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Flug in die Unendlichkeit 25 Männer und 25 Frauen, Raumfahrer, Techniker und Wissenschaftler, die zur Elite der Menschheit gehören, gehen an Bord der Leonora Christine. Mit ihrem neuartigen Raumschiff wollen sie 32 Lichtjahre überwinden und auf einem Planeten der Sonne Beta Virginis eine Kolonie gründen. Doch Mannschaft und Passagiere der Leonora Christine erreichen nicht ihr Ziel. Das Schiff gerät in ein Materiefeld; das Bremssystem wird zerstört. Und so sind die Männer und Frauen an Bord dazu verurteilt, immer weiter in den Kosmos vorzudringen, bis die Sonnen und Planeten sterben und ein neues Universum geboren wird... EIN HEYNE-BUCH
POUL ANDERSON
UNIVERSUM OHNE ENDE Science-fiction-Roman Deutsche Erstveröffentlichung WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE-BUCH Nr. 3306 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe TAU ZERO Deutsche Übersetzung von Birgitt Reß-Bohusch Redaktion und Lektorat: Günter M Schelwokat Copyright © 1970 by Poul Anderson Copyright © der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1972 Umschlag: Atelier Heinrichs, München Umschlagzeichnung: C. A. M. Thole Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
1 »Sieh mal, dort — über der Hand Gottes! Ist es das?« »Ja, ich glaube. Unser Schiff.« Sie zögerten den Aufbruch immer noch hinaus, obwohl die letzten Besucher Millesgården längst verlassen hatten. Fast den ganzen Nachmittag waren sie zwischen den Skulpturen umhergeschlendert, er begeistert und zutiefst beeindruckt von den Dingen, die er zum ersten Male sah, sie, um Abschied zu nehmen von einem Teil ihrer Welt, die ihr doch mehr bedeutete, als sie hatte wahrhaben wollen. Der Spätsommer meinte es gut mit ihnen. Dieser Tag auf der Erde war erfüllt gewesen von Sonnenschein, vom hellen Sprudeln der Brunnen und einem leisen Lufthauch, der die Schatten der Blätter an den Hauswänden tanzen ließ. Aber als die Sonne unterging, schien der Garten erst richtig zum Leben zu erwachen. Die Delphine schössen durch ihre Fluten, Pegasus stürmte himmelwärts, Folke Filbyters Roß stolperte in den Fjord, während er seinem verschwundenen Enkel nachstarrte, Orpheus lauschte, die jungen Schwestern gingen engumschlungen der Auferstehung entgegen — alles festgebannt in einen winzigen stummen Augenblick; aber die Zeit, in der sich diese Gestalten bewegten, war nicht weniger wirklich als die Zeit der Menschen. »Als ob sie lebendig wären und zu den Sternen hinaufstrebten, während wir zurückbleiben müssen und vergehen«, murmelte Ingrid Lindgren. Charles Reymont hörte ihr nicht zu. Er stand auf den Steinfliesen unter einer Birke, deren Blätter sich bereits leicht verfärbten, und beobachtete die Leonora Christine. Die Hand Gottes, die den Genius des Menschen hochhielt, hob sich auf ihrer Säule dunkel gegen die grünlich-blaue Dämmerung ab. Hinter ihr glitt rasch der winzige Stern vorbei und versank wieder. »Bist du sicher, daß es kein gewöhnlicher Satellit war?« fragte Ingrid Lindgren in die Stille. »Ich dachte niemals, daß man sie von hier aus sehen könnte.« Reymont zog fragend die Augenbrauen hoch. »Du als Erster Offizier weißt nicht, wo sich dein Schiff befindet?« Sein Schwedisch klang hart und abgehackt. »Ich habe nichts mit der Navigation zu tun«, verteidigte sie sich. »Außerdem versuche ich so wenig wie möglich an die ganze Sache zu denken. Du solltest das gleiche tun. Wir werden noch viele Jahre auf dem Schiff verbringen.« Sie streckte den Arm aus. »Bitte! Verdirb uns diesen Abend nicht!« Reymont zuckte mit den Schultern. »Entschuldige. Das War nicht meine Absicht.« Ein Aufseher kam näher, blieb neben ihnen stehen und sagte: »Es tut mir leid, aber wir müssen jetzt schließen.« »Oh!« Ingrid zuckte zusammen, sah auf ihre Uhr und ließ den Blick über die Terrassen schweifen. Sie waren leer bis auf das Leben, das Carl Milles drei Jahrhunderte zuvor aus Stein und Metall geformt hatte. »Die Besichtigungszeit ist längst um. Ich hatte es nicht bemerkt.« Der Aufseher verbeugte sich. »Da die Herrschaften es offensichtlich so wünschten, ließ ich sie allein, nachdem die anderen Besucher gegangen waren.« »Sie kennen uns also?« fragte Ingrid.
»Wer tut das nicht?« Die Blicke des Aufsehers streiften sie bewundernd. Sie war hochgewachsen und hatte eine gute Figur. Kurzes blondes Haar rahmte ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht mit weit auseinanderstehenden blauen Augen ein. Ihre Kleidung verriet mehr Eleganz, als man es im allgemeinen von einer Raumfahrerin gewohnt war; die satten weichen Farben und fließenden Stoffe des neo-mittelalterlichen Stils brachten ihren Typ vorteilhaft zur Geltung. Reymont war das genaue Gegenteil: gedrungen, dunkel, mit harten Zügen — ein Mann, der nicht im Traum daran gedacht hätte, die Narbe an seiner Stirn durch eine kosmetische Operation entfernen zu lassen. Sein schlichter Anzug unterschied sich im Schnitt kaum von einer Uniform. »Nett, daß Sie uns in Ruhe gelassen haben«, sagte er. »Wie all die anderen, die Sie erkannten, nahm ich an, daß Sie heute lieber ungestört bleiben würden«, erwiderte der Aufseher. Ingrid lächelte Reymont zu. »Du siehst, die Schweden sind ein liebenswürdiges Volk.« »Das bestreite ich gar nicht«, erklärte ihr Begleiter. »Da es überall im Sonnensystem von ihnen wimmelt, kommt man nicht umhin, es selbst festzustellen.« Er machte eine Pause. »Aber warum sollte ein Volk, das die Welt regiert, unhöflich sein? Auch die Römer hatten zu ihrer Zeit gute Umgangsformen — denke nur an Pilatus!« Der Aufseher zeigte sich verwirrt über seine schroffe Antwort. »Ich sagte >liebenswürdig< und nicht >höflich<«, entgegnete Ingrid mit einer gewissen Schärfe. Sie streckte die Hand aus. »Vielen Dank, Sir.« »Gern geschehen, Miß Lindgreen«, sagte der Aufseher. »Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Reise und eine glückliche Heimkehr.« »Wenn die Reise Erfolg bringt, kehren wir nie mehr heim«, erinnerte sie ihn. »Oder zumindest.. .« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Falls sie tatsächlich eines Tages wieder auf der Erde landeten, war der schmächtige alte Mann längst tot. »Nochmals vielen Dank«, sagte sie und ließ den Blick über die Gärten schweifen. »Leben Sie wohl.« Reymont verabschiedete sich ebenfalls mit einem Händedruck und ein paar undeutlichen Worten. Dann verließ er mit Ingrid den Park. Hohe Häuser säumten die nahezu menschenleeren Straßen, und ihre Schritte hallten dumpf vom Pflaster wider. Nach einem längeren Schweigen meinte die Frau: »Ich kann immer noch nicht glauben, daß es wirklich die Leonora Christine war. Wir befinden uns hoch im Norden. Und nicht einmal ein Bussard-Schiff ist groß und hell genug, um sich gegen die Abenddämmerung abzuheben.« »O doch, wenn die Magnetfeld-Gitter herausgeklappt sind«, erklärte Reymont. »Außerdem wurde das Schiff gestern für die abschließenden Tests in eine Schrägbahn gebracht. Man will es erst wieder kurz vor unserem Start zurück auf die Ekliptikebene steuern.« »Ich habe das Programm auch gesehen. Aber ich denke gar nicht daran, mir all das Zeug zu merken. Vor allem, da wir erst in zwei Monaten aufbrechen. Weshalb hältst du dich auf dem laufenden?« »Obwohl ich nur der Polizist an Bord bin?« Reymont grinste. »Vielleicht übe ich mich im Schnüffeln.« Ingrid warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie hatten eine Uferpromenade erreicht. Jenseits des Kanals flammten nach und nach die Lichter von Stockholm auf, als die Dunkelheit
zwischen Häusern und Bäumen emporkroch. Jupiter spiegelte sich im Wasser, aber noch standen wenige Sterne außer ihm am Himmel. Reymont bückte sich und löste die Leine des Leihbootes, das er an der Ufermauer festgemacht hatte. Er besaß die Erlaubnis, praktisch überall anzulegen. So wichtig nahm man eine interstellare Expedition. Am Vormittag war er mit Ingrid durch die Ägäis gekreuzt — ein paar Stunden inmitten von Grün, malerischen Inseln, Segeln, Möwen und glitzerndem Sonnenschein auf den Wellen. Diese Dinge würde es auf Beta Virginis kaum und während der langen Reise überhaupt nicht geben. »Jetzt erst merke ich, wie fremd du mir bist, Carl«, sagte sie langsam. »Wie? Du kannst meinen Lebenslauf nachlesen.« Er hatte das Boot ans Ufer gezogen und sprang hinein. Während er mit einer Hand die Leine festhielt, streckte er die andere Ingrid entgegen. Sie benötigte seine Hilfe nicht, nahm sie aber an. Reymonts Arm blieb unter ihrem Gewicht völlig ruhig. Sie rutschte auf die Bank neben dem Steuerrad. Reymont drehte das Schraubenende des Ankers mit einem Ruck herum; intermolekulare Bindekräfte zerrissen. Der schnalzende Laut vermischte sich mit dem Klatschen der Wellen gegen die Bootswand. Man konnte Reymonts Bewegungen nicht als harmonisch bezeichnen, aber sie waren knapp und wirkungsvoll. »Ich kenne ihn auswendig wie alle anderen auch.« Sie sah nachdenklich vor sich hin. »Aber er verrät wenig über deine Persönlichkeit.« (Charles Jan Reymont. Status: interplanetarischer Bürger. Fünfunddreißig Jahre alt. Geboren in der Antarktis, in einer der Slum-Kolonien; die unterirdischen Stadtteile von Polyugorsk boten einem Jungen, der früh den Vater verloren hatte, nichts als Kampf und Armut. Als Halbwüchsiger schlug er sich irgendwie zum Mars durch und lebte von allen möglichen Jobs, bis die Wirren ausbrachen. Von diesem Zeitpunkt an kämpfte er auf der Seite der Zebras und zeichnete sich derart aus, daß ihn das Lunar Rescue Corps später in seine Reihen aufnahm. Hier beendete er seine akademische Ausbildung und arbeitete sich rasch zum Colonel hoch. Seine Hauptaufgabe bestand darin, das Polizeiwesen zu verbessern. Als er sich für die Expedition bewarb, nahm ihn der Einstellungsausschuß mit offenen Armen auf.) »Nicht einmal den Psychologen scheint es gelungen zu sein, in dein Inneres vorzudringen«, fuhr Ingrid Lindgren fort. Reymont war nach vorne gegangen und hatte das Tau eingeholt. Er verstaute sorgfältig den Anker, dann legte er eine Hand auf das Steuerrad und ließ den Motor an. Der Magnetantrieb arbeitete geräuschlos, und auch das Surren des Propellers war kaum zu hören. Dennoch glitt das Boot rasch durch die Wellen. Er hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. »Weshalb machst du dir über diese Dinge Gedanken?« fragte er. »Wir werden viele Jahre zusammen sein, wahrscheinlich sogar den Rest unseres Lebens.« »Dann frage ich mich, weshalb du den heutigen Tag mit mir verbringst.« »Du hast mich eingeladen.« »Nach deinem Anruf im Hotel. Du mußt im Mannschaftsregister nachgesehen haben, um meine Adresse herauszufinden.« Millesgården verschmolz mit der Dunkelheit, die jetzt rasch zunahm. Im Schein der Uferlaternen konnte er nicht erkennen, ob sie errötete. Aber sie hatte sich von ihm abge
wandt. »Stimmt«, gab sie zu. »Ich dachte, daß du vielleicht einsam bist. Du hast niemanden, oder?« »Keine Verwandten, wenn du das meinst. Ich besichtige noch einmal die Fleischtöpfe der Erde. Da, wo wir hinziehen, wird es keine geben.« Sie hob den Kopf und betrachtete Jupiter, der unverändert hell am Himmel brannte, eine gelblichweiße Lampe. Mehr Sterne kamen jetzt zum Vorschein. Sie fröstelte in der herbstlichen Kühle und wickelte sich enger in ihren Umhang. »Nein sagte sie mit gedämpfter Stimme. Alles fremdartig. Da haben wir eben erst begonnen, unsere Schwesterwelt dort drüben zu erforschen, Karten anzulegen — und schon muß es weitergehen, über eine Entfernung von zweiunddreißig Lichtjahren.« »So sind nun mal die Menschen.« »Weshalb machst du die Reise mit, Carl?« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht aus Rastlosigkeit. Und, ehrlich gestanden, ich habe mir Feinde im Korps geschaffen. Die einen verstimmte ich durch meine Offenheit, die anderen überflügelte ich zu schnell. Ich war an einem Punkt angelangt, wo ich eine weitere Beförderung nur durch Intrigen und Speichelleckerei erreichen konnte — Dinge, die ich verachte.« Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. »Und du?« Sie seufzte. »Ein Hang zur Romantik, wenn ich mich nicht täusche. Seit meiner Kindheit träume ich davon, die Sterne zu erreichen — so wie sich der Prinz im Märchen nach dem Feenland sehnt. Ich lag meinen Eltern so lange in den Ohren, bis sie mir erlaubten, die Raumfahrt-Akademie zu besuchen.« Sein Lächeln enthielt mehr Wärme als sonst. »Und du hast dich im interplanetarischen Dienst so hervorragend bewährt, daß man dir auf der Leonora Christine ohne Zögern die Stelle des Ersten Offiziers anbot.« Ihre Hände zitterten ein wenig. »Nein. Gewiß, ich verstehe etwas von meiner Arbeit. Aber Frauen sind in der Raumfahrt gesucht, und deshalb steigen sie rasch auf. Außerdem werde ich auf dem Schiff hauptsächlich mit Verwaltungsdingen zu tun haben. Mein Arbeitsgebiet umfaßt die ... nun, menschlichen Beziehungen. Die Astronautik überlasse ich anderen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Boot zu. Sie hatten Saltsjön erreicht, und der Verkehr auf dem Wasser wurde stärker. Gleiter surrten vorbei; ein stattlicher U-Frachter schaukelte auf die Ostsee zu. Über ihnen wimmelten Lufttaxis wie ein Glühwürmchenschwarm. Der Stadtkern von Stockholm war ein vielfarbiges, zuckendes Feuer und ein Dröhnen, das sich aus tausend verschiedenen Lauten zusammensetzte. »Das bringt mich auf meine Frage zurück.« Reymont lachte. »Oder besser gesagt, auf meine Gegenfrage, denn die Seelenerforschung ging von dir aus. Glaube nicht, daß mir deine Gesellschaft keinen Spaß gemacht hat — ganz im Gegenteil! Wenn du nun noch meine Einladung zum Abendessen annimmst, zählt dieser Tag zu den positiven meines Lebens. Aber die meisten unserer Mannschaft spritzten auseinander wie Quecksilbertropfen, sobald die Ausbildungszeit beendet war. Sie meiden ihre Schiffsgefährten absichtlich und widmen sich denen, die sie nie wiedersehen werden. Du — du hast feste Bindungen. Du kommst aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie; deine Eltern und Geschwister tun sicher alles, um die letzten Wochen vor deiner Abreise so schön wie möglich zu gestalten. Weshalb hast du sie heute allein gelassen?« Sie gab keine Antwort.
»Die schwedische Zurückhaltung«, fuhr er nach einer Weile fort. »Wie es sich für die Herrscher der Menschheit geziemt. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber ich bitte dich, auch mein Privatleben zu respektieren.« Wieder machte er eine Pause. »Würdest du mit mir zu Abend essen? Ich kenne ein hübsches kleines Restaurant mit echten Kellnern.« »Ja, gern«, erwiderte sie. »Vielen Dank.« Sie stand auf, trat neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm. Die harten Muskeln bewegten sich unter ihren Fingern. »Nenne uns nicht Herrscher«, sagte sie bittend. »Wir sind es nicht. Genau das sollte durch den Vertrag vermieden werden. Nach dem Atomkrieg, der die gesamte Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht hatte, mußte etwas geschehen.« »M-hm.« Er nickte. Ich habe hin und wieder selbst ein Geschichtsbuch in die Hand genommen. Allgemeine Entmilitarisierung; eine Weltpolizeimacht, die für ihre Einhaltung sorgt; sed quis custodiet ipsos custodes? Wem können wir ein Monopol von planetenvernichtenden Waffen und unbegrenzte Kontrollmacht anvertrauen? Nun, einem Land, das groß und modern genug ist für diese Aufgabe, aber nicht so groß, daß es ohne Unterstützung der Mehrheit einen Eroberungskrieg beginnen kann; ein Land, das die Wertschätzung der meisten anderen Völker besitzt. Kurz gesagt — Schweden.« »Dann verstehst du, worum es geht?« fragte sie erleichtert. »Oh ja. Einschließlich der Konsequenzen. Macht wächst von selbst, nicht durch eine Verschwörung, sondern durch logische Notwendigkeit. Das Geld, mit dem die Welt die Ausgaben der Kontrollbehörden begleicht, fließt durch eure Hände; deshalb hat sich Schweden zum reichsten Land der Erde entwickelt. Und selbstverständlich zum Zentrum der Diplomatie. Und da jeder Reaktor, jedes Raumschiff, jedes Labor eine potentielle Gefahr darstellt und deshalb unter der Aufsicht des Kontrollausschusses steht, besitzt Schweden praktisch in allen wichtigen Dingen ein Mitspracherecht. Und das führt wiederum dazu, daß ihr imitiert werdet, selbst von jenen, die euch längst nicht mehr schätzen. Ingrid, Liebes, ihr seid die neuen Römer, ob ihr es wollt oder nicht.« Sie wirkte niedergeschlagen. »Du kannst uns nicht leiden, Carl?« »Weshalb nicht? Bis jetzt seid ihr human gewesen. Zu human, würde ich sagen. Ich müßte euch sogar dankbar sein, weil ihr mir als Staatenlosem einen Platz in der Gemeinschaft gegeben habt. Nein, ihr habt euch alle Mühe gegeben.« Er deutete auf die Wohntürme rechts und links des Kanals, die in strahlendes Licht getaucht waren. »Aber so wird es nicht bleiben.« »Wie meinst du das?« »Ich weiß nicht. Ich glaube nur, daß nichts ewig ist. Ganz gleich, wie sorgfältig man ein System aufbaut, eines Tages stürzt es ein.« Reymont suchte mühsam nach den richtigen Worten. »Im Falle Schwedens könnte der Untergang eben durch die Stabilität herbeigeführt werden, auf die ihr so stolz seid. Auf der Erde hat sich seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert nichts mehr verändert. Und ist das ein wünschenswerter Zustand?« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Vielleicht versuchen wir auch deshalb, in die Galaxis vorzustoßen und neue Kolonien zu gründen — um uns gegen Ragnarok zu wappnen.«
Sie starrte in die Nacht. Der Lichtschleier über der Stadt verdeckte die meisten Sterne. Sie mußte an Lappland denken, an die Sommerhütte ihrer Eltern. Dort oben war man der kalten, glitzernden Pracht der unzähligen Gestirne ganz nahe. »Ich bin ein trauriger Kavalier«, meinte Reymont entschuldigend. »Lassen wir diese tiefsinnigen Reden und wenden wir uns angenehmeren Themen zu. Einem Aperitif, beispielsweise.« Ihr Lachen klang unsicher. Sie sprachen über belanglose Dinge, während er die Strömmen ansteuerte, das Boot festmachte und mit ihr zu Fuß über die Brücke zur Altstadt schlenderte. Jenseits des Königsschlosses wurde die Beleuchtung gedämpfter. Sie kamen durch schmale Gassen, vorbei an hohen Gebäuden, die sich seit Jahrhunderten nicht verändert hatten. Die Touristensaison war vorbei; von den zahllosen Fremden in der Stadt hatten wenige Grund, diesen Bezirk aufzusuchen; nur selten stießen Reymont und Ingrid auf einen Fußgänger oder ein Elektroauto. »Das wird mir fehlen«, sagte sie. »Es ist malerisch«, gab er zu. »Mehr als das, Carl. Es handelt sich nicht um irgendwelche Ruinen der Vergangenheit. Hier lebt die Erinnerung an meine Vorfahren — in Birger Jarls Turm, in der RiddarholmKirche, in den Wappenschildern des Ritterschaftshauses ... Es wird einsam im Raum sein, Carl, so weit weg von unseren Toten.« »Dennoch gehst du.« »Ja. Aber es fallt mir immer schwerer. Ob mein Vater wußte, was er in jener Nacht ins Rollen brachte, als er mir zum ersten Male die Sternbilder erklärte?« Sie holte tief Atem. »Irgendwie habe ich Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber, und das ist mit ein Grund, weshalb ich dich anrief. Ich wollte ihren stummen Vorwürfen einen Tag lang entfliehen.« »Du brauchst einen Drink«, stellte er fest. »Ah, da sind wir schon.« Sie hatten den Großen Markt mit seinen schmalen, spitzgiebeligen Häusern erreicht, und Reymont führte Ingrid über das Kopfsteinpflaster zu einem kleinen Restaurant. Kerzenlicht hüllte den Raum in sanftes Halbdunkel. Sie ergatterten einen freien Tisch, und Reymont bestellte Bier mit Aquavit. Ingrid trank die gleiche Menge wie er, obwohl sie Alkohol nicht gewohnt war. Das nachfolgende Abendessen dauerte selbst für skandinavische Maßstäbe lange. Es gab viel Wein und zum Abschluß noch mehr Cognac. Ingrid redete und redete — von ihrem Elternhaus, ihren Reisen, den Festen, die sie gefeiert hatte, der Ausbildung in der Akademie, ihren ersten Raumflügen ... Ihre Zunge wurde immer schwerer. Reymont bestellte ihr noch eine Tasse Kaffee und ließ sich vom Ober die Rechnung bringen. »Die Reise zu den Sternen wird dir ebenfalls Spaß machen«, sagte er. Sie nickte, und ihr Blick war mit einemmal wieder klar. »Das hoffe ich«, erwiderte sie. »Das hoffe ich sehr. Und gerade deshalb habe ich Verbindung mit dir aufgenommen.« Reymont sog an seiner Zigarre. Auf dem Raumschiff war das Rauchen aus Sicherheitsgründen verboten, aber an diesem Abend wollte er den blauen Dunst noch einmal so richtig genießen.
Ingrid beugte sich vor und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich habe vorausgedacht«, erklärte sie. »Fünfundzwanzig Männer und fünfundzwanzig Frauen. Fünf Jahre in einem Metallgefängnis. Weitere fünf Jahre, falls wir sofort umkehren. Selbst mit Verjüngungsdrogen ist ein Jahrzehnt ein bedeutender Lebensabschnitt.« Er nickte. »Und natürlich bleiben wir, um das System zu erforschen«, fuhr sie fort. »Wenn dieser dritte Planet bewohnbar ist und sich zur Kolonisation eignet, kehren wir nie mehr zurück. Was immer die Zukunft bringen mag, es wird zu Freundschaften kommen. Zu festen Bindungen.« Leise sagte er: »Du glaubst, daß wir beide zusammenpassen könnten?« »Jawohl.« Ihre Stimme schwankte nicht mehr. »Ich werde zu Beginn der Reise besonders viel zu tun haben. Dann bleibt mir keine Zeit für Rituale und feine Nuancen. Ich könnte in eine Situation schlittern, die mir unangenehm ist. Wenn ich keine Vorbereitungen treffe.« Er hob ihre Hand an die Lippen. »Das ist eine große Ehre für mich, Ingrid. Aber glaubst du nicht, daß wir zu verschieden sind?« »Gerade das reizt mich wohl.« Sie strich mit den Fingerspitzen über die Wange. »Ich möchte dich kennenlernen. Du scheinst mehr Kraft zu besitzen als alle Männer, die mir bisher begegnet sind.« Seine Bewegungen verrieten Unsicherheit, als er das Geld zurechtlegte. Langsam drückte er die Zigarre aus. »Ich wohne in einem Hotel drüben auf Tyska Brinken«, sagte er. »Ziemlich schäbig.« »Das stört mich nicht«, erwiderte sie.
2 Wenn man die Leonora Christine von einem der Zubringerschiffe aus betrachtete, glich sie einem Degen, dessen Spitze zu den Sternen deutete. Der kegelförmige Rumpf verjüngte sich nach oben hin. Luken und Schleusen, Sensoren, die Ausbuchtungen für die Landefähren und das im Augenblick nicht zusammengeklappte Netzwerk des Bussard-Antriebs störten die glatte, fließende Linie nicht, sondern schienen sie eher noch zu unterstreichen. Für sich gesehen, war der Sockel des Konoids sehr breit, da er unter anderem die Reaktionsmasse enthielt, aber bei der enormen Länge des Schiffes fiel das nicht weiter auf. An der Degenspitze befand sich ein fächerförmiges Gebilde, das man mit einiger Phantasie als Säbelkorb bezeichnen konnte. Der Außenring enthielt die acht Antriebsdüsen, die bei interplanetarischen Geschwindigkeiten eingesetzt wurden. Der »Korb« umschloß ihre Steuerung und die Reaktoranlage. Darunter erstreckte sich, in einer etwas dunkleren Schattierung, das Heft und ein komplizierter Knauf — Strahlenabschirmung und Bussard-Antrieb des interstellaren Schiffes. Soviel zur Leonora Christine, dem siebenten und jüngsten Modell ihrer Klasse. Die schlichte äußere Form wurde durch die Natur ihrer Mission bestimmt und war ebenso trügerisch wie etwa die menschliche Haut; sie verbarg ein unendlich kompliziertes Innenleben.
Ingrid Lindgren erreichte die Brücke, bekam einen Haltegriff zu fassen und fing sich mitten in der Luft ab. »Melde mich zum Dienst, Kapitän«, erklärte sie formell. Lars Telander drehte sich um. Im freien Fall wirkte seine hagere, ausgemergelte Gestalt elegant und geschmeidig; er erinnerte an einen Fisch im Wasser oder an einen Habicht, der am Himmel kreiste. Niemand dachte daran, daß er ein alternder Mann war. Weder er noch Ingrid hatten sich die Mühe gemacht, Rangabzeichen an den Coveralls anzubringen, die von allen Besatzungsmitgliedern während der Arbeit getragen wurden. »Guten Tag«, sagte er. »Haben Sie Ihren Urlaub angenehm verbracht?« »Ja, es war herrlich.« Sie errötete leicht. »Und Sie?« »Nun, es ging. Ich pilgerte wie ein Tourist von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Erstaunlich, daß es auf der Erde so viele Dinge gibt, die ich noch nicht gesehen habe.« Ingrid betrachtete ihn mitfühlend. Er schwebte einsam über einem der drei Kommandositze, die sich in der Mitte des kreisförmigen Raumes befanden. Ringsum waren Instrumentenkonsolen aufgebaut. Die Meßgeräte, Skalen, Anzeigelampen und Bildschirme, die vollautomatisch arbeiteten, betonten seine Einsamkeit nur. Bevor Ingrid den Raum betreten hatte, war er allein mit dem Klicken der Relais und dem leisen Summen der Ventilatoren gewesen. »Sie besitzen überhaupt keine Verwandten mehr?« fragte sie. »Zumindest keine, die mir nahestehen.« Ein Lächeln huschte über Telanders faltiges Gesicht. »Vergessen Sie nicht, daß ich nach der Zeitrechnung des Sonnensystems fast hundert Jahre alt bin. Als ich zuletzt mein Heimatdorf in Dalarna besuchte, war der Enkel meines Bruders stolzer Vater von zwei fast erwachsenen Söhnen. Ich konnte nicht damit rechnen, daß sie mich wie einen engen Familienangehörigen behandelten.« (Er wurde drei Jahre vor der ersten bemannten Expedition nach Alpha Centauri geboren. Zwei Jahre nach seinem Eintritt in den Kindergarten erreichten die ersten Maserbotschaften dieses Unternehmens Farside Station auf Luna. Das gab dem Leben eines introvertierten, idealistischen Kindes eine bestimmte Richtung. Er bestand die Prüfungen der RaumfahrtAkademie mit Auszeichnung und begann eine steile Karriere im interplanetarischen Dienst. Mit Fünfundzwanzig erhielt er einen Platz in der Mannschaft der Epsilon-EridaniExpedition. Sie blieben neunundzwanzig Jahre weg, aber infolge der Zeitverzerrung waren sie nur um elf Jahre gealtert, einschließlich der Spanne, die sie auf den Bestimmungsplaneten verbracht hatten. Die Forschungsergebnisse brachten ihnen Ruhm ein. Bei ihrer Rückkehr wurde gerade das Tau-Ceti-Schiff ausgerüstet. Man bot Telander die Stelle des Ersten Offiziers an, wenn er gewillt war, in einem knappen Jahr bereits wieder aufzubrechen. Er sagte zu. Dreizehn Jahre seines Lebens vergingen, bevor das Schiff wieder auf der Erde landete. Er war inzwischen Kommandant, denn der Kapitän hatte auf einer besonders unwirtlichen Welt das Leben verloren. Auf der Erde waren einunddreißig Jahre verstrichen. Die Leonora Christine befand sich kurz vor der Vollendung. Wer außer ihm hätte sich besser als Kapitän geeignet? Er zögerte. Die Expedition sollte in knappen drei Jahren starten. Wenn er das Angebot akzeptierte, benötigte er einen Großteil dieser tausend Tage für die Planung und Vorbereitung ... aber er brachte es nicht fertig abzulehnen; außerdem war ihm die Erde mit ihren Bewohnern fremd geworden.)
