K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
E. v. B E O C Z Y
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
E. v. B E O C Z Y
DER NIL E N T D E C K U N G , G E S C H I C H T E UND PROBLEME DES HEILIGEN STROMES
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN . INNSBRUCK . BASEL
Biblisches Land Breit und majestätisch gleitet der Strom durch die ägyptische Landschaft. An seinen Ufern recken Palmen vereinzelt oder in bescheidenen Beständen ihre schlanken Stämme in den ungetrübten, stahlblauen Himmel. Würfelförmige Häuser mit flachen Dächern, avis getrocknetem Schlamm errichtet und weiß getüncht, bilden in kleineren oder größeren Gruppen die Siedlungen und Dörfer, zwischen denen sich fruchtbare Äcker ausbreiten, bepflanzt mit Baumwolle, Mais, Zuckerrohr und Getreide. Dämme, Kanäle und künstliche Rinnsale jeder Größe, die in einer Gesamtlänge von mehr als 20 000 Kilometern kreuz und quer das Land durchziehen, trennen oder verbinden die einzelnen Gehöfte und Felder. Da und dort steht auf einem Hügel eine kleine weiße Moschee mit zierlichem Minarett oder das kalkweiße, etwas baufällige Grab eines Heiligen oder Scheichs. Schwerfällige Boote ziehen ihre Bahn, und ihre charakteristischen hohen, dreieckigen Segel stehen scharfgezeichnet gegen den Himmel. Am Ufer knarren die hölzernen Schöpfräder und heben das lebenspendende Wasser des Flusses auf die dürstenden Felder; denn unbarmherzig und unaufhaltsam brennt die gleißende Sonne herab. Kaffeebraune Fellachenfrauen in langen, blauen Gewändern tragen in stolzer Haltung irdene Wassergefäße auf dem Haupt, in den Kanälen baden neben ihren Hirten dunkle Rinder. Esel und Kamele bringen die Erntefrucht in die Dörfer. In langer Kette brechen die Bauern, die Fellachen, mit Hacken den Acker auf; Traktoren wären zu schwer für den verkrusteten Schlammboden. Hinüber gleitet der Blick zum nahen Horizont, wo auf den beiden Talseiten im flimmernden Glast die rötlich-gelben Hänge der östlichen und westlichen Wüste bald in schwachen Wellenlinien, bald in schroffen Felspartien einen scharfen Kontrast bilden zu dem saftig-grünen Fruchtland der Flußebene. Hier, schon im Saum der Wüste, liegen sandüberweht die Friedhöfe; die Talfläche, wo jedes Fleckchen bebaut ist, hat nicht Raum für die Toten. Dort oben, am abfallenden Rand der Westwüste, überraschen geometrisch-gradlinige Dreiecke den Blick, die Pyramiden, die aus einer mehr als viereinhalbtausendjährigen Vergangenheit würdevoll herabsehen auf die lebensvolle Flußniederung, auf die fleißigen Menschen und auf den Strom, der seit jeher das Schicksal des ganzen Landes ist. Farbiger Orient ist es, der uns umgibt, und zugleich ein Bild, das oft an biblische Szenen erinnert. Wie kaum eine andere Land2
schaft in der Welt läßt die Nil-Landschaft den Blick rückwärts gleiten in die Vergangenheit. Ein anderes Zeitmaß scheint hier zu herrschen. Ob heute oder gestern, ob vor ungezählten Generationen oder in ferner Zukunft, immer war und ist der Nil dem Menschen der Spender alles Lebens, zugleich aber auch ein Rätsel, dessen Lösung nur immer neue Rätsel aufgibt. Ständig schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, daß der Strom auch weiterhin 6eine Wasser dem dürstenden Boden zugute kommen lasse, ohne mit allzuhohen Fluten die Dämme und Wassereinfassungen zu zerstören, hat der Bewohner des schmalen Flußtales immer wieder versucht, in die Geheimnisse des Flusses einzudringen und den Nil seinen Wünschen dienstbar zu machen.
Strom der Lebenden und der Toten Vor vielen Jahrtausenden schon hat das fruchtbare Niltal die Menschen angezogen. Als die einst belebte Sahara austrocknete und zur Wüste wurde, flüchteten die Nomaden in die langgestreckte Oase des Stromes. Auch aus Inncrafrika drangen Völker vor. Aus sehr früher Zeit sind Funde zutage getreten, die beweisen, daß das enge Oasental bereits vor zehn- bis zwanzigtausend Jahren dem Menschen Heimat war. Mit Staunen sah er hier das regelmäßige Steigen und Fallen des Wasserspiegels wie Ebbe und Flut. Das steigende Wasser brachte große Mengen von fruchtbarem Schlamm mit sich, der die Felder befruchtete und Jahr für Jahr vorzügliche Ernten eintrug. Zugleich aber verdeckte der Schlamm alle Grenzzeichen, und es ergab sich die Notwendigkeit, die Grenzen jährlich neu zu vermessen und abzustecken. Wohl oder übel mußten sich die Menschen mit den mathematischen Grundlagen einer solchen Vermessung beschäftigen, mußten eine primitive Geometrie schaffen, ein Zahlensystem entwickeln und zur Aufzeichnung der Ergebnisse eine Schrift erfinden. Aus diesen Notwendigkeiten entstand eine der frühesten Kulturen der Menschheit, die Lebensform der Alten Ägypter, deren Anfänge bis auf etwa 3200 Jahre v. Chr. zurückreichen. Die Bewohner des Niltales wußten sich noch nicht zu erklären, weshalb der Fluß einmal mehr und ein anderes Mal wieder weniger Wasser führte und wo der fruchtbare Schlamm eigentlich herkomme. Was lag näher, als den rätselhaften Strom als heiligen Fluß zu betrachten, als etwas Göttliches, von dem man durch
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Opferungen die alljährliche Überschwemmung erzwingen konnte. Blieb die Flut hinter den Erwartungen zurück und war eine Hungersnot die Folge, so besänftigte man den erzürnten Gott in den frühesten Zeiten durch Menschenopfer. Trotz dieser religiösem Befangenheit machten sich Nachdenkliche schon früh über die tatsächliche Herkunft des "Wassers Gedanken. Mit primitiven, aus Schilfbündeln zusammengesetzten Booten fuhren sie dorthin, woher die Fluten kamen, immer flußaufwärts das fruchtbare Tal entlang, auf beiden Seiten ständig begleitet von den sandigen und felsigen Abhängen der beiden Wüsten. Monate konnten sie so fahren, ohne an eine Quelle zu gelangen. Etwa tausend Kilometer südlich der Mündung stießen die Fahrzeuge erstmals auf ein ernstliches Hindernis..* Eine eisenharte Felsbarriere, eingebettet in den sonst vorherrschenden weichen Kalkstein, lag hier quer zur Strömung. Die Kraft des Wassers hatte in vieltausendjähriger Arbeit dieses Hindernis nur zum Teil beseitigen können. Bestand es doch aus dem härtesten Granit der Welt. Riesige Steinmassen lagen mitten im Strom und verengten das Flußbett, so daß die Wassermassen hochgestaut wurden und «ich in reißenden Strudeln durch die zahllosen Inseln und Felsen hindurchwinden mußten. Hier fand die Schiffahrt ihr vorläufiges Ende, und nur bis zu diesen Stromschnellen, dem ersten Katarakt, wie wir ihn heute nennen, kannten die ältesten Ägypter ihren „Heiligen F l u ß " . Man glaubte, daß das Wasser hier, beim ersten Katarakt, aus zwei großen Quellöchern strudelnd dem Erdboden entströme und daß dieser Quellstrom ein zweiter Nil sei, der „Strom der Toten", der dem oberirdischen Nil, dem „Strom der Lebenden", entgegengesetzt durch die Unterwelt flute. Ober diesem Unterweltsstrom scheine die Sonne bei Nacht, wenn sie im Westen versunken sei und den oberirdischen Nil im Dunklen lasse. Deshalb gab man auch den verstorbenen Pharaonen der frühen ägyptischen Epoche nicht « i n Boot, sondern zwei mit ins Grab, in denen sie bei Tage den sichtbaren Nil und bei Nacht den unterirdischen Strom in umgekehrter Richtung befahren konnten. Schon früh wurde wegen der Enge des Tals und der Unwegsamkeit der Wüste der Nil der große Verkehrsweg zwischen dem Süden und Norden des Landes. Auf dem Rücken des Stromes wurden vor viereinhalbtausend Jahren die Granitblöcke, welche die ersten Pharaonen für ihre Grabkammern und Sarkophage aus * Der Leser vergleiche zu den Schilderungen dieses Heftes die Nilkarten Seite 16 und 17.
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Träger mit Bäumen, die mit ihren Wurzelballen in das baumarme Ägypten eingelührt wurden (Relief aus einem Totentempe] von Theben, um 1490 v. Chr.)
den Felsen beim ersten Katarakt brechen ließen, in wochenlanger Fahrt zu den Grabbauten bei der Hauptstadt Memphis, südlich des heutigen Kairo, geschafft, ü b e r den Strom wurden auch die Millionen Kalksteinblöcke, die für die Errichtung der P y ramiden bestimmt waren und aus den Steinbrüchen von Tura und Masara stammten, während der Flutzeit mit Flößen auf das linke Nilufer transportiert. Auf die Dauer jedoch konnte die Schiffahrtsstraße bis zum ersten Katarakt den unternehmungsfrohen Ägyptern nicht genügen. Kaufleute, die über den Katarakt weiter nach Süden vorgedrungen waren, berichteten von begehrenswerten Schätzen, die es dort in Menge gebe, vor allem Holz, an dem das ägyptische Niltal ganz arm war; viele Rinder fänden sich dort und kräftige Menschen, die als Sklaven dienen könnten. Auch herrlicher Baustein sei dort in Menge zu gewinnen, und man sprach auch von Gold und Erz.
