ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 149
Vergessen über Wiga-Wogo von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Pl...
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ATLAN Im Auftrag der Menschheit Nr. 149
Vergessen über Wiga-Wogo von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Mitte Mai des Jahres 2843. Lordadmiral Atlan hat bei seinem Einsatz auf dem Planeten Karagam den geraubten Zellaktivator noch gerade rechtzeitig zurückgewonnen. Der kopierte Bewußtseinsinhalt des jungen Kristallprinzen Atlan, der Körper und Geist des Springers Curs Broomer übernommen hatte, existiert nicht mehr. Auch der Körper Broomers ist tot – und damit ist eine Episode beendet, die nicht nur in Kreisen der USO beträchtliche Unruhe und Aufregung verursacht hatte. Doch schon vor diesem Zeitpunkt hat sich eine neue Krise angebahnt, die Lordadmiral Atlans Organisation zum Eingreifen veranlaßt. Ausgangspunkt dieser Krise ist ein Sonnensystem in der Eastside der Galaxis. Hier, und zwar auf der Welt Komouir, sind wertvolle Schwingkristalle entdeckt worden. Die Entdeckung hat sofort bei allen Prospektoren und Glücksrittern in der Nähe einen wahren Run ausgelöst. Die USO und das Solare Imperium haben dabei das Nachsehen, denn sie sind nicht frühzeitig genug informiert worden. Auch Froom Wirtz, der in der Nähe von Komouir auf dem Planeten WigaWigo tätige Instinktspezialist der USO, hat nicht auf seinen Aktivierungsbefehl reagiert. Lordadmiral Atlan entschließt sich daher, mit dem Instinktspezialisten persönlichen Kontakt aufzunehmen. Er fliegt hin und dringt ein in das VERGESSEN ÜBER WIGA WIGO…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Lordadmiral macht sich auf die Suche nach einem Vermißten. Froom Wirtz Besessenen.
–
Ein
Normaler
unter
Stevmobäer – „König“ des Raumhafens von Brantonfeyn. Kilter Shann – Ein Mann, der vergessen hat, daß er Raumfahrer ist. Terrania Skeller – Ein junges Medium.
1. Es begann bereits zu dunkeln, als sich Froom Wirtz entschloß, den Raumhafen des Planeten Wiga-Wigo zu untersuchen. Ringsum herrschte eine Totenstille, die sich drückend auf die Nerven des schlanken, schmalen Mannes legte. Froom wußte, daß ihm hier, hundert Kilometer südlich der Stadt Brantonfeyn, eine Anzahl schwerer Tage bevorstand. Er dachte, daß es am sinnvollsten wäre, im Schutz der Dunkelheit erst einmal den ausgestorbenen Raumhafen zu durchsuchen und sich dann für die Nacht einen sicheren und ruhigen Platz auszusuchen. Er munterte sich selbst innerlich auf und glitt von dem dicken Ast herunter. Von hier aus hatte er einen Teil des Hafens überblicken können. Ein voll funktionsfähiger Raumhafen, der völlig sinnlos geworden war, weil die Bewohner der Stadt und des Planeten mit Raumschiffen ebenso wenig anfangen konnten wie er mit seinem umfassenden Wissen über alte terranische Schätze. Mit angespannten Nerven und Muskeln sprang Wirtz über die Mauer, die das umliegende Dschungelgelände von der runden, weißen Fläche des Hafens trennte. Der Wind fuhr zischend und pfeifend durch die Baumkronen und trieb verdorrtes Laub und Staub vor ihm, zwischen die Landestützen der Schiffe und in seltsamen
Mustern, über den großen Platz. Täuschte er sich, oder hörte er von irgendwo her ein gellendes Gelächter, das von einem Wahnsinnigen stammen konnte? Froom zuckte die Schultern und bewegte sich im halben Schatten zwischen den Landestützen, zwischen abgestellten Warenstapeln und kleinen Robotkarren hindurch. Dann blieb er stehen, überlegte kurz und ging zwanzig Schritte nach rechts. Dort stand ein halbrobotischer Transporter neben einem Block aus sauber gestapelten Kisten. Es waren Zeugen des normalen Zustands, der vor kurzer Zeit noch auf Wiga-Wigo geherrscht hatte. Damals glaubten sie alle noch nicht, daß sie alle auf der Innenfläche einer Kugel lebten und daß das Zentrum ihrer Hohlwelt von einem strahlenden Körper radioaktiv zerfallender Materie gebildet wurde. Jetzt aber glaubte der gesamte Planet diese verrückte These – auch der exzentrische Jäger, der ihn mit seinem Luftkissenfahrzeug zum Raumhafen gebracht hatte. Froom Wirtz kletterte in den kleinen Reservefahrstand des Schleppers und legte einen unscheinbaren Hebel um. Jetzt war die Roboteinrichtung des Fahrzeugs ausgeschaltet, und der Transporter konnte von Hand gesteuert werden. Weitere Schalter klickten. Dann übergoß die Helligkeit aus sechs Frontscheinwerfern die Zone vor dem Fahrzeug, summend setzte sich der Wagen in Bewegung. Auf Umwegen steuerte Wirtz den halbrobotischen Wagen auf die Gebäude neben dem Kontrollturm zu. Wieder glaubte er, dieses schaurige Gelächter zu hören. Er konzentrierte sich scharf. Jetzt fegte der Wind über den Platz. Im Westen übergoß die lohende Röte des Sonnenuntergangs den Himmel. Nirgendwo, rund um die Zone vor den Gebäuden, sah Froom Bewegungen oder Lichter. Er bremste den Wagen ab und lenkte ihn in eine Hundertachtzig-Grad-Kurve. Dann schaltete er die Scheinwerfer ab. Bewegungslos wartete er. Nur seine dunklen Augen, auf denen starke Kontaktlinsen steckten, bewegten sich. Mit einer mechanischen Bewegung strich Froom über seinen Oberlippenbart. Ich muß hier weg. Aber zuerst muß ich feststellen, warum diese teilweise Amnesie die Bevölkerung von Wiga-Wigo befallen hat. Was kann ich tun? In meiner augenblicklichen Lage sehr wenig, denn ich
bin allein und habe keinerlei Unterstützung. Ich bin der einzige Mann auf einem Planeten, der genau weiß, wozu ein Raumhafen und Raumschiffe zu verwenden sind. Hohlwelt! Pah! Aber zuerst brauche ich Essen, Kleidung, ein Bad und Schlaf. Ich werde es mir verschaffen. Niemand ist hier außer mir… Als er sich vorbeugte, um den Antrieb des Robotwagens wieder einzuschalten, hörte er aus der Richtung der riesigen, flachen Ladehalle wieder dieses langgezogene Gelächter. Es klang wie das Heulen einer Wiga-Wigo-Hyäne. Langsam steuerte der Wagen auf das Hauptgebäude zu. Vor einigen Wochen noch waren hier Menschen ein- und ausgegangen. Jetzt sammelte sich in den Ecken das Laub und der herangewehte Schmutz. Der Verfall begann. Mit einem unbehaglichen Gefühl schwang sich Froom Wirtz aus dem Sitz und ging auf die schmutzigen Glasscheiben zu. Die Anlage schien noch teilweise in Betrieb zu sein, denn automatisch fuhren die schweren Sicherheitsglasscheiben auseinander. Wirtz legte die Hand auf den Griff seines Strahlers und drehte sich, noch immer mit den Knien im Unterbrecherstrahl, schnell um. Er bemerkte auch jetzt weder Licht noch Bewegungen. Noch immer war er allein in diesem System von Bauten, das sich mondsichelförmig um ein Drittel des kreisrunden Platzes lagerte. Keine fünfzig Meter hinter dem Center, das er eben betreten hatte, ragte der Stahlbetonstumpf des Kontrollturms in die Höhe. Froom Wirtz zuckte unschlüssig mit den Schultern und drehte sich um. Als er aus dem Kontaktstrahl herausging, zischten die Türen zu, und er ging geradeaus weiter in die dunkle Halle. Nach fünfzig Metern blieb er stehen. Er versuchte sich zu erinnern, wo die Hauptschalter für die Beleuchtung waren. Außerdem störte ihn ein raschelndes Geräusch, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Der glatte Steinboden der Halle warf dieses Rascheln, das Tappen unzähliger Füße, das Schnappen von Kiefern zurück. Hin und wieder kam aus einer der Ecken ein fauchendes Knurren. Hunde? dachte Froom. Er lief auf eine Tür zu, an der er Buchstaben undeutlich erkennen konnte. Das Rascheln und die Geräusche der Pfoten verstärkten sich
und kamen näher. Froom sah hin und wieder aufleuchtende Augenpaare, aber er sah nicht, ob es sich um große oder kleine Tiere handelte. Knackend schnellte der Sicherungsflügel der Waffe zurück. Mit einer schnellen Bewegung riß Froom die Tür auf und befand sich in einem Büroraum. Krachend schlug die Tür ins Schloß, und schwer atmend lehnte sich Froom mit dem Rücken dagegen. Hinter der dünnen Kunststoffplatte ertönte ein forderndes Knurren. Also doch irgendwelche Bestien! Wirtz bewegte seinen hundertsiebzig Zentimeter großen Körper unter einer Barriere hindurch, knallte mit beiden Schienbeinen gegen eine niedrig schwebende Platte und fluchte laut. Dann sah er die winzigen roten Kontrolleuchten eines Schaltbretts und kippte nacheinander eine Reihe selbstglimmender Schalter. Überall schalteten sich Lampen ein. Auch das Büro stand plötzlich in strahlender Helligkeit. Es war hervorragend aufgeräumt. Es wirkte, als habe sich in den Hirnen der hier arbeitenden die Überzeugung, daß Raumfahrt sinnlos war, nur langsam durchgesetzt. Alles war vorzüglich aufgeräumt. Die Schränke und die Registraturen waren geschlossen, die Pultkalkulatoren abgeschaltet, die Bildschirme desaktiviert. Froom schüttelte den Kopf, stellte seine Waffe auf Streufeuer ein und öffnete die Tür, nachdem er im gesamten Gebäude die Lichter eingeschaltet und auch die Leitungen hinüber zum kleinen, einzeln stehenden Hotel des Raumhafens aktiviert hatte. Jetzt sah er, was hier im Hauptgebäude geschehen war. Irgendwo mußte es eine Öffnung geben. In der Halle trieben sich mindestens hundert Wildhunde herum. Sie waren einen halben Meter groß, unglaublich verwildert und abgemagert. Überall lagen die Reste von aufgefressenen Artgenossen herum. Die großen Augen der Tiere leuchteten wie im Fieber. Froom mußte hinüber ins Hotel. Zu diesem Zweck mußte er die gesamte Halle, etwa vierzig oder fünfzig Meter durchqueren. Die Tiere waren hier eingeschlossen worden oder fanden den Eingang nicht mehr, durch den sie eingedrungen waren. Ein Ring von mindestens dreißig, der vor Hunger halb tollen Tiere, umstand die Tür. Mehr als ein halbes Hundert Augen starrten den Terraner an.
Wirtz holte tief Luft, feuerte schnell hintereinander dreimal auf die Tiere und spurtete los. Deutlich standen die Glastüren vor ihm, die er erreichten mußte. Fünfzig Meter, also mehr als fünfzig schnelle Schritte entfernt. Froom Wirtz sah, wie die Hunde auseinandersprangen, aber gleichzeitig stürzte sich die Meute der ausgemergelten Tiere von allen Seiten auf ihn. Trotz der ausgestandenen Strapazen bewies Wirtz einmal mehr, wie zäh und leistungsfähig er war. Er feuerte nach allen Seiten, warf sich hin und her und wich den zuschnappenden Kiefern aus. Er trat nach den Tieren, feuerte mit dem schweren Schocker mitten in die heranstürmenden Gruppen hinein und wurde immer schneller. Er sprang über zwei Tiere, die röchelnd und knurrend angriffen, drehte sich halb herum und lähmte ein kleines Rudel, das ihm dicht auf den Fersen war. Dann trafen die Sohlen seiner Stiefel wieder auf den glatten Boden. Wirtz schlitterte auf die Tür zu. Seine Stiefel schoben Knochen und Kothaufen zur Seite. Er taumelte, als er einen der Wildhunde in die Schnauze trat. Das Tier jaulte auf, aber dieser Ton schien die anderen Angreifer noch mehr anzufeuern. Endlich war die Tür da. Sie glitt auf. Ein kühler Lufthauch kam herein und vertrieb den Gestank. Die Lichtzelle befand sich offensichtlich nur wenige Zentimeter oberhalb der Tierrücken, denn sonst hätte zufällig ein herumrennender Wildhund diese Tür geöffnet. Jetzt warf sich Froom nach vorn, ging draußen, jenseits des länglichen Lichtflecks, wieder in die Knie und feuerte auf jeden Hund, der hinter ihm her war. Den letzten Schuß schickte er durch den immer enger werdenden Spalt und stand dann langsam auf. Tief zog er die frische Luft in die Lungen und begann sich wieder etwas wohler zu fühlen. Jedenfalls brannten überall die kleinen Beleuchtungskörper. Er sah deutlich den weißen Plattenweg vom Hinterausgang des Centers bis zum kleinen Hotel. Es lag im Zentrum eines kleinen Sees auf Stelzen. Hungrig, müde und erschöpft ging Froom Wirtz auf das Hotel zu. Hinter ihm erklang wieder dieses schreckliche Gelächter. Plötzlich begann Wirtz zu frieren. Hier trieb sich jemand oder etwas herum. Er war doch nicht allein auf diesem Gelände, das hundert Kilometer
südlich der Stadt Brantonfeyn lag. Verdammt! dachte er verzweifelt und wütend. Verdammt! Aber schon immer hatten Gefahren und Widerstände ihn herausgefordert. Er brauchte nur an den Kidnapping-Versuch der Gangster in der Klondike-Bahn zu denken. Diesen Platz hatte er nach seinem Sieg verlassen, um sich neue Grenzen und neue Horizonte zu suchen. Und er würde auch hier Erfolg haben und sich durchsetzen. * Seit Jahrhunderten war die Kolonie Wiga-Wigo mit der Raumfahrt vertraut, ohne die sie ja natürlich nicht einmal hätte gegründet werden können. Doch plötzlich waren die Menschen zu fanatischen Vertretern der Hohlwelttheorie geworden, einer irrigen, geistigen Strömung aus der grauen Vorzeit des präkosmischen Zeitalters. Partielle Amnesie – teilweiser Ausfall des Gedächtnisses. Ein schlimmer geistiger Rücksturz war in einem breiten Teile des Bewußtseins erfolgt. Aber sonst waren die Bewohner von WigaWigo völlig normal und hatten nicht die geringste Einbuße an ihrer geistigen Potenz erlitten. Deylight-Hotel, las Wirtz, als er die breiten Stufen zum Eingang hochstieg. Er ahnte, daß es auch hier versteckte Gefahren geben konnte, aber das interessierte ihn erst in einer Stunde. Sorgfältig schloß er die Türen hinter sich. Er suchte in dem kleinen Magazin, bis er eine Mahlzeit fand, die er im kleinen Service-Grill seines Zimmers aufwärmen konnte. Dann versorgte er sich mit Kleidung und allem, was er zu brauchen glaubte und zog sich in eines der schönsten und größten Zimmer zurück. Er wählte aus den Speichern der Raumversorgung ein Band mit alter Musik und begann sich auszuziehen. Minuten später stand er unter der heißen Dusche. Er schaltete Vibratoren, Massagegeräte und Duftdusche, Projektor für die negativen Ionen und alle anderen Zusatzeinrichtungen an und ließ das gesamte Programm über sich ergehen. Nachdem sein schwarzes, mit natürlichem Silbergrau gemischtes Haar getrocknet war, zog er sich um und bereitete sich, den Strahler immer in Griffweite, ein Essen.
Während die Musik des alten Stückes laut und schallend durch, die Räume zu hören war, arbeitete die kleine eingebaute Küche des Hotelzimmers. Jetzt, nach der stundenlangen Prozedur und mit der Aussicht auf ein gutes Essen und einen erholsamen Schlaf, aber noch immer voller Gedanken an die selbstgestellte Aufgabe, ging er langsam hinaus auf die Terrasse, die über dem See hing. Überall spiegelten sich kleine Lichter im See. Am klaren Nachthimmel standen die Sterne über dem DeylightSystem. Froom Wirtz dachte gerade, ein gefülltes Glas in der Hand, daß er morgen in die Richtung der Stadt aufbrechen würde, nachdem er sämtliche hier abgestellten Schiffe nach einem funktionierenden Hyperfunkgerät durchsucht hatte. Plötzlich zuckte er zusammen und verschüttete den Inhalt des Glases. Also doch! durchfuhr es ihn. Schlagartig erloschen die vielen Beleuchtungskörper des Raumhafen-Centers. Dann kam, dieses Mal durch Lautsprecher verstärkt, dieses irrsinnige, kreischende Gelächter an seine Ohren. Der ganze Raumhafen schien davon widerzuhallen. Das konnte in jedem Fall eine heitere Nacht werden! Froom überlegte sich, daß wohl kaum jemand über den See schwimmen würde, um ihn zu treffen. Es war einfacher, die Tür zu benutzen. Er ging wieder zurück, noch immer vom Schall der Musik umtobt, deckte den Tisch und aß langsam. Dann ging er hinüber in den anschließenden Raum und bereitete alles für die Nacht vor. Schließlich, es war gegen zehn Uhr, hatte er sämtliche Räume sorgfältig abgeschlossen. Er lag im Bett, mit hinter dem Kopf verschränkten Händen, starrte die dunkle Decke an und dachte über alles nach, was zwischen dem Augenblick lag, an dem er seinem Freund Riley die Leitung über die Klondike-Bahn übergeben und hierher geflogen war, in eine der kleinsten Kolonien des Imperiums an der Eastside der Galaxis. Übergangslos schlief er ein. * Schlagartig wurde er wach, als ihm das Licht direkt in die Augen stach. Er reagierte augenblicklich. Glücklicherweise hatte er seine Kontaktlinsen nicht abgelegt. Er sprang seitlich aus dem Bett und prallte gegen die Knie einer
Gestalt, die er undeutlich hinter dem Licht eines schweren Handscheinwerfers erkannte. Ein Schlag, mit einem Knüppel oder einer ähnlichen Waffe geführt, traf ihn an der Schulter. Wütend schrie er auf: „Verdammt! Was ist hier los?“ Er schlug um sich und traf seinen Angreifer. Über ihm sagte eine rauchige, knarrende Stimme: „Du bist… in mein Gebiet… eingedrungen…“ Mühsam kämpfte sich Froom frei. Er rollte sich nach vorn und kam wieder auf die Beine. Er wirbelte herum, blockte mit dem Unterarm einen weiteren wilden Hieb ab und duckte sich. Der Knüppel zischte haarscharf über seinen Kopf hinweg. „Eingedrungen?“ keuchte er und versuchte, seine Waffe zu erreichen. Sie lag auf dem Tisch. Er hechtete quer durch den halben Raum auf den Tisch zu, als ihn der Knüppel direkt ins Genick traf. Er stolperte, rutschte an der Wand entlang und fiel in die Kissen. Die letzte Erinnerung war die, daß sich ein bärtiges Gesicht über ihn beugte. * Froom Wirtz kam wieder zu sich, als es ihn fröstelte. Er öffnete die Augen. Direkt über sich sah er eine weiße Fläche. Die Decke eines Raumes: Sekunden später, nachdem er in mehrere Richtungen geblickt hatte, sah er, daß er in der Hotelhalle lag. Er blickte an sich herunter und versuchte, die Schmerzen in seinem Hinterkopf zu ignorieren. Er war vollständig nackt. „Wo bin ich, verdammt?“ fragte er laut. Niemand antwortete. Mehr und mehr tauchte er aus der Tiefe des Schlafes und der Besinnungslosigkeit auf. Wenn er das Kinn fest an die Brust preßte, konnte er an seinem Oberkörper vorbei und zwischen den breit gespreizten Füßen hindurch genau durch die offene Hotel-Toranlage, über ein Stück des Seespiegels hinweg und in die Richtung des Centers sehen. Bewegte er den Kopf geringfügig, so erkannte er auch die beiden dünnen Ketten, deren Enden sich mehrmals um seine Fußknöchel schlangen. Die Ketten selbst waren mindestens jeweils zehn Meter lang und endeten an zwei tragenden Säulen der Hotelhalle. Niemand war zu sehen. Prüfend bewegte
Froom die Beine und mußte feststellen, daß ihm die straff gespannten Ketten nur einige Zentimeter freien Spielraum erlaubten. Merkwürdigerweise war er nicht einmal verwundet. Er begann nur, um sein Leben zu fürchten. Aber da die gesamte Situation etwas Irreales und Unglaubwürdiges hatte, glaubte er in diesen Augenblicken jedenfalls noch nicht, daß er sterben würde. Er schien in die Hände eines Irren gefallen zu sein, denn diese Art der Fesselung war mehr als dramatisch. Prüfend bewegte er während dieser Gedanken die Arme. Sie waren ebenfalls – soweit er dies erkennen konnte – mit langen, dünnen Ketten an den Handgelenken gefesselt. Die Ketten liefen zu den anderen beiden Säulen der Halle. Froom Wirtz wartete. Ein weiterer Beweis dafür, daß dieser Raumhafen verwaist und sämtliche Schiffe menschenleer waren. Nur in einer total leeren Umgebung konnte ein solcher nächtlicher Überfall stattfinden. Kam dieses bösartige, schrille Gelächter von dem Mann, der ihn überfallen und bewußtlos geschlagen hatte? Jedesmal, wenn Froom den Kopf bewegte, durchfuhr ein stechender Schmerz den Hinterkopf, den Nacken und die Schultern. Froom grinste, aber da fiel ein Schatten auf ihn. Vielmehr war es eine dunkle Gestalt, die sich scharf gegen das helle, lichterfüllte Rechteck des Eingangs abhob und näherkam. Ein gebückt daherschlurfender Mann, der unter dem Arm eine große Kiste oder einen ähnlichen Gegenstand schleppte. Krachend stellte er die Kiste neben dem Eingang ab. Wirtz blickte ihm entgegen und wußte noch immer nicht, was er von allem halten sollte. Er entschloß sich, zu provozieren – oder es wenigstens zu versuchen. „Na, Alter, eine Menge Spaß gehabt?“ Es war wirklich ein älterer Mann. Er schien über fünfzig zu sein, aber sein Lumpen, die aufgerissenen Stiefel und das stoppelbärtige Gesicht mit den brennenden Augen, die tief in den Höhlen lagen, machten ihn viel älter. Er öffnete den Mund, in dem nur noch die Hälfte der Zähne waren, dann lachte er laut. Es war dasselbe Lachen, das Froom in der vergangenen Nacht mehrmals gehört hatte. Dann riß das Gelächter ab, und der Mann spuckte ihm auf den Bauch.
