gesetzt hatte. »Dieses Mal wird es gefährlich. Und ich bin euch nicht böse, wenn ihr es nicht machen wollt.« Die drei Zeitenläufer schwiegen. »Ihr habt die Nachricht von Paser gelesen. Ihr wisst, dass ihr zusammen mit Cornelia und Silvester die Besten der Besten seid.« Lenz fühlte sich zwar sehr geschmeichelt, doch er hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass er besonders gut war. Henrik, Fenne und Silvester, die waren viel 28
schneller, mutiger und stärker als er. Und Cornelia hatte die Fähigkeit, sich so gut zu verstecken, dass kein Mensch sie entdecken konnte. Aber er? »Wir gehen. Wenn du uns den Auftrag gibst, gehen wir.« Henrik ballte die Fäuste. »Das sind wir Ti schul dig – ob er überlebt oder nicht.« »Vorsicht, Henrik! Falls du Rache an denen neh men willst, die Ti das angetan haben, bleib lieber zu Hause! Sie sind euch garantiert überlegen. Und ihr müsst extrem vorsichtig sein!«, mahnte die Alte Wöhr. »Ti kann euch nicht begleiten. Ihr habt weder ägypti sche Kleidung noch eine Ahnung davon, wie sich Ägypter benehmen. Die Sprache werdet ihr ja dank des Zeitlochs verstehen, aber ihr könnt die Schrift nicht lesen.« Die Alte Wöhr rang die Hände. »Was gäbe ich drum, wenn ich diese Schrift lesen könnte!« Endlich durchzuckte es Lenz. Er reichte das Hie roglyphenbuch der Alten Wöhr. »Ich muss es wieder mitnehmen, aber das Prinzip, nach dem die Hierogly phenschrift funktioniert, kann dir dieses Buch erklä ren … Es ist eine Mischung aus Bildschrift und Laut schrift.« Der Blick der Alten Wöhr hellte sich ein bisschen auf, als sie das Buch durchblätterte. »Danke, Lenz.« »Hat Ti noch irgendetwas gesagt?« Die Wut in Henriks Stimme war nicht zu überhören. Die Alte Wöhr seufzte. »Nur einen Satz. Er hat im Fieber immer diesen einen Satz gesagt: ›Unter der Lüge von Kadesch liegt die Wahrheit im Staub.‹« »Was bedeutet das?« Fenne nahm einen Schluck Ekel-Tee, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Alte Wöhr schüttelte den schlohweißen Kopf. 29
»Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet. Ich bin mir nicht mal sicher, dass es etwas bedeutet. Vielleicht war es auch nur wirres Zeug, das Ti im Fieber gespro chen hat. Er war so schwach, dass er mir noch nicht mal die Botschaft vorlesen konnte!« »Wir werden es herausfinden!« Henrik sah ent schlossen von Fenne zu Lenz. »Seid ihr dabei?« Fenne nickte. Lenz musste sich zwar ein bisschen überwinden, aber dann nickte auch er. »Aber wie kommen wir da hin? Aus welcher Zeit ist Ti überhaupt?« Die Alte Wöhr legte ihre Stirn in noch viel tiefere Sorgenfalten. »Das sind zwei gute Fragen, Lenz. Ti kommt aus dem Jahr 1256 vor Christi Geburt. Zu seiner Zeit ist Ramses II. Pharao in Ägypten.« Lenz war sich für einen Moment nicht ganz sicher, ob die Alte grinste. »Von jetzt aus sind es also ungefähr 2500 Jahre zurück, von euch aus sogar mehr als 3000 Jah re.« Lenz überlegte rasend schnell. Vor 3000 Jahren – was war denn damals in Köln los? Seit er als Zeiten läufer unterwegs war, hatte sich Lenz eine Menge Geschichtsbücher besorgt. Vor allem die Stadtge schichte von Köln hatte er genauestens studiert, schließlich war das Zeitloch ja in der Kettengasse, und wer durch ein Zeitloch reiste, reiste nur in der Zeit, nicht zugleich auch im Raum. Aber in so früher Zeit gab es seines Wissens in Köln noch gar nichts – jeden falls noch längst keine Römer. Vermutlich waren weite Teile des Rheintals einfach noch Urwald zu dieser Zeit. Und das hieß: Es gab keine Wege, kaum Leute, die ihnen helfen konnten, und sie würden sich 30
vor Bären und Wölfen in Acht nehmen müssen. Vor allem aber würden sie eine Ewigkeit brauchen, bis sie in dieser Zeit nach Ägypten kämen! Lenz sah die Alte Wöhr an – und jetzt bemerkte er wirklich ein Grinsen auf ihrem Gesicht. »Das wird nicht gerade gemütlich, im Jahre 1256 vor Christus durch Köln zu spazieren, oder?« Lenz wiegte den Kopf hin und her. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob man zu dieser Zeit überhaupt schon irgendetwas findet, was man ›Köln‹ nennen könnte.« »Gute Nachricht: Ihr braucht nicht unser Kölner Zeitloch zu benutzen.« Die Alte Wöhr deutete auf das Zeitloch, das hinter Henrik vor der Regalwand schwebte. »Es gibt auch in Ägypten ein Zeitloch. Es ist in einem Tempel. Ich habe eine Karte. Ihr werdet es leicht finden.« Sie stand auf, holte eine Karte aus einer der Schatullen im Regal und reichte sie Fenne. Dann legte sie die Hände flach zusammen, stützte ihre Stirn gegen die Zeigefinger und schloss die Au gen. »Ihr müsst in eurer Zeit nach Ägypten reisen. Könnt ihr das schnell und sicher schaffen?« Henrik grinste Lenz an und sagte nur zwei Worte: »Dr. Mo.« Lenz schüttelte den Kopf: »Ausgeschlossen! Der will zwar lieber heute als morgen nach Ägypten, aber warum sollte er ausgerechnet uns beide mitnehmen?« »Euch drei«, verbesserte die Alte Wöhr Lenz leise lächelnd. Lenz traute seinen Ohren kaum. Fenne sollte in ein Flugzeug steigen? Fenne mit ihren mittelalterli chen Klamotten? 31
»Klar, den kriegen wir überredet!«, sagte Henrik. »Er ist ziemlich verrückt. Und wenn Fenne dabei ist, frisst der uns aus der Hand. Schließlich war er ja ganz scharf drauf, sie über ihre Herkunft auszuquetschen.« Henrik rieb sich die Hände. »Das ist so gut wie ge ritzt: Wir könnten das mit ihm verhandeln – Flugti ckets für Fenne und uns beide gegen die Wahrheit über die Zeitreisen.« Die Alte Wöhr legte ihre runzlige Stirn in ungläu bige Sorgenfalten. »Meinst du, dass dein Onkel sich auf so ein Geschäft einlassen wird?« Lenz überlegte. Das Geschäft Wahrheit gegen Ti ckets klang verrückt. Aber es klang auf eine ähnliche Weise verrückt wie die Geschichten, die Dr. Mo immer erzählte. »Könnte schon sein. Das würde zu ihm passen.« Die Alte Wöhr lachte. »Dieser Dr. Mo beginnt mir zu gefallen. Können wir ihm vertrauen?« Lenz wiegte den Kopf hin und her. »Das weiß man bei Dr. Mo nie so genau. Wenn er irgendwie Geld aus dem schlagen kann, was er von uns erfährt, dann wird er es garantiert versuchen – denn mein Onkel ist dauerpleite.« Das schien die Alte Wöhr eher zu beruhigen. »Gut, dann wisst ihr ja schon, hinter was er her ist: Geld und Wissen. Scheint doch ein ganz normaler Mensch zu sein, dein Onkel.« Sie nahm sich ihren Teebecher vom Tisch und trank einen Schluck NacktschneckenTee. »Weiht ihn ein und haltet ihn euch warm. Aber sobald er etwas von den Zeitreisen herumerzählt, meldet es mir!« In Lenz’ Bauch starteten schon die Triebwerke. Er 32
würde fliegen! Mit Fenne und Henrik! Nach Ägypten! Egal wie gefährlich es war – das Land der Pharaonen, der Pyramiden, Tempel und Mumien wollte er wirk lich gern sehen. Und als er sich vorstellte, dass Fenne beim Start neben ihm sitzen würde, da wurde es Lenz ganz warm ums Herz. Aber plötzlich schoss ihm eine Frage durch den Kopf: »Aber wie kriegen wir Fenne durch den Zoll? Sie hat doch gar keine Papiere!« »Papiere, ja, diese Papiere.« Die Alte Wöhr ging wieder zu ihrem unerschöpflichen Regal und griff in einen Tonkrug. Lenz traute seinen Augen kaum, als sie einen gültigen Ausweis für Fenne herausholte. Mit Foto und Stempel! Auch Henrik staunte nicht schlecht. »Woher habt ihr den denn?«, fragte Lenz. Fenne sah pfeifend zur Decke. Die Alte Wöhr schmunzelte. »Ihr seid doch schon recht erfahrene Zeitenläufer. Vielleicht ist euch auch schon aufgefallen, dass es in jeder Zeit Menschen gibt, die gegen die richtige Bezahlung so gut wie alles für einen tun. – Nun, solche Leute gibt es eben auch in eurer Zeit. Und wir …«, sie zwinkerte Fenne zu. »… haben eben ein bisschen vorgesorgt.« »Bestechung?«, fragte Lenz fassungslos. »Ihr habt die Beamten der Bundesdruckerei …« Aber dann biss er sich auf die Lippen. Er wollte es gar nicht wissen. Er wollte nicht wissen, ob Fenne etwas Illegales getan hatte. »Was regst du dich so auf, Lenz?«, fragte Henrik. »Es ist doch nur ein blöder Ausweis. Hat sich Fenne ja nicht ausgedacht, dass man bei jeder Grenze diese dämlichen Papiere braucht. Und es schadet doch 33
niemandem, wenn Fenne sich frei in unserer Zeit bewegen kann.« Lenz wusste nicht, was er dagegen sagen sollte. Ir gendwie fand er es trotzdem nicht ganz in Ordnung. Andererseits hatte Fenne, die aus dem Mittelalter kam, keine Chance, auf legalem Weg einen Ausweis zu kriegen. Und Schaden wurde dadurch ja wirklich niemandem zugefügt. »Seid vorsichtig! Ich wünschte, Silvester und Cor nelia wären dabei, um euch zu unterstützen«, sagte die Alte Wöhr zum Abschied. »Nehmt euch jedenfalls vor den ägyptischen Magiern in Acht! Die sind zu allem fähig. Und grüßt Paser von mir.« Fenne nickte und kletterte als Erste ins Zeitloch. »Pyramiden, wir kommen!«, rief Henrik, bevor er sich zum Zeitloch hinaufschwang. Er war schon fast verschwunden, da streckte er den Kopf doch noch einmal heraus und sagte: »He Lenz, vergiss nicht, deine Lampe wieder einzuschalten! Wie sieht’s denn aus im Loch?« »Finster«, sagte Lenz kleinlaut. Henrik lachte. »Da wäre ich nicht draufgekommen, Lenz! Gut, dass du mal nachgeguckt hast.« Lenz wollte noch etwas sagen, aber der kichernde Henrik war schon verschwunden. Die Alte Wöhr gab Lenz das Hieroglyphenbuch zurück. »Eines Tages muss ich diese Schrift wohl doch noch lernen. Vielleicht kannst du mir noch ein zweites Exemplar besorgen?« Lenz nickte. Er setzte seine Stirnlampe auf. Klemmte das Buch unter den Arm und schwang sich ins Loch. 34
Er ruderte mit den Armen und erwischte den zwei ten Anker. Aber ehe er sich aus dem Loch ziehen konnte, hörte er von draußen Henriks warnende Stimme. »Bleib drin Lenz!« »Wie bitte?«, hörte Lenz die Stimme von Dr. Mo. »Och nichts, ich hab nur so vor mich hingemur melt«, sagte Henrik. »Wir gehen mal rauf zu Lenz, der ist ja in seinem Zimmer!«, hörte er Fenne ziemlich laut und betont sagen. Da stimmte was nicht. Sie wollten Dr. Mo doch einweihen! Was sollte also diese Geheimniskrämerei. Aber dann hörte Lenz noch eine Stimme. »Sehen Sie, hier gehen die Heizungsrohre durch«, sagte eine Männerstimme, die Lenz nicht kannte. »Und da könnten wir ebensogut den Heizungskeller verlegen, oder nicht?« Mist, der Heizungsinstallateur! Den hatte Dr. Mo ja reingelassen, als die Zeitenläufer sich in den Keller verdrückten. Solange der Installateur im Raum war, konnte Lenz nicht aus dem Zeitloch steigen, ohne das Ge heimnis preiszugeben. Dämlicherweise hörte sich der Heizungsinstallateur mindestens so gern selbst reden wie Dr. Mo. Die beiden Männer übertrumpften sich regelrecht mit ihren immer verrückter werdenden Vorschlägen, wie man die Heizungsanlage des Hauses verändern könnte, um sie sparsamer, umweltscho nender und eleganter ins Haus zu integrieren. Lenz wurde es langweilig. Er schaltete die Stirnlampe ein und begann das Hieroglyphenbuch seines Onkels zu lesen. Er studier 35
te im einführenden Teil, wie sich die Bedeutung eines Wortes aus den Schriftzeichen ergab. Aber die beiden Männer redeten noch immer. Erst als Lenz auch den Wörterbuchteil des Buches, in dem ein paar Tausend Schriftzeichen mit ihrer Bedeutung aufgelistet waren, Seite für Seite durchgeblättert hatte, klingelte das Handy des Installateurs. Der Typ hatte vor lauter Schwätzerei seinen nächsten Termin verpasst und musste dringend los. Lenz wartete noch, bis die Kellertür ins Schloss ge fallen war. Dann endlich schaltete er seine Stirnlampe aus und kletterte aus dem Zeitloch.
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Aus den Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil III Es gibt Dinge, die sind mir immer ein Rätsel geblieben. Zu diesen Rätseln, diesen unbeantworteten und möglicherweise sogar un beantwortbaren Fragen, gehört die nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Zeit. Manche Philosophen meiner Zeit fragen sich, wie es möglich ist, mit Wörtern auf Gegenstände in der Welt Bezug zu nehmen. Aber das ist ein Klacks, verglichen mit meiner Frage: Warum versteht ein Zeitenläufer die Sprache der Zielzeit? Ich selbst habe es als zeitreisendes Kind erlebt. Wer durch ein Zeitloch reist, kommt mit einem enormen Schatz in der Zielzeit an: Er spricht und versteht die Sprache der Zielzeit wie ein Mutter sprachler. Und was das Tollste daran ist: Wer ein gutes Gedächtnis hat, verliert diese Fähigkeit, die er gleichsam vom Zeitloch geschenkt bekommen hat, auch nicht mehr. So habe ich in meiner Kindheit an die zwanzig Sprachen geschenkt bekommen. Freilich fange ich mit den meisten nichts mehr an, weil sie längst ausgestorben sind (wer unterhält sich schon noch auf Etruskisch?), aber manche Sprachen sind auch in meiner Heimatzeit von großem Nutzen (allen voran Latein). Lenz war, ohne es zu wissen, drauf und dran, mich auf ein noch größeres Rätsel zu stoßen, als er im Zeitloch gefangen war und dort
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das Buch las. Ich vermute, dass vor ihm noch nie ein Zeitenläufer in dieser Situation gewesen ist. Denn sonst hätte ich längst von dem Phänomen erfahren gehabt, das Lenz an sich selbst beobachtete.
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4. Kapitel
Niemals! Vergiss es!« Eine geschlagene Stunde bear
beiteten die drei nun schon Dr. Mo, um ihn für ihre Pläne zu gewinnen. Jetzt half wirklich nur noch der Griff zum letzten Mittel: »Und wenn wir dir verraten, wo Fenne herkommt und wir dir alle Fragen beant worten, die du stellst?« »Dann ist es etwas anderes. Einverstanden!« Dr. Mo sah auf die Uhr. »Wann können wir starten?« Lenz traute seinen Ohren kaum. Es war, als habe man bei seinem Onkel einen Schalter umgelegt! Dr. Mo war verrückt genug, sich auf das Geschäft »Flugtickets gegen Wahrheit« einzulassen. Und er war sogar so verrückt, Lenz und Fenne zu glauben, als sie ihm von den Zeitlöchern, der Alten Wöhr und ihrem Auftrag erzählten. »Das ist also ein Zeitloch.« Dr. Mo stand zwischen Fenne und Lenz im Keller und betrachtete das Loch vor dem alten Kleiderschrank. Er polierte seine Bril lengläser mit dem Hemdzipfel. »Und ihr seid ganz
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sicher, dass es in Theben-West noch so ein Zeitloch gibt?« Fenne nickte. »Es ist in einem Tempel versteckt.« »In welchem?« »Er gehört einer Königin, die einen komplizierten Namen hat. Hatschi-Prost, oder so ähnlich.« »Hatschepsut«, sagte Dr. Mo direkt. »Der Terras sentempel! – Na, da hat sich das Zeitloch ja eine schicke Umgebung ausgesucht.« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Gibt es diesen Tempel denn noch?« Dr. Mo setzte seine Brille wieder auf. »Ob es den noch gibt? Und wie! Der Terrassentempel der Hat schepsut ist eine der großen Attraktionen für alle Touristen, die nach Ägypten reisen.« Keine vierundzwanzig Stunden später landeten die drei Zeitenläufer mitsamt Dr. Mo in Luxor. Henriks Eltern hatten darauf bestanden, dass sie die Flugti ckets bezahlen durften, und Lenz’ Mutter darauf, dass sich Lenz im Zweifelsfall immer an das hielt, was Henrik sagte und nicht auf ihren verrückten Bruder Mo hörte. Es war Nachmittag und es war heiß in Luxor. Rich tig heiß. Nur im Hotelzimmer war es kalt – irgendein Spaßvogel hatte die Klimaanlage auf 18 °C eingestellt. »Wahnsinn!« Fenne ließ sich auf Lenz’ Bett fallen. Sie breitete die Arme aus. »Wenn ich in eurer Zeit lebte, würde ich jeden Tag in so eine Flugkiste stei gen!« Sie grinste. »Das ist aber eine Katastrophe für die Umwelt!«, sagte Lenz. 40
»Umwelt?«, fragte Fenne. »Was ist das?« »Die Natur, die Bäume, die Luft, das Wasser, die Erde – die ganze Natur eben.« »Aber was haben die Bäume mit euren Flugma schinen zu tun? Die krümmen doch keinem Baum ein Haar!« Fenne setzte sich auf dem Bett auf. Sie trug ein T-Shirt, eine kurze Hose und ein paar alte Turn schuhe von Lenz. Sie sah aus wie ein ganz gewöhnli ches Mädchen aus dem 21. Jahrhundert, nur eben etwas hübscher – fand Lenz. Und sie hatte von man chen Dingen einfach keine Ahnung. Zum Beispiel von der Klimakatastrophe, auf die die Menschheit in Lenz’ Zeit zusteuerte. Lenz kratzte sich hinter seinem linken Ohr. »Also, die Flugzeuge werden ja mit Kerosin angetrieben. Das Abgas, das sie ausstoßen, bleibt in der Atmosphä re hängen und reflektiert das Sonnenlicht, sodass …« Lenz stockte. Fenne sah ihn mit ihren himmelblauen Augen an. Und als Lenz in diese Augen sah, wusste er plötzlich nicht mehr weiter. Nicht mal mehr, wovon sie gerade geredet hatten und was die Klimakatastro phe überhaupt mit Fenne und ihm zu tun hatte. »Hier ist es!« Henrik, der auf dem zweiten Bett im Zimmer lag, deutete auf eine Karte im Reiseführer. »Wir müssen auf die andere Seite des Nils.« Die Tür flog auf und Dr. Mo stürmte ins Zimmer. »Mein Informant kann jetzt doch erst heute Nachmit tag. Also was ist, wollt ihr erst noch die Stadt besichti gen? Oder soll ich euch gleich rüber zum Terrassen tempel bringen?« »Stadtbesichtigung? Sie meinen die Ruinen?« Henrik klappte den Reiseführer zu und stand vom 41
Bett auf. »Nö, wir sehen uns den Kram lieber im intakten Zustand an.« Dr. Mo winkte ab. »Dumm von mir, stimmt ja. Ihr seid ja keine gewöhnlichen Touristen. Aber trotzdem: Haltet euch fest. Was ihr hier schon zu sehen be kommen werdet, ist grandios!« Vom Hotel war es nicht weit zum Anleger der Fäh re. Sie liefen das kurze Stück zu Fuß. Dr. Mo hatte einen Filzhut mit einer breiten Krempe auf dem Kopf und schärfte auch den Zeitenläufern ein, sich vor der Sonne zu schützen und jede Menge Wasser oder Tee zu trinken. Eins war Lenz schon im Flugzeug aufgefallen: Ägypten sah merkwürdig aus. Das Land bestand fast nur aus Wüste, abgesehen von einem schmalen, nur ein paar Kilometer breiten Streifen Fruchtland am westlichen und östlichen Ufer des Nils. Als die Freunde am Anleger der Fähre standen, konnten sie die nahen Wüstenberge im Westen deut lich sehen – davor einen Streifen Grün, das war Ägyp ten. Dr. Mo hatte eine dunkle Sonnenbrille auf der Na se und sein Mund unter dieser Nase wollte nicht aufhören zu plappern. »Der Nil war und ist die Le bensader Ägyptens. Das Hochwasser brachte früher, vor dem Bau des Assuanstaudamms, regelmäßig fruchtbaren Schlamm mit sich. Wenn das Hochwasser sich zurückzog, blieb der Schlamm liegen, und die Ägypter konnten darauf Ackerbau betreiben. Übri gens haben sie aus diesem Nilschlamm auch ihre Ziegelsteine gebacken.« Das Schiff legte endlich ab. Aber das hinderte 42
Dr. Mo nicht am Quatschen. »Wusstet ihr, dass die alten Ägypter nicht vier, sondern nur drei Jahreszei ten kannten? Die hießen nicht Frühling, Sommer, Herbst und Winter, sondern Überschwemmungszeit, genannt ›achit‹ , dann die Zeit des Sprießens und Blühens, genannt ›perit‹ und schließlich die Erntezeit, ›schemu‹.« »Wird Zeit, dass wir zum Zeitloch kommen. Dieses Gelaber von Schemu geht mir allmählich auf die Nerven.« Henrik hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und grummelte vor sich hin: »Und ich will endlich Pyramiden sehen!« »Aus diesen Nilschlammziegeln haben die alten Ägypter ganze Städte gebaut! Luxor, also Theben, zum Beispiel.« Dr. Mo linste über den Rand seiner Brille in die Runde der Mitreisenden. »Ihr wisst, dass Luxor Theben ist und Theben Luxor, oder?« Er war tete die Antworten der Kinder gar nicht ab, sondern plapperte einfach weiter. »Das heißt, nicht ganz: Die alte ägyptische Stadt Theben, die unter einigen Pha raonen zur Hauptstadt des Reiches wurde, nannten die Griechen ›Theben‹. Die Römer, die später auch hier aufkreuzten, nannten Theben ›Castra‹.« Als sein Onkel die Römer erwähnte, musste Lenz an Silvester und Cornelia denken. Die beiden römi schen Geschwister waren ebenfalls Zeitenläufer, und Lenz wäre wohler gewesen, wenn der kräftige und mutige Silvester sie bei dieser Reise begleitet hätte. Aber die Alte Wöhr hatte es nicht geschafft, den beiden eine Nachricht nach Rom zu schicken. Und so waren Fenne, Henrik und Lenz dieses Mal auf sich selbst gestellt. 43
»Und schließlich eroberten die Araber Ägypten und nannten die Reste der Stadt, die sie hier fanden ›Luxor‹. Das alte Theben war übrigens viel größer als das heutige Luxor.« Dr. Mo schlenderte zur Spitze des Bootes und betrachtete das näher kommende Westufer. »Wir sollten wenigstens einen kleinen Ausflug ins Tal der Könige unternehmen, Leute! Diese Gräber müsst ihr einfach gesehen haben!« »Später, Herr Doktor!«, sagte Fenne. Sie sah aus wie eine echte europäische Touristin des einund zwanzigsten Jahrhunderts: mit Strohhut, Sonnenbrille und einem bunten Tagesrucksack, in den sie ihre Wasserflasche gesteckt hatte. »Wir müssen zuerst zum Tempel der Hatschepsut.« Dr. Mo nickte. »Verstehe, verstehe, ist ja auch ein Höhepunkt auf der Westseite.« Plötzlich zog er Lenz am Arm zu sich und raunte ihm zu: »Vorsicht, hier ist alles voll mit merkwürdigen Typen, die hinter mir her sind! Sieh dich nicht um.« Lenz wollte sich umdrehen. »Nicht umdrehen, hab ich gesagt!«, murmelte Dr. Mo. Und laut sagte er: »Hatschepsut war ja eine der wenigen Pharaoninnen, die es zu was gebracht haben – mal abgesehen von Kleopatra, der letzten Pharaonin überhaupt. Ihr kennt Kleopatra, oder?« Er steckte Lenz einen Zettel zu und flüsterte wieder: »Hier ist eine Zeichnung vom Westufer. Ich habe die Stelle markiert, an der ich den vergessenen Toten tempel vermute! Wenn ihr in der alten Zeit seid, dann guckt nach, ob da etwas ist!« Er drehte sich abrupt um und sagte wieder mit seiner normalen lauten Frem denführerstimme: »Ja, ja, Kleopatra und Cäsar – das 44
war wohl die berühmteste MultikultiLiebesgeschichte der Weltgeschichte. Eine ägyptische Pharaonin und ein römischer Diktator! Zu schade, dass Cäsar ermordet wurde, wer weiß, was aus den beiden noch geworden wäre …« Lenz sah, wie Dr. Mo über den Rand seiner Son nenbrille die Mitreisenden musterte. Auch Lenz betrachtete die anderen Gäste der Fähre. Auf ihn wirkten die meisten wie ganz normale Touristen. – Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er sich von Dr. Mos Verfolgungswahn nicht anstecken ließ. Schließlich hatte ihm ja seine Mutter schon gesagt, dass er im Zweifelsfall nicht auf ihn hören sollte. »Wir müssen vorsichtig sein, Leute«, murmelte sein Onkel, als das Boot am Westufer des Nils anlegte. Obwohl es schon später Nachmittag war und die meisten Touristen erschöpft von dem Tagesausflug zurück nach Luxor in ihre Hotels wollten, warteten noch ein paar Eseltreiber am Anleger von ThebenWest. Sie boten ihnen Führungen durch das Tal der Könige an. Aber Dr. Mo lehnte ab. »Ich kenne mich aus, mein Freund. Ich kenne mich aus«, sagte er mehr als einmal. Sie stiegen in einen Kleinbus, der sie die wenigen Kilometer durch das schmale Fruchtland zum Tempel der Hatschepsut brachte. Als sie ausstiegen, verschlug es den Zeitenläufern die Sprache. Und das nicht nur, weil es hier noch viel heißer und staubiger war als in den Straßen von Lu xor. Vor ihnen ragte eine schroffe Felswand in den diesig-grauen Himmel. An diese schmiegte sich eine große Tempelanlage an. Der Tempel gliederte sich in 45
zwei gigantische Terrassen. Die erste konnte man über eine breite Rampe betreten. Links und rechts von dieser stützten Säulengänge die Terrasse. Eine Schar Touristen stand da und kriegte den Mund nicht mehr zu. Vor ihnen erhoben sich zwei weitere Säulenreihen, die übereinanderlagen und erst direkt vor der Felswand zu enden schienen. Eine zweite breite Rampe führte hinauf zum eigentlichen Tempel. Der Eingang lag im Zentrum der oberen Säulenhalle. »Der Totentempel stand oben auf dieser zweiten Terrasse«, erklärte Dr. Mo. Und leise fügte er hinzu: »Wo ist euer Zeitloch?« Fenne holte den Plan der Alten Wöhr aus der Ho sentasche. Auch Lenz warf einen Blick auf die Karte. Es waren kleine Kreise auf dieser Karte eingezeich net, die ein Rechteck bildeten. Einer der Kreise war angekreuzt. Fenne legte die Stirn in Falten. »Kapier ich nicht.« »Vielleicht gibt es da drin ein Bild mit vielen Krin geln oder so.« Henrik deutete auf den Eingang zum Tempel. Aber Dr. Mo schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.« Sie betraten das Heiligtum der Hatschepsut, durchschritten einen Säulengang und standen zwi schen den Resten von weiteren Säulen. Lenz sah sich die Karte noch einmal genauer an. Die Kringel bildeten ein Rechteck. Es waren drei Reihen mit jeweils vier Kringeln. Er kratzte sich hinter dem linken Ohr und dachte nach. »Vielleicht ist es ein Zahlenrätsel«, schaltete sich Dr. Mo ein. 46
Aber Lenz schüttelte den Kopf. »Es sind die Säu len.« Er zählte die Säulen im oberen Tempel. Es waren zu viele. Und sie bildeten auch nicht so ein Rechteck. »Gibt es hier irgendwo eine Nebenhalle oder so, in der zwölf Säulen stehen?«, fragte er seinen On kel. Dr. Mo musste nicht lange nachdenken. »Natür lich, die Anubis-Kapelle. Wir sind gerade dran vorbei gegangen, weil sie abgesperrt ist. Die Halle dieser Kapelle hat zwölf Säulen.« Sie liefen aus dem Tempel, die obere Rampe hin unter. »Es ist da drüben!« Dr. Mo deutete auf eine kleine Säulenhalle, die sich rechts an die Tempelfas sade anschloss und direkt in den Fels gebaut war. Vor den Absperrgittern stand ein Wächter und rauchte eine Zigarette. Dr. Mo murmelte. »Lasst mich nur machen. Aber bringt mir etwas schönes Altes mit, versprochen? Und denkt an meinen Totentempel!« Er zwinkerte Lenz über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg zu und näherte sich der Wache: »Mein Freund, mein Freund! Ich habe eine Frage!« Lenz, Fenne und Henrik taten so, als würden sie sich die Felswand über dem Tempel ansehen, bis Henrik schließlich sagte: »Okay, die Luft ist rein!« Tatsächlich war Dr. Mo mitsamt dem Wächter ver schwunden. Diese Gelegenheit konnten sich die Zeitenläufer nicht entgehen lassen. Sie rannten zur Absperrung, kletterten darüber und betraten die relativ kleine, vom Sonnenlicht erhellte Säulenhalle. 47
»Wo zum Kuckuck ist es?« Henrik lief, ungeduldig wie immer, kreuz und quer durch die Halle. Lenz betrachtete noch einmal den Plan. »Es muss an einer der vier Ecksäulen sein.« Lenz sah sich um. Die Wände der Kapelle waren bemalt. Lenz wollte schon an den Inschriften vorbeilaufen, aber plötzlich bemerkte er, dass er sie lesen konnte! Er konnte die Hieroglyphen so flüssig lesen wie das lateinische Alphabet! Dabei hatte er diese komplizierte Schrift doch nie gelernt – er hatte nur im Zeitloch das Buch von Dr. Mo durchgeblättert. Reichte das etwa aus, um den Inhalt eines Buches in den Kopf zu bekommen? Lenz konnte es kaum fassen. »Lenz, was ist?« Henrik fuchtelte ihm mit der Hand vor den Augen herum. »Wir haben keine Zeit zum Träumen!« »Ich kann das lesen!«, sagte Lenz. »Hier ist es!« Fenne winkte hinter der hinteren rechten Säule hervor. »Es sieht aber ziemlich eng aus!« Hinter der Säule befand sich das Zeitloch. »Endlich mal ein Zeitloch, in das man bequem steigen kann!«, sagte Lenz. Es schwebte hüfthoch über dem Boden. »Macht schon! Da kommt jemand!«, flüsterte Hen rik. Fenne stieg als Erste hinein. Sie hielt sich am Zeit anker, der schon eingehängt war, fest und sagte: »Bis gleich!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IV Lenz hätte sich damals um ein Haar von dem Wächter erwischen lassen, als er in der Kapelle des Anubis bemerkte, dass er die Hiero glyphen entziffern konnte. Die anderen berichteten mir später, er habe wie angewurzelt dort gestanden und die Zeichen angestarrt. Ich kann es ihm nicht verdenken – es grenzte ja auch an ein Wun der, dass er diese Schrift, ohne sie jemals gelernt zu haben, lesen konnte. Zum Glück war sein Freund Henrik an seiner Seite. Denn Henrik ist nicht nur ungeduldig und mutig – er ist auch ein umsich tiger Späher. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Henrik es sogar bemerkt, wenn ein feindseliger Blick seinen Rücken trifft. Was aber selbst Henrik nicht ahnen konnte, war, dass die drei Zeitenläufer nicht die einzigen waren, die sich auf den Weg nach Theben ge macht hatten.