Die große Frage Aber erst mußte der Weg für die Schiffahrt geöffnet werden. Und so ließ gegen Ende des sogenannten Alten Reiches der Pharao Phiops I. durch seinen südländischen Gaufürsten Una fünf Kanäle durch die Granitbarre des ersten Kataraktes anlegen; Una berichtet hierüber ausführlich in seiner Grabinschrift. Nun konnten die Schiffe bei Hochwasser nach Nubien hineinfahren, 5
um dort gewinnbringenden Handel zu treiben. Auf diese Weise wurden weitere vierhundert Kilometer des gewaltigen Stromes bekannt und für die Schiffahrt erschlossen, bis eine neue Granitbarre, der zweite Katarakt, dem Vordringen abermals ein Hindernis bot. Lange blieb dieser neu erschlossene Verkehrsweg jedoch nicht bestehen. In der Zeit zwischen dem Alten und Mittleren Ägyptischen Reich, als in inneren Wirren viele der bisher geschaffenen Denkmäler und Bauten geplündert und zerstört wurden, verfiel auch der Kanal durch den ersten Katarakt. Erst König Sesostris III. stellte ihn in der Blütezeit des Mittleren Reiches wieder her und errichtete am zweiten Katarakt die mächtige Festung Semne, deren Reste erhalten sind. Gegen Ende dieser Epoche gelang es dem Pharao Sebekhotep, die Grenze der Schifffahrt und damit die Kenntnis des Heiligen Stromes bis zum dritten Katarakt, etwa dreihundert Kilometer oberhalb von Semne, vorzuschieben. Sebekhotep errichtete dort seine Statue, die noch heute ihren Blick erwartungsvoll nach Süden richtet. Weitere fünfhundert Kilometer stromauf kam dann um das Jahr 1500 v. Chr. einer der ersten Könige der berühmten 18. Dynastie, Thutmosis L, der Ägyptens Südgrenze bis zu der siebzig Kilometer langen Stromschnelle, dem vierten Katarakt, vorverlegte. Für die nächsten 800 Jahre blieb dieses besonders schwer zu überwindende Hindernis der südliche Grenzpunkt Ägyptens. Und weiter reichten damals auch die Kenntnisse über den Nil nicht. Immer noch glaubten die Ägypter, daß der Nil keine Quelle besitze, sondern in voller Breite irgendwo aus der Erde komme. Der religiöse Schwärmer auf dem Thron der Pharaonen, Echnaton, dichtet in seinem berühmten Lobpreis an Aton, die göttliche Sonne: „Du schufest den Nil in der Unterwelt, Du führst ihn herauf nach Deinem Belieben, er entquillt der Unterwelt für Ägypten." Um das Jahr 600 v. Chr. wagte Pharao Necho zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit zwei Forschungsexpeditionen, die nicht militärischen oder kaufmännischen Zwecken dienten. Eine Expedition entsandte er, wie überliefert ist, durch das Rote Meer in südliche Breiten. Drei Jahre später sollen die Schiffe nach der Umrundung Afrikas wohlbehalten durch die Straße von Gibraltar wieder nach Ägypten zurückgekehrt sein. Die zweite Reise führte auf dem Nil und dann vermutlich über Land weit in das Herz des Erdteils. Und die Männer erzählten nach ihrer Rückkehr, es gebe im Süden Länder, in denen die Sonne nicht
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über den südlichen Himmel ziehe, sondern über den nördlichen. Urwälder seien da, wo der Nil herkomme, Riesen und Zwerge, sowie gewaltige Berge, die auf ihren Gipfeln weiß seien, wie das Mondlicht, und die sie Mondgebirge nannten. Aber die Berichte klangen den Ägyptern so unglaubhaft, daß man sie durchweg in das Reich der Fabel verwies. Und doch sind für uns die geschilderten Einzelheiten, die den Ägyptern so unwahrscheinlich erschienen, ein Hinweis darauf, daß jene Forschungsreisenden tatsächlich im Quellgebiet des Nils gewesen sein können. Denn „Riesen", über zwei Meter große Eingeborene, die Watussi, leben noch heute an einem der Nilquellseen, dem Viktoria-Seie, zwergenhafte Menschen, die Pygmäen, bewohnen heute wie damals die Urwälder zu Füßen der schneebedeckten und vergletscherten Berggiganten des Ruwenzorigebirges, wo einer der Quellflüsse des Nils seinen Lauf beginnt. Und auf der südlichen Erdhalbkugel zieht die Sonne naturgemäß ihre Bahn über den nördlichen Himmel. Die Überlieferung ist zu dürftig, um die Angaben der Reisenden nachzuprüfen. Jedenfalls hat ihnen niemand geglaubt, und so blieben die Nilquellen nach wie vor das große, beunruhigende Rätsel. Als dann etwa zur Zeit Cäsars Ägypten unter römische Herrschaft kam und das Land zur Kornkammer Roms wurde, lebte das Interesse an der Herkunft des riesigen Stromes wieder auf. Kaiser Nero sandte eine große Flotte nilaufwärts. Trotz der Schwierigkeiten an den Katarakten drang sie bis weit nach Süden vor, vorbei an dem heutigen Khartum, wo der Blaue Nil aus den Bergen Abessiniens in den Weißen Nil mündet. Dort aber, wo der Weiße Nil seinen einzigen großen Nebenfluß von W e sten her erhält, den Bahr el Ghasal, den Gazellenfluß, trafen die Schiffe auf undurchdringliche Massen von Schilf und P a pyrus. Die Glasmassen erfüllten die ganze Breite des Niltales, bildeten kilometerlange Sperren, waren viele Meter dick, und das Wasser strömte unter diesen schwimmenden Inseln hindurch. Neros Flotte hatte das Gebiet des Sudd erreicht, ein Sumpfgelände, das Hunderte von Kilometern breit und lang ist und vielen Durchquerungsversuchen, auch noch in späterer Zeit, einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzte. Neros Schiffe mußten u n verrichteterdinge umkehren. Die Nilquellen blieben weiter im Dunklen, und die Römer hatten ein Sprichwort zur Kennzeichnung von etwas Unmöglichem: „Caput Nili quaerere", ..die Quelle des Nils suchen!" Auch die berühmtesten Geographen des Altertums konnten über
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die Herkunft des Nils nur Vermutungen äußern. Der einzige, der verhältnismäßig richtige Aufzeichnungen hinterließ, war Claudius Ptolemäus, der etwa in der Zeit von 125 bis 150 n. Chr. in Alexandria lebte. Er zeigt auf einer Karte seines Werkes ,,Geographia" die Nilsümpfe, zwei Quellen und das „Mondgebirge", alles in fast zutreffender Lage zueinander. Auch läßt er den zweiten Hauptarm des Nils, den Blauen Nil, richtig aus dem Tana-See vom Hochland von Abessinien kommen. Seine Karte ist volle 17 Jahrhunderte lang, bis etwa zum Jahre 1860, das einzig brauchbare Kartenbild dieses Teiles Afrikas geblieben.