„Ich bin Stevmobäer!“ sagte er. „Ich bin der König dieser toten Stadt!“ „Du bist ein alter, verrückter Mann!“ erwiderte Wirtz und begann einzusehen, daß er in tödlicher Gefahr war. Er spannte die Muskeln seiner rechten Hand und spürte den Druck der Kette. Die kleinen Glieder rieben gegeneinander. „Du bist eingedrungen und wirst dafür getötet werden!“ stellte Stevmobäer grinsend fest. Unter den Löchern und zerschlissenen Stellen des Hemdes spannten sich erstaunlich gut entwickelte Muskeln. Die Haut an den Oberarmen und an den Schienbeinen war voller Schnitte und verschorfter Stellen. Insekten krabbelten aus den Stiefeln. „Was habe ich dir getan?“ fragte Froom und glaubte zu erkennen, daß sich der Knoten der Kette am rechten Handgelenk zu verschieben und um Millimeter zu lösen begann. „Du hast die Grenze verletzt! Du bist einer von denen, die glauben, daß wir auf der Innenfläche einer Hohlkugel leben!“ Es riß Froom einen halben Meter in die Höhe. Der Mann glaubte auch nicht an die Hohlwelttheorie. „Hör zu!“ Wirtz schrie fast vor Aufregung. „Ich bin dein Freund! Ich bin von den anderen ausgestoßen worden wie du auch!“ Der zerlumpte Mann mit den brennenden Augen und dem schulterlangen, verfilzten Haar sprang vor Wirtz auf dem dicken Teppich der Hotelhalle aufgeregt hin und her. „Ich bin ausgestoßen worden, das ist wahr!“ zischte er haßerfüllt. „Aber ich habe es ihnen allen gegeben. Ich habe in den großen und kleinen Raumschiffen dort draußen und überall sonst die Hypersender zerstört. Sie werden den Geist des Alls niemals mehr rufen können!“ Wieder lachte er, bis er sich atemlos zusammenkrümmte. Er schien Wirtz ganz vergessen zu haben. Wieder dieses hysterische, böse Lachen, das in seiner ausdrucksvollen Schärfe nur von den vielen Vorhängen und dem Belag des Bodens hier gedämpft wurde. „Ich weiß dasselbe wie du!“ schrie Wirtz aufgeregt. „Ich weiß, daß wir nicht in einer Hohlwelt leben!“ „Aber die anderen wissen es nicht!“ kicherte der Verrückte. Kein Zweifel, Stevmobäer war wahnsinnig geworden. Er war nicht unter den Druck der teilweisen Amnesie gefallen, aber er war –
unbeschadet dieses Teiles seiner Erkenntnisse – trotzdem verrückt. Und er hatte trotzdem oder gerade deswegen die wertvollen Sender in den leeren Schiffen zerstört! „Nein!“ stöhnte Froom auf. „Das ist mehr Glück, als wir zusammen ertragen können. Dieser verdammte Planet!“ Noch immer spannte und entspannte er die Muskeln seines Handgelenks und des Unterarms. Er versuchte, die lange Kette nicht anzuspannen, denn dann würden sich die Schleifen und Knoten wieder zusammenziehen. Er hatte sich vom Dschungellager bis hierher durchgeschlagen, um andere Menschen zu finden, die wie er nicht von diesem merkwürdigen Effekt betroffen waren. Bisher hatte er niemanden gefunden. Und ausgerechnet der erste, der nicht an die Hohlwelt glaubte, war verrückt. Und plante außerdem, ihn umzubringen… „Stevmobäer!“ sagte er mit aller Schärfe, deren er im Augenblick fähig war. Der Alte hielt in seinem verwirrenden Tanz inne und starrte in das Gesicht des gefesselten Froom. „König des Raumhafens!“ sagte er schroff. „So sollst du mich nennen, Todgeweihter!“ „Also gut, König des Raumhafens von Brantonfeyn!“ sagte Wirtz. „Ich bin dein Gefangener, aber aus jedem Gefangenen kann ein treuer Gefolgsmann werden. Befreie mich, und ich werde mit dir zusammen gegen diejenigen kämpfen, die dich ausgestoßen haben.“ Ihm kam dieser Dialog nicht weniger als verrückt vor, aber er versuchte eben, was am meisten Erfolg zu versprechen schien. „Ich habe einen grausamen Tod vorbereitet, den jeder Feind erleiden wird. Du bist der Feind!“ stellte Stevmobäer fest. Er blieb vor Wirtz stehen und starrte ihm in die Augen. Sein Gesicht strahlte Gnadenlosigkeit aus. Zum erstenmal konnte ihn Froom Wirtz genau betrachten. Stevmobäer war vielleicht fünfzehn Zentimeter größer als Froom. Er bewegte sich mit den abgehackten Bewegungen eines Irren, der seiner Grobmotorik nicht mehr ganz Herr war. Ein schmales, braungebranntes und stark verschmutztes Gesicht, das von Schrammen, entzündeten Mitessern und Bartstoppeln in eine Landschaft des Grauens verwandelt wurde. Die Nase war verbrannt und sprang kühn vor. Der Mund bildete einen schmalen Strich
inmitten der weißgrauen Bartstoppeln. Die Augen waren dunkel und schienen von innen heraus zu glühen. Es war der Blick eines Wahnsinnigen. Der Hals war schmutzig und voller Falten. Irgendwann schien Stevmobäer eine alte Jacke gefunden zu haben. Sie schlotterte zerfetzt um seine Schultern. Die Brust war frei. Dort hingen an dünnen Drähten allerlei Werkzeuge. Eine kleine Schere mit starken Schenkeln, ein Korken Öffner für Kronenkorken, mehrere Schlüssel für positronische Schlösser und Fetzen polierten Metalls, das keinen anderen als rein dekorativen Zweck zu erfüllen schien. Die Hose war ehemals blau gewesen; jetzt starrte sie vor Schmutz und zeigte riesige Löcher über den Knien, war an den Schienbeinen aufgerissen. Magere, aber muskulöse Beine steckten in einst braunen Stiefeln, die sich bald in ihre wenigen Einzelteile auflösen würden. Jetzt hob Stevmobäer einen Fuß, holte aus und versetzte Wirtz einen Tritt in die Seite. „Du stirbst!“ versicherte Stevmobäer. „Du stirbst ebenso wie die Sender in den Schiffen und die beiden Männer, die mich hier fangen wollten. Ich hole nur noch den Saft.“ Er drehte sich um und ging mit kurzen, seltsam eckigen Schritten, den Oberkörper vorgebeugt, aus der Halle hinaus. Froom Wirtz war allein. Er warf einen schnellen Blick auf die rostige Blechkiste, deren Seitenlänge etwa einen Meter zu zweimal sechzig Zentimeter betrug. „Verdammt!“ sagte Froom laut und fügte eine Anzahl ausgesuchter Flüche hinzu, die er von Riley gelernt hatte. Dann wartete er wieder. Nur die Muskeln seiner rechten Hand, seines Unterarms, bewegten sich ununterbrochen. Er glaubte, eine gewisse Lockerung der mehrfach um das Gelenk geschlungenen und dann geknoteten Kette festzustellen. Von der rostigen Kiste her kam ein summendes, knisterndes Geräusch. Es war sehr leise, aber es wirkte irgendwie gefährlich. * Spätestens zehn Minuten später merkte Froom Wirtz, daß seine Lage auf gespenstische Weise tödlich geworden war.
Stevmobäer kam die Treppe hoch, und als er sich Wirtz näherte, sah der Mann, daß Stevmobäer in der rechten Hand einen kleinen Eimer, in der linken einen Pinsel trug. „Ich bin hier der unumschränkte Herrscher des Raumhafens. Ich bin Stevmobäer, der König! Der König ist Herr über Tod und Leben.“ Mit erzwungener Ruhe fragte Wirtz: „Warum willst du mich töten? Ich kann mich nicht erinnern, dir etwas getan zu haben. Ich bot dir sogar meine Freundschaft an.“ Wütend zischte der Verrückte: – „Ich brauche keine Freunde. Ich werde jetzt deinen Tod einleiten.“ Er stellte den Eimer zwischen Frooms Beine und warf den breiten, dicken Pinsel daneben. Dann humpelte er hinüber zur Rezeption, verschwand hinter der Theke und schaltete mehrmals. Wirtz hörte ein Krachen aus versteckten Lautsprechern, dann ertönte ein dumpfer, rhythmischer Gesang, untermalt vom schmetternden Krach der Trommeln und von Flöten, Gitarren und Schlagwerk. Laut dröhnten die Klänge durch diesen Teil des Hotels. „Musik weiht die schönsten Stunden des Lebens!“ schrie Stevmobäer und kam wieder näher. Er griff den Pinsel, tauchte ihn tief in den Eimer und zog ihn wieder hinaus. Dann fiel er auf die Knie und fuhr mit dem Pinsel, von dessen Borsten eine bernsteinfarbene, zähe Flüssigkeit in langen Fäden tropfte, über den Bauch und die Brust des Terraners. „Das ist der ungenießbare Honig der Franckabienen!“ murmelte der Wahnsinnige. Er begann, den Körper des Terraners methodisch mit dieser klebrigen, süß und aromatisch riechenden Flüssigkeit einzustreichen. Die Brust, das Gesicht, die Arme und die Achselhöhlen. Als der wilde Honig zwischen den Lippen Frooms auf die Zunge tropfte, spuckte der Terraner aus. „Was hast du vor, du Idiot?“ gurgelte er. Er fühlte, wie ihn wieder der kalte Zorn erfaßte. Aber er konnte nichts anderes tun als sich aufbäumen. Und das war sinnlos und erschöpfte nur seine Kräfte, erzeugte mehr und mehr Schmerzen. „Ich werde dich langsam sterben lassen. Einen Tod, den du niemals vergessen wirst!“ versprach der Irre und bepinselte liebevoll das rechte Knie und das Schienbein des rechten Fußes mit der
klebrigen Substanz. Vorsichtig spannte Froom seine Muskeln und riß dann ruckartig den Fuß hoch. Das Knie traf den Irren am Kinn, der Oberschenkel schleuderte ihn einen Meter weit und warf ihn über den kleinen Honigeimer, der dabei umfiel. Als sich Stevmobäer, schäumend vor Wut, wieder aufrichtete, sagte er leise und lauernd: „Es nützt dir nichts. Wehre dich ruhig, Eindringling! Dein Sterben wird dann länger dauern und schöner sein. Sie mögen den Honig nicht, aber er reizt sie zum Wahnsinn!“ Froom war schwer wieder auf den Boden aufgeschlagen. Jetzt sah er, daß auch der gesamte Körper des Wahnsinnigen vom Honig troff. Der Kübel war halb zerquetscht, und das klebrige Zeug sickerte langsam in den Teppich ein und verbreitete einen stechend süßen Geruch. „Niemand wird dir helfen!“ murmelte Froom. „Du tötest deinen einzigen Freund. Ich würde mit dir in die Stadt gehen und die anderen strafen!“ versprach er. „Sie sind gestraft genug, weil sie mich ausgestoßen haben!“ kicherte der Irre und ließ den klebrigen Pinsel genau auf den Magen des Terraners fallen. Dann ging er mit seinen kleinen Schritten auf die Blechschachtel zu, hob sie ächzend auf und schlug mit der flachen Hand mehrmals auf die Seiten. Er stellte die Kiste drei Meter von Wirtz’ rechtem Fuß auf und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf einen trockenen Abschnitt des dunklen Teppichs. „Rat mal, was hier in der Kiste ist?“ fragte er und lachte wieder bis zur Erschöpfung. Nachdem der Nachklang dieses irren Lachens verhallt war, sagte Wirtz laut: „Vermutlich deine Schätze, du dreckiger Idiot!“ Der alte Mann kicherte und hieb wieder gegen die Blechwände. „Lebendige Schätze. Ein paar tausend Graavies!“ sagte er. „Kennst du die Graavies?“ „Ja!“ würgte Froom. Am ganzen Körper brach ihm der kalte Schweiß aus. Er vergaß sogar, seine Muskeln zu lockern und spürte weder Ketten noch Schmerz, als er sich mit Schulterblättern und Gesäß hochstemmte und hilflos an den Fesseln riß und wieder auf den Boden zurückgeprellt wurde. Es half nichts. Er kam nicht davon los. Graavies! Es waren ameisenartige Tiere, deren mehrfach abgeschnürter Körper so groß wie ein menschlicher Finger war. Sie
bewegten sich rasend schnell auf acht Beinen. Wer im Dschungel liegenblieb, wurde von ihnen binnen einer Stunde bis auf das Skelett abgenagt. In vielen Gegenden Wiga-Wigo hatte Wirtz die Straßen dieser behenden, flinken Tiere gesehen, die sogar Bäche durchschwimmen konnten. Sie waren mörderischer als die schlimmsten terranischen Riesenameisen. Sie waren jetzt, durch die Hiebe gegen die blechernen Wände des Kastens, rasend aufgeregt und witterten mit Sicherheit den Honig. „Ich kenne Graavies. Eines Tages wirst du von ihnen gefressen werden!“ sagte er lahm. Diese Tiere, deren Freßlust durch den langen Aufenthalt in der Blechkiste ins Unerträgliche gesteigert worden war, würden ihn bei lebendigem Leib auffressen. Von allen möglichen Stellen aus würden sie ihre Chitinkiefer und die spitzen Mandibeln in sein Fleisch schlagen. „Und jetzt“, sagte der Wahnsinnige und krallte seine Finger um den Rand des Deckels, „werde ich zusehen, wie du langsam stirbst, Fremder!“ Scheppernd flog der Deckel davon. Stevmobäer blieb sitzen und starrte den Rand des Kastens an. Das Summen und das Knistern von Tausenden Insektenleibern wurde schlagartig lauter. Dann steckte der erste Graavie seinen Kopf über die Kante, spielte aufgeregt mit den Fühlern und lief dann die senkrechte Wand hinunter. Er rannte lautlos, mit den acht dünnen Beinchen krabbelnd und rudernd, über den Teppich und erreichte den ersten Tropfen des Wildbienenhonigs. Das Insekt wurde halbwegs wahnsinnig. Es schlug die Kiefer in den Teppich und zerrte daran. Inzwischen waren oben zehn, zwanzig, vierzig, achtzig Insekten aufgetaucht und warteten. Der erste Graavie rannte zurück, glitt die senkrechte Kastenwand wieder hinauf und signalisierte mit seinen Fühlern. Entsetzt sah Froom Wirtz zu. Das Lachen des Wahnsinnigen begleitete auch die folgenden Szenen. Wieder rannte das erste Mordinsekt die Wand herunter. Die anderen folgten. Zuerst bildeten sie einen stumpfen Keil, der sich
immer mehr auseinanderzog und zu einer Reihe formierte, deren Spitze auf die Sohle des linken Fußes Wirtz’ deutete. Schnell kamen die Tiere näher. Wirtz machte sich auf die erste Berührung der Fühler, den ersten beißenden Schmerz gefaßt. Er zitterte. Todesangst lähmte ihn. Er starrte mit hervortretenden Augen auf die näherkommenden Tiere. In diesen schrecklichen Sekunden verwandelten sie sich durch einen unerklärlichen Effekt, den der Verstand hervorbrachte, in riesige Insekten wie aus einem Horrordrama. Unbarmherzig kamen sie auf der Honigspur näher. Der kalte Schweiß biß in den Augen von Froom Wirtz, aber der Terraner merkte es nicht. * Am 17. März 2843, genau sieben Minuten nach Mitternacht, warf Atlan einen Blick auf den Heckschirm. Er sah das große, von gelbem Licht gebildete Viereck der Schleuse. Langsam schoben sich die beiden Portale wieder zusammen. Die vollkommene Tarnung der felsbedeckten Stahlplatten wurde wieder wirksam – noch nicht eines von den vielen Milliarden raumfahrenden Wesen hatte den ausgehöhlten Felsenmond entdeckt, der heute den Namen QuintoCenter trug. Die STARTRAIN wurde schneller. Der Funker murmelte eine letzte Bemerkung an die Hangarmannschaft in seine Mikrofone und schaltete dann diesen Kanal ab. „Sir! Es ist alles klar!“ sagte Lutz, der schnurrbärtige kleine Pilot. „Gut. Wie schon gesagt: fliegen Sie, was die Maschinen hergeben. Aber keinerlei unsinniges Risiko!“ Lutz zupfte an seinem Bart und grinste kurz. „Wie immer!“ sagte er leise. „Wir sind am Überleben ebenso wie jeder andere interessiert.“ Die Mannschaft wußte noch nichts von den Instinktspezialisten. Auch hatte noch keiner der zwölf Männer eine Ahnung, wohin sie fliegen würden. Und davon, daß auf Wiga-Wigo ein blockierter oder toter Instinktspezialist wartete, wußte im Augenblick nur Atlan. Der Arkonide war in Sorge, aber trotzdem hatte er Sellbegg
Garobier in Quinto-Center zurückgelassen. Du hast ganz einfach keine Ruhe mehr! stellte das Extrahirn fest. Du mußt dich ins Abenteuer stürzen, obwohl du auch andere Männer mit den Nachforschungen hättest betreuen können! Die Korvette, deren Durchmesser sechzig Meter betrug, wurde schneller. Sie war nichts anderes als ein Späherschiff. Die zwölfköpfige Besatzung sollte zusammen mit Atlan herausfinden, warum Froom Wirtz versagt hatte. Inzwischen war es auch auf dem letzten Asteroiden dieses Raumbezirks bekannt, daß Perry Rhodan in Kürze den Planeten Komouir, die Welt der Schwingungskristalle, besuchen würde. Das war das Stichwort, das Froom hätte in Bewegung setzen müssen. Nur etwas mehr als 5,8 Lichtjahre vom Tiffak-System entfernt war der Planet Wiga-Wigo. Atlan löste seinen Blick vom Schirm und trat neben den Piloten. Er legte Lutz die Hand auf die Schulter und sagte: „Hier haben Sie das genaue Ziel, Lutz.“ Er legte eine Karte mit den Daten für den Schiffsspeicher auf das Pult des Piloten. „Planet Wiga-Wigo im Deylight-System!“ sagte Lutz halblaut, „Kenne ich. Trotzdem werde ich die Daten abrufen. Frage, Sir: Was tun Sie eigentlich auf dieser langen Fahrt?“ Atlan grinste und sagte: „Ich denke über meine eigene Unzulänglichkeit nach und versuche die Gründe hierfür zu analysieren.“ Spaßvogel! kommentierte der Extrasinn. Der schnelle Routineflug zu dem angegebenen Ziel begann. Die Männer konnten nicht wissen, daß es alles andere als ein Routineflug werden würde. Die Korvette wurde schneller und ging schließlich in den Linearraum.
2. Froom Wirtz verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Er spürte, wie sein ganzer Körper von der Todesfurcht ausgefüllt war. Es schien – dieser wahnwitzige Gedanke fuhr ihm sekundenschnell durch seinen Verstand – wie eine Art Austausch des Blutes und aller Körpersäfte zu sein. Statt dieser Flüssigkeit zirkulierte Angst durch seinen
Kreislauf. Er verlor vorübergehend den Kontakt zu der Wirklichkeit und konzentrierte seine letzte Beherrschung auf den Augenblick, an dem das erste Rieseninsekt seinen Fuß angreifen würde. Einige Sekunden vergingen. Ihm kamen sie wie Ewigkeiten vor. Er schloß die Augen und merkte nicht, wie er weiterhin ununterbrochen seine Muskeln im rechten Handgelenk anspannte und lockerte. Immer mehr Insekten kamen aus dem verrosteten Blechbehälter. Noch immer dröhnte die alte Musik, rituelle Klänge, von längst ausgestorbenen Stämmen irgendwo in der Ostseite der Milchstraße. Zwischendurch hörte Wirtz, ohne es richtig wahrzunehmen, das schrille Lachen dieses Wahnsinnigen, der sich König des Raumhafens nannte. Das Gelächter wurde lauter, und lauter. Die Trommeln hörten plötzlich auf. Nur noch Saiteninstrumente und Flöten waren zu hören. Und die knisternden, summenden Geräusche der Graavies. Dann, plötzlich, schlug das Gelächter in einen langen, gellenden Schrei um. Mit einem harten Ruck kam Froom in die gefahrvolle Wirklichkeit zurück. Mühsam stemmte er sich in den Schultern hoch und richtete seine Augen dorthin, woher der Schrei gekommen war. Der Wahnsinnige! Stevmobäer richtete sich auf und ruderte wild mit den Armen. Seine Beine und Oberschenkel waren mit Insekten bedeckt, die immer mehr wurden und zwischen den Fetzen der Hose und der Haut verschwanden. Sie glänzten, weil sie über und über mit dem sirupartigen Honig bedeckt, waren. Aber viele von ihnen krabbelten nicht mehr, sondern verbissen sich in die Haut des Mannes. Er sprang jetzt auf und versuchte, davonzurennen. Hunderte von Graavies waren auf seiner Brust und seinem Rücken. In die Musik mischten sich die Schreie des Irren. Er rutschte im Honig aus und fiel mitten in den breiten Strom der heraneilenden Tiere. Mit einem Arm schlug er schwer gegen die Kante des Kastens und glitt daran entlang. Er warf den Kasten um, und gleichzeitig fügte er sich selbst eine lange Schnittwunde zu. Der restliche Inhalt des Kastens ergoß sich über ihn. Aus der breiten Wunde begann das Blut zu tropfen. Es traf die Insekten und
erzeugte bei ihnen einen wahren Blutrausch. Stevmobäer wischte sich mit einer verzweifelten Handbewegung einige Dutzend Graavies aus dem Gesicht. Aus vielen kleinen Wunden lief das Blut über seine Stirn, die Augen und die Wangen. Abermals versuchte er, sich aufzurichten. Und wieder rutschte er nach einigen Schritten aus und fiel krachend um. Sämtliche Insekten, es mochten einige Tausende sein, konzentrierten sich jetzt auf Stevmobäer. Fast kein Quadratmillimeter seiner Haut war mehr zu sehen. Überall war Blut. Der Wahnsinnige schrie ununterbrochen. Seine Schreie und die Musik bildeten eine Geräuschkulisse, die einen normalen Menschen verrückt werden lassen konnte, und Froom, der ohnehin am Rand seiner Vernunft entlang balancierte, fühlte seine letzten Reserven schwinden. Die Graavies fraßen sich in die Ohren, in die Nase und die Lippen. Sie verbissen sich in jeden Millimeter der Haut. Der Schrei, den Stevmobäer ausstieß, als er erblindete, ließ den Gefesselten erbleichen. Langsam und in einer Folge automatischer Bewegungen robbte und kroch der Wahnsinnige in die Richtung auf die offene Tür, beleitet von den Klängen der rituellen Musik. Tausende Graavies folgten ihm. Der Körper war schwarz von wimmelnden Insekten, die fingerkuppengroße Fleischstücke herausrissen und dann davonliefen. Sie formierten sich langsam zu einem Zug, der Stevmobäer überholte. Ein breites Band der fingerlangen Tiere erstreckte sich zwischen den Flecken des klebrigen Honigs, zwischen den Blutlachen, dem rostigen Kasten und dem menschlichen Wrack, dessen Wimmern immer leiser wurde und in ein würgendes Husten überging, als sich die Tiere einen Weg in die Rachenhöhle gebahnt hatten. Dann kippte Stevmobäer langsam über die Treppe und zerquetschte in seinem Fall Hunderte von Insekten. Dann schwieg der Sterbende. Wieder starrte Froom Wirtz mit einem irren Blick die Tiere an. Sie schienen ihn völlig vergessen zu haben. Nur ein paar dieser kleinen Bestien rannten unschlüssig zwischen seinen Füßen herum, wandten sich dann dem Blut zu, bildeten nach einiger Zeit eine Gruppe und rannten über den klebrigen Teppich auf den Ausgang zu. Froom ließ sich zurücksinken. Als er mit dem Kopf aufschlug,
zuckte wieder der stechende Schmerz durch den Nacken. Er atmete ein und aus, dann fühlte der Mann, daß sich klirrend die dünne Kette um sein Handgelenk zu bewegen schien. Stöhnend bewegte er den Kopf. Tatsächlich! Die Windungen, die noch vor neunzig Minuten ziemlich straff gewesen waren, hatten nachgegeben und waren, vermutlich auch deswegen, weil der Honig zwischen die Glieder geraten war, lockerer. Vorsichtig drehte und wandte Wirtz die Hand und das Handgelenk. Die Kette begann zu rutschen. Die Musik wurde wieder lauter und übertönte das reibende Geräusch der Kettenglieder und die keuchenden Atemzüge des Terraners. Wirtz wußte, daß die Insekten zurückkommen konnten, und die Vermutung, daß der Geruch auch die wilden Hunde oder andere Tiere anlocken konnte, lag nahe. Dann, unvermittelt, glitten die Ketten über den Daumenballen und die Finger. Die rechte Hand war frei. Augenblicklich richtete sich Froom auf und begann, auch die linke Hand zu befreien. Ihn ekelte vor den klebrigen Fingern und seiner Haut, die überall zu jucken begann. Trotzdem lockerte er den mehrfachen Knoten relativ schnell und konnte sich, nachdem auch die linke frei war, aufrichten. Drei Minuten später kauerte er erschöpft auf dem Boden. Die Spuren des Dramas zeichneten sich deutlich ab. Von seinen nackten Gliedern tropfte zäh der Honig. Überall waren trocknende Blutlachen, zertretene und zuckende Insekten, die im Tod ihre Kiefer in den Teppich geschlagen hatten. Blutstropfen, Schleifspuren und eine breite Reihe zertrampelter Graavies kennzeichneten den letzten Weg des „Königs“. Froom schüttelte sich und hinkte zur Treppe. Dort unten, unkenntlich unter einem quirlenden Haufen rasender Insekten, lag Stevmobäer. Er war tot. Aus dem schwarzen Gewimmel ragte eine Hand heraus. Nur noch die weißen Knochen waren zu sehen. Froom schloß die Tür und wandte sich ab. Dann ging er schleppend in die Richtung seines Zimmers und injizierte sich, nachdem er die Musikbänder ausgeschaltet hatte, ein Mittel gegen die Schmerzen. Schließlich drückte er wieder sämtliche Knöpfe in der Hygienezelle und überließ sich dem Programm der Dusch- und Massagemaschinen. Er kam langsam zu sich, und mehrere Gläser hochprozentigen
Schnapses halfen ihm dabei. * Er erwachte wieder am frühen Nachmittag. Sein Verstand hatte sich gegen den Wahnsinn gewehrt und die Vorstellungen, Empfindungen und Spiegelbilder des ausgestandenen Schreckens verdrängt. Als sich Wirtz’ Gedanken wieder geklärt hatten, merkte er, daß die schrecklichen Stunden des frühen Morgens irgendwo in der Ferne zu liegen schienen. Ein gutes Zeichen war, daß er Hunger hatte. Er hielt nicht viel von unsinniger Hast und Eile. Er zog sich an, stellte sich ein Essen zusammen und ging etwa vier Stunden vor Sonnenuntergang hinaus, um in den abgestellten Schiffen zu suchen. Er suchte ein intaktes Hyperfunkgerät, das der Irre vergessen haben mochte. * Froom Wirtz verstand und konnte vieles, aber er vermochte kein Raumschiff zu steuern. Er traute sich viele einfache Schaltungen zu, vielleicht auch einen miserablen Start, aber nicht viel mehr. Zunächst hatte er alle größeren Schiffe, zumeist ältere Frachter, untersucht. Sämtliche Funkgeräte waren zerstört. Der wahnsinnige „König“ hatte mit einem schweren Hammer, oder einem ähnlichen Werkzeug, die Geräte zerschmettert. Froom konnte ihn sich gut vorstellen, wie Stevmobäer Tag um Tag durch das Gelände des Raumhafens streifte und nach Kommunikationsgeräten suchte. Dann schlug er wie ein Berserker auf die kostbaren Geräte ein und zertrümmerte sie so, daß sie nicht mehr zu reparieren waren. Auch die meisten Normalfunkgeräte hatte er auf diese Weise für immer zum Schweigen gebracht. Froom richtete sich auf und warf einen letzten Blick auf die Trümmer vor ihm. Jetzt befand er sich, nachdem er ein Dutzend der größeren Schiffe durchsucht hatte, in der großen, runden Kontrollkabine des Towers. Wirtz zögerte etwas. Ihm fiel jetzt ein, daß er plötzlich bestimmte Fähigkeiten zeigte, von denen er vor seinem Abflug von dem
Gelände der Klondike-Bahn nichts geahnt hatte. Wer oder was sagte ihm, wie man aus der Fessel einer kleingliedrigen Kette herauskam? Wer hatte ihm die Kenntnisse beigebracht, die er brauchte, um Türen und Luken zu öffnen und in sämtliche Räume der Raumhafeneinrichtung vorzudringen? Von wem wußte er, wie stark ein Gerät zerstört sein mußte, damit man es nicht mehr reparieren konnte? Von woher besaß er dieses Wissen? Er zuckte die Schultern und tröstete sich damit, daß er, wie viele andere Menschen, mit steigendem Alter auch größere Erfahrung besitzen müsse. Jedenfalls gab es auch hier kein Gerät, mit dem er in den Raum hinausfunken und Hilfe für sich und einen Planeten herbeirufen konnte, dessen Bewohner einen Teil ihres Gedächtnisses verloren und durch blanken Unsinn ersetzt hatten. Enttäuscht fuhr er mit dem Antigravlift nach unten und ging zurück ins Hotel. Morgen wollte er versuchen, Brantonfeyn zu erreichen. * Mitten in der Nacht fuhr Froom schweißgebadet in die Höhe. Wieder standen die Ereignisse dieses fürchterlichen Morgens vor seinem inneren Auge. Er schüttelte sich und wankte zum Fenster, riß es weit auf und blickte auf den Wasserspiegel des Sees hinaus. Dort spiegelten sich die Sterne über Wiga-Wigo und die wenigen Lichter, die von Wirtz nicht ausgeschaltet worden waren. Gierig sog er die Luft ein. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm sich ein Glas voller Eisstückchen und setzte sich auf das breite Fenstersims. In einem der Schiffe hatte er einen schweren Kombinationsstrahler mit Gürtel und mehreren Energiemagazinen gefunden; diese Waffe lag neben dem Kopfteil des Bettes. Was sollte er tun? Er war allein auf diesem Platz, und seine Möglichkeiten schienen bald restlos erschöpft zu sein. Langsam trank, rauchte und überlegte Froom Wirtz. Er ließ seine Augen hin und her schweifen, versuchte, die Gegend zu erforschen, die in der Nacht anders wirkte als am Tag. Niemand war hier. Nichts schien in der Dunkelheit zu lauern. Es gab weder dieses irrsinnige Gelächter, das von dem Wahnsinnigen gestammt hatte. Gegen Abend hatte Froom das Gerippe, das nur
noch von einigen Sehnen zusammengehalten wurde, im Gelände des Hotels begraben. Okay, dachte er. Morgen geht es weiter! Er vertraute darauf, daß er ausgeschlafen und völlig Herr seiner geistigen und körperlichen Kräfte war. Und außerdem gab es noch diesen Zuwachs an Erfahrungen und Kenntnissen, dessen Quelle ihm unbekannt war. * Gegen Mittag war Froom Wirtz fertig. Es war eine frustrierende Arbeit gewesen; eine Suche, die nur zertrümmerte und durch Strahlerschüsse unbrauchbar gemachte Fernfunkgeräte erbracht hatte. Wirtz hatte hier nichts mehr zu suchen. Er nahm die Jacke, die er irgendwo gefunden hatte, und die ihm hervorragend paßte, steckte die Energiemagazine hinein und schwang sich in> den Gleiter mit der Aufschrift des Hotels. Zwei Stunden später konnte er in Brantonfeyn sein. Dort mußte er weitersehen. Er kurvte mit der Maschine aus dem Bezirk rund um Raumhafen-Center, Tower und Hotel heraus, glitt hinaus auf die breite Gleiterpiste, die direkt nach der Stadt führte. Wirtz mußte selbst steuern, es gab hier noch keine Verkehrsüberwachung durch Großrechenanlagen. Er blickte nach links und rechts, aber er sah nur Zeichen der Landschaft, die er ohnehin kannte. Das helle Band der Verbindungspiste schlängelte sich entlang von Hügeln, schnitt durch Wald und Dschungel, durchquerte eine riesige automatische Farm und raste weiter. Dann kam ein breiter Sandstreifen, den die Straße durchquerte. In dem Sand gab es große unterirdische Berieselungsanlagen, die runde Zonen aus Grün schuf, künstliche Oasen. Zwanzig Meter vom Straßenrand entfernt stand ein schwerer Lastengleiter mit dem gelb lackierten Langstreckenfahrerhaus. Auf dem breiten Trittbrett stand eine seltsam aussehende Gestalt. Froom bremste die schnelle Fahrt des Gleiters ab und steuerte über den Straßenrand hinaus, hielt neben dem Lastengleiter und starrte, die Hand zum Schutz gegen die Sonnenhelligkeit über den Augen, den Fremden an.