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5. Kapitel
Im alten Ägypten war es nicht kühler als im moder
nen. Lenz schlugen Hitze und Staub entgegen, als er aus dem Zeitloch kletterte, und das, obwohl der Tag sich schon dem Ende neigte. »Da seid ihr ja endlich!« Die Zeitenläufer kannten diese Stimme. Aber sie hätten nicht mit ihr gerechnet. Nicht hier in Ägypten und erst recht nicht zu dieser Zeit! Aber Fenne, Lenz und Henrik hatten richtig gehört. Hinter einer der Säulen grinste Silvester hervor. Die drei starrten den römischen Jungen sprachlos an. Silvester lachte. »Ihr dürft sprechen, hier sind wir ungestört. Diese Tempelanlage der Königin Hat schepsut scheint keinen Ägypter besonders zu interes sieren. Wenn ihr mich fragt, dann sind die ganz schön froh, dass sie die Dame fürs Erste los sind.« Der kräftige Junge aus dem antiken Rom strahlte sie an.
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»Gut, dass ihr da seid! Ich hatte schon befürchtet, wir müssten das allein erledigen.« »Wir?«, fragte Henrik. Und Lenz entging die Freude in der Stimme seines Freundes nicht. »Ist Cornelia etwa auch …« »Ja glaubst du etwa, dass ich meinen Bruder allein auf eine so gefährliche Reise schicken würde?«, fragte da eine Mädchenstimme. Cornelia trat aus der Kam mer, die in der Rückseite der Kapelle in den Fels gehauen war. Henrik wurde knallrot. »Schön, dich wiederzuse hen«, sagte er. Nun wurde Cornelia mindestens so rot wie Henrik. »Aber was macht ihr denn hier?«, fragte Fenne mit großen Augen. »Wieso wisst ihr von unserem Auftrag?«, fragte Henrik. »Hat die Alte Wöhr euch etwa angerufen?« »Angewas?«, fragte Cornelia. Lenz verdrehte die Augen. Es war zwar nicht Hen riks erste Zeitreise, aber er schien sich einfach nicht daran gewöhnen zu können, dass die Dinge, die je dem im einundzwanzigsten Jahrhundert selbstver ständlich geläufig waren, für jemanden wie Fenne, aus dem Mittelalter, oder wie Silvester und seine Schwester Cornelia, aus dem antiken Rom, einfach nur unverständliche Rätsel waren. »Wir haben eine Nachricht von einem Zeitenläufer namens Ti am Zeitanker unseres Zeitlochs in Rom gefunden. Wir sollen hier nach einer Figur suchen und uns bei einem Mann, der Wesir Paser heißt, melden.« Dieser Ti war anscheinend mit allen Wassern ge 51
waschen. Auf die Idee, einen Hilferuf in ein Zeitloch zu hängen, das auf dem Weg nach Köln lag, wäre Lenz nicht gekommen. Und auch Fenne nickte aner kennend. »Dämlicherweise war das aber in einer Schrift ge schrieben, die kein normaler Mensch lesen kann. Diese Bildchenschrift …« Silvester deutet lässig mit dem Daumen auf die Hieroglyphen an der Wand. »Sieht zwar schick aus, aber lesen kann ich das nicht!« »Zum Glück haben wir einen steinalten Griechen als Lehrer in der Schule«, schaltete sich Cornelia ein. »Perimakokles, die alte Schlafmütze.« Silvester verdrehte die Augen. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie langweilig der Unterricht bei ihm ist!« Lenz und Henrik warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Offensichtlich ging es den Schülern im Alten Rom nicht besser als denen im einundzwanzigsten Jahrhundert. »Ach was, so schlimm ist der gar nicht!«, verbesser te Cornelia ihren großen Bruder. »Perimakokles kann alles lesen. Babylonische Keilschrift und auch die Hieroglyphen. Der hat zwar nicht kapiert, worum es geht, aber er hat uns Tis Nachricht übersetzt.« »Manchmal sind Lehrer eben doch zu was zu gebrauchen«, gab Silvester zu. Henrik und Lenz grinsten. Ihre Lehrer an ihrem Gymnasium waren so gesehen zu nichts zu gebrau chen. Jedenfalls konnte sich Lenz kaum vorstellen, dass eine von den Pappnasen auch nur eine einzige Hieroglyphe entziffern konnte … Als Silvester nun aber auch noch erzählte, wie sie es geschafft hatten, von Rom nach Theben zu kom 52
men, um hier ins Zeitloch im Tempel der Hat schepsut zu steigen, fragte sich Lenz, ob die Schulen im Alten Rom nicht eben doch besser waren als die Schulen des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Corne lias Lehrer schlug dem hübschen Mädchen scheinbar nie einen Wunsch ab, denn als Cornelia bat und bet telte, dass sie unbedingt mal nach Theben wolle, um sich die alten Tempel anzusehen, organisierte der uralte griechische Lehrer doch tatsächlich eine Stu dienreise für die ganze Klasse. Sie waren allesamt nach Alexandria und von dort nilaufwärts bis Theben gereist. »Unser lieber Lehrer hält den anderen gerade ei nen Vortrag über die Götterwelt der Ägypter. Stink langweilig!« Silvester rieb sich die Hände. »Aber das ist in einer anderen Zeit. Wir haben in dieser nun einen Auftrag!« »Habt ihr sie denn schon gefunden?«, fragte Fen ne. »Die Figur?« Cornelia schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht hier. Hat Ti euch nicht zufällig erzählt, wo er sie versteckt hat?« Henriks Miene verfinsterte sich schlagartig. »Ti ist schwer verletzt. Er liegt im Keller der Alten Wöhr und kämpft um sein Leben. Sprechen konnte er fast nichts. Nur einen wirren Satz, aber den hab ich schon wieder vergessen.« »Unter der Lüge von Kadesch liegt die Wahrheit im Staub«, sagte Lenz. »Das war der Satz.« Aber den verstanden Silvester und Cornelia auch nicht. Cornelia reichte Henrik ein Stück Holz. »Das ha 53
ben wir hier am Zeitanker gefunden, als wir rausge klettert sind. Wir sind uns sicher, dass das ein Hinweis für uns ist. Denn dieses Holz war mit einer Schnur von innen an den Zeitanker gebunden. Aber wir kön nen diese Schrift nicht lesen.« Henrik warf einen Blick auf das Holzstück und reichte es direkt an Lenz weiter. »Hast du nicht gera de noch behauptet, dass du diese Schrift lesen kannst? Dann lass mal hören!« Lenz betrachtete das Holz. Es war ein kleines Brettchen, auf das jemand einige Hieroglyphen ge malt hatte. Diese Schriftzeichen zu betrachten, war jetzt für Lenz noch viel verrückter als auf der anderen Seite des Zeitlochs, als er bemerkt hatte, dass er sie lesen konnte. Denn jetzt konnte er nicht nur die Schrift lesen – er verstand auch die Sprache, da er dank der Reise durch das Zeitloch Altägyptisch spre chen und verstehen konnte. »Was ist?«, fragte Henrik. »Kannst du das lesen oder nicht, Doktor Lenz?« Lenz las den Text. Er las ihn wieder und wieder. Er konnte die Schrift lesen, er konnte die Sprache verstehen, aber den Sinn dieser Botschaft von Ti, den kapierte er nicht. »Es ist eine Nachricht von Ti an uns«, sagte Lenz. »Sie lautet: ›Wer mit dem Falschen spricht, wird mir nach Westen folgen. Frag nach Brot, ehe du nach dem Weg fragst. Ti.‹« »Und weiter?«, fragte Henrik. Lenz drehte das Holzbrettchen um. Auf der Rück seite stand nichts. Er schüttelte den Kopf. »Nichts weiter. Das ist alles.« 54
Fenne lehnte sich an eine der Säulen. »Klingt wie ein Rätsel.« »Wenn du mich fragst, klingt das genauso wirr wie der Satz, den er im Fieberwahn gesagt hat.« Henrik setzte seine Sonnenbrille auf. »Vielleicht ist dieser Ti einfach ein bisschen verrückt. Das Beste ist, wenn wir uns zu dem Wesir Paser durchschlagen. Der muss doch wissen, wo die Figur ist. Schließlich hat er ja Ti mit der Nachricht für die Alte Wöhr nach Köln ge schickt. Habt ihr eine Ahnung, wo wir den Wesir finden können?« »In Theben, drüben auf dem Ostufer«, sagte Cor nelia wie aus der Pistole geschossen. Silvester sah sie mit großen Augen an. »Woher weißt du das denn?« Cornelia lachte. »Wenn du in der Schule nicht im mer Galeerenversenken spielen würdest, wüsstest du das auch! Das hat Perimakokles erst letzte Woche erzählt. Die Wesire des Südens hatten ihre Residenz in der berühmten, großen und schönen Stadt der hundert Tore, Theben. Hier am Westufer des Nils haben die Ägypter ihre Toten begraben; der eigentli che Teil von Theben liegt da drüben.« Sie deutete aus der kleinen Säulenhalle nach Osten. Henrik trat als Erster aus der Kapelle des Anubis. Er sah sich um und gab den anderen ein Handzei chen, dass sie ihm folgen sollten. Die Sonne war inzwischen schon hinter dem Gebirgs zug in ihrem Rücken verschwunden und warf lange Schatten ins Niltal. Der Fluss schob sich am Fuß des Berges, an den sich der Tempel der Hatschepsut 55
anschmiegte, vorüber. Die Sonne beleuchtete noch die Stadt, die sie am anderen Ufer erahnen konnten. Auf dem Nil fuhren ein paar Segelschiffe. So richtig blieb Lenz aber die Spucke weg, als sie über die untere Terrasse liefen und den Tempel nebenan bemerkten. Denn von dem waren im ein undzwanzigsten Jahrhundert nur noch ein paar Steine übrig geblieben. Jetzt aber führte eine Rampe aus einem Wäldchen hinauf in eine Säulenhalle, die von einer Pyramide gekrönt wurde. »Da hast du deine Pyramide!«, sagte Lenz zu Hen rik. Aber Henrik hatte keine Augen für die Bauwerke, die die Ägypter mit bloßer Menschenkraft und ganz ohne Bagger, Radlader oder Betonmischer aus dem Wüstensand gestampft hatten. »Wir brauchen ein Schiff!« Henrik marschierte die breite Rampe hinunter. »Vielleicht finden wir unten am Nil einen Fischer, der uns ans Ostufer bringen kann.« Sie liefen auf dem staubigen Weg Richtung Nil. Als sie den Hügel, der sich rechts vom Tempel erhob und ihnen den Blick nach Süden versperrt hatte, umlaufen hatten, blieb Fenne plötzlich stehen. »O nein! Seht euch das an!« Sie deutete nach rechts. Und jetzt brachten sie alle keinen Ton mehr her aus. Vor ihnen lag ein Tempel neben dem nächsten. Wie an einer Perlenkette aufgereiht, standen die Bauwerke am Rand des Fruchtlandes. Abgeschlossen wurde diese Kette im Süden durch einen gewaltigen Bau, der sogar ein eigenes Hafenbecken hatte. Einer 56
der Tempel war näher zum Nil hingerückt, sodass seine Mauern vom Grün der Felder umgeben wur den. Vor ihm thronten zwei gigantische sitzende Statuen aus Stein. Aber so beeindruckend all diese Tempel auch wa ren: Sie waren nicht das, was Fenne beunruhigte. Sie starrte die ganze Zeit auf eine große Tempelanlage, die sich halbrechts zu ihren Füßen erstreckte. Dieser Komplex aus Häusern, Obelisken und gigantischen Sitzstatuen war von einer hohen Mauer umgeben. Ein gewaltiges Tor, dessen Seitenwände trapezförmig gen Himmel zeigten, überragte diese Mauern noch. »Ach da sind die alle!«, sagte Henrik trocken. So verlassen wie es im Tempel der Hatschepsut gewesen war, so belebt war es vor diesem Tempel. Männer, Frauen, Kinder und Esel strömten heraus. Wachen, die mit Stöcken und Krummsäbeln bewaff net waren, standen links und rechts vom Tor. Zwei Männer schienen jeden zu notieren, der es durch schritt. Anscheinend war der Tempel noch nicht ganz fertig: Das Klopfen von Steinmetzen drang zu ihnen herauf. Die Männer, Frauen und Kinder, die den Tempel verlassen hatten, marschierten in einem langen Tross auf ein Dorf zu, das sich südwestlich vom Tempel an den Hang schmiegte. Henrik rieb sich vergnügt die Hände. »Na prima! Da unten finden wir doch garantiert jemanden, der uns rüber nach Theben-Ost nimmt!« Fenne verdrehte die Augen. »Henrik, mach keine Witze! Wir sprechen zwar die Sprache der Ägypter, aber wir haben keine angemessene Kleidung, vergiss das nicht! Wenn wir so, wie wir aussehen, zu dem 57
Tempel laufen, werden uns die Wachen sofort festhal ten.« Lenz betrachtete Fenne. Sie sah zwar super aus in den Shorts, dem T-Shirt, seinen alten Turnschuhen und dem Strohhut, unter dem ihre halblangen roten Haare schimmerten – aber sie hatte natürlich recht: Pharaonen und Turnschuhe, die passten beim besten Willen nicht zusammen. Sie mussten irgendwie an zeitgemäße, unauffällige Kleidung kommen. »Und wo sollen wir die Kleider herkriegen?«, frag te Henrik. Diese Frage konnte ihm Fenne auch nicht beant worten. »Wir bräuchten einen Schneider«, überlegte Silves ter. »Nein, wir brauchen einen Bäcker!«, sagte Corne lia. Silvester verdrehte die Augen. »Hört nicht auf sie, Leute. Das muss die Hitze sein!« Aber Cornelia war völlig klar im Kopf. Sie war kla rer als alle anderen Zeitenläufer zusammen: »Versteht ihr nicht: Wir sollen nach Brot fragen, ehe wir nach dem Weg fragen! Das hat Ti uns doch geschrieben! Und Brot gibt es normalerweise beim Bäcker!« Fenne nickte. »Das klingt logisch!« »Dass wir einen Bäcker suchen sollen, um neue Kleider zu kriegen, klingt für dich logisch?«, fragte Silvester. »Es klingt völlig durchgeknallt«, bestätigte Henrik Silvesters Zweifel. »Aber dieser Ti ist ja auch nicht ganz sauber in der Birne. Also könnte Cornelia schon recht haben. Versuchen wir’s! Folgen wir einfach den 58
Leuten da unten. Wenn die jetzt alle nach Hause laufen, sind sie hungrig. Und wenn sie hungrig sind, dann müssen sie ja Brot holen. Also werden sie uns zum Bäcker führen.« Sie bogen auf den Weg ein, der zu dem großen Tempel führte. Lenz war froh, dass er seine Turn schuhe anhatte, und beneidete Silvester und Cornelia nicht um ihre groben Sandalen. In solchen Schuhen war er früher schon einmal durch Rom gelaufen. Schon auf normalen römischen Straßen, die ziemlich gut in Schuss waren, taten ihm nach einem Tag in den Dingern die Füße weh. Auf dem Schotter, über den sie nun liefen, musste es die Hölle sein. Die Zeitenläufer verließen vorsichtshalber den Weg und liefen rechts von dieser staubigen Piste immer in der Deckung von ein paar Felsbrocken und im Schutz der hereinbrechenden Dämmerung auf das Dorf der Arbeiter zu. Der Weg führte direkt zum Tor in einer Mauer, die das Dorf wohl vor Eindringlingen schützen sollte. Glücklicherweise schienen die Dorf bewohner keine Feinde zu erwarten: Das Tor stand offen. Die Freunde schlichen sich vorsichtig bis zur Mauer und beobachteten das Dorf und den Weg. »Es ist nicht gut hier! Lasst uns abhauen! Das Dorf sieht irgendwie merkwürdig aus!«, flüsterte Fenne. »Ach was.« Henrik stand mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Ein Mann kam mit müden Schritten den Weg herauf. Er war anscheinend der Letzte. Die Zeitenläufer schoben sich vorsichtig immer näher an das offene Tor heran. Sie lugten um die Ecke in die Dorfstraße. Fenne hatte recht: Das Dorf wirkte tatsächlich nicht beson 59
ders einladend. Es schien nur eine einzige, schnurge rade Straße zu haben, die ziemlich eng war. Für einen Eselskarren oder ein Auto war hier kaum Platz. Rechts und links von dieser zentralen Straße reihten sich die Häuser aneinander. Und die sahen alle gleich aus! Das Dorf war angelegt wie eine der Reihenhaus siedlungen, die Lenz aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert kannte. Nur, dass die Häuser hier flache Dächer hatten, die die Bewohner als Terrassen be nutzten. Außerdem fehlten die Scheiben in den Fens tern. Und es gab keine Gärten und Vorgärten, wie Lenz es von den Häusern seiner Heimatzeit gewohnt war. Die Mauer, die das Dorf umgab, war so hoch und nah an die Rückwände der Häuser gebaut, dass das ganze Dorf irgendwie ziemlich eingesperrt aussah. Aber was Fenne am meisten beunruhigte, waren die vielen Leute auf der Straße, die sich lautstark unterhielten. Kinder liefen zwischen den Erwachse nen herum. »Hier ist es zu voll«, flüsterte sie. »Versuchen wir unser Glück lieber unten am Nil.« »Und was ist mit dem Rätsel, das Cornelia ge knackt hat?«, gab Henrik zu bedenken. Fenne schüttelte den Kopf. »Wenn wir da reinlau fen und nach einem Stück Brot fragen, dann weiß morgen der gesamte Tempel, dass fünf Kinder in seltsamen Klamotten hier aufgetaucht sind. Und wenn es morgen der Tempel weiß, dann weiß es übermorgen ganz Theben, und wir haben keine Ah nung, wie viele Feinde Ti auf den Fersen waren! Wer auch immer es ist, der Ti so zugerichtet hat – von dem will ich mich nicht erwischen lassen!« 60
Lenz betrachtete die Häuser so gut es sein Stand punkt hinter Fenne zuließ. Sie hatten alle nur ein Geschoss. Die Türrahmen waren rot gestrichen und oben standen die Namen der Bewohner darauf. Gleich über der ersten Tür auf der linken Seite der zentralen Dorfstraße stand … Lenz konnte es kaum glauben! Entweder waren sie Glückspilze oder Ti hatte gewusst, dass sie hier vor beimarschieren würden. »Wir sind da«, flüsterte Lenz. »Es ist das erste Haus, gleich hier vorne links.« Die vier Köpfe der anderen Zeitenläufer wandten sich Lenz zu. »Woher willst du wissen, wer da wohnt?«, fragte Henrik. »Die Häuser sehen alle gleich aus!« In den Fenstern flackerten Lichter auf. »Es steht über den Türen. Und über der ersten Tür hier vorne steht: ›Hier wohnt der Bäcker Mepo, der dem Wesir Paser unendlich dankbar ist.‹« Lenz grinste. »Das kann doch kein Zufall sein!« »Also gut, versuchen wir unser Glück«, lenkte Fen ne ein. »Aber erst, wenn die Straße leer ist.« Sie warteten ungeduldig, bis die Sonne endlich un tergegangen war. Dann traten sie durch das noch immer offene Tor und klopften am ersten Haus auf der linken Straßenseite an die Tür.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil V Über das alte Ägypten wusste ich nicht viel. Aber das, was ich wusste, genügte, um mir Sorgen und Vorwürfe zu machen. Wäh rend ich in Köln voll und ganz mit der Pflege des schwer verletzten Ti beschäftigt war, begaben sich meine fünf Zeitenläufer in die allergrößte Gefahr. Und es blieb ihnen fast nichts anderes übrig, als in die Fallen ihrer Feinde zu tappen. – Denn wer seine Feinde nicht kennt, kann auch ihre Fallen nicht bemerken. Was hätte ich drum gegeben, wenn ich selbst noch durch das Zeitloch gepasst hätte, um meine Zeitenläufer zu beraten und zu unterstützen! Aber alles Jammern half und hilft nichts: Ich bin zu alt, zu schwach und vor allem zu schwer für die Zeitlöcher. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als auf die Pfiffigkeit meiner Fenne, die Ideen von Lenz, die Beobachtungsgabe von Cornelia, den Mut von Henrik und nicht zuletzt die Kraft und Ausdauer von Silvester zu vertrauen. Das Dorf, das sie angesteuert hatten, war, wie ich später erfuhr, eines jener Dörfer, die von Arbeitern und ihren Familien bewohnt wurden, die am Westufer des Nils arbeiteten. Aber in einem Punkt scheinen die Dörfer aller Länder und aller Zeiten gleich zu sein: Es wird getuschelt und getratscht, sobald sich ein Fremder auf der Dorfstra ße blicken lässt. Und diese Tatsache sollte meine Zeitenläufer in ernste Schwierigkeiten bringen.