Die Nilquelle wird gefunden Als Ägypten nach dem Ende der römischen Herrschaft unter das Szepter der Byzantiner und im Mittelalter in die Gewalt der islamischen Kalifen und zuletzt unter türkische Oberhoheit kam, gab es kaum jemand, der sich für die Herkunft des Nils interessiert hätte. Arabische Sklavenjäger bereisten zwar regelmäßig den Strom bis fast zu seinen Quellen, doch hüteten sie sich, ihre geographischen Kenntnisse und ihre Wege bekannt zu geben, da sie niemandem Einblick in ihr dunkles Gewerbe gewähren wollten. Doch gelang es portugiesischen Beisenden, die Quelle des Blauen Nils im Tana-See zu entdecken. Die Quelle des Haupistroms, des Weißen Nils, aber blieb weiterhin unbekannt, bis Napoleon Bonaparte erneut nach ihr suchen ließ. Der Feldzug des Korsen nach Ägypten gegen Ende des 18. J a h r hunderts hatte militärisch zwar erfolglos geendet, offenbarte dem Abendland aber den ungeheuren Reichtum des Nillandes an Kulturdenkmälern aus ältester Zeit. Durch die Forscher, die Bonaparte begleiteten, trat Ägypten wieder stärker in den Gesichtskreis Europas, und aufs neue erörterte man die Frage nach der westlichen Nilquelle. Eine „Gesellschaft zur Erforschung der innerafrikanischen L ä n d e r " wurde ins Leben gerufen. Wieder drangen von Ägypten aus Expeditionen nach Südein vor. Es mußte doch möglich sein, mit den moderneren Schiffen der Zeit bis in das Quellgebiet zu gelangen. Aber auch jetzt ist, wie schon früher, die Sumpfwildnis des Sudd nicht zu besiegen. Die schmalen befahrbaren Rinnen führen meist in die Irre. Keinen Lufthauch läßt das drei bis vier Meter hohe Schilf hindurch. Milliarden von Fliegen und Mücken belästigen in der schwülen Treibhausatmosphäre die Menschen und die Tiere und übertra-
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Bauerndorf im Niltal. Die Mauern sind aus Schlammziegeln gebaut
gen Malaria und andere Krankheiten. Die dickhäutigen Krokodile und Nilpferde sind fast die einzigen Großtiere der verseuchten Gegend. Für die Schiffahrt gibt es noch ein weiteres Hindernis. Wenn der Wind günstig von Norden nach Süden weht, führt der Fluß Niedrigwasser, und die Fahrzeuge laufen Gefahr, auf den zahlreichen Sandbänken zu stranden. Steht einige Monate später das Wasser so hoch, daß ein Auflaufen kaum noch zu befürchten ist, dann pflegt der Wind von Süden nach Norden zu wehen, entgegen der Fahrtrichtung. Zu einer Zeit, als es noch keine Dampfschiffe gab und alles vom Winde abhing, war das gleichbedeutend mit einem völligen Scheitern der Expedition. Man konnte von Glück sagen, wenn die Schiffe überhaupt wieder aus dem Sumpfland herauskamen. So blieben die ersten Forschungsversuche der neueren Zeit an derselben Stelle stecken wie einst die Flotte des Kaisers Nero. Vom Jahre 1839 an setzte die Suche in verstärktem Maße ein. Eine ägyptische Expedition, die der Statthalter Mohammed Ali aussandte, konnte endlich die Sumpfgebiete in mühsamster Arbeit überwinden. Zwei Jahre später drang eine gemischte deutschfranzösische Expedition auf den gebahnten Wegen weiter vor und erreichte die Gegend des heutigen Gondokoro (s. Karte). 9
Zwanzig Jahre später brach eine Expedition von Khartura aus zur Erkundung der Nilquellen auf. Eine Frau leitete das Unternehmen. Frau van Capellan und ihre Tochter Tinne hatten sich mit allem Luxus der europäischen Kultur umgeben und führten auf ihrem Schiff Diener tind Zofen und alle erdenklichen Bequemlichkeiten mit sich. Die Eingeborenen zeigten sich feindlich gesinnt, weil sie in jedem Eindringling einen Sklavenjägcr vermuten mußten; die Sklaven Jäger bedrohten die Weißen, da sie in ihr Jagdgebiet eindrangen. Trotzdem gelang der mutigen Holländerin die Reise durch den Sudd bis Gondokoro. Weiter aber kam auch sie nicht, da der Nil von hier ab durch hohe Berge eingeengt ist. Frau van Capellan und ihre Tochter bereisten deshalb in Begleitung der Deutschen Heuglin und Steudner das Stromgebiet des Bahr el Ghasal, des einzigen linken Nebenflusses des Weißen Nils. Auch dort geriet man in unermeßliche Flächen von Sumpf und Schlamm. Frau van Capellan und Steudner erlagen dem äußerst ungesunden Klima. Ihre Tochter Tinne kehrte ins Mittelmeer zurück und begann sofort eine neue Reise, die sie von Tripolis aus durch die Sahara über den Tschad-See zu den Nilquellen führen sollte. Der abenteuerliche Plan scheiterte daran, daß die Expeditionsführerin sich auch jetzt wieder mit allem Komfort umgeben hatte, der den räuberischen Tuareggs Anreiz genug war, die Karawane auszuplündern und die mutige junge Forscherin zu töten. Allzu tollkühn schien es, die Nilquellen von Norden her erreichen zu wollen. Und so versuchte es der Engländer Speke von Osten her. Von Bagamojo aus, einem Ort dicht bei Daressalam gegenüber der Insel Sansibar an der Küste des Indischen Ozeans. nahm er seinen Weg in nordwestlicher Richtung. Nach einem Marsch von tausend Kilometern stand er am 3. August 1860 als erster Weißer an den Ufern eines Sees, der fast so groß ist wie Bayern. Er nannte ihn Viktoria-See und zog an seinen vielfach ausgebuchteten Ufern entlang. Etwa in der Mitte des westlichen Gestades fand er die Mündung eines Zuflusses, des Kagera. Mit Recht vermutete Speke, daß er hier einen der Quellflüsse des Weißen Nils vor sich habe. Hoffnungsvoll zog er längs des Sees nach Norden und hatte das Glück, auch den Hauptabfluß aus dem Viktoria-See zu entdecken. Und wieder hatte er recht, als er glaubte, einen weiteren Teil des Nillaufs gefunden zu haben. Aber Speke war nach den drei Reisejahren zu erschöpft, um den vielfachen Windungen, Stromschnellen und Sumpfseen des Flusses folgen zu können. Er hörte zwar von den Einwohnern, daß 10
es noch einen zweiten Quellsee des Nils gebe, aber er verzichtete auf weitere Erkundungen und schlug sich über Land bis nach Gondokoro durch, das bereits mehrfach von Norden her erreicht worden war. In Gondokoro traf Spekc überraschend einen englischen Landsmann, den Forschungsreisenden Baker, der mit drei Schiffen, von Khartum kommend, unterwegs war, um ebenfalls dem Geheimnis des Nils auf die Spur zu kommen. Mit aller Zähigkeit hatte er sein Unternehmen vorbereitet und war gerade dabei, von Gondokoro nach Süden aufzubrechen. Wie niederschmetternd mußte für ihn Spekes Mitteilung sein, daß gerade jetzt der Oberlauf des Stromes entdeckt worden sei! Spekc gab in selbstlosester Weise alles Wissen, das er sich auf seiner jahrelangen Reise über die Gegend des Viktoria-Sees verschafft hatte, an seinen Landsmann weiter, berichtete von dem noch unentdeekten zweiten See und gab ihm eine genaue Beschreibung des Weges dorthin. Und während Speke nach Norden fuhr, um in Khartum sein berühmtes Telegramm aufzugeben: „The Nile is setlled" — ,Der Nil ist entschleiert 1 —, zog Baker nach Süden. In Begleitung seiner Gattin fand er den zweiten der beiden großen Quellseen, den Albert-See. Wegen seiner Verdienste um die Erforschung des Nils wurde Baker zum Pascha ernannt; er war von 1870 an unermüdlich gegen den Sklavenhandel tätig. Viele Unklarheiten über den Oberlauf und Ursprung des Nils waren durch die Reisen Spekes und Bakers beseitigt. Die alten Karten des Ptolemäus hatten sich bisher insgesamt als richtig erwiesen, wenn sie Sumpfgebiete und zwei Quellsecn verzeichneten. Wo aber blieb das Mondgebirge, das man ebenfalls auf der ptoIcmäischen Afrikakarte eingetragen fand? War vielleicht diese Angabe des ägyptischen Geographen reine Erfindung? Oder gab es dieses Gebirge tatsächlich? Noch war niemand den Kagcra aufwärts gefahren, und auch der Zufluß zum Albert-See war noch unbekannt. Indes hatte ein Italiener, Romolo Gessi, auf einer Reise zum Viktoria-See im J a h r e 1876 von Eingeborenen erfahren, es gebe tatsächlich große Gebirge dort unten, und aus einem von ihnen komme der Kagera hervor. Aber erst dem großen Forschungsreisenden Stanley blieb es vorbehalten, das Bergmassiv als erster Europäer zu entdecken. Henry Morton Stanley hatte in den Jahren 1871 bis 1872 den verschollenen englischen Missionar Livingstone* am Tanganjikasee aufgefunden und bereiste seitdem die Landstriche nördlich " V g l . Lux-Leselt'Ogeil
266. , . L i v i n g s t o n e . d e r MensellenFreunil' - .
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dieses langgestreckten Gewässers. Er entdeckte 1874 den EdwardSee und stellte fest, daß der See sein Wasser über den Semlikifluß an den Albert-See abgibt, durch dessen Nordende der Nil ein- und sofort wieder austritt. So war auch der zweite Quellfluß des Weißen Nils aufgefunden. Von wo aber erhielten der Edward-See und von wo der andere Quellfluß, der Kagera, ihre Wasser? Als Stanley im Jahre 1888 bei einer zweiten Suchaktion den gefährdeten Gouverneur der englisch-ägyptischen Äquatorialprovinz des Sudan, Emin Pascha, am Albert-See getroffen hatte, reiste er erneut in die Nilquellgebiete. Dort, von wo der Kagera herkommen mußte, erblickte er hoch über dem Horizont wolkenähnliche Gebilde, die sich tagelang unverändert erhielten. Erst nach der Durchquerung des verfilzten Urwaldes erkannte er, daß er die Gipfel eines Berglandes vor sich hatte, das noch völlig unbekannt war. Kaum schickte er sich zur Erforschung d e r Berge an, als ihn die Botschaft erreichte, daß ein Teil seiner Expedition, die er am mittleren Kongo zurückgelassen hatte, von Eingeborenen bedrängt werde. In Eilmärschen mußte er zurückkehren, und wieder blieben die gesichteten Berge unerforscht. Zwanzig Jahre vergingen, bevor das Quellgebiet wieder von einem Weißen betreten wurde. Der Wiener Afrikaforscher Oskar Baumann entdeckte, daß der Kagera einen großen Nebenfluß hatte, den Ruwuwu, und Baumann folgte seinem Lauf stromaufwärts. In großem Bogen nach Süden ausholend, entspringt der Ruwuwu, der von den Eingeborenen Bukarara genannt wird, am Südhang eines etwa 2000 Meter hohen Berges. Baumann fragte nach dem Namen; seine ortskundigen Führer nannten ihm mehrere Namen: Missosi ya Mwesi, Dschebel el Komr und Dschebel el Amar. W a r das vielleicht einer der Berge, die vermutlich die alten Ägypter schon gesehen hatten? Doch etwas stimmte nicht; denn die Ägypter sollen die Berge wegen ihres weißen Glanzes „Mondberge" genannt haben, also wahrscheinlich wegen des Schnees, der ihre Gipfel bedeckte. Hier aber gab es keinen Schnee. Vielleicht hatten die Leute des Pharao Necho ein ganz anderes Gebirge gemeint. In den Jahren 1895 und 8918 erforschten der Engländer Bamsay und der Deutsche Dr. Kandt unabhängig voneinander die Berge um den Missosi ya Mwesi; es stellte sich heraus, daß dieses Bergland nur ein Teil einer vulkanischen Gebirgskette ist, die sich über 120 km lang durch Uganda zieht und die den Namen Virungagebirge führt. Ihre höchste Erhebung, der Karissinbi, ein 12