»Machen wir uns gleich an die Arbeit«, sagte er. »Ich nehme an, Boris Fedoroff und seine Ingenieure sind mit Ihnen heraufgekommen ? « Sie nickte. »Er läßt bestellen, daß er sich per Interkom meldet, sobald er fertig ist.« »Hm. Er hätte mich wenigstens persönlich von seiner Ankunft verständigen können.« »Er befand sich in einer miesen Stimmung. Redete während des ganzen Fluges kein Wort — ich weiß auch nicht, weshalb. Aber kommt es auf solche Kleinigkeiten an?« »Wir werden dieses enge Schiff ziemlich lange miteinander teilen müssen, Ingrid«, stellte Telander fest. »Da kommt es tatsächlich auf das Benehmen jedes einzelnen an.« »Oh, Boris fängt sich schon wieder. Ich nehme an, er hat einen Kater oder ein Mädchen ließ ihn gestern nacht abblitzen oder sonst etwas. Während der Ausbildung gewann ich den Eindruck, daß er ziemlich sensibel ist.« »Das deuten auch die Psychologen an, die ihn untersucht haben. Und doch, jeder von uns besitzt Eigenschaften, die selbst diesen Leuten verborgen bleiben. Man muß da draußen sein —« Telander deutete auf das Periskop, als sei es die Weite, die es beobachtete — »ehe sich solche Dinge zeigen. Aber sie zeigen sich. Immer.« Er räusperte sich. »Die Wissenschaftler kommen ebenfalls pünktlich?« »Ja. Sie treffen in zwei Fähren ein, die erste um dreizehn Uhr vierzig, die zweite um fünfzehn Uhr.« Telander warf einen Blick auf seinen Zeitplan und nickte. Ingrid fügte hinzu: »Ich finde den Abstand reichlich bemessen.« »Sicherheitsbestimmungen«, entgegnete Telander geistesabwesend. »Außerdem wird es eine Weile dauern, bis wir all die Erdenwürmer in ihren Kabinen verstaut haben. Trotz der Sonderausbildung kann sich kaum einer von ihnen in der Schwerelosigkeit bewegen.« »Carl schafft das schon«, sagte Ingrid. »Notfalls holt er sie einzeln an Bord. Das geht wie der Blitz.« »Reymont? Unsere Constable?« Telander musterte sie aufmerksam. Sie hatte den Blick gesenkt. »Ich weiß, daß er Erfahrung im freien Fall besitzt, aber ist er so gut?« »Wir besuchten L´Etoile de Plaisir.« »Was ist das?« »Ein Freizeit-Satellit.« »Ach ja, ich erinnere mich. Und ihr habt euch mit Null-g-Spielen die Zeit vertrieben?« Ingrid nickte, ohne ihn anzusehen. Er lächelte wieder. »Unter anderem, nehme ich an?« »Carl wird bei mir bleiben.« »Hmm ...« Telander strich sich über das Kinn. »Offen gestanden, ich sehe es lieber, wenn er die Kabine benutzt, die ihm zugewiesen wurde — falls es Schwierigkeiten mit den, äh, Passagieren gibt. Dafür haben wir ihn schließlich mitgenommen.« »Ich könnte zu ihm ziehen«, schlug Ingrid vor. Telander schüttelte den Kopf. »Nein. Offiziere verlassen das Offiziersdeck nicht. Die Erklärung, daß sie sich stets in der Nähe der Kommandobrücke aufhalten müssen, dient eigentlich nur als Vorwand. Aber Sie werden im Laufe der nächsten fünf Jahre selbst noch herausfinden, wie wichtig Symbole sind, Ingrid.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, die anderen Kabinen liegen nur ein Deck tiefer. Ich glaube, er kann sie im Notfall rasch genug erreichen. Falls es Ihrer Kabinenpartnerin nichts ausmacht, Platz zu tauschen, soll Ihr Wunsch in Erfüllung gehen.«
»Danke«, entgegnete sie leise. »Etwas überrascht bin ich schon«, gestand Telander. »Er scheint mir nicht der Mann zu sein, der zu Ihnen paßt. Glauben Sie, daß es eine dauerhafte Verbindung wird?« »Ich hoffe es, ebenso wie er. « Sie versuchte das Thema zu wechseln. »Und Sie? Haben Sie Ihre Wahl schon getroffen?« »Nein, das hat Zeit. Zu Beginn der Reise gibt es einfach zuviel Arbeit für mich. Und in meinem Alter sind diese Dinge nicht mehr vordringlich.« Telander lachte, doch dann wurde er wieder ernst. »Apropos Zeit — wir haben keine Sekunde mehr zu verlieren. Bitte, beginnen Sie mit den Inspektionen ...« Die Fähre führte das Rendezvous-Manöver durch und legte an. Magnetanker schnellten vor; die beiden Luftschleusen wurden gekoppelt. Automatisch wich die Luft aus den Kammern. Die Außenluken öffneten sich und wurden durch einen hermetisch versiegelten Kunststofftunnel miteinander verbunden. Roboter sorgten für den Druckausgleich. Die inneren Schleusenluken gingen auf. Reymont befreite sich von den Gurten und schwebte ein Stück nach oben, um die Passagiere besser beobachten zu können. Norbert Williams, der Chemiker aus Amerika, schnallte sich ebenfalls los. »Halt!« befahl Reymont in Englisch. Schwedisch war zwar die allgemeine Umgangssprache, aber manche beherrschten sie nur mangelhaft. Für die Wissenschaftler galten immer noch Englisch und Russisch als wichtigstes Verständigungsmittel. »Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen! Ich sagte Ihnen schon beim Abflug, daß ich Sie einzeln zu Ihren Kabinen bringen werde.« »Nicht nötig«, entgegnete Williams. »Ich finde mich in der Schwerelosigkeit ganz gut zurecht.« Er war klein und feist, mit strohblondem Haar und einem runden Gesicht. Seine Vorliebe für grelle Kleidung paßte zu seiner aufdringlich lauten Stimme. »Sie haben alle eine Grundausbildung in diesen Dingen erhalten«, sagte Reymont. »Aber Ihnen fehlt die nötige Erfahrung.« »Na und? Dann zappeln wir eben ein wenig durch die Gegend.« »Was zu einem Unfall führen könnte. Und da es meine Pflicht ist, Unfälle weitgehend auszuschalten, halte ich es für besser, wenn ich Sie zu Ihren Kabinen begleite. Ich bitte Sie, diese Räume erst zu verlassen, wenn ich Ihnen die Erlaubnis erteile.« Williams war rot angelaufen. »Hören Sie, Reymont...« Die grauen Augen des Constable durchbohrten ihn. »Das war ein Befehl«, sagte er langsam. »Sie wissen, daß ich das Recht habe, seine Durchführung zu erzwingen. Sollen wir die Reise gleich mit einem Streit beginnen?« Williams schnallte sich wieder fest. Er hatte die Lippen zusammengepreßt, und seine Bewegungen waren unnötig heftig. Ein paar Schweißtropfen lösten sich von seiner Stirn und trieben langsam durch den Mittelgang. Reymont setzte sich per Interkom mit dem Piloten in Verbindung. Der Mann sollte die Fähre auf die Erde zurückbringen, sobald die menschliche Fracht umgeladen war. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir die Sichtluken freimachen? Vielleicht hilft es ein wenig, unseren Freunden die Wartezeit zu verkürzen.« »Nur zu«, sagte die Stimme. »Es besteht nicht das geringste Risiko. Und... so rasch werden sie die Erde nicht wiedersehen, was?«
Reymont gab die Zustimmung weiter. Eifrige Hände drehten die Kurbeln auf der raumzugewandten Seite des Schiffes. Die Verkleidung der Glasyl-Luken glitt zurück. Reymont begann, seine Herde zur Leonora Christine hinüberzubugsieren. Als er Chi-Yuen Ai-Ling abholen wollte, reagierte sie nicht. Sie hatte sich herumgedreht, so weit es die Sicherheitsgurte zuließen und preßte das Gesicht gegen die Scheibe. »Miß Chi-Yuen«, sagte Reymont. Er klopfte ihr leicht auf die Schulter. »Sie sind an der Reihe!« »Oh!« Es war, als erwachte sie aus einem Traum. In ihren Augen standen Tränen. »Entschuldigen Sie! Ich war ganz in Gedanken verloren ...« Die gekoppelten Raumschiffe eilten einem neuen Morgen entgegen. Licht loderte über dem Horizont der Erde und brach sich in tausend Farben, vom brennenden Rot bis zu einem seidigen Pfauenblau. Einen Moment lang konnte man das Zodiakallicht sehen — ein heller Schein über der aufsteigenden Feuerscheibe. Dahinter glommen die Sterne und die Sichel des Mondes. In der Tiefe lag der Planet mit seinen schimmernden Meeren, seinen Wolkenfeldern, seinen grünbraunen Kontinenten und den Städten, die von hier oben wie Schmuckkästchen wirkten. Man sah und fühlte, daß diese Welt lebte. Chi-Yuen zerrte an den Gurtverschlüssen. Ihre Hände waren zerbrechlich dünn. »Ich habe mir die Trennung leichter vorgestellt«, flüsterte sie in französischer Sprache. »Ruhe in Frieden, Jacques!« »Wenn Sie wollen, können Sie die Erde auf den Bildschirmen der Leonora Christine beobachten, sobald die Beschleunigung eingesetzt hat«, meinte Reymont. Die Tatsache, daß er ebenfalls Französisch sprach, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. »Dann sind wir bereits unterwegs«, sagte sie, aber ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie war klein und zierlich, und ihre Figur wirkte in der weit geschnittenen Hose und dem orientalischen Kasack mit dem hohen Stehkragen beinahe knabenhaft. Die Männer schienen sich jedoch einig darüber zu sein, daß sie mit ihrem schulterlangen, nachtschwarzen Haar und dem ausdrucksvollen Gesicht das hübscheste Geschöpf an Bord war. Wenn sie Schwedisch mit ihrem chinesischen Akzent sprach, klang es wie ein Lied. Reymont löste die Gurte und legte seinen Arm um ihre Taille. Er trug keine Magnetstiefel, sondern stieß sich mit einem Fuß einfach von der Sitzbank ab und glitt den Mittelkorridor entlang. An der Schleuse fing er sich an einem Haltegriff ab, holte erneut Schwung und ließ sich in das Sternenschiff tragen. Im allgemeinen versuchten sich die Passagiere, die er beförderte, zu entspannen. Es war leichter für ihn, wenn sie passiv blieben und ihn nicht störten. Anders jedoch bei Chi-Yuen. Als Planetologin verstand sie etwas von der Fortbewegung im freien Fall. Sie paßte sich jedem seiner Schwünge an, so daß sie schließlich wie in einem wilden Tanz auf das Wohndeck der Leonora Christina zuwirbelten. Die Passagierkabinen führten auf zwei Korridore hinaus, die zu beiden Seiten der Waschräume verliefen. Jedes Abteil war zwei Meter hoch und umfaßte ein Quadrat von vier mal vier Metern. Es hatte zwei Türen, zwei Schränke, zwei Regale mit eingebauten Frisiertischen und zwei Faltbetten. Letztere ließen sich auf Schienen zu einem Doppelbett zusammenschieben. Umgekehrt sorgte eine versenkbare Trennwand dafür, daß jede Kabine in zwei Einzelräume verwandelt werden konnte. Chi-Yuen fing sich an einem Haltegriff ab, schloß die Augen und preßte die Stirn gegen das kühle Metall. Sie lächelte.
»Wunderbar, Constable«, sagte sie. »Ich werde dieses Erlebnis in meinem Tagebuch festhalten.« »Mit wem teilen Sie die Kabine?« erkundigte sich Reymont. »Im Augenblick mit Jane Saddler.« Chi-Yuen öffnete die Augen und warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Außer Sie haben einen anderen Vorschlag.« »Wie? Oh — ich bin bereits mit Ingrid Lindgren einig geworden.« »Jetzt schon?« Sie wirkte ernüchtert, doch sie fing sich sofort wieder. »Verzeihen Sie! Ich wollte nicht neugierig sein.« »Nein, ich muß mich entschuldigen«, entgegnete er. »Ich sperre Sie in Ihre Kabine, als hätten Sie sich noch nie im freien Fall bewegt.« »Sie können keine Ausnahmen machen.« Chi-Yuen war wieder ganz ernst. Sie klappte ihr Bett heraus, legte sich flach hin und begann sich festzuschnallen. »Ich möchte ohnehin eine Weile allein sein und nachdenken.« »Über die Erde?« »Über vieles. Wir merken jetzt erst, was wir eigentlich zurücklassen, Charles Reymont. Es ist eine Art Tod — gefolgt vielleicht von der Auferstehung, aber dennoch ein Tod.«
3 » ... Null!« Der Ionenantrieb erwachte zu Leben. Im sogenannten Maschinenraum, der eigentlich eine Art elektronische Nervenzentrale darstellte, hörten die Männer schwach das rhythmische Klopfen der Pumpen, die Reaktionsmasse aus den Tanks förderten. Aber sie nahmen kaum Notiz davon, so sehr waren sie mit den Meßgeräten, Schaubildern, Skalen und Kodesignalen beschäftigt, die das System überwachten. Boris Fedoroffs Zeigefinger war nie weit vom Hauptschalter entfernt. Zwischen ihm und Kapitän Telander auf der Kommandobrücke fand ein ständiger Beobachtungsaustausch statt. Diese Gründlichkeit war eigentlich nicht nötig. Schiffe, die längst nicht die technische Ausrüstung der Leonora Christine besaßen, liefen vollkommen automatisch. Auch für das Sternenschiff traf das zu. Seine Roboter und Komputer arbeiteten weit schneller und genauer — und innerhalb ihrer Programmierung sogar flexibler —als jeder Sterbliche. Aber es gab den Menschen die nötige Sicherheit, den Ablauf der Dinge zu beobachten. In den Kabinen spürten die Passagiere die Bewegung des Schiffes nur daran, daß sich plötzlich wieder Gewicht einstellte. Viel war es nicht — ein knappes Zehntel g —, aber es vermittelte ihnen ein Gefühl für »oben« und »unten«, was ihnen eine gewisse Erleichterung verschaffte. Sie schnallten sich von ihren Betten los. Reymont verkündete per Interkom: »Achtung, an alle Passagiere! Sie können sich ab jetzt auf dem Wohndeck frei bewegen.« Sarkastisch fügte er hinzu: »Um zwölf Uhr Greenwich-Zeit findet übrigens die offizielle Abschiedszeremonie mit allem Drum und Dran statt. Wir übertragen sie in den Turnsaal, falls jemand sie mitverfolgen möchte.« Die Reaktionsmasse erreichte die Brennkammer. Thermonukleare Generatoren gaben ihre Energie weiter — an die lodernden Lichtbogen, welche die Atome in Ionen umwandelten;
an die Magnetfelder, die positive und negative Teilchen trennten; an die Kräfte, die sie zu Strahlen bündelten; an die Impulse, die sie immer höher beschleunigte, so daß sie fast Lichtgeschwindigkeit besaßen, als sie die Antriebsdüsen erreichten. Der Schub erfolgte unsichtbar. Man verschwendete keine Energie für Flammen. Die gesamte Nutzleistung diente dazu, die Leonora Christine in den Raum hinauszuschleudern. Natürlich konnte ein Schiff dieser Größe nicht so rasch beschleunigen wie etwa ein Patrouillen-Kreuzer. Dazu hätte die Leonora Christine mehr Treibstoff benötigt, als ihre Tanks faßten. In einer langsamen Spirale verließ sie ihren Orbit um die Erde, und die Menschen, die an den Sichtluken standen, hatten Zeit genug, sich von ihrem Mutterplaneten zu verabschieden. In einem Raumschiff gibt es keinen überflüssigen Platz. Jeder Kubikzentimeter hat seine Funktion. Und doch hätten Menschen, die intelligent und sensibel genug waren, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, in einer rein »funktionellen« Umgebung rasch den Verstand verloren. Bis jetzt sah man wenig außer blankem Metall und nacktem Kunststoff. Aber die künstlerisch Begabten hatten bereits ihre Pläne. Reymont entdeckte in einem Korridor Emma Glassgold, die Molekularbiologin. Sie skizzierte ein Wandgemälde, das Wälder und einen sonnenbeschienenen See zeigen sollte. Und der Boden der Gemeinschafts- und Freizeiträume war von Anfang an mit einer weichen, grünen Schicht ausgestattet worden, die an Gras erinnerte. Der Luftstrom aus den Ventilatoren wurde durch die Pflanzen der Hydroponikanlage und die Kolloide der Darrell-Filter gründlich gereinigt. Er unterlag Temperaturund Geruchsveränderungen. Im Augenblick brachte er einen Hauch von frischem Klee mit sich — wenn man von den appetitlichen Düften absah, die der Kombüse entströmten. Man huldigte dem Grundsatz, daß ein gutes Essen über viele Entbehrungen hinweghilft. Noch wurden diese Dinge nicht benötigt. Die Reise hatte eben erst begonnen. Eine nahezu hysterische Fröhlichkeit beherrschte die Atmosphäre. Die Männer lärmten und benahmen sich rauhbeinig, die Frauen hatten viel zu lachen und zu tuscheln, und die häufigen Tanzabende gaben Gelegenheit zu massiven Flirts. Als Reymont an der Turnhalle vorbeikam, sah er, daß ein Handballspiel im Gange war. Die niedrige Schwerkraft erforderte es, daß man die Regeln leicht abwandelte. Er ging zum Swimming-pool weiter. Das Becken war in eine Nische seitlich des Hauptkorridors eingelassen und bot bequem Platz für mehrere Leute; doch zu dieser frühen Stunde war es leer. Jane Saddler stand mit nachdenklich gerunzelter Stirn am Rande. Sie war Kanadierin und arbeitete in der biotechnischen Abteilung, eine hochgewachsene Brünette mit einem Durchschnittsgesicht und einer blendenden Figur. »Kummer?« fragte Reymont. »Oh, hallo, Constable«, erwiderte sie in Englisch. »Nein, das nicht gerade, aber ich soll dem Komitee Vorschläge zur Ausgestaltung des Swimming-pools unterbreiten, und mir fällt absolut nichts Vernünftiges ein.« »Hatte man nicht ursprünglich an eine Art römisches Bad gedacht?« »Sicher, aber das kann viel heißen. Nymphen und Satyrn, Pappelhaine, ein Tempel — was weiß ich?« Sie lachte. »Zum Henker damit! Ich nehme die Nymphen. Wenn die Sache verpfuscht wird, kann man sie immer noch übermalen — bis uns die Farbe ausgeht. Dann kommt wenigstens keine Langeweile auf.«
»Wer könnte fünf Jahre — und fünf dazu, wenn wir umkehren müssen — mit Hobbys vertrödeln?« fragte Reymont langsam. Jane Saddler lachte wieder. »Niemand. Keine Angst, wir haben alle unser volles Arbeitsprogramm, ob es sich nun um Grundlagenforschung, einen tiefsinnigen Roman oder Griechischunterricht handelt.« »Natürlich. Ich habe die Liste gesehen. Aber ob das ausreicht?« »Constable, beruhigen Sie sich! Die anderen Expeditionen haben es doch auch geschafft, und die Leute sind mehr oder weniger normal zurückgekehrt. Weshalb sollten wir eine Ausnahme sein?« Sie deutete auf das Becken. »Schwimmen Sie ein paar Züge. Vielleicht hilft es, wenn Sie den Kopf ins kalte Wasser tauchen.« Sie grinste lausbubenhaft. Reymont erwiderte das Lachen, streifte die Kleider ab und legte sie zusammen. Sie stieß einen leisen Pfiff aus. »He — bisher kenne ich Sie nur im Coverall. Ein paar hübsche Muskelpakete, das muß ich sagen. Sport?« »Mein Beruf verlangt es, daß ich mich fit halte«, entgegnete er. Das Gespräch war ihm ein wenig peinlich. »Wenn Sie mal nicht wissen, was Sie mit Ihrer Freizeit anfangen sollen, können Sie mir ein paar Privatstunden erteilen«, schlug sie vor. »Mit Vergnügen«, meinte er und warf einen Blick auf ihre Figur. »Aber im Moment sind Ingrid und ich ...« »Ja, sicher. Ich habe nur Spaß gemacht. Sieht so aus, als würde ich in nächster Zeit auch eine feste Verbindung eingehen.« »Tatsächlich? Mit wem, wenn die Frage gestattet ist?« »Elof Nilsson.« Sie hob die Hand. »Lassen Sie nur. Ich weiß, daß er kein Adonis ist und sich manchmal daneben benimmt. Aber er hat einen großartigen Verstand. Damit schlägt er alle anderen hier an Bord. Ich könnte seinen Ausführungen stundenlang zuhören.« Sie senkte den Blick. »Und Sie sind bewundernswert, Jane«, sagte er. »Ingrid kommt auch bald hierher. Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?« Sie hielt den Kopf schräg. »Nicht zu fassen, in der Polizistenbrust schlägt ein Menschenherz. Keine Angst, ich behalte Ihr Geheimnis für mich. Und ich werde euch auch nicht stören. Zweisamkeit ist auf diesem engen Kasten schwer zu erlangen.« Sie winkte ihm zu und ging. Reymont starrte nachdenklich ins Wasser. Er stand immer noch so da, als Ingrid auftauchte. »Tut mir leid, daß es so spät geworden ist«, sagte sie. »Eine Botschaft vom Mond. Die nächste idiotische Anfrage, wie es uns geht. Ich bin heilfroh, wenn wir so weit draußen sind, daß sie uns nicht mehr erreichen.« Sie küßte ihn, aber er nahm kaum Notiz davon. Mit gerunzelter Stirn trat sie zurück. »Was ist los, Liebling?« »Glaubst du, daß ich zu streng bin?« stieß er hervor. Sie antwortete nicht sofort. Das künstliche Licht schimmerte auf ihrem hellen Haar, eine Ventilatorbrise blies ihr ein paar Strähnen ins Gesicht, der Lärm des Ballspiels drang durch den Korridor. Schließlich fragte sie: »Wie kommst du darauf?« »Durch eine Bemerkung — gut gemeint, aber dennoch ein leichter Schock.«
Ingrid zuckte mit den Schultern. »Wir haben ja schon des öfteren darüber gesprochen. Ich finde, daß du die Leute etwas zu grob behandelst. Niemand an Bord ist ein Schwachkopf, Drückeberger oder Saboteur.« »Hätte ich den Mund halten sollen, als Norbert Williams kürzlich in der Messe über die Schweden herzog? So etwas macht böses Blut.« Reymont betrachtete seine Hände. »Ich weiß, wir benötigen keine militärische Disziplin — noch nicht. Aber ich habe soviel Tod gesehen, Ingrid. Es könnte eine Zeit kommen, in der wir nur überleben, wenn wir geschlossen handeln und einen Befehl ohne jede Widerrede durchführen.« »Nun, auf Beta III vielleicht«, gab Ingrid zu. »Obwohl die Daten, die das Roboterschiff sandte, nicht auf intelligentes Leben schließen lassen. Im schlimmsten Falle treffen wir auf speerschwingende Wilde.« »Ich dachte an Stürme, Beben, Krankheitsviren oder sonstige unvorhersehbare Zwischenfälle. Oder an eine Katastrophe unterwegs. Ich bin nicht so sicher, daß der Mensch genug über das Universum weiß.« »Dieses Thema haben wir schon des langen und breiten behandelt.« »Ja. Es ist so alt wie der Raumflug, vielleicht noch älter. Aber es hat nichts an Aktualität verloren.« Reymont suchte mühsam nach den richtigen Worten. »Diese Situation ist völlig neu für mich. Ich weiß nicht recht — irgendwie versuche ich den Gedanken der Autorität aufrechtzuerhalten. Über den simplen Gehorsam hinaus. Eine Autorität, die das Recht hat, alles zu befehlen, einen Menschen notfalls in den Tod zu schicken, wenn dadurch die anderen gerettet werden...« Er bemerkte ihren verwirrten Blick. »Nein«, sagte er mit einem Seufzer, »du verstehst mich nicht. Du kannst mich nicht verstehen. Deine Welt war immer heil.« »Vielleicht doch, wenn du es mir nur oft genug und von den verschiedensten Gesichtspunkten erklärst«, entgegnete sie leise. »Und vielleicht kann auch ich dir ein paar Dinge deutlicher machen. Es wird nicht leicht sein. Du verschließt dein Inneres. Aber wir versuchen es, ja?« Sie lächelte. »Im Moment allerdings sollten wir unsere Freizeit genießen. Los — ins Wasser mit dir!« Sie schlüpfte aus ihren Kleidern und kam auf ihn zu. Man sah es an ihren festen Brüsten, der schmalen Taille und den geschmeidigen Bewegungen, daß sie viel Sport trieb. Ihre Haut schimmerte goldbraun und ließ das Haar beinahe weiß erscheinen. »Bozhe moi, bist du schön!« sagte er leise. Sie drehte lachend eine Pirouette. »Fang mich!« Mit vier langen Schritten hatte sie das Sprungbrett erreicht und stieß sich ab. Sie glitt traumhaft langsam durch die Luft; als sie endlich im Wasser landete, verharrten die Tropfen wie ein filigranzartes Spitzenmuster. Reymont schwang sich über den Beckenrand. Sie tollten und tobten bis zur Erschöpfung im Wasser herum. Als Ingrid sich schließlich lachend geschlagen gab, hüllte er sie in einen Bademantel und trug sie wortlos in ihre Kabine. Später stützte sie sich auf einen Ellbogen und sah ihn an. Sie hatte die Beleuchtung gedämpft. Warme Schatten umspielten sie und zauberten Goldreflexe auf ihre Haut. Sie zeichnete mit dem Finger sein Profil nach. »Du bist ein wundervoller Liebhaber, Carl«, murmelte sie. »Ich hatte nie einen besseren.« »Ich mag dich auch sehr gern«, erwiderte er.
Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, und ihre Stimme klang belegt. »Aber das sind die einzigen Momente, in denen du deinen Panzer ablegst und mir einen Blick in dein Inneres gewährst.« »Unsinn!« Sein Tonfall war rauh. »Ich habe dir viel von meiner Vergangenheit erzählt.« »Anekdoten. Episoden. Nichts Zusammenhängendes ... Unten, am Swimming-pool, hast du dich einen Moment lang gehenlassen, um sofort wieder in dein Schneckenhaus zurückzukriechen. Weshalb? Ich würde die Erkenntnisse nicht gegen dich ausnutzen, Carl.« Er setzte sich mit gerunzelter Stirn auf. »Ich weiß nicht, was du meinst. Die Menschen lernen sich durch das Zusammenleben kennen. Du weißt, daß ich klassische Künstler wie Rembrandt und Bonestell bewundere und nichts für die gegenstandslose Kunst oder die Chromodynamik übrig habe. Ich bin nicht sehr musikalisch. Mein Humor ist derb, meine politische Richtung konservativ. Ich mag Tournedos lieber als Filet Mignon, bedauere aber, daß wir beides so selten bekommen. Ich bin ein hinterhältiger Pokerspieler — oder wäre es zumindest, wenn das Spiel an Bord einen Sinn hätte. Es macht mir Spaß, handwerkliche Arbeiten zu verrichten, und da ich Geschick darin besitze, habe ich die Absicht, mich am Bau der Laboreinrichtungen zu beteiligen, sobald dieses Projekt in Angriff genommen wird. Außerdem versuche ich seit geraumer Zeit, Krieg, und Frieden zu Ende zu lesen, schlafe aber immer wieder dabei ein.« Er boxte auf die Matratze. »Genügt das nicht?« »Nein«, erwiderte sie traurig. Sie deutete auf ihre Kabine. Der Schrank stand offen und enthüllte die schönsten Kleider, die sie mitgebracht hatte. Das Regal war mit ihren privaten Schätzen gefüllt — einem zerlesenen alten Bellman-Band, einer Laute, einem Dutzend Bildern, die sie noch aufhängen mußte, Familienfotos, einer indianischen Holzpuppe ... »Du hast überhaupt keine persönlichen Dinge mitgebracht.« »Ich reise mit leichtem Gepäck durchs Leben.« »Auf einem schweren Weg, wenn ich mich nicht täusche. Vielleicht gelingt es mir eines Tages doch noch, dein Vertrauen zu gewinnen.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber lassen wir das jetzt, Carl. Ich will dich nicht quälen. Komm noch einmal zu mir! Siehst du, unser nüchternes, freundschaftliches Verhältnis hat sich längst gewandelt. Ich liebe dich.« Als die Leonora Christine die nötige Geschwindigkeit erreicht hatte, schwieg der Antrieb. Die Düsen erkalteten. Wie ein Komet jagte das Schiff dem Sternbild der Jungfrau entgegen, nur gebremst vom Einwirken der Schwerkraftfelder. Man hatte das einberechnet. Aber der Faktor mußte so klein wie möglich gehalten werden. Die Unsicherheiten der interstellaren Navigation waren ohnehin schon zu hoch. So arbeitete die Mannschaft — die eigentlichen Raumfahrer, im Unterschied zum wissenschaftlichen und technischen Personal — unter Zeitdruck. Boris Fedoroff führte einen Trupp nach draußen. Die Leute hatten eine heikle Aufgabe. Es gehörte Geschick dazu, in der Schwerelosigkeit zu arbeiten, ohne allzu oft den Halt am Rumpf zu verlieren und an der Ankerleine in den schwindelerregenden Raum hinauszutreiben. Die Sicht war schlecht: schmerzhaft grelles Licht in der Sonne, Tintenschwärze auf der Schattenseite, nur unterbrochen von den schwachen Strahlen der Helmlampen. Zudem mußten die Männer stundenlang in ihren Druckanzügen ausharren, bis ihnen die Coveralls am Körper klebten.
Dennoch gelang es ihnen, die Bussard-Einheit, den Griff und den Knauf des Degens, zu lösen und vom Schiff wegzumanövrieren. Eine anstrengende, gefährliche Tätigkeit, da der Koloß ohne Gewicht und Reibung jedes Gramm seiner Trägheitsmasse behielt. Es war ebenso schwer, ihn anzuhalten wie in Bewegung zu setzen. Schließlich trieb er an einem Kabel hinter dem Schiff her. Fedoroff überprüfte persönlich die Position. »Geschafft«, knurrte er. »Ich hoffe es jedenfalls.« Die Männer hakten ihre Halteleinen an dem Kabel fest. Er selbst folgte ihrem Beispiel, sprach kurz mit Telander auf der Kommandobrücke und durchtrennte die Verbindung. Das Kabel wurde rasch aufgerollt. Ein Techniker nach dem anderen ging an Bord. Die Leonora Christine klappte das Netzwerk ihres Magnetfeldes aus. Die Spreizen schimmerten silbern gegen den nachtschwarzen Himmel. Aus der Ferne wirkte das Schiff jetzt wie eine Spinne, eines jener abenteuerlustigen kleinen Insekten, die sich mitsamt ihren hauchdünn gesponnenen Netzen durch die Luft treiben ließen. Energie jagte durch die Generatoren. Das silberne Netzwerk nahm sie auf und breitete ein Feld von magnetohydrodynamischen Kräften aus — unsichtbar, aber über Tausende von Kilometern wirksam. Die Kräfte erfaßten die Bussard-Einheit, richteten sie exakt aus und arretierten sie. Auf Monitorschirmen verfolgten die Ingenieure das Manöver mit. Sie bestätigten, daß alles in Ordnung war. Kapitän Telander setzte sich ein letztes Mal mit Luna in Verbindung und erhielt das Zeichen zur freien Fahrt. Von da an lief alles automatisch. Im Nu hatte die Leonora Christine auf ein g beschleunigt.
4 In einem der Gartenräume war ein Beobachtungsschirm, der die Weite des Raumes zeigte. Farne, Orchideen, Fuchsienstauden und Bougainvillea bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem Sternengeflimmer. Ein Springbrunnen plätscherte in der Nähe. Es roch nach Grün und Blumen. Nichts von alledem vermochte das Pulsieren des Bussard-Antriebs ganz zu überlagern. Das Schiff wisperte und bebte unaufhörlich. Die Vibration war schwach, ganz am Rande der Wahrnehmung, aber sie bahnte sich ihren Weg bis in die Träume der Menschen. Emma Glassgold und Chi-Yuen Ai-Ling saßen auf einer Bank inmitten der Blumen. Seit sie den Garten betreten hatten, war ihr Gespräch verstummt. Emma Glassgold wandte die Blicke abrupt vom Bildschirm ab. »Es war ein Fehler, hierher zu kommen«, sagte sie leise. »Gehen wir wieder!« »Aber ich finde es bezaubernd«, entgegnete die Planetologin überrascht. »Einmal etwas anderes als die nackten Wände, für deren Verschönerung wir noch Jahre benötigen werden.« »Immer noch besser als das da!« Emma deutete auf den Schirm, der in diesem Augenblick ein Bild der Sonne übertrug. Sie war zu einem hellen Punkt zusammengeschrumpft. Chi-Yuen warf ihr einen prüfenden Blick zu. Die Molekularbiologin war auch klein und dunkelhaarig, aber alles an ihr wirkte ein wenig plump und rundlich. Das rosige Gesicht mit
den porzellanblauen Augen unterstrich diesen Eindruck noch. Sie kleidete sich unauffällig, ob sie Dienst hatte oder nicht, und wenn sie die Abendgesellschaften auch nicht gerade mied, so war sie doch eher Beobachterin als aktive Teilnehmerin. »In spätestens zwei Wochen haben wir die Grenzen des Sonnensystems erreicht«, fuhr sie fort. »Wir legen jede Sekunde 845 Kilometer zurück.« »Ein Federgewicht wie ich ist dankbar für die Rückkehr der normalen Erdschwerkraft«, meinte Chi-Yuen leichthin. »Verstehe mich nicht falsch!« erwiderte Emma hastig. »Ich werde auf keinen Fall >Umkehren! Umkehren !< schreien.« Sie lächelte. »Das wäre eine zu große Enttäuschung für die Psychologen, die mich ausgewählt haben.« Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Es ist nur ... ich brauche Zeit, um mich an all das zu gewöhnen. Es fällt mir schwer ..« Chi-Yuen nickte. Sie trug einen farbenprächtigen neuen Cheong-sam, den sie selbst geschneidert hatte. Neben Emma Glassgold sah sie beinahe wie ein Wesen aus einer anderen Welt aus. Nun legte sie der jungen Frau begütigend die Hand auf den Arm und sagte: »Du bist nicht die einzige, Emma. Und man hat damit gerechnet. Allmählich erkennen die Leute nicht nur mit dem Verstand, sondern mit ihrem ganzen Wesen, was diese Reise bedeutet.« »Dich scheint es nicht zu berühren.« »Nein, ich habe Abschied genommen, als ich die Erde zum letztenmal in Sonnenglanz getaucht sah. Es war nicht leicht, aber ich mußte mich schon einmal von dem Liebsten trennen, das ich hatte. Da lernt man es, nach vorne zu sehen.« »Ich schäme mich«, sagte Emma. »Du bist so tapfer, obwohl ich viel mehr vom Leben hatte als du.« »Wirklich?« entgegnete Chi-Yuen leise. »Ja ... gewiß. Oder hast du meinen Lebenslauf vergessen? Meine Eltern waren wohlhabend. Vater arbeitet als Ingenieur in einem Wassergewinnungswerk, und Mutter ist Agronomin. Der Negev ist schön, wenn die Pflanzen blühen, und ruhig, freundlich — nicht so hektisch wie Tel Aviv oder Haifa. Obwohl mir das Studium Spaß machte. Ich hatte Gelegenheit, mit guten Freunden Reisen zu unternehmen. Ich kam im Beruf voran. Ja, ich hatte Glück.« »Weshalb hast du dich dann für Beta III gemeldet?« »Wissenschaftliches Interesse — eine völlig neue planetarische Evolution ...« »Nein, Emma.« Chi-Yuen schüttelte den Kopf, daß ihre dunklen Haare flogen. »Die ersten Sternenschiffe brachten genug Daten mit, um die Forscher auf der Erde für die nächsten hundert Jahre zu beschäftigen. Wovor fliehst du?« Emma Glassgold biß sich auf die Unterlippe. »Ich wollte nicht aufdringlich sein«, meinte Chi-Yuen entschuldigend. »Ich dachte, ich könnte dir helfen.« »Vielleicht kannst du das tatsächlich«, sagte Emma. »Du bist zwar jünger als ich, aber du hast mehr von der Welt gesehen.« Sie verkrampfte die Finger. »Ich weiß allerdings nicht genau, wie ich es ausdrücken soll. Die Städte erschienen mir mit einemmal vulgär und häßlich. Und wenn ich den Negev besuchte, sah ich hinter der prächtigen Landschaft die Hohlheit und Öde. Vielleicht dachte ich, daß ich hier draußen eine Aufgabe finden könnte. Ich weiß es nicht. Eigentlich bewarb ich mich aus einem Impuls heraus. Als ich dann in die engere Auswahl kam, machten meine Eltern so ein Theater, daß ich nicht mehr zurück konnte.