Er sah reichlich merkwürdig aus. Weiße, neue Raumfahrerstiefel baumelten vom Trittbrett, als sich der Mann hinsetzte. Er trug ein Gewand, ähnlich dem weißen Überwurf von Wüstenbewohnern. Anstelle einer Brille sah Froom zwei große, runde Glasflächen, die in viele Facetten aufgebrochen waren. „Ich bin Froom Wirtz“, sagte Froom und hob die Hand. „Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?“ Jetzt sah er, daß das Gesicht des Mannes eine einzige Narbe war. Radioaktive Verbrennungen! durchfuhr es ihn. Ein rotes Gesicht voller wuchernder Haut, bartlos und mit vielen kleinen Narben. „Shann!“ sagte der andere. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme. „Kilter Shann.“ „W äs tust du hier?“ „Ich warte!“ sagte Shann. „Ich fand mich irgendwann hier. Ich habe die Tage nicht gezählt. Ich fand, von dort kommend, diesen leeren Wagen. Er ist mit allem ausgerüstet, was ich brauche.“ Diese riesigen Glasfacetten, die dem Fremden das Aussehen einer Eule verliehen, mußten also künstliche Sehorgane sein oder Geräte, die geschädigten Augen weitestgehend halfen. Froom sah, daß auch die Handrücken beschädigt waren, als der Fremde in die Richtung der Stadt deutete und fragte: „Worauf wartest du? Woher kommst du? Du scheinst kein Bewohner dieses Planeten zu sein?“ „Ich weiß es nicht genau. Ich komme aus einer anderen Gegend. Ich warte darauf, daß mich jemand in die Stadt mitnimmt.“ Wirtz bestätigte ruhig: „Dann hast du also auf mich gewartet. Wie gut kannst du sehen – soll ich dir in den Gleiter helfen?“ Shann schüttelte den Kopf und erklärte: „Ich sehe ziemlich gut mit diesen Geräten. Gut genug, um alles genau zu erkennen. Ich würde mich freuen, wenn du mich in die Stadt mitnehmen würdest. Sie heißt…“ „Brantonfeyn!“ sagte Wirtz. „Steig ein.“ Shann griff hinter sich, holte eine schwere Tasche mit breitem Schulterriemen aus der Kabine des Lastzugs und schwang sich vom Trittbrett hinunter in den Sand. Auf der Tasche war der Aufdruck einer bekannten privaten Raumfahrtgesellschaft, dasselbe Zeichen,
das Wirtz an den Frachtschiffen gefunden hatte. Der Mann vor ihm, der eben nach der Lehne des Beifahrersitzes griff, war also ein Raumfahrer. „Ich komme. Was hast du in der Stadt vor?“ „Dieses und jenes“, wich Froom aus. „Ich weiß noch nicht recht. Ich sehe mich erst einmal um. Hast du noch etwas Wichtiges in dem Lastengleiter dort drüben?“ Shann verzog sein entstelltes Gesicht zu einer Grimasse, dem narbigen Äquivalent eines Lächelns. „Nur einige unschöne Erinnerungen!“ sagte er leise. „Versuchen wir unser Glück also in Bran…“ „Brantonfeyn!“ half Wirtz aus. „In Ordnung. Hast du Geld?“ „Mehr als genug. Sollte reichen. Du nicht?“ Froom schlug auf seine Brusttasche und meinte vergnügt, an die letzten Einnahmen seiner Bahn denkend: „Doch, genügend!“ Der Gleiter schwebte wieder hinauf auf die Piste, wurde schneller, und jetzt dachte Froom auf einmal daran, das Bordradio einzuschalten. Die Stadt schien sich, das wurde schon nach den ersten Meldungen mit eindeutig lokalem Bezug, in eine Art Irrenhaus verwandelt zu haben. Eine Stadt nämlich, in der schlagartig alles, was mit Raumfahrt, Weltraum und somit auch mit den Vorkommnissen außerhalb des eigenen Planeten zu tun hatte, nichts mehr galt. Aber dadurch fiel auch vieles aus. Die Schäden erzeugten eine Art Kettenreaktion, die sich bis in die feinen, einzelnen Verästelungen hin fortsetzte. An einigen Dingen, die bisher laufend importiert wurden, mangelte es, und jene Güter, die man exportierte, stapelten sich bis an die Decken der Lagerhäuser und bis zum letzten Winkel in den Magazinen. „Irgendwie scheinen sie gewisse Schwierigkeiten zu haben“, murmelte Wirtz und versuchte, sich seine weiteren Schritte vorzustellen. Eine deutliche Ahnung, neuer aufziehender Schwierigkeiten, ergriff ihn. „Die aus der Stadt, nicht wahr? Ja, es sieht etwas Merkwürdig aus. Offensichtlich schlecht geplant.“ Froom versuchte einen vorsichtigen Vorstoß, um seine Befürchtungen bestätigt zu bekommen. „Sie scheinen vor einiger Zeit noch ihre Exporte weggeschafft zu
haben. An einen weit entfernten Platz, von dem auch die jetzt mangelnde Ware kam!“ „So scheint es zu sein!“ bekräftigte Shann und lehnte sich bequem zurück. „Aber welches ferne Land meinen sie? Sie müssen doch diese Hohlkugel inzwischen auswendig kennen.“ Also doch! dachte Froom. Also war auch dieser Raumfahrer ein Opfer dieser idiotischen Massenpsychose. Aber es war nicht so einfach – die Gründe der Verwirrung mußten tiefer liegen. Bisher kannte er zwei Menschen, die nicht von dieser Psychose erfaßt worden waren, und beide waren tot – der „König“ ebenso wie Helvin Proterrand aus Menschende. Die ersten Häuser und Baumgruppen tauchten auf, die erste Straßenbrücke schwang sich elegant über die Piste, die einen scharfen Bogen machte und nun in die Vororte einmündete. Froom lauschte weiter den Nachrichten und den Kommentaren und überlegte sich, daß es besser wäre, ein Apartment zu mieten, anstatt ins Hotel zu gehen. Er war beweglicher und freier. Außerdem… Shann unterbrach ihn. „Du gehst ins Hotel?“ fragte er. „Nein, wahrscheinlich nicht. Ich werde, falls es das gibt, hier in Brantonfeyn eine kleine Wohnung zu mieten versuchen.“ „Das ist klüger. Brauchst du einen Hausgenossen?“ Froom winkte ab. „Ich vertrage weder Hunde, Katzen noch Singvögel in meiner Nähe.“ Der Raumfahrer ließ ein dröhnendes Lachen hören. „Ich meinte damit eigentlich mich. Für die Zeit, die ich brauche, um einen vernünftigen Job zu finden, könnten wir uns eigentlich zusammentun.“ Wirtz fuhr etwas langsamer und musterte die gepflegten Häuser in den Gärten voller alter Bäume. „Keine schlechte Idee. Gut, warum nicht. Nehmen wir zusammen eine Wohnung. Kennst du die Stadt?“ „Ja, ich war ein paarmal hier. Ich kenne zumindest die Stelle, an der man sich nach freien Wohnungen erkundigen kann.“ „Also“, sagte Wirtz. „Nichts wie hin!“ „Dann mußt du links am ersten großen Platz abbiegen!“ Wirtz beobachtete die Fahrzeuge, die Menschen und alles, was er
sehen konnte, mit scharfen Augen und versuchte, die Informationen richtig zu deuten. Das Wort Unruhe drängte sich schon nach wenigen Minuten auf. Überall bildeten sich Gruppen, die sich schnell wieder zerstreuten. Die Fahrzeuge schienen langsamer als sonst zu fahren. Immer wieder erkannte er zwischen den unzähligen völlig normalen Verrichtungen und Handlungen die Auswirkungen des fehlenden Verständnisses in einem speziellen Punkt. Der Platz öffnete sich vor dem Gleiter. Ein verhältnismäßig riesiger Platz im Zentrum der Stadt, mit einem mehrfachen Ring von Bäumen verziert und mit mehreren Springbrunnanlagen. Ein Kreisring aus großen, sehr angenehm gestalteten Fassaden umgab dieses Zentrum. Brücken und unzählige Läden, Restaurants und Büros glitten am Fahrzeug vorbei. Der ehemalige Raumfahrer deutete nach links. „Dort, in dem gelben Parkhaus, dort ist das Büro. Du kannst gleich abbiegen.“ Minuten später stand der Gleiter, und beide Männer bewegten sich durch einen breiten Korridor auf die Glaswand der Vermittlungsstelle. Froom ließ sich mehrere Angebotsfilme vorführen und entschied sich dann für ein mittelgroßes, voll eingerichtetes Apartment, das etwa fünfhundert Meter von dem großen Platz entfernt lag. Er gab seine Personalien an, leistete eine Vorauszahlung und erhielt zwei positronische Schlüssel. Zwanzig Minuten später sah er von der Brüstung der großen Terrasse hinunter auf die Stadt und sagte zu Shann, der neben ihm stand: „Gefällt’s?“ „Fast zu schön. Du scheinst nicht gerade sehr arm zu sein.“ „Alles andere als reich!“ bestätigte Froom sarkastisch. „Wie steht es mit dem Inhalt der Vorratsfächer, Eisschränke und Barfächer?“ Shann lachte auf. „Alles leer, sauber, gereinigt. Man kann jede Menge einkaufen. Außerdem sind die Nummern der betreffenden Firmen auf den Interkom geklebt.“ Froom nickte. Im Augenblick wußte er noch nicht, wie seine unmittelbar folgenden Schritte ausfallen würden. „Ich werde mich erst einmal vor das Gerät setzen und die Lage in der Stadt sondieren“, sagte er. „Du nimmst das Zweitgerät und wählst aus, was wir für die nächste Woche brauchen. Vergiß nicht, dir einen anständigen Anzug zu bestellen. Die Kolonisten hier, die
Stadtbewohner“, er verbesserte sich noch innerhalb dieses Satzes, weil er gemerkt hatte, daß auch dieses Wort seine richtige Bedeutung verloren hatte, „in ihrer Überheblichkeit haben dich ziemlich verblüfft angestarrt!“ „In Ordnung“, meinte Shann. „Mag sein, daß du recht hast, Freund Froom.“ Minuten vergingen, dann brachte ein Robotbote die angeforderten Waren. Es waren vier gewichtige Kisten. Sie enthielten alles, was zwei Männer brauchten, um sieben Tage zu überleben – nach der eigentümlichen Auffassung Kilter Shanns. Alkoholika, sehr viele Konserven und alle anderen Genußmittel waren in Mengen vorhanden. Wirtz zahlte und stapelte das Zeug in die verschiedenen Fächer der Küche. Dann schaltete er den Interkom ein, warf sich mit brennender Zigarette in einen Sessel und sah zwei Stunden lang fern. Dann wußte er ziemlich genau, was er zu tun hatte. Er würde nach wie vor seinen Plan verfolgen, „Immune“ zu suchen und zu finden. Aber jedes Wort davon, daß er von der Hohlwelttheorie nichts hielt, würde ihn binnen kurzer Zeit in ein Sanatorium bringen, weil er sich gegen das richtige Wissen stellte. Man würde ihn für verrückt erklären. Jetzt verstand er die Verzweiflung von Männern wie da Vinci, Kopernikus oder Giordano Bruno. Sie hatten sich damals auf der Erde in derselben Situation befunden wie er hier. Sie wußten objektiv mehr, aber sie standen damit gegen die subjektive und objektiv falsche Meinung der streitsüchtigen Mehrheit. Aus der Robotküche schrie Kilter Shann: „Hast du Hunger, Froom?“ „Ja!“ brüllte Wirtz zurück. „Aber ich fürchte mich vor deinem Essen. Was kann man aus Whisky, Kaffee und Zucker schon herstellen?“ Die Antwort verblüffte sogar ihn. „Unter anderem Irish Coffee!“ schrie der ehemalige Raumfahrer. „Aber ich habe eine Menge eßbarer Sachen komponiert.“ Wirtz ging ins kleine Speisezimmer und fand anschließend, daß er einen wichtigen Hausgenossen gefunden hatte. In der Tat kochte der Raumfahrer hervorragend. Als er aufstand und den Schirm abschalten wollte, las er die
flimmernden Buchstaben eines Klubs für okkulte Forschungen. Er grinste und drückte die Aus-Taste. * Seit sieben Stunden befand er sich jetzt auf einem sehr merkwürdigen und für ihn einmaligen Marsch. Er stand jetzt vor dem fünfzehnten Lokal. Vierzehn Bars, Cafes, Restaurants und Läden lagen hinter ihm. Alles waren Orte, an denen sich Menschen trafen und miteinander sprachen. Menschen aller Gruppen, aller Interessen und verschiedenen Alters. Ein Nachmittag wie dieser erbrachte einen nahezu repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung dieser Stadt. Froom Wirtz schwirrte der Kopf… Er hatte Unterhaltungen über alle nur denkbaren Themen gehört. Über die Mode ebenso wie über eheliche Verfehlungen, über Biersorten, die plötzlich fehlten oder über Getränke, die von Terra kamen oder von anderen Planeten. Diese Bezeichnungen oder besser Spezifikationen verwandelten sich in reine planetare Ortsbezeichnungen und arteten sofort in ein Geheimnis aus, weil niemand diesen besonderen „Erdteil“ kannte. Es war grotesk. Männer unterhielten sich über Frauen, Frauen über Männer, Mädchen über Mädchen, Männer über Männer… … und über alle möglichen und unmöglichen Themen. Nur nicht über die Raumfahrt und anhängende thematische Gebiete, dachte er verzweifelt. Er hatte in jedem Lokal eine Kleinigkeit getrunken oder gegessen. Jetzt stand er vor einer kleinen Bar mit dem nichtssagenden Schild Zum Einbeinigen, der alle sieben Zehen verlor und überlegte, ob er auch hier noch einmal versuchen sollte, gesprächsweise einem Immunen zu begegnen. Er holte tief Luft, als er an der Theke ein geradezu auffallend gutaussehendes Mädchen sah und stieß die Schwingtür auf. Genau über seinem Kopf klirrte und bimmelte ein Glockenspiel aus verschieden langen Metallstäben. Er schwang sich mit einer schnellen, fließenden Bewegung auf den freien Hocker neben dem Mädchen. Der Mann hinter der Bar fragte:
„Was darf es sein, Kamerad?“ Froom lächelte, wie er hoffte, sein gewinnendes Lächeln und erklärte: „Einen Kommunikationsdrink!“ Erstaunt blickte ihn der Barmann ein. „Ein… was?“ Froom erklärte geduldig: „Einen Drink, der so beschaffen ist, daß derjenige, der ihn bestellt, mit anderen Menschen schnell in ein nettes Gespräch kommt.“ Er sprach so laut, daß ihn das Mädchen neben ihm deutlich verstehen mußte. „In meinem Fall ein Glas, über das hinweg ich mich mit dem Schönsten unterhalten kann, was Ihr Laden bietet.“ „Ich verstehe“, sagte der Barmann. „Was Sie brauchen, ist ein Glas warme Milch mit Honig. Wegen der weichen Stimme.“ Zu seiner Überraschung erwiderte Froom Wirtz in das Lachen des Mädchens hinein: „Genau das. Bringen Sie es mir! Nicht zu heiß.“ Das Mädchen blickte ihn an, er schaute zurück. Es schien ihnen beiden zu gefallen, was sie sahen. Froom Wirtz, der sich plötzlich in die Bar seines Hotels versetzt glaubte, begann mit der Stimme und dem Ausdruck, den er für weltmännischen Charme hielt und der hier auf dieser von Rhodan verlassenen Kolonie Wiga-Wigo wirken mußte wie ein Vulkanausbruch: „Möglicherweise sind Sie verheiratet, obwohl der Ring fehlt. Möglicherweise sind Sie anderweitig gebunden, was mich nicht wundern würde. Möglicherweise sind Sie daran interessiert, erstens zu kommunizieren und einem Fremden in dieser Stadt Tips zur Lebensgestaltung zu geben?“ Sie starrte ihn an wie ein seltenes Insekt oder so, als habe er drei Augen. „Weder noch!“ sagte sie. „Fremd hier?“ „Ich bin gerade dabei, mich wie ein einsamer Hund zu betrinken!“ stellte er fest, als der Barmann, ohne mit der Wimper zu zucken, die Milch mit dem Honig vor ihn hinstellte. „Sie machen einen sehr unglücklichen Eindruck“, sagte sie in unüberhörbarem Sarkasmus. „Was führt Sie hierher?“ Sie unterhielten sich prächtig. Eine Stunde später hatte Froom ihre
Adresse und die Zusicherung, daß dem Mädchen und ihm ein interessanter Abend bevorstand. Als er dann noch sagte, er brächte einen Freund mit, der sein Augenlicht verloren hatte, schien sie von seinen ehrenhaften Absichten voll überzeugt zu sein. Sie tauschten die Visiphonnummern aus und verabredeten sich für neun Uhr. Sie würde ihm, sagte Eriadne, einen interessanten, spannenden Abend bereiten. Er war nicht so sehr überzeugt. An Stevmobäer und seine hungrigen Graavies kam sie nicht im entferntesten heran. Trotzdem fuhr er sehr heiter und ausgeglichen zurück. Der Tag war also doch ein Gewinn gewesen, obwohl er unter den Zehntausenden von Wörtern nicht ein einziges festgestellt hatte, das sich auf Weltraum, Raumfahrt oder andere Planeten bezogen hatte. Es gab also keine Immunen unter den Menschen, die er heute getroffen hatte. Oder sie waren, aus Erfahrung klug, ebenso schweigsam geworden wie er… * Froom orderte neue Schuhe, ein Hemd und eine andere Jacke und hörte zusammen mit Shann, den er einweihte, die Nachrichtensendungen ab. Auch hier kein Zeichen, das ihn hätte aufmerksamer werden lassen, als er ohnehin schon war. „Wann sollen wir die Dame abholen?“ erkundigte sich Shann, der in seinem neuen Anzug etwas weniger auffallend aussah. „In einer Stunde!“ beruhigte ihn Froom. „Ich rufe vorher an. Eriadne ist eine höchst qualifizierte junge Dame, die eine Versuchsfarm leitet. Sie will uns ein unvergeßliches Erlebnis verschaffen.“ „Hoffentlich!“ Der Abend allerdings hielt weit mehr, als Eriadne versprochen hatte. Froom Wirtz würde die Überraschung aller dieser Tage erleben. Aber das ahnte er nicht, als er den Gleiter startete, um Eriadne abzuholen. * Kilter Shann, der ehemalige Raumfahrer mit den furchtbaren
Strahlenverbrennungen im Gesicht, kannte die Stadt und wies ihn ein. Froom Wirtz hatte sich nach Durchsicht seiner ziemlich ramponierten Kleidung eine neue Hose, einen hochmodernen Pullover und eine leichte Jacke gekauft. Unter der Jacke trug er sowohl die gefundene – Waffe als auch seine gesamten Ausweise und alles Geld; er ahnte, daß es wichtig werden konnte, binnen Sekunden flüchten zu müssen – warum auch immer. Aber er verdrängte diese Gedanken und freute mich auf den Abend mit Eriadne. „Rechts!“ sagte Kilter. „Was steht eigentlich auf dem Programm?“ „Zunächst ein Abendessen in einem der nettesten Lokale“, erklärte Wirtz. „Und dann eine Überraschung. Das sagte das Mädchen. Sie scheint etwas mythologisch veranlagt zu sein. Wir unterhielten uns über allerlei okkulte Dinge.“ Kilter Shann fragte zurück: „Worüber, bitte?“ „Über Dinge, die nicht mit den normalen Sinnen von uns Menschen erklärbar sind“, erläuterte Wirtz. „Keine genaue Ahnung, was sie damit meinte.“ „Ich auch nicht. Sehen wir weiter!“ Jetzt war die Stadt weitestgehend ruhig. Froom Wirtz sah die leeren Gehwege, die geparkten Gleiter aller Größen und Fabrikate und grinste. Es würde in dem Augenblick noch mehr Verwirrung ausbrechen, wenn die Insulaner dieser Kolonie feststellten, daß sie auf ihrer eigenen „Hohlwelt“ weder Gleiter herstellen noch Ersatzteile bekommen konnten. Aber das war nur eine einzige der vielen Wirkungen, die dieses Vergessen hervorbrachte. Sie fuhren einige breite Straßen entlang, kreuzten einen Schnellweg, dann kamen sie in den Kreis direkt außerhalb des Zentrums von Brantonfeyn. Es wurde zusehends ruhiger. Schließlich fanden sie die angegebene Adresse und stiegen aus. * Es war ein mittelgroßes Terrassenrestaurant, in dem die drei Menschen saßen und aßen, sich unterhielten, sich umblickten und gesehen wurden. Wie immer, seit dem Betreten der Stadt, versuchte Froom, systematisch nach einem winzigen Hinweis zu suchen, daß
außer ihm ein Kolonist seiner eigenen, also objektiv richtigen Überzeugung war. Bisher völlig vergeblich. „Sie machen einen abenteuerlichen Eindruck, Froom!“ stellte Eriadne nach dem Dessert fest. „Ich denke, Sie kommen heute auf Ihre Kosten.“ Gutgelaunt hob Froom das Glas. „Ich bin gespannt, was Brantonfeyn uns an Okkultismus bieten kann.“ „Warten Sie’s ab, Froom!“ Eriadne sah hinreißend aus. Sie trug einen weißen Hosenanzug und schien diesen Abend zu genießen. Was Wirtz ausgesprochen positiv beeindruckte, war der Umstand, daß weder hier noch an anderen Plätzen der Raumfahrer aufgefallen war. Man ging allgemein nach einem kurzen Blick über diese Verstümmelungen hinweg. Der Kellner kam, und Wirtz zahlte für alle. „Brechen wir auf?“ fragte er halblaut und griff nach der Hand des Mädchens. „Gern!“ lächelte die Kolonistin. Eriadne sagte, es sei nicht weit, und sie könnten zu Fuß gehen. Shann und Wirtz nahmen das Mädchen in die Mitte und reihten sich in den Fluß der Passanten und Spaziergänger ein. Es war knapp zehn Uhr nachts. Ein ruhiger, sternenklarer Abend ohne Sturm und ohne Wolken. Die Sterne waren deutlich und hell zu sehen. Die Sterne! Nach der Ansicht der Hohlwelttheoretiker waren dies glühende radioaktive Stücke, die in starren Bahnen um ein Gespann aus einem strahlenden Körper – der Sonne – und einen dunklen Körper – der die Sonne verdeckte und Tag und Nacht hervorbrachte – kreisten. Froom schluckte einen Fluch herunter und fragte sich zum vierhundertsten Mal, wie groß diese Gefahr wirklich war. Auf keinen Fall war diese Fehlhaltung ein Einfluß von innen. Es waren nicht die Menschen, die plötzlich etwas anderes glaubten und jeden, der sich dem Glauben nicht anschloß, verfolgten, sondern es handelte sich um einen Einfluß von außen. Dann zuckte Froom zusammen. Sie befanden sich in genau derselben Straße, in der er heute nachmittag umhergewandert war. Er hatte das Schild gesehen: Klub für okkulte Forschungen. Es konnte nicht anders sein; Eriadne wollte ihnen diesen Klub zeigen. Er lächelte kurz und wartete gespannt