noch lebhaft tätiger Vulkan, ist mit 4460 Meter Höhe nur wenig niedriger als der Montblanc, ü b e r dem Feuerberg und dem Vulkanbergen der Umgebung leuchten Nacht für Nacht rote Glutwolken. Diese Berge verdienten den Namen „Mondberge" nicht, zumal ihre höchsten Spitzen noch unter der Schneegrenze liegen. Noch fehlte zur endgültigen Klärung der Nilquellen die E r forschung der Zuflüsse zum Edward-See. Und dabei entdeckte man ein zweites unbekanntes Hochgebirge. Dicht nördlich des Äquators, etwa 300 Kilometer nördlich der Ruwuwuquelle, erhob sich jenes seit langem vermutete zweite Gebirge, das mit den südlich des Äquators liegenden Virunga-Bergen nichts zu tun hat. Es war das Ruwenzori-Gebirge. Bis zu 5119 Metern ragen die höchsten Gipfel dieses Gebirges über den Meeresspiegel und liegen hoch über der Schneegrenze. Ihre Häupter sind mit Eis und Schnee gepanzert. Wie die Virungakette sind auch sie den größten Teil des Jahres von W o l ken verhüllt, die nur selten einen Blick auf die höchsten Spit-< zen freigeben. Dann aber leuchten sie in der Sonne wie das silberne Licht des Mondes; den altägyptischen Forschüngsreisenden, die nie in ihrem Leben Schnee und Eis erblickt hatten, mußten sie wie eine fremde Welt, wie ein Märchen erscheinen. Hier traf der Name „Mondgebirge" zu. Nach dem Kliimandscharo und dem Kenia ist der Gebirgsstock des Ruwenzori die dritthöchste Erhebung Afrikas. Er verdankt seine Entstehung einer Emporfaltung im Zuge der großen ostafrikanischen Grabensenke, die sich vom Südende des Tanganjikasees bis zum oberen Niltal bei Lado erstreckt. Der Ruwenzori gehört dem Erdaltertum an und wird mit seinen Eisen- und Kupferschätzen in der Weltwirtschaft vielleicht einmal eine Rolle spielen. Während der Eiszeit war das Gebirge völlig vergletschert. Heute liegt die Schneegrenze bei 4500 Metern. Die Schmelzbäche der Gletscher, die in den letzten dreißig Jahren um 140 Meter zurückgegangen sind, ergießen sich in den Edward-See oder direkt in den Semlikifluß, der den Edward-See mit dem nördlicher gelegenen Albert-See verknüpft. Mit dem Semliki waren beide Quellflüsse des Weißen Nils entdeckt. Dber den Albert-See ist er mit dem anderen Nilquell, der vom Viktoria-See herkommt, verbunden. Viereinhalb Jahrtausende hatte es gedauert, bis der Lauf des Nils im Großen erforscht und kartographisch aufgenommen werden konnte; das Gesamtbild ist in den letzten Jahrzehnten auch mit seinen Einzelheiten abgerundet worden. 13
Das Freilichtmuseum Ägyptens Heute ist der Strom bis in seine letzten Winkel bekannt. Doch sind die Probleme um den Riesenfluß nicht geringer geworden. Das geographische Problem der Erkundung ist von dem Problem der Wasserregulierung abgelöst worden, die eine Lebensfrage für die durchströmten Länder ist. In Gedanken folgen wir dem Nil vom Quellfluß Kagera bis zu seiner Einmündung ins Mittelmeer. Unterwegs werden wir Gelegenheit haben, den Strom und seine Nebenflüsse, seine Anwohner und das umliegende Land zu betrachten und gelegentlich auch einen Ausflug in die Geschichte zu unternehmen. Fast ein J a h r würden wir für unsere Fahrt brauchen, wenn wir täglich 20 Kilometer zurücklegten. Denn der Nil ist mit seinen 6Ö71 Kilometern der zweitlängste Strom der Welt. Fünfmal müßten wir die Länge des Rheins aneinanderlegen, um die Länge des Nils zu erreichen. Läge seine Mündung bei Gibraltar und flösse er stets geradeaus, so hätten wir seine Quelle etwa tausend Kilometer hinter dem Uralgebirge in Sibirien zu suchen. Fast ein Sechstel des Erdumfangs mißt die Entfernung von der Quelle zur Mündung. Als unscheinbares Wässerchen verläßt der Nil etwa drei Grad südlich des Äquators die Berggruppe des Virungamassivs in zunächst südlicher Richtung und nimmt zahllose andere Bächlein aus den Gebirgstälern in sich auf. Rukarara ist hier sein erster Name. Doch bevor er seinen Lauf in großem Bogen nach Norden wendet, verändert er den Namen in Ruwuwu, bis er sich, noch immer südlich des Äquators, mit dem von den Nordhängen des Virungagebirges kommenden Kagerafluß vereinigt und unter dieser Bezeichnung weiter nach Osten in den ViktoriaSee strömt. Unter dem neuen Namen Kira verläßt der Strom das Nordende des Viktoria-Sees bei der Stadt Jinja und erreicht hinter den Ripon- und Owenfällen den weitverzweigten und stark versumpften Kioga-See. Als Viktoria-Nil wendet er sich dann in großem Bogen nach Westen und stürzt über die hohen Murchison-Fälle in den Albcrt-See. Seit seinem Ausfluß aus dem Viktoria-See hat der Nil schon über zweihundert Meter an Höhe verloren, ein Umstand, der für die Anlage von Dämmen und Stauseen von großer Bedeutung ist. Mit den Wassern des Albert-Secs angereichert, wendet sich der Strom als Bahr el Dschebel oder Bergfluß, eingeengt durch steile Bergketten, in vielfachen Stromschnellen nach Norden, vorbei an dem Ort Gondokoro, wo sich einst die beiden Hauptentdecker 14
der Nilquellen, Speke und Baker, getroffen hatten. Die Berge treten bald zurück und verlieren an Höhe, breiter wird der Fluß, seichter und sumpfiger. Unübersehbare Schilfdickichte versperren den Weg. Langsamer wird die Strömung des Wassers. Die riesigen Inseln aus verfilzten lebenden und abgestorbenen Pflanzenteilen verlegen den Weg. Wir sind in dem berüchtigten Suddgebiet. Hier liegt das Mündungsdelta des Bahr el Gasal und seines Nebenflusses Bahr el Arab. Aber beide Ströme führen dem Nil nicht das geringste Wasser zu, da in den unvorstellbar großen Morastflächen alle Feuchtigkeit wieder verdunstet und von der Urwaldartigen Wildnis der Wasserpflanzen verzehrt wird. Im Gegenteil: Der Nil führt beim Austritt aus den Sümpfen nur noch halb so viel Wasser, wie dem Viktoria-See entflossen ist. Jenseits der Sümpfe des Sudd sehen wir von rechts aus den Bergen Äthiopiens einen der wenigen rechten Nebenflüsse des Nils einmünden, den Sobat, der ebenfalls nur wenig Wasser liefert. Von dieser Mündungsstelle an heißt der Nil auf 800 Kilometer Längei bis nach Khartum Bahr el Abiad, Weißer Nil. Drei große Negervölker wohnen hier zu beiden Seiten des Stromes, die Schilluk, Dinka und Nuehr. Jagd und Viehzucht sind ihre Lebensgrundlage. Mensch und Tier leiden sehr unter den ungesunden klimatischen Verhältnissen, die Heere von Fliegen und Mücken zwingen dazu, ständig zahllose Rauchfeuer zu unterhalten. Nachts schlafen die Menschen zum Schutz gegen die Quälgeister bis zum Gesicht in Aschenhaufen eingewühlt, und auclh am Tage bietet die weiße Aschenschicht auf den völlig unbekleideten Körpern einen gewissen Schutz. Früher wurden diese Völker von den Raubzügen der arabischen Sklavenhändler heimgesucht, die mit beispielloser Grausamkeit die Dörfer überfielen, Kinder und Greise töteten und die arbeitsfähigen Männer und Frauen nach endlosen Wüstenmärschen oder eng zusammengepfercht in dunklen Schiffsladeräumen auf den Sklavenmarkt nach Khartum und Omdurman brachten; nur ein geringer Teil der Verschleppten kam lebend am Zielort an, die meisten erlagen den unglaublichen Strapazen. Khartum ist heute die moderne Hauptstadt des seit 1956 selbständigen Sudans. Von rechts mündet hier der Blaue Nil. Aus dem Tana-See, vom Hochland von Abessinien kommend, strömt er in großem Bogen nach Südosten, als wolle er sich in den Indischen Ozean ergießen, biegt aber in die entgegengesetzte Richtung um und nimmt noch einige kleinere Nebenflüsse in sich auf. Erst nach der Verschwisterung mit dem Blauen Nil führt 15
der Nil seinen uns vertrauten Namen, während die Araber ihn einfach „el Bahr", das Meer oder der Fluß, nennen. Zweihundert Kilometer weiter erhält er von rechts den letzten seiner Nebenflüsse, den Atbara, der ebenfalls aus den abessinischen Bergen herabkommt. In einer großen S-Schleife mit etwa 700 km Durchmesser zwängt sich der Nil von hier aus durch mehrere Katarakte und durch bergiges Gelände und durchströmt die Landschaften Berber, Dongola und Nubien. Vom vierten Katarakt an beginnt, links und rechts an den Ufern und am Wüstenrand sich ausbreitend, das großartigste und unvergleichliche Freilichtmuseum der Welt — die überwältigende Schau der altägyptischen Geschichte. Sie setzt mit den steilen Grabpyramiden von Moroe ein und dem halb in den Felsen stekkenden Tempel von Napata. Hinter Semne, wo 225 Meter breit die Ziegelfundamente der einstigen gewaltigen Grenzfeste gleichen Namens lagern, geht es an den berühmten altnubischen Goldgruben vorbei in die klippenreiche Tallandschaft. Hier — 280 Kilometer südlich Assuans — zeigt sich das Wunder der honiggelben Felsentempel von Abu Simbel, deren zwanzig Meter hohen, sitzenden Königsgestalten und deren Säle und Kammern mitsamt den figurenreichen Pfeilern aus dem vollen Fels gehauen sind. Durch die Tempelportale trifft jeden Morgen der erste: Strahl der Sonne die Altäre des Sonnengottes Re und der Schicksals- und Totengöttin Hathor. Je weiter nördlich wir kommen,! um so mehr häufen sich die Reste der Heiligtümer und die Götter- und Königskolosse. Kurz vor Assuan taucht plötzlich das Märchen Philä aus dem Wasser des alten Stausees; die Tempelbauten der Isis und die Tempel der römischen Kaiser ragen hier in toter Felsenwildnis wie verzaubert aus dem gestauten Wasserspiegel. In einem Steinbruch in der Nähe liegt, 5000 Zentner schwer, ein unvollendeter Riesenobelisk, noch nicht völlig abgetrennt von dem Felsen. Und wieder folgt unterhalb von Assuan Tempel auf Tempel. Die Namen all der heiligen Städte und Stätten aufzuführen ist unmöglich. Nur der heiligste, erhabenste dieses Bezirks sei genannt: das alte Theben, heute Luxor und Karnak, einst Hauptstadt Oberägyptens, mit Tempelfluchten, Sphinxalleen, Obelisken, Portalbauten und heiligen Gewässern auf dem Ostufer — dem Ufer der Lebenden — und den Opfertempeln, dem „Tal der Könige"* und dem „Tal der Königinnen" auf dem Westufer — dem Gestade der Toten. Koptos reiht sich * Vgl. Lux-Le>sebogen 54, „Im Tal der Könige".