Und dabei liebte ich meine Familie. Es tat mir so weh, sie zu verlassen. Mein großer, starker Vater war plötzlich ganz klein und alt.« »Spielte auch ein Mann eine Rolle?« fragte Chi-Yuen. »Bei mir war es jedenfalls so. Ich mache kein Geheimnis daraus. Außerdem steht es ohnehin in den Akten. Wir waren verlobt.« »Ein Studienkollege«, sagte Emma leise. »Ich liebte ihn. Ich liebe ihn immer noch. Aber für ihn existierte ich kaum.« »Das erlebt man des öfteren«, erwiderte Chi-Yuen. »Entweder man kommt darüber hinweg, oder es wird zur Zwangsvorstellung. Du leidest nicht unter Psychosen, Emma, aber es wird höchste Zeit, daß du dein Schneckenhaus verläßt. Sieh dir deine Schiffsgefährten genauer an! Biete deine Kabine einem Mann an!« Emma errötete. »Ich halte wenig von solchen Praktiken.« Chi-Yuen zog die Augenbrauen hoch. »Bist du noch Jungfrau? Das können wir uns nicht leisten, wenn wir auf Beta III eine neue Kolonie gründen wollen. Das genetische Material ist denkbar knapp.« »Ich wünsche mir eine anständige Heirat«, erklärte Emma beinahe verärgert, »und so viele Kinder, wie Gott mir gewährt. Aber sie sollen wissen, wer ihr Vater ist. Diesen ständigen Kabinenwechsel mache ich nicht mit. Es gibt genug andere Mädchen an Bord, die sich dafür hergeben.« »Wie ich.« Chi-Yuen blieb gelassen. »Zweifellos werden sich dauerhafte Verbindungen entwickeln. Aber weshalb soll man inzwischen nicht hin und wieder etwas Freude geben und empfangen?« »Entschuldige«, sagte Emma. »Ich habe nicht das Recht, deine privaten Entscheidungen zu kritisieren. Das Leben prägt unseren Charakter.« Chi-Yuen nickte. »Du scheinst mich zu bedauern. Aber ich kann dir versichern, daß meine Vergangenheit glücklicher verlaufen ist als die deine.« »Was?« Emma Glassgold sah sie mit großen Augen an. »Das meinst du doch nicht im Ernst?« Chi-Yuen lächelte. »Du kennst nur die Oberfläche meines Lebens, Emma. Ich kann mir vorstellen, was du denkst. Mein Land geteilt, verarmt, gelähmt durch die ständigen Revolutionen und Bürgerkriege. Meine Familie kultiviert und traditionsbewußt, aber bettelarm. Die Opfer, die sie brachte, um mich an der Sorbonne studieren zu lassen. Und meine verzweifelten Bemühungen, nach Abschluß des Studiums die Schuld wiedergutzumachen und ihnen auf die Beine zu helfen.« Sie betrachtete einen Moment lang den hellen Punkt der Sonne und fuhr dann ruhig fort: »Sprechen wir von Jacques. Wir studierten zusammen in Paris. Später waren wir oft getrennt, weil meine Arbeit mich sehr in Anspruch nahm. Er stattete schließlich meinen Eltern in Peking einen Besuch ab. Ich sollte so bald wie möglich nachkommen, damit wir heiraten konnten. Ein Aufstand in meiner Heimatstadt machte alles zunichte. Er wurde getötet.« »Mein Gott ...«, begann Emma Glassgold. »Das ist die Oberfläche«, unterbrach sie Chi-Yuen. »Nichts als die Oberfläche. Begreifst du nicht? Auch ich hatte ein schönes Daheim und Eltern, die mich liebten und verstanden — so sehr, daß sie letzten Endes nichts mehr gegen meine Reise einzuwenden hatten. Ich sah viel von der Welt, Dinge, die einem verborgen bleiben, wenn man Erster Klasse reist.
Es war mir zumindest eine Weile vergönnt, mein Glück mit Jacques zu genießen. Und ich hatte andere Männer vor ihm und nach ihm; ich weiß, daß er es so gewollt hätte. Ich habe die Reise ohne Bitterkeit und ohne Bedauern angetreten. Das Glück ist auf meiner Seite, Emma.« Emma Glassgold wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Chi-Yuen nahm sie an der Hand und stand auf. »Du mußt von dir selbst loskommen«, sagte die Planetologin. »Das erfordert sehr viel Mut und Kraft. Aber vielleicht gelingt es mir, dir ein wenig dabei zu helfen. Komm in meine Kabine! Wir schneidern dir erst einmal ein hübsches Kleid. Die Party zum Vertragstag findet bald statt, und ich möchte, daß sie dir Spaß macht.« Man bedenke: Ein einziges Lichtjahr ist ein unvorstellbarer Abgrund. Es läßt sich in Zahlen erfassen, aber es bleibt unvorstellbar. Und der Abstand zu Beta Virginis betrug zweiunddreißig Lichtjahre. Dennoch ließen sich solche Entfernungen überbrücken. Ein Schiff, das laufend mit einem g beschleunigte, konnte ein halbes Lichtjahr in knappen zwölf Erdenmonaten zurücklegen. Seine Geschwindigkeit kam dabei ganz nahe an die des Lichts heran — dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde. Praktische Probleme erhoben sich. Woher sollte man die Masse beziehungsweise Energie für diese Aufgabe nehmen? Selbst in einem Newtonschen Universum war der Gedanke an eine Rakete, die vom Start weg soviel Treibstoff mit sich führte, lächerlich. Um so absurder klang er im Einsteinschen Kosmos, wo die Masse des Schiffes und seine Nutzlast proportional zum Tempo wuchs und ins Unendliche kletterte, je näher die Lichtgeschwindigkeit rückte. Aber es gab Reaktionsmasse in Raum! Das All war durchdrungen von Wasserstoff. Gewiß, nach terrestrischer Norm war die Konzentration nicht gerade hoch — etwa ein Atom pro Kubikzentimeter in der galaktischen Nachbarschaft von Sol. Dennoch, das ergab dreißig Milliarden Atome pro Sekunde, die gegen jeden Quadratzentimeter des Schiffsquerschnitts prallten, sobald es sich der Lichtgeschwindigkeit näherte. (Die Zahl schwankte, da das interstellare Medium in der Nähe eines Sternes dichter war.) Die Energien waren überwältigend. Mega-Röntgen harter Strahlung wurden bei dem Aufprall frei; dabei wirkten knappe tausend r innerhalb einer Stunde bereits tödlich. Kein Abschirm-Material war stark genug, um diese Strahlung aufzufangen. Aber in den Tagen der Leonora Christine gab es andere Dinge als Materie-Abschirmung: die magnetohydrodynamischen Felder, deren Impulse über Millionen von Kilometern reichten und die Atome durch ihre Dipole erfaßten, um ihre Strömung zu beeinflussen. Diese Felder dienten nicht nur passiv als eine Art Strahlungspanzer. Sie lenkten Staub und alle Gase außer dem vorherrschenden Wasserstoff ab. Letzteren leiteten sie in einem sicheren Abstand am Schiff vorbei zu einem Strudel elektromagnetischer Wellen, deren Kern auf den Bussard-Antrieb gerichtet war. Das Schiff besaß enorme Ausmaße. Und doch war es im Vergleich zu dem riesigen Kräftenetz, das es umspannte, nur ein winziges Metallteilchen. Es erzeugte diese Kräfte längst nicht mehr selbst; es hatte den Vorgang in die Wege geleitet, doch nun entwickelte er sich automatisch weiter, immer rascher, immer gigantischer. Weder die thermonuklearen Pri
mär-Reaktoren (man benutzte ein gesondertes Reaktorsystem zum Abbremsen) noch die Venturi-Rohre — nichts von dem Komplex, der das Schiff vorwärtstrieb, befand sich direkt an Bord. Ein Großteil davon bestand nicht einmal aus Materie, sondern war das Ergebnis von Vektoren in kosmischen Dimensionen. Obwohl das Schiff von Komputern gesteuert wurde, hatten die Kontrolleinrichtungen auch nicht entfernte Ähnlichkeit mit einem Autopiloten. Sie waren wie Katalysatoren, die, mit Überlegung angewandt, den Verlauf jener ungeheuren Reaktionen beeinflussen konnten — die sie verstärken, abschwächen oder ganz unterbrechen konnten. Der gesamte Prozeß war instabil wie der Stoffwechsel eines lebenden Organismus', und wenn man es genau bedachte, befand sich die Leonora Christine immer am Rande einer Katastrophe. Da waren unvorhersehbare Schwankungen in der Materiedichte des Raumes. Das Ausmaß, die Intensität und die Struktur der Kraftfelder mußte dementsprechend abgeändert werden — ein Problem mit x Faktoren, die nur ein Komputer rasch genug lösen konnte. Eingangsdaten und Ausgangssignale bewegten sich mit Lichtgeschwindigkeit: sie benötigten ganze dreieinhalb Sekunden, um eine Million Kilometer zurückzulegen. Und doch konnte die Reaktion zu langsam sein. Die Gefahr wuchs, sobald die Leonora Christine so nahe an die Geschwindigkeitsgrenze herankam, daß sich das Zeitverhältnis meßbar verschob. Dennoch stieß das Schiff Woche für Woche, Monat für Monat, weiter in den Raum vor. Die Aufbereitung von biologischen Abfallstoffen ging so weit, daß selbst die regelmäßige Versorgung mit Äthylalkohol gewährleistet war. Man stellte geringe Mengen Bier und Tafelwein her. Die Schnapsration allerdings war knapp bemessen. Doch es gab Leute, die in ihrem persönlichen Gepäck ein paar Flaschen des kostbaren Alkohols mitführten. Zudem konnten sie den Nichttrinkern an Bord ihren Anteil abhandeln und ihre Privatschätze für besondere Gelegenheiten aufsparen. Es hatte sich allmählich zur Gewohnheit entwickelt, daß feuchtfröhliche Feiern in der Messe stattfanden. Um die Geselligkeit zu fördern, enthielt der Raum mehrere kleine Tische anstatt einer einzigen langen Tafel. So diente er gleichzeitig als eine Art Klubzimmer. Einige der Männer errichteten an einem Ende des Raumes einen Theke, an der Eis und Mixzutaten ausgegeben wurden. Andere hatten Rollbilder mit deftigen Szenen angefertigt, die man während der Gelage über die normalen Wanddekorationen ziehen konnte. Im Hintergrund spielte Tonbandmusik, fröhliches Zeug im allgemeinen, von Trinkliedern des sechzehnten Jahrhunderts bis zu den neuesten Asteroidenschlagern. An einem bestimmten Tag gegen acht Uhr abends stand der Klub jedoch leer. Im Turnsaal sollte eine Tanzparty stattfinden. Die Leute, die dienstfrei hatten und sie besuchen wollten — und das waren die meisten —, richteten sich noch her. Kleidung und äußere Formen spielten bei solchen Treffen eine wichtige Rolle. Maschinist Johann Freiwald glänzte in der goldfarbenen Jacke und der engen schillernden Hose, die ihm seine Herzensdame genäht hatte. Sie war noch nicht erschienen, ebensowenig wie das Orchester, und so nahm er Elof Nilssons Einladung zu einem Drink an. »Können wir nicht morgen über die Arbeit sprechen?« fragte er. Er war ein freundlicher junger Mann, hochgewachsen, mit kurzgeschorenem blonden Haar und etwas eckigen Gesichtszügen. »Der Gedanke ist mir eben erst gekommen — beim Umziehen«, erklärte Nilsson. »Und bevor ich ihn weiterverfolge, muß ich wissen, ob er sich praktisch durchführen läßt.«
»Also gut. Aber machen Sie es kurz!« Der Astronom suchte sich seine Privatflasche vom Regal, holte zwei Gläser und steuerte auf einen Tisch zu. »Ich nehme Wasser ...«, begann Freiwald, aber sein Begleiter hörte nicht zu. So schenkte er sich selbst einen Krug voll und ließ ihn bei Nilsson registrieren. Nilsson nahm Platz, zog ein Notizbuch aus der Tasche und begann eine Skizze anzufertigen. Er war gedrungen, fett, ungepflegt und häßlich. Er kam aus der alten Universitätsstadt Uppsala, und sein ehrgeiziger Vater hatte ihn schon in jungen Jahren zu geistigen Höchstleistungen getrieben, ohne auf seine seelische Entwicklung Rücksicht zu nehmen. Man glaubte allgemein, daß seine Heirat ein Verzweiflungsschritt von beiden Seiten gewesen war, und die Ehe verlief dementsprechend. Als er die Gelegenheit erhielt, die Expedition nach Beta Virginis mitzumachen, trennte er sich sofort von seiner Frau. Nicht einmal das Kind, das er sehr liebte, vermochte ihn zu halten. Aber wenn er über Dinge sprach, die er verstand, dann vergaß man seine Arroganz und Aufgeblasenheit, dann erinnerte man sich an seine Beobachtungen, die schließlich das Pulsieren des Universums bewiesen hatten ... » ... einmalige Gelegenheit, ein paar anständige Meßdaten zu erlangen. Bedenken Sie nur, welche Grundlinie wir haben — zehn Parsek! Dazu kommt die Möglichkeit, die Gammastrahlenspektren mit größerer Genauigkeit zu untersuchen, wenn sie sich in den energieschwächeren Rotbereich verschieben. Und so fort. Aber das befriedigt mich noch nicht. Ich glaube nicht, daß es wirklich nötig ist, ein elektronisches Abbild des Himmels zu betrachten — begrenzt, verwischt und ganz zu schweigen von den verdammten optischen Veränderungen. Wir sollten Spiegel am Außenrumpf montieren. Die Bilder, die sie auffangen, könnten mit Hilfe von Lichtleitern zu Okularen, Vergrößerungslinsen und Kameras im Schiffinnern gebracht werden. Nein, lassen Sie! Ich weiß genau, was Sie sagen wollen. Alle bisherigen Versuche in dieser Richtung sind gescheitert. Gewiß, es wäre möglich, eine Kunststoffstruktur am Außenrumpf anzubringen und sie mit einer Aluminiumschicht zu überziehen. Aber die Induktionswirkungen der Bussard-Felder würden das Ding in eine Art RummelplatzSpiegelkabinett verwandeln. Mein Gedanke ist es nun, Sensoren und Rückkopplungsschaltungen auf den Kunststoffunterbau zu drucken, die diese Verzerrungen automatisch ausgleichen. Und Sie, Freiwald, sollen mir sagen, inwieweit der Entwurf und Bau dieser Entzerrungseinrichtung durchführbar ist. Hier haben Sie eine grobe Skizze ...« Nilsson wurde unterbrochen. »He, da sind Sie ja, alter Kumpel!« Er und der Maschinist sahen auf. Williams schwankte auf sie zu. Der Chemiker hielt eine Flasche in der Rechten und ein halbvolles Wasserglas in der Linken. Sein Gesicht war noch stärker gerötet als gewöhnlich, und er atmete schwer. »Was zum Teufel will der denn?« murmelte Freiwald in seiner deutschen Muttersprache. »Englisch, mein Junge«, sagte Williams. »Heute wird englisch gesprochen! Und zwar amerikanisches Englisch!« Er hatte den Tisch erreicht, setzte Glas und Flasche ab und stützte sich so schwer auf, daß die Platte beinahe gekippt wäre. Er roch nach Whisky. »Sie ganz besonders, Nilsson!« Er deutete mit zitterndem Finger auf den Astronomen. »Sie sprechen heute abend amerikanisch, Sie Schwede, verstanden?« »Bitte, suchen Sie sich einen anderen Platz«, sagte Nilsson.
Williams ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er lümmelte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Ihr wißt nicht, welches Datum heute ist, oder?« fragte er. »Wahrscheinlich haben Sie es in Ihrem Suff vergessen«, fauchte Nilsson, ohne sein Schwedisch aufzugeben. »Wir haben den vierten Juli.« »Richtig! Und was bedeutete das, häh?« Williams wandte sich an Freiwald. »Weißt du es, Kraut?« »Ein — äh — Jahrestag?« fragte der Maschinist vorsichtig. »Jawohl, ein Jahrestag. Wie hast du das erraten?« Williams hob das Glas. »Trinkt mit mir, ihr beiden! Ich habe alles für den heutigen Tag aufgehoben. Trinkt!« Freiwald warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und stieß mit ihm an. »Prost!« Nilsson hatte schon ein »Skål!« auf den Lippen, doch dann stellte er sein Glas ab und starrte wütend vor sich hin. »Vierter Juli!« sagte Williams. »Der Unabhängigkeitstag meines Landes. Wollte eine Party auf die Beine bringen. Aber niemand machte mit. Wollten alle zu diesem verdammten Gehopse.« Er starrte Nilsson eine Zeitlang an. »Schwede«, meinte er langsam, »du trinkst jetzt mit mir, oder ich schlage dir die Fresse ein!« Freiwald umklammerte den Arm des Chemikers mit starker Hand. Williams versuchte sich zu erheben, aber es gelang ihm nicht, den Griff des Deutschen abzuschütteln. »Immer sachte, Dr. Williams«, erklärte der Maschinist ruhig. »Wenn Sie Ihren Nationalfeiertag begehen wollen, sind wir gern bereit, mit Ihnen anzustoßen. Nicht wahr, Sir?« Er hatte sich Nilsson zugewandt. »Ich weiß, was mit ihm los ist«, entgegnete der Astronom mit gepreßter Stimme. »Einer, der ihn kannte, verriet es mir vor der Abreise. Frustration. Er war dem modernen Management nicht gewachsen.« »Verdammte Wohlfahrtsstaat-Bürokratie!« Williams rülpste. »Er begann von der imperialistischen Epoche seines Landes zu träumen«, fuhr Nilsson fort. »Faselte ständig von einem freien Wirtschaftssystem, das es meiner Meinung nach nie gegeben hat. Schließlich verstrickte er sich in reaktionäre Politik. Als die Kontrollbehörde sich gezwungen sah, sieben hohe amerikanische Beamte wegen einer geplanten Verschwörung gegen den Vertrag zu verhaften ...« » ...hatte ich die Nase voll, jawohl!« schrie Williams. »Ein neuer St-stern! Neue Welt! Die Ch-chance, frei zu sein. Selbst wenn ich mit einer Bande Sch-schweden reisen muß!« »Sehen Sie?« Nilsson grinste Freiwald an. »Er ist nichts als ein Opfer des romantischen Nationalismus', mit dem sich viele seiner Generation über die ungewohnte Ordnung in unserer Welt hinweggetröstet haben. Schade, daß er sich nicht mit historischen Dramen und schwülstigen Epen zufriedengibt.« »Romantisch!« kreischte Williams. Er wehrte sich vergeblich gegen Freiwalds Umklammerung. »Sieh dich doch an, du fette, spindelbeinige Mißgeburt! Du bist auch ein Opfer des Systems, jawohl! Wie hast du dich mit deinem rachitischen Gestell gefühlt, wenn andere Kinder deines Alters Wikinger spielten? Und deine Ehe ging noch schlimmer in die Binsen als die meine! Ich bin damit fertig geworden, du Hurensohn, ich habe trotzdem meine Arbeit geleistet, was du von dir nicht behaupten kannst, du ... Laß mich los, Kraut, damit ich dem Kerl zeige, was ein Mann ist!«
»Bitte«, sagte Freiwald. »Bitte, meine Herren!« Er beugte sich über Williams und drückte ihn in seinen Stuhl, während er Nilsson mit den Blicken festnagelte. »Sir, Sie hatten kein Recht, ihn zu reizen«, fuhr er fort. »War es wirklich zuviel verlangt, ein Glas auf seinen Nationalfeiertag zu trinken?« Nilsson schien im Begriff, seinen akademischen Grad hervorzukehren, als Jane Saddler den Raum betrat. Sie hatte schon eine Zeitlang in der Tür gestanden und den Streit mitverfolgt. Ihr Gesichtsausdruck paßte nicht zu dem festlichen Kleid, das sie trug. »Johann hat völlig recht, Elof«, sagte sie. »Komm jetzt lieber mit!« »Tanzen?« Nilsson schluckte. »Nach diesem Zwischenfall?« »Ja, nach diesem Zwischenfall.« Sie warf den Kopf zurück. »Deine Arroganz reicht mir allmählich, mein Lieber. Wenn du dich nicht änderst, mache ich Schluß.« Nilsson murmelte etwas, aber er stand auf und bot ihr den Arm. Sie war ein Stück größer als er. Williams saß zusammengesunken am Tisch und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich bleibe eine Weile hier und versuche ihn aufzuheitern«, flüsterte Freiwald Jane zu. Sie lächelte bekümmert. »Wenn einer es schafft, dann du, Johann.« Sie hatte einige Nächte mit ihm verbracht, bevor sie sich zu einer festen Verbindung mit Nilsson entschloß. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Nilsson hüstelte, und Jane zuckte zusammen. »Bis später«, sagte sie und wandte sich ab.
5 Allmählich wurden die optischen Wirkungen deutlich, die sich aus dem ständig wachsenden Tempo der Leonora Christine ergaben. Da sich die Schiffsbewegung und die Strahlengeschwindigkeit der beobachteten Sterne vektoriell addierten, kam es zur Aberration: die Konstellationen nahmen ein verzerrtes, groteskes Aussehen an. Mehr und mehr drängten sich die Sterne vor dem Bug des Schiffes zusammen, während sie vom Heck zu fliehen schienen. Gleichzeitig spielte der Dopplereffekt eine Rolle. Die Lichtwellen, die das Schiff überholten, wirkten länger und hatten eine schwächere Frequenz als normal. Genau umgekehrt war es bei den Wellen, in die sich der Bug der Leonora Christine bohrte. So rutschten die Sonnen hinter dem Schiff scheinbar mehr in den roten und die vor dem Schiff mehr in den blauen Spektrumsbereich. Auf der Brücke befand sich ein Bildschirm, der diese Wirkungen ausglich — der einzige an Bord. Ein Komputer errechnete für jeden Punkt im Raum, wie der Sternenhimmel aussehen würde, wenn das Schiff keine Eigenbewegung hätte, und simulierte ein entsprechendes Bild. Das Gerät war alles andere als ein Luxus; es stellte eine wertvolle Navigationshilfe dar. Aber selbstverständlich benötigte der Komputer laufend Daten über die Position des Schiffes, und so gehörte Auguste Boudreau, der bärtige Navigationsoffizier, zu den wenigen Leuten, die während der Reise voll beschäftigt waren. Er arbeitete Hand in Hand mit Kapitän Telander, der die nötigen Kursänderungen berechnete und anordnete, und mit dem
Ersten Ingenieur Fedoroff, der sie durchführte. Das alles ging so reibungslos vonstatten, daß die Passagiere kaum etwas davon bemerkten. Zusätzlich versuchten Boudreau und Fedoroff den Kontakt mit der Erde aufrechtzuerhalten. Die Leonora Christine konnte von Beobachtungessatelliten im Sonnensystem immer noch verfolgt werden, und auch der Maserstrahl von Luna erreichte das Schiff trotz der Schwierigkeiten, die sich durch die Antriebsfelder ergaben. Ja, man hoffte sogar auf einen regelmäßigen Nachrichtenaustausch, sobald das Schiff auf Beta Virginis gelandet war. Sein unbemannter Vorläufer hatte ständig Informationen ausgesandt, die auf der Erde gut angekommen waren. Das augenblickliche Problem bestand darin: Sonnen und Planeten sind große, nahezu ruhende Körper. Sie bewegen sich selten mit einer höheren Geschwindigkeit als fünfzig Kilometern pro Sekunde durch den Raum und weichen auch nur geringfügig von ihrer Bahn ab. So läßt sich leicht berechnen, wo sie sich in ein paar Jahrhunderten befinden werden, und man kann eine Botschaft an die entsprechende Position richten. Anders liegt die Sache bei einem Sternenschiff. Menschen haben eine kurze Lebensspanne; sie hetzen vorwärts. Aberration und Dopplereffekt beeinflussen auch die Funkverbindungen. Letzten Endes würden die Botschaften von Luna auf Frequenzen ankommen, die kein Empfänger an Bord des Schiffes verwerten konnte. Aber lange vor diesem Augenblick mußte man damit rechnen, daß der Maserstrahl das Schiff durch irgendeinen unglücklichen Zufall verlor. Fedoroff, der zugleich Fernmelde-Offizier war, bastelte mit Detektoren und Verstärkern herum, um den Signalen, die er zum Sonnensystem schickte, mehr Energie zu verleihen. Obwohl oft Tage verstrichen, ohne daß er Antwort erhielt, harrte er aus. Sein Bemühungen wurden von Erfolg gekrönt. Aber die Empfangsqualität verschlechterte sich, und die Intervalle dehnten sich immer länger hin, je tiefer die Leonora Christine in den Raum vordrang. Ingrid Lindgren drückte auf den Summer. Die Kabinen waren schallgedämpft, so daß man ein Klopfen nicht gehört hätte. Nichts rührte sich. Sie versuchte es noch einmal — ohne Erfolg. Mit gerunzelter Stirn wartete sie. Schließlich legte sie die Hand auf die Klinke. Die Tür war nicht versperrt. Ingrid schob sie einen Spalt auf. Ohne einen Blick ins Innere zu werfen, rief sie leise: »Boris! Ist alles in Ordnung?« Leise Geräusche drangen an ihr Ohr, ein Quietschen und Knarren, dann Schritte. Fedoroff stieß die Tür ganz auf. »Oh«, sagte er. »Guten Tag.« Sie musterte ihn unauffällig. Er war ein stämmiger, mittelgroßer Mann mit breitem Gesicht und hohen Wangenknochen. Sein Haar zeigte bereits die ersten grauen Fäden, obwohl er erst zweiundvierzig war. Er hatte sich seit ein oder zwei Schichten nicht mehr rasiert und trug nur den Bademantel, den er offensichtlich erst in diesem Augenblick übergeworfen hatte. »Darf ich hereinkommen?« fragte sie. »Wenn Sie wollen.« Er winkte sie an sich vorbei und schloß die Tür. Fedoroff teilte die Kabine mit Pereira, dem Chef des Biosystems, aber er hatte die Trennwand heruntergelassen, um ungestört zu sein. Auf dem Frisiertisch stand eine Wodkaflasche, und das Bett war zerwühlt. »Ziemlich schlampig hier«, meinte er entschuldigend. »Möchten Sie einen Drink? Ich habe zwar keine Gläser hier, aber ein Schluck aus der Flasche wird Ihnen nicht schaden. Nie
mand an Bord hat eine ansteckende Krankheit.« Er lachte abgehackt. »Woher sollten hier auch Bazillen kommen?« Ingrid Lindgren setzte sich auf die Bettkante. »Nein, danke«, erwiderte sie. »Ich bin im Dienst.« »Ich auch — sollte es zumindest sein.« Fedoroff blieb mit hängenden Schultern vor ihr stehen. »Ich habe dem Kapitän Bescheid gegeben, daß ich mich nicht wohl fühle und eine Ruhepause einlegen möchte.« »Soll ich nicht lieber Dr. Latvala verständigen?« »Wozu? Rein physisch fehlt mir nichts.« Fedoroff machte eine Pause. »Sie sind hergekommen, um meinen Zustand zu begutachten?« »Das gehört zu meinem Aufgabenbereich. Ich wollte Sie selbstverständlich nicht stören, aber Sie sind einer der wichtigsten Männer an Bord.« Fedoroffs Züge verzerrten sich zu einem Lächeln. »Keine Angst«, sagte er. »Ich schnappe nicht über.« Er griff nach der Flasche, doch dann ließ er den Arm sinken. »Es ist nur eine Art Katerstimmung.« »Die vergeht in Gesellschaft am schnellsten«, erklärte Ingrid. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich nehme doch einen Drink.« Fedoroff reichte ihr den Wodka und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Sie hob die Flasche. »Skål!« sagte sie und nahm einen Schluck. Zdorovije!« erwiderte er. Dann starrte er eine Zeitlang schweigend die Trennwand an. »Also schön«, sagte er schließlich. »Wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Sie sind die einzige, der ich es anvertrauen kann, Ingrid. Gunnars Tochter, nicht wahr?« »Ja, Boris Iljitsch.« Er warf ihr einen Blick zu und lächelte. Sie saß völlig entspannt da. Nicht einmal der Coverall konnte ihre Formen verbergen. Sie strahlte Wärme und Weiblichkeit aus. »Ich glaube ...« Er stockte. »Ich hoffe, Sie verstehen mich und verraten den anderen nichts von meinen Problemen.« »Das verspreche ich Ihnen.« Er stützte die Ellbogen auf die Knie und preßte die Handflächen gegeneinander. »Es ist eine persönliche Angelegenheit, müssen Sie wissen«, begann er langsam und ein wenig unsicher. »Nichts Besonderes, und sicher habe ich es bald überwunden. Es ist nur — die letzte Botschaft, die wir erhielten, hat mich aus der Fassung gebracht.« »Die Musik?« »Ja. Musik. Ganz leise. Fast unhörbar. Die letzte Musik, Ingrid Gunnarstochter, bevor wir unser Ziel erreichen und Nachrichten empfangen, die eine Generation alt sind. Ich bin sicher, daß es die letzte war. Die wenigen Takte, immer wieder unterbrochen vom Knistern der kosmischen Strahlung — als uns diese Musik entglitt, wußte ich, daß die Verbindung zur Erde endgültig gerissen ist.« Fedoroff schwieg. Ingrid wartete geduldig. Nach einiger Zeit hob er den Kopf. »Es war ausgerechnet ein russisches Wiegenlied«, sagte er. »Meine Mutter hatte mich damit in den Schlaf gesungen.« Sie legte ihm ganz leicht die Hand auf die Schulter.