darauf, was folgen würde. Sie unterhielten sich über Nebensächlichkeiten, bis sie die schmale Tür zwischen einem Buchgeschäft und einem Laden für Musikinstrumente erreichten. „Hier ist es!“ sagte Eriadne und drückte die Finger Frooms. „Zufrieden?“ Sie deutete auf das Schild. Froom nickte. Natürlich war es so, wie er angenommen hatte. In einem bestimmten Rhythmus betätigte Eriadne den Türsummer. Die Tür schwang auf, und eine helle, schrille Stimme fragte: „Wer da?“ „Ein Freund mit zwei Freunden. Wir wollen die Geheimnisse kennenlernen.“ „Tretet ein. Einen Solar für jeden!“ Als Froom zahlen wollte und sich zwischen dem Wächter und dem Türrahmen hindurchschob, legte ihm Shann die Hand auf den Arm. Wirtz nickte und sagte: „In Ordnung.“ Sie stiegen eine lange, schmale Treppe mit vierzig Stufen abwärts. Rauchige Luft und das Gemurmel von vielen, leisen Stimmen schlugen ihnen entgegen. Dann fragte jemand: „Wo ist dieses Medium, verdammt?“ Shann stieß Wirtz in die Rippen und flüsterte dicht an dessen Ohr: „Hör zu, Freund Froom! Ich habe in den vergangenen Monaten schlimme Dinge über diesen Klub gehört. Sei vorsichtig!“ Wirtz flüsterte zurück: „Ich habe nicht vor, den Klub zu sprengen oder die Planetare Regierung zu stürzen!“ „Sei trotzdem vorsichtig!“ „Natürlich!“ erwiderte Froom und half dem Mädchen, dessen Hand er noch immer hielt, die letzten Stufen der Treppe hinunter. Sie kamen in einen großen Raum mit niedriger Decke. Boden, Wände und Decke waren schwarz gestrichen. Im Viereck standen einfache Stühle in langen Reihen. In der Mitte des Raumes sah Wirtz ein etwa dreißig Zentimeter hohes Podium, auf dem ein schwerer Sessel stand. Es gab wenig Beleuchtungskörper, und etwa siebzig Menschen befanden sich in dem Raum. Die Decke war kaum zu sehen, weil die meisten Menschen rauchten und der Dunst kaum von den Exhaustoren abgesogen wurde. „Schönste Freundin Eriadne“, wisperte Wirtz, den die erwartungsvolle Stimmung sofort ergriff, „was erwartet uns hier?“ Sie schoben sich zwischen den aufgeregten, wartenden Menschen
hindurch und entdeckten in der letzten Reihe drei nebeneinanderstehende Stühle, die leer waren. Sie setzten sich und nahmen das Mädchen in die Mitte. Alles in diesem Raum deutete darauf hin, daß eine spiritistische Sitzung bevorstand. Niemand zeigte es bewußt deutlich, aber innerhalb dieses Raumes begann sich eine echte Spannung auszubreiten. Rund hundert Personen hatten sich versammelt. Plötzlich sagte jemand: „Ich bitte um Ruhe. Hier ist unser Medium, Terrania Skeller!“ Froom Wirtz blickte nach rechts, wo sich zwischen den Wartenden eine Gasse bildete. Ein Vorhang wurde zurückgeschlagen, und ein Mann kam in den Bereich der nach unten gerichteten Scheinwerfer. Er hob die Hände und sagte: „Terrania ist in ausgesprochen guter Einstimmung. Wir können auf einen interessanten Abend hoffen, meine Freunde. Vielleicht gelingt es uns, aus der kleinen Welt unserer Hohlkugel auszubrechen in andere Dimensionen.“ Froom konzentrierte sich und versuchte, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Als dann Terrania Skeller erschien, riß es ihn vom Sitz.
3. Terrania war neun oder zehn Jahre alt. Sie wirkte auf ihn wie das Opfer der Zeit, der Umstände und der eigennützigen Einstellung derer, für die Terrania arbeitete. Froom beugte sich nach vorn und stand halb auf. Er starrte das Kind an, und sein Herz krampfte sich zusammen. Terrania – was bedeutete in diesem abstrusen Zusammenhang der Name, dieser „astronomische“, also eigentlich sinnentleerte Begriff? – Skeller war ein blasses Kind, rund neun Jahre alt, mit tiefliegenden braunen Augen. Das Schönste an ihr war das lange, schwarze Haar, das tief über ihre knochigen Schultern herunterhing. „Ein merkwürdiges Medium!“ murmelte Froom. Der Raumfahrer klopfte ihm auf die Schulter und zischte: „Ruhig!“ Langsam kam das Mädchen mit den eingefallenen Gesichtszügen
durch die Gasse auf das Podium zu. Wirtz, dessen Gesichtsausdruck plötzlich jede Entspanntheit und Leichtigkeit vermissen ließ, musterte das Mädchen mit dem beziehungsvollen Namen. Sie sah aus, als ob sie halb verhungert wäre. Terrania kletterte auf das Podium und steuerte auf den Sessel zu. Jetzt konnte Froom sie noch deutlicher erkennen. Sie bot ein Bild des Mitleids. Sie machte den Eindruck eines Menschen, den eine innere Energie auszehrte. In der ersten Reihe der Stühle, in dem Quadrat der Stühle, die unmittelbar vor dem Podium standen, erhoben sich etwa zwei Dutzend Personen. Es waren Frauen und Männer. Ihre Gesichter hatten ausnahmslos angestrengte, fast verkniffene Züge. Sie wirkten, als würden sie auf Wunder warten, das sie mit aller Anstrengung herbeizaubern wollten. In dem großen Sessel wirkte das Mädchen verloren und einsam. Es blinzelte und blickte, offensichtlich nichts begreifend, die Umstehenden an. Froom Wirtz musterte sie aufmerksam. Er versuchte, sich nicht von dieser düsteren Umgebung und der emotional aufgeheizten Stimmung beeinflussen zu lassen. Okkulte Forschungen! Was hatte dieses kleine Mädchen, offensichtlich das Medium, mit diesem lächerlichen Schlagwort zu tun? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Froom drehte den Kopf und starrte in das Gesicht des Mädchens neben ihm. Eriadne hatte die Augen halb geschlossen und schien geistesabwesend auf ein mittelgroßes Wunder zu warten. Froom mißfiel dies; er sah gern kritische und schwer beeinflußbare Menschen in seiner Umgebung. Er tröstete sich damit, daß man auf einem Kolonialplaneten wohl schwerlich große Mengen von Kritikfähigkeiten erwarten konnte. „Teuerste“, sagte er leise, „das Wunder läßt auf sich warten!“ Sie schüttelte unwillig den Kopf. Dann preßte sie den Finger auf die Lippen und deutete auf Terrania Skeller. , „Warte, Froom!“ flüsterte sie. „Das Mädchen ist ein hervorragendes Medium!“ Die rund vierundzwanzig Personen stellten sich in einem Kreis auf. Sie verdeckten das spitze, eingeschüchterte Gesicht des Mädchens und begannen zu summen. Es war eine eigenartige Szene – gleichermaßen beängstigend und bannend, lächerlich und dennoch voller tiefer Bedeutung. In Froom spannten sich die Muskeln. Er
hatte den Eindruck, Zeuge der Projektion eines wirren Traumes zu sein. Es ist unheimlich! Froom Wirtz vergaß den narbengesichtigen Raumfahrer und das bezaubernde Mädchen neben ihm. Er konzentrierte sich ausschließlich auf das, was er vor sich sah. Der Kreis schloß sich um das Kind. Diejenigen, die diesen magischen Zirkel bildeten, reichten sich die Hände. Froom warf einen Blick auf die Finger. Er sah, wie sich die Finger ekstatisch ineinander verkrampften. Aus dem Summen wurde ein dumpfer Gesang, eine Art langsamer Litanei. Wieder wurde Wirtz an die Anfänge der terranischen Musik erinnert, an den Gregorianischen Gesang. Es hatte etwas Zwingendes, Magisches, dieser Gesang. Die Anwesenden wurden eingelullt und kritikunfähig gemacht. Sie erwarteten einen Spektakel, und sie wollten glauben, was sie zu sehen und zu erleben glaubten. Der Gesang wurde lauter und drängender. Froom blickte zwischen zwei Kolonisten hindurch und sah in das Gesicht des Mädchens. Abgesehen von diesen zwingenden Kadenzen und Rhythmen herrschte Totenstille. Der Gesang dauerte etwa fünfzehn Minuten. Als er, langsamer und leiser werdend, endlich beendet wurde, befanden sich fast alle Anwesenden in einer Art Trance. Das Mädchen Terrania aber schien zu schlafen. Ihr Köpfchen ruhte in dem Polster des Sessels, und sie hatte den Mund geöffnet und die Augen geschlossen. Dann begann sie zu sprechen… Wirtz zuckte schon beim ersten Wort zusammen. Er konnte verstehen: „Ich sehe eine schwarze Fläche voller Lichtpunkte. Es sind Dinge oder Lichtquellen, die man als Sterne bezeichnet…“ Wie kam ein neun- oder zehnjähriges Mädchen zu einer solchen Terminologie? Entweder wurde ihr der Text suggeriert, oder sie besaß tatsächlich diejenige Art von Wissen, die allen Kolonisten fehlte! Starr vor Staunen hörte Froom die folgenden Worte: „Ich sehe die Mächtigen. Es sind Fremde, die aus unendlichen Fernen kommen und so groß sind, daß unsere Welt für sie unbedeutend ist. Die Fremden, die Mächtigen, sie sind geweckt worden. Sie haben bisher geschlafen!“ Eine verwirrende Stimmung erfaßte Froom Wirtz. Auch er war
gegen seinen erklärten Willen in den Worten des Mädchens gefangen. Er versuchte, sich gegen die Suggestion dieser Nacht zu stemmen und mußte hören, daß es zumindest einen Menschen gab, der vom Gegenteil der Hohlwelttheorie redete, wenn auch in Trance. Er lehnte sich wieder zurück, warf einen Blick auf den Raumfahrer und das Mädchen und mußte erkennen, daß sie sich tief im Bann dieser Darbietung befanden. Terrania Skeller sprach mit einer Stimme, die unmöglich ihr selbst gehören konnte, weiter: „Die Fremden, die sich als die Mächtigen bezeichnen, schliefen unter der Oberfläche. Sie waren sich ihrer selbst nicht bewußt. Sie schliefen in ihrem Raumschiff…“ Sterne! Fremde! Mächtige! Raumschiff! Alles Begriffe, dachte Wirtz, die mit Raumfahrt zu tun hatten. Jedenfalls standen sie im krassen Gegensatz zu der herrschenden Auffassung. Der vierte Mensch, der nicht uneingeschränkter Anhänger der Hohlwelttheorie war. Wirtz, Proterrand, Stevmobäer und Skeller. „Wir haben sie geweckt. Sie bringen das Unheil über uns. Sie bedrohen alles und uns alle!“ Schlagartig fiel Froom Wirtz ein, daß er vor nicht allzulanger Zeit, zusammen mit anderen Kolonisten, nach einem alten, vergrabenen und abgesackten Raumschiff gegraben hatte. Meinte das Mädchen, an dessen medialer Fähigkeit auch er nicht mehr länger zweifelte, dieses Schiff? Wenn nicht, was dann? Hier zog ein Mythos herauf, hier wurden Zusammenhänge angedeutet, die mehr als bedrohlich schienen. Jedenfalls war es für Froom klar, daß zwischen den angesprochenen Mächtigen und dem Schiff, nach dem er gegraben hatte, ein deutlicher Zusammenhang bestand. Er behielt jedoch seine Gedanken für sich und freute sich, daß er der Suggestion entkommen war. „Sie bedrohen uns! Wir haben alles vergessen! Wir haben die Sterne gekannt und die Raumfahrt! Wir sind geblendet worden und haben vergessen, daß wir im Weltall nicht allein sind!“ rief das Mädchen. Es sah aus, als ob sie jeden Augenblick zusammenbrechen würde. Ich werde verrückt! dachte Froom verzweifelt. Sie spricht über Raumfahrt! Und über alles, was damit zusammenhängt. „Ich weine über uns alle! Ich weine über die Menschen, die
vergessen haben, daß ihre eigentliche Heimat der Planet Terra ist!“ rief Terrania Skeller klagend. Der Ring von Kolonisten, der sie umgab, bewegte sich langsam nach beiden Seiten. Die Menschen schwankten hin und her, aber sie lockerten den Griff der Finger nicht. „Ich bin müde. Ich höre Worte aus der großen Dunkelheit zwischen den Sternen“, rief Terrania. Sie sah wie ein Opfer aus, wie jemand, der ununterbrochen seine eigene Energie verströmte und dafür mit seiner Lebenssubstanz bezahlte. Dieses junge Mädchen wurde hier, in diesem Zirkel der selbstsüchtigen Zuschauer und Zuhörer verschlissen und ausgenutzt, ohne daß sie sich wehren konnte. Mitleid packte Froom Wirtz, und er mußte sich zusammennehmen, um die okkultistische Umgebung nicht zu stören. Er ließ die Schultern nach vorn durchsinken und dachte verzweifelt: Wenn ich irgendwo Gewißheit über den Zustand dieser Welt erhalte, dann von diesem Kind. Sie weiß es nicht, aber aus ihr spricht die Stimme der Vernunft und der Einsicht! Er wartete. Einige Minuten vergingen. Nach wie vor wiegten sich die Kolonisten, die einen Ring um Terrania bildeten, in einem unhörbaren Takt. Das Mädchen lag erschöpft und schweigend in dem Sessel. Dann zuckte sie plötzlich zusammen. Ihr schmächtiger Körper wurde steif. „Verdammt!“ murmelte Froom. Weder Shann noch Eriadne hörten oder verstanden ihn. Er blieb ruhig sitzen und bemühte sich, seine Erregung nicht zu zeigen. Innerhalb der nächsten Viertelstunde änderte sich alles. Terrania Skeller schlief ein und streckte sich im Sessel aus. Der dumpfe, anachronistische Gesang der Kolonisten hörte auf. Murmeln, laute Gespräche und eifernde Kommentare wurden laut. Die Verzauberung, die alle gefangen gehalten hatte, löste sich. Froom sah leidenschaftslos zu, wie sich ein Mann, der Terrania auf den Armen trug, wieder einen Weg durch die Menge bahnte und in diesem Nebenraum verschwand, aus dem das Medium herausgekommen war. Einige Zeit verging, dann kam der stämmige Mann zurück und sagte leise und warnend: „Sie schläft! Sie wird bis morgen mittag schlafen. Geht jetzt und
macht euch Gedanken darüber, was ihr gehört habt!“ Die ersten Gäste brachen auf. Froom wartete, bis das Mädchen und der Raumfahrer aus ihrer halben Besinnungslosigkeit erwacht waren, dann sagte er: „Eigentlich könntest du, Shann, nach Hause fahren und schlafen. Ich werde #mit Eriadne noch einen langen Spaziergang unternehmen.“ „In Ordnung!“ Offensichtlich verstand Kilter Shann, was Wirtz sagen wollte. Er nickte und zwinkerte dem Terraner zu, verabschiedete sich kurz von dem Mädchen und schloß sich den aufgeregt miteinander diskutierenden Kolonisten an, die der Treppe zustrebten. Eriadne und Froom blieben sitzen. Als ob sie aus einem langen, intensiven Traum erwachen würde, fragte das Mädchen: „Habe ich Ihnen zuviel versprochen, Froom?“ „Keineswegs!“ gab er zur Antwort. „Wirklich nicht. Ich sehe jetzt vieles tiefer und besser.“ Sie blieben sitzen, bis die letzten Gäste dieser Sitzung die untersten Stufen der Treppe erreicht hatten. Dann hob Froom das Mädchen hoch und schob sie in die Richtung des Ausgangs. Er war froh, als sie die frische Luft erreicht hatten und sagte, als sie zweihundert Schritte gegangen waren: „Wie auch immer – ich danke dir, Mädchen, für diesen Abend. Was fangen wir jetzt an?“ Inzwischen war er fest entschlossen, das Medium aus der Gewalt der gewissenlosen Okkultisten zu befreien. Er hütete sich aber, Eriadne ein Wort zu sagen. Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte: „Ich weiß eine kleine Bar, in der man sich lange und ausgedehnt unterhalten kann.“ Mit freudiger Erregung registrierte Froom, daß sich Kilter Shann offensichtlich spurlos entfernt hatte. Er winkte einen Taxigleiter heran und sagte dann: „Fahren wir in diese Bar. Und bei dieser günstigen Gelegenheit kannst du mir erzählen, was dich an dieser spiritistischen Sitzung derartig fasziniert hat!“ Er widmete sich in der anonymen Dunkelheit des Gleiters seiner Begleiterin und saß ein wenig später ihr gegenüber in der kleinen Bar, die Bestandteil eines Restaurants hoch über dem Zentrum der
Stadt war. Sie blieben hier bis gegen ein Uhr, dann fuhren sie in Wirtz’ Apartment und^ beendeten den Abend auf eine Weise, die höchst angenehm war. Als Froom aufwachte, war es fünf Uhr morgens. Es wurde gerade hell, und er war allein. Den schwachen Duft des Parfüms in der Nase, entschloß er sich, unverzüglich zu handeln. Er zog sich schnell an, stürzte eine Tasse schwarzen Kaffee in sich hinein und raste mit seinem Gleiter ins menschenleere Stadtzentrum. Mit einem einzigen Feuerstoß aus seiner Waffe zerstörte er das Schloß. Dann rannte er die Treppe hinunter, die Schockwaffe in der Hand. Hoffentlich war Terrania noch dort, wo er sie vermutete. * Dreimal knallte er mit den Schienbeinen gegen Stühle, aber er sagte kein Wort und schluckte die Kraftausdrücke hinunter. Dann fühlte er zwischen den Fingern den Vorhang, der nach kaltem Rauch stank. Mit einer Handbewegung fegte er den Vorhang zur Seite. Zehn Schritte ging es geradeaus. Verdammt dunkel! dachte er und tastete sich entlang einer rauhen Wand. Er hörte vor sich, irgendwo im Dunkel, gleichmäßige Atemzüge. So mochte ein Kind im Schlaf atmen, aber er mußte damit rechnen, daß dieses wertvolle Medium bewacht wurde. Er entsicherte die Schockwaffe und tastete nach einem Lichtschalter. Endlich fand er ihn. Etwa zehn verschiedene Beleuchtungskörper schalteten sich ein. Hoffentlich schläft Kilter Shann ebenso tief wie Terrania und sämtliche Polizisten dieser verdammten Kolonialstadt, dachte Froom und lief langsam einen schmalen Korridor geradeaus. Dann blieb er stehen und sah hinunter auf eine primitive Liege. Er erkannte das Mädchen. Das schwarze Haar flöß wie ein kleiner Wasserfall über die schmutzigen Kissen. Wieder wallte die Wut in dem Terraner hoch. Die Wut auf jene Menschen, die ein Kind ausnutzten, um Geld zu machen. Er blieb stehen, dann drehte er sich langsam um dreihundertsechzig Grad und sah schließlich, daß es zwar einige Zimmer gab, diese aber alle leer waren. Und er entdeckte einen
zweiten Ausgang, der in irgendwelche Hinterhöfe führen mochte. Er bückte sich, wickelte das Mädchen in eine pinkfarbene Decke ein und hob es hoch. „Das ging leichter, als ich dachte“, flüsterte er und ging langsam in die Richtung des Hinterausgangs. Das Mädchen schlief, als sei sie halbwegs bewußtlos. Froom warf einen langen Blick in das ausgezehrte Gesicht des Kindes und erreichte endlich die Tür. Sie war verriegelt, aber nur von innen. Er riß die Riegel auf und rannte mit einem einzigen Schwung die Treppe hinauf, fand sich in einem Garten und sah gleichzeitig den Ausgang zur Straße. Sekunden später lag das schlafende Kind auf den Rücksitzen des Gleiters, und die Maschine fuhr los und bewegte sich schnell in die Richtung auf Frooms Apartment. Froom legte das Mädchen in dem dritten Zimmer auf die Liege, breitete einige Decken über Terrania aus und ging dann in sein Zimmer, um den abgebrochenen Schlaf nachzuholen. Knapp vier Stunden später wachte er auf und erinnerte sich schlagartig an alles, was zwischen dem gestrigen Abend und jetzt passiert war. Er begann sich zu fürchten… * Froom Wirtz stand schweigend vor der Liege und blickte auf das blasse, abgezehrte Gesicht des Mädchens Terrania Skeller herunter. Das Kind atmete schwer und stoßweise. Die Stirn und die Wangen waren mit feinen Schweißtropfen bedeckt. Wirtz ging zurück ins Bad, feuchtete ein Handtuch mit kaltem Wasser an und kam wieder an das Bett des Mädchens. Das Zimmer war halbdunkel. Froom sah auf die Uhr; neun Uhr morgens. Vorsichtig wischte er den Schweiß aus dem Gesicht Terranias. Sie war etwas erholt von einem langen, ungestörten Schlaf, aber noch immer befand sie sich am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Während ihr Gesicht unter der Berührung des kühlen Tuches zuckte, sprach Terrania im Halbschlaf. Wieder stieß sie halbwegs prophetische Worte hervor, merkwürdig unbetont und hastig. „… sie sind durch das Weltall gerast… aber sie wollen uns nicht
verletzen… die Mächtigen in ihrem Raumschiff kommen…“ Offensichtlich schlief auch Kilter Shann heute ziemlich lange. In der Wohnung war es ruhig. Froom war sicher, daß das Mädchen nicht bewußt die Quelle dieser Aussagen kannte. Aber vielleicht sagte sie so viel, daß er den Grund für diese Teilamnesie herausfinden konnte. Eines war also sicher: Terrania mußte die nächsten Tage in seiner Nähe bleiben. Er würde dafür sorgen, daß sie nicht belästigt wurde und sich erholen konnte. Ein magerer Arm kam unter der Decke hervor und machte eine rührende Geste. „… sie haben unsere Dummheit nicht gewollt… verfolgen uns, weil wir die Wahrheit wissen… aber man hat die Mächtigen plötzlich geweckt… jetzt handeln sie gegen uns… arme Menschheit… die Sterne und die Raumfahrt vergessen.“ Wirtz zuckte die Schultern. Es war nichts wesentlich Neues. Vielleicht erfuhr er zu einem anderen Zeitpunkt mehr. Er verließ das Zimmer und deckte den Frühstückstisch für drei Personen. Als Shann hereinkam, transportierte der Küchenrobot soeben die Kaffeekanne zum Tisch. Froom hatte per Interkom einige Nahrungsmittel und einige Kleidungsstücke für das Mädchen geordert. Er drehte sich um, als Shann mit seinen riesigen Kunstaugen die drei Gedecke musterte. „Kommt etwa dieses entzückende Mädchen zum Frühstück?“ fragte er verblüfft und sah dann zum Fenster hinaus auf die sonnenbeschienene Terrasse. „Welches meinst du?“ fragte Froom zurück. „Eriadne oder Terrania?“ Stotternd vor Aufregung erkundigte sich der ehemalige Raumfahrer: „Terrania? Bist du verrückt? Was hat Terrania an unserem Frühstückstisch zu suchen?“ Froom sah ihn scharf an und erwiderte ruhig: „Ich habe gestern nacht gesehen, daß die Okkultisten das Kind fertigmachen. Hast du nicht gemerkt, daß Terrania halb verhungert und einem Nervenzusammenbruch nahe ist? Ich bin heute morgen losgezogen und habe sie aus dem muffigen Keller geholt. Sie liegt drüben im kleinen Zimmer, schläft sich aus und hat Alpträume. Sie ist für mich wichtiger als für diese verrückten Okkultisten. Ich nutze