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an, von wo ehedem die Pharaonenstraße durch das Wüstengebirge zu den Schiffswegen des Roten Meeres führte, dann Dendra mit seinen Tempeln und das hochberühmte Abydos, Begräbnisstadt der ältesten Pharaonengeschlechter und des ihnen in den Tod folgenden Hofgesindes, wo auch Osiris, der Totengott, begraben liegt und wo jeder Königsuntertan die letzte Ruhestätte zu finden begehrte. Unweit Assiut, vierhundert Kilometer vor Kairo, erreichen wir Badari, eine Kulturstätte, die ins 4. J a h r tausend zurückgeht, wo zum ersten Mal auf der Erde gegossene Kupfergeräte zutage getreten sind, die die Geräte der Steinzeit abgelöst haben. Dann Assiut selber, das uralte Karawanentor in die libyschen Oasen; hier liegen die Gräber der heiligen Wölfe. Weiter unterhalb stoßen wir auf die Ruinen von Amarna, wo Echnaton und seine Gemahlin Nofretete die Götter Thebens entthronten und in freier Ebene zur Ehre Atons, der Sonne, die Stadt „Horizont des Aton" begründeten. Hier fand man die Keilschriftbibliothek der Amarnatafeln, eine Urkunden- und Briefsammlung aus dem „Briefbüro" des Pharao. Wir nähern uns Unterägypten. Am Westufer bilden gegen Sonnenuntergang dreißig Großpyramiden eine monumentale Silhouette, die Grabpyramiden von Medum, Dahschur, Sakkara und Gise. Hier liegen Totenstädte und Grabpaläste, die völlig versunkene Reichsstadt Memphis und der Staatsfriedhof des Cheops; auf dem Ostufer im Stadtbereich Kairos vor den Mukkatambcrgen erheben sich die Grabmoscheen der Kalifen und Mamelucken-Sultane. Im Delta, wo sich heute der Strom in den Nilarm von Rosette und Damiette und zahlreiche Kanäle verzweigt, haben wir das alte Unterägypten erreicht, ein Land unvorstellbarer Fruchtbarkeit mit W e i zen-, Baumwoll-, Bohnen- und Luzernefeldern, mit Orangenund Bananen-Plantagen, Dattelpalmenwäldern und Eukalyptushainen. An der äußersten Westspitze des Deltas beenden wir in Alexandria, dem Mittelmeerhafen, die mehr als sechstausend Kilometer lange Fahrt.
Das Rätsel der Nilschwellen Gerade dann, wenn zur Zeit der Hundstage in Europa die Flüsse so wenig Wasser führen, daß zuweilen die Schiffahrt zu erliegen droht, beginnen die Fluten des Nils im Sudan zu steigen. Ende Juni erreicht die Flutwelle die Grenze Ägyptens und einen Monat später Kairo und das Delta. Vom Juli bis Oktober 19
dauert in Ober- und Mittelägypten, von August bis Mitte J a nuar im Mündungsgebiet die Hochwasserzeit; dann sinkt der Wasserspiegel allmählich wieder und hat Ende Juni in Unterägypten seinen tiefsten Stand. Der Unterschied in der Höhe des Wasserstandes ist überwältigend. Bei Assuan im ägyptischen Süden beträgt er yolle 15 Meter im Durchschnitt der Jahre, und bei Kairo immer noch 7 bis 8 Meter. Weithin werden bei Flut die Ländereien überschwemmt; die ganze Niltaloase zwischen den Wüsten, in ihrer Breite von 3 bis 30 km, sowie das flache Delta gleichen dann einem Sumpf, durch den vielfach nur aufgeschüttete Dämme einen Verkehr ermöglichen. Diese alljährliche Überflutung formt das zweite Gesicht Ägyptens. In den Monaten der Überschwemmung setzt sich metertief fruchtbarer Schlamm auf den Ackerflächen ab. Ist dann das Wasser zurückgegangen — es verläuft oder versickert im Boden. —, so dörren Sonne und W ü stenluft den Schlamm in wenigen Tagen zu einer von Rissen durchzogenen harten Schicht aus. Aber der bebaute Boden braucht schon bald wieder Wasser. Wasser gibt es n u r im Nil und in den Kanälen, die man im Laufe der Jahrtausende von ihm abgezweigt hat. Strom und Kanäle aber haben nach den Dberschwemmungsmonaten einen niedrigen Wasserstand, die Äcker liegen hoch darüber. Mühsam muß nach der Flut das Wasser auf die höher gelegenen einzelnen Feldstücke geleitet werden. Und so ist Ägypten das Land der Schöpfräder und Schöpfgeräte geworden. Seit uralter Zeit ist das so. überall sieht man die Schaukelbalken der Schadufs emporragen. Soll Wasser auf ein Feld gehoben werden, so taucht der Fellache den am Balkenende hängenden Schöpfkrug in den Strom oder Kanal, am Gegenende des Schaukelbalkens hängt ein gewichtiger Stein und er bringt den gefüllten Krug in großem Schwung nach oben. Und oben entleert er sich in die Wasserrinne, die bis zum Acker oder Äckerchen durchs Gelände ,gezogen ist. Wenn die Uferböschung sehr hoch ist, arbeiten mehrere Schadufs übereinander, sozusagen in mehreren Etagen. Anderswo knarren Hebegeräte in Form von Hohlzylindern, die von der Uferhöhe bis ins Wasser reichen. Hier wird das Wasser hochgeschraubt; denn im Innern des Zylinders dreht sich ein spiralförmiges Blatt, das wie die Spirale in einem Fleischwolf das Stromwasser befördert. Die größte Leistung aber vollbringt die altertümliche Sakije, die heute wie vor viertausend Jahren unverändert geblieben ist. Wie ein hochstehendes Wasserrad arbeitet dieses Göpelwerk. Das senkrechte Schöpfrad wird von einem
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sehläge. Tauben sind in Ägypten vor allem Düngerlieferanten
waagrecht liegenden Zahnrad, das Ochsen und Kühe drehen, in Bewegung gehalten. Am Radkranz hängen Krügo, die laufend in das Wasser eintauchen, sich füllen und ihren Inhalt in den höher gelegenen Kanal wieder ausfließen lassen. Trotz vieler moderner elektrisch betriebener Pumpwerke gibt es heute noch etwa 15000 solcher primitiven Bewässerungsvorrichtungen. Unverändert sind sie aus der Pharaonenzeit übernommen worden, und jedem Ägyptenreisenden wird ihr eintöniges Geräusch ebenso unvergeßlich in Erinnerung bleiben wie das Gewirr der Kanälchen, Gräben, F u r chen, durch die das geförderte, gelbschmutzige Nilwasser oft kilometerweit auf das eigene oder des Nachbarn Feldstück am Rande der Wüste geleitet wird, wo es, mit Erde sorgfältig a b gedämmt, langsam einsickert. Alle Bauern sind im Wasserhaushalt angewiesen auf die nachbarliche Mithilfe. Unentbehrlich ist eine solche Bewässerung, denn Regen in unserem Sinne gibt es in Ägypten nicht. Während in Deutschland im Mittel 600 bis 700 mm Niederschläge jährlich fallen, sind es in Alexandria vielleicht 180, in Oberägypten aber nur zweieinhalb Zentimeter — und das im Durchschnitt der Jahre. Es gibt 21