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6. Kapitel
Hast du ein Stück Brot für uns?«
Der Bäcker stand da, wie vom Donner gerührt. Er starrte Henrik an, als hätte er ihn gerade gefragt: »Guten Tag, wir kommen vom Mars und haben uns bei der Landung in die Hosen gemacht – könnten Sie uns wohl ihre Unterwäsche leihen?« »Habe ich was Falsches gesagt?«, murmelte Henrik auf Deutsch. »Nö, ich glaub, das war perfekt!«, antwortete Lenz. »Vielleicht ist es der falsche Mann«, flüsterte Fen ne ebenfalls auf Deutsch. Aber als eine Nachbarin neugierig über den Band ihres Daches lugte und rief: »Was ist denn bei dir los, Mepo?«, erwachte der völlig verdutzte Bäcker endlich wieder zum Leben. »Kommt herein! Kommt herein, wenn ihr die 63
fremden Freunde von Ti seid.« Er deutete ein paar Verbeugungen an. Das Haus von Bäcker Mepo war nicht besonders groß. Dafür war es ganz besonders voll – voll mit Menschen. Im ersten Zimmer saß Mepos Frau und stritt sich mit einem seiner Kinder. Drei Stufen führ ten hinauf zu einem schön bemalten Türrahmen ohne Tür. So gelangten die Zeitenläufer in den größten Raum des Hauses, dessen Decke von einer Säule gestützt wurde. Hier rannten drei kleine, nackte Kinder um eine Steinplatte auf dem Boden und strit ten sich wegen irgendeines Spielzeugs. Als sie die fünf Zeitenläufer bemerkten, verstummten sie schlagartig. Das kleinste Mädchen zeigte mit dem Finger auf Lenz und begann zu kichern. Ihr Glucksen steckte auch die beiden anderen an. »Still, Kinder!«, ermahnte sie Mepo. »Sie sehen aus wie Fremde! Aber vielleicht sind es auch Götter! Also macht sie lieber nicht wütend!« Die Kinder hörten auf zu kichern. Allerdings konn ten die Zeitenläufer ihnen an den Nasenspitzen anse hen, dass sie sich ihr Lachen nur sehr schwer verknei fen konnten. »Folgt mir, Freunde, folgt mir!« Mepo trat durch eine Hintertür wieder ins Freie. Links führte eine Treppe hinauf zum Dach, von wo die zwei ältesten Jungs des Bäckers neugierig zu ihnen herunterguck ten. Aber Mepo beachtete sie nicht und lief weiter nach hinten in einen Raum, dessen Decke aus einem Geflecht aus Papyrus bestand. Dieser Raum war ringsum von fensterlosen Mauern eingeschlossen. In der hinteren linken Ecke stand der Ofen und qualm 64
te. Mepo öffnete eine Klappe im Boden und holte zwei Fladenbrote hervor, die er auf den Ofen legte. Mepo wandte sich den Zeitenläufern zu und nach dem er ihnen bedeutet hatte, sich auf eine der Matten am Boden zu setzen, sagte er: »Ti war mein Neffe. Er hat mir gesagt, dass ein oder zwei fremde Kinder kommen würden, wenn er nach Westen gegangen sein wird.« »Aber er ist nicht nach Westen gegangen«, sagte Henrik. »Er ist nach Norden gegangen!« Fenne warf Henrik einen Blick zu, der den Jungen mit den braunen Augen sofort zum Schweigen brach te. Henrik sollte nicht ausplaudern, wo Ti war! Schließlich wussten sie nicht, ob sie dem Bäcker trauen konnten. Der Bäcker schüttelte den Kopf. »Aber nein, so meine ich es nicht. Er ist nicht wirklich nach Westen gegangen. Er ist im übertragenen Sinn nach Westen gegangen, versteht ihr?« »Was heißt es, wenn jemand nach Westen geht?«, fragte Cornelia. Mepo reichte Lenz eines der beiden aufgebacke nen Brote. Und als Lenz sich ein Stück davon abriss und es in den Mund steckte, fand er Mepo schlagartig nett: Das Brot enthielt ein Gewürz, das Lenz noch nicht kannte. Es schmeckte süßlich und definitiv großartig! Wer so gutes Brot backt, kann doch nur nett sein, dachte Lenz. »Es heißt, dass jemand gestorben ist«, antwortete der Bäcker etwas verwundert. »Wo kommt ihr her? Ihr versteht unsere Sprache, sprecht ohne Akzent und 65
wisst nicht, was es heißt, dass jemand nach Westen gegangen ist?« Während Silvester irgendeine ausweichende Ant wort auf diese Fragen gab, die den Bäcker offenbar noch mehr verwirrte, wurde Cornelia bleich um die Nasenspitze und Lenz wurde schwindelig. »Wer den Falschen fragt, der wird mir nach Wes ten folgen!«, hatte Ti ihnen geschrieben. Das war eine Warnung gewesen! Sie schwebten anscheinend jetzt schon in Lebensgefahr, ohne überhaupt zu wissen, was eigentlich gespielt wurde. Zum Glück hatten sie offenbar den Richtigen ge funden. Denn Mepo war auf ihr Kommen vorbereitet gewesen: Der Bäcker war Tis Onkel und hatte nur dem fleißigen Ti, der als Schreiber beim Wesir per sönlich arbeitete, die Anstellung als Bäcker im Toten tempel des Ramses zu verdanken. »Ramses?«, fragte Cornelia. »Dieser riesige Tem pel, an dem noch gebaut wird, ist der Totentempel von Ramses?« Mepo nickte und begann zu schwärmen: »Es ist die beste Arbeitsstelle, die ich jemals hatte! Ich leite die große Bäckerei des Tempels! Wir backen jeden Tag das Brot für die Priester, Schreiber, Wachen und die hohen Beamten und natürlich auch für die Handwerker, die noch mit dem Bau beschäftigt sind! Es ist ein großer Betrieb! Schon der Bereich der Speicher und Werkstät ten ist zehnmal größer als unser Dorf hier!« Die Augen des Bäckers leuchteten vor Glück. »Ohne Tis Hilfe wäre ich wohl noch immer bei meinem Bruder in Memphis!« Der Bäcker schüttelte kurz den Kopf. »Aber ihr wollt ja meine Familiengeschichte gar nicht hören.« 66
Er holte noch eines der Brote vom Ofen und reich te es Cornelia, die sich ein Stück abriss und den Laib dann weiter an Henrik, der im Schneidersitz neben ihr saß, reichte. »Warum hast du uns so lange auf der Straße stehen lassen, wenn du wusstest, dass wir kommen würden?« Lenz überhörte das Misstrauen, das in Fennes Stim me mitschwang, nicht. Fenne traute niemandem – das hatte sie die Erfahrung gelehrt. Der Bäcker schmunzelte. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten! Ich hatte gedacht, dass Ti mich an der Nase herumführt. Er ist so ängstlich und nervös gewe sen, bevor er verschwunden ist. Außerdem hat er gesagt, dass ein oder zwei Kinder in seinem Alter kommen würden. Von fünfen war nicht die Rede …« Der Bäcker grinste. »Aber das macht nichts!« Er stand auf und zog noch ein Brot aus dem Loch unter der Klappe. »Brot haben wir ja!« Er legte das Brot auf den Ofen, hockte sich wieder hin und fuhr fort. »Vor seinem Verschwin den hat Ti mir gesagt, dass Kinder kommen würden. Kinder, die sehr fremd gekleidet seien, untereinander eine fremde Sprache sprechen würden, obwohl sie perfekt Ägyptisch könnten. Diese Kinder würden nach Brot fragen. Und genauso ist es ja auch gekommen!« Eine Träne kullerte über die Wange des Bäckers. »Und das heißt, dass mein lieber Ti gestorben sein muss!« Lenz schluckte. »Nein, das heißt es nicht«, sagte er. Er sah nach rechts zu Fenne. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er auf Deutsch. »Aber der Mann hier spielt uns nichts vor!« Fenne musterte Lenz skeptisch. Lenz wusste, was der Blick sagen sollte: Woher willst du das wissen? 67
»Er ist schwer verletzt, aber er ist in Sicherheit«, sagte Lenz in ägyptischer Sprache zum Bäcker. Lenz hoffte inständig, dass Ti überleben würde. Denn erstens sollte der Junge seinen Onkel wiederse hen. Und zweitens wollte Lenz diesen Ti wirklich gern kennenlernen – der hatte an alles gedacht! Er hatte ihnen eine Warnung hinterlassen, die so ver schlüsselt war, dass sie jemand, der kein Zeitenläufer war und sie zufällig finden würde, nicht verstehen könnte. Er hatte seinen Onkel auf ihr Kommen vor bereitet und ihnen einen Hinweis auf diesen Onkel gegeben. Der Bäcker legte den Kopf schief und schaute ein wenig ängstlich. »Seid ihr Götter?« Silvester lachte. »Fast!« »Silvester!«, entfuhr es Cornelia. »Kannst du uns helfen?« Henrik wischte sich seine mehligen Finger an den Shorts ab. Der Bäcker nickte. »Was immer die Freunde oder Götter meines Neffen, dem ich unendlich dankbar bin, wünschen: Ich will tun, was in meiner bescheide nen Macht steht.« »Wir brauchen unauffällige Kleider«, sagte Fenne. »Kleider, wie sie ägyptische Kinder in unserem Alter tragen.« Mepo nickte. »Nichts leichter als das.« »Und ein Boot«, fügte Henrik hinzu. Auch das schien für Mepo kein Problem zu sein. »Außerdem müssen wir dringend mit dem Wesir Paser sprechen«, sagte Silvester. Mepo verschluckte sich. Silvester, der zwischen seiner Schwester und Fen 68
ne saß, murmelte aus dem Mundwinkel auf Latein: »Was hab ich denn gesagt? Etwa dass wir den Wesir grillen und in Himbeersauce getunkt zum Frühstück aufessen wollen?« »Nein, nein, er hat dich verstanden«, antwortete Cornelia, ebenfalls auf Latein. »Er kann es nur nicht fassen, dass wir den Wesir sprechen wollen.« Mepo verneigte sich vor Silvester. »Ihr müsst Göt ter sein! Der Wesir!« Mepo verneigte sich noch ein mal und plötzlich musste er kichern. »Ihr wisst, wer das ist, oder? Das ist der zweite Mann im Staat, direkt nach Ramses, dem Pharao, dem Sohn der Götter! Und ihr glaubt, dass die Wachen euch zu ihm vorlas sen?« »Selbst wenn Paser der Sohn eures obersten Gottes wäre, müssten wir ihn sprechen«, schaltete sich Hen rik ein. Mepo goss ein Getränk aus einer Kanne in einen Becher. Er reichte Henrik den Becher. »Wie ihr wünscht, Freunde meines Neffen. Ganz wie ihr wünscht. Aber wollt ihr nicht zuerst den Wennefer besuchen?« Er nahm einen zweiten Becher und reich te ihn Cornelia. Fenne, Henrik, Lenz, Silvester und Cornelia tauschten unauffällig fragende Blicke aus. Aber nie mand schien zu wissen, von wem der Bäcker da sprach. Mepo schien ihre Unsicherheit nicht deuten zu können. »Wollt ihr nicht?« Schließlich fragte Fenne: »Warum sollten wir?« Der Bäcker musste lachen. »Wennefer ist der Ho hepriester des Amun! Ihr seid Götter oder Fast 69
Götter und kennt den Hohepriester nicht?« Er schüt telte den Kopf. »Das glaubt mir kein Mensch!« »Wir sind keine Götter, wir …«, begann Lenz, aber Fenne fuhr dazwischen: »Moment, Mepo! Moment! Du musst uns etwas versprechen: Du darfst nieman dem erzählen, dass wir bei dir waren! Schärf das auch deiner Frau und deinen Kindern ein! Ihr habt uns nicht gesehen!« Der Bäcker sah in Fennes bitterernstes Gesicht und nickte. »Ja, gut, ganz wie ihr wünscht! Ich werde schweigen!« Er lächelte in die Runde. »Kann ich sonst noch irgendetwas für euch tun?« Mepo reichte auch Lenz einen Becher. »Vielleicht.« Lenz setzte sich auf dem Kissen ein wenig aufrechter hin. »Kannst du mir sagen, was die Lüge von Kadesch ist? Ist das auch so eine Redens art?« Lenz nippte vorsichtig an seinem Becher – was auch immer das war, es schmeckte fürchterlich! Kla res Wasser wäre ihm lieber gewesen. »Lüge von Kadesch?« Mepo kratzte sich am Hin terkopf. »Nein, ich kenne nur den großen Sieg von Kadesch!« Er lächelte Lenz an, als wäre damit alles gesagt. »Und was hat es mit diesem Sieg von Kadesch auf sich?«, hakte Lenz nach. Mepo musste wieder kichern. »Davon habt ihr auch noch nie gehört? Unser König Ramses hat sich ganz allein gegen eine Übermacht der Hethiter ge wehrt! Er ist gegen die Hethiter in den Krieg gezo gen. Aber in der Schlacht nahe der Stadt Kadesch haben ihn seine Generäle im Stich gelassen, sodass unser Pharao allein von den Feinden umzingelt war. 70
Da hat er zum großen Gott Amun gebetet. Der gab ihm die Kraft, sich allein aus der Übermacht der Feinde zu befreien und die Schlacht doch noch zu gewinnen.« Mepo bot ihnen noch mehr von dem Getränk an, aber keiner der Zeitenläufer wollte etwas nachgeschenkt haben. »Schmeckt euch das Bier nicht?« Er stellte den Krug wieder auf den Boden und erzählte weiter. »Es steht überall geschrieben: An den großen Eingangstoren vom Totentempel und auch am neuen Tempel des Südens drüben auf dem Ostufer ist es eingemeißelt.« Lenz nickte und murmelte: »Ach so, ja klar.« Dabei war ihm gar nichts klar. »Unter der Lüge von Kadesch liegt die Wahrheit im Staub«, hatte Ti gesagt. Aber das, was Mepo dazu zu sagen hatte, erklärte diesen Satz kein bisschen, fand Lenz. »Bleibt über Nacht in meinem bescheidenen Haus. Morgen früh werde ich euch zum Palast des Wesirs führen«, schlug der Bäcker vor. Und dagegen konnte selbst Fenne nichts einwen den. Mepo war wirklich sehr hilfsbereit. Er brachte ih nen ägyptische Kleider. Die waren besonders für Lenz und Henrik ungewohnt. Anstelle ihrer Unterho sen mussten sie ein dreieckiges Tuch als Lenden schurz anlegen. Darüber zogen sie eine Art Rock, der mit einem Gürtel über der Hüfte gehalten wurde. Fenne und Cornelia hatten es da besser. Sie konn ten über dem Lendenschurz einfache, helle Kleider anziehen. Schuhe hingegen bekamen sie alle nicht. Lenz seufzte. Das hieß barfuß laufen. Über die Schotterwege! Dagegen waren selbst römische Sanda 71
len traumhafte Treter. Schweren Herzens verstaute er seine geliebten Turnschuhe mit den Kleidern der anderen und Fennes Tagesrucksack in einem hohen Tongefäß in der Küche. Mepo und seine nette Frau legten auf dem Dach des Hauses fünf Matten und dünne Decken für die Zeitenläufer bereit. Ein Sichtschutz aus Papyrus verbarg die Kinder vor den Blicken der neugierigen Nachbarn. »Danke für alles«, sagte Henrik, als sie auf das Dach stiegen, um sich schlafen zu legen. »Das werden wir dir nicht vergessen, Mepo!« Der Bäcker lächelte. »Ist schon gut. Für die Freunde oder Götter meines Neffen tue ich, was ich kann.« Die Zeitenläufer stiegen die Treppe hinauf und legten sich auf dem Dach schlafen. Die Matten waren zwar ziemlich hart und Lenz wünschte sich insgeheim sein Bett und seine Matratze aus Köln herbei. Aber dann sah er den Himmel und war schon mit der Mat te versöhnt, denn die Sterne funkelten glasklar in die Stille der Nacht, eine halbe Mondsichel stand am Himmel und beleuchtete das Dorf schwach. Silvester räkelte sich am Rand des Daches. »Wenn es heute Nacht rumst, macht euch keine Sorgen. Ich bin dann nur vom Dach gefallen«, er drehte sich um und begann leise zu schnarchen. Cornelia lag zwischen ihm und Henrik, dem sie mit flötender Stimme eine gute Nacht wünschte. Auch Henrik, der rechts neben Lenz lag, atmete schon bald tief und gleichmäßig. Nur Lenz war mal wieder hellwach und todmüde gleichzeitig. Links von 72
ihm lag Fenne. Lenz sog die klare Luft tief ein und betrachtete das Mädchen aus dem Mittelalter. Ihr rotes Haar und ihre Haut schimmerten silbern im Mondlicht. Lenz spürte ein Kribbeln in seinem Bauch, als er sie so ruhig neben sich schlafen sah. »Schlaf gut!«, flüsterte Lenz. Und bei sich dachte er: Schlaf gut, du schöne, gute, liebe Fenne. Aber das traute er sich nicht mal zu flüstern.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VI Einerseits ist jedes Zeitalter anders. Und andererseits ändern sich manche Dinge anscheinend nie. Es klingt wie ein Widerspruch, aber doch kann man beides als richtig erkennen, wenn man, so wie ich, sein Leben ganz in den Dienst der Zeitreisen stellt. Zu den Dingen, die sich in jedem Zeital ter ändern, gehören die Kleidung, die Sprachen, überhaupt die Sitten und Gebräuche und natürlich die vielen technischen, religiösen und wissenschaftlichen Vorstellungen der Menschen. All diese Verände rungen lehren uns, dass es den Menschen immer und in jeder Zeit möglich ist, etwas ganz und gar Neues zu erfinden, neue Sitten und Gebräuche einzuführen und das Alte hinter sich zu lassen. Zu den Dingen, die die Menschheit bis in meine und sogar bis zu Lenz’ und Henriks Zeit noch nicht hinter sich gelassen haben, gehört aber leider der Krieg. Es ist erstaunlich: Der Krieg brachte in allen Epochen, die ich bereist und von denen ich durch andere erfahren habe, stets vielen Leid und nur wenigen Gewinn. Und doch haben es die Regierungen von den Pharaonen bis zu den gewählten Regie rungschefs in der Heimatzeit von Lenz und Henrik nicht geschafft, Kriege abzuschaffen, wie so viele andere schlechte Bräuche. Dabei wird der Krieg von Menschen geführt. Und was Menschen tun, das können sie auch bleiben lassen. Nur scheint das Bleibenlassen in manchen Fällen schwerer zu sein als das Tun. So war es, wie ich später von Ti erfahren habe, auch zu der Zeit, zu der meine Zeiten
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läufer in Theben ankamen, zwischen den Ägyptern und den Hethi tern. Der Pharao Ramses war fern von Theben im Norden Ägyp tens beschäftigt. Denn vor der Grenze braute sich ein Unheil zu sammen: Die Truppen der Hethiter waren aufmarschiert. Und die Hethiter und Ramses hatten noch eine Schlacht zu schlagen. Dass aber ein Krieg in der Luft lag, ahnten meine Zeitenläufer nicht. Dabei steckten sie schon viel tiefer in diesem Streit zwischen Ägyp tern und Hethitern, als sie sich in ihren kühnsten Albträumen ausmalen konnten.