sie nicht aus.“ Ächzend ließ sich Shann auf einen Stuhl fallen und verkündete dumpf: „Möchtest du als Entführer vor Gericht stehen?“ „Niemand außer uns beiden weiß, daß Terrania hier ist. Ich hoffe nicht, daß du zur Stadtpolizei rennen wirst, Freund Kilter!“ „Du bist verrückt. Genauso verrückt wie das Mädchen!“ sagte Shann hart. „Was hast du vor? Was willst du wirklich hier?“ „Das habe ich dir schon gesagt. Ich kann von Terrania unter weitaus günstigeren Umständen für sie und mich bestimmte Dinge erfahren, die für mich wichtig sind. Und auch für die Bevölkerung dieses Planeten, aber das weiß noch niemand.“ Noch immer schüttelte der Raumfahrer seinen Kopf und wiederholte: „Du bist wirklich verrückt, Froom! Warum treffe ich immer auf Verrückte in meinem Leben?“ „Das muß ein bizarrer Nebenast deines Charakters sein“, erwiderte Froom. „Aber laß dir dadurch nicht den Appetit verderben. Ich werde jetzt das Mädchen wecken und ihr die neuen Sachen zeigen.“ Er packte die durchsichtigen Päckchen mit der farbenfrohen Kleidung und ging hinüber ins andere Zimmer. Er brauchte Terrania nicht mehr zu wecken. Sie lag mit offenen Augen im Bett und schien sich nicht darüber zu wundern, daß sie in einer gänzlich anderen Umgebung aufgewacht war. Froom ging ans Bett heran, zog einen Stuhl herbei und setzte sich. „Mädchen“, sagte er, „ich sehe, du bist nicht erschrocken. Wir sind Freunde und wollen nichts Böses von dir. Ich bin Froom, und der andere Mann ist Kilter. Er sieht aus wie ein alter, weiser Vogel, und wir werden uns gut verstehen, alle drei. Hier habe ich dir etwas mitgebracht.“ „Das sieht hübsch aus“, sagte sie mit einer Stimme, die ihm fremd vorkam. Es war ihre natürliche Kinderstimme. Die großen, dunklen Augen strahlten ihn an. „Hast du mich aus dem Keller geholt, Froom?“ fragte sie dann, nachdem sie mit fast erwachsenen Bewegungen die Qualität der Kleidungsstücke geprüft hatte. „Ja“, sagte Froom. „Aber wenn dich jemand fragt, mußt du sagen, daß du gern mitgegangen bist.“
Sie kicherte, und dann setzte sie sich auf. „Ich bin gern hier!“ erklärte sie fröhlich. Sie war plötzlich wie umgewandelt. „Aber jetzt habe ich Hunger. Und waschen möchte ich mich auch!“ Froom stand auf, nahm ihre Hand, und zusammen gingen sie hinüber ins Bad. Das Kind schleifte die farbenfrohen Kleidungsstücke hinter sich her. Dann machte sie sich, kleine spitze Schreie der Freude ausstoßend, über die verschiedenen Wasserhähne und Schalter her und vergaß Froom völlig. Wirtz sagte noch: „Du brauchst nur geradeaus zu gehen. Wir sitzen schon am Tisch!“ Er schloß die Tür hinter sich und grinste. Für einige Zeit hatte ihn das Mädchen von seinen Problemen abgelenkt. Der Raumfahrer aß und trank schon und vertilgte Rekordportionen. „Nun?“ fragte er kauend und forschte mit seinen positronischen Sehhilfen in Frooms Gesicht. „Nun… was?“ gab Froom zurück und goß Kaffee in eine Tasse. „Was hat sie gesagt?“ „Daß es ihr hier gefällt, daß sie gern hier ist, daß sie sämtliche Einrichtungsgegenstände im Bad vollspritzen will. Sie scheint höllisch froh zu sein, aus dem Keller herausgekommen zu sein.“ „Ich verstehe.“ Sie schwiegen einige Minuten. Aus dem Bad kamen die Geräusche fließenden und spritzenden Wassers, dann das kreischende Lachen des Kindes. Wortlos grinste Froom und deutete über die Schulter in die Richtung des Bades. Schließlich kam Terrania strahlend vor Sauberkeit, das lange Haar zu einem lockeren Zopf geflochten, in der lustigen Kleidung herein und kletterte mit schöner Selbständigkeit auf den Stuhl. „Guten Morgen, Kilter!“ sagte sie und lächelte den Raumfahrer an. Er grinste mit seinem roten, vernarbten Gesicht zurück. Terrania verhielt sich völlig natürlich. Froom, der freilich alles andere als ein Fachmann für diese Altersgruppe war, war begeistert. Schon jetzt gab es einen deutlichen Unterschied zwischen dem gedrückten, hochnervösen Kind der okkulten Sitzung und dem natürlichen Mädchen, das hier warme Milch trank, Schinken mit Eiern aß und begeistert mit dem Geschirr und dem Besteck hantierte. „Und was willst du jetzt unternehmen, Froom?“ fragte Shann nach einer Weile. Froom lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an, dann
sagte er nachdenklich: „Ich werde den Tag in der Wohnung verbringen und mich weiterhin orientieren. Am Abend gehe ich wieder bummeln. Wahrscheinlich mit Eriadne.“ „Gut. Ich sehe mich jetzt in der Stadt nach einem guten Job um.“ „Einverstanden.“ Sie halfen alle drei zusammen, den Tisch abzuräumen, dann verließ Kilter Shann die Wohnung. Froom setzte sich vor den Interkom, nachdem er für das Mädchen ein Lesegerät gesucht und mehrere Spulen geordert hatte. Eine brennende Zigarette, ein gefülltes Glas und ein großer, bequemer Sessel vervollständigten Wirtz’ Versuch, mehr über die partielle Verdummung zu erfahren und vielleicht jemanden zu finden, der wie er die wertvollen Begriffe noch kannte. Das Mädchen jedenfalls, das sich in eine Ecke der Sitzlandschaft zurückgezogen hatte, stand weder in Trance, noch sagte sie ein Wort über Sterne, Weltraum, Raumfahrt oder Raumschiffe. * Am späten Nachmittag machte Froom seinen ersten Versuch. Er schaltete das Gerät aus und fragte Terrania: „Sag mal, Mädchen… du hast gestern nacht und heute morgen so merkwürdige Dinge gesagt. Über Raumschiffe und Weltraum. Woher hast du dieses Wissen?“ Sie zuckte die Schultern und sah ihn verständnislos an. „Was habe ich gesagt?“ Er wiederholte seine Frage mit anderen Worten. Terrania blickte noch verständnisloser, dann erwiderte sie: „Ich weiß das nicht, Froom. Ich erinnere mich, daß ich dort war. Ich weiß, daß ich träume. Ganz schlimme Träume.“ „Aber…“, sagte er und stand auf. „Du hast doch pausenlos darüber gesprochen. Du hast…“ „Das kann schon sein!“ sagte sie. „Aber nur dann, wenn ich nicht bei Besinnung bin.“ Froom warf einen Blick aus dem Fenster. Er sah, wie sich zwei Gleiter aus gegenüberliegenden Richtungen näherten. Dann zuckte er überrascht zurück. Die drehenden Blaulichter und die Beschriftungen wiesen die schweren Gleiter als Polizeifahrzeuge aus.
In diesem Augenblick wurden die Türen aufgerissen, und Polizisten sprangen aus den Gleitern. Sie bewegten sich schnell auf den Eingang des Hauses zu. „Verdammt!“ sagte Froom. Zwei weitere Gleiter rasten mit aufheulenden Sirenen heran, und die Männer verteilten sich um das Haus. Eine Flucht erschien sinnlos. „Was ist los, Froom?“ fragte die helle Stimme des Mädchens. „Polizei“, sagte er. „Sie holen uns ab. Dieser Shann ist doch ein Idiot!“ Offensichtlich hatte Shann ihn bei der Polizei gemeldet. Es war im Augenblick nur noch nicht sicher, ob sie ihn als Verrückten suchten oder als Entführer. Wieder einmal hatte er sich in eine gefährliche Lage hineinmanövriert. Was ging ihn eigentlich das Schicksal dieser Kolonie an? fragte er sich in den Sekunden, die von den Beamten gebraucht wurden, um die Wohnung zu erreichen. Dann hörte Wirtz Schritte, Poltern und Befehle vor der Wohnungstür und kratzte sich im Nacken. „Jetzt steht mir wohl eine interessante Unterhaltung bevor.“ Er zog den Schockstrahler und wartete. Dann ging er zur Tür und riß sie auf. Vor ihm standen sechs Polizisten. * Die STARTRAIN raste, aus dem Linearraum kommend, in das Deylight-System hinein. Es war der 25. Mai. „Setzen Sie endlich diesen Funkspruch ab!“ rief Atlan. Der Flug hatte langweilig angefangen, war im Mittelstück einigermaßen aufregend verlaufen und war jetzt an einem Punkt angelangt, wo alle dreizehn Insassen gespannt auf die kommenden Ereignisse waren. „Selbstverständlich, Sir!“ sagte der Funker und ließ das Band ablaufen. Die Antenne der Korvette strahlte den Funkanruf aus, der die Identifikation des Schiffes enthielt und um Landeerlaubnis auf dem Raumhafen in der Nähe Brantonfeyns nachsuchte. Einige Minuten vergingen. Auf den Bildschirmen der Panoramagalerie standen die Sterne dieses Systems. Die Sonne loderte schwach von rechts. In fast gerader Flugbahn schoß das kleine, kugelförmige Raumschiff auf den Planeten Wiga-Wigo zu. Die Raumkontrollstation schwieg.
Atlan meinte nervös: „Entweder ist unser Sender ausgefallen, oder sie schlafen alle auf diesem komischen Planeten. Noch einmal Funker!“ Du wirst ungeduldig und reizbar, flüsterte der Extrasinn. Vorsicht ist noch immer die beste Lebensversicherung! Der Funker meldete sich mit ruhiger Stimme und sagte: „Band läuft ab! Mit doppelter Kapazität!“ „In Ordnung.“ Wieder warteten sie. Niemand konnte ahnen, warum die Station nicht antwortete. Es war undenkbar, daß die Empfangsanlagen oder die Sendeanlagen ausfielen. Dafür waren sie erstens zu gut ausgerüstet und zu sicher gebaut, und zweitens mehrfach ausgelegt. Und wenn kein menschlicher Posten dort saß, dann reagierte automatisch ein positronisches Gehirn. Atlan und Lutz, der Pilot, sahen sich schweigend an. Beide zuckten mit den Schultern. „Verdammt!“ sagte Atlan. „Immer hat man Ärger mit den Hinterwäldlern! Jetzt schalten sie schon die Sender ab, wenn sie Kaffeepause machen!“ „Durchaus möglich. Das Leben ist voller Überraschungen, Sir!“ sagte Lutz mit unüberhörbarer Ironie. „Wem sagen Sie das!“ knurrte der Arkonide und strich sein Haar in den Nacken. Auch der zweite Normalraum-Funkspruch blieb unbeantwortet. Der Planet war so gut wie ausgestorben, was seine Sender und Empfänger betraf. Die beiden Männer, die an den Pulten der Fernortung saßen, handelten mit der Routine langer Jahre. Sie schalteten die Geräte ein und richteten die Antennen und Detektoren auf die halb ausgeleuchtete Kugel des Planeten. Atlan durchquerte die Zentrale der Korvette und warf sich wütend in einen der schweren Kontursessel. Er begann zu ahnen, daß dort unten etwas nicht stimmte. Aber was? Zuerst das Versagen des Instinktspezialisten, und jetzt der Ausfall der Raumhafensender! „Etwas Besonderes zu sehen?“ fragte er und tippte mit dem Fingernagel gegen die Reliefbildschirme. „Noch nichts!“ Es würde Atlan keineswegs erstaunt haben, wenn es tatsächlich so war, daß die Kolonisten ihre Empfangsanlagen einfach abgeschaltet hatten. Der Schiffsverkehr in den Kolonien war nicht sehr
beträchtlich. Trotzdem war und blieb der Arkonide mißtrauisch. Dies wäre die zweite Panne – nach dem Versagen von Froom Wirtz –, und zwei Pannen waren schon eine Art Methode. Sie fielen statistisch auf, meinte Atlan. Die beiden Ortungsfachleute brachten die Vergrößerungen und die vielfältigen Energieechos auf die Bildschirme. Deutlich war zu erkennen, daß dort unten in der Nähe der Stadt Brantonfeyn normaler Funkverkehr stattfand, daß die Kraftwerke Energie lieferten, daß Menschen dort lebten und die Energie verbrauchten. Wieder biß sich Atlan auf die Lippen und murmelte schließlich: „Wir versuchen es noch ein drittes Mal mit Funk, dann landen wir einfach. Es ist wirklich unglaublich!“ „Das ist auch unsere Meinung, Sir!“ Neun Lichtminuten waren sie noch vom Planeten Wiga-Wigo entfernt. Das Schiff wurde geringfügig langsamer, während die Antennen, diesmal mit Maximalkapazität, den Funkruf ein drittesmal abstrahlten. Wieder wartete die kleine Besatzung, von Sekunde zu Sekunde beunruhigter und aufgeregter, auf eine Antwort. Wieder war nichts. Atlan starrte die Panoramagalerie an und überlegte, was er tun sollte. Fliege vorsichtig und langsam ein, sagte das Extrahirn. Es kann dort die Gefahr auf euch alle warten! „Also…“, sagte Atlan und formulierte der Besatzung gegenüber seine Gedanken und Überlegungen, „… die Fernortung hat einwandfrei ergeben, daß dort unten das Leben normal verläuft. Lediglich die Leute auf dem Raumhafen scheinen zu schlafen. Kein Wunder, denn dort ist es inzwischen Abend, was auf den Schirmen deutlich zu sehen ist. Aber auf dem Raumhafen stehen Schiffe. Also kann es sich nur um einen vorübergehenden Ausfall handeln. Freunde – wir landen! Normaler Anflug auf den Raumhafen nahe Brantonfeyn!“ Lutz strich seinen Bart und erklärte: „In Ordnung, Sir. Anordnungen werden ausgeführt!“ Abermals bremste die Korvette ab. Jetzt konnten sie auf den Schirmen deutlich die Lufthülle des Planeten erkennen. Die Dämmerungszone erreichte gerade die Gegend um den Raumhafen.
Vorsichtig näherte sich die STARTRAIN den ersten Ausläufern der Atmosphäre. Atlan ging wieder zurück und setzte sich neben dem Piloten in den schweren Kontursessel, schloß sicherheitshalber die Gurte und betrachtete von seinem Platz aus die Anzeigen und die Skalen. Auch innerhalb der Schiffssysteme war erwartungsgemäß alles in Ordnung. Trotzdem ließ die Ahnung von Gefahren und einer nicht geklärten Situation den Arkoniden nicht los. Er merkte, wie er sich verkrampfte – voller Spannung beobachtete er die schnellen, souveränen Schaltungen des Piloten. Die ersten dichten Spuren der Lufthülle trafen auf das Schiff und erzeugten die bekannten Effekte. Plötzlich sah Atlan, wie der Pilot reagierte. Lutz starrte die Anzeigen vor sich an, als wären sie ihm absolut fremd. Er nahm die Hände von den Hebeln und legte sie auf die Oberschenkel. Einige Sekunden lang starrte der Arkonide den Piloten von der Seite an und wartete darauf, daß er sich wieder um seine Arbeit kümmerte, aber dann sah er, daß Lutz mit dem Ausdruck des völligen Unverständnisses die Pultanzeigen musterte. „Lutz!“ rief Atlan scharf. Der Pilot drehte den Kopf und sah ihn erstaunt an. „Ja, Sir? Was ist los?“ Die Korvette raste jetzt ohne Kontrolle auf den Planeten zu. Direkt im Kurs lag die runde Fläche des Hafens. Die Bildschirme zeigten den hellen Kreis in makelloser Deutlichkeit. Atlan schrie auf. „Was los ist? Ich frage Sie, was Sie haben! Warum steuern Sie das Schiff nicht richtig?“ Im Tonfall eines zu Unrecht bestraften Kindes erwiderte Lutz laut: „Welches Schiff, Sir?“ Atlan warf sich quer über das Pult und schaltete den Haupthebel der Steuerung auf den Autopiloten um. Fast gleichzeitig wurde das Schiff abgebremst. Aber die Geschwindigkeitsanzeigen standen sämtlich im Rotbereich. Der Pilot saß ruhig da und sah staunend und wortlos zu, wie Atlan hantierte. Der Arkonide gab sich keinen Überlegungen hin, was passiert sein konnte. Er handelte wie im Reflex. Gefahr! Das Schiff stürzt ab! schrie der Extrasinn unhörbar in
seinen Gedanken. Der Boden des Planeten kam rasend schnell näher. Atlan riß den kleinen Mann aus dem Sitz heraus, schob ihn weit von sich und griff in die Hebel. Sämtliche Triebwerke heulten auf. Volle Energie flutete in die Antigravprojektoren. Zischend fuhren die Landestützen aus. Atlan versuchte eine Kursänderung, um die Korvette dicht über dem Raumhafengelände abzufangen und einen zweiten Anflug zu versuchen. Die Kugel geriet in Schwingungen und driftete aus der Richtung. „Verdammt!“ schrie Atlan auf und versuchte gegenzusteuern. Er sah vor sich den Raumhafen mit den abgestellten Schiffen. Es war früher Abend, wie an den markanten Schatten deutlich zu sehen war. Aus dem nahezu senkrechten schnellen Fall der STARTRAIN wurde ein spitzer Winkel, der immer flacher wurde und in eine Kurve überging. Die Kurve würde, das schätzte Atlan mit seiner Erfahrung ab, gerade den Boden des Platzes berühren. Sämtliche Bremssysteme waren überlastet. Alle Triebwerke und die Antigravprojektoren arbeiteten mit Höchstleistung. Aus dem Schiffsinnern kamen die Vibrationen und das gefahrdrohende Brausen des arbeitenden Meilers. Alarmsignale schrillten. Die zwölf Besatzungsmitglieder standen oder saßen an ihren Plätzen und begriffen offensichtlich nicht, was geschehen war und wo sie sich befanden. Eine Amnesie schien sie befallen zu haben, dachte der Arkonide verzweifelt, als er in einer der ewig lang gewordenen Sekunden vor dem Aufprall einen schnellen Rundblick durch die Zentrale machte. Hin und wieder spielte einer der Männer mit einem Schalter und löste einen Vorgang aus, den er nicht begriff und dessen Tragweite er nicht, ermessen konnte. Bring dich in Sicherheit! schrie der Extrasinn. Atlan konnte nichts mehr tun. Die STARTRAIN raste, mit sämtlichen Systemen bremsend, flach und mit viel zu hohem Tempo auf den Platz zu. Atlan vermochte noch ein winziges Steuermanöver durchzuführen, so daß das kleine Raumschiff nicht mit den abgestellten Frachtern kollidieren würde. Es raste schräg auf eine lange Gasse zu, die irgendwo in der Nähe des Towers aufhörte. Kreischend und pfeifend brach sich die Luft und orgelte hinter dem Schiff ins Halbvakuum. Die Partikeltriebwerke jagten ihren
mörderischen Donner über die ruhige, friedliche Landschaft. Dann berührte eine der ausgefahrenen Landestützen den Boden. Ein harter Schlag ging durch die Schiffszelle, als nach einem riesigen Funkenregen die stählerne Stütze brach. Das Hydrauliköl ergoß sich kochend und spritzend nach allen Richtungen. Atlans Finger schlossen in diesem Moment gerade die wuchtigen Riegel der Sicherheitsgurte. Die Korvette sprang mit wild feuernden Triebwerken einmal zwanzig Meter hoch und hundert Meter weit, aber die Bremswirkung blieb noch immer. Die Triebwerke feuerten in die Richtung des Turmes. Dann, gleichzeitig mit zwei Landestützen, schlug die STARTRAIN ein zweitesmal auf. Wieder gab es ein lautes, schrammendes und kreischendes Geräusch und einen doppelten Funkenregen. Die Landestützen brachen ab, wurden aus der Aufhängung gerissen und ließen das Schiff durchsacken. Mit der Polschleuse donnerte die Korvette auf den Boden und zerschlug den Spezialbeton. Atlan beugte sich mit letzter Kraft nach vorn und schlug mit der geballten Faust auf den roten Knopf, der sämtliche Aggregate außer Betrieb setzte. Der Meiler durfte nicht detonieren, denn sonst würde es hier, anstelle des Raumhafens, nur einen radioaktiven Krater geben. In das Lärmen, die schweren Erschütterungen und die Entsetzensschreie der Männer mischten sich die Geräusche der Zerstörung. Krachend und mit dröhnendem Knallen rissen die Triebwerke aus ihren Verankerungen und flogen davon. Die Korvette begann sich zu drehen und über den Raumhafen zu rollen. Dabei führte sie Sprünge von zehn Metern Weite aus und schlug immer wieder schwer auf. Die Außenhaut verwandelte sich in ein System aus Beulen und tiefen Kratern. Im Innern des Schiffes brach das Chaos aus. Menschen flogen durch die Zentrale. Alle Gegenstände, die nicht fest verankert waren, lösten sich und schwirrten von Wand zu Wand wie im Innern einer abrollenden Tonne. Bildschirme implodierten, schwere Zusatzgeräte lösten sich und schmetterten durch die Wände. Schotten krachten auf und zu. Neben Atlan bohrte sich ein schwerer Schaltschrank mit der Kante in das Pult. Atlans Sessel befand sich einmal oben an der Decke, dann wieder unten, wirbelte herum, die
Gurte schnitten tief in die Haut ein. Der Arkonide verlor das Bewußtsein, als eine halbvolle Thermokanne quer durch die Zentrale zischte und ihn am Hinterkopf traf. Eine Sekunde später flog sie durch ein offenes Schott ins Schiffsinnere und zerplatzte. Rumpelnd und krachend rollte die Korvette über den Raumhafen und blieb liegen, als sie mit einem letzten Stoß gegen den Stahlbetonsockel des Turms schlug. An mehreren Stellen des Schiffes, dessen Luken aufgesprungen waren, brachen Brände aus. Ein intaktes Warnsystem heulte auf. Nichts regte sich mehr in dem zerstörten Wrack der STARTRAIN.