manchmal viele Jahre hintereinander, in denen überhaupt kein Regen fällt. Das ist uns unvorstellbar, und doch können auch hier Menschen, Tiere und Pflanzen leben, weil der Nil ihnen den Regen ersetzt. Wie schon der griechische Geschichtsschreiber Herodot vor mehr als 2000 Jahren erkannte, ist das Land „ein Geschenk des Nils". Leider kommt dieses Geschenk ziemlich ungleichmäßig. Wenn die Flut nur einen einzigen Meter unter der Durchschnittshöhe bleibt, sind Dürre und Hungersnot die Folge, überschreitet sie aber den Mittelwert um einen Meter, so sind Dammbrüche und Katastrophen unvermeidlich. Die „sieben fetten" und die „sieben mageren" Jahre, die in der Josephsgeschichte der Bibel erwähnt werden, sind Zeugnis für Glück und Unglück der schwankenden Fluthöhe. Im vatikanischen Museum in Rom befindet sich eine antike Marmorgruppe, die den Vater Nil zeigt, wie er von 16 spielenden Kindern umgeben ist. Der oberste der Knaben schaut mit Wohlbehagen auf ein von Früchten überfließendes Füllhorn herab, das der liegende Flußgott in den Armen hält. Die 16 Kinder sind Sinnbilder für die 16 Ellen, die der Fluß steigen mußte, um reiche Ernten hervorzubringen; 16 griechische Ellen zählen auch die Markstriche für gute Fluthöhen in den beiden noch heute vorhandenen uralten Nilmessern. Diese brunnenähnlichen Wasserstandspegel standen unterirdisch mit dem Nil in Verbindung und zeigten die jeweilige Wasserhöhe an. ü b e r die Fluthöhen, die an den , K i l o metern" abgelesen werden konnten, schreibt der römische Schriftsteller Plinius: bei 12 Ellen Hunger, bei 13 Genüge, bei 14 Freude, bei 15 Sicherheit und bei 16 Ellen Oberfluß. Gern hätte man schon im Altertum gewußt, woher die Nilhochflut kam, damit man sie möglicherweise beeinflussen könne. Indessen blieb ihre Herkunft Jahrtausende hindurch ein Rätsel. Und so begnügte man sich gläubig oder ungläubig mit der Vorstellung, daß eine Träne der um ihren Gatten trauernden Göttin Isis die Flut verursache. Erst im Mittelalter erkannte man, daß vor allem der aus Abessinien kommende Blaue Nil für die Überschwemmungen verantwortlich sei. Mehrmals lebten die Ägypter in Angst, daß die Bewohner dieses Hochlandes den Nil in das Rote Meer oder in den Indischen Ozean ableiten könnten. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts bat König Alfons V. von Spanien den christlichen Großkönig Abessiniens, ihm im Kampl gegen die Mohammedaner dadurch zu helfen, daß er das Nilwasser umleite; und tatsächlich drohte der abessinische Herrscher im Jahre 144!! den Ägyptern mit dieser Maßnahme, wenn 22
sie die Verfolgung der Christen nicht sofort einstellten. In der Sorge um ihre Lebensgrundlage gaben sie nach. Hundert Jahre später wiederholte der portugiesische Admiral Albukerk der Große, der in ständigem Seekrieg mit den Arabern lag, den gleichen Vorschlag, er wollte den Abessiniern sogar portugiesische Steinmetzen senden. Im 16. Jahrhundert zahlte der Sudan J a h r zehnte lang einen Tribut an Abessinien, damit der Großkönig den Nil weiter fließen lasse wie bisher, eine Bitte, die der Herr über den Blauen Nil gnädigst erfüllte. Und auch viel später, als England im 19. Jahrhundert den französischen Einfluß in Ägypten beseitigen wollte, schlug man eine Unterbrechung der Bewässerung Ägyptens durch die Umleitung des Nils vor. Dieser „menschenfreundliche" Vorschlag hätte jedoch wie alle früheren derartigen Pläne nie verwirklicht werden können. Es wäre ein Durchstich durch einen Gebirgszug von tausend Meter Höhe nötig gewesen, ein Unternehmen, das undurchführbar war. Heute kennen wir die Ursachen der jährlichen Nilschwellungen sehr genau. Es ist weniger der Weiße Nil, der das Hochwasser bringt, als sein kleinerer Bruder, der bei Khartum einmündende Blaue Nil. Die mit Feuchtigkeit gesättigten Luftmassen des Indischen Ozeans strömen zu bestimmten Zeiten nach Ostafrika und schütten über dem kühleren abessinischen Hochland ihren Regen aus, so daß man hier 1,3 Meter Jahresniederschläge" mißt. All diese Wassermassen fallen fast ausschließlich in den Monaten Juni bis August und setzen ganz plötzlich ein. In wenigen Tagen sind alle Rinnsale und Bäche von West- und Nordabessinien über ihre Ufer getreten. Die kleinen Gewässer ergießen ihre Fluten in den Tana-See oder sammeln sich im Flußbett des Atbara. Gewaltige Wassermengen strömen in wilder Flut zu Tal und reißen von den steilen Ufern riesige Mengen von Lehm mit sich, während der Atbara mehr rötliche vulkanische Auswaschungserde mit sich führt. Von den hohen und steilen Ufern aus gesehen, spiegelt sich der blaue Himmel besonders stark und hat so dem abessinischen Nil seinen Namen gegeben. Die Flutmenge verschwindet ebenso rasch, wie sie gekommen ist, und so müßte eigentlich der Strom unterhalb von Khartum vom September an wieder Niedrigwasser führen. Daß der Nil trotzdem noch weiterhin Hochwasser nach Ägypten bringt, ist jetzt dem Weißen Nil zu verdanken, dessen Flutwelle gerade in dieser Zeit, da die Flut des Blauen Nils nachläßt, Khartum erreicht. über dem Gesamtquellgebiet des Weißen Nils fällt zur tropischen Regenzeit, also dann, wenn wir Winter haben, eine Ke23
genmenge vom Himmel, die mit 1,2 Metern im Jahre den abessinischen Monsunregengüssen nicht viel nachsteht. Nur verteilt sich hier die Wassermenge über mehr Monate, so daß die Welle, deren Kopf im Februar Gondokoro, Ende März Khartum, Ende Mai Dongola und Ende Juni Oberägypten erreicht, bei weitem nicht so hoch und so ausgeprägt ist wie beim Blauen Nil. Dazu kommt, daß das gewaltige Quellgebiet des Bahr-el-Ghasal sein Sonderhochwasser gerade zu einer Zeit entsendet, zu welcher der obere Weiße Nil Niedrigwasser führt, und daß im Sumpfgebiet des Sudd etwa die Hälfte des vom Viktoria-See kommenden W a s sers verdunstet. Sichtbares Ergebnis der sich teilweise überlagernden Fluten verschiedener Herkunft ist für Ägypten die vom Juli bis in den Januar dauernde Hochflut, die „Niischwemme". Zu allen Zeiten wurden die Schlamm-Massen, die der Nil auf den Fluren Ägyptens absetzt, als besonders wertvoll angesehen. Dort, wo die Fluten ruhiger zu fließen beginnen oder ganz stillstehen, also vor allem auf den überschwemmten Feldern, sind es im Durchschnitt in jedem Jahre fünfzig Millionen Tonnen, das sind beinahe drei Millionen Güterwagen voll Schlamm. Doch ist die Düngewirkung des Schlamms viel geringer, als man früher angenommen hatte. Seine Düngekraft ist vor allem auf den Gehalt an kohlensaurem Kalk und auf geringe Mengen von Phosphorsäure und Kaliumsalzen zurückzuführen. Viel größere Vorteile bringt dem Wachstum die gute Durchlüftung des Bodens, wenn der Schlamm nach dem Abfluß des Wassers rissig wird. Er ist zudem unentbehrlich als Rohstoff für die Trockenziegel, die in dem holzarmen Lande als Baumaterial dienen. Die unzähligen Taubenhäuser, deren Bewohner Gartenmist liefern, während der Dung des Großviehs als Feuerungsmaterial verwertet wird, die Wohnhäuser, Stallungen, Hofmauern und Vorratsbauten sind aus Schlammziegeln oder mit Lehmbewurf gebaut. Und da es nicht regnet, halten sie Jahrzehnte stand. Blauer Nil und Atbara spenden die Überschwemmung und die Fruchtbarkeit, der Weiße Nil sichert den Wasserlauf im Winter und Frühjahr, oder, wie es ein Kenner einmal ausdrückte: „Den Blauen Nil braucht Ägypten, um zu leben, den Weißen Nil, um nicht zu sterben."