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7. Kapitel
Kurz vor Sonnenaufgang hatte Mepo sie geweckt und
runter zum Nil geführt. Lenz taten, Sternenhimmel hin, Sternenhimmel her, die Knochen weh. Das Frühstück hingegen war ganz gut gewesen: Früchte, Quark, Brot, Butter, Honig und Milch – abgesehen vom Kakao hatten die Ägypter alles, was Lenz mor gens so brauchte. Der Weg zum Nil aber war genau die Tortur ge worden, die Lenz gefürchtet hatte: Der Weg war steinig und er spürte an seinen empfindlichen Fuß sohlen jedes Steinchen. Erst als sie die Grenze zum Fruchtland überschritten hatten, wurde der Weg angenehmer. Mepo hatte sich ein Boot von einem Freund ausge liehen. Sie stiegen in das kleine Segelboot, das fröh
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lich auf dem Wasser schaukelte. Schon im Morgen grauen war viel los auf dem Nil: Fischer waren unter wegs – Cornelia und Fenne kicherten, als sie nahe an eines der Fischerboote herankamen. Lenz kapierte erst nicht, was los war, aber dann sah auch er, dass die Männer allesamt splitternackt waren! »Warum haben die keine Kleider?«, fragte Henrik. Mepo stand am Ruder und steuerte das Boot ge schickt über den Nil. »Die Kleider würden doch sowieso nass werden«, sagte er achselzuckend. Sie fuhren genau nach Osten, der Sonne entgegen, die nun hinter Theben-Ost aufging. Silvester saß im Boot und massierte seine Fußsoh len. »Vom Bauen versteht ihr ja was«, sagte der römi sche Junge. »Aber was ihr echt mal erfinden solltet, wären gescheite Sandalen.« Oder Turnschuhe, dachte Lenz. Aber das sagte er nicht. Er konnte es auch gar nicht sagen. Denn Lenz kannte das altägyptische Wort für »Turnschuhe« nicht. Mepo steuerte nicht einen der belebten Anleger an, sondern flussaufwärts, sodass sie südlich vom Zentrum der Stadt an Land gingen. »Paser ist vermutlich schon in seinem Palast.« Der Bäcker führte sie durch den Grünstreifen am Ufer auf einen Weg, auf dem schon eine Menge Volk unterwegs war. »Er hat einen neuen Palast, hier im Süden der Stadt. Ein Geschenk von Ramses, damit er den Bau am Tempel des Südens bequemer überwachen kann.« »Viel leerer als Köln ist Theben ja nicht«, raunte Fenne Lenz zu. »Und dann noch dieses ganze Vieh zeug und der Staub!« 77
Fenne hatte recht: Esel, Pferde, aber auch Rinder wurden von Männern und Frauen durch die Straßen geführt. Und diese Straßen waren wie ganz Ägypten voll mit Staub, Steinen und Dreck. Die meisten Män ner trugen einen ähnlichen Schurz wie Mepo und die Jungs. Die meisten Frauen ziemlich schlichte Gewän der, so wie Fenne und Cornelia. »Seht euch das an«, flüsterte Silvester auf Latein: »Die gehen alle barfuß!« »Wenn du hier ein Schuhgeschäft eröffnest, bist du bald so reich, dass du dir auch einen Palast bauen kannst«, witzelte Henrik. Silvester lachte. »Und darin führe ich dann ein herrliches Leben als Fast-Gott! Silvester, Gott der Füße! Das wär doch was!« Aber dann folgten sie Mepo um eine Ecke und hörten schlagartig auf, Witze zu reißen. Denn der Bäcker führte sie auf eine breite Straße, an der links und rechts Sphinx neben Sphinx stand. »Das ist ja eine regelrechte Allee!« Henrik betrach tete staunend die steinernen Löwenkörper mit Men schenköpfen. Mepo deutete auf die gegenüberliegende Straßen seite, wo sich hinter den Sphingen ein Platz öffnete. »Da drüben ist der Palast des Wesirs.« Mepo deutete auf ein breites Gebäude auf der anderen Seite. Er sah Lenz an. »Und die Bilder zur Schlacht von Kadesch findest du da drüben.« Er grinste und zeigte beiläufig nach rechts. Die Zeitenläufer waren platt. Die Römer hatten gewaltige Aquädukte errichtet, Fennes Zeitgenossen bauten an jeder Ecke eine Kirche und im einund 78
zwanzigsten Jahrhundert entstanden große Gebäude, deren Statik von Computern entworfen wurde – aber was waren diese Bauwerke für lächerliche Büdchen, verglichen mit den Tempeln, die die Ägypter hin klotzten, wo immer es ihren Pharaonen in den Sinn kam? Die Allee aus Sphingen endete genau vor dem Amun-Tempel des Südens. Zwei wuchtige, hohe Wände standen links und rechts vom Eingangstor und ragten ebenso trapezförmig in den Himmel, wie es die Freunde schon beim Totentempel des Ramses auf der anderen Nilseite gesehen hatten. Davor zeigten zwei aus rosafarbenem Stein gehauene Obelisken in den Himmel. Neben diesen saßen, links und rechts des Eingangs, je eine mehrere Meter hohe Statue des Pharao Ramses. Rechts und links von diesen Statuen standen jeweils zwei weitere Statuen vor der Stirnsei te des Tempels. Je zwei Fahnenmasten auf jeder Seite des Tors schlossen das Bild ab. Wächter kontrollierten peinlich genau, wer hier ein- und ausging. Lenz wäre zu gern in diesen Tempel gelaufen, um sich alles anzusehen. »Macht es gut, Freunde!«, sagte Mepo. Der Bäcker wirkte irgendwie beruhigt, als er sah, wie sehr die Kinder von dem gewaltigen Tempelbau beeindruckt waren. »Ich muss zur Arbeit!« Sie dankten dem Bäcker für seine Hilfe, überquer ten die Sphingen-Allee und liefen auf den Platz, der sich hinter dieser Allee erstreckte. Neben dem schö nen, im Sonnenaufgang rosarot schimmernden Tem pel sah der Palast des Wesirs regelrecht mickerig aus, obwohl auch er ein Prachtbau war: Eine kleine Ram 79
pe führte hinauf zum Eingangsportal, das von vier mit Stöcken bewaffneten Männern bewacht wurde. Henrik marschierte, selbstbewusst wie immer, die Rampe hinauf. Zwei der vier Wachen versperrten ihm den Weg. »Mach, dass du wegkommst!«, knurrte einer der beiden. »Wir müssen den Wesir sprechen!«, sagte Henrik. Die rechte Wache grinste, aber der linke Mann zog seinen Stock und drohte Henrik damit. »Du musst hier niemanden sprechen! Wenn der Wesir dich sprechen will, wird er nach dir schicken lassen!« Lenz erschrak. Diese Wachen zogen ihre Stöcke ja ganz schön flott. Henrik hingegen schien der Knüppel nicht zu beeindrucken. »Sagt dem Wesir, dass Ti uns geschickt hat!« Aber die Wachen hörten gar nicht richtig zu. »Ver schwindet!«, sagte der nettere, linke Mann, während der rechte stockschwingend einen Schritt auf Henrik zuging. An diesen Wachen würden sie niemals vor beikommen – das war allen vier Männern anzusehen. Henrik wich zurück. Aber Silvester sprang vor und rief: »Paser ist ein Dummkopf! Paser kann nicht mal zwei und zwei zusammenzählen! Der Wesir stinkt nach Eselkacke!« Er wich den Stockschlägen, die ihm die erste Wache verpassen wollte, geschickt aus und beschimpfte und beleidigte den Wesir mit immer wüsteren Ausdrücken. Henrik, Lenz und Cornelia rissen die Augen auf. Was war denn in Silvester gefahren? Die Einzige, die verstand, was Silvester vorhatte, war mal wieder Fen ne. 80
»Der Wesir ist zu dämlich, um vernünftige Wachen aufzustellen! Paser ist so klug wie ein Nilpferd!«, rief sie. »Und ein Feigling, der Krokodilpippi zum Frühs tück trinkt!« Silvester zwinkerte Lenz, Henrik und Cornelia zu. Aber da kriegten ihn die Wachen endlich zu fassen. Einer der Männer drehte ihm den Arm auf den Rü cken. Ein zweiter schwang seinen Stock und wollte ihn gerade auf Silvesters Rücken niedersausen lassen, als eine weitere Wache aus der Tür trat. Dieser Mann hob nur kurz den Arm und der Wächter ließ seinen Stock sinken. »Dieser Nichtsnutz hat den Wesir des Südens aufs Übelste beleidigt, Herr und Wächter der Wachen!«, sagte der Wächter mit dem Stock. Der so Angesprochene, offenbar der Chef der Pa lastwachen, nickte nur kurz. »Das ist mir nicht entgan gen. Niemand beleidigt ungestraft den Wesir des Sü dens!« Der Mann wurde knallrot im Gesicht vor Wut und sagte mit gespielter Ruhe: »Ihr wolltet den Wesir sprechen? Na gut, das könnt ihr haben!« Er gab den drei anderen Wächtern einen Wink. »Ergreift sie! Alle!« Schneller als Lenz gucken konnte, wurden sie von Männern umringt und gepackt. Einer nahm Henrik in den Schwitzkasten, einer griff sich Fenne und der vierte, der dickste von allen, legte seine linke Hand auf Cornelias Nacken und seine rechte Hand Lenz auf die Schulter. Und Lenz wollte nicht ausprobieren, was diese Pranke mit seiner Schulter anstellen würde, wenn er den Befehlen des Chefs der Palastwache nicht Folge leistete. 81
So schleiften sie die Zeitenläufer durch das Portal in den Palast, durch einen breiten Flur auf eine große Flügeltür zu. Der Chef der Palastwache öffnete sie und verschwand im Innern des Raumes. »Gute Idee!«, flüsterte Fenne Silvester auf Latein zu. Und tatsächlich schien Silvesters List aufzugehen: Der Chef der Palastwache kam aus dem Raum heraus und blaffte sie an: »Der Wesir des Südens wünscht euch zu sprechen, ihr Nichtsnutze! Werft euch vor ihm in den Staub, wenn euch eure Knochen lieb sind!« Lenz wusste nicht genau, ob das mit dem Staub jetzt auch wieder nur so eine Redensart war oder nicht. Aber das brauchte er sich nicht lange zu fragen. Die Wachen schoben sie in den Saal, in dem Paser offenbar sein Büro eingerichtet hatte. Der Wesir saß auf einem Stuhl, dessen Füße die Form von Löwen tatzen hatten. Links von ihm hockte ein muskulöser Jugendlicher im Schneidersitz auf dem Boden. Er hatte zwei Pinsel hinters Ohr geklemmt, einen dritten Pinsel hielt er in der rechten Hand. Rechts von Paser stand ein Mann, der eine Papyrusrolle in Händen hielt. Die Wachen schubsten die fünf Zeitenläufer, sodass sie allesamt stolperten und vor dem Wesir auf dem Steinboden landeten. »So, ihr seid das also!« Der Wesir blieb in seinem schicken Stuhl sitzen. Er trug eine Perücke mit klei nen schwarzen Löckchen. Seine Schultern waren von einem golden und türkis gestreiften Kragen bedeckt. Darunter erstrahlte sein nackter, ziemlich dicker Bauch im vollen Glanz. Er trug einen Schurz mit 82
Bügelfalten, und Lenz fragte sich insgeheim, wer eigentlich das Bügeleisen erfunden hatte. »Ihr habt mich also beleidigt? Habt mich einen Dummkopf und Feigling genannt?« Henrik richtete sich etwas auf und sagte. »Ti hat uns …« Aber weiter kam er nicht. Die Wache drückte ihn sofort wieder auf den Boden und zischte: »Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst!« Aber es war sowieso schon zu spät. Der Wesir sprang wutentbrannt von seinem Stuhl auf und rief: »In den Kerker mit ihnen! Vor dem morgigen Tag werde ich sie nicht von ihren Eltern abholen lassen!« »Aber die Wöhr …«, begann Henrik wieder. »Ruhe! Ich will nichts mehr von euch hören!«, brüllte der Wesir außer sich. Plötzlich hatte er sich wieder unter Kontrolle und gab den Wachen einen Wink. »Sperrt sie alle zusammen in meinen Keller! Ein Mann als Wache sollte reichen! Keine Stock schläge, bis ich es anordne, es sei denn, sie versuchen zu fliehen.« Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und diktierte dem jugendlichen Schreiber einen Brief. Die Wachen schoben die Zeitenläufer aus dem Saal zurück in den Flur und von dort in einen Raum mit jeder Menge Steinregalen, in denen lederne Rollen lagerten – offenbar war es die Bibliothek des Palastes. Aber der Chef der Palastwache interessierte sich nicht für die Schriftrollen. Er interessierte sich nur für die vergitterte Klappe im Boden der Biblio thek! Der Mann öffnete sie und ein finsteres Loch gähn 83
te den Freunden entgegen. Der Chef der Wache grinste hämisch. »Nach euch, meine Damen, meine Herren!« Die Zeitenläufer kletterten eine Leiter hinunter in den Keller. Kaum war Silvester, der als Letzter von ihnen hinuntergestiegen war, unten angekommen, zogen die Wachen die Leiter nach oben und schlugen krachend die vergitterte Klappe zu.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VII Es gibt Fragen, die stellen sich bestimmte Menschen nicht. Eine dieser Fragen lautet: Gibt es nur das, was gegenwärtig ist? Oder gibt es auch das, was vergangen ist? Normalerweise gehen wir davon aus, dass es das Vergangene nicht mehr gibt, dass es nicht mehr existiert – denn es ist ja vorbei. Wenn zum Beispiel ein Glas zerbrochen und fortgeworfen ist, gibt es dieses Glas nicht mehr. Wir können es nicht mehr sehen, nicht mehr spüren und nicht daraus trinken. Aber Lenz und Cornelia haben bei einem unserer Treffen dagegen eingewendet, dass es sehr wohl möglich ist, aus dem Glas zu trinken: Man muss nur eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, in die Zeit, bevor das Glas zerbrochen war, und schon kann man es sehen, spüren und daraus trinken. Und da niemand das Glas wieder zusammengeklebt hat, muss es das Glas doch irgendwie die ganze Zeit gegeben haben. Ich habe versucht, mir dieses Phänomen so zu erklären: Die Zeit ist so ähnlich wie der Raum. Wenn ich einen Stuhl von der Küche in den Keller trage und ohne Stuhl wieder zurück in die Küche gehe, dann kann ich den Stuhl zwar nicht mehr sehen oder fühlen – aber der Stuhl hört ja nicht auf zu existieren. Es gibt den Stuhl noch, nur eben nicht mehr in der Küche. Ebenso ist es mit den Zeiten: Wenn man eine Figur aus der Zeit des Ramses in meine Zeit bringt, dann gibt es die Figur noch – nur eben nicht in der Zeit des Ramses. Verwirrend wird das Ganze erst dann, wenn man ein Glas aus
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einer früheren Zeit mit in die Vergangenheit nimmt und es dort zerbricht. Denn dann ist, historisch betrachtet, das Glas zerbro chen, ehe es geblasen wurde, und das scheint unmöglich zu sein. Unmöglich ist das aber nur, wenn man die Zeitlöcher außer Acht lässt. Menschen, die keine Zeitreisen unternehmen, brauchen sich mit solchen Fragen nicht zu befassen. Stößt man sie auf solche Fragen, tun sie sie meist als Spinnerei ab. Diese Menschen kommen mir vor wie eine Maus, die nie aus ihrem Loch rauskommt und behauptet, dass das Gerede von der Welt außerhalb ihres Lochs nichts als Spinnerei sei. Denn von dieser Welt habe sie noch nie etwas gesehen. – Wie auch, wenn sie ihr Loch niemals verlassen hat?
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8. Kapitel
Kapier ich nicht.«
»Ich auch nicht.« »Der hat eine Meise.« »Wenn ich nicht bald eine anständige Pyramide zu Gesicht bekomme, flippe ich aus!« Da saßen sie. Und alles Schimpfen und Jammern half nichts: Der Kerker des Wesirs war weder gemüt lich noch sehenswert. Es roch muffig, und Lenz hätte sich nicht gewundert, wenn in den Ecken Ratten hausten. Er sah sich lieber nicht so genau um. Von oben fiel dämmriges Licht durch die vergitterte Klap pe. Was auch immer der Wesir Paser sich dabei dach te: Er ließ die Zeitenläufer fürs Erste in diesem Loch schmoren. »Aber Ti hatte doch gesagt, dass wir zu Paser sol len, oder?«, fragte Cornelia.
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Fenne schüttelte den Kopf. »Die Nachricht, die Ti überbracht hat, war von Paser. Aber darin stand ja nur, dass wir gemeinsam mit Ti die Figur holen soll ten. Dass wir in seinen Palast spazieren sollten, stand nirgendwo.« »Und Ti hat nichts weiter gesagt, als dass die Wahrheit unter der Lüge von Kadesch …«, versuchte Lenz hinzuzufügen. »Schon gut, schon gut, Lenz!«, fuhr Henrik ihn an. »Wir kennen den Satz, den Ti gesagt hat, alle auswen dig!« Henrik tigerte im Kerker auf und ab. »Das er gibt doch keinen Sinn! Paser hat geschrieben, dass wir kommen sollen, wenn Ti es nicht schafft, die Figur zur Alten Wöhr zu bringen. Jetzt sind wir hier, um ihm zu helfen, und was tut er? Er sperrt uns ein!« »Vielleicht war ja die Nachricht, die Ti überbracht hat, eine Falle«, überlegte Silvester. So redeten sie den lieben langen Tag und kamen doch zu keinem Ergebnis. Sie hatten keinen Auftrag, ihr Auftraggeber schien nicht zu verstehen, wer sie waren, und sie hatten keine Ahnung, wie sie aus die sem Loch je wieder rauskommen sollten. Cornelia sehnte sich die Sonne herbei, Henrik wollte endlich mal eine gescheite, riesengroße Pyramide besichtigen, Silvester hatte Hunger, und Lenz fragte sich, was eigentlich passieren würde, wenn nichts passieren würde. Dieser Gedanke machte ihm bis zum Mittag Sorgen, am frühen Nachmittag Kopf- und am späten Nachmittag Magenschmerzen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte die anderen: »Was passiert eigentlich, wenn wir einfach hier hängen bleiben? Ich meine, wenn wir nie wieder aus dem Zeitloch steigen?« 88
Silvester und Fenne, die beiden erfahrensten Zei tenläufer der Freunde, tauschten Blicke aus. »Hast du schon einmal von Kindern gehört, die von heute auf morgen spurlos verschwinden?«, fragte Silvester schließlich. Cornelia saß auf dem Boden und erbleichte. Auch Lenz fühlte sich direkt noch ein bisschen unbehagli cher, als er sich eh schon in diesem fiesen Keller fühlte. Sie waren den ganzen Tag in diesem dreckigen Loch gefangen gewesen, das Licht, das durch die vergitterte Klappe in der Decke fiel, malte ein Recht eck auf den Lehmboden. Sollte das das Ende sei? Das Ende der Zeitenläufer? Das Ende von Lenz Jacobi und seinen vier Freunden? Wollte der Wesir sie wo möglich einfach in diesem Loch verhungern lassen? Aber da sagte Henrik: »Still! Da kommt jemand!« Sie hörten Schritte. »Ich kümmere mich darum, du kannst nach Hause gehen«, hörte Lenz die Stimme des Wesirs. »Aber Herr, diese unverschämten Kinder sind …«, antwortete der Chef der Palastwache, aber Paser schnitt ihm das Wort ab: »Ich sagte: Ich kümmere mich darum, General! Traust du mir etwa nicht zu, dass ich mit ein paar ungezogenen Kindern fertig werde?« Da verstummte die Stimme des Chefs der Palast wache. Endlich tauchte das Gesicht des Wesirs über den Zeitenläufern auf. Er öffnete den Verschlag, sah sich noch einmal um, ließ die Leiter hinunter ins Loch und stieg zu ihnen herab »Tut mir leid, liebe Freunde!« Paser sprach mit 89
gedämpfter Stimme. »Es tut mir unendlich leid, dass ich euch so ungebührlich empfangen musste. Aber alles andere wäre zu riskant gewesen!« Er hielt inne und lauschte. Dann fuhr er fort. »Was ist mit Ti? Hat er es bis zur Wöhr geschafft? Aber er hat offenbar nicht geschafft, die Statuette Hattuschilis in Sicher heit zu bringen, sonst wärt ihr ja nicht hier. Erzählt rasch: Was ist passiert?« Der Wesir lehnte sich mit dem Rücken an die Leiter. Das Licht, das von oben auf ihn fiel, ließ seinen runden, nackten Bauch wie einen Halbmond schimmern. Henrik verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Bevor wir irgendwas erklären, wollen wir erst einmal eine Erklärung von dir: Wa rum hast du uns in den Kerker einsperren lassen, wenn wir hier doch von größter Wichtigkeit für dich sind?« Paser winkte ab. »Ich weiß, ich weiß: Ihr seid Tau sende Jahre unterwegs gewesen und ich habe euch als Erstes in den Kerker gesteckt.« Fast flüsternd fügte er hinzu: »Irgendjemand von meinen eigenen Leuten belauscht mich und versorgt den Hohepriester des Amun mit geheimen Informationen. Ich habe den Chef meiner Palastwachen in Verdacht.« Er sah Hen rik in die Augen. »Glaub mir: Wenn ich euch gebüh rend begrüßt und empfangen hätte, ginge es euch jetzt mindestens so schlecht wie Ti.« »Oh«, hörte Lenz sich selbst stöhnen. Der Wesir sah in die Runde. »Steht es um Ti so schlecht?« Fenne wiegte den Kopf hin und her. »Die Alte Wöhr tut, was sie kann. Aber er ist sehr schwer ver 90
letzt. Sie hat uns gesagt, dass sie nicht weiß, ob sie ihn retten kann.« Lenz spürte plötzlich einen Kloß im Hals, als er Fenne sagen hörte, dass Ti mit dem Leben rang. »Okay, nachdem wir das geklärt haben, hätten wir jetzt gerne diese Figur«, sagte Henrik. »Ich will näm lich aus diesem Loch raus, wieder in meine Zeit, mir ein paar von euren Pyramiden reinpfeifen und dann nichts wie zurück nach Köln!« Paser nickte ernst. »Das kann ich gut verstehen. Aber ich habe die Statuette nicht. Die gab ich Ti mit dem Auftrag, sie zur Alten Wöhr zu bringen. Ich hatte ihm aber gesagt, dass er sie, wenn ihm der Transport zu unsicher erschiene, an einem sicheren Ort verste cken solle.« Henrik verdrehte die Augen. »Und wo ist dieser si chere Ort?« Paser lächelte den ungeduldigen Jungen an und zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.« Fenne, Henrik, Silvester, Cornelia und Lenz starr ten den Wesir an. »Was soll das heißen?«, fragte Fenne schließlich. »Das heißt, dass Ti die Statuette an einem gehei men Ort versteckt hat. Damit der Ort wirklich geheim bleibt, habe ich ihm verboten, irgendjemandem zu sagen, wo die Statuette sich befindet – mich einge schlossen, denn die Wände dieses Palastes haben Ohren!« »Heißt das, dass wir wieder nach Hause fahren können, weil Ti die ganze Sache schon erledigt hat?«, fragte Silvester. Paser schüttelte den Kopf. »Nein, das heißt es 91
nicht. Denn solange die Figur in unserer Zeit ist, kann sie Schlimmes bewirken. Ihr müsst sie finden, in eure Zeit bringen und dort zerstören. Es ist wichtig, dass sie unter keinen Umständen in unserer Zeit Schaden nimmt!« »Und wie sollen wir die Figur finden?« Henrik stemmte die Fäuste in die Seiten. »Wie sieht die überhaupt aus? Und warum ist es so verdammt wich tig, dass wir sie aus deiner Zeit wegschaffen?« Paser setzte sich mit seinem gewaltigen Hinterteil auf eine Sprosse der Leiter. Die Leiter ächzte. »Das sind drei gute Fragen. Drei sehr gute Fragen, mein Freund! Am einfachsten ist die zweite Frage zu be antworten.« Paser zeigte mit den Händen etwa die Höhe einer Banane. »Die Figur ist so hoch, aus Ton gefertigt, und sie sieht aus wie Hattuschili, der König der Hethiter.« Paser seufzte und kratzte sich an sei nem dicken, nackten Bauch. »Die Antwort auf deine dritte Frage ist eine lange Geschichte.« Silvester hob einladend die Hände: »Wie du weißt, haben wir vor allem eins: Zeit!« »Die Hethiter stehen gerüstet zum Kampf am Si nai, das heißt an unserer Nordgrenze. Auch Ramses’ Truppen sind zum Kampf bereit. Es ist nicht das erste Mal, dass sich unsere Männer feindlich gegenüber stehen. Nun hat uns aber Hattuschili, der König der Hethiter, einen Frieden angeboten. Diesen Frieden will er in einem Vertrag festschreiben. Das ist neu. Das haben wir noch nicht erlebt.« Paser sah ver schmitzt in die Runde. »Was haltet ihr davon?« »Gute Idee«, sagte Henrik. »Friedensverträge sind prima.« 92
»Bis sie gebrochen werden«, gab Silvester zu be denken. »Aber warum sollte jemand einen Friedensvertrag vorschlagen, um ihn dann nicht einzuhalten?«, hielt Lenz gegen Silvesters Einwand. Silvester antwortete achselzuckend: »Noch nie was von Kriegslist gehört?« Paser lachte. »Genau dieselbe Diskussion hatten wir auch: Ramses, der Hohepriester Wennefer und ich. Ich riet Ramses dazu, diesen Vertrag zu schließen und mit den Hethitern in Frieden zu leben. Der Hohepriester Wennefer ist aber felsenfest davon überzeugt, dass unsere Armee den Hethitern überle gen ist. Er will jetzt die Entscheidungsschlacht her beiführen.« »Aber entscheidet nicht der König Ramses über Krieg und Frieden?«, fragte Fenne. Paser nickte. »Eigentlich schon. Aber Ramses zö gert mit seiner Entscheidung. Er ist sich nicht sicher, ob er den Hethitern trauen kann. Ihr dürft nicht vergessen, dass wir gegen die Hethiter schon seit Generationen Krieg führen!« »Und mit denen wollt ihr einen Friedensvertrag schließen?« Silvester schüttelte den Kopf. »Warum denn nicht?«, fragte Lenz. »In unserer Zeit gab es auch jahrhundertelang zwischen Deutsch land und Frankreich Krieg. Dann kam es erst zu einem Waffenstillstand und danach zu einem echten, dauerhaften Frieden: Es gibt inzwischen sogar einen Schüleraustausch zwischen beiden Ländern, damit die Jugendlichen die Gepflogenheiten des Nachbarlandes kennenlernen, die Regierungschefs treffen sich re 93