»Glauben Sie nicht, daß ich jetzt vor Selbstmitleid zerfließe«, fügte er hastig hinzu. »Eine Zeitlang flackert wieder die schmerzhafte Erinnerung an die Toten auf, doch das vergeht.« »Ich verstehe Sie nur zu gut«, entgegnete sie leise. Er befand sich bereits auf seiner zweiten interstellaren Reise. Zuvor war er auf Delta Pavonis gewesen. Die Meßdaten der Sonden deuteten auf einen erdähnlichen Planeten hin, und die Expedition hatte sich mit großen Hoffnungen auf den Weg gemacht. Die Wirklichkeit hingegen sah so grauenhaft aus, daß die Überlebenden Heldenmut bewiesen, als sie sich dennoch für das Minimum der geplanten Zeit auf der fremden Welt niederließen und Informationen sammelten. Bei ihrer Rückkehr waren zwölf subjektive Jahre vergangen — dreiundvierzig Erdenjahre. »Das bezweifle ich fast.« Fedoroff sah sie zum ersten Male voll an. »Wir rechneten damit, daß unsere Generation tot sein würde, wenn wir heimkehrten. Wir rechneten mit Veränderungen. Ich war anfangs überglücklich, als ich wenigstens Teile meiner Heimatstadt wiedererkannte — Mondlicht auf den Kanälen und dem Fluß, die Kuppeln und Türme der Kazan-Kathedrale, die Alexander-Statue auf der Brücke des Newski-Prospekts, die Schätze der Eremitage ...« Er senkte erneut den Blick und schüttelte müde den Kopf. »Aber das Leben selbst! Alles anders — die alten Wertbegriffe zerstört. Es war, als träfe man eine Frau, die man einst geliebt hatte, in der Gosse wieder.« Er lachte schrill. »Genau so! Ich arbeitete fünf Jahre lang im Raum, um der Erde zu entfliehen. Wie Sie vielleicht wissen, verbesserte ich in dieser Zeit den Bussard-Antrieb, mein Hauptziel war es, den Posten zu erreichen, den ich jetzt habe. Ich setzte alles auf einen neuen Anfang ...« Seine Worte wurden immer leiser. »Dann erreichte mich das kleine Lied meiner Mutter. Zum letztenmal.« Er setzte die Flasche an die Lippen. Ingrid ließ ihm ein paar Minuten Zeit, dann sagte sie: »Boris, Ihr Kummer liegt tiefer. In Ihrer Jugend waren die Menschen weniger — nun, weniger freizügig vielleicht. In den meisten Ländern hatte man sich von den Schrecken des Krieges erholt und ging daran, neue Projekte zu planen. Nichts schien unmöglich. Patriotismus und echter Arbeitseifer trieben die Wissenschaftler voran. Ich glaube, Sie dienten Ihr Leben lang zwei Göttern — der Technik und Ihrem Vaterland.« Ihre Hand legte sich über seine. »Dann kehrten Sie zurück, und der neuen Generation war es egal.« Er nickte. »Verachten Sie deshalb auch die modernen Frauen so sehr?« Er zuckte zusammen. »Nein! Niemals!« »Weshalb wehren Sie sich dann so heftig gegen eine dauerhafte Verbindung? Soviel ich weiß, hat keine Ihrer Liaisons länger als eine Woche gehalten.« Sie sah ihn prüfend an. »Weshalb fühlen Sie sich nur in Gegenwart von Männern wohl? Ich glaube, Sie haben sich noch nie ernsthaft die Mühe gemacht, über das weibliche Geschlecht nachzudenken. Und was Sie da vorhin über die Gosse sagten ...« »Als ich von Delta Pavonis zurückkehrte, wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine treue Frau«, erklärte Fedoroff mit erstickter Stimme. Ingrid seufzte. »Boris, die Sitten ändern sich. Meiner Meinung nach sind Sie in einer Epoche des verkrampften Puritanismus aufgewachsen. Dieser wiederum war eine Reaktion auf das allzu lockere Leben der vorhergegangenen Ära — aber lassen wir das.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Tatsache ist, daß die Ideale der Menschheit ständig wechseln. Die
Massenbegeisterung Ihrer Jugend wich einem kühlen, rationalen Klassizismus. Heute wiederum wird diese Richtung von der Neo-Romantik verdrängt. Gott weiß, was danach kommt. Wahrscheinlich ein Trend, mit dem ich nicht fertig werde. Aber deshalb haben wir kein Recht, die Generationen, die nach uns kommen, in unsere Schablone zu pressen. Dazu ist das Universum viel zu großzügig angelegt.« Fedoroff saß so lange reglos da, daß sie schon aufstehen und gehen wollte. Plötzlich wirbelte er herum, packte sie am Handgelenk und zog sie wieder neben sich. »Ingrid, ich möchte dich gern näher kennenlernen — als Mensch.« »Das freut mich.« Seine Lippen wurden schmal. »Geh jetzt lieber«, stieß er hervor. »Du lebst mit Reymont zusammen. Ich möchte keine Konflikte heraufbeschwören.« »Ich gäbe viel für deine Freundschaft, Boris«, erklärte sie. »Ich bewundere dich, seit wir uns kennengelernt haben. Und ich wollte nur, du würdest auch den Schiffsgefährten, die weiblichen Geschlechts sind, deine guten Eigenschaften zeigen.« Er ließ sie los. »Ich warne dich — geh!« Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Angenommen, ich gehe«, meinte sie, »und wir begegnen uns ein anderes Mal. Wirst du dann die Beherrschung behalten?« »Ich weiß es nicht«, sagte er. Wieder schien sie nachzudenken. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen«, erklärte sie schließlich. »Ich bleibe für den Rest meiner Schicht hier.«
6 Alle Wissenschaftler an Bord hatten sich für das halbe Jahrzehnt im Raum zumindest ein Forschungsprojekt vorgenommen, das ihnen helfen sollte, die Langeweile zu vertreiben. So bestand Emma Glassgolds Programm darin, die chemische Grundlage des Lebens auf Epsilon Eridani Zwei aufzuspüren. Nachdem sie die nötigen Apparaturen aufgebaut hatte, begann sie Schritt für Schritt ihre Protophyten und Gewebekulturen zu testen. Die Reaktionsergebnisse brachte sie zu Norbert Williams, der für mehrere Leute gleichzeitig Analysen anfertigte. Eines Tages, gegen Ende des ersten Reisejahres, brachte er wieder einen Bericht in ihr Labor. Er hatte es sich angewöhnt, die Unterlagen persönlich abzuliefern. Die fremdartigen Moleküle faszinierten ihn ebenso wie sie, und oft diskutierten sie stundenlang über einen Befund. Allerdings kam es in letzter Zeit immer häufiger vor, daß sie sich auch Themen zuwandten, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Sie begrüßte ihn gutgelaunt, als er eintrat. Ihr Arbeitstisch war überladen mit Reagenzgläsern, Flaschen und Behältern aller Art, Trenn- und Mischvorrichtungen, einem Hygrometer und vielem mehr. »Nun«, sagte sie, »ich bin gespannt, was meine Lieblinge diesmal machen.« »Das verrückteste Zeug, das ich je sah.« Er reichte ihr ein paar zusammengeheftete Blätter. »Tut mir leid, Emma, aber diese Kulturen mußt du noch einmal ansetzen. Mit Mi
kromengen kann ich nichts anfangen. Bevor ich mich an irgendeine Strukturformel wage, muß ich noch eine ganze Reihe von Tests durchführen.« »Ich verstehe«, entgegnete Emma. »Tut mir leid, daß ich dir soviel Arbeit mache.« »Oh, dafür bin ich schließlich da, solange wir Beta III noch nicht erreicht haben. Ohne Arbeit würde ich durchdrehen, und, offen gestanden, deine Versuche fesseln mich am meisten.« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Obwohl ich nicht begreife, was du davon hast — außer einem Zeitvertreib. Ich meine, auf der Erde beschäftigen sie sich mit dem gleichen Thema, nur setzen sie ganze Labormannschaften und weit bessere Apparaturen ein. Wahrscheinlich haben sie sämtliche Rätsel geknackt, bevor wir landen.« »Zweifellos«, meinte sie. »Aber werden sie uns die Ergebnisse übermitteln?« »Kaum — außer wir erkundigen uns danach. Und bis die Antwort ankommt, sind wir alt und grau.« Williams beugte sich über ihren Arbeitstisch. »Die Sache ist nur die: Lohnt es sich, daß wir uns den Kopf darüber zerbrechen. Wie auch die Biologie von Beta III beschaffen sein mag, sie hat keine Ähnlichkeit mit diesem Zeug hier. Oder möchtest du ganz einfach in Übung bleiben?« »Das auch«, entgegnete sie. »Aber ich bin der Meinung, daß die Untersuchungen auch praktischen Wert besitzen. Je mehr ich über das Leben im Universum weiß, desto leichter wird es mir fallen, Beta III zu beurteilen.« Er rieb sich das Kinn. »Ja, das mag stimmen. Von dieser Seite hatte ich die Angelegenheit noch nicht betrachtet.« »Außerdem fasziniert mich das Leben von Eridani«, fuhr Emma Glassgold fort. »Ich möchte wissen, worauf es beruht und welchen Gesetzen es unterworfen ist.« Er schwieg und spielte an der Titrieranlage. Die Schiffsvibration drang in sein Bewußtsein, das Summen der Ventilatoren, die scharfen chemischen Gerüche. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Äh, Emma?« »Ja?« Sie kam ihm keinen Schritt entgegen. »Wie wäre es, wenn du hier Schluß machst? Ich lade dich zu einem Drink ein.« Sie ging hinter ihren Instrumenten in Deckung. »Nein, vielen Dank«, meinte sie verwirrt. »Ich habe noch eine Menge zu erledigen.« »Du hast auch eine Menge Zeit zur Verfügung«, erwiderte er, kühner geworden. »Also schön, wenn du dir nichts aus einem Cocktail machst, wie wäre es dann mit einer Tasse Kaffee? Oder einem kleinen Spaziergang durch die Gärten? Sieh mal, ich habe nicht die Absicht, zudringlich zu werden. Ich möchte nur, daß wir uns besser kennenlernen.« Sie schluckte, doch dann lächelte sie. »Warum nicht, Norbert?« Ein Jahr nach dem Start hatte die Leonora Christine ihre ungefähre Höchstgeschwindigkeit erreicht. Einunddreißig Jahre würde sie nun benötigen, um den interstellaren Raum zu überbrücken, und ein weiteres für das Abbremsmanöver. Aber diese Aussage ist unvollständig, da sie das Relativitätsprinzip nicht berücksichtigt. Eben weil es eine Absolutgeschwindigkeit gibt >mit der sich das Licht im leeren Raum fortpflanzt< herrscht eine Abhängigkeit zwischen Raum, Zeit, Materie und Energie. Der Faktor Tau tritt in die Gleichungen ein. Wenn v die >gleichbleibende< Geschwindigkeit eines Raumschiffs ist und c die Lichtgeschwindigkeit, dann ist Tau gleich
v2 1− 2 c Je näher v an c herankommt, desto stärker geht Tau in Richtung Null. Angenommen, ein Außenbeobachter bestimmt die Masse eines Raumschiffes. Das Ergebnis, das er erhält, ist die Restmasse — das heißt, die Masse, die das Schiff besitzt, wenn es sich in bezug auf ihn nicht bewegt — dividiert durch Tau. Daraus folgt, daß die Masse steigt, je schneller es sich bewegt. Diese zusätzliche Masse erhält es durch die kinetische Energie: e = mc2. Dazu kommt, daß der ortsfeste Beobachter, könnte er die Schiffsuhr mit seiner eigenen vergleichen, einen Unterschied feststellen würde. Die Spanne zwischen zwei Ereignissen beispielsweise Geburt und Tod eines Menschen< an Bord des Schiffes entspricht der Spanne, die der Beobachter mißt, multipliziert mit Tau. Aber das Bild ist noch komplizierter. Man darf nicht vergessen, daß die Beschleunigung und Abbremsung des Schiffes in bezug auf das gesamte Universum erfolgt. Der Spezialfall der Relativität wird verallgemeinert. Aber die Stern-Schiff-Beziehung ist nicht genau symmetrisch. Wenn die Geschwindigkeiten wieder aufeinander abgestimmt werden und die Vereinigung stattfindet, hat der Stern eine längere Zeitspanne durchlaufen als das Schiff. Würde man Tau bis auf ein Hundertstel herabmindern und in den freien Fall gehen, dann könnte man ein Lichtjahrhundert in einem einzigen Lebensjahr zurücklegen. Das wiederum würde unweigerlich zu einer hundertfachen Vergrößerung der Masse führen. Der BussardAntrieb, der sich den Wasserstoff des Raumes zunutze macht, könnte das ebenfalls schaffen. Es wäre sogar dumm, ihn auszuschalten und frei dahinzuschweben, wenn die Möglichkeit besteht, Tau zu reduzieren. Will man deshalb fremde Sonnen innerhalb einer vernünftigen subjektiven Zeit erreichen, dann gibt es nur eines: fortwährend beschleunigen, bis die Hälfte des Weges zurückgelegt ist, und dann die Bremssysteme der Bussard-Einheit einschalten. Natürlich, an die Lichtgeschwindigkeit kann man nie ganz herankommen. Aber es gibt keine Beschränkung für den Grenzwert und damit auch nicht für die Umkehrung von Tau. Während des ersten Jahres, in dem die Leonora Christine gleichmäßig mit einem g beschleunigt hatte, wuchsen die Abweichungen unmerklich an. Nun jedoch begann die Kurve steil in die Hohe zu klettern. Immer deutlicher verschob sich die Geometrie des Raumes. Immer häufiger fiel den Beobachtern im Schiff auf, daß natürliche Vorgänge im Kosmos zu schnell abrollten. Noch konnte man dieses Phänomen nicht als spektakulär bezeichnen. Aber der Augenblick kam, in dem eine Minute an Bord einundsechzig Sekunden im Universum entsprach, dann zweiundsechzig, dreiundsechzig ... Der erste Jahreswechsel mit seinen Festen — Sonnenwende, Weihnachten, Chanukkah, Silvester — hatte bald nach Beginn der Reise stattgefunden und sich zu einem hektischen Karnevalsrummel entwickelt. Der zweite verlief stiller. Die Menschen hatten sich an ihr neues Leben gewöhnt. Dennoch fanden Festvorbereitungen statt. In den Hobbyräumen
wurden Geschenke gebastelt. In der Turnhalle stand ein Weihnachtsbaum, aus grünen Zweigen zusammengebunden. Küchenchef Carducci zerbrach sich den Kopf über die Speisenfolge zu einem Bankett. Überall auf den Decks fanden Parties statt. Die Erde war dreihunderttausend Kilometer entfernt, aber die Menschen an Bord vermieden es, darüber zu sprechen. Reymont bahnte sich einen Weg durch das Gewühl im Freizeitraum. Einige waren damit beschäftigt, Glitzerketten aus Alufolie aufzuhängen. Andere tranken, flirteten oder lachten dröhnend. Aus dem Lautsprecher drang Weihnachtsmusik. »Adeste, fideles, Laeti, triumphantes, Venite, venite in Bethlehem.« Iwamoto Tetsuo, Hussein Sadek, Yeshu ben-Zvi, Mohandas Chidambaran, Phra Takh oder Kato M'Botu schienen ebensoviel Spaß daran zu finden wie Olga Sobieski oder Johann Freiwald. »Hallo, Schupo!« rief der Maschinist Reymont zu. »Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Schluck ein.« Er schwenkte die Flasche über dem Kopf. Den freien Arm hatte er um Margarita Jimenez gelegt. Sie standen unter einem Pappkartonschild mit der Aufschrift: MISTELZWEIG. Reymont blieb stehen. Mit Freiwald kam er gut aus. »Danke, jetzt nicht«, sagte er. »Haben Sie Boris Fedoroff gesehen? Ich dachte, er würde nach seiner Schicht hierherkommen.« »N-ein. Aber vielleicht taucht er noch auf. Er scheint sich wieder gefangen zu haben. Was wollen Sie von ihm?« »Eine dienstliche Besprechung.« »Dienst, immer Dienst«, entgegnete Freiwald. »Mich wundert es, daß sich Ihr Mädchen noch nicht beschwert hat.« Er zog Margarita enger an sich, und sie kicherte. »Haben Sie schon in seiner Kabine angerufen?« »Natürlich. Keine Antwort. Aber vielleicht...« Reymont wandte sich ab. »Ich sehe einmal persönlich vorbei.« Im Gehen fügte er hinzu: »Den Schnaps hole ich mir später ab.« Er ging die Treppe hinunter, vorbei am Mannschaftsdeck zu den Offizierskabinen. Die weihnachtliche Musik folgte ihm. » — Jesu, tibi sit gloria.« Der Korridor war leer. Er blieb vor Fedoroff s Tür stehen und drückte auf den Summer. Der Ingenieur öffnete. Er trug einen Hausanzug. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche mit französischem Wein, zwei Gläser und eine Platte mit Smorrebrod. Als er Reymont sah, zuckte er zusammen und trat einen Schritt zurück. »Sie?« »Könnte ich Sie sprechen?« »Hm-m.« Fedoroff vermied es, ihn anzusehen. »Ich erwarte Besuch.« Reymont grinste. »Das sehe ich. Keine Angst, ich bleibe nicht lange. Aber es handelt sich um eine ziemlich dringende Sache.« Fedoroff sträubte sich. »Kann es nicht warten, bis ich wieder Dienst habe?« »Es ist besser, wenn die anderen nichts davon erfahren.« Er schob sich an Fedoroff vorbei in die Kabine. »Bei der Aufstellung des Zeitplans wurde eine Kleinigkeit übersehen«, fuhr er rasch fort. »Am siebenten Januar soll die Beschleunigung verstärkt werden. Sie wissen besser als ich, daß so etwas zwei bis drei Tage Vorbereitung erfordert und den gewohnten
Lauf der Dinge ziemlich durcheinanderbringt. Nun, irgendwie vergaßen die Leute, die für den Flugplan verantwortlich waren, daß der sechste Januar für die Westeuropäer eine große Rolle spielt. Die Zwölfte Nacht, Heilige Drei Könige, oder wie man es sonst nennen mag, ist der Ausklang der Weihnachtszeit. Letztes Jahr waren die Leute so ausgelassen, daß sie nicht daran dachten. Aber heuer wollen sie, soviel ich höre, ein Fest im Sinne der alten Tradition veranstalten. Es ist wichtig, daß wir die Gebräuche der Erde aufrechterhalten. Sie geben der Mannschaft Kampfkraft. Und so läßt der Käpten fragen, ob es irgendwie möglich wäre, das Unternehmen um ein paar Tage zu verschieben.« »Ich werde darüber nachdenken«, versprach Fedoroff. Er drängte Reymont zur Tür. »Morgen, vielleicht...« Es war zu spät. Ingrid Lindgren kam um die Ecke. Ihre Schicht war eben zu Ende gegangen, und sie trug noch ihren Coverall. »Gud!« flüsterte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Hallo, Miß Lindgren!« Fedoroff versuchte verzweifelt die Situation zu retten. »Was führt Sie hierher?« Reymont hatte hörbar Luft geholt. Seine Miene erstarrte zu Stein. Er stand reglos da. Nur seine Fingernägel gruben sich so tief in das Fleisch seiner Handflächen, daß die Knöchel weiß vortraten. Ein neues Weihnachtslied begann. Ingrids Blicke gingen zwischen den beiden Männern hin und her. Sie war blaß geworden. Aber dann warf sie den Kopf zurück und sagte: »Nein, Boris! Wir lügen nicht.« »Dazu wäre es auch zu spät«, meinte Reymont tonlos. Fedoroff wirbelte herum und trat dicht vor ihn. »Also gut!« rief er. »Wir waren ein paarmal zusammen. Sie ist nicht Ihre Frau!« »Das habe ich nie behauptet.« Reymont sah nur Ingrid an. »Ich hätte sie nach unserer Ankunft darum gebeten, es zu werden.« »Carl«, flüsterte sie. »Ich liebe dich.« »Vermutlich wird ein Partner auf die Dauer langweilig«, sagte Reymont eisig. »Du hast die Abwechslung gesucht. Das ist natürlich dein Recht. Nur dachte ich nicht, daß du versuchen würdest, mich zu hintergehen.« »Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!« Fedoroff wollte sich auf ihn stürzen. Der Constable wich zur Seite und schlug dem Ingenieur mit der Handkante blitzschnell auf den Unterarm. Fedoroff setzte sich mit schmerzverzerrter Miene auf das Bett. »Der Arm ist nicht gebrochen«, erklärte Reymont ruhig. Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Deshalb brauchen Sie sich nicht unterlegen zu fühlen. Ich verstehe vom Nahkampf ebensoviel wie Sie von der Nukleartechnik. Bleiben wir sachlich! Sie gehört Ihnen ohnehin.« »Carl!« Ingrid trat einen Schritt auf ihn zu. Tränen liefen ihr über die Wangen. Er deutete eine Verbeugung an. »Ich hole meine Sachen aus deiner Kabine, sobald ich einen neuen Schlafplatz gefunden habe.« »Nein, Carl. Carl!« Sie umklammerte seinen Arm. »Ich dachte nicht im Traum daran ... Hör zu, Boris hat mich gebraucht. Ja, ich gebe zu, ich war gern bei ihm, aber ich empfand nur Freundschaft für ihn, während du ...«
»Weshalb hast du mir nichts gesagt? Hatte ich kein Recht darauf, es zu erfahren?« »Natürlich, aber du bist so eifersüchtig — und es erschien mir unwichtig, weil meine Gefühle für dich völlig unverändert blieben ...« »Ich war mein Leben lang arm«, sagte er, »und ich besitze die Moral und den primitiven Stolz der Armen. Auf der Erde wäre es vielleicht möglich gewesen, diesen Vorfall — nicht zu vergessen, nein — aber erträglich zu machen. Ich hätte gegen meinen Rivalen gekämpft oder eine lange Reise angetreten. Aber hier geht das nicht.« »Verstehst du mich denn nicht?« fragte sie bittend. »Ebensowenig wie du mich.« Er ballte von neuem die Fäuste. »Hör zu heulen auf!« befahl er rauh. Sie versteifte sich. Fedoroff wollte aufspringen, aber sie winkte ab. »So ist es besser.« Reymont ging zur Tür. Dort blieb er stehen und sah sie an. »Wir können uns weder Szenen noch Groll leisten«, stellte er fest. »Wenn fünfzig Menschen in einen Metallrumpf gepfercht sind, müssen sich alle den Regeln unterwerfen, oder alle sterben. Ingenieur Fedoroff, geben Sie Kapitän Telander und mir möglichst bald Bescheid über die Angelegenheit, die wir vorhin besprachen.« Einen Moment lang schien sein Zorn wieder aufzuflammen, aber er beherrschte sich. »Unsere oberste Verpflichtung gehört dem Schiff, verdammt!« Er salutierte. »Entschuldigen Sie die Störung! Guten Abend.« Damit ging er. Fedoroff trat hinter Ingrid Lindgren und zog sie an sich. »Es tut mir so leid«, sagte er in seiner ungeschickten Art. »Wenn ich geahnt hätte, daß es dazu kommen würde, hätte ich niemals ...« »Nicht deine Schuld, Boris.« Sie rührte sich nicht. »Wenn du zu mir ziehen willst — ich würde mich freuen.« »Nein, danke«, entgegnete sie müde. »Nach diesen Dingen ist mir im Moment nicht zumute.« Sie machte sich frei. »Ich gehe jetzt besser. Gute Nacht, Boris.« Einige Tage nach dem Epiphaniasfest waren alle Vorbereitungen getroffen. Die Leonora Christine steigerte ihre Beschleunigung. An der kosmischen Dauer des Fluges änderte das kaum etwas. Das Schiff hatte in jedem Falle fast die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Aber die subjektive Zeit an Bord wurde durch die weitere Herabsetzung des Faktors Tau verkürzt. Noch weiter spreizte sich das Netzwerk der Magnetfelder aus; die thermonuklearen Ströme verstärkten sich; das Schiff erreichte drei g. Bei einer niedrigen Geschwindigkeit hätte das zusätzlich etwas dreißig Meter pro Quadratsekunde bedeutet. Im Falle der Leonora Christine hingegen bewirkte es nur eine winzige Zunahme, die mit jedem Male noch kleiner wurde. Das galt selbstverständlich nur für Messungen von außen. An Bord selbst herrschten drei g. Die menschliche Fracht hätte das nicht lange ertragen. Herz, Lungen und besonders das Flüssigkeitsgleichgewicht des Körpers wären den Belastungen nicht gewachsen gewesen. Drogen hätten vielleicht vorübergehend geholfen. Zum Glück gab es jedoch etwas Besseres. Die Kräfte, die das Schiff immer näher an die absolute Geschwindigkeitsgrenze heranschoben, waren nicht nur enorm, sie mußten auch exakt sein. In der Tat waren sie so exakt, daß ihre Wechselwirkung mit dem Universum — Materie und ihre eigenen Kraftfelder —
trotz ständiger Veränderungen der Außenbedingungen auf eine beinahe konstante Resultante gebracht werden konnte. Desgleichen ließen sich die Antriebsenergien gefahrlos mit ähnlichen, jedoch sehr viel schwächeren Feldern koppeln, die sich innerhalb des Schiffes befanden. Diese Verbindung konnte dann einen Ausgleich zwischen Innen- und Außenbeschleunigung der Atome und Moleküle herbeiführen. In der Praxis jedoch betrug der Wirkungsgrad nicht hundert Prozent. Und so kam es, daß an Bord der Leonora Christine ständig der Restdruck von einem g herrschte, ganz gleich, wie hoch die Beschleunigung war. Eine solche Dämpfung ließ sich nur bei relativistischen Geschwindigkeiten erreichen. Bei gewöhnlichem Tempo, mit einem hohen Tau, besaßen die Atome zu wenig Masse, waren zu unberechenbar, als daß man sie fest in den Griff bekommen hätte. Je näher sie der Lichtgeschwindigkeit kamen, desto schwerer wurden sie — bis das Zusammenspiel der Kraftfelder zwischen Fracht und Kosmos eine stabile Konfiguration schuf. Drei g waren nicht die äußerste Grenze. Wenn die Magnetfelder um das Schiff vollständig ausgebreitet waren oder wenn sich die Leonora Christine in materiedichten Gebieten befand, konnte man noch beträchtlich höher gehen. Tau war also kein statischer Multiplikationsfaktor. Er veränderte sich unaufhörlich, und seine Wirkung auf Masse, Raum und Zeit schuf zwischen den Menschen und dem Universum, das sie durchquerten, eine ständig neue Beziehung. Nach dem Schiffskalender war es ein Tag im April, genauer gesagt ein Morgen. Reymont erwachte. Er gehörte nicht zu den Männern, die sich eine Zeitlang gähnend streckten und räkelten, sondern er warf ruckartig die Decke ab und setzte sich auf. Chi-Yuen Ai-Ling, die in asiatischer Haltung am Fußende des Bettes kauerte und ihn ernsthaft betrachtete, zuckte zusammen. »Ist etwas?« fragte er. Ihre Augen hatten sich einen Moment lang vor Schreck geweitet, doch nun lächelte sie wieder. »Du erinnerst manchmal an einen Raubvogel«, sagte sie. »Immer auf der Hut, immer in Kampfbereitschaft.« »Unsinn«, entgegnete er. »Ich meinte deinen besorgten Blick.« »Nicht besorgt, Charles, nur nachdenklich.« Er sah sie bewundernd an. Wenn sie nackt war, hatte sie nichts Knabenhaftes mehr an sich. Ihre Brüste und Hüften wirkten vielleicht zierlicher als bei den meisten anderen Frauen, aber sie waren sanft gerundet und gaben dem Körper etwas katzenhaft Geschmeidiges. Lichtreflexe spielten golden auf ihrer Haut, und ihr dunkles Haar roch nach einem Sommertag auf der Erde. Irgendwie paßte die nüchterne Mannschaftskabine nicht zu ihr. Ihr eigener Raum war angefüllt mit hübschen Dingen. »Und worüber denkst du nach?« »Über dich — uns.« »Es war eine herrliche Nacht.« Er streckte die Hand aus und strich ihr sanft über das Haar. Sie schmiegte sich an ihn. »Noch einmal?« Chi-Yuen wurde wieder ernst. »Eben das ging mir durch den Kopf.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Eine dauerhafte Verbindung. Wir haben uns ausgetobt — zumindest du,
während der letzten Monate.« Seine Miene verdüsterte sich, aber sie fuhr ruhig fort: »Offen gestanden, dieses Ritual des Wer-bens und der Andeutungen langweilt mich allmählich. Und meine Arbeit leidet darunter. Ich habe einige Theorien über Planetenkerne entwickelt. Das erfordert Konzentration. Eine feste Freundschaft wäre da ganz günstig.« »Ich will keinen Ehevertrag abschließen«, sagte er hart. »Das weiß ich.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Und ich verlange es auch gar nicht. Aber ich habe dich im Laufe der Zeit schätzen gelernt; du bist ein besonnener Mann, stark und liebenswürdig, zumindest mir gegenüber. Ich könnte mit dir zusammenleben — nichts Endgültiges, eine Art lockere Gemeinschaft, die sich jederzeit wieder auflösen läßt, wenn wir uns nicht mehr verstehen.« »Gemacht!« rief er und küßte sie. »So rasch?« Sie sah ihn erstaunt an. »Ich habe auch über diese Dinge nachgedacht. Ich habe das ständige Flirten satt. Und das Leben mit dir ist bestimmt schön.« Er ließ die Finger über ihre warme Haut gleiten. »Sehr schön.« »Sagt das auch dein Herz?« Plötzlich lachte sie. »Nein, darauf mußt du nicht antworten. Entschuldige.« Sie überlegte und fuhr dann fort: »Sollen wir in meine Kabine ziehen? Ich weiß, daß es Maria Toomaijan nichts ausmachen wird, Platz mit dir zu tauschen. Sie kapselt sich ohnehin von den anderen ab.« »Schön«, sagte er. »Liebling, wir haben noch fast eine Stunde Zeit bis zum Frühstück ...« Die Leonora Christine ging dem dritten Reisejahr entgegen — oder dem zehnten, nach der Skala des Kosmos — als sich unerwartet Schwierigkeiten einstellten.
7 Ein automatisches Alarmsignal riß Kapitän Telander hoch. Er war beim Lesen eines Romans in seinem Sessel eingenickt. Noch bevor er vollends in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte, hörte er Ingrid Lindgrens Stimme per Interkom: »Kors i Herrens namn!« Das Entsetzen, das in ihren Worten mitschwang, ließ ihn hellwach werden. Ohne die Botschaft zu bestätigen, rannte er aus seiner Kabine. Er betrat die Brücke. Ingrid Lindgren stand neben dem Bildschirm und starrte die Gestirne an. Kapitän Telander verschwendete keinen Blick darauf. Für ihn zählten in diesem Moment nur die Instrumente. Er schob sich an Ingrid vorbei. Das rote Warnlämpchen über dem Ableseschirm des Astro-Komputers verriet ihm, daß der Alarm hier seinen Ausgang genommen hatte. Er trat näher und warf einen Blick auf die Zahlen. Im nächsten Moment hatte er einen General-Alarm ausgelöst. Sirenen kreischten durch die Korridore; per Interkom befahl er allen Passagieren und den dienstfreien Mannschaftsmitgliedern, sich in der Messe zu versammeln. Er ließ die Bordsprechanlage eingeschaltet, damit auch diejenigen, die gerade Schicht hatten, die Besprechung mitverfolgen konnten. »Was können wir tun?« fragte Ingrid Lindgren, als das Sirenengeheul verstummt war. »Nicht sehr viel, fürchte ich.« Telander deutete auf den Bildschirm. »Sieht man etwas?«
»Ganz schwach. Im vierten Quadranten, wenn ich mich nicht täusche.« Sie schloß die Augen und wandte sich von ihm ab. Das stark vergrößerte Abbild des Sternenhimmels wirkte verwischt und ein wenig verzerrt. Die optischen Schaltkreise waren nicht in der Lage, so hohe Geschwindigkeiten perfekt auszugleichen. Etwa im Mittelpunkt brannte Beta Virginis, umgeben von Diamanten, Amethysten, Rubinen, Smaragden — einem wahren Fafnir-Hort. Und da war die kleine Trübung ganz am Rande der Wahrnehmung — ein zarter Schleier nur, aber das genügte, um das Schiff und fünfzig Menschenleben auszulöschen. Schritte klangen auf, Rufe, ängstliche Fragen. Telander richtete sich auf. »Ich gehe jetzt besser«, sagte er tonlos. »Ich muß mir Boris Fedoroffs Meinung anhören, bevor ich mit den anderen spreche.« Ingrid Lindgren trat neben ihn. »Nein, Sie bleiben auf der Brücke.« »Weshalb?« Man spürte die Nervosität hinter ihrer Frage. »Dienstvorschrift?« Er nickte. »Ja. Sie sind noch nicht abgelöst worden.« Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge. »Vorschriften sind im Moment das einzige, woran wir uns klammern können — falls wir nicht an Gott glauben.« Die Wandgemälde im Turnsaal, der zugleich als Versammlungsraum diente, hatten im Moment nicht mehr Bedeutung als die Basketballkörbe und die bunte Freizeitkleidung der Menschen. Alles stand. Man hatte sich nicht die Zeit genommen, Klappstühle herbeizuschaffen. Die Blicke wandten sich Telander zu, als er das Podium betrat. Es herrschte völliges Schweigen. Nur das Schiff murmelte und vibrierte. Telander legte beide Hände auf das Rednerpult. »Meine Damen und Herren«, sagte er in die Stille. »Ich habe schlechte Nachrichten.« Hastig fügte er hinzu: »Lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, daß die Lage nicht hoffnungslos ist. Es bestehen Überlebenschancen. Aber wir befinden uns in ernsten Schwierigkeiten. Das Risiko war uns von Anfang an bekannt, doch wir wußten auch, daß es noch kein Mittel dagegen gibt. Der Bussard-Antrieb ist noch nicht ausgereift genug ...« »Kommen Sie zur Sache, verdammt nochmal!« rief Norbert Williams. »Ruhe!« fuhr Reymont ihn an. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die sich ängstlich zusammendrängten, stand er ein wenig abseits. Er hatte sich ein Rangabzeichen an den grauen Coverall geheftet. »Sie haben mir gar nichts ...« Jemand hatte Williams wohl angestoßen, denn er verschluckte den Rest des Satzes. Kapitän Telanders Züge wirkten angespannt. »Die Instrumente haben ein — Hindernis aufgezeigt. Einen kleinen Nebel, eine Wolke aus Staub oder Gas. Der Durchmesser beträgt nur ein paar Milliarden Kilometer. Das Ding bewegt sich mit rasender Geschwindigkeit auf uns zu. Vielleicht handelt es sich um den losgerissenen Ausläufer einer Supernova, der noch durch hydromagnetische Kräfte zusammengehalten wird. Oder vielleicht ist es ein Protostern. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, daß wir ihm nicht ausweichen können. Der Zusammenstoß erfolgt in etwa vierundzwanzig Stunden. Was dann geschieht, weiß ich ebenfalls nicht. Wenn wir Glück haben, überstehen wir den Aufprall ohne größeren Schaden. Andererseits — wenn die Felder so überlastet werden, daß sie uns nicht mehr schützen — nun, wir waren uns von Anfang an darüber im klaren, daß so eine Reise ihre Gefahren birgt.«
Die meisten Zuhörer waren blaß geworden. Einige murmelten vor sich hin, andere bekreuzigten sich. Er fuhr fort: »Wir können kaum Vorbereitungen treffen. Ein paar Rumpfversteifungen vielleicht, aber das ist alles. Wenn der Augenblick kommt, legen wir Druckanzüge und Sicherheitsgurte an.« Er machte eine Pause. »Irgendwelche Fragen?« Williams' Arm stach in die Luft. »Ja?« »Kapitän Telander! Die unbemannte Sonde, die den Weg vor uns zurücklegte, zeichnete den Nebel nicht auf. Habe ich recht? Wer ist also dafür verantwortlich, daß wir in diese mißliche Lage geraten?« Die Miene des Chemikers verriet eher Empörung als Angst. Erregte Stimmen wurden laut. »Ruhe!« befahl Charles Reymont. Obwohl er leise sprach, klang es wie ein Peitschenhieb. Einige wütende Blicke streiften ihn, aber die Menge schwieg. »Ich dachte, das hätte ich erklärt«, entgegnete Telander. »Ein nichtleuchtendes, nach kosmischen Maßstäben winziges Nebelfeld kann auf größere Entfernung nicht entdeckt werden. Zudem besitzt es eine hohe Geschwindigkeit. Als die Sonde vor fünfzig Jahren hier vorüberkam, befand es sich vermutlich noch weit weg. Zudem können wir mit Sicherheit annehmen, daß die Sonde nicht genau den gleichen Weg zurücklegte wie die Leonora Christine. Bedenken Sie die Entfernung, die zwischen Sol und Beta Virginis liegt! Zweiunddreißig Lichtjahre sind mehr, als sich unsere armseligen Gehirne vorstellen können. Die kleinste Bahnänderung führt zu astronomischen Abweichungen.« »Niemand konnte diese Situation vorhersehen«, warf Reymont ein. »Die Chancen standen äußerst günstig für uns. Aber manchmal hat man eben Pech.« Telander versteifte sich. »Hatten Sie sich zu Wort gemeldet, Constable?« Reymont errötete. »Käpten, ich versuche die Diskussion nur zu beschleunigen. Diese Schafsköpfe ereifern sich so lange über Selbstverständlichkeiten, bis es zu spät für irgendwelche Vorbereitungen ist.« »Keine Beleidigungen, Constable! Und das nächstemal warten Sie, bis ich Ihnen die Erlaubnis zum Sprechen erteile.« »Jawohl, Kapitän! Entschuldigen Sie!« Reymont verschränkte die Arme und sah ausdruckslos vor sich hin. Telander wählte seine Worte mit Bedacht. »Scheuen Sie sich bitte nicht, auch scheinbar selbstverständliche Dinge zu fragen! Sie alle kennen die Grundsätze der interstellaren Astronautik. Aber als Raumexperte weiß ich, wie schwer es dem Laien fällt, sich diese Theorien zu merken. Ich möchte, daß jeder von Ihnen versteht, was uns erwartet... Ja, bitte, Dr. Glassgold?« Die Molekularbiologin sagte schüchtern: »Nebel wie dieser hier fallen auf der Erde unter die Rubrik >hartes Vakuum<, nicht wahr? Und unser Schiff besitzt nahezu Lichtgeschwindigkeit. Soviel ich weiß, haben wir zur Zeit ein umgekehrtes Tau von der Größe fünfzehn. Das bedeutet eine enorme Masse. Wie sollte uns da eine winzige Wolke aus Gas und Staub aufhalten?« »Ein guter Einwand«, erwiderte Telander. »Wenn wir Glück haben, durchqueren wir den Nebel ohne große Behinderung. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß sich die Gas- und Staubpartikel mit hoher Geschwindigkeit auf uns zubewegen und deshalb ebenfalls eine beträchtliche Masse besitzen.