Mehr Ernten im Jahr Wenn die Überschwemmungsfluten die Felder verlassen haben, ist die Zeit der Aussaat für den Bauern gekommen. Drei bis 24
Der Staudamm von Assuan staut 5,4 Milliarden Kubikmeter Wasser. Sechzehn der hundertachtzig Tore sind geöffnet und führen dem Nil Wasser zu
vier Monate später kann die Ernte bereits eingebracht werden, bevor die neue Flutwelle kommt. So ist es von alters her, und Jahrtausende lang stillte diese eine Ernte im Jahr den Hunger der Ägypter. Doch schon im Altertum hatten kluge und weitsichtige Pharaonen Dämme aufwerfen und Kanäle graben lassen, um mit ihrer Hilfe an besonders günstig gelegenen Stellen zwei Ernten im Jahre zu gewinnen. Da die Wachstumszeit in d e r W ä r m e des Klimas bei den meisten Früchten nur drei bis vier Monate beträgt, müßte es möglich sein, jährlich drei Ernten hervorzubringen, w e n n . . . ja wenn eben das nötige Wasser ständig da wäre. In früheren Zeiten lag für eine Verdreifachung der Ernte jedoch kaum ein Bedürfnis vor. Als Ägypten in der Zeit der römischen Herrschaft die Kornkammer Roms war, wird das Land etwa sieben Millionen Bewohner gehabt haben. Unter der Mißwirtschaft späterer Beherrscher Ägyptens, durch Kriege, Vernachlässigung der Feldbewässerung und die Versumpfung war die Bevölkerungszahl bis zum J a h r e 1800 auf etwa zweieinhalb Millionen gesunken. Hundert Jahre später wurde Ägypten von etwa zehn bis elf Millionen Menschen bewohnt, kurz nach dem zweiten Weltkrieg waren es neunzehn und im Jahre 1956/57 schon 25
zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Millionen. Zur Zeit nimmt die Bevölkerung jährlich um etwa dreihundertfünfzigtausend zu, und in dreißig Jahren wird Ägypten mindestens fünfunddreißig Millionen Einwohner haben. F ü r das Leben dieser Millionenbevölkerung steht zwar eine Gesamtfläche von einer Million Quadratkilometer zur Verfügung, doch sind fast siebenundneunzig Prozent Ägyptens Wüste und nur dreieinhalb Prozent, also 35 000 Quadratkilometer, können landwirtschaftlich genützt werden, davon im Delta allein 24 000 Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte in den dreieinhalb Prozent fruchtbaren Landes, das man die Niloase nennt, übertrifft mit 600 bis 700, südlich Kairos sogar mit 835 Einwohnern je Quadratkilometer jedes Land Europas. Die landwirtschaftliche Nutzfläche Ägyptens ist zwar in den letzten fünfzig Jahren um ein Drittel vergrößert worden, doch hält diese Erweiterung bei weitem nicht Schritt mit der Bevölkerungszunahme. Selbst bei gut geleiteter Landwirtschaft könnte die heutige Ackerfläche bei mehreren Ernten im Jahre höchstens dreißig Millionen Menschen ernähren, und diese Zahl ist vermutlich in zwanzig Jajhren erreicht. Aber obwohl ein Drittel der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet und ein weiteres Drittel von ihr abhängt, ist die Landwirtschaft keineswegs überall gut geleitet. Schuld daran ist die unvorstellbar große Armut, die seit je im Lande herrscht. Drei Viertel aller ägyptischen Familien, von denen jede einzelne zehn bis zwölf Köpfe umfaßt, verdienen weniger als sechsunddreißig Mark im Monat nach unserem Gelde. Zudem leiden sechzig Prozent aller ägyptischen Bauern an der Malaria und achtzig Prozent an der Bilharzia-Krankheit, die durch einen kleinen W u r m aus den stehenden Gewässern des Nils verursacht wird. All das, verbunden mit dem Mangel an Unternehmungsgeist infolge der jahrhundertelangen Unterdrückung, stellt die zukünftige Ernährung Ägyptens vor ernste Schwierigkeiten, die noch durch die schwankende Wasserführung des Nils gesteigert wird. Und neben der jahreszeitlichen Schwankung des Wasserstandes steht drohend das Gespenst der „sieben mageren" Jahre, wenn die Wasserführung jahrelang ganz unzureichend ist. Im vieljährigen Durchschnitt führt der Strom etwa achtzig Milliarden Kubikmeter Wasser nach Ägypten, wovon die Landwirtschaft zur Zeit etwa sechsundvierzig Milliarden beansprucht. Also müßte eigentlich das Wasser für die Feldbewässerung ausreichen; doch ist der Zufluß allzu ungleichmäßig. W ä h r e n d bei 2G
Niedrigwasser stets große Mengen Feuchtigkeit fehlen, ergießt sie sich bei Hochwasser zum weitaus größten Teil nutzlos ins Meer. Schon vor etwas mehr als hundert Jahren brach sich daher der Gedanke Bahn, das Nilwasser zur Flutzeit zu stauen, um bei Niedrigwasser von den Überschüssen zu zehren. Der Begründer der letzten Dynastie in Ägypten, Mohammed Ali, bedeutend als Feldherr, Staatsmann und Reformator, ließ im Jahre 1835 nach französischen Plänen etwa 25 Kilometer nördlich von Kairo einen Damm beginnen, die sogenannte Delta-Barrage. 26 Jahre später wurde der Bau beendet und mußte sofort und später noch einmal verstärkt werden. Er wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg durch die moderne ,,Mohammed-Ali-Barrage" ersetzt, deren zwei Teile zusammen etwa einen Kilometer lang sind und hundertsechsundzwanzig Wasserdurchlaßtore besitzen. Oberhalb der Anlage zweigen nach beiden Seiten große, zum Teil schiffbare Kanäle ab, die das Wasser über ein Netz von Gräben auf die Äcker des Deltas verteilen. Seit der Jahrhundertwende wurden weitere Wehre errichtet. Die Karte auf den Seiten 16 und 17 zeigt, wie sie über das Land verteilt sind.
Der Assuan-Damm Diese Sperrdämme hatten die Aufgabe, bei Niedrigwasser die oberhalb entströmenden Kanäle zu füllen und zur Flutzeit \^ asser zu speichern, um es bei Ebbe zur Bewässerung abzugehen. Aber damit war die Wasserfrage nur zum Teil gelöst. Die Gefahr der „sieben mageren J a h r e " ist durch diese Barragen noch keineswegs gebannt. Die achtig Milliarden Kubikmeter Wasser im Vierteljahr sind eben nur der Durchschnitt. Im Jahre 1913/14 waren es nur 42 Milliarden Kubikmeter, also nur etwa die Hälfte der mittleren Wassermenge, während im Jahre 1878/79 fast die doppelte Durchschnittsmenge, nämlich 151 Milliarden Kubikmeter nach Ägypten einströmten. Immer stärker erhob sich die Forderung, die jährlichen Schwankungen der Fluthöhen abzufangen und das Wasser der „sieben fetten J a h r e " zu speichern. Dazu waren ganz andere Bauwerke erforderlich als einfache Barragen. Ein gewaltiger Damm konnte allein eine solche Aufgabe erfüllen. Möglichst weit stromauf mußte er liegen, um das gesamte ägyptische Oasental versorgen zu können und er mußte möglichst an wasserundurchlässigen Fels angelehnt werden. So ergab sich als Bauplatz die Gegend beim ersten Katarakt, sechs Kilometer 27
hinter Assuan, wo der Nil den härtesten Granit der Welt durchbricht. Nach Plänen der Engländer wurde im Jahre 1898 mit dem Bau begonnen, und schon vier Jahre später wurde der Riesendamm seiner Bestimmung übergeben. Mit seiner Länge von über zwei Kilometern ist er auch heute noch der längste Staudamm der Welt. Er staute zunächst nur eine Milliarde Kubikmeter W a s ser an. Durch Erhöhung um fünf Meter in den Jahren 1907 bis 1910 wurde der Inhalt des Stausees auf 2,4 Milliarden Kubikmeter gebracht, und nach einer abermaligen Erhöhung um weitere sechs Meter in der Zeit von 1932 bis 1934 erfaßte er sogar 5,4 Milliarden Kubikmeter. Der Stausee ist fast 300 Kilometer lang. Der Damm mißt heute an der Sohle 30 Meter, seine Krone, die fünfzig Meter über dem Flußbett liegt, hat eine Breite von elf Metern. Der Wasserabfluß ist durch hundertachtzig Tore regulierbar, in Zukunft soll hier auch ein Kraftwerk betrieben werden, das zur Zeit noch im Bau ist. Ägypten ist aber nicht das einzige Land, das am Nil gelegen ist und das Wasser des Stromes braucht. Jenseits des alten Pharaonenlandes beansprucht der Sudan seinen Anteil. Mehr als viermal so groß wie Frankreich, ist der seit 1956 freie Sudan auf einer Strecke von zweieinhalbtausend Kilometern Anlieger des Nils, mehr als doppelt soviel, wie Ägypten Anteil an dem Schicksalsstrom hat. Das aufstrebende Staatswesen ist etwas weniger auf den Nil angewiesen, da es nicht ganz so regenarm ist wie Ägypten. Im Sudan, wo mehr als 300 Millimeter Regen jährlich fallen, hat man unterirdische Regenwasserspeicher angelegt, H a fire, von denen bisher 360 gebaut und weitere 450 für die nächste Zeit geplant sind. Sie können viereinhalb Millionen Kubikmeter Wasser speichern; die Menge reicht indes nur aus, um jedem Sudanesen im Jahre 0,7 Kubikmeter zuzuteilen. In den trockeneren Gebieten haben Tiefbohrungen ergeben, daß unter der ebenen Erdoberfläche ein stark gefurchtes Grundgebirge liegt, in dessen Tälern sich unterirdische Seen befinden, die man ebenfalls ausbeuten will. Trotz all dieser Bemühungen bleibt der Nil doch noch immer der Hauptwasserlieferant auch des Sudans. Noch zur Zeit der englisch-ägyptischen Herrschaft wurden deshalb südlich von Khartum zwei Staumauern errichtet, der Sennardamm am Blauen Nil und der Dschel-Aulia-Damm am Weißen Nil. Durch ein Kanalsystem von dreieinhalbtausend Kilometer Länge verteilte man das aufgestaute Wasser auf das zwischen beiden Flüssen liegende Gebiet und verwandelte 600 000 Hektar Steppe in fruchtbares Baumwolland. Auf dieser Fläche leben zur 28