gelmäßig zu Gesprächen und sind über ihre Leute in ständigem Kontakt miteinander. Deutschland und Frankreich bauen sogar zusammen Flugzeuge!« »Äh – was?«, fragte Silvester etwas verwirrt. Lenz winkte ab. Er hatte für einen Moment glatt vergessen, dass Silvester aus dem antiken Rom war – ihm das europäische Luftfahrtprojekt zu erklären, war zu kompliziert. Zumal auf Altägyptisch – er hatte vorhin ja schon das deutsche Wort »Flugzeug« benut zen müssen. »Was Lenz sagen will, ist Folgendes:«, sprang Hen rik ihm bei. »In unserer Zeit kommt kein Mensch mehr auf die Idee, dass Deutschland und Frankreich gegeneinander Krieg führen könnten. Es gibt dafür einfach keinen Grund mehr. Warum sollten also nicht auch die Hethiter und die Ägypter ihren Frieden finden?« Paser sah von Lenz zu Henrik und lächelte. »Ihr bestätigt mir, dass es möglich ist, einen Krieg auch ohne Sieg oder Niederlage zu beenden! Für die Dau er der Vertragsverhandlungen ist jedenfalls ein Waf fenstillstand vereinbart.« »Aber vielleicht nutzen die Hethiter diesen Waf fenstillstand, um sich bessere Waffen zu besorgen«, sagte Silvester. »So lernen wir das zumindest in der Schule: Im Waffenstillstand muss man sich rüsten. Denn jeder Waffenstillstand hat ein Ende.« Lenz seufzte. Silvester war ein Kind der römischen Oberschicht. Und diese Oberschicht verstand etwas vom Krieg. Mit Friedensschlüssen hingegen schienen sich die römischen Lehrer von Silvester nicht beson ders gut auszukennen. 94
»Das glaubt auch der Hohepriester Wennefer. Deshalb will er selbst seine beste Waffe bereitstellen: die Magie. Aber Hattuschilis Berater sind klug. Die Hethiter wissen, dass unsere Magier über enorme Kräfte verfügen. Sie wissen auch, dass es unseren Magiern möglich ist, den König der Hethiter sehr krank werden zu lassen – oder sogar zu töten.« Lenz wusste nicht so recht, ob er glauben sollte, was er da hörte. Hatten die Ägypter echte Magier? Und konnten die wirklich mit Zauberei einen König umbringen? Oder war das wieder nur so eine Redens art, und Paser meinte eigentlich so etwas wie einen Profikiller, den die Ägypter auf den Hethiterkönig ansetzen könnten? »Die Hethiter haben daher gedroht: Wenn König Hattuschili während der Vertragsverhandlungen etwas zustößt, wenn er krank wird oder stirbt, dann werden die Hethiter sich mit allen Feinden Ägyptens von Syrien über Nubien bis nach Libyen verbünden und das Land am Nil dem Wüstensand gleichmachen. Sie haben damit gedroht, die Pyramiden zu schleifen, alle Städte des Nildeltas, Memphis und sogar unser heiliges Theben.« »Drohen kann jeder.« Silvester machte eine weg werfende Handbewegung. Paser nickte bedächtig. »Ja, drohen kann jeder. Und diese Drohung ist genau nach dem Geschmack von Hohepriester Wennefer! Er glaubt, dass wir die Hethiter besiegen werden. Dass sie gedroht haben, uns anzugreifen, wenn ihrem König Hattuschili etwas geschieht, hat Wennefer auf einen dummen Gedan ken gebracht: Er hat eine Statuette von Hattuschili 95
anfertigen lassen. Sobald diese Figur zerstört wird, entfaltet sie ihre magische Kraft, die dem Hethiterkö nig Hattuschili Krankheit und Tod bringen wird.« »Und das wäre ein Grund für die Hethiter, euch anzugreifen«, sagte Henrik. »Dann hätte Wennefer seinen Krieg. Raffiniert.« »Aber nicht raffiniert genug.« Paser setzte sich et was aufrechter und mit hörbarem Stolz in der Stimme sagte er: »Ich habe die Statuette aus dem Tempel des Amun in Karnak entwenden lassen, ehe Wennefer sie zerstückeln konnte. Diese magische Figur sollte mein Schreiber Ti zur Alten Wöhr bringen.« »Aber was passiert, wenn die Figur in unserer Zeit zerstört wird?«, fragte Fenne. Paser lächelte. »Nichts! Die Kraft unserer Magier reicht nicht aus, um über die Zeiten in die Ferne zu wirken.« »Gute Idee, die Figur nach Köln zu bringen«, sagte Fenne. »So wird sie unschädlich gemacht.« »Nur leider hat Ti es nicht geschafft«, warf Corne lia ein. »Er muss gemerkt haben, dass er verfolgt wurde«, sagte Paser. »Daher hat er die Figur, wie ich ihm geraten hatte, versteckt.« Fenne begann im Kerker auf und ab zu laufen. »Heißt das, dass die Figur, die wir suchen, irgendwo zwischen Theben und Köln versteckt sein kann?« Paser nickte. »Aber können wir sie dann nicht einfach in diesem Versteck, das noch nicht mal du selber kennst, liegen lassen?« Fenne strich sich eine ihrer roten Haarsträh nen hinter das Ohr. »Wenn die so gut versteckt ist, 96
dass sie niemand finden kann, geht von ihr doch keine Gefahr mehr aus, oder?« »Doch«, sagte Paser. »Alles, was versteckt ist, kann jemand finden. Und die Schergen des Wennefer lassen nichts unversucht, um die Figur zu finden. Ich werde nicht umsonst ausspioniert. Sie werden jeden Stein zwischen Theben und Köln umdrehen. Außer dem könnte die Figur auch durch einen Unwissen den, ein Tier oder ein Erdbeben in ihrem Versteck zerstört werden. Dieses Risiko ist einfach zu groß!« Henrik schnaufte einmal kräftig durch die Nase. »Also gut. Kommen wir zu meiner ersten Frage: Wie finden wir die magische Figur?« »Folgt einfach den Hinweisen, die Ti euch hinter lassen hat.« »Aber Ti hat uns keine brauchbaren Hinweise hin terlassen«, erwiderte Henrik. »Das stimmt nicht ganz«, widersprach Cornelia mit ruhiger Stimme. »Er hat uns den Hinweis gege ben, dass wir zu seinem Onkel, dem Bäcker, gehen sollen.« »Ja, aber in Köln hat er nur diesen wirren Satz ge sagt!« Henrik verdrehte genervt die Augen. »Du weißt schon: diesen Satz, den Lenz bei jeder Gelegenheit runterleiert.« »Welchen Satz?«, fragte Paser. »Was hat Ti geäu ßert?« Der Wesir sah nervös zu Henrik. Henrik zeigte auf Lenz. »Dein Einsatz, Lenz!« »Unter der Lüge von Kadesch liegt die Wahrheit im Staub«, sagte Lenz. Paser hielt den Atem an. »Das hat er gesagt?« »Weißt du, was es bedeutet?«, fragte Lenz. 97
»Bedeutet es überhaupt etwas?«, fragte Henrik skeptisch. Paser wiegte den Kopf hin und her. »Ich verstehe den Satz nicht ganz. Ich kann euch nur sagen, was die Lüge von Kadesch ist. Unsere Armee ist vor einigen Jahren schon einmal von den Hethitern besiegt wor den. Das war in der Nähe einer Stadt in Asien namens Kadesch. Die Hethiter hätten unsere Armee komplett auslöschen können. Aber sie ließen uns ziehen. Ich selbst war seinerzeit dabei und unser Pharao Ramses hat uns in die Schlacht geführt. Er war noch jung und erst im fünften Jahr seiner Regierung. Nach der Nie derlage von Kadesch sind wir geschlagen und mit hohen Verlusten nach Ägypten heimgekehrt. Aber der Hohepriester des Amun hatte eine wahnwitzige Idee: Er riet Ramses, diese Niederlage in einen Sieg um zumünzen.« »Wie das?«, fragte Silvester erstaunt. »Ganz einfach: Wennefer hat überall im Land an jede Tempelwand, die er aufstellen oder finden konn te, schreiben lassen, dass Ramses allein die Hethiter bei Kadesch geschlagen habe, während er von seiner Armee verlassen worden sei. Die Kraft dazu hat ihm angeblich Gott Amun gegeben.« Paser sah bedeu tungsvoll in die Runde. »Das ist die Lüge von Ka desch.« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Wo ge nau ist diese Stadt namens Kadesch? Könnte es sein, dass Ti die Figur da irgendwo im Staub vergraben hat?« Paser schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Kadesch liegt am Fluss Orontes in Asien und nicht auf 98
Tis Weg nach Köln. Er wollte übers Meer bis Italien fahren. Und wenn ich mich nicht irre, ist ihm das auch gelungen.« Fenne starrte Paser die ganze Zeit an. »Diese glatte Lüge, diese Lüge von Kadesch – glauben die Leute daran?« Paser lachte. »Ich habe es auch nicht für möglich gehalten, aber das Volk ist überzeugt davon. Die Leute glauben eher das, was in Stein gemeißelt steht, als das, was ihnen ein Augenzeuge berichtet. Zudem waren die Generäle und Soldaten unserer Armee, die die Schlacht überlebt hatten, froh, wenn sie nicht von Kadesch berichten mussten. Und die wenigen, die die Wahrheit sagten, wurden für verrückt erklärt. Der Hohepriester Wennefer hat ein gutes Gespür dafür, wie man das Volk beeinflussen kann. Und er hält die Generäle von damals sowieso für unfähige Waschlap pen.« »Das heißt, für Wennefer ist jetzt die Stunde der Rache gekommen, um die Schmach von Kadesch zu sühnen?«, fragte Silvester. Paser legte den Kopf schief. »Ich fürchte, genau das ist es, was ihn antreibt. Und der Hohepriester will sich von niemandem abhalten lassen. Wennefer schreckt vor nichts zurück. Als er bemerkte, dass ich die Statuette des Hattuschili hatte stehlen lassen, ist er schnurstracks hier aufgetaucht und hat mir offen mit Kampf bis aufs Messer gedroht. Und offensicht lich ist es ihm ja auch trotz aller Vorsicht gelungen, meinen Ti ausfindig zu machen.« Der Wesir stand von der Leitersprosse auf. »Ihr seid die Besten der Bes ten, die die Alte Wöhr aufzubieten hat. Aber selbst für 99
euch gilt: Nehmt euch vor Wennefer und seinen Schergen, den Tempelwächtern, in Acht!« Als Lenz sah, wie ernst der Wesir, der nach dem Pharao ja immerhin der zweitmächtigste Mann im Staat war, sie ansah, grummelte es wieder in seinem Magen. Lenz hatte ohnehin nicht das Gefühl, dass er zu den Besten der Besten gehörte. Und mit einem Hohepriester, der auch noch über magische Kräfte verfügte und dessen Leute nicht davor zurückschreck ten, Kinder so grün und blau zu schlagen wie den armen Ti, wollte er sich erst recht nicht anlegen. »Wo können wir wohnen?«, fragte Fenne. Paser stieg die Leiter hinauf. »Kommt mit rauf in die Bibliothek! Ich habe einen jungen Schreiber, Setau. Er ist einer meiner engsten und zuverlässigsten Mitarbeiter. Er wird euch euer Quartier zeigen. Wenn ihr mit mir sprechen wollt, dann schickt Setau! Kommt nicht selbst hierher in den Palast oder in mein Privathaus. Solange ich nicht weiß, wer der Verräter aus meinen Reihen ist, bringt ihr euch in meiner Nähe selbst in Gefahr.« Der Wesir kletterte vor den Zeitenläufern aus der Luke und rief. »Setau!« Der Jugendliche, der am Morgen neben dem We sir am Boden gehockt und geschrieben hatte, erschien im Türrahmen der Bibliothek. Paser fragte den Jungen mit gedämpfter Stimme: »Sind die Wachen weg?« Setau nickte. »Nur vorne am Eingang stehen noch vier Mann.« »Gut.« Paser legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Setau ist einer meiner Informanten: Er muss gele gentlich in den Tempel des Amun im Norden der 100
Stadt. Und innerhalb der Tempelmauern kennt sich mein Setau bestens aus – falls ihr Fragen habt, fragt ihn!« Setau nickte kurz. Dann lächelte er den Zeitenläu fern zu und sagte: »Folgt mir!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VIII »Homo homini lupus« (der Mensch ist seinem Mitmenschen ein Wolf), pflegte mein Freund Thomas aus England immer zu sagen. Und sosehr ich stets bemüht war, ihn vom Gegenteil zu überzeugen – es geschah und geschieht so manches in der Geschichte der Menschheit, das ihm recht gibt. Nicht nur einzelne Menschen sind von anderen Menschen ge meuchelt worden – ganze Völker wurden von anderen Völkern vernichtet, sodass die Nachwelt zum Teil nichts oder fast nichts mehr von ihnen weiß. Die Etrusker, die einst in Italien gelebt hatten, wurden offenbar von den Römern ausgerottet. Und Lenz erzählte mir einmal, dass jenseits des Meeres in einem fernen Land namens Tasmanien die Ureinwohner samt und sonders von europäischen Eroberern und ihren Nachkommen ausgelöscht wurden. Den Hethitern ist es nicht besser ergangen. Zur Zeit des Ramses waren sie allem zufolge, was Fenne, Lenz und Henrik mir später berichteten, noch ein mächtiges Volk. Aber zu meiner Zeit weiß man fast nichts mehr über sie – ihre Städte und Burgen sind verschwun den und es gibt keine Nachkommen mehr. Um ein Haar allerdings wären nicht nur die Hethiter, sondern vor ihnen auch die Ägypter ausgelöscht worden. Um ein Haar wüssten wir (und auch die Menschheit nach uns) nichts von
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Pyramiden, Mumien und Totentempeln. Um ein Haar hätten wir noch nie etwas von den sagenhaften Städten Memphis und Theben gehört. Um ein Haar.
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9. Kapitel
Es ist zwar nicht gerade der Palast des Wesirs, aber
hier vermutet euch niemand.« Die Hütte, in welche Setau die Zeitenläufer führte, war das glatte Gegenteil von Pasers Palast: Sie schmiegte sich an die Gartenmauer einer Villa und war ein schlichter Würfel mit einem Fenster neben der Tür. Die Mauer bröckelte ebenso wie die Hütte, in der Gasse ließ sich kein Mensch oder Tier blicken und es stank ein bisschen nach Müll. »Perfekt!« Fenne betrachtete die Sackgasse zufrie den. »Hier vermutet uns wirklich niemand.« Die Hütte war ziemlich karg eingerichtet: Der viereckige Bau hatte nur ein einziges Zimmer. Das Fenster war mit einem Vorhang verdeckt, damit Staub und Hitze des Tages draußen auf der Straße blieben. Da die Sonne inzwischen hinter dem Wüs tengebirge von Theben-West unterging, öffnete Setau diesen Vorhang nun, um etwas Luft in das muffige Zimmer zu lassen. Die Wände waren kahl. Auf dem 104
gestampften Lehmboden lagen Matten, Kissen und Decken. In einer Ecke stand ein Krug mit Wasser zwischen einem einfachen Ofen und einer Truhe aus Weidengeflecht. »Wenn ihr noch mehr Wasser braucht, müsst ihr das vom großen Brunnen holen, an dem wir vorhin vorbeigekommen sind«, sagte Setau. »Das Essen bringe ich euch.« Er zeigte auf den Korb, der auf der Truhe stand. »Für heute Abend sollte das reichen. Ich komme zum Frühstück wieder zu euch. Verschließt die Tür bei Nacht!« Er wandte sich zum Gehen. »Braucht ihr noch etwas?« »Eine Auskunft«, sagte Henrik. Setau lächelte. »Jederzeit.« »Hast du Ti gekannt?« Setau sah verlegen zu Boden. »Ja. Gut sogar.« »Dann weißt du doch bestimmt auch, wo er ge wohnt hat, ehe er verschwunden ist«, hakte Henrik nach. Setau nickte. »Im Haus seiner Eltern.« »Kannst du uns da morgen früh hinführen?« »Natürlich«, sagte Setau. »Danke! Und Danke auch für deine Hilfe!« Setau lächelte wieder und verabschiedete sich in den frühen Abend. Silvester trat an den Ofen. »Ich hoffe, einer von euch weiß, wie man Feuer macht.« Lenz sah den Jungen aus der Antike fassungslos an. »Ich dachte, so was lernen Römer in der Schule!« Silvester schüttelte den Kopf. »Nee, für so was ha ben Römer normalerweise Sklaven.« Er grinste seine Schwester an, die neben dem Eingang zur Hütte 105
stand und die Straße beobachtete. »Oder kleine Schwestern, die so nett gucken können wie Cornelia. Diese kleinen Schwestern der Römer gehen dann zum Nachbarn und bitten ihn um Feuer.« Silvester hielt ihr ein Holzscheit hin. Aber Cornelia zeigte ihm einen Vogel. »Zu auffäl lig.« Lenz nahm sich fest vor, auf die nächste Zeitreise eine kleine Tasche, die er direkt am Körper tragen konnte, mitzunehmen: Eine Minitaschenlampe, ein Feuerzeug, ein Taschenmesser, Pflaster und einen Kompass – diese Dinge brauchten sie immer wieder. Aber noch während Silvester und Cornelia darüber diskutierten, wie sie ohne heißes Wasser Tee kochen sollten, hatte Fenne sich vor den Ofen gehockt und schon bald ein kleines Feuerchen entfacht. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Silvester. Fenne grinste. »Ich besuche zwar in meiner Zeit weder eine Schule noch habe ich Sklaven und auch keine kleine römische Schwester – aber ich habe die Alte Wöhr!« Sie füllte Wasser in den Topf, stellte ihn auf den Ofen und zog ein paar Blätter aus dem Korb, den Setau ihnen dagelassen hatte. »Jedenfalls können wir gleich einen Tee trinken.« Henrik hatte von all dem anscheinend nichts mit bekommen. Der Junge, der normalerweise den lieben langen Tag mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen herumlief, saß in der hinteren linken Ecke der Hütte auf einem Kissen und grübelte. »Ich kapiere das nicht. Ich kapier es einfach nicht«, murmelte er schließlich. »Wenn Ti gemerkt hat, dass er die Figur nicht unerkannt aus seiner Zeit wegbrin 106
gen konnte, warum hat er uns dann nicht einfach gesagt, wo wir sie finden können?« »Vielleicht hat er das ja gemacht«, sagte Lenz. »Vielleicht liegt sie ja wirklich unter der Lüge von Kadesch …« Henrik verdrehte die Augen. »Das ist doch Quatsch! Wir kriegen niemals raus, was das bedeuten soll, wenn es überhaupt etwas bedeutet!« Und nicht ganz so genervt fügte er hinzu: »Im Ernst, Lenz: Warum sollte Ti uns so ein Rätsel aufgeben?« Cornelia setzte sich neben Henrik und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Damit niemand außer uns die Statuette finden kann.« Henrik starrte vor sich auf den Boden. Entweder hatte Cornelia ihn überzeugt, oder er wollte dem schönen römischen Mädchen einfach nicht wider sprechen. Fenne betrachtete das Teewasser, das langsam vor sich hin köchelte. »Ti ist ein erfahrener Zeitenläufer. Wenn er richtig tickt, dann hat er die Figur irgendwo in der Nähe des Zeitlochs versteckt.« Silvester nahm sich eine Dattel aus dem Obstkorb. »Wieso?« Er stellte den Korb mit dem Obst in die Mitte des Raumes und setzte sich links von Henrik auf ein Kissen. »Weil wir die Figur in eine andere Zeit bringen müssen. Je weiter die Figur vom Zeitloch weg ist, desto länger ist die Strecke, die wir mit ihr in der ägyptischen Zeit zurücklegen müssen. Und das heißt, dass wir leichter geschnappt werden können.« Sie holte ein paar Becher aus der Truhe neben dem Ofen. 107
Lenz verteilte die Becher, Fenne goss den Tee hinein. Sie setzten sich gegenüber von Henrik auf den Bo den. »Also meinst du, dass wir auf der anderen Seite des Nils suchen müssen.« Henrik schnippte ein Insekt von seinem weißen Schurz. »Aber da drüben war nichts.« Silvester durchwühl te den Korb und zog mit einem zufriedenen Grinsen einen gebratenen Hühnerschenkel hervor. »Wir ha ben den Tempel abgesucht«, sagte er kauend. »Da war nichts.« Henrik steckte eine Dattel in den Mund. »Jeder hinterlässt Spuren. Auch Ti. Also sollten wir da anfan gen, wo er garantiert war.« Cornelia legte den Kopf schief. »Du meinst, sein Zimmer?« Henrik nickte. »Da müssen wir irgendeinen Hin weis finden.« Lenz schnaufte. »Was ist?«, fragte Henrik. »Unter der Lüge von Kadesch …« Henrik verdrehte die Augen. »Lenz, vergiss es! Ka desch liegt irgendwo in Asien. Wir können diese Stadt nicht umgraben. Und selbst wenn Ti die Figur unter dem Schlachtfeld von Kadesch verbuddelt hat …« Fenne hob die Hand. »Moment! Es war nicht die Schlacht von Kadesch!« Ihre Augen führten den Fen ne-Tanz auf: Sie sah erst nach links, dann plötzlich nach rechts, dann wieder nach links, während sie jede Möglichkeit in Gedanken durchspielte. »Ti hat gesagt: ›Unter der Lüge von Kadesch.‹« 108
Plötzlich machte es »Pling!«. Lenz hatte das Ge fühl, als hätte jemand das Licht in seinem Gehirn eingeschaltet. Natürlich! Es war ein Hinweis. Und er war glasklar! Er strahlte Fenne an. Fenne guckte erst noch etwas unsicher aus ihren himmelblauen Augen. Aber mit jedem Satz, den Lenz sich selbst sagen hörte, wurden das Licht in seinem Kopf heller und Fennes Blick immer zuversichtlicher. »Wir müssen an der Tempelwand des Tempels des Südens nachsehen! Denn da ist die Lüge von Kadesch eingemeißelt! Unter der Lüge von Kadesch liegt die Wahrheit im Staub! Das muss es sein: Irgendwo auf dem Boden vor dem Tempel muss ein Hinweis sein, wo Ti die Figur versteckt ha …« Aber da machte Silvester: »Pssst!« Lenz wollte noch etwas sagen, aber Fenne hielt ihm blitzschnell den Mund zu. Silvester schlich zur Tür. Er lugte vorsichtig hinaus. Lenz spürte, dass sein Herz plötzlich raste. Nun pirschte auch noch Henrik zur Tür. Fenne hielt Lenz noch immer den Mund zu. Lenz nahm ihre Hand und zog sie weg. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Und dieser Blick war erfüllt von Angst – Lenz schluckte. So ängstlich hatte er Fenne schon einmal gucken sehen. Und damals hatten sie, ohne es zu wissen, in Lebensgefahr geschwebt. Silvester und Henrik schlichen sich aus der Hütte. Lenz merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, während er mit Fenne und Cornelia darauf wartete, dass die beiden zurückkämen. Sie warteten. Lenz hörte seinen eigenen Atem, und er fragte sich, was eigentlich los war. Da hörte er Schritte vor der Hütte. 109
Cornelia schlich sich geräuschlos zum Fenster und sah hinaus in die Dämmerung. Sie nickte erleichtert. Endlich betraten Silvester und Henrik wieder den Raum. Silvester verschloss die Tür, Henrik legte einen Riegel vor. Sie zogen auch den Vorhang vor das kleine Fenster. Silvester setzte sich wieder auf seinen Platz und nahm sich noch ein Stück Brot. »Es ist seltsam«, murmelte er. »Ich hätte schwören können, dass ich jemanden gehört habe.« »Vielleicht war es nur ein Tier.« Henrik streckte sich auf einer der Matten aus. Fenne stellte sich neben das Fenster, zog den Vor hang einen Spalt auf und linste hinaus. »Oder auch nicht.« Sie drehte sich zu ihnen herum. »Wir sollten vorsichtshalber eine Wache aufstellen. Hier am Fens ter.« Silvester nickte, nahm sich den Korb mit den Le bensmitteln und sagte: »Ich übernehme die erste Schicht. Ich kann eh noch nicht schlafen.« Er grinste in die Runde. »Ich kriege auf Reisen einfach immer Hunger. Und auf Zeitreisen kriege ich einen Riesen hunger. Und mit leerem Magen kann ich nicht schla fen.« Lenz legte sich auf eine der Matten. Er war froh, dass Silvester dabei war. Silvester war der Stärkste von ihnen. Und seine Sprüche waren irgendwie tröstlich – auch wenn Lenz sich sicher war, dass er in dieser Nacht trotzdem kein Auge zutun würde.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IX Silvester hatte sich damals ganz und gar nicht verhört. Die Zeiten läufer hatten nach dem Schreck am Abend eine ziemlich unruhige Nacht verbracht, wie sie mir später erzählten. Allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen: Henrik schlief unruhig, weil Cornelia neben ihm lag. Und er wusste, dass er eigentlich über die Frage, wo Ti die Figur versteckt haben könnte, nachdenken sollte, aber er konnte die ganze Nacht nur an die hübsche Cornelia an seiner Seite denken. Cornelia hinge gen tat kein Auge zu, weil sie die ganze Nacht darauf wartete, dass sie ihre Wachschicht antreten musste. Silvester hatte während seiner Wache zu viel von den Datteln gegessen und wälzte sich vor Bauchschmerzen auf seinem Lager, als Fenne ihn ablöste. Fenne quälte sich mit dem Gedanken, dass sie noch immer keine heiße Spur gefunden hatten, und hoffte die ganze Nacht, dass Lenz Tis Rätsel wirklich gelöst hatte. Dann aber dachte sie an den Jungen, der mit offenen Augen ne ben ihr lag. Lenz tat kein Auge zu, weil er zu viel Angst hatte. Er hatte Angst davor, dass die Hütte von den Schergen des Hohenpriesters Wennefer umstellt war. Er hatte Angst davor, dass er während seiner Wache etwas hören würde. Er hatte sogar Angst davor, dass er vor seiner Wache vor Angst nicht schlafen konnte und deshalb während seiner Schicht einschlafen würde. Aber vor allem hatte er
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Angst davor, dass sie sich am Morgen allesamt als einbalsamierte Mumien im Jenseits wiederfinden würden. Und diese letzte Sorge war berechtigt. Sie war sogar verflixt berechtigt.