4. Froom richtete den Strahler auf die Brust des ersten Polizisten und sagte laut und in unmißverständlichem Ton: „Halt! Was soll das?“ Die Männer blieben ruckartig stehen. Die hintersten prallten gegen die Rücken der Vorderleute. Der Sergeant sagte: „Sie sind angezeigt worden. Sie haben das Medium der Okkultisten, einer lizenzierten Gesellschaft, entführt.“ Er betrachtete aufmerksam den Mann, der vor ihm stand. Am meisten faszinierten ihn die grauen Strähnen im schwarzen Haar. Sie schienen auszudrücken, daß dieser Mann mehr gesehen und erlebt hatte, als dieser narbige Arbeitssuchende gemeint hatte. „Soso!“ sagte Froom leise. „Entführung!“ Er entdeckte hinter den Polizisten Kilter Shann. Ganz offensichtlich hatte er ihn denunziert. Wieder richtete der Sergeant das Wort an ihn. Die Polizisten füllten die Breite des Korridors aus, kamen aber nicht näher und machten auch keinen Versuch, ihn anzugreifen. „Ihr Name ist Froom Wirtz?“ „Richtig. Und Ihre Annahme, daß ich ein Entführer sein könnte, ist mehr als irrig. Möchten Sie hereinkommen, Sergeant?“ Er sah Kilter Shann nicht einmal an. Aber deutlich merkte er aus den Augenwinkeln, daß der ehemalige Raumfahrer tödlich verlegen war. „Ich muß darauf bestehen!“ sagte der Polizist.
Froom winkte die anderen mit dem Strahler zurück und sagte: „Ich habe keinen Fluchtversuch vor. Kommen Sie herein. Dort drüben sitzt Terrania Skeller und fühlt sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Die Okkultisten treiben das Kind in eine Neurose. Aber dafür ist ja die Polizei nicht zuständig. Jetzt, da sich ein Mensch um das Mädchen kümmert, greifen Sie ein. Können Sie mir sagen, Sergeant, warum Sie erst jetzt so dramatisch aktiv geworden sind? Gleich vier Gleiter voller Polizisten gegen einen harmlosen Fremden und ein Kind.“ Er grinste den Polizisten an, der die Flut von Vorwürfen mit verkniffenem Gesicht über sich hatte ergehen lassen. Terrania schaltete den Lesewürfel ab und sah den Polizisten strahlend an. „Du bist Terrania, nicht wahr?“ Fragte er. „Ja, das bin ich. Froom hat mich aus dem Keller geholt. Ich bin gern hier. Er hat mir neue Sachen gekauft und ganz schicke Lesespulen.“ Froom steckte die Waffe ein und sagte: „Das entführte Opfer hat gesprochen.“ Der Sergeant fuhr wütend herum und sagte laut: „Lassen Sie Ihre verdammte Überheblichkeit. Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, denn vor einer halben Stunde kam der Mann mit den positronischen Optiken in unsere Zentralstation und meldete, daß Sie Terrania entführt haben. Was hätte ich tun sollen?“ Froom hob den Finger und lächelte versöhnlich. „Weniger wäre mehr. Weniger Dramatik wäre mehr Vernunft gewesen. Hat Terrania eigentlich keine Eltern mehr oder niemanden, der sich um sie kümmert?“ Mit Interesse, an einem Bonbon lutschend, den sie von einer Backe in die andere schob, folgte Terrania der Auseinandersetzung. „Meine Eltern sind tot!“ sagte sie dann einfach. „Bei einem Bergbauunglück umgekommen“, erklärte der Sergeant. „Ihr Onkel ist einer der Okkultisten.“ Terrania machte ein betroffenes Gesicht und flüsterte wichtigtuerisch: „Er schlägt mich immer. Mein Onkel.“ Froom verbiß sich ein Gelächter. Er deutete auf das Kind und sagte anklagend: „Da haben Sie’s! Vermutlich wird sich der Magistrat noch bei mir
entschuldigen. Jedenfalls habe ich niemals vorgehabt, ein Verbrechen zu begehen. Mir tat das Kind leid, und deswegen ist Terrania hier.“ Der Sergeant überlegte einige Zeit, dann sagte er: „Es wird am besten sein, Sie kommen mit dem Kind in unsere Station und geben dort alles zu Protokoll. Dann sehen wir weiter. Ich habe nicht genügend Kompetenzen, um den Fall allein zu entscheiden. Sprechen Sie am besten mit meinem Chef. Entschuldigen Sie unser dramatisches Eingreifen.“ Froom grinste ihn an und sagte: „Schon vergessen. Bringen wir es hinter uns. Werden die Fahrzeuge für uns reichen?“ „Fangen Sie nicht schon wieder an, ja?“ Froom überlegte. Er trug alles Wichtige bei sich und war unabhängig. Dann nahm er das Mädchen an die Hand und sagte: „Wir gehen jetzt zu den lieben Polizisten und sagen ihnen, wie gut wir uns verstehen, und wie gut du es hier hast. Kommst du?“ Sie verließen die Wohnung, der Sergeant klärte seine Kollegen auf. Kilter Shann lehnte an der Wand und starrte die beiden an. Terrania holte aus und trat ihm an das Schienbein. Als er „Au!“ schrie, zischte Froom: „Du bist doch der größte Idiot, den ich hier in der Stadt treffen konnte!“ Sie stiegen unter starker Anteilnahme der Hausbewohner und einiger Passanten in den vordersten Gleiter und fuhren ohne Sirenengeheul und Rotlicht durch ein Drittel der Stadt. Die anderen Polizeigleiter verschwanden in andere Richtungen. * Als Froom Wirtz das große Polizeirevier betrat, fühlte er wieder dieses deutliche Unbehagen, das er kannte: es hatte ihn vor allen schwierigen und gefahrvollen Phasen seines Lebens ergriffen gehabt. Das Revier sah so unpersönlich und leicht schmuddelig aus wie jedes Polizeirevier in allen Winkeln der Galaxis. Ein gähnender Beamter drückte auf einen Knopf, und vor Froom, dem Mädchen und dem Sergeanten zog sich eine Energieschranke zusammen. „Wir müssen zum Chef, Jon!“ sagte der Sergeant.
„Schon gut. Der Entführer, wie? Der Psychiater wartet schon auf euch!“ Der Griff Terranias um Frooms Hand verkrampfte sich, auch das Mädchen war unruhig und ängstlich. „Schon gut“, sagte er leise. „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Der Sergeant drehte sich vor einer schalldichten Tür um und streckte die Hand aus. „Ihre Waffe“, sagte er. „Beziehungsweise das Energiemagazin!“ „Geht in Ordnung!“ erklärte Froom, löste das Energieelement aus dem Kolben der Waffe und legte es in die Hand des Polizisten. In der Wohnung befanden sich vier gefüllte Energiezellen, und draußen am Raumhafen gab es unzählige Reserven. Die Tür glitt auf, und sie kamen in ein gut eingerichtetes Büro. Die Klimaanlage summte leise; mildes indirektes Licht erfüllte den Raum. Hinter einem Schreibtisch saß der Polizeichef, an einem kleineren Tisch links neben ihm kauerte, sprungbereit wie ein Raubvogel, ein weißbemantelter Mann mit Vollglatze und einer anachronistischen Hornbrille. „Guten Abend!“ sagte Froom. „Machen Sie es kurz; ich muß für uns beide Abendessen kochen.“ Der Chef musterte ihn schweigend, sah dann das Mädchen an, das trotzig zurückblickte, dann sagte er: „Setzen Sie sich bitte. Sie wissen, daß die Anklage oder vielmehr die Beschuldigung sehr ernst ist. Inzwischen hat der Onkel dieses Mädchens sich gemeldet und zunächst Vermißtenanzeige erstellt, dann Anzeige wegen Einbruch und Entführung. Er hat…“ Froom nickte, setzte sich, warf einen schnellen Blick hinüber zum Psychiater, der jede Bewegung wie ein System von Kameralinsen registrierte. Dann sagte Wirtz hart: „Ich erstatte Gegenanzeige. Mein Katalog ist länger. Ausnutzung von Minderjährigen, Verletzung der Aufsichtspflicht, Mißbrauch zu abartigen Praktiken und noch einiges mehr.“ Der Chef nickte dem Sergeanten zu und deutete auf den Mann im weißen Mantel. Er sagte: „Zuerst einmal werden wir überprüfen, was Ihre wirklichen Beweggründe waren. Unser Polizeipsychiater ist ein hervorragender Mann. Er wird Sie beide testen. Dann erst können wir entscheiden, was geschieht.“ „Meinetwegen!“ sagte Froom. Als der Chef aufstand, schlossen
sich breite Metallbänder um Schienbeine und Handgelenke. Froom rief laut: „Was soll das? Sie können mich doch nicht wegen einer solchen Lappalie einfach an den Sessel fesseln?“ Der Sergeant blickte ihn an, als wolle er ausdrücken, daß er nichts für diese Anordnung könne. Dann verließen der Chef und der Sergeant den Raum. Als die Tür für einige Sekunden offen stand, hörte Froom noch, daß irgendwo im Süden ein Feuer ausgebrochen sein mußte. Irgendwo im Süden… das kann nur der Raumhafen sein! dachte Froom, aber da begann der Psychiater bereits mit seinem Verhör. Bezeichnend war, daß er erbarmungslos auf das Mädchen einzureden begann. Er stellte ihr ununterbrochen Fragen. Wie alt? Warum in diesem Keller gewesen. Was war dort vorgefallen? Besaß sie wirklich übersinnliche Kräfte? Hatte sie genug zu essen bekommen? Haßte sie ihren Onkel? Terrania gab zunächst zögernd Antworten. Dann wurde sie immer einsilbiger und stockte schließlich. Froom zerrte sinnloserweise an den Fesseln und brüllte schließlich: „Hören Sie auf, Sie Stümper! Ja, ich weiß, das ist Beamtenbeleidigung! Aber Sie müssen doch nicht unbedingt das Kind quälen!“ Der Psychiater sprang auf, hieb mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie mit hochrotem Gesicht zurück: „Überlassen Sie das mir! Ich weiß am besten, was ich zu tun habe! Wer sagt Ihnen denn, daß wir einfach alles glauben können?“ Froom beherrschte sich und sagte schneidend: „Ich werde Ihnen keine einzige Antwort geben, die über meine Personalien hinausgeht. Und du, Terrania, sagst auch nichts mehr, klar?“ Das Mädchen hatte sich weinend an seine Knie geflüchtet. Sie saß halb, halb lehnte sie sich gegen Froom und nickte. Der Psychiater sprang auf und rief wütend: „In Ordnung. Wenn Sie es heute nicht freiwillig sagen, dann werden Sie es morgen unter Zwang tun! Das verspreche ich Ihnen!“ Er rannte zur Tür, riß sie auf und schmetterte sie zu. Einige Minuten vergingen ereignislos. Terrania Skeller beruhigte sich
wieder und fragte: „Haben wir jetzt Ruhe, Froom? Wird er uns nicht mehr fragen?“ Unbeholfen zuckte Wirtz mit den Schultern. Diese Quälerei hatten sie dem Verrat des Raumfahrers zu verdanken. „Ich weiß es nicht!“ sagte er. „Aber du bist in Sicherheit. Ich werde dir helfen, Terrania!“ „Ich habe Angst.“ Terrania zitterte und weinte noch immer. Jetzt kamen drei Polizisten herein, unter ihnen auch der Sergeant. Der Mann machte ein betroffenes Gesicht und löste die Fesseln. Schweigend standen sich Froom und der Polizist gegenüber. „Ich finde es bodenlos. Sie können sicher sein, daß ich bei erster Gelegenheit zurückschlagen werde!“ „Kann ich verstehen. Der Chef hat für morgen die Verantwortlichen zusammengetrommelt. Das Mädchen und Sie müssen zu unserer Verfügung stehen!“ Froom nickte und sagte: „Dann bringen Sie uns zurück in die Wohnung und stellen ein paar Wachen auf. Ich werde nicht flüchten. Wohin auch auf dieser kleinen Hohlwelt?“ „Kann ich verantworten!“ sagte der Sergeant nickend. „Kommen Sie!“ Sie verließen die Station und fuhren im Gleiter des Sergeanten zur Wohnung. Diesmal erregten sie kaum Aufmerksamkeit. Ein Posten setzte sich auf die Terrasse, zwei weitere, die in vier Stunden abgelöst werden würden, nahmen vor der Wohnungstür Aufstellung. „Machen Sie keinen Blödsinn, Wirtz!“ sagte der Sergeant. „Sie kommen nicht weit mit dem Mädchen. Wir kennen unsere Welt.“ Bis auf die Zonen, von deren Existenz ihr keine Ahnung mehr habt, sagte sich Froom und bereitete für sich und das Mädchen das Abendessen. Der Gleiter, mit dem er vom Raumhafen hierher gekommen war, parkte genau zwischen den beiden Polizeimaschinen. „Was tun wir jetzt?“ fragte Terrania satt und zufrieden. Sie schien einen Großteil der Vorkommnisse schon vergessen zu haben. „Du wirst dort hineingehen und schlafen!“ sagte Froom und schob ihr die warme Milch zu. Er hatte eine Kleinigkeit Schlafmittel darin aufgelöst und umgerührt.
„Ich bin auch furchtbar müde!“ sagte sie. Er brachte sie hinüber in das kleine Zimmer, verdunkelte es und achtete darauf, daß sie sich voll angezogen auf das Bett legte. Dann ging er zurück, schaltete den Interkom ein und sah sich die Spätnachrichten an. Es gab nichts Neues. Nicht einmal der Brand in der Richtung des Raumhafens wurde erwähnt. Was hatte dort gebrannt? Das Hotel oder das Raumhafen-Center? Eine Zigarette, ein Glas Alkohol und Ruhe. Das waren die besten Voraussetzungen, um zu überlegen, was er tun konnte. Nur an einem Platz war er sicher, am Raumhafen. Die Planetarier wußten nicht mehr, daß es ihn gab. Und wenn sie an den Bauten und Schiffen vorbeikamen, dann würden sie nicht wissen, was es war, das sie dort sahen. Entkommen? Wie? Er zuckte die Achseln, als er nachdachte. Plötzlich ertönte der Türsummer. Langsam stand Froom Wirtz auf, ging zur Tür und hörte hinter sich die Schritte des dritten Postens. Als er den Bildschirm einschaltete, stand nur ein leeres Bild vor seinen Augen. Der leere Eingang. Er öffnete die Tür und sah sich den beiden Polizisten gegenüber, die zu ihren Waffen griffen. „Sie erwarten Besuch?“ fragte einer von ihnen. „Eigentlich nicht“, erklärte Froom. „Aber der Mann, der mich verpfiffen hat, wohnt hier. Vielleicht sucht er ein Bett!“ „Schon möglich. Gehen Sie wieder hinein!“ Froom ging zurück und sah zu, wie der Posten sich wieder auf die dunkle Terrasse zurückzog. Dann, kaum daß er wieder vor dem Gerät saß, hörte er vor der Tür die unverkennbar charakteristischen Abschüsse einer Schockwaffe. Er sprang auf und rannte Seite an Seite mit dem dritten Posten zur Wohnungstür. Er riß sie auf und sah in die Mündung des Schockers. Die Waffe bewegte sich um einige Zentimeter, der dritte Schuß fauchte auf und traf den Posten neben Froom in die Brust. Mit seinem verzerrten Grinsen steckte Kilter Shann die Waffe ein. Er wirkte sehr verlegen, als er sagte: „Ich mußte es einfach tun, Froom!“ Froom winkte. „Komm herein!“ Im Wohnraum breitete der Raumfahrer die Arme aus und starrte Froom mit seinen riesigen Facettenaugen an.
„Ich weiß auch nicht, was mit euch beiden eigentlich los ist“, sagte er leise und deutete auf die Waffe. „Aber ich glaube eigentlich nicht, daß ihr verrückt seid.“ Froom grinste und begann seine wenigen, wichtigen Habseligkeiten zu packen. Sein Ziel stand fest. „Eigentlich sind wir nicht verrückt!“ sagte er. „Wir sind nur anders.“ „Schon möglich! Ich helfe euch!“ „Danke, du Scherzbold!“ meinte Froom. „Und was willst du tun, nach deinem großen Solo?“ „Niemand hat mich gesehen!“ „Du Optimist!“ Wirtz wußte, daß er zusammen mit Terrania hier in Brantonfeyn nicht die geringste Chance hatte. Er mußte weg. Er steckte das letzte Energiemagazin ein und sagte zum wartenden Shann: „In Ordnung. Du wirst jede Menge Schwierigkeiten bekommen, Shann. Terrania und ich flüchten nach Süden. In einigen Stunden werden wir überall gesucht werden. Du solltest dann ebenfalls weit weg sein. Danke jedenfalls dafür, daß du uns den Weg freigemacht hast.“ Shann zog eine verlegene Grimasse und meinte: „Vergiß es. Nehmt mich ein Stück mit, hinaus aus der Stadt.“ „Gern. Gehen wir!“ Froom holte das schlafende Mädchen, wickelte Terrania in eine Decke und trug sie in den Lift. Shann half ihm dabei. Kurze Zeit später brummte der Gleiter auf und schob zuerst den hinteren, dann den vorderen Polizeigleiter weg. Dann riß Froom das Steuer herum und trat den Beschleunigungsregler voll durch. Der Gleiter schoß die Straße entlang und näherte sich der Schnellverbindung zwischen Brantonfeyn und dem vergessenen Raumhafen. Wie würde es weitergehen? * Der dahinrasende Gleiter erreichte das Gelände des Hafens in der ersten Helligkeit des Morgens. Undeutlich sah Froom, der vor wenigen Minuten den Raumfahrer wieder neben dem steckengebliebenen Ferntransportgleiter abgesetzt und sich
verabschiedet hatte, eine dünne, schmale Rauchsäule in die Luft klettern. In ihrem oberen Stück wurde sie von den ersten Sonnenstrahlen getroffen. Allerdings roch das gesamte Gelände hier in der unbeweglichen Luft nach Brand und Rauch. Eindeutig! Da hat es gebrannt und brennt wohl noch! stellte er fest und warf einen Blick in den Rückspiegel. Terrania Skeller schlief noch immer. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, lenkte Froom den Gleiter auf das Landefeld hinaus und ging in eine Kurve. Als er wieder auf den Tower und das kleine Hotel zufuhr, sah er die Spuren und, als er den Kopf hob, auch das Wrack. Von dort stieg der Rauch auf. Zehn Meter vor dem Wrack – es war eine bis zur Unkenntlichkeit zertrümmerte Korvette, im oberen Drittel verbrannt und rauchgeschwärzt – hielt er den Gleiter an. Sechzig Sekunden lang starrte Froom das Schiff an. Es war notgelandet, beziehungsweise hatte die Mannschaft die Landung versucht und nicht mehr geschafft. Froom schüttelte den Kopf und murmelte unverständliche Worte. Das Schiff war hoffnungslos zerstört. Dann erinnerte er sich schlagartig wieder an Terrania und fuhr wieder an. Zuerst das Mädchen, dann das Raumschiff. Die Dinge trieben einem Höhepunkt zu. Der Gleiter bremste vor der Hoteltreppe. „Komm, Kleines!“ sagte Froom und hob das Mädchen, das noch immer schlaftrunken war und schwer in seinen Armen hing, aus dem Gleiter. Das Innere des Hotels kannte er bereits. Er legte das Mädchen in das Bett, das er schon mehrmals benutzt hatte, dann riß er sich die Jacke von den Schultern, zog Handschuhe an und lief, alle Türen hinter sich offen lassend, durch die Korridore des Hotels und die Stufen hinunter. Er rannte auf das Schiff zu, in dessen oberem Drittel es noch immer zu glühen oder zu brennen schien. Vor den Trümmern blieb er stehen und starrte sie an – lebte dort drinnen noch jemand? Jedenfalls mußte er versuchen, es festzustellen. Er ging schnell einmal um das Wrack der Korvette herum. Aus den Buchstaben, die durch die geradezu zerknitterte Hülle kaum zu erkennen waren, setzte er STARTRAIN zusammen. Dann entdeckte er in drei Metern Höhe eine aufgerissene Luke. Der stählerne Rahmen war wie von einer riesigen Faust zusammengedrückt, und die Platte war verschwunden, während des Aufschlags vermutlich
losgerissen und davongewirbelt. Froom holte Luft, nahm einen Anlauf und sprang hoch. Seine Finger bekamen einen Vorsprung zu fassen, er zog sich langsam hoch und machte einen Klimmzug. Seine Füße faßten einen Halt, er warf sich vorwärts in die Luke hinein. Aus dem Schiff kam ein durchdringender, ätzender Geruch. Hustend und mit tränenden Augen kam Froom auf dem schrägen Boden – oder war es eine Wand oder die ehemalige Decke? – der Luke zu stehen. Er drehte sich um und bemerkte schräg über sich eine deformierte, aber geschlossene Innenluke. Mit einem leichten Anlauf warf er sich gegen die Riegel. Das Schott gab nicht nach. Er hielt sich an dem Handrad fest und bemerkte im gleichen Moment, daß sich das Rad bewegte. Er drehte, so schnell er konnte, das Rad. Das schwere Schott knirschte und fiel ihm entgegen. Er wich aus und bekam die verschmorte Dichtung des Rahmens zu fassen. Eine graue Wolke aus Rauch und Ruß schlug ihm entgegen und wurde durch den Laderaum getrieben und abgesaugt. Der Gang hinter dieser Öffnung war dunkel. Wenn er jemanden aus der Mannschaft fand, dann sicherlich im Zentrum des Wracks. Dort waren die Männer am meisten geschützt, und dorthin würden sie sich während des Absturzes auch zurückgezogen haben. Das dachte er. Durch das Dunkel tastete er sich im rechten Winkel abwärts. Nach zehn Schritten trat er auf einen Lappen oder ein zusammengedrücktes Kleidungsstück. Er bückte sich und tastete nach dem Gegenstand. Erschrocken richtete er sich wieder auf. Er war über einen Toten gestolpert. Er ging nach kurzem Zögern weiter. Je tiefer er kam, desto dunkler wurde es. Nach einigen Minuten, in denen er im Zickzack durch Gänge und Korridore getappt war, mußte er feststellen, daß die Metallteile noch immer heiß waren, und daß sich das Schiff schwer verformt hatte. Bis jetzt, erinnerte er sich, war sein Weg schräg aufwärts gegangen, also ein Zeichen, daß er sich dem Zentrum des Wracks näherte. Drei Meter weiter war Licht; in den Gängen und den Wänden klaffte ein riesiges ausgezacktes Loch. Die Sonne schien halbwegs hinein. In einem Winkel zwischen dem abgeknickten Rohr der fast waagrecht verlaufenden Antigravanlage und der Wandung entdeckte
Froom den zweiten Toten. Er lag in einem unnatürlichen Winkel in der Ecke. Alle seine Knochen schienen zerbrochen zu sein. Schweres Gas sickerte von oben herab, als sich Wirtz in die Zentrale des Schiffes vortastete. Er trat auf Scherben, und seine Stiefelspitzen schoben unablässig alle nur denkbaren Trümmer zur Seite. Die Helligkeit reichte zungenförmig in den Raum hinein, dessen Boden in einem Winkel von mehr als dreißig Grad gekippt war. An der Wand lag eine hohe, zusammengerutschte Schicht von Schrott aller Größe. Einige der Sessel waren losgerissen. Nur noch zwei der Schirme der Panoramagalerie funktionierten und verbreiteten kümmerliche Helligkeit. Wieder zwei Tote. Sie waren förmlich zerschnitten worden. Ein dritter lag zerquetscht unter einem Schaltschrank, der sich losgerissen hatte. Langsam drehte Froom den Kopf und entdeckte weitere Leichen. Er zählte insgesamt zwölf, mit denen, die er außerhalb der Zentrale gesehen hatte. Ein schwaches Stöhnen ließ ihn herumfahren. Es kam aus einer dunklen Ecke, die von einem wuchtigen Magnetbandspeicher halb ausgefüllt wurde. Dort sah er den Fuß einer Konturliege, die sich bereits halb losgerissen hatte. Auch hier roch es nach verschmortem Plastik und ausgekühltem Metall, nach verbranntem Fett und nach Isoliermaterial. Durch die Scherben watete Wirtz vorsichtig auf die Ecke zu und schob sich zwischen den Trümmern hindurch. Dann sah er die Gestalt, die, nur durch breite Gurte gehalten, halb erdrosselt in dem Sessel hing. Ein blutverkrustetes Gesicht… Langes, fast silberfarbenes Haar… diese Gesichtszüge. Es war Atlan, der Arkonide! Froom packte die Sessellehne, zog sich daran hoch und suchte neue Standplätze für seine Füße. Dann öffnete er die schweren, gepolsterten Verschlüsse der Gurte. Der Körper rutschte ihm schlaff entgegen, die Füße knickten ein, dann schob sich Froom mit dem Rücken unter den schweren Körper. Ächzend richtete er sich auf. Er mußte hinaus ins Freie, so schnell es ging. Über seiner Schulter schrie Atlan vor Schmerzen leise auf. Atlan! Er kannte ihn aus zahllosen Videosendungen und aus allen den Gelegenheiten, an denen man die Verantwortlichen der Imperiumsregierung eben sehen konnte. Es gab keinen Zweifel! Also