Damit müssen die Kraftfelder fertig werden. Und noch ein Faktor kommt hinzu. Der Zusammenprall wird sich sehr rasch abspielen. Was die Felder in, sagen wir, einer Stunde schaffen, gelingt ihnen vielleicht nicht in einer Minute. Hoffen wir, daß es klappt und daß die Materiekomponenten des Schiffes die Belastung aushallen. Ich habe mit unserem Ersten Ingenieur gesprochen. Fedoroff ist der Meinung, daß sich der Schaden in Grenzen halten wird. Natürlich kann er nichts mit Sicherheit vorhersagen. In einem Pionierzeitalter lernt man vor allem durch die Erfahrung. Mister Iwamoto?« »Ich nehme an, wir haben keine Möglichkeit, dem Hindernis auszuweichen? Ein Tag Schiffszeit entspricht ungefähr zwei Wochen im Kosmos, nicht? Wenn wir nun einen Bogen um den Nebel schlagen ...?« »Das ist leider unmöglich. Die Beschleunigung in unserem Bezugssystem beträgt etwa drei g. Vom Universum aus betrachtet bleibt dieser Wert jedoch nicht konstant, sondern nimmt stetig ab. Wir können den eingeschlagenen Kurs einfach nicht rasch genug verlassen. Zudem erfordert jede Änderung des Flugplans umfangreiche Vorbereitungen. Die Zeit haben wir nicht. Was gibt es, Mister M´Botu?« Je länger sich die Diskussion hinzog, desto mehr verdüsterte sich Reymonts Miene. Und als der Kapitän die Versammlung schließlich für beendet erklärte, kehrte er nicht zu ChiYuen zurück. Er schob sich beinahe brutal durch die Menge und berührte Telander am Ärmel. »Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, Sir«, sagte er. »Unter vier Augen.« Telander entgegnete frostig: »Constable, jetzt ist wirklich nicht der rechte Moment für Geheimniskrämerei.« »Oh, nennen Sie es lieber Rücksichtnahme«, sagte Reymont ungeduldig. »Ich möchte die anderen nicht mit meinen Problemen belästigen.« »Schön, begleiten Sie mich zur Brücke.« Telander seufzte. »Für eine Sonderkonferenz habe ich leider keine Zeit.« Einige der Anwesenden schienen mithören zu wollen, aber Reymont hielt sie mit drohenden Blicken in Schach. Unwillkürlich lächelte Telander ein wenig, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Sie wissen sich durchzusetzen«, gab er zu. »Das ist meine Aufgabe.« »Ja, auf Beta Drei vielleicht. Dort brauchen wir einen Mann, der in jeder Situation einen kühlen Kopf behält.« »Besteht denn noch Aussicht, daß wir unser Ziel erreichen? Kapitän, Sie sind es, der Fakten verheimlicht. Ich nehme an, unsere Chancen stehen nicht so gut, wie Sie es eben ausmalten?« Telander wartete, bis sie allein im Treppenschacht waren. Er senkte die Stimme. »Ich weiß es einfach nicht. Ebensowenig wie Fedoroff. Kein Bussardschiff wurde je unter Bedingungen getestet, wie sie uns jetzt erwarten. Natürlich nicht! Entweder wir schaffen es in einigermaßen guter Verfassung, oder wir sterben. Im letzteren Fall vermutlich nicht durch die Strahlung. Wenn es der Fremdmaterie gelingt, unsere Abschirmungen zu durchdringen, dann können wir auf einen schnellen, schmerzlosen Tod hoffen.« Reymont runzelte die Stirn. »Sie vergessen eines: Wir könnten in schlechter Verfassung durchkommen.«
»Wie denn, zum Teufel?« »Schwer zu sagen. Vielleicht ist der Aufprall so heftig, daß wir einen Teil der Besatzung verlieren. Schlüsselpersonal, das wir dringend benötigen ... Wir haben ohnehin nur fünfzig Menschen an Bord.« Er zuckte mit den Schultern. »Wie lange hält ihn so einem Fall die Kampfmoral? Oder der klare Verstand? Ich muß dann in der Lage sein, die Disziplin durchzusetzen.« »In diesem Zusammenhang sollten Sie sich vielleicht in Erinnerung rufen, daß Sie unter meinem Befehl stehen und wie alle anderen die Satzungen zu befolgen haben.« Telanders Stimme war wieder kühl geworden. »Herrgott!« fuhr Reymont auf. »Wofür halten Sie mich? Für einen Hitler? Ich bitte um Ihre Erlaubnis, bestimmte Vertrauenswürdige Personen auszuwählen und in aller Stille für Notfälle auszubilden. Sie bekommen Waffen von mir, natürlich nur Betäubungsstrahler. Selbst wenn wir diese Krise unversehrt überstehen, was haben wir verloren?« »Das gegenseitige Vertrauen«, sagte der Kapitän. Sie hatten die Brücke erreicht. Reymont wollte antworten, aber Telander winkte ab und trat an die Steuerkonsole. »Etwas Neues?« fragte er. »Ja. Die Instrumente haben eine Karte mit der Dichteverteilung des Nebels aufgezeichnet«, erwiderte Ingrid Lindgren. Sie war bei Reymonts Anblick zusammengezuckt und sprach nun mechanisch, ohne ihn anzusehen. »Der Komputer empfiehlt folgendes ...« Sie deutete auf den Bildschirm und einen Zahlenstreifen. Telander studierte beides. »Hm. Seitlicher Schub — dann könnten wir vielleicht eine weniger dichte Region durchqueren. Aber das erfordert den gleichzeitigen Einsatz von Beschleunigungs- und Bremssystemen. Nicht ungefährlich. Darüber muß ich mit den anderen sprechen.« Per Interkom befahl er Fedoroff und Boudreau in den Rechenraum. Dann wandte er sich zum Gehen. »Käpten ...«, begann Reymont. »Nicht jetzt.« Telander ging mit harten Schritten auf die Tür zu. »Aber ...« »Meine Antwort lautet Nein.« Damit ließ er den Constable stehen. Reymont blieb wie erstarrt zurück. Eine Minute verstrich, dann fragte Ingrid leise: »Was wolltest du von ihm?« »Oh.« Er atmete tief ein. »Die Erlaubnis, eine Hilfstruppe zu organisieren. Er lehnte ab — mit der lächerlichen Begründung, ich würde das Vertrauen der anderen mißbrauchen.« Ihre Blicke trafen sich. »Man soll sie während ihrer vielleicht letzten Stunden in Ruhe lassen«, sagte sie. »Das meint er, aber er hat nicht gewagt, es auszusprechen.« Seit ihrem Bruch war es das erstemal, daß sie privat ein paar Worte miteinander wechselten. »Ich weiß«, entgegnete er heftig. »Sie werden die Augen vor den Tatsachen verschließen und sich noch einmal richtig austoben — schlemmen, sich betrinken, lieben ...« »Und ist das so schlimm?« fragte sie. »Wenn wir schon gehen müssen, dann ohne Jammern und Klagen.« »Ihnen fehlt die Tatkraft. Sonst würden sie gegen das Schicksal ankämpfen.« »Hast du solche Angst vor dem Tod?« »Nein. Aber ich liebe das Leben.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Du besitzt eine merkwürdig schroffe Art. Gut, das ist bei einem Mann mit deiner Vergangenheit natürlich, aber weshalb hast du nie versucht, dagegen anzukämpfen?« »Offen gestanden, seit ich gesehen habe, was Kultur und Bildung aus den Menschen machen, legte ich keinen Wert mehr darauf, diese Dinge zu erringen.« Der Mut verließ sie wieder. Tränen schössen ihr in die Augen. Sie streckte die Hand aus und sagte: »Oh, Carl, müssen wir diesen alten Streit immer wieder aufleben lassen? Heute ist vielleicht der letzte Tag in unserem Dasein.« Er rührte sich nicht von der Stelle, und sie fuhr fort: »Ich habe dich geliebt. Ich wollte dich als ständigen Partner. Du solltest der Vater meiner Kinder sein, ob auf Beta Drei oder auf der Erde. Aber wir sind so allein hier zwischen den Sternen, alle unter uns. Wir müssen jeden Funken Liebe, den wir besitzen, teilen, sonst können wir gleich sterben.« »Außer es gelingt uns, unsere Gefühle zu beherrschen.« »Glaubst du, daß Gefühl dahintersteckte.. . mehr als Freundschaft und der Wunsch, ihm zu helfen, bis seine Wunde geheilt war? Er hatte sich allen Ernstes in mich verliebt und steigerte sich so in diese Emotion, daß sie tragisch für uns alle hätte enden können. Die Satzung verbietet nun einmal offizielle Heiraten an Bord ...« » . .. und so beendeten wir ein Verhältnis, das unbefriedigend geworden war.« »Du bist inzwischen eine Menge andere eingegangen!« fuhr sie auf. »Eine Zeitlang. Bis ich Ai-Ling fand. Während du ständig die Partner wechselst.« »Ich habe normale Bedürfnisse«, entgegnete sie.« Ich bringe es nicht fertig, mich zu binden — wie du.« Sie schluckte. »Von einer Bindung kann nicht die Rede sein.« Reymont zuckte mit den Schultern. »Nur finde ich, daß man sein Mädchen nicht im Stich lassen soll, wenn sich die Lage plötzlich verschlechtert. Aber sprechen wir nicht mehr darüber! Es war nicht leicht, aber ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß es sinnlos und ungerecht wäre, dir oder Fedoroff zu grollen. Ich wünsche euch alles Gute für die Zeit, die uns noch zur Verfügung steht.« »Und ich dir.« Sie rieb sich heftig die Augen. »Übrigens werde ich ohnehin bis zur letzten Minute beschäftigt sein. Da ich nicht die Erlaubnis erhielt, eine Hilfstruppe zu rekrutieren, muß ich mich nach Freiwilligen umsehen.« »Das kannst du nicht!« »Telander hat es nicht ausdrücklich verboten. Wirst du mich bei ihm verraten?« Sie wandte sich ab. »Nein«, sagte sie. »Aber geh jetzt!«
8 Man hatte getan, was getan werden konnte. Die Passagiere der Leonora Christine waren auf ihren Kojen festgeschnallt und bangten dem Aufprall entgegen. Chi-Yuens Kabine wirkte trostloser als die meisten anderen. Sie hatte all die Kleinigkeiten entfernt, an denen ihr Herz hing: die Seidenbespannungen von Decke und Wänden, das niedrige Tischchen mit der Schale aus der Han-Dynastie, die Federzeichnung ihres Groß
vaters, ihre Kleider, das Nähzeug und die Bambusflöte. Hartes, bläuliches Licht ergoß sich auf die kahlen Flächen. Sie lagen nebeneinander und schwiegen. Reymont horchte auf ihren Atem und das langsame Schlagen seines Herzens. »Charles?« sagte sie schließlich. »Ja?« »Du verschließt dein Inneres vor mir — selbst jetzt noch. Ich glaube nicht, daß ich die erste Frau bin, die dir das sagt.« »Nein.« Das klang gepreßt. »Bist du sicher, daß du damit keinen Fehler begehst?« »Was gibt es schon über mich zu berichten? Ich gehöre nicht zu den Typen, die sich ausschließlich mit ihren kleinen Neurosen befassen.« »Erzähle mir von deiner Kindheit!« Er lachte bitter. »Das erspare ich dir lieber. Die Slums von Polyugorsk sind kein schönes Thema.« »Ich habe von den Zuständen gehört, die dort herrschten. Aber ich begriff nie ganz, wie sie entstanden und weshalb man sie nicht ausmerzte.« »Die Kontrollorgane konnten nichts unternehmen. Keine Gefahr für den Weltfrieden. Und die Nationalregierung schützte die Großunternehmer, da sie in vielfacher Hinsicht recht nützlich waren. In der Antarktis winkte Reichtum, wenn man sich nicht scheute, die letzten Bodenschätze zu plündern, die letzten in Freiheit lebenden Tiere auszurotten und die letzten unberührten Flecken der Natur zu schänden ...« Er unterbrach sich und versuchte die Erregung aus seiner Stimme zu verbannen. »Nun, das liegt alles weit hinter uns. Aber ich fürchte, daß die Menschen auf Beta Drei nicht anders handeln werden.« »Seit wann machst du dir Gedanken über diese Dinge?« »Ein Lehrer öffnete mir die Augen. Mein Vater starb früh, und als ich zwölf war, stand meine Mutter am Rande der Gosse. Aber da war dieser Mister Melikot, ein Abessinier, den irgendein merkwürdiges Geschick an unsere verlotterte Schule verschlagen hatte. Er lebte für uns und für das, was er lehrte. Wir spürten es. Er weckte unseren Verstand .. . Ich weiß nicht, ob er uns einen Gefallen damit erwies. Jedenfalls begann ich nachzudenken und viel zu lesen, und das führte dazu, daß ich unüberlegt redete und handelte. Schließlich wurde mir der Boden unter den Füßen zu heiß. Ich floh auf den Mars, frag mich nicht wie.« Er seufzte. »Ja, auf lange Sicht war es wohl doch gut so.« »Siehst du, es ist gar nicht so schwer, die Maske abzulegen.« Sie lächelte unter ihrem Helm. Dann fuhr sie wehmütig fort: »Mir fehlen die Tiere. Mehr, als ich gedacht hätte. Im Garten meiner Eltern gab es Singvögel und einen Karpfenteich. Und in Paris hatten Jacques und ich eine Katze. Erst jetzt, so weit weg von der Erde, merke ich, wie ich mit diesen Geschöpfen verwachsen bin. Grillen in Sommernächten, ein Schmetterling, ein Kolibri, Fische, die im Wasser hochspringen, Spatzen in einer Gasse, Pferde mit ihren weichen Nasen und dem warmen Fell. .. Glaubst du, daß es auf Beta Drei Tiere gibt?« Ein Ruck ging durch das Schiff.
Der Aufprall erfolgte zu unvorbereitet. Die empfindlichen Energien, die den Beschleunigungsdruck steuerten, waren der Belastung nicht gewachsen. Komputer unterbrachen ein paar Stromkreise, bevor die Rückkoppelung das gesamte System vernichtete. Die Menschen an Bord spürten die Gewichtsveränderung. Schwärze flimmerte vor den Augen, die Schläfen hämmerten, der Puls raste, der Herzschlag dröhnte. Aber diese Dinge wurden überlagert vom metallischen Ächzen des Schiffes, von einem Knirschen und Krachen. Die Sicherheitsfaktoren der Leonora Christine waren gering; man hatte versucht, soviel Masse wie möglich einzusparen. Und nun durchpflügte sie ein Feld von Wasserstoffatomen, welche die Schwere von Stickstoff oder Sauerstoff besaßen, und Staubpartikel, die zu Meteoriten angeschwollen waren. Die Wolke hatte eine langgestreckte, schmale Form, so schmal, daß das Schiff sie in Minuten durchstieß. Aber sie wirkte wie eine feste Mauer. Die Energieschirme, die das Schiff einhüllten, absorbierten die Stöße, schleuderten Materie in Wirbelströmen zur Seite und verteilten sie weit im Raum. Aber auch sie konnten nicht verhindern, daß die Leonora Christine langsamer wurde. Die Reaktion war unvermeidbar, auf die Felder selbst und auf die Vorrichtungen, die sie ausstrahlten und steuerten. Metallrahmen knickten; elektronische Bauteile schmolzen; Kühlflüssigkeit blubberte aus beschädigten Tanks. Eines der thermonuklearen Feuer ging aus. Die Sterne sahen das Ereignis anders. Sie sahen eine zähe, dunkle Masse, die von einem dichten und unglaublich schnellen Körper getroffen wurde. Hydromagnetische Kräfte griffen nach Atomen, wirbelten sie umher, ionisierten sie, schoben sie zusammen. Strahlung loderte. Eine Meteorflamme hüllte den Gegenstand ein. Nach einer knappen Stunde hatte er das Feld wieder verlassen. Ein Tunnel blieb zurück, ein Tunnel, von dem sich eine Schockwelle ausbreitete — weiter und weiter, bis sie jegliche Stabilität zerstörte, die einmal in der dunklen Masse bestanden hatte. Wenn der Nebel der Embryo eines neuen Sonnensystems gewesen war, dann hatte er hier seinen vorzeitigen Tod gefunden. Der Eindringling zog weiter, auf ferne Gestirne zu. Er hatte kaum etwas von seiner Geschwindigkeit verloren.
9 Reymont fand allmählich in die Wirklichkeit zurück. Jeglicher Laut war verstummt. Hatte er das Gehör verloren? War die Atmosphäre durch einen Riß im Rumpf ins Freie entwichen? Hatte die Abschirmung versagt, und jagten Gammastrahlen durch seinen Körper? Nein. Bei genauem Hinhören vernahm er das dumpfe Pochen der Generatoren. Bläuliches Licht strömte von der Decke. Der Schatten seiner Koje fiel auf eine Metallwand. Die verwischten Ränder verrieten, daß genügend Atmosphäre vorhanden war. Auch der Druck hatte sich wieder normalisiert. Es herrschte ein g. Das Schiff schien einigermaßen funktionsfähig zu sein. »Los jetzt!« hörte er sich sagen. Seine Stimme kam wie aus weiter Ferne. »Es gibt Arbeit.« Er zerrte an den Gurten. Seine Muskeln schmerzten. Ein dünner Blutfaden lief ihm über den Mund. Er schmeckte salzig. Oder war das Schweiß? Nitschewo! Hauptsache, er lebte
noch. Langsam erhob er sich von der Koje, öffnete den Helm und sog prüfend die Luft ein. Ozon und der Geruch nach verbranntem Isoliermaterial — nichts Ernsthaftes. In der Kabine herrschte ein heilloses Durcheinander. Schubladen waren aufgesprungen, und ihr Inhalt hatte sich auf dem Boden verteilt. Er achtete nicht weiter darauf. Chi-Yuen hatte sich bis jetzt noch nicht gerührt. Er stieg über die Unordnung hinweg und beugte sich über ihre Koje. Die winzige Gestalt lag ganz still da. Er öffnete ihren Helm. Ihr Atem ging normal. Nichts deutete auf innere Verletzungen hin. Als er ein Augenlid hob, wirkte die Pupille breit. Vermutlich war Chi-Yuen nur ohnmächtig geworden. Er streifte seinen Druckanzug ab, machte den Strahler ausfindig und schnallte ihn um. Andere benötigten seine Hilfe vielleicht dringender. Er ging hinaus. Boris Fedoroff lief ihm in die Arme. »Wie geht es?« rief Reymont ihm zu. »Ich weiß nicht — ich sehe gleich nach«, entgegnete der Ingenieur und verschwand in Richtung Maschinenraum. Reymont grinste und öffnete die Tür zu Johann Freiwalds Kabine. Der Deutsche hatte sich ebenfalls aus seinem Raumanzug geschält und saß jetzt mit hängenden Schultern auf der Kante seiner Koje. »Raus mit dir!« sagte Reymont. In meinem Schädel rumort ein Dampfhammer«, beschwerte sich Freiwald. »Mach nicht schlapp! Du hast versprochen, mich zu unterstützen.« Freiwald warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, aber er stand auf. Während der nächsten Stunde waren die Helfer des Con-stable voll beschäftigt. Nur die eigentlichen Besatzungsmitglieder hatten noch mehr zu tun. Sie inspizierten das Schiff, führten Messungen durch und berieten im Flüsterton. Das lenkte sie von ihren Schmerzen und der Angst ab. Die Wissenschaftler und Techniker hatten diese Erleichterung nicht. Eigentlich hätten sie glücklich sein müssen, daß sie noch lebten und das Schiff augenscheinlich funktionierte ... aber weshalb gab Telander keine Erklärung ab? Reymont schickte sie in die Messe. Einige kochten Kaffee, andere versorgten die Verletzten. Endlich fand er genug Zeit, sich auf die Brücke zu begeben. Unterwegs sah er kurz bei Chi-Yuen vorbei. Sie hatte für kurze Zeit das Bewußtsein widererlangt und versucht, ihren Anzug abzustreifen, aber dann war sie wieder auf ihrem Bett zusammengebrochen. Ihre Lider flatterten, als er sich über sie beugte. »Charles!« flüsterte sie. »Wie fühlst du dich?« »Alles tut weh, und ich habe überhaupt keine Kraft, aber ...« Er half ihr beim Ausziehen und sie zuckte zusammen, als er sie berührte. »Ohne dieses Zeug schaffst du es bis zum Turnsaal«, erklärte er. »Dr. Latvala wird dich untersuchen. Keiner der anderen erlitt scherere Verletzungen. Ich nehme an, daß es bei dir auch nichts Ernstes ist.« Er küßte sie flüchtig. »Entschuldige, daß ich dich nicht hinbringe. Aber ich habe es eilig.« Er hastete zur Brücke. Der Kontrollraum war verschlossen. Als er klopfte, hörte er Fedoroff s kräftigen Baß: »Draußen bleiben! Warten Sie, bis der Kapitän Sie informiert!« »Ich bin es, der Constable«, erwiderte Reymont. »Schön, dann kümmern Sie sich um Ihre Herde!«
»Ich habe die Passagiere in der Messe versammelt. Allmählich läßt ihre Erstarrung nach. Sie spüren, daß etwas nicht in Ordnung ist. In ihrem augenblicklichen Zustand ist die Ungewißheit das Allerschlimmste. Sie werden die Nerven verlieren.« »Sagen Sie ihnen, daß der Bericht bald herauskommt«, rief Telander mit unsicherer Stimme. »Sollten Sie das nicht besser tun, Käpten? Die Bordsprechanlage funktioniert, habe ich recht? Erklären Sie ihnen, daß Sie das genaue Schadensausmaß feststellen müssen, um die Reparaturen entsprechend ihrer Dringlichkeit in die Wege zu leiten. Aber ich schlage vor, Sir, daß wir darüber gemeinsam beraten. Ein falsches Wort kann im Moment zur Katastrophe führen.« Die Tür ging auf. Fedoroff packte Reymont hart am Arm und zerrte ihn in den Kontrollraum. Reymont machte sich mit einem Judogriff frei. Seine Hand war zum Schlag erhoben. »Tun Sie das nie wieder«, sagte er ruhig und schloß die Tür hinter sich. Fedoroff ballte die Fäuste. Ingrid Lindgren trat neben ihn. »Nicht, Boris«, sagte sie. »Bitte.« Der Russe wandte sich mit zusammengepreßten Lippen ab. Alle beobachteten Reymont: Kapitän, Erster Offizier, Erster Ingenieur, Navigatiosoffizier, Biosystem-Leiter. Er starrte an ihnen vorbei. Die Instrumentenpaneele hatten gelitten. Zeiger waren verbogen, Schirme zersplittert, Kabel gerissen. »Ist das der Schaden?« fragte er. »Nein«, erwiderte Boudreau, der Navigator. »Wir haben Ersatzteile.« Alle schwiegen. In ihren Gesichtern spiegelte sich Verzweiflung wider. »Nun?« fragte er. »Das Bremssystem ...« Telander richtete sich auf. »Wir können nicht mehr anhalten.« Reymonts Miene wurde ausdruckslos. »Weiter.« Fedoroff ergriff das Wort. In seiner Stimme schwang Verachtung mit. »Sie erinnern sich vermutlich, daß wir einen Teil des Bussard-Bremssystems aktivierten, um einen seitlichen Schub zu erzeugen. Die Bremswirkung wird erzeugt, indem man die Richtung des Gasstroms umkehrt.« Reymont nahm keinerlei Notiz von der Kränkung. Ingrid hielt den Atem an. Fedoroff zuckte plötzlich müde mit den Schultern. »Nun, das Beschleunigungssystem war ebenfalls eingeschaltet, auf einem sehr viel höheren Energielevel. Die Kraftfelder, die es umgaben, schützten es offenbar. Das Bremssystem hingegen ist zerstört.« »Wie?« »Wir können nur feststellen, daß die Außensteuerung und die Generatoren schwer beschädigt wurden und daß die thermonukleare Reaktion, welche die Energie lieferte, unterbrochen ist. Da die Meßgeräte nicht anzeigen — sie müssen zertrümmert worden sein —, wissen wir nicht genau, was nun fehlt.« Fedoroff starrte das Deck an. Seine Worte klangen nicht wie ein Bericht, eher wie ein Selbstgespräch. In seiner Verzweiflung wiederholte er sich ständig. »Natürlich war das Bremssystem der stärkeren Belastung ausgesetzt. Ich nehme an, daß diese Kräfte durch die hydromagnetischen Felder wirkten und den technischen Aufbau in diesem Teil der BussardEinheit zerstörten.
Das ließe sich reparieren, wenn wir nach draußen gehen könnten. Aber wir kämen dem Energiekern des Beschleunigungssystems zu nahe. Die Strahlung würde uns im Nu töten. Ähnliches gilt für jeden ferngesteuerten Roboter. Sie wissen, was Strahlung dieser Größenordnung beispielsweise bei Transistoren anrichtet. Ganz zu schweigen von der Induktionswirkung der Kraftfelder. Und natürlich können wir die Beschleunigung nicht unterbrechen. Das hieße sämtliche Felder auflösen, einschließlich der Abschirmung, die nur durch die Bussard-Einheit aufrechterhalten werden kann. Bei unserer Geschwindigkeit würde die Bombardierung mit Wasserstoff genug Gammastrahlen freimachen, um alle an Bord innerhalb einer Minute zu töten.« Er schwieg. »Haben wir denn keine Richtungssteuerung?« fragte Reymont tonlos. »Oh doch«, entgegnete Boudreau. »Das Beschleunigungsschema läßt sich abwandeln. Wir können jedes der vier Venturi-Rohre dämpfen und dafür einem anderen mehr Schub zuführen, sei es in seitlicher oder Vorwärtsrichtung. Aber begreifen Sie doch, egal, welchen Weg wir einschlagen, wir müssen weiterin beschleunigen.« »Für immer«, sagte Telander. »Zumindest können wir in der Galaxis bleiben«, flüsterte Ingrid Lindgren, »wenn wir den Kern immer wieder umkreisen.« Ihr Blick streifte das Periskop, und sie wußten, was sie dachte: jenseits dieses Vorhangs aus flimmernden fremden Sternen lag Schwärze, intergalaktische Leere, das letzte Exil. »Zumindest haben wir ... Sonnen um uns ... selbst wenn es uns nie mehr gelingt, auf einem Planeten zu landen.« Telanders Wangenmuskeln zuckten. »Wie sage ich das der Mannschaft?« fragte er heiser. Reymont sah ihn an. »Wir haben keine Hoffnung.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Nein«, erwiderte Fedoroff. »Oh, unser Leben ist nicht bedroht«, meinte Pereira. »Wir können mit Hilfe der Langzeigdrogen ein hohes Alter erreichen. Die Biosysteme und organozyklischen Apparate funktionieren. Es wäre sogar möglich, ihre Wirksamkeit noch zu erhöhen. Gewiß, im Laufe der Jahre wird es einen leichten Abfall geben. Kein in sich geschlossenes System ist zu hundert Prozent wirksam. Aber ich schätze, daß wir ein halbes Jahrhundert in diesem Schiff aushalten können. Unter den gegebenen Umständen eine reichlich bemessene Frist.« Ingrid Lindgren starrte die Wand an. »Wenn der letzte stirbt — muß sich der Antrieb automatisch ausschalten. Das Schiff darf nach unserem Tode nicht weiterfliegen. Soll die Strahlung ihr Zerstörungswerk beginnen, soll die kosmische Reibung es vollenden ...« »Warum?« fragte Reymont. »Ist das nicht offensichtlich? Wir werden auf einer Kreisbahn durch die Galaxis rasen, immer schneller, und unser Tau wird zusammenschrumpfen, wenn draußen die Jahrtausende vergehen ... bis die Schiffsmasse so groß ist, daß sie die Galaxis verschlingt.« »Nein, das nicht«, erklärte Telander. Er flüchtete sich in Pedanterie. »Tau müßte winzig werden, etwa zehn hoch minus zwanzig, bevor das Schiff die Masse eines kleinen Sterns erreicht. Und die Möglichkeit, daß es dann auf einen Himmelskörper stößt, der eine größere
Dichte als ein Nebel besitzt, ist im wahrsten Sinn des Wortes astronomisch gering. Wir werden sterben, ja. Aber dem Kosmos droht keine Gefahr von uns.« »Wie lange halten wir das durch?« fragte Ingrid. Sie winkte ab, als Pereira antworten wollte. »Ich habe gehört, was Sie sagen — ein halbes Jahrhundert. Aber das meine ich nicht. Wann wird der Moment kommen, in dem wir das Leben satt haben? Selbstmord, Wahnsinn, Aggressionen — wir werden nicht davor verschont bleiben.« »Das bleibt abzuwarten«, warf Reymont hart ein. Sie sah ihn verzweifelt an. »Meinst du im Ernst, du könntest ein solches Leben ertragen — abgeschnitten nicht nur von der Menschheit und der Erde, sondern von der gesamten Schöpfung?« Er betrachtete sie aufmerksam. »Hast du nicht den Mut dazu?« »Fünfzig Jahre in einem fliegenden Sarg!« schrie sie. »Wie viele Zeitalter sind das im Universum?« »Langsam!« Fedoroff legte den Arm tun sie. Ihr Atem ging stoßweise. Boudreau sagte betont nüchtern: »Die Frage der Zeitrelation dürfte akademisch sein, n‘est-ce pas? Und sie hängt ganz davon ab, welchen Weg wir einschlagen. Wenn wir unseren Kurs wie bisher fortsetzen, treffen wir automatisch auf ein dünneres Medium. Der Faktor Tau wird sich nur geringfügig verkleinern, falls wir in den intergalaktischen Raum vordringen. Entscheiden wir uns andererseits für ein zyklische Bahn, die uns durch die dichtesten Wasserstoffkonzentrationen der Galaxis führt, dann wird Tau rasch abnehmen. Wir könnten Milliarden Jahre vorbeiziehen sehen« Sein Lächeln wirkte gezwungen. Ingrid Lindgreen barg den Kopf an Fedoroffs Schultern. Er streichelte sie ungeschickt. Nach einer Weile löste sie sich von ihm. »Entschuldigt«, sagte sie. »Es war zuviel für mich. Aber wir tragen alle das gleiche Geschick. Gemeinsam werden wir es vielleicht meistern.« Ihr Blick heftete sich auf Reymont. »Wie erkläre ich es den anderen?« flüsterte der Kapitän. »Überhaupt nicht«, entgegnete Reymont ruhig. »Das übernimmt unser Erster Offizier.« »Ich?« stammelte Ingrid. »Aber ...« »Du besitzt Wärme«, erklärte er. »Ich weiß es.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Abrupt versteifte er sich. Dann wirbelte er herum und sah den Navigator an. »Ich habe eine Idee!« rief er. »Passen Sie auf ...« »Wenn du wirklich meinst ...«, begann Ingrid. »Nicht jetzt«, unterbrach sie Reymont. »Auguste, setzen Sie sich an den Schreibtisch! Wir müssen ein paar Berechnungen durchführen — rasch!«
10 Die Stille wollte kein Ende nehmen. Ingrid Lindgren stand neben Kapitän Telander auf dem Podium und starrte zu ihren Gefährten hinunter. Sie erwiderten den Blick. Aber niemand in dem großen Saal konnte Worte finden.