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10. Kapitel
Und eine Zahnbürste, dachte Lenz. Eine Zahnbürste
wollte er auch auf die nächste Zeitreise mitnehmen. Er spülte sich am späten Vormittag, als Setau sie endlich wachgerüttelt hatte, den Mund mit diesem Salzwasser aus, das der ägyptische Junge ihnen zu sammengerührt hatte. Irgendwie würden seine Zähne das schon überstehen – schließlich gab es in Ägypten keinen Zucker. Alles wurde mit Honig gesüßt und der war ja angeblich nicht ganz so schlimm für den Zahn schmelz. »Jetzt aber los!« Henrik hatte sein Frühstück im Stehen runtergeschlungen und stand mal wieder schon in den Startlöchern. Setau nickte und führte sie durch die Stadt. Aber als ihm an der Sphingenallee nur Henrik und Cornelia weiterfolgen wollten, fragte er Fenne, Silvester und Henrik etwas verblüfft: »Wo wollt ihr hin?«
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»Wir müssen eben noch was nachgucken«, sagte Lenz. Setau zog die Augenbrauen hoch und musterte Lenz. »Ach ja?« Henrik drängte: »Hör nicht auf ihn. Er ist zwar ein netter Kerl, aber manchmal redet er einfach wirr! Fenne und Silvester werden auf ihn aufpassen.« Hen rik zwinkerte Lenz zu. Lenz grinste. Er wusste, dass Henrik genau das meinte, was er sagte. Aber er wusste inzwischen auch, dass Henrik ihn trotzdem mochte. Vor dem Tempel des Südens war noch mehr los als am Nachmittag des Vortages: Viele Waren wur den in den Tempel getragen. Anscheinend gab es auch im Innern noch Speicher für Korn, Früchte und Fleisch. Priester und Priesterinnen, Tänzerin nen und Musikerinnen liefen durch das große Tor. Auf dem Platz vor dem Tempel trafen sich reiche Leute auf dem Weg zu wichtigen Terminen beim Wesir oder einem seiner Untergebenen und plauder ten kurz mit ernsten Mienen. Aber nicht nur die Reichen und Schönen des Landes trieben sich hier herum: Ein Bettler saß vor der Tempelwand und plapperte unaufhörlich vor sich hin, eine ganze Schulklasse von Schreibschülern marschierte hinter einem Lehrer aus dem Tempel. »Wenn ihr mich fragt, haben diese Ägypter eine ziemliche Ordnungsmacke.« Silvester deutete mit dem Kinn auf die beiden Schreiber, die jeden notier ten, der den Tempelbereich betrat oder verließ. »Wo stapeln die die ganzen Papyri, die sie bei jeder Gele genheit vollkritzeln?« 114
Lenz und Fenne hatte kaum Augen für die Schrei ber. Sie betrachteten das riesige Bild, das rechts und links vom Eingangsportal des Tempels eingemeißelt war. Hinter den beiden haushohen Sitzstatuen von Ramses war die Lüge von Kadesch abgebildet: Der König stand auf seinem Streitwagen. Der König um zingelt von Feinden, verlassen von seiner Armee. Der König allein besiegte die feindlichen Hethiter. »Erstunken und erlogen«, murmelte Lenz, vor sichtshalber auf Latein, damit ihn niemand außer Fenne und Silvester verstehen konnte. »Für wie blöd hält der Pharao sein Volk eigentlich?« Fenne zuckte nur mit den Schultern. »Du hast es ja gehört: Offenbar ist das Volk genauso dämlich, wie Ramses und Wennefer gehofft haben!«, antwortete sie ebenfalls auf Latein. »Habt ihr was gefunden?« Silvester ließ die Wa chen, die vor dem Tempel mit ihren Stöcken am Gürtel herumliefen, nicht aus den Augen. »Noch nicht«, antwortete Lenz. »Irgendwo im Staub, unter dem Bild muss es sein. Vielleicht hat er irgendwo ein Stück Papyrus oder wieder so eine Holzplatte versteckt.« Lenz und Fenne suchten alles ab. Fenne fand ein paar Tonscherben, auf denen aber nichts geschrieben stand. Fenne schüttelte den Kopf. »Die Spur ist kalt, Lenz.« Sie ließ die Scherben wieder auf den Boden fallen. »Vielleicht hat Henrik doch recht. Vielleicht hat Ti ja wirklich im Fieber nur wirres Zeug gespro chen.« Sie deutete unauffällig auf den Bettler, der auf dem Boden unter dem Bild der Schlacht saß und vor 115
sich hin plapperte: »Das scheint ja in Ägypten keine Seltenheit zu sein.« Da erst hörte Lenz auf das, was der Bettler die ganze Zeit brabbelte: »Der Grund des Friedens liegt im Herzen des Wesirs!«, sagte der Mann. Lenz machte einen Schritt auf den Bettler zu. »Was ist?«, fragte Silvester. »Komm weiter, Lenz!«, flüsterte Fenne. »Sonst fällst du ihm auf!« Aber genau das war es, was Lenz wollte. »Was hast du gesagt?«, fragte er den Bettler. Der Mann schien ihn gar nicht zu hören, beachtete ihn nicht weiter und sagte: »Der Frieden des Herzens liegt im Grunde des Wesirs. Denn der Wesir liegt im Grunde des Friedens beim Herz.« Silvester warf Lenz einen Blick zu, den Lenz sofort verstand: Silvester hielt den Mann für verrückt. Und das war er vielleicht auch. Aber ob er nun verrückt war oder nicht: Dieser Bettler saß unter der Lüge von Kadesch im Staub! Und das passte zu Tis Beschrei bung. Lenz beugte sich zu dem Mann runter und flüster te: »Uns schickt Ti.« Der Mann grinste Lenz an und wiederholte seinen Satz: »Der Grund des Friedens liegt im Herzen des Wesirs.« Er kratzte sich am Kopf, guckte etwas ver wirrt und murmelte dann: »Nein, nein, der Wesir liegt im Frieden seines Herzens auf dem Grunde.« »Lenz!«, knirschte Silvester auf Latein durch die Zähne. »Lenz, wir müssen los! Da kommt Besuch!« Lenz richtete sich wieder auf. Was, wenn dieser Bettler die Wahrheit sagte? Dann läge die Wahrheit 116
unter der Lüge von Kadesch im Staub. Lenz war sich sicher, dass das eine Spur sein könnte. Aber was sollte es heißen, dass der Grund des Friedens im Herzen des Wesirs lag? Hatte Paser ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt? Aber warum sollte ihnen der Mann, der sie beauftragt hatte, die Figur des Hattuschili zu finden, irgendetwas verschweigen, was sie wissen mussten? »Merkwürdig«, murmelte Lenz. »Allerdings!« Fenne stupste ihn in die Seite und zischte auf Latein: »Renn!« Lenz drehte sich um. Aber es war schon zu spät. Während er mit dem Bettler gesprochen hatte, waren sie von Wachen umzingelt worden. Die sechs Män ner, allesamt breit wie Kleiderschränke, waren mit Stöcken bewaffnet und sahen nicht so aus, als würden sie Spaß verstehen. Der Anführer dieser Wachen baute sich vor Silvester auf. »Seid ihr die Götter, die gestern aus dem Tempel der Hatschepsut gestiegen sind?« »Nein!« Silvester stellte sich breitbeinig vor Fenne und Lenz und sprach nun wieder in schönstem, lu penreinem Ägyptisch. »Wir sind nur drei Kinder auf dem Weg zur Schule.« Aber die Wache ließ sich nicht an der Nase herum führen. »Kommt mit. Der Hohepriester Wennefer will die Götter gebührend empfangen!« Er grinste hinterhältig und ließ seinen Stock immer wieder locker in seine linke Hand klatschen. »Und ich bin mir sicher, dass ihr uns gerne begleiten werdet!« Lenz konnte sehen, wie es Silvester in den Fäusten juckte. Aber es war ja doch aussichtslos: Auch wenn der 117
römische Junge alle Kampfsportarten der Antike ge lernt hatte – Silvester war zwar stark. Aber er war eben nur ein Junge und gegen sechs ausgewachsene, schlecht gelaunte Kleiderschränke und ihre Knüppel konnte er nichts ausrichten. Sie hatten gar keine andere Wahl, als sich von diesen Wachen abführen zu lassen. Der Tempel im Norden der Stadt, in den die Wa chen des Wennefer sie führten, war noch viel größer und prächtiger als alles, was Lenz bisher gesehen hatte. Ein gewaltiges trapezförmiges Portal jagte hier das nächste. Obelisken, Säulenhallen, Sitzstatuen – Lenz traute seinen Augen kaum. Aber immer wenn er stehen bleiben und sich umsehen wollte, stieß ihn eine der Wachen weiter. Das musste die Tempelstadt von Karnak sein! Schließlich traten sie durch eine Tür und gelangten so in einen Raum, in dem ein Mann, der in dem Ge wand eines Priesters steckte, auf einem prachtvollen, türkis und golden verzierten Stuhl saß. Rechts und links von ihm saßen je zwei Schreiber im Schneider sitz auf dem Boden und notierten alles, was der Pries ter diktierte. Hinter dem Stuhl standen rechts ein weiterer Mann, der ihm Luft zufächerte, und links eine Frau, die einen Becher und eine Schale mit Früchten bereithielt. Der Priester unterbrach sein Diktat, als die Wa chen die Kinder an den Schultern packten und vor seinen Stuhl schoben. Er erhob sich, lächelte sie freundlich an und – Lenz traute seinen Augen kaum! – verneigte sich vor ihnen. »Seid willkommen, unbekannte Götter! Seid will kommen dem Hohepriester des Amun, Wennefer.« 118
Als Lenz diesen Namen hörte, bekam er trotz der Hitze eine Gänsehaut. Wennefer. Das war er also. Der Mann, der veranlasst hatte, dass Ti so zugerichtet wurde. Der vor nichts zurückschreckte, um seine magische Figur wiederzubekommen. Der nicht nur der Hohepriester des Amun, sondern offenbar auch noch ein großer Magier war! Und dieser mächtige Mann neigte seinen kahl rasierten Schädel vor ihnen? Drei Kindern aus Köln und Rom? Hielt er sie im Ernst für Götter? Das konnte Lenz sich kaum vorstel len. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass Dr. Mo ihm so etwas erzählt hatte – die Ägypter verehrten manche Tiere, zum Beispiel Stiere oder Katzen, wie Götter, sogar ihr Pharao wurde als Gott verehrt und Lenz’ Onkel hatte auch von Darstellungen gesprochen, in denen ein Kind ein Gott war. Aber dummerweise wusste Lenz nicht mehr, was diesen Kind-Gott aus zeichnete. Und was immer so ein Kind-Gott konnte – Lenz konnte es nicht. Schließlich war er einfach nur ein Junge aus dem 21. Jahrhundert. Der Priester Wennefer gab seinen vier Schreibern, dem Wedelträger und der Frau mit dem Obstteller Zeichen, dass sie den Raum verlassen sollten. Die sechs verschwanden durch den breiten Haupteingang und verschlossen die schwere hölzerne Flügeltür. Wennefer postierte zwei der Wachen, die die Zei tenläufer hierhergebracht hatten, vor dieser Tür. Zwei weitere stellte er vor einen Nebeneingang. Dann wandte sich Wennefer Lenz, Fenne und Sil vester zu. Er schien sie mit seinen schwarzen Augen regelrecht zu durchleuchten. »Euch also schickt Ti zu mir!«, sagte der Hohe 119
priester mit einer ganz freundlichen Stimme. Aber Lenz traute dem Frieden nicht. Der finstere Blick passte einfach nicht zu der flötenden Stimme. »Was hat er euch gesagt?« Lenz sah zu Boden und schwieg. »Wir haben keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Silvester. »Wir waren doch nur auf dem Weg zur Schule!« Ein hinterhältiges Grinsen lief über das Gesicht des Hohenpriesters. Er fixierte Silvester. »Ach ja? Und in welcher Schule lernt ihr diese Sprache, in der ihr euch unterhalten habt?« Silvester schwieg. »Meine Wachen sind nicht so dumm, wie sie aus sehen!«, triumphierte Wennefer. Und plötzlich klang seine Stimme gar nicht mehr freundlich. »Raus mit der Sprache: Was hat euch Ti gesagt?« Er sprang auf Fenne zu, packte sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. »Was habt ihr am Eingangsportal meines südlichen Tempels gesucht?« Fenne schwieg. Silvester schwieg. Und Lenz muss te … »Äh …« Lenz räusperte sich. »Ja?« Der Hohepriester fuhr zu ihm herum. Lenz spürte auch die bangen Blicke von Fenne und Silves ter. »Ich muss mal …« Lenz stockte. Er schluckte. »Du musst was?«, fragte der Hohepriester dro hend. »Pipi«, vollendete Lenz seinen Satz. In den Augen des Hohepriesters funkelte es ge fährlich. Er machte den Mund auf, überlegte es sich 120
dann doch noch einmal anders und befahl seinen Wachen mit eiskalter, ruhiger Stimme: »Abführen! Jede Stunde zehn Schläge mit dem Stock! Prügelt die Wahrheit aus ihnen raus!« Als er das hörte, machte sich Lenz fast in den Len denschurz.
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Aus den Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil X Unsere Philosophen und Theologen, die angeblich weisesten Männer meiner Zeit, sind sich darin einig, dass ein guter Mensch derjenige ist, der nur Gutes tut. Der beste Mensch ist demnach derjenige, der am besten handelt. In meinem langen Leben habe ich aber mehr als einmal erfahren, dass das Nicht-Tun von etwas oftmals moralisch viel wertvoller ist, als es eine Tat je sein könnte. Lenz, Fenne und Silvester waren dabei, genau so einen Fall zu erleben. Lenz erklärte mir später, dass es im alten Ägypten für alles und jedes einen Ober vorsteher, Vorsteher und Untervorsteher gab. Erst dann kam derje nige, der etwas tun sollte. Der Obervorsteher befahl dem Vorsteher, der dem Untervorsteher befahl, der demjenigen befahl, etwas zu tun, der wirklich etwas zu tun hatte. Der Tempel hatte, wenn ich Lenz recht verstanden habe, einen Obervorsteher aller Tempelkerker, einen Vorsteher des nördlichen Tempelkerkers und schließlich die vielen Untervorsteher des nördlichen Tempelkerkers, die dafür zuständig waren, den Wächtern zu befehlen, welcher Gefangene wie zu behandeln sei. Von den Wasser- und Brotrationen bis zu den Stockschlägen war alles organisiert und wurde peinlich genau von einem Heer von Schreibern festgehalten. Wenn aber der Wächter nicht tut, was ihm befohlen, und der Schreiber, der ihn überwachen soll, ein Herz hat und lügt wie in Stein gemeißelt, dann helfen alle Untervorsteher, Vorsteher und Obervorsteher nichts. Es war Glück für Lenz, Fenne und Silvester, dass ihr Wächter und der Schreiber,
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der ihn überwachen sollte, selbst Kinder in ihrem Alter hatten. Und der Wächter dachte gar nicht daran, das zu tun, was er tun sollte. In meinen Augen ist ein solcher Mensch, der es wagt, einen Befehl von egal welcher Autorität zu verweigern, wenn er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, den Befehl auszuführen, ein wirklich guter Mensch. Es müsste also in den Schriften unserer Philosophen und Theologen heißen, dass man nicht nur das Gute tun soll, sondern auch das Schlechte bleiben lassen muss, um ein guter Mensch zu sein. Es war ein Glück für Lenz, Fenne und Silvester, dass sie es gleich mit zwei guten Menschen zu tun hatten.
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11. Kapitel
Schrei lauter«, flüsterte der Wächter, als er mit dem
Stock auf den Sack neben Silvester schlug. Der Schreiber sah gar nicht hin und schrieb brav auf, dass die Kinder wie befohlen ihre zehn Stock schläge bekommen und noch immer nichts Brauchba res ausgesagt hätten. Aber plötzlich stand der Untervorsteher in der Tür und befahl: »Aufhören, du Nichtsnutz! Krümm dem Jungen kein Haar! Er ist doch noch ein Kind!« Der Wächter, der Silvester sowieso nicht geschla gen hatte, ließ seinen Stock sinken und murmelte. »Sehr wohl, Herr. Sehr wohl.« »Lasst sie laufen!«, sagte der Untervorsteher knapp. Er zeigte auf den Schreiber und sagte: »Und du, Schreiber, hast für die nächsten zwei Wochen Urlaub! Und vergiss nicht, deine Schreibunterlagen im Nil zu verlieren!« Der Schreiber nickte, packte sein Zeug ein und 124
flüsterte Lenz beim Verlassen des Kerkers zu: »Na, da habt ihr ja noch mal Glück gehabt!« Der Wächter führte sie durch ein Labyrinth aus unterirdischen Gängen bis zu einer Leiter. Sie kletter ten hinauf und gelangten so direkt hinter den Mauern der Tempelstadt ins Freie. »Na endlich!« Henrik und Cornelia warteten im Schatten eines Baumes auf sie. Cornelia fiel ihrem Bruder um den Hals. Fenne bedankte sich bei Henrik. »Wie habt ihr uns da rausgekriegt?«, fragte sie. Henrik deutete Richtung Tempelwand und sagte schmunzelnd: »Bedankt euch bei Setau. Er wusste, wen wir bestechen mussten, um euch zu befreien.« Der jugendliche Schreiber grinste zu ihnen her über. »Es war nicht schwierig. Ich bin ja oft im Tem pel, kenne ein paar Leute und weiß, was sie gut gebrauchen können.« Lenz schüttelte Setau die Hand. »Danke, vielen Dank! In Wennefers Kerker ist es noch ungemütli cher als unter Pasers Bibliothek.« »Was habt ihr herausgefunden?« Silvester setzte sich im Schneidersitz neben Henrik. Henrik schloss die Augen und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm des Baumes. »Nichts. Ti hat nichts hinterlassen. Alles, was er an Besitz hatte, und das war abgesehen von seinem Schreibzeug wohl nicht viel, haben Wennefers Leute schon längst aus dem Haus seiner Eltern abgeholt.« Silvester ballte die Fäuste. »Der Mistkerl ist uns immer einen Schritt voraus!« »Und ihr?« Henrik steckte eine Dattel in den 125
Mund. »Hat euer halsbrecherischer Einsatz wenigs tens etwas gebracht?« Fenne zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Unter der Lüge von Kadesch sitzt ein merkwürdiger Mann im Staub. Und der sagt immer einen Satz.« Setau lachte schallend und kam zu ihnen herüber in den Schatten des Baumes. »Ihr meint General Mutschamin?« »Heißt er so?«, fragte Lenz etwas unsicher. »Der Bettler, der vor dem Amun-Tempel des Sü dens sitzt und wirres Zeug redet?«, fragte Setau. Lenz nickte. »General Mutschamin.« Setau sah Lenz mit einem mitleidigen Blick an. »Oh Mann, da seid ihr aber echt einem Irren auf den Leim gegangen. Der sitzt da schon, seit ich denken kann. Und seit Neuestem sagt er immer denselben Satz. Früher hat er was von Kadesch gefaselt. Jetzt sagt er immer was vom Wesir.« Setau lachte. »Über den Typ haben wir uns schon als Schüler immer lustig gemacht. – Selbst wenn Ti dem eine Botschaft für euch hinterlassen hätte. General Mutschamin kann sich nichts mehr merken.« Lenz wiegte den Kopf hin und her. Er hatte ja auch bemerkt, dass der Mann ein bisschen merkwür dig war. Aber gerade weil er sich ständig wiederholte, konnte es doch sein, dass Ti ihm eine Botschaft an die Zeitenläufer eingetrichtert hatte, ohne dass dieser General selbst überhaupt etwas davon wusste! Schließlich hatte Ti ja auch seinem Onkel, dem Bä cker Mepo, keinen reinen Wein eingeschenkt. »Verrückt oder nicht«, sagte Fenne. »Wir haben keine bessere Spur: Dieser Bettler oder General hat 126
gesagt, dass der Grund des Friedens im Herzen des Wesirs liegt.« Setau zuckte mit den Schultern. »Na und?« »Es könnte doch sein, dass das die Wahrheit ist, die unter der Lüge von Kadesch im Staub liegt.« Lenz musterte Setau. Der Junge schien sich ganz und gar sicher zu sein, dass das eine kalte Spur war. »Dann hieße das …«, überlegte Setau. »Wir müssen zu Paser.« Henrik stand auf. »Verein bare bitte sofort ein Treffen für uns. Sag ihm, wie gefährlich es für uns geworden ist. Wir müssen ihn irgendwo treffen, wo es keiner vermutet – schließlich kennen die Wachen von Wennefer jetzt die Gesichter von Lenz, Henrik und Fenne und denen wollen wir nicht noch einmal in die Arme laufen.« Setau nickte. »Ich will tun, was ich kann. Wir tref fen uns bei eurer Hütte.« Während Setau sich auf den Weg zu Paser machte, trabten die Zeitenläufer zurück in den südlichen Teil von Theben. Es war Nachmittag geworden und die Sonne knallte auf ihre Köpfe. Zwischen den Häusern und Bäumen des Fruchtlandes blitzten immer wieder die Wüstengebirge des westlichen Ufers auf. »Woher wussten die Wachen, wo sie uns schnap pen konnten?«, fragte Silvester. Auf diese Frage hatten weder Fenne noch Lenz eine gescheite Antwort. »Vielleicht hat der Bäcker Mepo eben doch ir gendwem erzählt, dass wir aus dem Tempel der Hat schepsut spaziert sind«, überlegte Fenne. »Aber das erklärt noch lange nicht, wie sie uns in dem Gewusel dieser Riesenstadt so schnell gefunden 127
haben!«, hielt Silvester dagegen. Er blieb plötzlich stehen und sagte: »Vielleicht hat uns gestern Abend eben doch jemand belauscht!« Das war zwar eine Erklärung. Aber die schmeckte den Zeitenläufern ganz und gar nicht. Denn wenn die Tempelwächter sie belauscht hatten, dann kannten sie auch ihre Hütte! Und das wiederum hieß, es könnte sein, dass die Wächter dort auf sie warteten, um sie wieder in den Kerker zu stecken. Als sie endlich in ihrer Straße anlangten, schlichen Henrik und Cornelia voraus, um sicherzugehen, dass sie nicht erwartet wurden. Denn von Überraschungs besuchen hatten die Zeitenläufer fürs Erste die Nase voll.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XI Selbst mit Zeitreisen können wir den Gang der Geschichte nicht vorherbestimmen. Ich weiß nie, was geschehen wird, wenn ich die Zeitenläufer losschicke, um einen Teil der Vergangenheit zu beein flussen. Denn ob eine Zeitreise erfolgreich war oder nicht, kann man immer erst klar sehen, wenn die Geschichte ihren Lauf genommen hat. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war ich so verzweifelt über diesen Zustand, dass ich überlegte, die ganze Zeitenläuferei an den Nagel zu hängen. Denn was, so fragte ich mich, kann ein Einzelner schon gegen den gewaltigen Strom der Menschheitsgeschichte ausrichten? Aber es waren gerade Ereignisse wie die ägyptischen, von denen Fenne mir später berichtete, die mich darin bestärkten, dass ein einzelner Mensch den Gang der Geschichte manchmal eben doch beeinflussen kann. Zum Guten – oder zum Schlechten.