war es auch Atlan aufgefallen, daß der Planet sich in den Gedanken seiner Bewohner in eine Hohlwelt verwandelt hatte, und er wollte selbst nachsehen, was hier los war. Keuchend und schwitzend kletterte Wirtz durch die Zentrale, erreichte den Korridor und tastete sich dann dem Licht entgegen. Dieser Weg war kürzer. Der Körper auf seinen Schultern war schlaff und schwer. Nach langen Minuten erreichte Froom den Rand der aufgerissenen Lukenwand und ließ Atlan vorsichtig von den Schultern gleiten, lehnte ihn gegen das Metall. Dann beugte er sich durch die Öffnung und stellte fest, daß sie mindestens zehn Meter über dem Boden lag. Er fluchte und begann erneut mit der Suche. In einem Staufach des Ganges, nahe bei dem zertrümmerten Schott, fand er ein langes Kunststoffseil. Er lief zurück, knotete das Seilende um die Brust und unter den Schultern des Arkoniden und warf es dann um eine annähernd runde Strebe. Er überlegte – der Körper hier war schwerer als sein eigener. Dann leitete er das Seil um seinen eigenen Körper, verfertigte eine Art Bremseinrichtung, hob dann Atlan auf und ließ ihn mit größter Vorsicht aus der Luke fallen. Der Arkonide schlug gegen die Außenwand des Schiffes und stöhnte wieder auf. Noch immer hielt er die Augen geschlossen. Langsam löste Froom das Seil. In einer Anzahl kleiner Rucke spannte sich das Seil und lief über den Träger ab. Jedesmal rutschte Atlan ein Stück tiefer. Einmal wurde Froom von dem Gewicht von den Beinen gerissen und gegen die ausgezackte Bordwand geworfen. Er verbiß die Schmerzen und stemmte sich wieder zurück. Wieder gewann er einige Meter. Der schwere Körper rutschte geräuschlos über die zerbeulte Wandung, kam dann frei und begann sich zu drehen. Die Spannung des Seiles nahm zu. Froom ließ abermals Stück um Stück nach und merkte nach einiger Zeit, daß der Körper dort unten auf dem Boden angekommen sein mußte, denn die Spannung ließ nach. Inzwischen brannte die Sonne voll auf die Bordwand und in die ausgezackte Luke des Wracks. Froom war in Schweiß gebadet und begann zu keuchen. Er sah nach und bemerkte, daß etwas mehr als die Hälfte des Seiles außerhalb des Schiffes hing. Unterhalb der Verstrebung verknotete er das Seil zweimal, warf die Rolle nach draußen und hangelte sich dann, noch immer auf dem
Rand des Loches stehend, nach außen. Er stieß sich ab und spreizte die Beine, dann pendelte er wieder zurück gegen das Metall. Unter sich sah er Atlan auf dem Boden liegen. Unruhig bewegte Atlan den Kopf hin und her. Jeden Vorsprung und jede Fläche, die seinen Füßen Halt bot, nützte Froom aus. Seine Armmuskulatur schmerzte, als er das letzte Stück Seil zwischen den Fingern fühlte, seinen Körper in Schwung versetzte und zwei Handbreit neben Atlan auf dem geschwärzten Beton landete. Froom wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und bückte sich ächzend, um die Schlingen und Knoten zu lösen. Dann kauerte er sich nieder, zog einen Arm des Arkoniden über die Schulter und stand langsam und mit zitternden Knien auf. Atlan schien langsam zu sich zu kommen. Er versuchte schwache Bewegungen mit den Beinen, aber auf dem Weg zum Hotel, der sich ins Endlose auszudehnen schien, knickte er immer wieder ein. Inzwischen atmete er aber schon tief und einigermaßen regelmäßig. Schließlich lud Wirtz den Körper auf einem der Hotelbetten ab und begann mit zitternden Fingern, die Kleidung des Arkoniden zu öffnen. Er zog ihn aus und schleppte ihn in das heiße Wasser einer halbgefüllten Badewanne. Das Bad, eine anschließende eiskalte Dusche, die Arbeit des Zellschwingungsaktivators, eine Kanne Kaffee mit starkem Alkohol darin und drei Stunden Arbeit durch den hoteleigenen Medorobot brachten Atlan wieder zu sich. Er schleppte sich gegen Mittag in das Zimmer, in dem Froom gerade aus einem leichten Schlaf hochfuhr. Die Männer sahen sich schweigend an. Dann fragte der Arkonide: „Meine letzte Erinnerung war die der Katastrophe. Daß ich unter den Armen eines Medorobots erwachte, scheint wohl Ihr Verdienst zu sein?“ Froom gähnte, rieb sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich auf. „Richtig, Sir. Mein Name ist Froom Wirtz. Sie sind natürlich Atlan?“ Atlan ließ sich mit lautem Ächzen in einen Sessel sinken und hob seine bandagierte Hand. „Ja. Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor, Froom!“ Das war, trotz der leichten Schläfrigkeit, auch Wirtz’ Eindruck
gewesen. Irgendwie schien es, daß er und Atlan sich kannten. Aber er schob dies auf den gemeinsamen Marsch vom Schiff hierher und griff nach der Zigarettenpackung. „Notlandung?“ „Ja“, sagte Atlan. „Plötzlich, in der Atmosphäre, schienen meine Leute nicht mehr zu begreifen, was sie eigentlich waren.“ Wirtz wurde schlagartig wach. Dies war eine erregende Neuigkeit. Er stieß hervor: „Dann hängt es mit etwas in der Lufthülle zusammen! Hier auf diesem Planeten herrscht seit Wochen die Überzeugung, daß der Planet eine Hohlwelt sei. Alles, was mit Weltraum und Raumfahrt zusammenhängt, existiert nicht mehr. Wieviel Mann waren in dem Schiff?“ „Zwölf!“ erwiderte Atlan. „Sie sind tot?“ „Ja. Ich fand ein Dutzend Leichen. Gräßlich zugerichtet. Haben Sie schon bemerkt, daß der Hafen restlos verlassen ist? Es gab nur einen Wahnsinnigen, der mich zum Tode verurteilte und dabei selbst umkam. Und jetzt uns beide. Und darüber hinaus ein ungefähr zehnjähriges Mädchen mit medialen Fähigkeiten, das während okkulten Sitzungen von Mächtigen, Sternen und Raumfahrt spricht.“ Atlan bewies mit der nächsten Antwort, daß er sich bereits im Hotel umgesehen hatte. „Das ist das Mädchen, das in dem Zimmer dort drüben schläft, nicht wahr? Erzählen Sie bitte, Wirtz!“ Froom nickte und berichtete, was ihm seit dem rätselhaften Moment während der Ausgrabungen passiert war. Als er eine Stunde später endete, stand Atlan auf. „Ich fühle mich inzwischen wieder ganz gut“, sagte er und legte seine Hand auf den eiförmigen Aktivator. „Dieses Gerät, das Sie zweifelsohne gesehen haben, hilft mit einer erstaunlichen Effizienz.“ „Dann werden Sie mindestens ebenso viel Hunger haben wie ich. Und das Mädchen wird auch hungrig sein, wenn es aufwacht. Ich kenne dieses Hotel inzwischen sehr gut. Nahezu alles funktioniert.“ „Ich helfe Ihnen, Wirtz!“ sagte Atlan und stand auf. „Gern.“ Jetzt hast du die Erklärung für das angebliche Versagen des Instinktspezialisten, sagte der Extrasinn. Atlan war zufrieden. Nicht Sellbegg Garobiers und seine Planung
oder die daran beteiligten Programme und Menschen hatten versagt, sondern dieser Planet war der Grund. Atlan beschieß, sich noch einige Zeit über die wahre Funktion von Wirtz auszuschweigen beziehungsweise den Instinktspezialisten nicht zu aktivieren, sondern abzuwarten und zu sehen. Jedenfalls war eine Meldung über Rhodans Erscheinen auf Komouir nicht bis hierher durchgedrungen. Andererseits saßen sie in einer Falle. Bis dies aufgeklärt war, würde noch einige Zeit vergehen. Jedenfalls kamen jetzt die naheliegenden Dinge. Das Essen, etwas Ruhe und gemeinsames Überlegen. Und vielleicht hatte auch das Mädchen eine zusätzliche Information. Atlan und Terrania sahen sich prüfend an, als sie sich am gedeckten Tisch gegenübersaßen. „Du bist also Terrania!“ sagte Atlan und zog sie spielerisch am Zopf. Terrania deutete mit dem Daumen auf ihn und fragte Wirtz: „Wer ist der Mann, Froom?“ „Nun“, wich Froom aus, „ein ziemlich berühmter Mann in einer anderen Welt. Er hat uns besucht, weil es hier auf Wiga-Wigo so viele seltsame Geschichten gibt.“ Er schöpfte mehrere Kellen seiner dicken Suppe in ihren Teller. „Wird er uns auch verraten wie die Eule?“ Froom und Atlan begannen zu lachen. Atlan zuckte mehrmals zusammen. Seine Prellungen und Abschürfungen schienen noch immer zu schmerzen. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Atlan. „Ich werde euch ganz bestimmt nicht verraten. Vielleicht nehme ich dich auf eine lange, interessante Reise mit!“ Sie erwiderte ernsthaft: „Ja, das wäre schön! Ich habe Reisen sehr gern.“ „Deine Suppe wird kalt“, erklärte Wirtz grinsend. Sie hatten ein reichhaltiges Essen zusammengestellt und aus den Vorräten der Hotelküche programmiert. Nachdem sie gegessen hatten, goß der Robot Cognac und Kaffee ein. Atlan lehnte sich zufrieden zurück und sagte: „Das nächste wird sein, daß wir mit einem Hypersender um Hilfe rufen.“ „Das wird zweifellos nicht das nächste sein können“, berichtigte
Wirtz, „denn Sie werden auf diesem Planeten keinen intakten Hypersender finden. Jedenfalls nicht hier im Raumhafen. Das heißt…“ „Ja?“ „Ich habe die Schiffe durchsucht“, meinte Froom. „Auch den Kontrollturm und das Hotel. Der verrückte Stevmobäer hat sämtliche Normal- und Hypersender kaputtgemacht.“ Atlan wirkte betroffen. „Ich verstehe“, sagte er düster. „Sind Sie sicher, daß Sie sämtliche Schiffe genau durchsucht haben?“ Froom nickte mehrmals, aber dann erklärte er wahrheitsgemäß: „Ich bin kein Fachmann. Ich war in allen Schiffen und habe dort nachgesehen, wo ich die Hypersenderanlagen vermutet habe, beziehungsweise die Plätze, an denen ich sicher war, daß sie vorhanden sein mußten. Die Zentralen zum Beispiel oder die Funkbuden. Aber es kann durchaus sein, daß ich den einen oder anderen Ort gar nicht in meine Überlegungen einbezogen habe. Außerdem kann ich kein Schiff fliegen.“ Der Extrasinn korrigierte: Natürlich kann er ein Raumschiff fliegen, aber nur im aktivierten Zustand. Er ist nicht aktiviert. „Dann“, sagte Atlan langsam und nachdenklich, „steht uns morgen ein langer, erschöpfender Tag bevor. Wir müssen sämtliche Schiffe noch einmal durchsuchen und eventuell ein Schiff herausfinden, mit dem wir von Wiga-Wigo starten können.“ „Ein Schiff, mit dem man auf dem Wasser schwimmen kann?“ fragte Terrania und lutschte an ihrem Löffel. „Nein. Ein Raumschiff!“ sagte Atlan. „Aber das erklären wir dir morgen oder übermorgen!“ „Schon gut!“ sagte das Mädchen und lachte.
5. Die Nacht war ruhig verlaufen. Das heißt annähernd ruhig. Denn statt des grausigen Gelächters und der dumpfen Geräusche, die damals der Wahnsinnige verursacht hatte, ertönten in dieser Nacht die heiseren Laute jagender Tiere, die sich auf dem Platz herumtrieben.
Offensichtlich nahmen Dschungel und Fauna innerhalb kürzester Zeit wieder ihren ehemaligen Platz ein. Atlan, Froom und Terrania frühstückten und nahmen dann den Robotwagen, mit dem Froom in den ersten Tagen seines ersten Aufenthalts hier zwischen den Schiffen herumgefahren war. Atlan lehnte sich gegen die Verkleidung und sagte: „Zuerst in die STARTRAIN. Es gibt immerhin eine schwache Hoffnung, daß der Hypersender meines Schiffes nicht zerstört ist. Oder vielleicht gibt es ein tragbares Kleingerät. Schließlich sind wir nur sieben Lichtjahre vom nächsten Raumhafen entfernt. Von Komouir im Tiffak-System.“ „Verstanden!“ sagte Wirtz und bewegte den Wagen vorwärts. „Suchen wir also!“ Terrania begann vor Vergnügen zu kreischen, als der kleine Wagen auf seinen dicken Reifen anfuhr und auf das Wrack am Fuß des Turmes zusteuerte. Ausgerüstet mit Gegenständen, die sie in Magazinen gefunden hatten, enterten sie das Schiff. Sie schwebten mit kleinen Antigravgeräten hoch und hielten schwere Scheinwerfer in den Händen. Als Atlan und Wirtz vor dem großen Loch in der berußten Hülle der STARTRAIN auftauchten, erscholl aus dem Innern des Schiffes ein langgezogener, krächzender Schrei. Atlan knurrte auf: „Es lebt noch jemand, Froom!“ „Ausgeschlossen“, stieß Froom hervor. „Ich habe nur Leichen gefunden.“ „Hinein und nachsehen.“ Sie schwangen sich ins Innere, schalteten die Antigravgeräte aus und die Scheinwerfer ein. Wieder knirschten Scherben unter ihren Sohlen, als sie ins Innere des Wracks stürmten. Ihre Schritte dröhnten auf dem bloßen Metall von Böden, Wänden und herumliegenden Trümmern. Wieder ein Schrei. Die Scheinwerfer schnitten breite Lichtbahnen in das Dunkel. Dann eine Kette von unheimlichen Geräuschen. „Dort ist doch jemand!“ Froom griff nach seiner Waffe und wechselte den Scheinwerfer in die linke Hand. Sie wurden etwas langsamer. Einer bewegte sich hinter dem anderen auf die Zentrale zu. Plötzlich klirrten vor ihnen
Scherben. Eine Serie schneller, klatschender Geräusche ertönte. Dann schlug Leichengeruch in ihre Nasen. Aus der Finsternis kamen flatternde und kreischende Vögel mit dämonisch glühenden Augen. Froom riß die Waffe hoch und feuerte mehrmals auf die großen, dunklen Tiere. „Leichenvögel!“ rief Atlan und duckte sich. Die nächsten Schüsse fauchten dicht über seinen Kopf hinweg. Kreischend und flügelschlagend stürzten die Vögel ab und hinterließen in dem engen Gang neben der Zentrale einen Regen von Federn und einen stechend scharfen Geruch. Dann war der Spuk vorbei. Die Aasvögel flogen in einer langen Kette aus dem Loch hinaus und gegen die Sonne. Einige von ihnen prallten in vollem Flug gegen das Metall von Streben, brachen sich das Genick und krachten in die Scherben. „Wir müssen etwas tun!“ sagte Atlan. „Stahlplatten aufstellen oder die Toten in einen verschließbaren Raum bringen.“ „Ja, natürlich. Das wird nicht leicht sein“, erwiderte Froom und betrat hinter dem Arkoniden die Zentrale. Sie brauchten nicht lange zu suchen, dann richteten sie sich wieder auf und sahen sich an. „Das Hauptgerät ist vernichtet!“ erklärte Atlan. „Hoffnungslos. Auch keine Reparatur mehr möglich.“ „Wir haben es geahnt, nicht wahr?“ „Ja. Kümmern wir uns um die Toten.“ Sie schleppten die Körper in die Zentrale hinein. Dann richteten sie ein Bauwerk aus kastenförmigen Elementen und stählernen Platten vor dem einzigen Eingang und konnten sicher sein, daß kein Vogel mehr den Weg herein finden würde. In einer Anzahl von einzelnen Versuchen stießen sie in die eingedrückten und deformierten Räume der Korvette vor, aber sie fanden keinen zweiten Hypersender. „Hier haben wir Gewißheit!“ erklärte der Arkonide. „In den unzerstörten Schiffen wird die Suche schneller gehen. Sie brauchen nur zu sagen, wo Sie schon waren, und wir suchen dann an den anderen Stellen.“ Als sie nebeneinander wieder auf die Robotwagen zuschwebten, erklärte Froom: „Ich war in jeder Hauptzentrale und in jeder Funkbude eines jeden
Schiffes. Auch der Jet, die dort am Ende des Platzes steht.“ „Verstanden!“ Sie landeten auf dem Wagen, schnallten die Geräte ab und fuhren weiter. Als sie am Rand des Platzes das erste große Frachtschiff erreichten, trat Froom mit aller Kraft die Bremse. Dicht neben der ausgefahrenen Rampe hielt der Wagen an. „Die Hunde!“ schrie Wirtz. Es war ein riesiges Rudel, angeführt von einer grausilbernen Bestie in der Größe eines ausgewachsenen Wolfes. Froom hob die Waffe und sagte hart: „Sir! Nehmen Sie das Kind und laufen Sie ins Schiff hinein! Sie haben keine Waffe bei sich!“ „Schon unterwegs.“ Der Arkonide handelte mit einer verblüffenden Schnelligkeit. Er schwang sich nach hinten auf die Ladefläche, packte das Mädchen und riß es in seine Arme. Dann sprang er mit einem riesigen Satz auf die Rampe und begann zu rennen. Froom steuerte den Wagen in eine enge Kurve, trat den Schnelligkeitsregler tief hinein und schleuderte mit dem kleinen Fahrzeug in einem engen Kreis zweimal rundherum. Er feuerte ununterbrochen auf die Tiere, die gegen die Frontplatte sprangen, japsend und mit grollenden Lauten gegen die Ränder des Wagens prallten, von den Reifen erfaßt, herumgewirbelt und überfahren wurden. Dann stellte Froom das Steuer gerade und raste die Rampe hinauf. Er sprang ab, obwohl die Maschine noch lief und zog sich schnell ins Schiffsinnere zurück. In der Polschleuse traf er auf Atlan, der Schränke aufriß und nach Waffen suchte. „Ich bin schon einmal mit ihnen zusammengestoßen!“ sagte er. „Sie scheinen zu hungern. Sie sind von einer bösartigen Wildheit.“ Grimmig entgegnete der Arkonide: „Ich habe es gemerkt, Froom. Verdammt, nirgendwo ist eine Waffe zu finden, wenn man sie sucht.“ „Handelskapitäne sind Pazifisten“, erklärte Wirtz und gab einen gezielten Schuß nach dem anderen ab. Er brauchte nur einen relativ schmalen Streifen zu sichern. Jeder Hund, der sich auf die Rampe wagte, wurde getroffen. Endlich fand Atlan einen alten Strahler, und Wirtz warf ihm ein Energiemagazin zu.
„Danke!“ Terrania sah mit kindlicher Ungerührtheit dem Kampf zu. Sie schien ein unglückliches Kindheitserlebnis mit Hunden gehabt zu haben, denn sie zuckte nicht mit einer Wimper, als die Tiere starben. Der Rest des Rudels fiel über die toten Artgenossen her, und als die Männer im Schiff verschwunden waren, begannen über dem Raumhafen wieder die Aasvögel ihre Kreise zu ziehen. Die Suche dauerte bis spät in die Nacht hinein. * Er wußte nicht, was es gewesen war, jedenfalls hatte ihn etwas geweckt. Ein Geräusch vielleicht, oder ein Teil seines Traumes. Jedenfalls registrierte Kilter Shann dankbar den kühlenden Lufthauch, der durch eines der offenen Fenster der großen Fahrkabine hereinkam und auf der anderen Seite hinausfuhr. Kilter tastete neben seinem Kopf nach seiner Sehhilfe, die er während der Nacht abgestreift und ausgeschaltet hatte, um die Dauerzelle nicht zu belasten. Er massierte sich die leeren Augenhöhlen und vermeinte wieder jene furchtbaren Schmerzen zu fühlen, die wirklichen und die des Verstandes, als er wußte, daß er niemals mehr mit seinen Augäpfeln sehen würde können. Damals… Wann, damals? fragte er sich verzweifelt. Er hatte keine Vergangenheit. Oder vielmehr wußte er nichts von seiner Vergangenheit. Sämtliche Dinge, die er früher gewußt hatte, wußte er auch heute noch. Aber zum Beispiel hatte er vergessen, wie und wann er sein Augenlicht verloren hatte. An der Kühle merkte er auch ohne die positronischen Augen, daß es noch Nacht oder bestenfalls frühester Morgen war. Was war er gewesen, als er erblindete? Was hatte er getan, während dieses Schicksal ihn geschlagen hatte? Was bedeuteten die Begriffe, die Terrania stammelnd genannt hatte? Waren sie wichtige Dinge, mit denen er einmal zu tun gehabt hatte? Er erinnerte sich, daß er die Stadt Brantonfeyn einigermaßen genau kannte. Aber er wußte auch, daß in seiner Erinnerung große Lücken
waren. Reisen! Sicher, er hatte zwischen den Zeiten, in denen er sich in Brantonfeyn aufhielt, Reisen unternommen. Er hatte einen vagen Eindruck, daß er auf diesen Reisen ein wichtiger Mann gewesen wäre. So etwas wie eine Art Steuermann auf einem Flußschiff oder derjenige, der einmal hier in diesem, halb funktionsfähigen, Lastengleiter das Steuer geführt hatte. Er unterdrückte sein Selbstgespräch; in den vergangenen Tagen, ehe Wirtz kam und ihn mitnahm, hatte er unablässig Selbstgespräche geführt. Endlich setzte er die beiden künstlichen Augen auf, die sich sofort mit der Haut verbanden und mit ihren Impulsen den Sehnerv tief im Gehirn anregten. Langsam erhellte sich die engere Umwelt, das Bild stabilisierte sich. Es war jeden Tag eine klein« Freude. Shann schaltete die kleine Leselampe an, wühlte in dem großen Kühlfach und brachte eine Packung Fruchtsaft zum Vorschein. Er würde an dem Moment, da die Vorräte dieses Überlandfrachters zur Neige gingen, wieder aufbrechen und etwas unternehmen. Noch immer klaffte die Lücke in seinem Gedächtnis. Er besaß ein vorzügliches Gedächtnis und erinnerte sich an unzählige Orte und Menschen. Aber wo befanden sich diese Plätze? Wo waren die Menschen? Auf Wiga-Wigo? Froom Wirtz kann mir helfen! dachte er. Er kann mir vielleicht sagen, was ich vergessen habe. Er trank den Fruchtsaft aus und legte sich in der engen Koje wieder auf den Rücken. Die Sonne weckte ihn. Er beschloß, Froom zu suchen. Er kannte die Richtung, und wenn er richtig zugehört hatte, wußte er auch den Ort, an dem Wirtz jetzt mit Terrania lebte. Er rüstete sich aus und ging dann in die Richtung, in der der Gleiter verschwunden war… * Vor ihnen stand die Space-Jet. Sie hatten sich so weit vom Hotel entfernt, daß sie es nicht mehr deutlich erkennen konnten. Die Jet stand halb verborgen unter dem Blätterdach eines Baumriesen, der seine Äste über den Rand des
Spezialbetons ausbreitete. Alles war dunkel und nahezu still. Nur aus dem Dschungel kamen ununterbrochen die Geräusche der jagenden Tiere. „Sie waren auch hier drin?“ fragte Atlan. Die Gruppe der drei Personen wurde von den vielen Scheinwerfern des Robotwagens beleuchtet. Froom deutete auf die breite Leiter, die aus der Polschleuse ausgefahren worden war. „Ja, natürlich. Und vor mir war garantiert der Wahnsinnige in der Jet. Er hat seine Axt geschwungen, dieser verrückte König des Raumhafens!“ „Dieses Schiff kann von einer Person geflogen werden!“ stellte Atlan fest und ging auf die Leiter zu. Die unterste Sprosse hing einen halben Meter über dem Boden. „Ich zweifle nicht daran, daß Sie ein ausgezeichneter Pilot sind, Sir!“ sagte Froom und nahm Terrania an der Hand. Sie blieben stehen, als der Arkonide die Leiter enterte. „Im Lauf meines langen Lebens habe ich vieles gelernt. Unter anderem auch dieses. Wir werden mit den Triebwerken gut bis nach Komouir kommen, aber kaum weiter!“ „In Komouir oder besser auf Komouir ist die Welt sicher noch in Ordnung!“ murmelte Froom und hob Terrania hoch. Sie kletterte geschickt wie ein Wiesel die Leiter hoch. Aus dem nahen Dschungel kam ein markerschütternder Schrei. Kurz darauf ein lautes, grollendes Röcheln. Ein Raubtier verfolgte seine Beute. Froom stieß sich ab und kam in die Polschleuse. Atlan bewegte einen Schalter. Helligkeit durchflutete die Polschleuse und das Innere der kurzen Doppelröhre des Lifts. Die Jet besaß einen Durchmesser von fünfunddreißig Metern. Froom las ein Typenschild: SJ-CH-2378. Es sagte ihm nichts. „Scheint in Ordnung zu sein!“ rief Atlan und schwebte den Schacht aufwärts. Er schwang sich aus dem Antigravfeld und landete auf dem Boden der Zentrale. Wieder durchschnitten die harten Geräusche schwerer Schalter die Stille. Andere Lichter schalteten sich ein. „Schon einmal in einem solchen Lift gewesen, Terrie?“ fragte Froom und schob das Mädchen in die Säule hinein, hielt sie fest, während sie hochschwebten.