Sie selbst hatte ihre Rede genau durchdacht. Aus ihrem Munde klang die Wahrheit weniger hart. Aber als sie zu dem Satz kam: »Wir haben die Erde verloren, Beta Drei verloren, die Verbindung zu unserer Rasse verloren; uns bleibt nur noch Mut, Liebe und Hoffnung ...« da versagte ihr die Stimme. Sie stand da und biß sich auf die Lippen, während ihr langsam Tränen über die Wangen rollten. Telander sprang in die Bresche. »Äh — wenn ich fortfahren darf«, sagte er. »Einen Weg gibt es . ..« Der Schiffsantrieb antwortete mit einem spöttischen Grollen. Emma Glassgold brach zusammen. Sie weinte nicht laut, aber ihr Bemühen, das Schluchzen zu unterdrücken, machte die Sache um so schrecklicher. M´Botu, der neben ihr stand, versuchte sie zu trösten, mit leeren, mechanischen Worten. Iwamoto zog sich ein paar Schritte zurück; man spürte, wie er eine Mauer um seine Gedanken errichtete. Williams ballte fluchend die Fäuste. Eine Frau wandte sich ihrem Gefährten zu und kreischte: »Dich — mein ganzes Leben lang? Nein!« Damit ging sie. Der Mann versuchte ihr zu folgen und stieß gegen einen anderen, der ihn drohend aufhielt und eine Entschuldigung verlangte. Es gärte in der Menge. »Hört mir zu!« sagte Telander. »Bitte, so hört mir doch zu!« Reymont, der in der ersten Reihe stand, ließ Chi-Yuens Hand los und sprang auf das Podium. »So schaffen Sie es nie!« sagte er leise. »Sie haben es nicht mit disziplingewohnten Raumfahrern zu tun, sondern mit Zivilisten!« Er wandte sich an die Zuhörer. »Ruhe da!« schrie er, daß das Echo von den Wänden widerhallte. »Benehmt euch ein einziges Mal wie Erwachsene! Wir haben nicht genug Personal, um euch die Windeln zu wechseln und die Nasen zu putzen!« Williams stieß einen empörten Schrei aus. M´Botu fauchte wie eine Wildkatze. Reymont zog den Betäubungsstrahler. »Bleibt an euren Plätzen!« Er senkte die Stimme, aber alle Anwesenden verstanden ihn. »Der erste, der mich anzugreifen versucht, wird außer Gefecht gesetzt und kommt später vor ein Standgericht. Meine Aufgabe bei dieser Expedition ist es, für Ordnung und eine wirksame Zusammenarbeit zu sorgen.« Er blinzelte. »Wenn jemand die Meinung vertritt, daß ich meine Macht mißbrauche, dann soll er sich beim zuständigen Büro in Stockholm beschweren. Aber jetzt wird zugehört!« Seine harten Worte rissen sie aus der Lethargie. Sie waren empört, aber sie hörten zu. »Gut.« Reymont steckte die Waffe wieder ein. »Vergessen wir, was eben geschehen ist. Ich begreife, daß Sie einen Schock erlitten haben, auf den Sie psychologisch nicht vorbereitet waren. Dennoch, wir müssen ein Problem bewältigen. Und es gibt eine Lösung, falls wir alle zusammenhalten. Ich sage falls.« Ingrid Lindgren hatte die Beherrschung wiedergefunden. »Sollte ich nicht ...?« Er schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Sie alle wissen, daß wir das Bremssystem nicht reparieren können, weil es bei der augenblicklichen Geschwindigkeit unseres Schiffes tödlich wäre, die Beschleunigung und damit die Abschirmfelder auszuschalten. Die Leonora Christine hat sich in ein Gefängnis verwandelt. Nun, mir gefällt das auch nicht, obwohl ich der Meinung bin, daß es sich ertragen ließe. Die Mönche des Mittelalters ertrugen Schlimmeres. Während der Diskussion kam uns jedoch eine Idee. Eine Fluchtmöglichkeit, wenn wir den Mut und die Entschlossenheit dazu besitzen. Navigationsoffizier Boudreau hat bereits die
Voruntersuchungen eingeleitet. Anschließend befragten wir einen Experten — Professor Nilsson.« Der Astronom räusperte sich und setzte eine wichtige Miene auf. »Wir haben eine Chance«, fuhr Reymont fort. Ein Raunen ging durch die Versammlung. »Spannen Sie uns nicht auf die Folter!« rief ein junger Mann. »Es freut mich, daß Sie wieder Kampfgeist zeigen«, sagte Reymont. »Aber ich warne Sie: Nur Einigkeit kann uns jetzt zum Erfolg verhelfen. Um es so kurz wie möglich zu machen — Einzelheiten erfahren Sie später von Kapitän Telander und den Experten — hier ist die Idee. Wenn es uns gelingt, in eine Region vorzudringen, in der es praktisch keine Gase gibt, können unsere Ingenieure ohne Gefahr die Abschirmfelder ausschalten und das Bremssystem reparieren. Leider sind die Astronomie-Daten längst nicht so genau, wie wir es wünschen. Aber es scheint festzustehen, daß in unserer Galaxis und selbst im angrenzenden Raum das Medium viel zu dicht für ein solches Vorhaben ist. Nun treten Galaxien im allgemeinen als Gruppen in Erscheinung. Unsere Milchstraße, die Magellanschen Wolken, M31 im Andromeda-Nebel und dreizehn andere, groß und klein, schließen sich zu einer solchen Gruppe zusammen. Das Volumen, das sie einnehmen, hat einen Querschnitt von etwa sechs Millionen Lichtjahren. Bis zur nächsten galaktischen Familie im Sternbild der Jungfrau liegt eine Kluft von vierzig Millionen Lichtjahren. Wir hoffen, daß in dieser Region das Gas so dünn verteilt ist, daß wir keine Abschirmung benötigen.« Erneut erhob sich Stimmengewirr. Reymont hob beide Hände. Er lachte. »Halt!« rief er. »Ich weiß, was ihr sagen wollt. Vierzig Millionen Lichtjahre ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wir haben nicht das nötige Tau. Zugegeben. Aber ...« Sie schwiegen erwartungsvoll. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Aber erinnert euch, daß es keine Grenzen für die Umkehrung von Tau gibt. Wir können mit der Beschleunigung noch sehr viel höher gehen, wenn wir die hydromagnetischen Sammelfelder ausweiten und einen Weg durch die Galaxis wählen, wo die Materie sehr dicht verteilt ist. Die Parameter, die wir bisher benutzten, waren darauf ausgerichtet, uns nach Beta Virginis zu bringen. Das Schiff ist nicht auf sie begrenzt. Navigator Boudreau und Professor Nilsson schätzen, daß zehn g durchaus kein Risiko darstellen. Eine Überschlagrechnung hat folgendes ergeben: Wir beschreiben einen Bogen um die halbe Galaxis, ziehen dann eine Spirale zum Zentrum und stoßen auf die andere Seite durch. Ein zeitraubendes Manöver, gewiß, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß bei unserer Geschwindigkeit jede Kursänderung lange dauern würde. Zudem hat es den Vorteil, daß der Faktor Tau ständig sinkt. Boudreau ist der Meinung, daß wir diese Galaxis in ein oder zwei Jahren hinter uns lassen können.« »Welcher kosmischen Zeit entspricht das?« fragte jemand. »Ist das nicht gleichgültig?« entgegnete Reymont. »Ihr alle kennt die Relationen, Die Ellipse der Galaxis hat einen Durchmesser von etwa hunderttausend Lichtjahren. Im Moment sind wir dreißigtausend vom Zentrum entfernt. Ein- oder zweihunderttausend Jahre? Wer
kann das sagen? Es hängt davon ab, welchen Weg wir einschlagen, und das wiederum hängt von den Daten ab, die wir noch sammeln müssen.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Ich weiß. Sie machen sich Gedanken darüber, was geschieht, wenn wir noch einmal eine Materiewolke durchstoßen. Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens müssen wir ein gewisses Risiko eingehen. Aber zweitens wird es uns möglich sein, immer dichtere Regionen zu durchqueren, je tiefer unser Tau sinkt. Wir besitzen dann soviel Masse, daß sie uns nichts anhaben können. Begreift ihr? Es ist denkbar, daß wir die Galaxis mit einem umgekehrten Tau in der Größenordnung von hundert Millionen verlassen. In diesem Falle durchrasen wir, subjektiv gesehen, diese gesamte Galaxis in Tagen!« »Wie kommen wir zurück?« fragte Emma Glassgold aufmerksam. »Überhaupt nicht«, gab Reymont zu. »Wir dringen in den Golf zwischen den Galaxien ein und steuern Virgo an. Dort bremsen wir ab, erhöhen unser Tau auf einen vernünftigen Wert und machen uns auf die Suche nach einem Planeten, auf dem wir leben können. Ja, ja, ja!« rief er in die erregte Menge. »Millionen Jahre in der Zukunft! Unsere Rasse vermutlich längst ausgestorben ... in diesem Winkel des Universums. Nun, können wir nicht neu beginnen, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit? Oder sitzt ihr lieber in einem Metallkäfig und übt euch in Selbstmitleid, bis ihr grau und senil seid und kinderlos sterben müßt? Bis euch die Belastung den Verstand raubt? Ich bin dafür, daß wir weitermachen, solange die Kraft reicht. Und ich hebe die Überzeugung, daß ihr geschlossen auf meiner Seite steht!« Er verließ das Podium, und Telander winkte Boudreau und Nilsson herbei. Chi-Yuen umarmte Reymont. »Du warst wundervoll«, schluchzte sie. Er preßte die Lippen zusammen und starrte an ihr vorbei die Metallwände an. »Danke«, sagte er knapp. »Ich verdiene dein Lob nicht.« »O doch. Du hast uns die Hoffnung wiedergegeben. Ich bin stolz auf dich.« Er schien ihre Worte nicht zu hören. »Es ist nicht schwer, einen glänzenden neuen Einfall auszusprechen«, sagte er. »Die wahren Schwierigkeiten werden nicht auf sich warten lassen.«
11 Die Leonora Christine schwenkte auf ihren neuen Kurs um. Die Sterne sahen die Bewegung einer abgeflachten, sich ständig vergrößernden Masse, die Monate und Jahre dahinwanderte, bis die Abweichung von der ursprünglichen Bahn allmählich deutlich wurde. Die Ränder der Kraftfelder rissen Wasserstoffatome an sich und verwandelten sie in lodernde Strahlungsflammen. Aber das Leuchten des Schiffes verlor sich bald jenseits der Lichtjahre. Es schleppte sich durch Abgründe, die scheinbar kein Ende hatten. Die Leonora Christine bewegte sich durch ein fremdes Universum — älter, dichter, mit größerer Masse. So sank ihr Tau mit jeder Minute. An Bord selbst hatte sich nichts geändert. Die Biosysteme und Organozyklen sorgten für Wasser und Sauerstoff, wandelten Müll
um, produzierten Nahrung, erhielten das Leben. Die Entropie stieg an. Die Menschen alterten in der normalen Zeitrelation von sechzig Sekunden pro Minute, sechzig Minuten pro Stunde. Aber diese Stunden entfernten sich immer weiter von den Stunden und Jahren, die draußen verstrichen. Einsamkeit umfing das Schiff. Jane Sadler vollführte eine Riposte. Johann Freiwald versuchte zu parieren, aber sie war schneller. »Touche!« rief er und fügte lachend hinzu: »In einem echten Duell hätte meine Lunge dran glauben müssen. Gratuliere! Du hast dein Examen mit Auszeichnung bestanden.« »Das war aber auch höchste Zeit«, keuchte sie. »Ich bekam schon keine Luft mehr, und meine Knie zittern wie Pudding.« »Schluß für heute abend«, entschied Freiwald. Sie nahmen die Fechtmasken ab. Janes Gesicht war schweißbedeckt, und die Haare hingen ihr feucht in die Stirn. Sie atmete stoßweise, aber ihre Augen glänzten. »Puh, bin ich erledigt!« Sie warf sich auf einen Stuhl. Freiwald nahm neben ihr Platz. So spät am Abend hatten sie die riesige Turnhalle für sich allein. Unwillkürlich rückten sie enger zusammen. »Wenn du die Frauen trainierst, mußt du dich nicht so verausgaben«, meinte Freiwald. »Ich finde, du solltest bald damit beginnen.« »Wie meinst du das? Ich — als Anfängerin?« »Wir beide üben weiterhin zusammen«, sagte Freiwald. »Du wirst deinen Schülerinnen also immer ein Stück voraus sein. Sieh mal, ich muß mich um die Männer kümmern. Und um die Ausrüstung. Wenn das Interesse so groß ist, wie ich vermute, werden wir nicht nur Masken und Floretts, sondern auch Säbel und Degen brauchen.« Janes Miene verdüsterte sich. Sie warf ihm einen forschenden Blick zu. »Du hast mit diesen Stunden ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt?« »Constable Reymont brachte mich auf den Gedanken, als ich ihm erzählte, daß ich einen Fechtpartner suchte. Siehst du, wir müssen uns fit halten ...« »Und versuchen, die Wirklichkeit zu vergessen«, ergänzte sie hart. »In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. Wer müde ins Bett geht, kann nicht die ganze Nacht grübeln.« »Ja, ich weiß. Elof ...« Jane unterbrach sich. »Professor Nilsson klammert sich vielleicht zu verbissen an seine Arbeit«, wagte Freiwald einzuwerfen. Er wandte den Blick ab und spielte mit der Florettklinge. »Er hat keine andere Wahl«, entgegnete sie trotzig. »Wenn er nicht die Beobachtungsinstrumente verbessert, sind wir bei unserer extragalaktischen Route ganz auf Vermutungen angewiesen.« »Ich weiß. Dennoch würde es deinem Partner nicht schaden, Jane, ein wenig Sport zu treiben.« »Es wird täglich schlimmer mit ihm«, gestand sie leise, doch dann fuhr sie angriffslustig fort: »Reymont hat sich also zu seinem Helfer gemacht?«
Freiwald nickte. »Er selbst kann es nicht tun, das mußt du begreifen. Jeder würde seine Beweggründe durchschauen, und der ganze Spaß wäre dahin. Außerdem steht er bereits jetzt im Ruf eines Schleifers.« Jane Sadler lächelte. »In Ordnung, Johann. Auf mich kannst du zählen. Ich werde dein Geheimnis nicht verraten.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Sollen wir noch einen Sprung in den Swimmingpool wagen?« schlug sie vor. »Nein, lieber nicht«, erwiderte er heiser. »Wir wären allein dort, und davor habe ich Angst, Jane.« Die Leonora Christine traf zum zweitenmal auf eine Materiewolke, die noch zäher war als der Nebel, der alles Unheil heraufbeschworen hatte. Obwohl das Gebiet sich über viele Parsek erstreckte, gab es keine Schwierigkeiten. Als das Schiff wieder auftauchte, war sein Tau unglaublich gesunken. Seine Geschwindigkeit hingegen stieg, ebenso wie seine Beschleunigung. Die Männer und Frauen an Bord hielten ungeachtet der Ereignisse am terranischen Kalender fest. Jeden siebenten Tag las Kapitän Telander für seine kleine Schar Protestanten den Gottesdienst. An einem dieser Sonntage hatte er Ingrid Lindgren gebeten, nach der Feier in seine Kabine zu kommen. Sie erwartete ihn bereits, als er eintrat. Ihr rotes Minikleid bildete einen fröhlichen Gegensatz zu der nüchternen, beinahe strengen Umgebung. Obwohl Kapitän eine Doppelkabine für sich in Anspruch nehmen durfte, hatte er sie kaum persönlich gestaltet. Ein paar Familienfotos hingen an den Wänden, und auf dem Tisch stand das halbfertige Modell eines Klippers. »Guten Morgen«, sagte er mit gewohnter Feierlichkeit. Er legte die Bibel ins Regal und öffnete den Kragen seiner Paradeuniform. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Da die Betten hochgeklappt waren, gab es genug Platz für zwei Faltstühle und einen Tisch. »Ich lasse Kaffee kommen.« »Wie ging es?« fragte sie, nervös um Konversation bemüht. »Hat Malcolm heute am Gottesdienst teilgenommen?« »Nein, leider nicht. Ich fürchte, unser Freund Foxe-Jameson ist sich noch nicht im klaren darüber, ob er zum Glauben seiner Väter zurückkehren oder Agnostiker bleiben soll.« Telander lächelte ein wenig. »Aber er wird kommen. Er muß sich nur mit dem Gedanken abfinden, daß ein Astrophysiker und ein Christ durchaus vereinbar sind. Wann sehen wir Sie in unseren Reihen, Ingrid?« »Wahrscheinlich nie. Wenn es tatsächlich eine steuernde Intelligenz hinter der Wirklichkeit gibt — und dafür haben wir keine wissenschaftlichen Beweise —, wird sie sich kaum um ein chemisches Zufallsprodukt wie den Menschen kümmern.« »Wissen Sie, daß Sie Charles Reymont zitieren?« fragte Telander. Sie zuckte zusammen, und er fuhr hastig fort: »Ein Wesen, das sich mit Quanten und Quasaren gleichermaßen beschäftigt, hat auch Zeit für uns. Und wissenschaftliche Beweise ... Aber ich will hier nicht schale Argumente wiederholen. Wir haben andere Dinge zu besprechen.« Er stellte die Interkomverbindung zur Kombüse her und sagte: »Eine Kanne Kaffee, Sahne, Zucker und zwei Tassen in die Kapitänskabine, bitte.«
»Sahne!« murmelte Ingrid. »Ich finde, so schlecht schmeckt sie gar nicht«, entgegnete Telander. »Übrigens ist Carducci ganz begeistert von Reymonts Vorschlag, sich dem Nahrungschemiker-Team anzuschließen und neue Gerichte zu erproben. Kein Beefsteak, das aus Algen und Gewebekulturen zusammengemanscht wird, sondern etwas ganz Neues. Ich bin froh, daß er sich endlich gefangen hat.« »Ja, als Küchenchef taugt er nicht mehr viel.« Ingrid wurde mit einemmal ernst. Sie schlug mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. »Warum?« stieß sie hervor. »Was ist nur los? Wir sind erst halb so lange unterwegs, als es ursprünglich geplant war. So rasch dürfte die Kampfmoral nicht nachlassen.« »Wir haben jede Sicherheit verloren ...« »Ich weiß. Aber in der Vergangenheit haben Gefahren die Menschen oft genug zu großen Leistungen angespornt. Die Möglichkeit, daß wir die Reise nie beenden werden, hat mich anfangs auch fertiggemacht, das gebe ich zu. Aber ich bin darüber hinweggekommen.« »Wir, die eigentliche Mannschaft, haben ein festes Ziel«, erklärte Telander. »Wir sind verantwortlich für das Leben der anderen. Das hilft. Aber selbst für uns ...« Er machte eine Pause. »Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Ingrid. Wir nähern uns einem kritischen Datum. Auf der Erde sind seit unserer Abreise hundert Jahre vergangen.« »Unsinn«, entgegnete sie. »Unter diesen Umständen kann man doch nicht von Gleichzeitigkeit sprechen.« »Psychologisch gesehen ist es kein Unsinn«, beharrte er. »Auf Beta Virginis hätten wir zumindest einen winzigen Kontakt zur Heimat gehabt. Aber so ...« Er zuckte mit den Schultern. »Sie müssen tun, was Sie können, um den Leuten über diese Zeit hinwegzuhelfen. Sie verstehen das besser als ich.« »Das reden Sie sich ein. Ein paar Worte von Ihnen ...« Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe sogar die Absicht, mich ganz zurückzuziehen.« »Wie meinen Sie das?« fragte sie beunruhigt. »Oh, keine Panik«, erwiderte er. »Die Arbeit im Maschinenraum und in der Navigationszentrale nimmt mich voll und ganz in Anspruch. Niemand kann es mir verübeln, wenn ich mich nach und nach ganz von den Schiffsgefährten absondere.« »Aber weshalb denn, um Himmels willen?« »Ich hatte ein paar Unterredungen mit Charles Reymont. Er brachte dabei ein ausgezeichnetes Argument vor — ein lebenswichtiges Argument, wenn ich mich nicht täusche. Wenn Unsicherheit uns umgibt, wenn überall Verzweiflung lauert, dann muß der Durchschnittsmensch an Bord das Gefühl haben, daß sein Geschick in tüchtigen Händen ruht. Natürlich wird niemand bewußt behaupten, der Kapitän sei unfehlbar. Aber unterbewußt besteht das Verlangen nach diesem Nimbus. Und ich — ich habe meine Schwächen und Fehler. Ich besitze ein durchschnittliches Urteilsvermögen. Nicht immer wird es mir gelingen, eine Situation richtig einzuschätzen, vor allem nicht unter der seelischen Belastung, der wir alle ausgesetzt sind.« Ingrid spannte sich an. »Was verlangt der Constable von Ihnen?«
»Daß ich den zwanglosen, vertrauten Umgang mit Besatzung und Passagieren aufgebe. Nach außen werden wir erklären, daß ich nicht von meiner Arbeit abgelenkt werden darf, da es meine ganze Aufmerksamkeit erfordert, das Schiff sicher durch die Nebel und Sternenhaufen der Galaxis zu steuern. Es ist eine vernünftige Ausrede, man wird sie akzeptieren. Am Ende werde ich allein speisen, hier in meiner Kabine, mit Ausnahme von festlichen Gelegenheiten. Ich werde auch meinen Sport hier treiben und allein meiner Freizeitbeschäftigung nachgehen. Nur Offiziere von hohem Rang — wie Sie — haben das Recht, mich persönlich aufzusuchen. Ich werde mich mit Etikette umgeben. Durch seine Helfer wird Reymont verbreiten lassen, daß ich auf korrekte Umgangsformen Wert lege. Kurz gesagt, Ihr guter Lars Telander ist im Begriff, sich in >den Alten< zu verwandeln.« »Das sieht Reymont ähnlich«, sagte sie bitter. »Er hat mich davon überzeugt, daß es so am besten ist.« »Ohne darüber nachzudenken, was er Ihnen damit antut.« »Ich schaffe es schon. Ein geselliger Typ war ich noch nie. Und in unserer Bibliothek gibt es eine Menge Werke, die ich immer schon lesen wollte.« Telander sah sie forschend an. Trotz der lauen, nach frischem Heu duftenden Brise, die aus den Ventilatoren kam, zeigte sich eine Gänsehaut auf ihren bloßen Armen. »Sie haben auch eine Rolle in diesem Plan, Ingrid. Mehr denn je müssen Sie sich um die menschlichen Probleme kümmern. Organisation, Vermittlung ... es wird nicht leicht sein.« »Allein kann ich das nicht.« Ihre Stimme zitterte. »Man kann alles, wenn man dazu gezwungen wird«, erwiderte er. »Sicher gelingt es Ihnen, einen Teil der Verantwortung an andere abzugeben. Eine Frage der richtigen Planung. Wir werden uns schon etwas einfallen lassen.« Er zögerte. Unsicherheit überkam ihn; er wurde tatsächlich rot. »Äh — noch etwas in diesem Zusammenhang ...« »Ja?« Der Türgong rettete ihn. Er nahm dem Steward das Kaffeetablett ab und trug es zum Tisch. Umständlich schwenkte er ein. Dabei wandte er ihr den Rücken zu. »In Ihrer Position«, fuhr er fort, »ich meine, in Ihrer neuen Position — Sie müssen sich natürlich nicht so abkapseln wie ich, aber eine gewisse Distanz, ich meine ...« Leiser Spott schwang in ihrer Stimme mit. »Armer Lars! Sie meinen, Ihr Erster Offizier sollte die Partner nicht so häufig wechseln?« »Nun, ich verlange ja keinen Zölibat. Bei mir ist das etwas anderes. In Ihrem Fall — nun, die Phase des Kennenlernens ist für die meisten von uns vorbei. Es haben sich feste Partnerschaften gebildet. Wenn Sie auch ...« »Ich verstehe. Aber ich weiß etwas Besseres. Ich werde allein bleiben.« Er konnte die Zeremonie des Eingießens nicht länger hinauszögern. »D-das ist nicht nötig«, stammelte er. »Vielen Dank.« Sie atmete das Kaffeearoma ein. Über die Tasse hinweg blinzelte sie ihn an. »Und wenn der Kapitän seinen Ersten Offizier von Zeit zu Zeit zu einer Geheimkonferenz holt, kann niemand etwas einzuwenden haben.« »Äh — nein. Sie sind lieb, Ingrid, aber es geht nicht.« Telander ging in der Kabine auf und ab. »In einer so kleinen Gemeinschaft würde das nicht lange verborgen bleiben. Und
ich hasse Heuchelei. Obwohl ich mir keine bessere Partnerin wünschen könnte als Sie — es darf nicht sein. Sie stellen das Bindeglied zwischen mir und der Mannschaft dar. Das heißt, daß Sie neutral bleiben müssen... Reymont könnte Ihnen das besser erklären.« Ihr Lächeln schwand. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, wie er Sie gängelt.« »Er hat Erfahrung mit Krisensituationen. Seine Argumente klangen vernünftig.« »Mag sein«. Ingrid zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Kaffee. »Vielleicht hat er sogar recht — was immer seine Beweggründe sein mögen.« Sie setzte die Tasse ab. »Was mich betrifft, so geht die Sache in Ordnung. Ich habe das alberne Getue ohnehin satt. Die Monogamie scheint sich durchzusetzen, und die Auswahl wird immer kleiner. Ich habe selbst schon mit dem Gedanken gespielt, aufzuhören. Olga Sobieski ist der gleichen Meinung wie ich. Ich werde Kato bitten, die Kabine mit ihr zu tauschen. Etwas Ruhe und Kühle werden mir guttun, Lars. Es gibt so viele Dinge, über die ich nachdenken möchte.« Die Leonora Christine hielt auf den Sagittarius-Nebel zu. Niemand wußte mit Bestimmtheit, was dahinter lag. Die Astronomen vermuteten ein Raumvolumen, in dem es kaum Staub oder Gase gab, dafür aber eine dichte Ansammlung alter Sterne. Aber kein Teleskop hatte je die Wolken durchdrungen, die dieses Reich abschirmten, und kein Schiff hatte sich je in diese Region gewagt. »Außer eine Expedition machte sich nach uns auf den Weg«, meinte Pilot Lenkei. »Auf der Erde sind inzwischen Jahrhunderte vergangen. Sicher haben die Menschen großartige Fortschritte erzielt.« Chidambaran, der Kosmologe, zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Dreißigtausend Jahre bis zum Kern der Galaxis und die gleiche Spanne, um eine Botschaft zurück auf die Erde zu schicken? Das ergibt keinen Sinn. Eher glaube ich, daß sich die Menschheit langsam zum Zentrum vorarbeiten wird, Kolonie um Kolonie.« »Die Lösung des Problems wäre Überlichtgeschwindigkeit.« Der schmale, dunkelhäutige Chidambaran winkte verächtlich ab. »Dieses Kindermärchen. Schon Aristoteles träumte davon, und es hat sich bis heute nicht ausrotten lassen.« Der Pilot sah mit einem Male müde und alt aus. »Laß nur, ich habe es nicht so gemeint. Im Gegenteil — wenn ich mir vorstelle, daß andere von Stern zu Stern flitzen, während wir hier eingesperrt sind ... es wäre zu grausam.« Sie kamen von einer Besprechung in der Werkstatt, wo Nilsson mit Foxe-Jameson und Chidambaran über die Konstruktion eines großen Kristalldiffraktionsgitters beraten hatten. »Für dich ist es leichter«, stieß Lenkei mit unerwarteter Heftigkeit hervor. »Du hast eine echte Aufgabe. Wir hängen von deinem Team ab. Wenn es euch nicht gelingt, neue Instrumente zu bauen ... Ich hingegen stehe tatenlos herum. Ich kann erst eingesetzt werden, wenn wir einen Planeten erreicht haben — wenn man Raumfähren und Flugzeuge benötigt.« »Du hilfst beim Bau der Instrumente mit, oder wirst es zumindest tun, sobald die Entwürfe abgeschlossen sind.« »Ja, ich habe mich freiwillig bei Sadek gemeldet. Damit diese verdammte Zeit schneller vergeht!« Lenkei nahm sich zusammen. »Entschuldige, ich wollte nicht jammern. Mohandas, darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich.« »Weshalb hast du dich für die Expedition gemeldet? Du bist heute ein wichtiger Mann. Aber wenn uns dieses Unglück nicht zugestoßen wäre — hättest du dann auf der Erde nicht mehr erreicht? Du bist Theoretiker, soviel ich weiß. Deine Aufgabe ist es eigentlich, Daten auszuwerten, nicht, sie zu sammeln.« »Ich hätte die Ankunft der Informationen von Beta Viginis kaum erlebt. Und man ging von dem Gedanken aus, daß es vielleicht ganz wertvoll sei, einen Wissenschaftler wie mich ganz neuen Erfahrungen und Eindrücken auszusetzen. Ich hätte Einsichten gewinnen können, die mir im Normalfall versagt geblieben wären. Schlimmstenfalls hätte ich meine Theorien auf dem Schiff ebensogut weiterentwickeln können wie auf der Erde.« Lenkei rieb sich das Kinn. »Weißt du, ich habe den Verdacht, daß du die >Traum<Sitzungen gar nicht benötigst.« »Möglich. Ich gestehe, daß ich den Vorgang entwürdigend finde.« »Weshalb nimmst du dann teil?« »Vorschriften. Alle sollen die gleiche Behandlung mitmachen. Offen gestanden, ich stellte einen Antrag auf Befreiung. Constable Reymont überredete die Lindgren, auch in begründeten Fällen keine Ausnahmen zu gestatten — um Ungerechtigkeiten zu vermeiden.« »Reymont! Schon wieder dieser Bastard!« »Er hat vielleicht recht«, entgegnete Chidambaran. »Es schadet mir nichts, abgesehen davon, daß ich meine Arbeit gelegentlich unterbrechen muß.« ' »Ich bewundere deine Geduld.« »Meiner Meinung nach muß Reymont sich selbst zu diesen Sitzungen zwingen«, stellte Chidambaran fest. »Er geht nicht öfter als unbedingt erforderlich hin. Und ist dir aufgefallen, daß er nie mehr als ein oder zwei Gläser trinkt, auch wenn er frei hat? Der Mann beherrscht sich eisern.« »So ist er nun mal. Weißt du, was er letzte Woche zu mir sagte? Ich hatte mir ein Stück Kupferfolie geholt, ohne es einzutragen. Völlig harmlos — ich wollte es zur Wiederaufbereitung bringen, sobald ich mit meinem Versuch fertig war. Aber dieser Bastard sagte ...« »Vergiß es«, riet ihm Chidambaran. »Er hatte recht. Wir befinden uns nicht auf einem Planeten. Wenn etwas verlorengeht, gibt es keinen Ersatz. Es ist also besser, kein Risiko einzugehen — und schließlich haben wir genug Zeit für den Papierkram.« Sie hatten den Eingang des hypnotherapeutischen Raumes erreicht. »Da sind wir schon.« Lenkei zögerte. »Also — angenehme Träume! Ich hoffe, dir bleiben die Schreckgespenster erspart, mit denen ich mich letztesmal herumschlagen mußte.« Wieder nahte der Tag des Vertragsfestes. Die Feierlichkeiten und die anschließende Party waren weniger trostlos, als man hätte vermuten können. Der Schock und die Trauer waren der Gewohnheit gewichen. Ein gewisser Trotz hatte die meisten erfaßt. Nicht alle nahmen an dem Fest teil. Elof Nilsson beispielsweise blieb in der Kabine, die er mit Jane Sadler teilte. Er beschäftigte sich lange mit den Skizzen und Berechnungen für sein neues Außenteleskop. Dann schaltete er den Leseschirm ein und wählte aus der Bibliothek einen Roman. Er war immer noch darin vertieft, als Jane zurückkam.