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12. Kapitel
Das Haus war groß, kühl, blitzblank und wurde von
einer Menge Leute bewohnt. Die ganze Anlage schien kaum kleiner zu sein als der Palast, in dem der Wesir residierte. »Das Haus gehört einem Freund Pasers.« Setau führte sie in den Garten. »Der Hausherr ist zurzeit mit Ramses unterwegs. Niemand vermutet den Wesir hier.« Das Haus hatte einen Garten, groß wie ein Park, der von einer Mauer umgeben war. In diesem Garten hatte der Freund sogar einen See angelegt, auf dem Boote schaukelten. Setau führte die Zeitenläufer in ein achteckiges Gartenhaus. Hier standen vier niedri ge Tischchen, an denen jeweils zwei Sitzkissen lagen. Getränke und Obst standen auf den Tischchen. »Macht schnell.« Der Wesir saß auf einem der Kis sen und kaute Weintrauben, als Setau die fünf Zeiten läufer in dieses Gartenhaus führte. Paser hatte seine
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Perücke abgelegt und strich sich immer wieder über seinen Schädel, der ebenso kahl rasiert war wie der des Hohenpriesters. »Der Pharao wird bald ankom men – noch heute Abend oder morgen früh. Und ein Unterhändler der Hethiter ist auch auf dem Weg zu uns. Wenn alles glattgeht, können wir heute oder morgen den Text für den Vertrag perfekt machen.« Paser schnaufte laut durch die Nase. »Also: Was braucht ihr von mir?« Silvester warf einen Blick auf das Essen, während Henrik sagte: »Lenz hat vielleicht eine Spur gefun den. Aber wir wissen mal wieder nichts damit anzu fangen.« »Was soll es heißen, dass der Grund des Friedens im Herzen des Wesirs liegt?«, fragte Lenz. Paser verdrehte die Augen. »Das ist alles? Das ist alles, was ihr gefunden habt? Das bedeutet gar nichts. Das sagt ein armer Teufel, der vor dem Palast des Südens sitzt und die Hand aufhält.« Aber Fenne hakte nach: »Ti wollte, dass wir dich danach fragen. Seine Hinweise haben uns zu diesem Bettler geführt.« Paser schien zu überlegen. »Wenn du uns nicht sagst, was du weißt, dann ha ben wir keine Chance, die Figur zu finden.« Henrik kam das Zögern des Wesirs offenbar ebenso seltsam vor wie Lenz und Fenne. Paser wischte sich wieder den Schweiß vom Schä del und murmelte: »Ich glaube zwar nicht, dass uns das weiterführt, aber gut. Dieser arme Bettler, Gene ral Mutschamin mit Namen, sagt die Wahrheit.« Paser gab den Kindern mit der Hand ein Zeichen, dass sie 131
sich setzen und zugreifen sollten. Sie ließen sich immer zu zweit an einem der kleinen Tischchen nieder, und Silvester zögerte nicht, ordentlich zuzu langen. »Sorge dafür, dass uns niemand belauscht und niemand stört, Setau! Und halt mir vor allem diese verräterischen Wachen vom Leib!« Der Wesir schick te Setau mit einem Wink aus dem Raum. Der Junge nickte entschlossen, kehrte ihnen den Rücken, blieb auf der Türschwelle stehen und beo bachtete den Garten. »Ich habe euch doch schon von der Schlacht am Fluss Orontes bei Kadesch erzählt.« Lenz nickte. »Vor einigen Jahren ist eure Armee dort von den Hethitern geschlagen worden.« Paser nickte. »So war es. Mutschamin war damals einer der Generäle und ein enger Freund von mir. Wir waren nach Kadesch aufgebrochen mit einer Elitetruppe, um den Hethitern in den Rücken zu fallen. Aber als wir ankamen, war Ramses schon in größter Not. Wir konnten ihn gerade noch befreien und uns zurückziehen. Mutschamin und ich sahen sofort, dass die Hethiter unserer Armee so überlegen waren, dass sie uns beim Rückzug vernichten könn ten. Wir sind daher ins Lager der Hethiter gegangen und haben um freien und ungestörten Rückzug gebe ten. Der König der Hethiter war sogar bereit, sich darauf einzulassen. Wenn wir ihm nur versprächen, ihm zukünftig die Herrschaft über Syrien zu überlas sen.« Paser machte eine Pause. »Wir verhandelten zwei Tage mit den Hethitern. 132
Und während dieser Verhandlungen lernte ich eine Frau kennen. Sie hieß Chepa und war Hethiterin. Wir verliebten uns. Auf unserem Rückzug nahm ich sie mit nach Ägypten und bekam hier mit ihr einen Sohn, der nun in Setaus Alter ist. Ich musste sie vor meiner Familie, dem Pharao und allen Ägyptern verstecken. In meinem Amt hätte das nur böses Blut gegeben. Ein Freund half mir damals, ein Versteck für die beiden zu finden.« »General Mutschamin«, riet Henrik. Paser nickte anerkennend. »Ja. Er hat Chepa eines seiner Häuser gegeben. Aber meine liebe Chepa ist schon bald nach der Geburt unseres Sohnes Kizzu gestorben. Mutschamin hat noch dafür gesorgt, dass Kizzu von einem Fischer aufgenommen wurde. Dann ist mein Freund Mutschamin einer der Intrigen von Wennefer zum Opfer gefallen.« Paser sah in die Runde. Lenz verstand kein Wort. Der Wesir hatte eine Frau aus dem Volk des Feindes geheiratet und dann versteckt? Oder hatte er sie gar nicht geheiratet? Hatte er sich denn von seiner ägyptischen Frau schei den lassen? Mal abgesehen davon, dass Lenz sich im ägyptischen Heiratsrecht nicht auskannte, verstand er nicht, warum diese Frau namens Chepa der Grund des Friedens sein sollte. Sie war doch schon tot. »Und?«, fragte Henrik. »Außer Mutschamin, dem alten Fischer und mei nem Sohn selbst weiß niemand, dass Kizzu mein Sohn ist. Aber vielleicht wusste auch Ti Bescheid.« Paser trank einen Schluck. »Kizzu und das Andenken seiner schönen Mutter Chepa sind tatsächlich ein Grund, 133
warum ich dem Pharao zum Frieden mit den Hethi tern geraten habe. Denn wenn wir endlich in Frieden mit ihnen leben würden, dürfte ich mich zu meinem Sohn bekennen und Kizzu selbst könnte endlich den hethitischen Teil seiner Familie kennenlernen.« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Aber das alles ist kein Hinweis auf das Versteck der Figur, oder?« Paser zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was in Ti vorgegangen ist. Ich weiß, dass er Kizzu kannte. Ich selbst habe Ti immer wieder mit Nach richten zu Kizzu geschickt. Aber dass er wusste, dass Kizzu mein Sohn ist, war mir nicht bekannt.« »Das ist kein Hinweis auf die Figur«, sagte Fenne. »Es ist eher ein Hinweis auf den Sohn, diesen Kizzu.« Cornelia nickte. »Wenn niemand weiß, dass Kizzu dein Sohn ist, dann könnte die Figur bei ihm wirklich gut versteckt sein!« Allmählich kapierte Lenz, wie Ti vorgegangen war: Alle Hinweise waren öffentlich zugänglich. Aber nur wer die Puzzlestücke zusammennahm, konnte die Zeichen als Hinweise deuten. Wer nicht wusste, dass er unter dem Bild der Schlacht von Kadesch suchen musste, würde auf den verrückten General nicht aufmerksam werden. Und wer Paser nicht kannte, konnte kaum darauf kommen, dass dieser einen Sohn hatte, der der wahre Grund dafür war, dass der Wesir sich für einen Frieden mit den Hethitern einsetzte. Diese Spuren, die zum Versteck der magischen Figur führten, waren genial von Ti vorbereitet: Den Schlüs sel hatte der Wesir selbst in der Hand gehabt, ohne es zu wissen! So wie schon Mepo und erst recht dieser 134
General keine Ahnung davon hatten, dass sie Teil eines großen Rätsels waren. »Wo können wir deinen Sohn finden?« Henrik stand auf. »Er lebt noch immer bei dem alten Fischer unten am Nil. Es ist die kleine Hütte, die neben dem großen Haus des Nebwe, Priester der Muth, steht. Setau kann euch führen.« Der Junge drehte sich um und nickte. Aber in diesem Augenblick kam ein aufgeregter Diener quer durch den Garten auf sie zugerannt. »Ich weiß, dass Ihr nicht gestört werden wolltet, Herr«, sagte er und verbeugte sich immer wieder. »Aber es ist von größter Dringlichkeit. Soeben erreicht uns die Botschaft, dass unser Hausherr in Kürze erwartet wird. Und er begleitet den Sohn der Götter, Ramses, den Pharao!« Paser verließ sofort das Gartenhaus. Aber vor der Türschwelle blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal um und sagte: »Möge euer Vorhaben gelingen!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XI Reisen bildet. Und Zeitreisen bildet doppelt. Das aber natürlich nur, wenn man Augen und Ohren aufsperrt. Ich habe daher meine Zeitenläufer immer dazu ermuntert, sich, soweit es ihr Auftrag zulässt, in der Zeit umzusehen, in der sie sich bewegen. Dass sich meine fünf Zeitenläufer die Ankunft des Ramses, des wohl bedeu tendsten Königs der ägyptischen Geschichte, nicht entgehen lassen wollten, kann ich daher gut verstehen. Setau im Gedränge aus den Augen zu verlieren, spricht allerdings nicht für die Aufmerksamkeit der Kinder. Sie müssen wohl vom Anblick des Pharao geblendet gewesen sein. Denn meiner Fenne entgeht normalerweise nichts. Aber so ist es mit den Fehlern: Ein kleiner Fehler kann eine große Sache von vorne bis hinten versauen. Wer einen Esslöffel anstelle eines Teelöffels Salz in seine Suppe wirft, hat die Suppe verdorben. Meine Zeitenläufer waren mit ihrer Neugier drauf und dran, ihre eigene Suppe zu versalzen. Und zwar gewaltig.
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13. Kapitel
Schon
schick, so’n Pharao!« Henrik grinste. »Unser Präsident macht jedenfalls nicht so viel her. Der kommt auch nicht mit so viel Tamtam auf dem Rhein angeschippert.« Die Zeitenläufer liefen hinter Setau her, der sie am Abend endlich wiedergefunden hatte und nun zu Kizzus Hütte führte. Lenz versuchte, sich vorzustel len, wie das wohl aussähe: der Bundespräsident, ägyptisch gekleidet, mit einem Bügelfalten-Schurz, nacktem Bauch und behängt mit einem golden und türkis strahlenden Kragen, dazu diese mützenartige Doppelkrone auf dem Kopf. Er musste lachen. Aber das Lachen verging ihm schlagartig, als sie die Hütte erreichten. Die Tür war eingetreten und hing schief in der An 137
gel. Drinnen hatte jemand alles durchwühlt: Die Körbe, Kisten und Krüge waren ausgeschüttet, jeder Topf, Kessel und sogar die Bodenmatten hatte je mand herumgedreht. Die Zeitenläufer waren zu spät gekommen. »Das kann doch nicht sein«, sagte Lenz. »Wir wa ren allein mit Paser im Garten seines Freundes.« Fenne sah ihn an. »Hier war jemand, der etwas ge sucht hat. Und wir wissen alle, was das war. – Also muss uns jemand belauscht haben.« »Bist du ganz sicher, dass du niemanden gesehen hast, als wir mit Paser gesprochen haben?«, fragte Silvester Setau, der ebenso fassungslos auf das Chaos in der Hütte blickte wie die Zeitenläufer. »Ganz sicher kann man sich offensichtlich nie sein«, antwortete der Junge knapp. »Aber wo ist Kizzu?«, fragte Cornelia. Es war Henrik, der plötzlich sagte: »Psst.« Sie lauschten. Lenz hörte nichts Verdächtiges. Aber Hen rik sagte: »Es ist jemand auf dem Dach!« Sie liefen um die Hütte herum und fanden an der Rückwand eine Leiter, die hinaufführte. Henrik hatte sich nicht verhört. Auf dem Dach saß ein alter, zitternder Mann. Als er die Zeitenläufer und Setau erblickte, verbarg er seinen Kopf zwischen den Händen und wimmerte: »Lasst mich in Frieden, ich bin ein alter, braver Fischer, ich habe nichts Unrechtes getan! Die Göttin der Wahrheit steh mir bei!« Cornelia näherte sich ihm vorsichtig. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte mit ihrer nettesten Stimme: »Wir wollen dir nichts tun. Wir sind Freunde 138
von Ti und suchen Kizzu. Kannst du uns sagen, wo wir ihn finden können?« Der Alte sah Cornelia an. Das römische Mädchen setzte ihr liebstes Lächeln auf. So lieb wie Cornelia konnte niemand gucken. Da fasste sogar der alte, ver schüchterte Mann Vertrauen. »Es waren Wachen vom Tempel des Amun! Sie haben alles durchsucht und mir mit dem Stock gedroht!« Der Alte schüttelte sich. »Wo ist Kizzu?«, hakte Setau nach. Der Alte musterte den jungen Mann. »Er ist fi schen. An der kleinen Insel hinter der nördlichen Kehre macht er meist Halt.« Setau nickte. »Alles klar, ich finde ihn. Wir treffen uns in eurer Hütte, ich werde Kizzu zu euch bringen.« Fenne warf Lenz einen Blick zu, den Lenz nicht recht deuten konnte. Irgendetwas behagte Fenne nicht. »Quatsch, wir kommen mit dir«, sagte sie. Sie kletterten vom Dach und liefen in der Abend dämmerung zum Ufer des Nils. »Aber es ist nicht ungefährlich, um diese Zeit in einem Boot unterwegs zu sein«, sagte Setau noch. Und während sich Setau, Henrik und Silvester darum bemühten, ein Boot für sie aufzutreiben, sagte Fenne: »Es ist doch sehr merkwürdig. Niemand hat uns belauscht, und doch wussten die Schergen des Hohepriesters, wen wir suchten.« Cornelia und Lenz nickten. »Und jetzt wollte Setau Kizzu allein abholen?« Fenne legte den Kopf schief. »Mit dem stimmt doch was nicht!« Cornelia überlegte. »Setau war immer bei uns. Er wusste, dass ihr zum Tempel des Südens gehen würdet.« 139
»Und er hatte genug Zeit, im Palast des Amun Be scheid zu sagen, wo sie uns holen konnten.« Aber Fenne schüttelte den Kopf. »Aber dann muss Wennefer gemerkt haben, dass wir eben doch mehr rausgefunden haben, als er gedacht hatte. Denn Setau hat uns wieder befreit!« »Aber das war doch Bestechung«, sagte Lenz. »Wa rum sollte er die Palastwachen bestechen, wenn er sowieso schon das macht, was Wennefer will?« Fenne sah Cornelia an. »Habt ihr gesehen, wie er die Wachen bestochen hat?« Cornelia schüttelte den Kopf: »Nein, er wollte al lein in den Tempel gehen. Wir sollten auf der Rück seite warten.« Fenne lachte. »Dass ich da nicht viel früher drauf gekommen bin! Setau arbeitet für Wennefer und Paser gleichzeitig! Und wenn ihr mich fragt, hat er von Wennefer den Auftrag, die magische Figur zu finden. Vor uns!« »Du meinst, er ist ein Doppelspion?« Lenz konnte es nicht glauben. Aber was Fenne da zusammenkom binierte, klang ziemlich logisch. »Wer ist ein Doppelspion?«, fragte in diesem Au genblick Henrik, der mit Setau und Silvester zu ihnen zurückkam. »Odysseus«, sagte Cornelia wie aus der Pistole ge schossen. »Odysseus in der Geschichte mit dem Zyk lopen. Habt ihr ein Boot?« Silvester und Henrik sahen sich an, verstanden nichts und zeigten ihnen das Boot, das Setau für sie besorgt hatte. Lenz hatte ein ziemlich mulmiges Gefühl, als er 140
einstieg. Wenn das, was Fenne sagte, stimmte, dann lieferten sie sich doch genau in diesem Augenblick dem Jungen aus, der sie vermutlich an den Hohe priester verraten hatte! Als sie alle im Boot waren, löste Setau den Strick, stieg selbst ins Boot, stieß sie kräftig vom Ufer ab, schnappte sich das Steuerruder und sagte: »Die Insel liegt flussabwärts.« Lenz hatte die ganze Zeit auf dem Fluss Angst, dass Setau sie an einer Stelle, an der es Krokodile gab, über Bord schmeißen würde. Auch Cornelia und Fenne beobachteten den Jungen am Steuer misstrau isch. Aber entweder war seine Tarnung perfekt oder Fennes Verdacht war falsch: Setau brachte sie sicher zur Insel. Sie fanden auch tatsächlich einen Jugendli chen, der in Setaus Alter war. Er hatte ein kleines Feuer entfacht und dachte nicht ans Fischen. »Fischen ist etwas für die Morgenstunden«, sagte Kizzu, als die Zeitenläufer ihm gesagt hatten, dass Ti und Paser sie schickten. »Ich bin nur hier, weil die Wachen von Wennefer unsere Hütte verwüstet ha ben. Ich war schon auf dem Heimweg, als ich sie sah. Sie haben mir aufgelauert, aber ich konnte sie im Gewühl, das unser lieber König Ramses erzeugt hat, abhängen.« Kizzu lächelte. »Was hat Ti dir gesagt?«, fragte Henrik. »Gab er dir eine Figur, bevor er verschwunden ist?« Aber Kizzu schüttelte den Kopf. »Nein, hat er nicht. Er hat mir auch nichts gesagt.« Lenz wunderte sich. »Denk scharf nach, es ist sehr wichtig für uns!«, sagte Henrik. 141
»Hat er dir nicht vielleicht irgendetwas anderes ge geben. Eine Holzplatte, auf der ein Text steht. Oder eine Nachricht für Kinder, die eine fremde Sprache sprechen?«, fragte Cornelia. Aber Kizzu schüttelte den Kopf. »Nein, hat er nicht. Da war nichts. Ich habe ihn sowieso schon seit Wochen nicht mehr gesehen.« Lenz seufzte. Eine kalte Spur! Sie waren genauso weit wie am Anfang und hatten nicht den leisesten Schimmer, wo die magische Figur versteckt sein könnte. »Was jetzt?«, fragte Setau. »Zurück zu unserer Hütte«, entschied Henrik. Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhö ren. »Wir machen morgen weiter.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XIII So ungeduldig und vorschnell Henrik häufig war: An jenem Abend auf der kleinen Nilinsel traf er die richtige Entscheidung. Und als er mir später berichtete, dass er einfach nur noch einmal in Ruhe alle Hinweise, die sie hatten, mit Lenz durchsprechen wollte, um doch noch auf die Lösung des Rätsels zu kommen, das Ti ihnen aufgege ben hatte, wurde mir klar, dass Henrik vielleicht doch das Zeug dazu hatte, eines Tages meine Nachfolge anzutreten. Bisher hatte ich ihn immer für zu leichtsinnig gehalten. Aber das war er nicht. Zumindest nicht in Ägypten.
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14. Kapitel
Was?«
Silvester und Henrik trauten ihren Ohren kaum, als Fenne ihnen mitteilte, dass sie Setau für den Verräter hielt, hinter dem Paser her war. Setau hatte sie zurück zur Hütte begleitet und sich für die Nacht verabschiedet, als Fenne in aller Eile ihren Verdacht äußerte. Sie stellte sich in den Türrahmen und sah hinter Setau her, der die Straße hinunter schlenderte. »Ich will ihm vorsichtshalber folgen«, sagte Fenne und trat aus der Hütte. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen und die Straßen Thebens wurden nur von der Mond sichel und dem Feuerschein aus den Fenstern man cher Häuser erhellt. »Ich komme mit dir«, sagte Henrik sofort und auch Silvester wollte die beiden nicht allein ziehen lassen. Lenz zögerte. Er wollte nicht als Feigling dastehen. 144
Und dass Cornelia, die sich anschleichen konnte wie keine Zweite, auch mit hinter Setau herrennen würde, war ja sowieso klar. Aber Henrik sagte: »Drei sind genug, sonst fallen wir doch wieder irgendwem auf. Cornelia und Lenz, ihr bleibt hier und überlegt noch einmal ganz genau, ob wir eventuell irgendeinen Hinweis von Ti überse hen haben könnten.« Lenz atmete erleichtert auf. Nachdenken war ihm tausendmal lieber, als bei Dunkelheit einen Doppel spion quer durch Theben zu verfolgen. Silvester und Henrik rannten hinter Fenne her, die Setau bereits auf den Fersen war. Lenz und Cornelia versuchten, den Ofen noch einmal anzufeuern. Denn mit einer Tasse Tee in der Hand flutschten bei Lenz die Gedanken einfach besser, aber es wollte ihnen nicht gelingen, einen neuen Anhaltspunkt zu finden. »Sag mal, Lenz, ach nein, schon gut.« Cornelia sah verlegen auf die Holzscheite in ihrer Hand. »Was ist?« Lenz versuchte sich noch einmal mit dem Feuerstein und gab schließlich auf. »Trinken wir eben Wasser.« »Ich meine … Henrik«, begann Cornelia wieder. »Was ist mit Henrik?« Lenz hatte keine Ahnung, worauf Cornelia hinauswollte. Er war völlig mit Tis Rätsel und dem Problem mit dem Feuerstein be schäftigt, für einen dritten Gedanken war in seinem Kopf einfach kein Platz mehr. »Hat er in eurer Zeit eigentlich eine …« Sie zöger te. »Na, du weißt schon.« 145
Lenz verstand überhaupt nichts. »Ne, weiß ich nicht.« »Ich meine, eine Freundin«, brachte Cornelia end lich über die Lippen. Lenz musste plötzlich kichern. Er wusste selbst nicht, warum. Sie waren in Theben, die Schergen von Wennefer waren ihnen auf der Spur, und es schien fraglich, ob diese Hütte eigentlich noch sicher war, wenn Setau wirklich der Verräter war. Aber dass Cornelia sich in dieser Situation nichts dringlicher fragte als, ob Henrik eine Freundin hatte, das fand Lenz trotz allem zum Piepen, irgendwie. »Was ist?«, fragte Cornelia etwas gereizt. Lenz hörte schlagartig mit seinem albernen Geki cher auf. »Entschuldige. Nein, hat er nicht. Ich habe Henrik auch noch nie über irgendein Mädchen reden hören …«, sagte Lenz. »Ach so«, sagte Cornelia ziemlich enttäuscht. »Außer über dich, versteht sich.« Lenz steckte sich eine Dattel in den Mund. Sie war süß und klebrig und irgendwie genau das, was er jetzt brauchte. »Im Ernst?« Cornelias Stimme klang plötzlich ganz aufgeregt. »Meinst du im Ernst, dass er mich ein bisschen … oder sogar ein bisschen mehr … du weißt schon …« Es klopfte. Lenz blieb das Herz stehen. Es war zwar nur für ein bis zwei Schläge, aber die ein bis zwei Schläge setzte sein Herz aus. Das konnten doch nur die Wa chen, diese Knüppel schwingenden Ungeheuer von Wennefer sein! Lenz und Cornelia gaben keinen Mucks von sich. 146
Es klopfte wieder. Dann schob jemand vorsichtig die Tür der Hütte auf. »Hallo, seid ihr noch da?«, hörte Lenz eine Stimme fragen, die ihm bekannt vorkam. War das Setau? Aber nein, das war … »Kizzu, was machst du denn hier?«, entfuhr es Cornelia. »Warum habt ihr kein Licht an, wenn ihr noch wach seid?«, fragte der Sohn des Wesirs zurück. »Weil wir zu blöd sind, Feuer zu machen«, antwor tete Cornelia ehrlich. Kizzu brauchte keine zwei Minuten, um den Ofen anzufeuern, und er entzündete auch zwei der Öllam pen, die Setau ihnen bereitgestellt hatte. Kizzu sah sich in der Hütte um. »Wo sind die an deren?«, fragte er. »Die unternehmen noch eine kurze Spritztour kreuz und quer durch Theben«, sagte Lenz. »Aber was machst du hier?« Der Junge setzte sich auf eines der Kissen. »Ich habe drei Fragen von Ti an euch.« »Also hat er doch etwas für uns hinterlassen?« Lenz setzte einen Topf mit Wasser für Tee auf den Ofen. Die Spur war also doch nicht kalt gewesen. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Corne lia stellte eine der Öllampen in die Mitte des Rau mes und setzte sich auf ihren Platz an der linken Wand. Kizzu antwortete: »Wenn ihr die Antworten auf Tis Fragen wisst, beantworte ich euch jede andere Frage – wenn ich kann.« Er setzte sich im Schneidersitz auf das Kissen, das 147
unter dem Fenster lag. »Erste Frage: Was geschieht mit dem, der den Falschen fragt?« Lenz und Cornelia sahen sich an. Sie mussten nicht lange nachdenken und sagten wie aus einem Munde: »Er wird Ti nach Westen folgen.« Denn so lautete ja die Botschaft, die Ti ihnen am Zeitanker im Tempel der Hatschepsut hinterlassen hatte. Kizzu lächelte und stellte seine zweite Frage: »Wie heißt der, der die Wahrheit unter der Lüge von Ka desch sagt?« »General Mutschamin«, sagte Cornelia direkt. Kizzu nickte. »Letzte Frage: Ti weiß, dass Ägypten untergehen wird. Die letzte Pharaonin Ägyptens wird sich in einen mächtigen König aus der Fremde verlie ben und ein Kind mit ihm haben. Wie ist der Name dieses fremden Königs?« Lenz wunderte sich zwar über diese Frage, aber die Antwort wusste er. Die letzte Pharaonin der Ägypter war Kleopatra. Das hatte Dr. Mo ihnen erzählt. Lenz schüttete den Tee in die Becher. Und Kleopatra hatte sich bekanntlich in Cäsar verliebt – aber hatten die beiden auch ein Kind bekommen? Und Cäsar war kein König! Die Römer hatten ja erst später in der Person von Augustus wieder einen Kaiser. Cäsar war Konsul und Senator und später Diktator auf Lebenszeit. Aber vielleicht hatte Ti das nicht gewusst. Die richtige Antwort musste einfach lauten: »Cä sar. Aber ein richtiger König war der nicht.« Kizzu nickte. Und Cornelia fiel aus allen Wolken: »Gaius Julius Cäsar wird mit einer Pharaonin ein Kind bekommen? 148
Und er wird ein König werden? Aber wir haben doch eine Republik und …« Lenz winkte ab. »Ich erklär’s dir später.« Denn zu der Zeit, in der Cornelia in Rom zu Hause war, war Cäsar noch einer der Senatoren. Ein ziemlich mächti ger zwar, aber er hatte bisher weder Gallien erobert noch hatte er sich zum Diktator auf Lebenszeit er nannt. Und von Kleopatra wusste Cornelia offensicht lich auch noch nichts. Aber nun fiel Lenz auf, warum Ti diese Frage stellen ließ: Wer diese Antwort wusste, musste ein Zeitenläufer sein! »Das waren die richtigen Antworten.« Kizzu stand auf. »Kommt im Morgengrauen runter zum Nil. Ich werde euch erwarten. Ich soll euch das Grab meiner Mutter zeigen.« Lenz nickte. Da also hatte Ti die Figur versteckt – oder von Kizzu verstecken lassen! »Aber warum hast du uns das alles nicht schon vorhin auf der Nilinsel gefragt?«, hakte Cornelia nach. »Wir könnten längst auf dem Heimweg sein!« Kizzu nickte. »Ti hat mir gesagt, dass Kinder kom men würden. Er gab mir die Fragen. Und er hat mir eingeschärft, diese Fragen den Kindern nur dann zu stellen, wenn niemand, der älter als elf Jahre ist, dabei ist. Setau ist sechzehn.« Lenz ließ sich nach hinten auf die Kissen sinken. »Ti ist genial! Er hat einfach an alles gedacht!« Er richtete sich wieder auf und sah Cornelia an. »Ver stehst du nicht? Zeitenläufer kann man nur sein, wenn man nicht älter als elf Jahre ist. Das weiß Ti so gut wie wir! Und dadurch hat Ti das Geheimnis vor Setau 149
bewahrt! Das ist unsere Rettung, falls Setau wirklich der Verräter ist.« »Ist er«, sagte Henrik trocken, der in diesem Au genblick die Hütte betrat. »Er hat sich mit dem Chef der Tempelwache von Wennefer getroffen. Wenn wir uns nicht verhört haben, werden wir gleich Besuch von der Wache kriegen.« Silvester trat hinzu und sagte grinsend: »Es sei denn, wir verduften vorher.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XIV Henrik, Silvester und Fenne gingen davon aus, dass sie, nachdem sie Setau und den Vorsteher der Wachen Wennefers belauscht hatten, unerkannt zurück zur Hütte geschlichen waren. Aber die drei unterschätzten Setau. Der Junge hatte vermutlich schon auf dem Schiff die misstraui schen Blicke von Fenne, Cornelia und Lenz bemerkt. Auch dass Kizzu nicht mit ihnen sprechen wollte, musste Setau sehr seltsam vorgekommen sein, nachdem Tis Hinweise doch so klar zum Sohn des Wesirs geführt hatten. Ich bin mir sicher, dass Setau es geradezu darauf anlegte, dass die Zeitenläufer ihn verfolgten. Sein Rat an die Wache, die Kinder in der Hütte gefangen zu nehmen, diente nur dazu, sie aus ihrem Versteck zu jagen und endlich die Figur holen zu lassen. Denn für Setau drängte die Zeit: Ramses war mitsamt seinem Unterhändler ebenso in Theben erschienen wie der Gesandte der Hethiter. Paser hatte bereits Silbertafeln, auf denen der endgültige Ver tragstext geschrieben stehen sollte, geordert – der Friedensschluss war nur noch eine Frage von Tagen oder Stunden. Der Hohepriester Wennefer muss getobt haben vor Wut. Denn sonst hätte er seinen Tempel zu dieser Zeit kaum verlassen, um einer
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Gruppe von Kindern hinterherzujagen, die angeblich wussten, wo seine magische Figur versteckt war. Während die Zeitenläufer also glaubten, dass sie vor Setau und Wennefer davonrannten, liefen sie ihnen genau in die Arme.