„Ich kann mich nicht erinnern. Aber… das ist schön! Fliegen wir mit diesem Schiff, Froom?“ „Wahrscheinlich.“ Sie kamen wieder in die Zentrale. Sie war völlig unversehrt, obwohl sie starke Benutzungsspuren trug. Nur das Funkgerät war von mehreren Dutzend schwere Hiebe bis zur Unkenntlichkeit deformiert worden. Drähte und gedruckte Schaltungen, einzelne Elemente und Splitter lagen darunter. „Das war meine letzte Hoffnung!“ sagte Atlan. „Sollen wir einen Probelauf fahren?“ „Hunger!“ rief Terrania. „Wenn’s nicht lange dauert!“ sagte Wirtz und riß systematisch Schränke auf, musterte die kleinen Räume der Jet und entdeckte nicht die geringste Spur für das Vorhandensein eines zweiten Funkgeräts. Atlan setzte sich an den Platz des Piloten und startete innerhalb weniger Sekunden die Triebwerke der Maschine und beobachtete sorgfältig sämtliche Anzeigen. „Funktioniert tadellos!“ sagte er dann zufrieden. „Wir werden keine Schwierigkeiten haben. Einverstanden, daß wir morgen früh starten?“ „Nichts hält uns mehr auf dieser Welt!“ stimmte Wirtz zu und sah, wie der Arkonide sorgfältig sämtliche Geräte wieder ausschaltete und durch Herumlegen des Zentralschalters sicherte. Sie verließen die Jet und blieben im Licht der Scheinwerfer stehen. „Ich fahre, Sir! Geben Sie bitte auf das Mädchen acht!“ „Gut.“ Atlan hielt sich auf der Ladefläche fest, während Froom den Wagen wendete, die Scheinwerfer aufblendete und Kurs auf das Hotel nahm, dessen Lichter jetzt wie ein Symbol für Wärme, Ruhe und Geborgenheit wirkten. Die Verlassenheit des Raumhafens schlug sich auf das Gemüt nieder. Und Terrania war müde. Sie gähnte ununterbrochen. Schweigend legten sie mit dem summenden Wagen die Hälfte der Strecke zurück, als Atlan wieder eine Warnung seines Extrasinns empfing. Hinter euch schleicht etwas durch die Dunkelheit! flüsterte das Extrahirn. Atlan federte in den Knien, ließ das Mädchen los und bückte sich nach einem Handscheinwerfer. Er schaltete ihn ein und bestrich mit
der Lichtbahn mehrmals einen Halbkreis hinter dem Fahrzeug. Plötzlich blendete die Lampe direkt in ein Paar große, rote Augen. Ein heiseres Röcheln ertönte von links. „Schneller!“ schrie Atlan nach vorn. Gleichzeitig antwortete rechts ein ähnlicher Ton. Das Licht zuckte herüber. Jetzt schob sich durch den Lichtkegel ein langgestreckter rostroter Körper mit schwarzen Flecken, größer als ein terranischer Tiger. Wieder, diesmal von beiden Seiten, dieser Hetzlaut der Raubtiere. Froom reagierte automatisch und erhöhte das Tempo, aber er fragte zurück: „Was ist los? Warum schneller?“ „Zwei Raubtiere verfolgen uns!“ Das Mädchen schien wiederum die Gefahr nicht zu realisieren und sah sich neugierig um. Atlan nahm die Lampe in die Linke und zog seine Waffe. Während der Wagen schneller wurde und das Geräusch von Getriebe und Maschine anschwoll, zielte Atlan auf das Tier an der rechten Seite. Gleichzeitig leuchtete er in die Augen. Der planetare Tiger schüttelte unwillig den Kopf und griff an. Der erste Schuß fauchte schräg über die massigen Schultern, unter deren Fell sich Muskeln und Knochen bewegten. Das Tier schrie auf, als eine breite Glutspur das Fell verbrannte. Dann duckte es den Kopf und machte eine Reihe schneller Sprünge. Abermals feuerte der Arkonide. Der Schuß traf den Kopf, mitten in den Rachen. Der Tiger sprang im Reflex hoch und nach vorn. Der schwere Körper rammte im Sterben den Wagen und brachte ihn aus der geraden Bahn. Froom drehte am Lenkrad, um den Kurs wieder zu stabilisieren. Terrania schwankte, klammerte sich fest, aber ihre Hände rutschten ab. Sie fiel auf die Ladefläche, direkt zwischen Atlans Knöchel. „Mann! Fahren Sie schneller!“ tobte der Arkonide. Du hast den Tiger aus dem Licht verloren. Er kann überall sein! schrie unhörbar der Extrasinn. Atlan drehte die Lampe hin und her. Er sah nur den nackten Beton, sonst nichts. Das Tier hatte sie überholt oder lief an einer ganz anderen Stelle. Atlan wandte verzweifelt den Kopf und sah nach vorn. Auch die Breitstrahler und das Fernlicht zeigten den langgestreckten Körper nicht. Froom brüllte im gleichen Augenblick
zurück: „Es geht nicht mehr schneller. Haltet euch fest. Wir verlassen den Beton!“ Er steuerte in einem langgezogenen Zickzack-Kurs zwischen den unregelmäßig herumliegenden Teilen der STARTRAIN hindurch. Atlan schwankte und wurde nach beiden Seiten geschleudert. Jetzt, endlich, sah er das Tier wieder. Es lief genau hinter dem Wagen. Atlan senkte den Arm, visierte den dreieckigen Katzenschädel mit den leuchtenden Augen an und schoß. Vor dem Tiger verwandelte sich der Beton in Glut und detonierendes Gas. Wieder riß Wirtz den Wagen zwischen einer Landestütze und einem zerborstenen Partikeltriebwerk hindurch und fuhr geradeaus. Die Lichter des Hotels wurden immer heller und deutlicher. Ein zweiter Schuß. Er wurde verrissen, als der Wagen über Trümmer holperte. Terrania wurde durchgeschüttelt und begann laut zu schreien. Atlan feuerte jetzt weniger gut gezielt Schuß um Schuß ab. Er traf den Tiger in die Flanke, verletzte eine Pranke und machte das Tier dadurch noch rasender. Atlan wurde es fast unmöglich gemacht, richtig zu zielen. Wieder krümmte sich sein Zeigefinger um den Abzug. Lange dunkelrote Feuerstöße lösten sich aus der Strahlwaffe. Das Tier wurde mehrmals getroffen und befand sich jetzt nur einen Sprung weit entfernt vor der hinteren Kante des Wagens. Dann sprang es und geriet in den toten Winkel hinter dem Heck der Maschine. Als Froom den Wagen über eine Schwelle jagte, die den Raumhafen mit der gewundenen Zufahrt zum Hotel verband, sprang das Tier und landete halb auf dem Wagen, der vorn hochgehoben wurde. Schieß endlich! dröhnte der Extrasinn durch Atlans wilde Gedanken. Atlan beugte sich vor und feuerte einen lang andauernden Strahl auf den Schädel des Tigers ab, der sich gerade über das Heck erhob. Als das Tier aufschreiend zu Boden fiel, krachten die vorderen Räder wieder schwer gegen den Asphalt, griffen an und zogen den Wagen vorwärts. Wirtz fuhr den Wagen genau bis vor die Stufen und bremste hart. Die Männer sprangen herunter, Atlan ließ den Scheinwerfer fallen und hob Terrania auf. Sekunden später schlossen sich die Glastüren
des Hotels hinter den drei Personen. Keuchend blieben Atlan und Froom stehen. Froom nahm Terrania in die Arme und tröstete sie. „Das war knapp!“ sagte Atlan und warf seinen heißgeschossenen Strahler auf die leere Empfangstheke. „Das Kind ist völlig verstört!“ „Terrie hat auch in der letzten Zeit mehr durchgemacht als ein Spezialist Ihrer Organisation in zwei Jahren. Komm, mein Schatz… alles ist vorbei. Wir essen jetzt, und dann werde ich dir eine ganz lustige Einschlafgeschichte erzählen.“ Er hob das Mädchen auf die Schultern und rannte mit ihr in gespielter Lustigkeit aus der Halle nach oben. * Die Suchteams hatten damals, vor mehr als sechs Jahren, vollkommen recht. Sie fanden ausgezeichnete Männer. Froom Wirtz ist ein solcher! bestätigte der Extrasinn. Jetzt, nachdem sie gegessen und sich umgezogen hatten, saßen die beiden Männer in der Hotelbar an der Theke. Vier Meter von ihnen entfernt leuchtete das Bild eines Visiphonschirms. Die Nachrichten aus Brantonfeyn. „Hmm“, machte Atlan als eine Art Kommentar. „Mir sind inzwischen natürlich alle Zusammenhänge klar. Meine Mannschaft geriet in das Feld dieser… nennen wir es Strahlung und vergaß schlagartig alles, was physikalisch jenseits der Hohlwelttheorie liegt.“ Froom deutete auf den Bildschirm und erwiderte: „Ein interessanter Effekt. Haben Sie gesehen, wie sorgfältig alles, was mit Raumfahrt zusammenhängt, in den Nachrichten ausgespart wurde?“ „Richtig. Warum sind wir beide nicht zu beeinflussen?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Wirtz. „Ich habe mir, ehrlich gestanden, auch darüber bisher kaum Gedanken machen können. Es ging immer turbulent zu.“ Terrania schlief inzwischen. Wieder hatte sich das kleine Raumhafenhotel als Oase der Ruhe und Stille gezeigt. Draußen auf der hellen Fläche des Raumhafens streiften wilde Tiere einzeln und in Rudeln umher. Vor Wochen war diese Zone ein Meer aus Lichtern und ein Platz voller Menschen gewesen, und die Tiere hatten sich nicht einmal bis zu den
Strahlensperren vorgewagt. Ein weiterer überraschender Effekt der partiellen Amnesie schien zu sein, daß Mannschaften und Hafenpersonal ihre Arbeitsstätten verlassen hatten und vor dem Verlassen sämtliche wichtigen Schaltungen vorgenommen hatten. Sie hatten sich alle in die Stadt zurückgezogen. „Ich verstehe“, sagte Atlan. Inzwischen schien die Heilung seiner Verletzungen geradezu überraschend weit gediehen zu sein, denn er bewegte sich wieder vollkommen ausgeglichen und schnell. Er hob das Glas und überlegte, ob er Froom durch die Nachricht, Rhodan würde Komouir besuchen, aktivieren sollte. Aber dann sagte er sich, daß dazu noch immer Zeit sein würde. Dieser junge Mann mit dem schwarzen Oberlippenbart hatte sich auch ohne Aktivierung als ein in jeder Hinsicht wertvoller Spezialist gezeigt. Seine eigene Einstellung zu den Vorkommnissen und sein persönliches Überlebensproblem hatten ihn das Richtige tun lassen. Zahlreiche Fragen taten sich auf – im Zusammenhang mit der Amnesie. „Wir sind nicht in der Lage“, sagte Froom und drosselte die Lautstärke des Interkoms, „die Quelle dieser Störungen zu finden. Was glauben Sie, hat diese Störung verursacht?“ Atlan warf einen flüchtigen Blick auf das Unterhaltungsprogramm, das eben anfing, und erklärte: „Nach allem, was Sie mir berichtet haben und nach dem, was ich selbst gesehen und gehört habe, und überdies nach meiner eigenen Erfahrung – es kann nur ein Einfluß von außen sein. Erübrigt sich die Frage, ob Sie etwas gesehen, gemerkt oder gehört haben?“ Froom schüttelte den Kopf und breitete die Arme aus. „Natürlich nicht. Dieses Mädchen, Terrania Skeller… sie hat einige Dinge gesagt, die mich nachdenklich machen.“ Er berichtete von den abgehackten Sätzen, in denen von den aufgestörten „Mächtigen“ und von der Trauer über die Raumfahrt die Rede war. Atlan hörte aufmerksam zu und deutete dann in die Richtung, in der das Zimmer des Mädchens lag. „Und…?“ „Sie spricht nur, wenn sie von irgendwelchen Menschen in Trance versetzt wird oder wenn sie böse Träume hat. Sie tut mir leid, weil ich sie in diesen Stunden erlebt habe. Und habe es niemals wieder versucht, in sie zu dringen. Vielleicht schadet ihr dieses Versinken in
eine Welt des Okkulten. Sie hat sich schnell erholt. Aber in keinem Wort, das sie sagte, war etwas wie eine Erklärung zu erkennen. Tut mir leid.“ Atlan nickte und hob die Hand. „Wir werden in kurzer Zeit im Tiffak-System landen. Von dort aus können wir handeln. Schließlich habe ich eine unübersehbare Menge von Spezialisten und Fachleuten, die dieses Problem untersuchen können und werden.“ „Natürlich.“ Froom stand auf, trank sein Glas leer und ging nach oben, um nach Terrania zu sehen. Sie lag im Bett, bis zu den Ohren zugedeckt. An ihrem Schlaf war nichts Unnatürliches. Sie atmete regelmäßig und tief. Froom sah nach, ob alles in Ordnung war und verließ dann wieder den Raum. Er kehrte zurück an die Bar und zu Atlan. „Eines Tages wird sich alles normalisieren“, sagte er. „Und dann wird man sich wundern, warum hier so viel benutztes Geschirr herumsteht. Ich programmiere nur unser Frühstück.“ „Übrigens“, meinte der Arkonide. „Die Vorräte der Jet sind ausreichend. Wir brauchen nur einige zusätzliche Nahrungsmittel und Getränke. Der Flug nach Komouir dauert einen Tag, nicht länger.“ „Die Vorräte des Hotels sind sehr groß. Wir können wählen.“ Sie tranken noch ein Glas zusammen, Froom rauchte eine letzte Zigarette und ging dann zu Bett. In dieser Nacht schlief er seit langer Zeit einmal wieder tief und ohne Störung. * Der Turm war eine entfernte, dunkle Silhouette, von der die Lichtpunkte am Nachthimmel verdeckt wurden. Dort irgendwo waren Terrania und Wirtz. Shann setzte sich auf einen großen Stein und sah wehmütig und voller geheimer Sehnsucht in diese Richtung. Froom Wirtz wußte, was er tat. Dieser Mann war ganz anders als die Stadtbewohner und als er. Er handelte zielbewußt! In seiner Erinnerung waren keinerlei Lücken. Wirtz hatte offensichtlich nicht den Eindruck, daß es zwischen den durchaus bewußten -Erinnerungen lange freie Pausen gab, die sich
nur notdürftig mit undeutlichen und durch keinerlei Erfahrung unterstützten Geschehnissen füllten. Er mußte zu Froom! Kilter Shann zog seine Stiefel aus und massierte seine wundgelaufenen Füße. Er war ununterbrochen gewandert, seit dem ersten Sonnenlicht. Er hatte die breite Straße benutzt, die an den Rändern bereits vom Sand zugeweht und vom Dschungel überwuchert wurde. Verfall! Warum ließen die Leute von Brantonfeyn diese Straße verkommen? Und warum fühlte sich Wirtz offensichtlich dort vorn, in den unkenntlichen Gebäuden aus Metall, so wohl? Was war das? Welche Bedeutung hatte diese Zone? Kilter suchte sich einen geschützten Platz zwischen den großen Wurzeln eines alten Baumes, legte die entsicherte Waffe in seinen Schoß und schob die Sehelemente in die Stirn. Er war todmüde und schlief sofort ein. * Um neun Uhr morgens am dreißigsten Mai deutete Froom mit einem verlegenen Lächeln auf den überreich und aufwendig gedeckten Frühstückstisch. Alles, was um diese Zeit schmeckte, war aufgetischt worden. „Es ist nicht mehr als eine sentimentale Geste! Aber ich habe mich so an dieses Hotel gewöhnt, daß ich mich dazu verpflichtet fühlte.“ Atlan grinste ihn breit an und strich über das Haar Terranias. „Ich kann’s verstehen. Ein Ort der Ruhe. Ein Fluchtpunkt in dem Chaos rundherum. War eine gute Idee von Ihnen, Froom.“ „Okay!“ Die letzte Stunde auf Wiga-Wigo brach an. Im Hotelfoyer standen vier kleine Kühlcontainer, die eine sorgfältige Auswahl von Nahrungsmitteln enthielten. Sie würden dieses Essen in die Space-Jet mitnehmen. Atlan, Wirtz und Terrania aßen mit gutem Appetit, unterhielten sich und freuten sich sichtlich darüber, daß sie den Planeten verlassen konnten. Ununterbrochen stellte das Mädchen altkluge Fragen, die von den Männern beantwortet wurden, so gut sie es vermochten – es war manchmal nicht einfach, dem Kind bestimmte Zusammenhänge zu erklären.
Schließlich, als der Küchenrobot den Tisch abräumte, sagte Wirtz: „Wir nehmen wieder den Robotwagen? Er steht praktischerweise noch vor den Stufen.“ „Natürlich!“ Sie waren fertig. Sie schalteten auf ihrem Weg sämtliche aktivierte Systeme aus und machten das Hotel energetisch wieder tot. Froom verließ das Haus in demselben Zustand, wie er es betreten hatte. Die Glastüren schlossen sich zum letztenmal. Die Männer schleppten die Container hinunter auf die Ladefläche des Wagens und wurden von den rund hundert großen schwarzen Aasvögeln mit protestierendem Geschrei begrüßt. „War nicht anders zu erwarten!“ sagte Atlan und deutete auf den Kadaver des dunkelroten Tigers. Das Tier war förmlich bedeckt mit den Vögeln, die an dem Fell und am Fleisch herumrissen und sich mit unbeholfenen Sprüngen in Sicherheit brachten. Wirtz stieg in den Fahrstand und rief: „Festhalten!“ Atlan und das Mädchen setzten sich auf die Container und hielten sich an den Griffen fest. Der Wagen fuhr los, umrundete schnell den grausigen Kadaver des Tieres, das ihnen beinahe in der Nacht zum Verhängnis geworden war. Atlan schwieg und blickte lange hinüber zum Wrack der STARTRAIN. Der Wagen wurde schneller und fuhr, wieder im Zickzack den herumliegenden Bruchstücken ausweichend, auf die Jet am anderen Ende des Platzes zu. Froom bremste nicht, als der zweite Kreis aus schwarzen Vögeln zu sehen war. Der zweite Kadaver war ebenso zerfetzt und aufgerissen wie derjenige im Park um das Hotel. Hier aber hatten sich einige Dschungelhunde versammelt, die kläffend aufsprangen und sich mit eingezogenen Schwänzen trollten, als Froom den lauten Summer betätigte. Nach wenigen Minuten bremste er vor der Leiter, sprang ab und lud die Container ab. Dann fuhr er den Wagen an den Rand des Feldes und schaltete ihn aus. Sie brachten die Container an Bord und verstauten sie in die kleine Kombüse der Jet. Atlan gab jetzt die Anordnungen. Während die Leiter eingezogen wurde, während sich die Polschleuse schloß, schnallten sich Terrania und Froom in den Sesseln rechts und links des Piloten fest.
„Eine schöne Gelegenheit für mich“, sagte Froom lachend, „von Ihnen zu lernen, wie eine Jet gesteuert wird.“ Atlan winkte lässig ab und erklärte leise: „Das wird nicht nötig sein. Ich nehme an, daß Sie zu gegebener Zeit sehr schnell begreifen, wie ein solcher Apparat gesteuert wird.“ Froom konnte mit der Antwort nichts anfangen, aber er schwieg. Er genoß die Aussicht aus der durchsichtigen Kuppel der Jet und merkte an den Geräuschen und an den leisen Erklärungen des Arkoniden, daß sämtliche Systeme erwachten. Der Donner eines Probelaufes erschütterte die Umgebung. Dann begann die Jet zu schweben. Ihre Landebeine verloren den Halt auf dem Betonboden. Die Jet schwebte seitlich unter dem Baum hervor, wurde in eine günstige Position manövriert und stieg dann langsam. Atlan brachte sie in eine Höhe von hundert Metern und schlug dann einen Kreis rund um den Raumhafen ein. Langsam schwebte die Jet um den Tower, überflog das Hotel und die Kette der bewegungslosen Schiffe und stieg dann schnell höher. Terrania hatte an diesem Teil des Fluges den meisten Spaß. Alles war aufregend, alles war neu. Und der Effekt, wie die Oberfläche des Planeten immer kleiner wurde, versetzte das Mädchen geradezu in Entzücken. „Nächstes Ziel: Komouir!“ sagte Atlan und leitete den Flug ein. Der Diskus kippte, nachdem die Landebeine eingezogen worden waren. Er wurde schneller und schneller und verschwand als ein Lichtblitz im wolkenlosen Himmel über der Stadt Brantonfeyn. * Kilter Shann erreichte die lange Gasse zwischen den Schiffen, als ihn das Geräusch des Donners erreichte. Er blieb stehen, hinter sich den Kadaver mit den unruhig gewordenen Vögeln, die weghüpften und aufflogen. „Nein!“ schrie er. „Froom! Warte auf mich! Warte doch!“ Ein Körper, der wie ein Diskus geformt war, erhob sich langsam vom Boden. Er hatte vier Stelzen wie ein Insekt. Der Körper glänzte silbern. Buchstaben waren an seinen Flanken winzig klein zu sehen. Dann auf einmal war der Körper noch höher und kam schräg auf ihn zu.
Kilter rannte geradeaus und begann mit beiden Armen zu winken! „Froom! Nimm mich mit!“ brüllte er heiser in den Lärm dieses seltsamen Geräts hinein. Eine undeutliche Erinnerung kam und verschwand sofort wieder. Eines war sicher: Dort verließ Froom Wirtz zusammen mit dem kleinen Mädchen, den Platz. Er würde niemals wiederkommen, das wußte Kilter Shann. Er blieb stehen und sah zu, wie das Ding eine große Schleife um den Platz flog. Es war schneller als der schnellste Vogel. Dann kippte der Diskus zur Seite und entfernte sich schnell. Hoffnungslosigkeit überfiel Kilter Shann.
ENDE
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