Mit rotgeränderten Augen sah er auf. Sie stand im Schatten, mit einem bunten Partykleid, und schwankte unsicher. »Du liebe Güte!« rief er. »Es ist fünf Uhr früh!« »Du merkst aber auch alles!« Sie lachte. Whiskygeruch wehte ihm entgegen. Er nahm eine kleine Prise Schnupftabak, einen Luxus, den er sich selten gönnte. »Meine Schicht fängt nicht in drei Stunden an«, sagte er. »Meine auch nicht. Ich habe eine Woche Urlaub genommen. Der Boß ist einverstanden. Was kann er auch machen? Er hat nur mich.« »Was ist das für eine Einstellung? Stell dir vor, die anderen, von denen die Sicherheit des Schiffes abhängt, würden ebenso handeln?« »Tetsuo Iwamoto ... nein, eigentlich Iwamoto Tetsuo ... die Japaner stellten ihren Familiennamen an den Anfang wie die Chinesen und die Ungarn ... aber höflich, wie sie sind, lassen sie uns dumme Europäer das nicht merken. Hast du das gewußt?« Jane fand den Faden wieder. »Er ist ein netter Boß. Sicher kommt er eine Zeitlang ohne mich aus.« »Dennoch ...« Sie hob den Zeigefinger. »Du sollst mich nicht schelten, Elof, hörst du? Ich habe deinen überkompensierten Minderwertigkeitskomplex länger ertragen, als es gut für mich war. Weil ich dachte, der Mensch Elof Nilsson würde sich aufraffen und seinem Intelligenzquotienten Konkurrenz machen. Aber genug ist genug.« »Du bist betrunken.« »Sieht so aus.« Wehmütig fügte sie hinzu: »Du hättest mitkommen sollen.« »Wozu? Du weißt gar nicht, wie satt ich das alles habe. Die gleichen Gesichter, das gleiche Schema, die gleichen faden Gespräche.« Sie senkte die Stimme. »Hast du mich auch satt?« »Aber...« Nilsson richtete sich unsicher auf. »Wie meinst du das, Liebling?« »Du hast mich in den letzten Monaten nicht gerade mit Aufmerksamkeiten überschüttet.« »Nein, vielleicht nicht.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt.« Sie holte tief Atem. »Ich will dich nicht anlügen. Ich war heute nacht mit Johann zusammen.« »Mit Freiwald? Dem Maschinisten?« Nilsson stand eine Zeitlang sprachlos da. Sie wartete. Mit einemmal war sie nüchtern. Schließlich würgte er mühsam hervor: »Nun, dazu hast du zweifellos das Recht — auch in moralischer Hinsicht. Ich bin kein kraftvolles junges Tier. Ich bin — war — unendlich stolz und glücklich, daß du mich als Partner ausgewählt hattest. Ich ließ mir von dir Dinge zeigen, die ich zuvor nie verstanden hatte. Vielleicht war ich kein geschickter Schüler ...« »Oh, Elof!« »Du verläßt mich, habe ich recht?« »Wir lieben uns, er und ich.« Der Raum vor ihr verschwamm. »Ich dachte, es würde leichter sein, es dir zu sagen. Ich dachte, ich sei dir gleichgültig.«
»Eine heimliche Verbindung käme wohl nicht in ... nein, das geht nicht. Das wäre zuviel verlangt. Außerdem habe ich auch meinen Stolz.« Nilsson setzte sich wieder und griff nach seiner Schnupftabaksdose. »Geh jetzt lieber! Du kannst deine Sachen später holen.« »So schnell?« »Hinaus!« Seine Stimme überschlug sich. Sie floh schluchzend, aber mit einem Gefühl der Erleichterung. Die Leonora Christine passierte im Abstand von fünfzig Lichtjahren einen neugeborenen Riesenstern. Dabei durchschnitt sie die Gashülle, die das Gestirn umgab — ionisierte Atome, die den Sammelfeldern nicht den geringsten Widerstand boten. Ihr Tau näherte sich Null in einer Asymptote; das gleiche galt für die Zeit.
12 Reymont blieb am Eingang zum Mannschaftsdeck stehen. Die Freizeiträume waren leer. Nach einem kurzen Aufflackern des Interesses kümmerte sich kaum noch jemand um Sport und andere Hobbys. Unter den Wissenschaftlern und Mannschaftsangehörigen hatten sich kleine Gruppen gebildet, die gemeinsam lasen, Filme ansahen und viel schliefen. Er konnte die Leute natürlich zum Trainig zwingen. Aber er hatte noch keinen Weg gefunden, den ständig sinkenden Kampfgeist aufzufrischen. Im Gegenteil, durch seine unbeugsame Haltung beim Durchsetzen der Vorschriften hatte er sich viele Feinde geschaffen. Apropos Vorschriften — er ging mit raschen Schritten zum psychotherapeutischen Raum und öffnete die Tür. Alle drei Abteile waren besetzt, davon zeugten die roten Anzeigelampen. Er holte einen Universalschlüssel aus der Tasche und öffnete nacheinander die sargähnlichen Kästen, die luft-, aber nicht lichtdurchlässig waren. Zwei schloß er wieder, aber beim dritten begann er leise zu fluchen, als er Emma Glassgolds Züge unter dem Schlafhelm erkannte. Einen Moment lang stand er reglos da und betrachtete die zierliche junge Frau. Ihr Lächeln verriet tiefen Frieden. Zweifellos verdankte sie es, wie viele andere an Bord, diesem Apparat, daß sie den Verstand noch nicht verloren hatte. Es ließ sich nicht leugnen, daß die Leonora Christine trotz aller Bemühungen der Passagiere, ihr Inneres behaglich und wohnlich zu gestalten, eine sterile Umgebung blieb. Nun bewirkt das völlige Fehlen von sensorischen Kontakten, daß die Beziehung zur Realität rasch verlorengeht. Ohne den ständigen Strom von neuen Informationen, die es verarbeiten muß, formt das Gehirn Halluzinationen, geht von der Logik ab und verfällt schließlich dem Wahnsinn. Die Auswirkungen einer langsamen sensorischen Verarmung sind subtiler, aber in mancher Hinsicht noch schädlicher. Eine direkte elektronische Stimulierung der entsprechenden Gehirnzentren wird notwendig. Laienhaft ausgedrückt — die langen und intensiven Träume, die durch den elektronischen Anreiz hervorgerufen werden, seien sie angenehm oder bedrückend, dienen als Ersatz für echte Erlebnisse. Dennoch ...
Emma Glassgolds Haut wirkte fahl und kränklich. Der EEG-Schirm hinter dem Helm zeigte an, daß sie sich in einem Zustand des seelischen Gleichgewichts befand. Das bedeutete, daß man sie gefahrlos wecken konnte. Reymont schaltete die Zeituhr auf Null. Sie bewegte sich. »Schalem, Mosche«, hörte er sie flüstern. An Bord gab es niemanden mit diesem Vornamen. Er nahm ihr den Helm ab. Emma kniff die Augen zusammen und versuchte sich umzudrehen. »Aufwachen!« Reymont schüttelte sie. Sie blinzelte ins Licht. Abrupt setzte sie sich auf und sah ihn an. Er konnte erkennen, wie der Glanz in ihren Augen erlosch. »Los«, sagte er und versuchte sie hochzuziehen. »Heraus aus diesem verdammten Sarg!« »Nein, nein«, murmelte sie. »Ich war bei Mosche.« »Tut mir leid, aber ...« Sie setzte sich auf den Boden und begann hilflos zu schluchzen. Reymont knallte den Deckel zu. »Also schön«, sagte er. »Dann muß ich eben zu direkten Befehlen greifen. Hinaus! Und melden Sie sich bei Dr. Latvala!« »Was zum Teufel ist denn hier los?« Reymont drehte sich um. Norbert Williams hatte seine Worte wohl gehört, da die Tür nur angelehnt war. Er kam aus dem Swimming-pool, der im gleichen Korridor lag. Auf seiner Haut glänzten Wassertropfen. Und er war wütend. »Fangen Sie nun auch schon an, Frauen zu tyrannisieren? Los, Mann, hauen Sie ab!« Reymont rührte sich nicht von der Stelle. »Wir haben Vorschriften, was diese Kästen betrifft«, sagte er. »Wenn jemand nicht die Selbstdisziplin besitzt, sie zu beachten, dann muß ich ihn dazu zwingen.« »Ja! Lauern, schnüffeln, die Nase ständig in fremde Angelegenheiten stecken — Herrgott, das mache ich nicht länger mit!« »Nicht!« sagte Emma Glassgold bittend. »Streitet nicht! Es tut mir leid. Und ich gehe auch.« »Du bleibst!« fauchte der Amerikaner mit hochrotem Kopf. »Bestehe auf deinen Rechten! Dieser aufgeblasene kleine Diktator kotzt mich an. Es wird höchste Zeit, daß wir etwas gegen ihn unternehmen.« Reymont betonte jedes seiner Worte. »Die Beschränkungsvorschrift wurde nicht zum Spaß erlassen, Dr. Williams. Eine zu häufige Benutzung des Schlafhelms führt zur Sucht und schließlich zum Wahnsinn.« »Hören Sie mir zu!« Der Chemiker bemühte sich sichtlich, seinen Zorn zu unterdrücken. »Es sind nicht alle Menschen gleich. Sie glauben vielleicht, daß Sie uns zurechttrimmen können — Sie mit Ihrem verdammten Sport und mit Ihrer lächerlichen Beschäftigungstherapie, die sogar ein Halbidiot durchschaut!« Er senkte die Stimme. »Hören Sie zu!« wiederholte er. »Diese Vorschriften — gut, man hat sie erlassen, damit niemand eine Überdosis erwischt. Aber was sich bei dem einen als schädlich erweist, kann bei dem anderen durchaus noch normal sein. Wir verbringen alle die gleiche Zeit in diesen Kästen, obwohl wir verschiedene Anlagen besitzen. Sie auch, Constable!« »Gewiß«, begann Reymont, aber Williams unterbrach ihn schon wieder.
»Was wissen Sie von Emma? Nichts, denn Sie haben nicht einmal die Sensibilität einer Küchenschabe! Ich kenne sie. Sie ist eine großartige, tapfere Frau, stark genug, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie braucht Ihre Vorschriften nicht« Williams deutete. »Dort ist die Tür! Hinaus!« »Norbert — nicht!« Emma Glassgold versuchte die beiden Männer zu trennen. Reymont schob sie zur Seite und antwortete Williams: »Wenn Ausnahmen gemacht werden, so hat das der Schiffsarzt zu entscheiden. Nicht Sie. Da Miß Glassgold Dr. Latvala nach diesem Vorfall ohnehin aufsuchen muß, kann sie ihm das Problem gleich vortragen.« »Ich kenne seine Antwort jetzt schon! Diese Ratte verschreibt nicht einmal Beruhigungsmittel.« »Wir haben noch Jahre vor uns. Unvorhergesehene Ereignisse können eintreten. Wenn wir uns jetzt schon an Drogen gewöhnen ...« »Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, daß wir ohne diese Hilfsmittel überschnappen könnten? Wir entscheiden für uns selbst, verstanden? Und nun hinaus mit Ihnen!« Emma Glassgold versuchte sich erneut einzumischen. Reymont packte sie an den Armen und schob sie aus dem Weg. »Rühren Sie das Mädchen nicht an, Sie Dreckskerl!« Williams kam mit erhobenen Fäusten auf ihn zu. Reymont zog sich ein Stück zurück, aber der Amerikaner folgte ihm tänzelnd wie ein Boxer. Der Constable deckte ein paar ungeschickte Hiebe ab, dann machte er dem Spiel mit einem Karateschlag ein Ende. Williams krümmte sich und ging zu Boden. Mit einem Aufschrei war Emma Glassgold neben ihm. Sie stützte seinen Kopf und warf Reymont einen wütenden Blick zu. »Eine Heldentat!« fauchte sie. Der Constable breitete hilflos die Hände aus. »Hätte ich zulassen sollen, daß er mich zusammenschlug?« »Sie hätten gehen können!« »Unmöglich. Ich habe die Pflicht, für Ordnung an Bord zu sorgen. Solange Kapitän Telander mir dieses Amt nicht abnimmt, werde ich mich an meine Vorschriften halten.« »Schön«, entgegnete Emma mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir gehen zu ihm. Ich werde eine formelle Beschwerde gegen Sie einreichen.« Reymont schüttelte den Kopf. »Sie wissen ebensogut wie ich, daß der Kapitän mit diesen kleinlichen Streitereien nicht belästigt werden darf. Seine Verantwortung gilt dem Schiff.« Williams kam stöhnend zu sich. »Wir tragen den Fall Miß Lindgren unserem Ersten Offizier vor«, sagte Reymont. »Ich muß Anklage gegen Sie beide erheben.« Emma Glassgold preßte die Lippen zusammen. »Wie Sie wünschen.« »Nicht die Lindgren«, murmelte Williams undeutlich. »Die beiden hatten ...« »Schon lange nicht mehr«, unterbrach ihn Emma. »Sie gab ihm bereits vor dem Unglück den Laufpaß. Konnte ihn nicht mehr ertragen. Sie wird fair urteilen.« Mit ihrer Hilfe zog sich Williams an und humpelte zum Kommandodeck.
Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie durch die Korridore gingen, aber Reymonts grimmige Miene schüchterte die Leute so weit ein, daß sie keine Fragen stellten. Am ersten Interkom-Sprechgitter blieb er stehen, wählte Ingrids Nummer und bat sie, ins Besprechungszimmer zu kommen. Es handelte sich um einen kleinen, aber schalldichten Raum — ein idealer Ort für Gespräche unter vier Augen. Ingrid Lindgren hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen. Sie trug ihre Uniform. In der grellen Beleuchtung wirkte ihr Haar silbrigblond. Ihre Stimme klang kühl. Reymont gab einen knappen Bericht der Ereignisse. »Ich beschuldige Dr. Glassgold eines Vergehens gegen die Gesundheitsbestimmungen«, schloß er, »und Dr. Williams des Angriffs auf einen Friedensoffizier.« »Meuterei also?« fragte Ingrid Lindgren. Williams sah sie entsetzt an. »Nein, Madam. Angriff genügt.« Reymont wandte sich an den Chemiker. »Sie haben Glück. Auf Meuterei steht der Tod, das wissen Sie.« »Das reicht, Constable«, wies ihn Ingrid scharf zurecht. »Dr. Glassgold, schildern Sie die Sache aus Ihrer Sicht!« Die Biologin war immer noch wütend. »Was die Anklage gegen mich betrifft, so bekenne ich mich schuldig«, sagte sie fest. »Aber ich bitte darum, daß die Vorschriften noch einmal gründlich überprüft werden. Nicht Dr. Latvalas Meinung soll allein gültig sein. Ich finde, die Notwendigkeit einer Behandlung müßte von Fall zu Fall durch einen neutralen Ausschuß festgestellt werden. Und was den Kampf betrifft, so wurde Norbert provoziert und niedergeschlagen, von einem Mann, der ihm kräftemäßig überlegen war.« »Ihr Bericht, Dr. Williams?« Die Lippen des Chemikers waren aufgeschwollen, so daß er Mühe beim Sprechen hatte. »Verzeihung, Madam«, sagte er. »Ich prägte mir das Raumgesetz nie sonderlich gut ein, da ich dachte, gesunder Menschenverstand und guter Wille würden genügen. Reymont mag technisch gesehen im Recht sein, aber mir reichen seine ständigen Einmischungen bis obenhin.« »Dr. Glassgold, Dr. Williams, sind Sie gewillt, sich meiner Entscheidung zu unterwerfen? Sie haben selbstverständlich Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, wenn Sie das wünschen.« Williams deutete ein verzerrtes Lächeln an. »Die Sache steht schon schlimm genug, Madam. Ich nehme an, wir erhalten einen Eintrag ins Logbuch, aber die Mannschaft braucht nicht unbedingt davon zu erfahren.« Emma Glassgold nickte nur. Reymont wollte etwas sagen, aber Ingrid kam ihm zuvor. »Sie, Constable, unterstehen ohnehin meiner Befehlsgewalt. Aber selbstverständlich haben Sie das Recht, beim Kapitän Einspruch zu erheben.« »Nicht nötig, Madam.« »Also gut.« Ingrid lehnte sich zurück. Ihre Haltung lockerte sich. »Ich befehle, daß die Anschuldigungen beider Seiten fallengelassen oder besser gesagt, nicht eingetragen werden. Besprechen wir das Problem von Mensch zu Mensch. Schließlich sitzen wir im wahrsten Sinn des Wortes im gleichen Boot.«
»Er auch?« Williams deutete mit dem Daumen auf Reymont. »Gesetz und Disziplin sind lebensnotwendig«, erklärte Ingrid ruhig. »Vielleicht geht Constable Reymont in seinem Eifer etwas zu weit. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist er der einzige Militär- und Polizeiexperte, den wir haben. Wenn Sie seine Methoden mißbilligen — nun, ich habe ein offenes Ohr für Ihre Klagen. Machen Sie es sich bequem! Ich lasse Kaffee holen.« »Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich jetzt zurück«, meinte Reymont. »Moment!« fuhr Emma Glassgold auf. »Wir haben Ihnen noch einiges zu sagen.« Reymont wandte den Blick nicht von Ingrid Lindgren ab. Es war, als gingen Funken hin und her. »Wie Sie selbst klarstellten, Madam, ist es meine Pflicht, auf die Einhaltung der Vorschriften an Bord zu achten. Nicht mehr und nicht weniger. Bei einer privaten Plauderstunde möchte ich nicht stören. Ich bin überzeugt davon, daß die Herrschaften ohne mich ungezwungener sprechen können.« »Ich glaube, Sie haben recht, Constable.« Sie nickte. »Gehen Sie ruhig!« Er salutierte und verließ den Raum. Als er seine Kabine betrat, sah er, daß die Betten immer noch heruntergeklappt und zusammengeschoben waren. Chi-Yuen saß auf den Decken, in ein dünnes Spitzen-Neglige gehüllt. Sie wirkte darin wie ein kleines Mädchen, wie ein trauriges kleines Mädchen. »Hallo«, sagte sie tonlos- »Du bist wütend. Was hat es wieder gegeben?« Reymont setzte sich neben sie und berichtete. »Nun«, fragte sie, »kannst du es ihnen verübeln?« »Nein. Eigentlich nicht. Obwohl ... ich weiß nicht recht. Diese Gruppe stellt angeblich die Elite der Menschheit dar. Überlege doch, was man alles verlangte — Intelligenz, Bildung, Charakterstärke, Gesundheit und Idealismus. Und die Leute wußten von Anfang an, daß sie wahrscheinlich nie mehr heimkehren würden.« Reymont fuhr sich mit den Fingern durch das dichte Haar. »Gut, die Lage hat sich verändert«, seufzte er. »Wir fliegen einem unbekannten Geschick entgegen. Aber ist der Unterschied zu unserem ursprünglichen Projekt tatsächlich so groß, daß wir die Nerven verlieren müssen?« »Es sieht so aus«, erwiderte Chi-Yuen. »Du auch. Ich wollte schon längst einmal ein ernstes Wort mit dir reden.« Er warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Du hattest anfangs alle Hände voll zu tun — mit deinen Hobbys, deinen Studien, deiner Vorbereitung für Beta Drei. Und selbst als das Unglück über uns hereinbrach, hast du mit Gelassenheit reagiert.« Ein schwaches Lächeln glitt über ihre Züge. Sie schmiegte sich kurz an ihn. »Deine Nähe gab mir Sicherheit.« »Nun jedoch — du sitzt immer häufiger herum und tust gar nichts. Wir beide hatten eine echte, tiefe Bindung aufgebaut, aber auch daran zeigst du in letzter Zeit keine Freude mehr. Ich spüre, daß ich dir nichts geben kann, wenn ich bei dir bin. Dein Interesse an Menschen und Dingen ist erloschen. Keine Arbeit mehr. Keine großen Pläne mehr. Du weinst nicht einmal mehr in die Kissen, wenn es dunkel ist ... oh ja, ich lag oft wach und hörte dich. Warum, Ai-Ling? Was geschieht mit dir und den anderen?« »Ich glaube, daß wir einfach nicht den Willen besitzen, um jeden Preis zu überleben.« Sie sagte es stockend und leise.
»Um jeden Preis? Wir haben, was wir brauchen. Sogar mehr als das. Und wir erleben ein Abenteuer, das einmalig ist in der Geschichte des Universums. Was ist nur mit euch los?« »Weißt du, welches Jahr jetzt auf der Erde ist?« entgegnete sie. »Nein. Ich habe Kapitän Telander persönlich darum gebeten, die Vergleichsuhr zu entfernen. Alle starrten diese verdammten Zeiger an.« »Die meisten von uns können die Relation auch so berechnen«, sagte sie. »Wir schreiben daheim das Jahr 10 ooo nach Christus. Plus oder minus ein paar Jahrhunderte. Ja, ich weiß, daß der Begriff der Gleichzeitigkeit unter relativistischen Bedingungen nicht mehr zutrifft. Und ich erinnere mich, daß die Jahrhundertwende die große psychologische Hürde sein sollte. Dennoch, diese ansteigenden Zahlen haben eine Bedeutung. Sie machen uns zu Verbannten. Unweigerlich. Unsere Familien sind sicher längst ausgestorben. Vielleicht sogar unsere Zivilisation. Was ist auf der Erde geschehen? In der Galaxis? Was haben die Menschen erreicht? In welche Richtung haben sie sich entwickelt? Wir werden nie mehr daran teilhaben.« Er versuchte sie durch Schärfe aus ihrer Apathie zu rütteln. »Na und? Auf Beta Drei hätte uns der Maser Worte übermittelt, die eine Generation alt gewesen wären. Nichts weiter. Und der Tod hätte uns schließlich vom Universum abgeschnitten. Das Geschick aller Menschen. Sollen wir jammern, weil das unsere eine ungewohnte Form annimmt?« Sie betrachtete ihn mit ernster Miene. Schließlich sagte sie: »Es geht dir nicht um meine Antwort, habe ich recht? Du möchtest mich nur zum Nachdenken zwingen. Aber du verstehst von den Menschen mehr als ich. Sag du mir, worin unser Fehler liegt.« »Ihr habt die Kontrolle über euer Leben verloren«, erwiderte er. »Die Mannschaft ist verhältnismäßig gut über den Schock hinweggekommen. Die Leute haben ihre fest umrissenen Aufgaben. Aber die Wissenschaftler waren ganz auf Beta Virginis eingestellt. Sie sahen sich im Geiste bereits glanzvolle Pioniertaten vollbringen. Nun haben sie keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Sie wissen nur, daß sich nichts vorherberechnen läßt. Daß sie keine Vorbereitungen treffen können, da wir unser Ziel nicht kennen — wenn es überhaupt ein Ziel für uns gibt. Und so legen sie die Hände in den Schoß und warten. Das muß sie zum Wahnsinn treiben.« »Was sollten wir deiner Meinung nach dagegen tun, Charles?« »Du beispielsweise könntest ruhig deine Arbeit fortsetzen. Irgendwann werden wir nach einer Welt suchen, auf der wir eine Kolonie errichten. Die Planetologie ist eine der Grundvoraussetzungen dafür.« »Glaubst du das wirklich? Alles spricht dagegen. Das Schiff wird weiterjagen, bis wir alle tot sind — ein Fliegender Holländer.« »Verdammt, wir können zumindest unsere Uberlebenschancen erhöhen!« »Wie denn?« »Darüber solltest du dir Gedanken machen. Dann hättest du gleich etwas zu tun.« Sie lächelte wieder, diesmal ein wenig freier. »Du hast recht — auch wenn ich es nicht gern höre, daß du mich anschreist.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Glaube mir, es macht keinen Spaß, den Bösewicht vom Dienst zu spielen. Aber es gehört mit zum Schema. Die Bestie Mensch will ein Leitbild, verabscheut aber gleichzeitig die Autorität. Diese beiden Gegensätze lassen sich nur durch
einen Trick in Einklang bringen: Der höchste Befehlshaber ist unnahbar, abgeschirmt, eine Art Gott — der unmittelbare Vorgesetzte dagegen ein widerwärtiger Schuft, der das Letzte aus dir herausholt und den du deshalb haßt. Zwischen den beiden Extremen steht eine Art Vermittler, der gelegentlich Gnade walten läßt und so den Volkszorn besänftigt. Du ahnst ja nicht, wie ich während der ersten Monate nach der Katastrophe jonglieren mußte, um diese Entwicklung in die Wege zu leiten. Nun, es hat geklappt. Kapitän Telander lebt völlig isoliert, der weise, allmächtige Gott. Ich bin der typische Schleifer, hart, brutal, rücksichtslos. Nicht so rücksichtslos, daß man mir etwas anhaben könnte, aber dennoch gefürchtet bei meinen Untergebenen. Die Lindgren schließlich stützt als Erster Offizier meine Macht. Aber von Zeit zu Zeit mildert sie meine Entscheidungen ein wenig ab, um die Wogen der Erregung zu glätten. So trägt sie dazu bei, daß sich der Begriff der höchsten Autorität unwillkürlich mit dem Begriff der Güte verbindet.« Reymont runzelte die Stirn. »Bis jetzt hat das Prinzip funktioniert«, meinte er. »Aber allmählich versagt es. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen.« Ai-Ling betrachtete ihn nachdenklich. Schließlich wandte er verlegen den Blick ab. »Hast du das mit Ingrid geplant?« fragte sie. »Wie? Aber nein. Sie darf nicht wissen, welche Rolle sie spielt, sonst würde sie sich verraten. Sie ist absolut kein Machiavelli-Typ.« »Du kennst sie so gut... von früher her?« »Ja.« Er wurde rot. »Aber was soll das? Heute hat unsere Beziehung streng formellen Charakter — aus den vorhin erwähnten Gründen.« »Ich glaube, du findest immer noch Wege, sie zu demütigen, Charles.« »Unsinn, Mädchen! Laß mich mit solchen albernen Dingen in Ruhe! Ich versuche lediglich, dir deinen Lebenswillen wiederzugeben.« »Damit ich dich unterstützen kann?« »Ja. Ich bin kein Obermensch. Es ist schon lange her, seit mich jemand getröstet hat.« »Meinst du das im Ernst, oder sagst du das nur, weil es deinem Zweck dient?« Chi-Yuen strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Laß nur. Du brauchst mir keine Antwort darauf zu geben. Wir werden füreinander tun, was wir können.«
13 Kein Körper, der noch eine Restmasse besitzt, kann die Lichtgeschwindigkeit ganz erlangen. Immer kleiner wurde der Tempozuwachs, mit dem sich die Leonora Christine diesem unerreichbaren Ziel näherte. So hätte man meinen können, daß sich das Universum, vorn Schiff aus beobachtet, nicht weiter verzerrte. Die Aberration konnte einen Stern im Extremfall um fünfundvierzig Grad versetzen; der Doppler-Effekt verschob zwar die HeckPhotonen beliebig in den Rotbereich, konnte die Frequenzen von vorne aber höchstens verdoppeln. Jedoch, für das umgekehrte Tau gab es keine Grenze, und das war das Maß der Veränderungen im Raum und in der Zeit. Als deshalb das Schiff seinen weiten Bogen um die Hälfte
der Milchstraße beschrieben hatte und auf das Herz der Galaxis zustieß, enthüllte das Periskop eine bizarre Szene. Die nahen Sterne strömten immer schneller vorbei, bis das Auge sie über den Bildschirm wandern sah; denn während sich an Bord die Minuten hinzogen, vergingen draußen Jahre. Der Himmel war nicht mehr schwarz, sondern schimmerte purpurn. Die weiter entfernten Sterne verschmolzen zu zwei Klumpen, gleißendblau am Bug, tiefrot am Heck. Nach und nach verwandelten sich diese Klumpen in Punkte, die immer schwächer wurden; der größte Teil ihrer Strahlung befand sich nun außerhalb des sichtbaren Spektrums. Man hatte das Periskop umgebaut, aber es wurde immer schwieriger, die Verzerrungen auszugleichen. Die Schaltkreise konnten einzelne Sonnen im Abstand von mehreren Parsek einfach nicht mehr unterscheiden. Die Techniker arbeiteten Tag und Nacht an neuen Geräten, damit das Schiff nicht blind durch den Raum taumelte. Boris Fedoroff entdeckte Luis Pereira auf dem Hydroponikdeck. Auf einem der Tanks wurden Algen geerntet. Der Leiter des Biosystems schuftete wie seine Leute. Sie füllten den grünen Schleim in Gefäße um. »Pfui Teufel!« sagte der Ingenieur. Pereiras Zähne blitzten weiß unter dem dunklen Schnurrbart. »Sprechen Sie nicht so verächtlich über das Zeug«, rief er. »In Kürze kommt es auf den Mittagstisch.« »Ich verstehe jetzt voll und ganz, weshalb der Limburger ein so echtes Aroma hat«, sagte Fedoroff. »Darf ich Sie zu einer Besprechung entführen?« »Läßt sich das nicht verschieben? Wir müssen hier fertigmachen, denn wenn einmal Fäulnis einsetzt, ist es um unsere Nahrungsvorräte schlecht bestellt.« Fedoroff war ernst geworden. »Wenn wir Schiffbruch erleiden, brauchen wir nichts mehr zu essen.« »Oh.« Pereira wandte sich an seine Leute: »Macht einstweilen allein weiter!« Er verließ den Tank und wusch sich gründlich unter dem Strahl der Dusche. Ohne sich lange anzuziehen, führte er Fedoroff zu seinem Büro. »Im Vertrauen gesagt, ich bin heilfroh über diese Unterbrechung. Eine scheußliche Arbeit!« »Sie werden weniger froh sein, wenn Sie den Grund hören. Sie bekommen alle Hände voll zu tun.« »Um so besser. Ich überlegte schon, wie ich mein Team ein wenig aufmuntern könnte. Die Hydroponiktanks sind nicht gerade dazu geeignet, echten Korpsgeist zu wecken. Die Jungs werden murren, aber sie brauchen eine neue Beschäftigung.« Sie kamen in die Grünpflanzenabteilung. Blätter rankten sich um die Korridorwände und streiften die Vorübergehenden. Große, leuchtende Früchte hingen im Laub. Man konnte verstehen, weshalb auf diesem Deck noch eine gewisse Fröhlichkeit herrschte. »Foxe-Jameson hat mich verständigt«, erläuterte Fedoroff. »Wir sind jetzt den zentralen galaktischen Nebeln so nahe, daß wir die neuen Instrumente zur Dichte-Messung einsetzen können. Es ist wichtig, exakte Werte zu ermitteln.« »Er? Ich dachte, Nilsson sei dafür verantwortlich.« »War er auch.« Fedoroff preßte die Lippen zusammen. »Der Mann macht uns Kummer. Hat in letzter Zeit nichts Vernünftiges beigetragen und hält uns noch durch kleinliche Streitereien auf. Die übrigen aus der Gruppe, dazu noch ein paar Außenseiter wie Lenkei, versuchen seine Arbeit zu tun.«