Zeit 160 000 Menschen, zu denen in der Pflanz- und Erntezeit noch 200000 Saisonarbeiter treten. Ägypten blickte mit Sorge auf diese Entwicklung. Wenn der Sudan zu viel Wasser für sich selbst verbrauchte, wurde Ägyptens Lebensader beschnitten. Ständige Reibereien waren zwischen beiden Staaten an der Tagesordnung. Langwierige Verhandlungen haben bis heute zu kaum nennenswerten Ergebnissen geführt. Denn auch Ägypten braucht immer mehr Wasser. Dort, wo das westliche Delta in der Nähe des Meeres in die lebensfeindliche Trockenheit der Libyschen Wüste übergeht, wurde vor wenigen Jahren ein neues Siedlungsgebiet geschaffen, die „Freiheitsprovinz", der Stolz des modernen Ägypten. Ein dreißig Kilometer langer und vier Meter breiter auszementierter Kanal geht vom Nil ab und bewässert mit unzähligen Kanälen das frühere W ü stengebiet. Die ersten fruchtbar gemachten zehntausend Hektar lieferten im Jahre 1955 erstmals gute Ernten. Die Provinz soll bis auf 250 000 Hektar erweitert werden, insgesamt will man hier und an anderen Stellen Ägyptens in den nächsten zwölf Jahren 850 000 Hektar Ackerland gewinnen. Wie aber sollen die ungeheuren Wassermengen bereitgestellt werden? Der bereits gebaute Kanal reicht nur für 21 000 Hektar. Deshalb denkt man daran, auch jene Wassermengen, die bisher ungenützt ins Meer abgeflossen sind, einzufangen und auf die dürstenden Felder zu leiten. Es müßte ein neuer Damm gebaut werden, so breit und so hoch, daß dahinter genügend Wasser gestaut werden könnte, um den Kanälen zu jeder Jahreszeit und in allen Jahren stets die gleiche Wassermenge zuzuführen. Deshalb beauftragte im Jahre 1953 die ägypische Regierung zwei deutsche Firmen mit der Ausarbeitung von Plänen für einen Damm, der den Namen Sadd-el-Ali-Damm tragen soll und dessen Zweck es ist, die jährlichen und jahreszeitlichen Spitzen aufzufangen und bei Wassermangel wieder abzugeben. Zugleich soll er Schutz gegen Hochwasserschäden bieten. Als Standort wurde wieder die Gegend des ersten Kataraktes bei Assuan, einige Kilometer oberhalb des alten Dammes, in Aussicht genommen, weil von dieser Stelle aus das ganze Land versorgt werden könnte und der Damm sich zu beiden Seiten an die Granitfelsen anlehnen läßt. Eine weitere Erhöhung des jetzigen Assuandammes war nicht mehr möglich. Wenn der neue Damm seinen Zweck voll erfüllen soll, müßte er die außerordentliche Höhe von 110 Metern haben, seine äußersten Enden würden mehr als fünf Kilometer auseinanderliegen. Der Damm würde am Fuße eine Breite von 29
mehr als eineinhalb Kilometer Breite haben. Festgestampfte Erdmassen und eine Steinverkleidung sollen die Oberfläche bilden. Der Stausee, der sich im Laufe von zehn Jahren allmählich oberhalb des Dammes bilden würde, wäre dreitausend Quadratkilometer groß, fünfmal so groß wie der Bodensee. Er würde etwa 500 Kilometer lang sein und hundertfünfzig Kilometer über die Staatsgrenze in den Sudan reichen. Die gestaute Wassermenge wäre mit 165 Milliarden Kubikmeter Wasser viermal so groß wie diejenige des amerikanischen Boulder-Stauwerkes, dreißigmal so groß wie der bisherige Assuanstau und tausendmal so groß wie die der Mohne- oder Lechtalsperre. Die Füllung würde in einzelnen Etappen erfolgen und der Wasserspiegel jeweils bei Flut stark ansteigen, bei Niedrigwasser dagegen jährlich wieder um etwas fallen. Die Stauhöhe wü'rde zwischen fünfzig und achtig Metern schwanken. Durch sechzehn Francis-Turbinen am Westufer zu je 120 000 PS soll elektrischer Strom erzeugt werden; mit dem Kraftwerk des bisherigen Dammes würden etwa sechs bis zehn Milliarden Kilowattstunden im J a h r gewonnen, das zehnfache aller bisherigen ägyptischen Kraftwerke zusammen. Beide Dämme würden gewissermaßen eine Einheit bilden und das Zwischenbecken eine sehr genaue Regulierung der Abflußmengc erlauben. Für den Bau sind neun bis fünfzehn Jahre vorgesehen. Die vorbereitenden Arbeiten sind schon seit 1955 im Gange. Gilt es doch, Anfuhrwege durch das unwirtliche und felszerklüftete Gelände zu schaffen, Eisenbahnlinien heranzuführen und einen zwei Kilometer langen Umgehungsstollen in den Granit zu bohren, in den das Wasser durch einen Vordamm eingeleitet werden soll, um einen ziemlich trockenen Baugrund zu erhalten. Der Damm könnte jährlich zusätzlich fünfzehn Milliarden Kubikmeter Wasser an die „Freiheitsprovinz" Unterägyptes abgeben, und es könnten die gewünschten 850 000 Hektar neue Ackerfläche gewonnen und bewässert werden, ein Drittel der heutigen landwirtschaftlichen Nutzfläche. 420 000 Hektar, die, nach dem alten System bewirtschaftet, zur Zeit nur eine Ernte erbringen, würden in Zukunft drei Ernten ermöglichen. Die Gesamternte stiege um fünfzig Prozent, und die Not von Millionen Menschen könnte gebändigt werden. All das spricht sehr für den Bau des Dammes. Manches aber ist zu bedenken. Zahllose unersetzliche Denkmäler Alt-Ägyptens würden unwiderbringlich im Wasser des Stausees versinken: Dendur, Dakka und vor allem die herrlichen Felsentcmpei von Abu Simbel mit den Riesenfiguren Ramses' IL Schwerwiegender aber 30
ist die Tatsache, daß sieh im Gelände des Stausees über 200 Ortschaften befinden, die von 80 000 bis 100 000 Menschen bewohnt werden. Sie alle müßten umgesiedelt und ihnen müßten neue Verdienstmöglichkeiten beschafft werden. Der neue Stausee läge zudem in einer Zone, in der die Verdunstung durch Hitze und trokkene Wüstenwinde besonders groß ist, 7,7 Millimeter der W a s serfläche würden am Tag in der Luft verschwinden: neun Milliarden Kubikmeter Verlust im Jahr, bei geringerem Wasserinhalt mindestens fünf Milliarden. Groß wäre auch die Gefahr der Verschlammung des Staubeckens; denn in dem fast stehenden Wasser des Sees setzt sich der Schlamm ebenso ab, wie er es sonst in erwünschter Weise auf den Äckern tut. Deshalb dürfte ein Fünftel des Gesamtnilwassers zu Flutbegnin, wenn die Schlammführung am größten ist, nicht gestaut werden. Weitaus die größte Sorge bereiten jedoch die außerordentlich hohen Kosten des kühnen Planes. In Ägypten rechnet man mit 2,5 Milliarden Mark, Fachleute der westlichen Welt nennen jedoch einen doppelt so hohen Betrag. Ägyptens Hinweis, daß seine Bevölkerung in je drei bis vier Jahren um eine weitere Milliom zunehme und daß daher der Damm eine Lebensnotwendigkeit für das Land sei, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die erforderlichen Mittel für den Bau noch nicht vorhanden sind.
Pläne zwischen Nord und Süd Unter diesen Umständen wenden sich die Blicke des Beobachters wieder der Karte des Nils zu und suchen andere Möglichkeiten und Wege, um Ägypten und den anderen Anliegerstaat™ zu helfen. Schon vor fünfzig Jahren hat Churchill in seiner Eigenschaft als Kolonialminister angeregt, bei den Owen-Fällen in der Nähe von Jinja, dicht am Nordufer des Viktoria-Sees, ein Stauwerk zu errichten. 1918 ging man ans Werk. Innerhalb von fünf Jahren entstand hier ein 26 Meter hoher Damm mit 830 Meter Länge, der den Viktoria-See um einen Meter und um 67 Milliarden Kubikmeter Wasser anstaut. Der Damm dient vor allem der Krafterzeugung, Königin Elisabeth von England konnte im Jahre 1954 die erste der zehn Großturbinen in Tätigkeit setzen. Sechs Turbinen kamen in den folgenden Jahren hinzu und versorgen bereits das fünfhundert Kilometer entfernte Nairobi, die Hauptstadt der britischen Kolonie Kenia, sowie die Gegend am Tanganjika-See 31
mit Strom. Jinja verspricht ein neues Industriezentrum zu werden für Textilverarbeitung und für die Aufbereitung der Mineralvorkommen des Ruwenzorigebietes: Phosphate, Magnetite, Kupfer, Zinn und Wolfram. Vom Viktoria-See bis zum Albert-See hat der Nil ein Gefälle von 200 Metern. Hier könnten die Murchison-Fälle zwischen dem sumpfigen Kioga-See und dem Albert-See die zwanzigfache Energie des Owen-Kraftwerkes liefern, wenn ihr Ausbau einmal verwirklicht würde. Die zentralafrikanischen Seen laden geradezu ein für die Kraftatisnützung. Äquatorialafrika besitzt fast die Hälfte aller Wasserkräfte der Erde. Die Stau- und Speicherwerke hier im Quellgebiet des Nils würden sich äußerst vorteilhaft auch auf den Sudan und auf Ägypten auswirken, wenn es gelänge, die wasserverdunstenden SuddSümpfe durch einen Kanal zu umgehen oder sie zu entwässern. Was dann noch an Wasser bis zur vorgesehenen Menge des Assuanprojektes fehlte, ließe sich durch den weiteren Anstau des Blauen Nils in einem der abessinischen Hochtäler oder am Tana-See selbst gewinnen, ein Gedanke, der sich verhältnismäßig leicht verwirklichen ließe. Seit fünfzig Jahren wird schon darüber diskutiert, ohne daß bisher irgendwelche Ergebnisse erzielt worden wären, da hier ebenso wie beim Assuanprojekt politische Schwierigkeiten zu überwinden sind. Man hat auch an den vierten Katarakt gedacht, mitten im Sförmigen Bogen des Nils, wo der Strom auf einer längeren Strecke in ein enges Tal eingezwängt ist, und an die dreißig Meter unter dem Meeresspiegel liegende Oase Fayum, wo durch einen Nilkanal wie im Altertum wieder ein großer See entstehen könnte. Und manch anderer Plan wird erwogen. Aber die finanziellen Sorgen sind groß. Und nie werden sie aufhören, diese Sorgen um den Heiligen Strom, Lebensader für die Millionen, die an seinen Ufern unter meist kümmerlichen Lebensbedingungen wohnen. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Umschlagseite 2: Am Nilufer, deutlich ist die Schlammschicht zu erkennen. (Foto: Dr. Wolff und Tritschler, alle andern Fotos: Ullstein-Bilderdienst; Kartenzeichnung: H. Fuchs)
L u x - L e s e b o g e n 2 7 5 (Erdkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München