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15. Kapitel
Kizzu kannte den Nil wie seine Westentasche, wenn
er denn eine Westentasche gehabt hätte. Der Sohn des Wesirs steuerte das Schiff trotz der Dunkelheit sicher über das Wasser und versteckte es zwischen den Papyrusstauden des Westufers. Sie schlichen sich um Ramses’ Totentempel herum, betraten das Dorf der Arbeiter und klopften an die Tür des ersten Hau ses auf der linken Seite. Mepo öffnete ihnen. »Meine Götter! Meine Götter sind zurück!« Er verbeugte sich. »Kommt herein, seid meine Gäste!« Den Sohn des Wesirs wollte der Bäcker erst nicht ins Haus lassen, weil Ti ihm ja eingeschärft hatte, niemanden aufzunehmen, der älter als 11 Jahre war. Als Mepo aber erfuhr, dass der jugendliche Fischer Kizzu hieß, schloss er ihn herzlich in die Arme. Denn von einem Freund namens Kizzu hatte sein Neffe Ti ihm schon viel erzählt. Die Freunde legten sich auf dem Dach des Bäckers schlafen.
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Der Himmel war nicht so sternenklar wie in ihrer ersten ägyptischen Nacht, aber dafür hatte sich Lenz so sehr an das Leben in Ägypten gewöhnt, dass er keine Angst mehr hatte und bald in einen tiefen Schlaf fiel. Im Morgengrauen brachen sie auf. Mepo gab ihnen Brot, Früchte und Wasser mit, das sie in einfachen Tragesäcken, die sie sich über die Schultern legten, transportierten. Außerdem stopften sie ihre eigenen Kleider, den Tagesrucksack von Fenne und die Schu he, die sie bei Mepo deponiert hatten, in die Tragesä cke. Dann verließen sie das Dorf und liefen auf den Totentempel der Hatschepsut zu. »Das gibt’s doch nicht!«, sagte Fenne. »Jetzt sag bloß, dass deine Mutter diese Hatschepsut war!« Aber Kizzu schüttelte lachend den Kopf. »Nein, Hatschepsut war eine der wenigen Pharaoninnen Ägyptens. Meine Mutter war eine Hofdame der He thiter. Mein Vater hat ihr eine versteckte Grabstelle bauen lassen.« Kurz vor dem Terrassentempel bog der Sohn des Wesirs nach links ab. Die aufgehende Sonne ließ die Klippen hinter den Totentempeln rot leuchten, als die fünf Zeitenläufer den schmalen Pfad hinter Kizzu hinaufkraxelten. Der Weg war so steinig, dass Lenz rasch die Nase gestrichen voll davon hatte. Während Silvester, Cornelia und Henrik weiter hinter Kizzu her den Berg hinaufliefen, setzte er sich auf einen Stein und packte seine Turnschuhe aus. Fenne blieb stehen, sah ihn an, wie er da saß mit 154
seinem weißen ägyptischen Schurz um die Hüften und den Turnschuhen an den Füßen und grinste. »Stilecht ist das aber nicht mehr!«, rief Henrik von oberhalb. Aber dann holten auch Fenne und Henrik ihre Schuhe aus den Tragesäcken und auch Cornelia und Silvester zogen ihre Sandalen an. So kamen sie schneller und sicherer voran. Als sie den Kamm des Berges erreichten, wehte ihnen ein kühler Wind entgegen, mit dem Lenz nicht gerechnet hätte. Schließlich erstreckte sich auf der anderen Seite die Sahara. Und die Wüste, dachte Lenz, ist normalerwei se brütend heiß. Kizzu bog hinter einem großen Geröllbrocken rechts ab und fegte mit der Hand etwas Sand von einer Holzplatte. Dann hob er diese hoch. Vor ihnen führte eine Treppe ein paar Stufen hinunter in einen schmalen Gang. Kizzu sah sich noch einmal gründlich um, damit sie auch niemand beobachtete, dann stieg er hinunter in die Grabkammer seiner Mutter. Paser musste Kizzus Mutter wirklich geliebt haben – jedenfalls hatte er für ihr Grab keine Kosten und Mühen gescheut: Die Wände des schmalen Gangs waren ausgemalt. Hinten gelangten sie in einen Raum, in dem ein großer Sarkophag stand. Kizzu entzündete eine Lampe und sah lange schweigend auf den Sarkophag. In die rechte Felswand waren drei Nischen gehauen, in denen drei Gefäße standen, die so groß wie Blumenvasen waren. »Und? Wo ist die magische Figur?«, fragte Henrik ungeduldig. Kizzu sah ihn mit großen Augen an. »Ich habe kei 155
ne Ahnung. Ti hat mir nur gesagt, dass ich euch hierherbringen muss. Ich sollte nur …« Aber Lenz hatte das Päckchen schon entdeckt. Es lag hinter der mittleren Blumenvase in der Nische. »Kennst du dieses Päckchen?«, fragte Lenz vor sichtshalber Kizzu. Denn er wollte nicht die Totenru he von Kizzus Mutter stören, indem er einfach ir gendetwas in ihrem Grab veränderte. Kizzu nickte. »Das sollte ich hierherbringen.« »Lass es bloß nicht fallen!«, sagte Fenne. Lenz reichte das Paket vorsichtshalber Fenne. Das Mädchen mit den roten Haaren riss den Papyrus ab. Darunter kam eine Schicht rohe Schafwolle zum Vorschein. Fenne zupfte die Wolle vorsichtig ausein ander – und da grinste sie ihnen plötzlich entgegen: die magische Figur! Sie war nicht größer als eine Banane, aus Ton gefertigt und zeigte einen König, der so aussah, als würde er jeden Augenblick vor Lachen losprusten. »Das muss Hattuschili sein«, sagte Fenne. »Der sieht ja nett aus«, sagte Silvester. »Was wohl passiert, wen wir diese Figur kitzeln? Muss dann der echte Hattuschili losprusten?« »Das probieren wir lieber nicht aus!« Fenne wi ckelte die Figur vorsichtig wieder in die Wolle und schlug auch den Papyrus wieder um das Päckchen. Sie verstaute es in ihrem Sack, den sie um die Schultern trug. »Und jetzt ab die Post, bevor uns doch noch je mand auf die Schliche kommt!«, sagte Henrik. Sie verließen das Grab von Kizzus Mutter. »Wo müsst ihr denn jetzt hin?«, fragte Kizzu, als sie 156
den Berg wieder hinunterstiegen. Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel. Staub, Dreck, Steine, so weit das Auge reichte – nur in der Mitte dieser Grünstreifen von wenigen Kilometern Breite. Ägyp ten war wirklich ein seltsames Land, fand Lenz. »Wir gehen jetzt nach Hause«, sagte Fenne. »Braucht ihr ein Boot?«, fragte Kizzu. »Soll ich euch begleiten?« Aber die Zeitenläufer schüttelten die Köpfe. Kizzu musste sie nicht begleiten. »Grüß nur deinen Vater von uns«, sagte Fenne. »Wir hoffen, dass nun alles gut geht und der Frieden zwischen den Hethitern und den Ägyptern lange hält.« Kizzu lächelte. »Das hoffe ich auch.« Sie erreichten den Fuß des Berges und Cornelia wurde unruhig. »Irgendwas stimmt nicht«, flüsterte sie Henrik zu. Aber der sah sich um und zuckte nur mit den Schultern. Sie verabschiedeten sich von Kizzu. »Wisst ihr, ob ich meinen Freund Ti je wiederse hen werde?«, fragte sie der junge Mann noch. »Wenn alles gut läuft, wird Ti bald nach Hause kommen«, sagte Fenne. »Wo ist er?«, fragte Kizzu. »Kann ich nicht sagen«, antwortete Fenne. »Aber wenn du ab und zu mal in der Nähe des Totentempels der Hatschepsut nachschaust, wirst du ihn nicht ver fehlen.« »Und wir haben euch auch nicht verfehlt!«, ertönte da eine Stimme. Ein Junge, den sie alle kannten, trat 157
hinter einem Gesteinsbrocken hervor. Plötzlich waren sie überall: Die Wächter! Acht Wächter des Amun tempels umringten sie und drängten sie immer weiter zurück, bis sie schließlich mit dem Rücken zur Fels wand standen. Silvester ballte die Fäuste. »Setau! Du elender Ver räter!« Setau zuckte mit den Schultern. »Ich diene Amun. Dem obersten aller Götter.« »Du dienst Wennefer, dem obersten Halunken von Theben!«, entgegnete Henrik giftig. »Zügle deine Zunge, junger Mann!«, polterte da der Anführer der Wachen los. Aber dann sagte eine Stimme ganz ruhig: »Aber nein, aber nein, sprich dich aus, Diener des Wesirs, der mit dem Feind paktiert, sprich dich aus.« Ein weiterer Mann trat hinter einem Felsbrocken hervor und trat zu ihnen. Er trug das Gewand eines Priesters und hatte eine Perücke auf dem Kopf. Aber trotz Perücke erkannte Lenz ihn sofort an seinen pech schwarzen Augen – Wennefer! Der Hohepriester des Amun ging auf Henrik zu, packte ihn am Kinn und fragte: »Was wolltest du mir sagen, Junge?« Henrik schwieg. »Nichts? Gut!« Wennefer ließ Henriks Kinn nicht los, als er hinzufügte: »Aber du musst mir geben, was mir gehört!« Er streckte die andere Hand aus. »Jetzt!« Plötzlich ging alles sehr schnell: Kizzu war es, der den Hohepriester plötzlich so kräftig vor die Brust stieß, dass dieser taumelte und rücklings gestolpert wäre, wenn ihn nicht drei seiner Wachen aufgefangen hätten. 158
Die Lücke, die die drei Wächter rissen, die mit dem Hohepriester beschäftigt waren, nutzten Fenne und Lenz sofort aus: Sie rannten los. »Lauft!«, hörten sie Silvester rufen. Auch Cornelia rannte hinter ihnen her, während Henrik, Silvester und Kizzu von den Wachen be drängt wurden. »Aber wir können sie nicht im Stich lassen!«, sagte Lenz. Fenne rannte weiter. »Wir müssen zum Zeitloch!« Sie sah sich noch einmal um. »Setau kommt! Schnel ler!« Als auch Lenz den muskulösen Jungen hinter ih nen herrennen sah, bekam er eine solche Angst, dass er plötzlich viel schneller sprintete, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Er sah sich noch einmal um: Kizzu hatte eine der Wachen in den Schwitzkasten genommen, Silvester fesselte dem Mann die Hände auf den Rücken, während Henrik sich aus dem Griff einer zweiten Wache befreien konnte und hinter Setau her auf den Terrassentempel zurannte. Lenz, Fenne und Cornelia sprinteten die erste Rampe hinauf. Setau holte auf. Fenne rannte in die Kapelle des Anubis und war plötzlich hinter den Säulen verschwunden. Ihr folgte Cornelia. Auch Lenz rannte in die Kapelle. Aber er ging nicht direkt zum Zeitloch, sondern blieb hinter der ersten Säule stehen und schöpfte Atem. Er wartete. Dann lugte er vor sichtig hinter der Säule hervor. Setau kam gerade auf die erste Terrasse gelaufen und sah sich um. Kurz entschlossen rannte er auf die Kapelle zu, als er plötz lich im vollen Lauf hinknallte. Henrik war direkt 159
hinter ihm und hatte ihm ein Bein gestellt. Setau rappelte sich wieder hoch, aber Henrik hatte ihn schon überholt. Kurz vor der Kapelle, in der das Zeitloch versteckt war, sah Henrik sich noch einmal um. Setau war ihm dicht auf den Fersen. Da bog Henrik plötzlich nach links ab und rannte die zweite Rampe hinauf. Setau folgte ihm. Was zum Kuckuck macht er da?, dachte Lenz. Aber wenig später kam Henrik die Rampe wieder runtergerannt und kam zu Lenz in die Kapelle. »Wo ist Silvester?« Henrik war völlig außer Atem. »Keine Ahnung«, flüsterte Lenz. »Was hast du mit Setau gemacht?« Henrik grinste. »Wir haben ein bisschen verstecken gespielt – er hat verloren.« Silvester kam nicht. Es kam niemand. »Kizzu ist rüber zum Dorf gelaufen und hat Mepo zur Verstärkung geholt«, keuchte Henrik. »Aber wo zum Kuckuck bleibt Silvester?« Endlich kam jemand die erste Rampe herauf. Lenz’ Knie wurden weich: Es war der Hohepriester Wennefer! Und er kam nicht allein: Mit sich zog er einen Jungen, den er an seinen schwarzen Haaren gepackt hielt. Silvester! Wennefer blieb auf der unteren Terrasse stehen und rief: »Ihr Rotzlöffel! Gebt mir, was mir gehört, und ich gebe euch euren Freund zurück!« Er wartete. Von der oberen Terrasse stieß auch Setau, der die Suche nach Henrik aufgegeben hatte, zum Hohe priester. »Mist!« Henrik ballte die Fäuste. 160
»Ich warte nicht ewig! Wenn ihr nicht sofort rauskommt und rausrückt, was mir gehört, dann werde ich euren Freund …« Wennefer zückte ein Messer. »Nein!«, entfuhr es Lenz. Er schlug sich sofort selbst mit der flachen Hand auf den Mund. Aber es war schon zu spät: Wennefer hatte ihn gehört und schritt, Silvester hinter sich herziehend, auf die Anubis-Kapelle zu. Lenz duckte sich und wünschte, er wäre längst im Zeitloch ver schwunden. Henrik trat hinter der Säule hervor. Wennefer deutete mit dem Kinn auf Henrik. »Schnapp ihn dir, Setau!« Das ließ sich Setau nicht zweimal sagen. Er lief zu Henrik, packte ihn und drehte ihm den Arm auf den Rücken. »Wo ist die Figur?«, fragte Wennefer drohend. Lenz machte sich fast in den Lendenschurz, als Henrik keine Antwort gab. Ein Gedanke schoss Lenz so schnell durch den Kopf, dass er später nicht mehr hätte sagen können, ob er zuerst gehandelt und dann gedacht hatte oder umgekehrt. Er kippte den Inhalt seines Tragesacks auf den Boden, zog seine Turn schuhe blitzschnell aus, steckte den linken in den Tragesack, wickelte ihn fest darin ein und trat vor die Säulen. »Die Figur ist hier!«, rief er. Setau und Wennefer ließen zeitgleich ihre bei den Gefangenen los und wollten sich auf Lenz stürzen. Als Lenz den Hohenpriester mit den pechschwar zen Augen und dem vor Zorn verzerrten Gesicht auf 161
sich zustürmen sah, bekam er solche Angst, dass er dem Mann das Päckchen zuwarf. »Fang!« Lenz wartete gar nicht ab, wie gut er geworfen hat te, und rannte zurück in die Kapelle. Er sah sich noch einmal um – auch Silvester und Henrik rannten auf die Kapelle zu, während Wennefer das Paket mit seinem Dolch in Stücke schlug. »Ab ins Zeitloch, Lenz!«, sagte Henrik. Die drei Jungs rannten hinter die Säule, vor der das Zeitloch schwebte. Hier warteten Fenne und Cornelia auf sie. »Ich dachte, ihr wärt längst weg!«, keuchte Lenz. Aber Fenne schüttelte den Kopf. »Erstens lassen wir unsere Freunde nicht hängen. Und zweitens müssen Silvester und Cornelia zuerst ins Loch, sonst kommt alles durcheinander.« Die fünf Zeitenläufer standen im Kreis und sahen sich an. Cornelia streckte als Erste die Hand in die Mitte. Darauf legte Henrik seine Hand, darauf Lenz, darauf Fenne und ganz oben legte Silvester seine Pranke ab. Sie schüttelten diesen Händeberg und sagten wie aus einem Munde ihren Gruß: »Bis gleich!« Dann kletterte Silvester ins Loch. Ihm folgte Cor nelia. »Cornelia!«, sagte Henrik. Das römische Mädchen sah noch einmal zurück und lächelte Henrik an. »Ja?« »Ach nichts …« Henrik wurde knallrot. »Gute Heimreise nach Rom! Grüß die Pyramiden von mir, wenn du an ihnen vorbeisegelst!« 162
Cornelia nickte: »Grüß du die Alte Wöhr von uns.« Und mit einem knallroten Kopf fügte sie hinzu: »Und komm bald mal wieder nach Rom!« Aber da zischte Fenne: »Schnell! Sie kommen!« Cornelia ließ den Zeitanker los und war ver schwunden. Lenz sprang ins Zeitloch, ihm folgten Henrik und Fenne.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XV Als Lenz und Henrik erzählten, dass der Hohepriester mit seiner geballten Wut an Stelle der magischen Figur nur einen Turnschuh von Lenz in Stücke gehauen hatte, lachte ich schallend. Ich glaube, Dr. Mo war ein bisschen enttäuscht, als Lenz, Henrik und Fenne aus dem Zeitloch auftauchten und ihm nichts mitgebracht hatten. Fenne bot ihm die Figur des Hattuschili an, aber da sie nicht durch die Zeit gereist, sondern durch das Zeitloch mitgekommen war, war diese Figur nicht älter als eine drei Wochen alte Tonfigur des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und als solche war sie für Dr. Mo wertlos. Auch die Stelle, an der er Gräber vermutet hatte, war eine Niete. Die traurige Wahrheit, die Lenz ihm berichten konnte, war, dass es an der Stelle ein Dorf gegeben hatte, in dem seinerzeit ein netter Bäcker gewohnt hatte. Aber von diesem Dorf hatten der Zahn der Zeit und die Kriege an den Ufern des Nils nichts mehr übrig gelassen. Und dass Lenz auch noch einen Turn schuh »verloren« hatte, passte Dr. Mo ganz und gar nicht. Statt viel Geld mit antiken Gegenständen zu verdienen, musste er so auf dem Markt von Luxor seinem Neffen ein Paar neue Turnschuhe kaufen. Ich war heilfroh, als ich die drei Zeitenläufer einen Tag später aus dem Zeitloch in meinen Keller klettern sah. Sie brachten mir die Statuette, die ich, wie Paser es gewünscht hatte, zerstörte. Ti war inzwischen genesen und bedankte sich überschwänglich bei Fenne, Lenz und Henrik. Die drei dagegen wollten von ihm vor
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allem wissen, warum er nicht einfach ins Zeitloch im HatschepsutTempel gestiegen war, die Figur zerstört hatte und wieder in seine Zeit gereist war. Darauf hatte Ti eine verblüffend simple Antwort: Wennefer hatte den Terrassentempel mit Wachen umstellt, die ihm auflauerten. Offensichtlich wusste der Hohepriester, dass es im Tempel der Hatschepsut nicht mit rechten Dingen zuging. Aber was genau es damit auf sich hatte, wusste er glücklicherweise nicht. Ich glaube, Lenz hätte sich gern noch länger mit Ti über vieles unterhal ten, aber die beiden Jungs mussten zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert, und Ti hatte noch den weiten Weg nach Ägypten vor sich. Als sich die drei Jungs verabschiedet hatten, äußerte Fenne noch einen Wunsch. Und den konnte ich ihr beim besten Willen nicht abschlagen.
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16. Kapitel
Fenne! Geht es etwa schon wieder los?«
»Du scheinst dich ja nicht gerade zu freuen, dass ich da bin.« Lenz spürte, wie er knallrot im Gesicht wurde. »Doch!«, sagte er mit leiser Stimme. Wo kam dieser Kloß im Hals nur immer her, wenn Fenne sein Zim mer betrat? Warum hatte er das Gefühl, dass er sich immer total blöd benahm, sobald er und das Mädchen mit den himmelblauen Augen endlich mal alleine waren? »Es ist super, dass du da bist!« Es war Dienstagnachmittag und Lenz saß über sei nen Mathehausaufgaben. »Was machst du?« Fenne kam zu ihm herüber. Erst jetzt fiel Lenz auf, dass Fenne gar nicht ihre normale mittelalterliche Tracht trug, sondern die Shorts und das T-Shirt, die Lenz und Henrik ihr besorgt hatten. Auch die uralten Turnschuhe von Lenz hatte sie wieder an den Füßen. Ihre roten Haare leuchteten im Sommerlicht, das durch die kleinen Fenster in Lenz’ Zimmer fiel. 166
»Mathe. Wir berechnen Pyramiden!« Fenne lachte. »Na, da kommt Henrik ja doch noch zu seinen geliebten Pyramiden!« Lenz sah Fenne in die himmelblauen Augen. Er hatte schon wieder das Gefühl, dass er sich darin völlig verlieren könnte. Er wusste nicht mehr, welche Jahreszeit war, wo er war und wer er war, wenn er in diese Augen sah – nur dass es gut war, das wusste er. »Jetzt aber raus mit der Sprache«, sagte Lenz. »Warum hat dich die Alte Wöhr geschickt?« Fenne schüttelte den Kopf. »Sie hat mich nicht geschickt. Ich habe sie gebeten, mir ein paar Tage freizugeben. Ich kann bis Donnerstag hierblei ben.« Lenz klappte den Mund auf und bekam keinen Ton heraus. »Falls Dr. Mo nichts dagegenhat und du einver standen bist«, sagte Fenne etwas unsicher. Lenz sprang von seinem Schreibtischstuhl auf. »Das ist super! Meine Eltern kommen erst am Freitag wieder nach Hause!« »Ich weiß!« Fenne grinste. »Aber wir haben einen Auftrag.« Lenz legte den Kopf schief. »Die Alte Wöhr hat doch immer noch was in der Hinterhand!« Fenne zwinkerte Lenz zu. »Sie hat gesagt, dass ich etwas probieren soll. Sie hat es selbst auf ihren Zeit reisen probiert und ist fast verrückt geworden, so gut war es.« Lenz hatte keine Ahnung, wovon Fenne redete. »Sie nannte es Eis.« Fenne legte ihre Stirn in Sor 167
genfalten. »Meinst du, das können wir mal kosten? Muss ja nicht gleich heute sein.« Lenz lachte schallend. »Komm mit, raus auf den Rudolfplatz! Das erledigen wir sofort!« Sie rannten an Dr. Mo vorbei die Treppe runter, der nur kurz murmelte: »Ach Fenne! Wo ich dich gerade sehe, hätte ich eine Frage zur Entstehung der Stadtmauer …« Aber Lenz rief nur: »Später, Dr. Mo, später!«
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Nachwort … schlossen Ramses II, Pharao von Ägypten, und Hattuschili, König der Hethiter, im Jahr 1259 vor Christus den ersten Friedensvertrag in der Geschich te der Menschheit. Dieser Friedensvertrag beendete einen mehrere Jahrzehnte dauernden Konflikt, der immer wieder zu Kriegen zwischen Ägyptern und Hethitern geführt hatte. Sechzehn Jahre zuvor hätte wohl niemand gedacht, dass es jemals zu einem solchen Friedensschluss kommen könnte. Denn im Jahr 1275 vor Christus siegten die Hethiter, unter der Führung ihres damali gen Königs Muwattalli, in der Schlacht von Kadesch (das ist eine Stadt in Syrien) über die Ägypter. Die Hethiter hätten damals die Möglichkeit gehabt, die ägyptische Armee komplett zu vernichten, aber sie gewährten Ramses II und seiner Armee den Rückzug nach Ägypten. Als Ramses wieder in Ägypten war, gab er die Niederlage allerdings als einen Sieg aus. Die Hethiter und die Ägypter waren in jener Zeit zwei Großmächte, die um die Vorherrschaft in einem Teil des heutigen Syriens bzw. Libanons stritten. Die Gründe für diesen Konflikt waren: Rohstoffe und Handelswege. Für die Ägypter waren Bäume und Baumharze besonders wertvoll. Sie benötigten das Holz der Zedern als Baustoff. Zedern wuchsen (und wachsen) im Libanon, aber nicht in Ägypten. Auch
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Baumharze mussten die Ägypter von dort in ihr Land einführen. Diese brauchten sie für die Mumifizierun gen. Aber es war nicht nur ein Krieg um Bäume. Die Ostküste des Mittelmeers war zu dieser Zeit ein Kno tenpunkt des Handels. Aus dem Westen kam z.B. der Zinn von der Insel Zypern, aus dem Osten kamen Waren aus Assyrien und Babylonien, und der Edel stein Lapislazuli wurde vermutlich aus Afghanistan eingeführt. Lapislazuli war ein bei den ägyptischen Pharaonen sehr begehrter Schmuckstein. Es ist daher kein Wunder, dass die Hethiter aus dem Norden, aus Anatolien (heute Türkei), und die Ägypter aus dem Süden in diese reiche Gegend drängten und immer wieder Krieg führten. Dass es auch anders geht und man die Reichtümer der Regi on auch teilen und sich sogar gegen äußere Feinde beistehen kann, haben erst die Könige Hattuschili (Muwattallis Nachfolger) und Ramses II mit ihrem Friedensvertrag bewiesen. Er bescherte beiden Völ kern eine lange Friedensperiode und eine regelrechte Aussöhnung: Ramses schickte Hattuschili seine Ärzte, als dieser krank war. Selbst der Wesir Paser stand mit dem Hof der Hethiter in Briefkontakt. Und Ramses, der mehrere Frauen gleichzeitig hatte, heiratete im Jahr 1246 vor Christus sogar die älteste Tochter des hethitischen Königs Hattuschili.
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