»Das ist schlimm.« Pereira war ernst geworden. »Wir hatten uns darauf verlassen, daß Nilsson Navigationsinstrumente für ultratiefe Tauwerte entwirft, nicht wahr?« Fedoroff nickte. »Es wird höchste Zeit, daß er sich wieder fängt. Aber darum geht es heute nicht. Diese Nebelwolken, die vor uns liegen, sind stärker als alles andere, was wir bisher angetroffen haben. Ich bin zwar überzeugt davon, daß wir sie passieren können, möchte aber zur Sicherheit den Rumpf verstärken.« Er machte eine Pause. »Das betrifft auch Ihr Deck. Ein Teil der Installationen wird eine Zeitlang ausfallen, während das Bauteam hier arbeitet. Am besten setzen wir uns zusammen und stellen einen Plan auf, damit die Biozyklen so wenig wie möglich gestört werden.« »Ich verstehe.« Pereira winkte ihn in sein Büro und holte einen Lageplan des Hydroponikdecks herbei. Eine halbe Stunde dauerte es, bis die wichtigsten Dinge geklärt waren. Die Herzlichkeit, die Fedoroff anfangs an den Tag gelegt hatte, verschwand während des Gesprächs. Er gab knappe, beinahe schroffe Antworten. Als Pereira die Zeichnungen und Notizen verstaut hatte, fragte er ruhig: »Sie bekommen in letzter Zeit zu wenig Schlaf?« Der Ingenieur zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit!« »Davon haben Sie keine Augenringe, mein Lieber! Wenn Sie Arbeit sehen, blühen Sie auf. Es geht um Margarita, nicht wahr?« Fedoroff hob den Kopf. »Wie kommen Sie darauf?« Er und Margarita Jimenez lebten seit einigen Monaten zusammen. »Jeder von uns merkt, daß sie einen geheimen Kummer hat.« Fedoroff starrte durch die offene Tür in das üppige Grün der Pflanzen. »Sie weigert sich, Verjüngungsdrogen zu nehmen. Weder Urho Latvala noch ich können sie dazu bewegen. Zweifellos habe ich zu sehr auf sie eingeredet, so daß nun ihr Widerstand erst recht erwacht ist. Sie spricht kaum noch mit mir.« Fedoroffs Stimme klang leise. Er betrachtete immer noch die Blätter draußen. »Ich — ich liebe sie nicht. Ebensowenig wie sie mich. Aber ich habe sie schätzen gelernt und möchte ihr helfen. Die Frage ist nur — wie?« »Sie ist noch jung«, meinte Pereira. »Wahrscheinlich reagiert sie überempfindlich auf alles, was mit Altern und Tod zusammenhängt.« Fedoroff drehte sich um. »Margarita ist nicht dumm. Sie weiß genau, daß die Behandlung in regelmäßigen Abständen erfolgen muß — sonst setzen die Wechseljahre ein halbes Jahrhundert früher als nötig ein. Auf meine Vorhaltungen erklärte sie, daß sie genau das möchte.« »Weshalb?« »Sie will den langsamen Verfall der Biosysteme nicht miterleben. Da sie als strenge Katholikin den Selbstmord verabscheut, muß sie einen erlaubten Tod wählen.« »Ich habe den Verdacht, daß Margarita sich damit selbst etwas vorlügt.« Pereira betrachtete seine Fingernägel. »Ich war eine Zeitlang mit ihr befreundet, bevor sie sich zu einer festen Bindung entschloß. Und ich weiß, daß sie sich ein Spiel daraus machte, Namen für die zahlreichen Söhne und Töchter zu ersinnen, die sie einmal haben wollte. In Wirklichkeit hat sie wohl Angst davor, kinderlos bleiben zu müssen, und beschleunigt unterbewußt den Alterungsprozeß, um von der erzwungenen in eine natürliche Sterilität zu fliehen.« »Glauben Sie?« Der Ingenieur sah Pereira gequält an. »Aber was können wir tun, Luis?«
»Der Kapitän könnte die Behandlung zwangsweise verordnen. Angenommen, wir erreichen irgendwann einen Planeten, dann sind wir auf jede gebärfähige Frau angewiesen ...« »Schon wieder eine Vorschrift!« fuhr Fedoroff auf. »Ich lasse es nicht zu, daß dieser Reymont sie mit Gewalt zum Arzt schleppt.« »Sie sollten Reymont nicht hassen«, meinte Pereira vorwurfsvoll. »Er hat sogar Ähnlichkeit mit Ihnen. Er gibt nicht auf.« »Eines Tages bringe ich ihn um!« »Weshalb? Er versucht die Probleme nur nüchtern und sachlich zu lösen.« »So?« spottete der Ingenieur. »Und was würde er Ihrer Meinung nach in Margaritas Fall tun?« »Oh, ich weiß nicht. Irgend etwas Praktisches. Vielleicht eine Verbesserung der Biosysteme, damit das Schiff auf unbegrenzte Zeit bewohnbar bleibt und Margarita ein oder zwei Kinder haben könnte ...«
14 Die Nebelmassen, die den Kern der Galaxis einhüllten, wirkten schwarz und drohend wie Gewitterwolken. Schon hatte die Leonora Christine ihre Ausläufer erreicht. Die Sonnen rund um das Schiff wurden immer spärlicher. Die Umkehrung von Tau war nun so enorm, daß die Raumdichte keine Gefahr mehr darstellte. Im Gegenteil, die Felder des Bussard-Antriebs nahmen weiterhin Materie auf — und sie mußten sich nicht mehr auf Wasserstoff-Atome beschränken. Die umgerüsteten Selektoren wandelten Gas, Staub und Meteoriten in Antriebsenergie und Reaktionsmasse um. Die kinetische Energie und das Zeitdifferential stiegen schwindelerregend an. Das Schiff jagte wie ein Spuk durch die Sternhaufen. Dennoch zitierte Reymont Nilsson in den Beratungsraum. Ingrid Lindgren hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen. Sie trug eine Uniform. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie hatte Gewicht verloren. Die Kabine dröhnte abnormal laut, und häufig erschütterten Stöße das Deck und die Metallwände. Das Schiff spürte Unregelmäßigkeiten in den Nebelmassen — Stürme, Strömungen, die Strudel der Schöpfung. »Kann das nicht warten, bis wir dieses Stück überwunden haben, Constable?« fragte sie müde. »Ich glaube nicht, Madam«, entgegnete Reymont. »Falls etwas Unvorhergesehenes geschieht, brauchen wir Leute, die davon überzeugt sind, daß sich der Kampf gegen das Universum lohnt.« »Sie beschuldigen also Professor Nilsson, daß er Unzufriedenheit sät. In den Artikeln ist das Recht der freien Meinungsäußerung festgelegt.« Der Astronom plusterte sich auf. »Ich bin Wissenschaftler«, erklärte er gereizt. »Ich habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, den anderen die Augen zu öffnen.«
Ingrid Lindgren betrachtete ihn mißbilligend. Der Anflug eines Bartes bedeckte seine Wangen und das Kinn. Er roch ungewaschen und steckte in einem schmuddeligen Coverall. »Sie haben nicht das Recht, Horrorgeschichten zu verbreiten«, sagte Reymont. »Ist Ihnen noch nie aufgefallen, welche Reaktion Ihre Worte auslösen — vor allem bei den Frauen? Der Vorfall heute in der Messe hat mich zum Einschreiten bewogen, aber ich sehe Ihnen schon eine ganze Weile zu.« »Ich brachte den Leuten nur in Erinnerung, was sie von Anfang an wußten«, erwiderte der feiste Wissenschaftler. »Sie besaßen nicht den Mut, in allen Einzelheiten darüber zu sprechen. Ich schon.« »Sie besaßen nicht die Gemeinheit.« »Keine persönlichen Angriffe«, warf Ingrid ein. »Was hat sich abgespielt?« Sie aß seit kurzem in ihrer Kabine und verbrachte auch ihre Freizeit meist allein. »Wir haben das Thema schon des öfteren angeschnitten.« »Welches Thema?« »Eine elementare Sache«, erklärte Nilsson wichtigtuerisch. »Aber diese Esel nahmen sie nicht ernst. Da wird munter behauptet, wir würden in einer der Virgo-Galaxien zur Ruhe kommen und einen bewohnbaren Planeten finden. Wie denn? Denken Sie an die Voraussetzungen! Masse, Temperatur, Strahlung, Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre ... im günstigsten Fall besitzt ein Prozent der Sonnensysteme Planeten, die erdähnliche Bedingungen aufweisen.« »Nun ...«, begann Ingrid Lindgren, aber Nilsson schien ihren Einwurf gar nicht zu hören. »Das bedeutet, daß wir mindestens fünfzig Sterne untersuchen müssen, um überhaupt eine echte Chance zu bekommen. Man könnte meinen, jeder an Bord wäre zu diesen Berechnungen fähig. Vielleicht haben wir Glück und stoßen gleich bei der ersten Landung auf unsere Nova Terra. Aber die Aussichten stehen eins zu neunundneunzig. Nun erfordert das Landemanöver für jeden Stern eine Abbremsdauer von fast einem Jahr — Schiffszeit wohlgemerkt. Um wieder aufzubrechen und den nächsten Stern zu untersuchen, benötigen wir eine ebenso lange Beschleunigung. Wir müssen also ein Minimum von zwei Jahren pro Stern ansetzen. Das bedeutet hundert Jahre Suche — oder noch mehr, denn vermutlich müssen wir von Zeit zu Zeit die Reaktionsmasse für den Ionenantrieb ergänzen. Verjüngungsdrogen oder nicht — so lange lebt keiner von uns. Deshalb ist das Risiko, das wir eingehen, unser endloses Wandern durch das Universum, völlig umsonst.« »Sie haben die widerliche Eigenschaft, Nilsson, Ihre ermunternden Reden durch die Nase hervorzuquetschen!« fauchte Reymont. »Madam!« keuchte der Astronom. »Das war eine persönliche Beleidigung.« »Ruhe jetzt!« befahl Ingrid Lindgren. »Das gilt für Sie beide. Professor Nilsson, ich muß zugeben, daß Ihre Haltung zur Provokation reizt. Andererseits, Constable, darf ich Sie daran erinnern, daß der Professor einer der hervorragendsten Wissenschaftler ist, welche die Erde je besaß. Er verdient Respekt.« »Wenn er sich dementsprechend benimmt — ja«, entgegnete Reymont. »Aber sehen Sie sich den Mann einmal an! Er wäscht sich nicht einmal.«
»Zügeln Sie Ihre Worte, Constable.« Ingrid Lindgren holte tief Atem. »Sie scheinen nicht zu bedenken, daß wir alle nur Menschen sind. Wir treiben durch Raum und Zeit; die Welt, die wir kannten, ist seit hunderttausend Jahren tot; wir rasen blindlings auf das Herz der Galaxis zu, ohne zu wissen, was uns dort erwartet. Können Sie sich nicht vorstellen, daß so etwas seine Auswirkungen auf die Psyche hat?« »Oh, doch, Madam«, sagte Reymont. »Aber ich kann verlangen, daß die Situation durch das Verhalten einzelner nicht noch verschlimmert wird.« »Darin steckt ein wahrer Kern«, gab Ingrid zu. Nilsson sah gekränkt auf. »Ich wollte den anderen nur die Enttäuschung ersparen«, murmelte er. »Wissen Sie das genau?« Ingrid seufzte. »Aber lassen wir das! Ihre Aussagen entsprechen der Wahrheit, leider.« »Eben nicht«, widersprach Reymont. »Er erreicht sein Prozent, weil er jeden Stern mitzählt. Aber selbstverständlich brauchen wir uns gar nicht erst um rote Zwergsterne oder blaue Gasriesen zu kümmern. Alles, was außerhalb unseres Spektralbereichs liegt, wird ausgesondert. Das erhöht unsere Chancen gewaltig.« »Gut, sagen wir zehn Prozent«, warf Nilsson ein. »Ich bin zwar skeptisch, aber nehmen wir es ruhig einmal an. Das heißt, daß wir etwa fünf Sonnensysteme untersuchen müssen. Zehn Jahre? Eher zwanzig, wenn man alles einbezieht. Selbst die Jüngsten unter uns werden die Blüte ihrer Jugend überschritten haben. Die Zeugungsfähigkeit wird nachlassen; und unsere AusgangsGene sind ohnehin nicht zahlreich. Ich fürchte, daß unsere Rasse aussterben muß, selbst wenn es uns gelingt, einen neuen Planeten zu finden.« Seine Miene verriet Selbstgefälligkeit. »Ich wollte die Gefühle meiner Gefährten nicht verletzen«, sagte er. »Mein Wunsch war es, ihnen zu helfen, sie von der idealistischen Schwärmerei abzubringen, daß wir unsere Rasse in einer neuen Galaxis ansiedeln könnten. Das sind Hirngespinste.« »Haben Sie einen besseren Vorschlag?« fragte Ingrid. Nilssons Wangenmuskel begann zu zucken. »Nein. Aber ich finde mich damit ab, daß wir dieses Schiff nie verlassen werden und stelle meine Lebensweise dementsprechend um.« »Ist das der Grund dafür, daß Sie Ihre Arbeit vernachlässigen?« erkundigte sich Reymont. »Es hat keinen Sinn, Navigationsinstrumente für große Entfernungen zu bauen. Wir kommen doch nicht ans Ziel.« »Ist Ihnen klar, daß den meisten Menschen an Bord nur der Selbstmord bleiben wird, wenn sie Ihre Theorien akzeptieren?« fuhr Reymont fort. »Möglich.« Nilsson zuckte mit den Schultern. »Hassen Sie das Leben so sehr?« Ingrid sah ihn ernst an. Nilsson richtete sich halb auf und ließ sich wieder in den Sessel fallen. Er schluckte. Reymont begann ruhig auf ihn einzureden: »Ich habe Sie nicht hergeholt, um Ihre düsteren Prognosen zu unterbinden. Ich wollte Ihnen eine Frage stellen. Weshalb denken Sie nicht darüber nach, wie man unsere Chancen verbessern könnte?« »Wie denn?« »Eben das möchte ich von Ihnen erfahren. Sie sind der Experte auf dem Gebiet der Astronomie. Ich erinnere mich, daß Sie auf der Erde Programme zur Entdeckung von mehr als
fünfzig Planetensystemen ausarbeiteten. Sie identifizierten Welten über Lichtjahre hinweg und ordneten sie nach Klassen. Weshalb können Sie das nicht auch für uns tun?« Nilsson sprang auf. »Lächerlich! Aber ich sehe, ich muß bei den Grundbegriffen anfangen. Entschuldigen Sie, Madam. Und Sie, Constable, passen Sie genau auf! Zugegeben, mit guten Rauminstrumenten läßt sich ein Objekt von der Größe Jupiters auf eine Entfernung von mehreren Parsek erkennen. Zugegeben, mathematische Analysen und Inferometerstudien erlauben Aussagen über den Sterntyp und die Zahl der Planeten, die ihn umgeben. Aber —« Er fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Reymonts Nase herum — »Sie haben keine Ahnung, wie unsicher diese Ergebnisse sind. Die Journalisten auf der Erde posaunten schnell heraus, daß man einen neuen erdähnlichen Planeten gefunden hatte. In Wirklichkeit war das nur eine Interpretation von vielen. Und diese Zweifel trotz der größten, besten Instrumente, die man bauen konnte! Instrumente, die sich hier an Bord niemals errichten ließen, da sie zuviel Platz beanspruchen. Nein, selbst auf der Erde war der sicherste Weg, Auskünfte über einen Stern zu erhalten, das Aussenden einer Sonde und schließlich einer bemannten Expedition. In unserem Fall gibt es nur die Möglichkeit, das Schiff abzubremsen und den fraglichen Planeten genau zu untersuchen. Und dann weiterzufliegen, davon bin ich überzeugt. Denn Sie dürfen nicht vergessen, daß eine Welt, die wir vielleicht als ideal betrachten, steril sein kann oder eine Biochemie besitzt, die uns den Tod bringt. Ich beschwöre Sie, Constable, befassen Sie sich mehr mit den Naturwissenschaften! Vielleicht sehen Sie dann manches realistischer.« Nilsson warf ihm einen triumphierenden Blick zu. »Professor ...«, warnte Ingrid. Reymont lächelte. »Keine Angst, Madam«, sagte er. »Ich fühle mich durch seine Worte nicht gekränkt.« Er wandte sich an Nilsson. »Ob Sie es glauben oder nicht, mir waren diese Dinge bekannt. Ich wußte auch, daß Sie ein überragender Astronom sind — oder waren. Sie machten Erfindungen und entwarfen Meßverfahren, ohne die ein Großteil der Systeme unentdeckt geblieben wäre. Weshalb setzen Sie Ihren Verstand und Ihr Können nicht zur Lösung unserer Probleme ein?« »Haben Sie einen Vorschlag?« Nilsson lachte spöttisch. »Ich bin kein Wissenschaftler und verstehe auch von technischen Dingen nur das Nötigste«, sagte Reymont. »Aber einiges ist auch mir klar. Angenommen, wir haben eine der Virgo-Galaxien erreicht. Wir besitzen nicht mehr das ultraniedrige Tau, das wir benötigten, um dorthin zu gelangen, aber es ist immer noch sehr klein. Nun, das gibt uns eine hervorragende Basislinie für Beobachtungen. Im Laufe von Wochen oder Monaten Schiffszeit können Sie mehr Daten über einen bestimmten Stern sammeln, als Ihnen das je auf der Erde gelungen wäre. Und natürlich wäre es möglich, mehrere Sterne vom Typ Sol gleichzeitig zu beobachten.« »Zugegeben, doch dann bliebe immer noch die Frage der Atmosphäre und Biosphäre. Um eine Landung kämen wir nicht herum.« »Wirklich nicht? Angenommen, wir schlagen einen Kurs ein, der uns ganz nahe an den vielversprechendsten Sonnen vorbeibringt? Wir haben Stunden oder Tage kosmischer Zeit
zur Verfügung, um alles zu untersuchen, was uns interessiert. Wir bekommen einen guten Begriff von der Oberflächenstruktur und den biologischen Voraussetzungen, während wir uns mit Fast-Lichtgeschwindigkeit dahinbewegen. Wir werden Komputer zur Auswertung der Informationen einsetzen müssen; wir selbst könnten nicht schnell genug arbeiten. Dann, wenn wir die richtige Welt identifiziert haben, kehren wir um und landen. Das wird ein paar Jahre in Anspruch nehmen, zugegeben. Aber es werden erträgliche Jahre sein. Wir werden mit hoher Wahrscheinlichkeit wissen, daß eine neue Heimat auf uns wartet.« Ingrid Lindgrens Augen glänzten mit einemmal. »Du liebe Güte«, flüsterte sie. »Weshalb haben Sie das nicht schon früher erwähnt?« »Ich hatte andere Probleme«, erwiderte Reymont. »Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, Professor Nilsson.« »Das alles ist absurd«, meinte Nilsson unwirsch. »Sie setzen Instrumente voraus, die wir nicht haben.« »Können wir sie nicht bauen? Wir haben Werkzeug, Präzisionsmaschinen, Rohmaterial, geschickte Techniker. Ihr Team hat bereits Fortschritte erzielt.« Er machte eine Pause. »Und es sind Spezialisten an Bord, die Ihnen helfen können. Emma Glassgold und Norbert Williams beispielsweise arbeiten an einem Gerät zur Entdeckung und Analyse von fremdem Leben. Physiker und Elektroniker helfen ihnen dabei. Aber den einzelnen Gruppen fehlt ein Führer, Professor Nilsson, ein Mann mit Erfahrung. Sie wären der geeignete Projektleiter!« Alle Härte war von ihm abgefallen. Seine Stimme wirkte jung und begeistert. Ingrids Blicke streiften ihn bewundernd, dann wanderten sie weiter zu Nilsson. Der Astronom saß zusammengekauert da, ein armseliges Bündel, und zitterte am ganzen Körper. Erschreckt sprang sie auf und beugte sich über ihn. »Fehlt Ihnen etwas?« Er hob nicht einmal den Kopf. »Unmöglich«, murmelte er. »Unmöglich.« »Bestimmt nicht«, sagte sie drängend. »Ich meine, schließlich müssen Sie keine neuen Naturgesetze erfinden. Die Grundprinzipien sind bekannt.« Nilsson vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein Gott, ich besitze nicht mehr den Verstand dazu.« Reymont und Ingrid Lindgren sahen einander an. Die Lippen des Mädchens bewegten sich. Diese Art der Verständigung hatte er ihr beigebracht. Wenn in einer Notsituation das Funkgerät eines Raumanzugs ausfiel, blieb nur die Möglichkeit, durch Mimik auszudrükken, was man sagen wollte. »Können wir ohne ihn auskommen?« »Ich bezweifle es. Die anderen haben bei weitem nicht sein Fachwissen. Zumindest würde seine Mitwirkung das Projekt beschleunigen.« Ingrid legte Nilsson den Arm um die Schultern. »Was quält Sie denn?« fragte sie leise »Ich habe keine Hoffnung«, erwiderte er beinahe schluchzend. »Nichts, wofür ich leben kann.« »Aber das stimmt doch nicht!« »Sie wissen, daß Jane mich vor ein paar Monaten verlassen hat. Keine andere Frau will mich. Weshalb sollte ich noch weitermachen? Welchen Sinn hat so ein Leben?« »Hinter allem steckt also reines Selbstmitleid!« signalisierte ihr Reymont. Ingrid zog die Stirn kraus und schüttelte unmerklich den Kopf.
»Nein, Sie täuschen sich, Elof«, erwiderte sie, immer noch sehr sanft. »Würden wir Sie um Hilfe bitten, wenn wir Sie nicht schätzten?« »Meine Arbeit schätzt ihr, nicht mich.« Er sah sie aus tränenfeuchten Augen an. »Meinen Rat und mein Wissen braucht ihr! Ihr habt Angst vor dem Tod, das ist alles. Seht ihr mich als Mensch? Nein! Der fette alte Nilsson! Er stinkt! Wenn er zu reden anfängt, zieht man sich so bald wie möglich mit einer Ausrede zurück. Man lädt ihn nicht zu Partys ein. Man holt ihn höchstens, wenn ein vierter Mann beim Bridge fehlt oder ein neues Instrument gebaut werden soll. Erwartet ihr, daß er euch dafür die Hand küßt?« »Das ist nicht wahr!« »Oh, halten Sie mich nicht für kindisch und rachsüchtig«, sagte er. »Ich würde helfen, wenn ich nur könnte. Aber mein Gehirn ist ausgebrannt, leer. Ich kann seit Wochen keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nennen Sie es Angst vor dem Tod. Oder eine Art Impotenz. Es ist mir gleich, wie Sie es ausdrücken. Es kümmert sich ohnehin niemand darum. Niemand bietet mir Freundschaft oder Wärme an. Ich bin allein in der Dunkelheit und Kälte. Wundert ihr euch da über meinen Zustand?« Ingrid hatte sich abgewandt, und Reymont konnte nicht erkennen, welche Gefühle sie bei dieser Anklage durchzuckten. Als sie sich wieder über Nilsson beugte, wirkte sie ruhig. »Es tut mir so leid, Elof«, sagte sie. »Aber wer konnte das auch nur ahnen? Sie verhielten sich so abweisend, daß wir dachten, Sie wollten in Ruhe gelassen werden. So wie Olga Sobieski beispielsweise. Sie teilt meine Kabine, aber ich bekomme sie selten zu Gesicht. Als Sie zu Hussein Sadek zogen ...« »Er schließt die Trennwand — immer«, rief er verzweifelt. »Aber sie ist nicht so schalldicht, wie sie sein sollte. Ich höre ihn und die Mädchen, die er mitbringt!« »Nun wissen wir Bescheid.« Ingrid lächelte. »Offen gestanden, Elof, ich habe das Alleinsein allmählich auch satt.« Nilsson gab ein ersticktes Schluchzen von sich. »Ich glaube, wir haben ein paar persönliche Dinge zu besprechen«, fuhr Ingrid fort. »Äh — würden Sie uns bitte allein lassen, Constable?«
15 Die Leonora Christine raste in zwanzigtausend Jahren durch den Kern der Galaxis. Für die Menschen an Bord waren es nur Stunden. Stunden der Angst, in denen der Rumpf unter der Belastung stöhnte und sich aufbäumte; Stunden, in denen die totale Finsternis einem flimmernden Nebel wich, der durch das Licht der dicht zusammengedrängten Sternhaufen erhellt wurde. Das umgekehrte Tau stieg auf Werte, die man nur schätzen, nicht berechnen, und auf gar keinen Fall begreifen konnte. Eine kleine Erholungspause kam, als das Schiff im Zentrum auf eine Region stieß, die frei von Gestirnen war. Kurz nachdem die Leonora Christine sich durch die Nebel jenseits des galaktischen Kerns gequält hatte, rief Boudreau Kapitän Telander und Reymont zu einer Besprechung. Die
schlimmste Hürde war genommen, und man wußte, daß es nur noch Monate dauern konnte, bis das Schiff die Galaxien von Virgo erreicht hatte. In der Messe fand ein kleines Fest statt. Die Klänge von Urho Latvalas Akkordeon drangen schwach bis zu Brücke herauf. »Ich hätte Sie vielleicht nicht stören sollen«, sagte Boudreau. Seine Haut wirkte gelblich und ungesund. »Aber Mohandas Chidambaran brachte mir eben die Berechnungen, die auf den jüngsten Meßergebnissen beruhen. Er fand, daß ich die praktischen Folgen am besten abschätzen könnte — als ob es ein Regelbuch für die intergalaktische Navigation gäbe! Nun sitzt er in seiner Kabine und meditiert. Als ich mich von meinem ersten Schock erholt hatte, hielt ich es für das beste, Sie sofort zu verständigen.« Kapitän Telander hatte die Lippen zusammengepreßt, als bereite er sich auf einen neuen Schlag vor. »Was für Meßergebnisse?« fragte Reymont. »Über die Materieverteilung im Raum vor uns«, erklärte Boudreau. »Die Instrumente, die unter Nilssons Leitung gebaut wurden, zeigen unerhört genau an.« »Und was haben Sie in Erfahrung gebracht?« Boudreau holte tief Atem. »Die Gaskonzentration nimmt langsamer ab als wir erwartet hatten. Mit dem Tau, das wir vermutlich haben, wenn die Milchstraße hinter uns liegt, können wir es immer noch nicht wagen, die Kraftfelder auszuschalten.« Telander schloß die Augen. »Wir haben diese Möglichkeit in Betracht gezogen.« Reymont sprach stockend. Die Narbe auf seiner Stirn schillerte bläulich. »Deshalb wollen ja Fedoroff und Pereira die Biosysteme verbessern.« Er sah Boudreau forschend an. »Aber Sie scheinen einen anderen Vorschlag zu haben.« Der Navigator nickte und sagte mit leidenschaftsloser Stimme: »Schon vor Jahrhunderten erkannten die Astronomen, daß die Galaxisgruppen oder -familien nicht die höchste Ordnung im Raum darstellen. Sie wiederum sind zusammengefaßt zu einer Art Superfamilie .. .« »Sagen Sie Sippe!« warf Reymont mit einem rauhen Lachen ein. »Gut, meinetwegen. Eine Sippe umschließt mehrere Familien. Nun beträgt die durchschnittliche Entfernung zwischen Mitgliedern einer Familie etwa eine Million Lichtjahre. Den Abstand zwischen den Familien schätzt man auf fünfzig Millionen Lichtjahre.« Reymont nickte. »Und Sie wollen nun nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Sternsippe verlassen und die nächste ansteuern. Wie groß ist die Entfernung?« »Ich kann es nicht sagen. Darüber gibt es keine Aufzeichnungen.« Boudreau spreizte die Hände. »Etwa sechzig Millionen Lichtjahre von hier entfernt läßt die Konzentration der galaktischen Verbände abrupt nach. Bis zu den nächsten dichteren Regionen spannt sich eine weite Kluft. Chidambaran schätzt den Abstand auf hundert Millionen Lichtjahre oder etwas weniger. Natürlich kommt der Raum zwischen den Sternsippen so nahe an ein perfektes Vakuum heran, daß wir keine Abschirmfelder benötigen werden.« »Und ist eine vernünftige Navigation in diesen Gebieten möglich?« fragte Reymont scharf.
Schweißperlen glänzten auf Boudreaus Stirn. »Sie haben das Risiko erkannt«, gab er zu. »Wir stoßen tiefer in das Unbekannte vor, als wir uns je hätten träumen lassen. An präzise Peilungen ist nicht zu denken. Wir werden ein Tau benötigen, das ...« »Einen Moment«, unterbrach ihn Reymont. »Darf ich die Situation einmal ganz laienhaft umreißen? Ich möchte sichergehen, daß ich Sie richtig verstanden habe.« Er horchte einen Moment lang auf die Akkordeonklänge, dann fuhr er fort: »Wir müssen in den freien Raum zwischen zwei Sternsippen gelangen. Um die immense Strecke in verhältnismäßig kurzer Zeit zurückzulegen, ist es nötig, Tau auf ein Milliardstel oder noch tiefer zu senken. Schaffen wir das? Offensichtlich, sonst hätten Sie den Plan nicht vorgeschlagen. Vermutlich werden Sie den Kurs so legen, daß wir möglichst viele Galaxien durchqueren, bevor wir den Raum zwischen den Sternsippen ansteuern und unser Schiff reparieren. Wenn das geschehen ist, ergibt sich eine neue Schwierigkeit. Da unser Tau so niedrig und der Raum so völlig frei von Materie ist, haben wir keine Möglichkeit, das Schiff zu steuern. Wir müssen hoffen, daß wir eine weitere Galaxis passieren. Die Statistik spricht dafür, daß der Plan gelingt. Aber es kann sehr lange dauern, bis wir ans Ziel kommen.«
16 Johann Freiwald brachte Emma Glassgold ein Teil, das er nach ihren Angaben gefertigt hatte. Wie vorgeschlagen, arbeitete sie mit Norbert Williams an der Entwicklung von Detektoren, mit deren Hilfe man auf große Entfernungen fremdes Leben analysieren konnte. Der Maschinist beobachtete die Biologin unauffällig. Sie hantierte mit ihren Glaskolben und ätzenden Flüssigkeiten und summte dabei vor sich hin, als backe sie einen Geburtstagskuchen. »Vielen Dank.« Emma strahlte ihn an. »Sie sehen so glücklich aus«, meinte Freiwald. »Weshalb?« »Weshalb nicht?« Er machte eine heftige Handbewegung. »Das fragen Sie noch?« »Nun ... die Sache mit den Virgo-Galaxien war natürlich eine Enttäuschung. Aber Norbert und ich ...« Sie stockte und errötete. »Wir haben hier eine faszinierende Aufgabe, eine echte Herausforderung, und ihm sind bereits ein paar brillante Einfälle gekommen.« Sie sah Freiwald mit hochgezogenen Brauen an. »In einer so düsteren Stimmung habe ich Sie noch nie erlebt. Wo bleibt Ihr Humor?« »Heute verlassen wir die Galaxis«, sagte er. »Für immer.« »Aber Sie wußten ...« »Ja. Ich weiß auch, daß ich eines Tages sterben muß, ebenso wie Jane. Das macht die Sache nicht leichter.« Der große blonde Mann fragte plötzlich beschwörend: »Glauben Sie, daß wir je anhalten werden?« »Ich kann es nicht sagen«, erwiderte Emma. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tätschelte ihm die Schulter. »Es fiel mir nicht leicht, mich mit der Ungewißheit abzufinden. Aber mit Gottes Hilfe habe ich es geschafft. Ich glaube, ich kann jetzt alles akzeptieren, was auf uns zukommt. Sicher gelingt Ihnen das auch noch, Johann.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte er. »Es ist so dunkel da draußen. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich als erwachsener Mensch vor der Dunkelheit fürchten würde.« Die Sonnen der Milchstraße wurden kleiner und verblaßten. Weit vorne tauchten neue Galaxien auf, wie hauchdünne Schleier. Das Tempo der Leonora Christine stieg immer noch, nicht so rasch wie in den Regionen mit dichter Gaskonzentration, aber rasch genug, um sie in wenigen Wochen zur nächsten Galaxis zu tragen. Nilsson, der auf astronomischem Gebiet mit seinem Team Wunderdinge vollbrachte, entdeckte eines Tages mit Hilfe eines neuen Bildkonverters, daß in dem dunklen Abgrund vereinzelte Sterne trieben. Er wußte nicht, ob sie sich vor Jahrmillionen von ihren Muttergalaxien losgerissen hatten oder tatsächlich in dieser Leere entstanden waren. An einem der Gestirne, einem roten Zwerg, sehr viel älter als die Sonne, kamen sie verhältnismäßig nahe vorbei; die Instrumente zeigten an, daß es Planeten besitzen mußte. Es war ein unheimlicher Gedanke: diese eisigen Schattenweiten, deren Nächte nie von einem Stern erhellt wurden,.. Als er mit Ingrid darüber sprach, riet sie ihm, den anderen nichts davon zu erzählen. Nilsson vergötterte Ingrid. Sie bedeutete ihm Trost und Halt. Und so erschreckte es ihn, als er eines Abends ihre gemeinsame Kabine betrat und die melancholischen Lautenklänge hörte, mit denen sie sich selbst begleitete. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und betrachtete ein Familienfoto. Nach einiger Zeit erkannte Nilsson die Melodie. Es war die Schönberg-Vertonung von Jacobsens Gurre-Liedern. Der Ruf von Waidemars Mannen klang auf: Ein Gruß sei, König, dir dargebracht! Am Gurresee tobet jetzt die Jagd. Von stranglosem Bogen wir Pfeile schicken, Mit Augen zielend, die nicht mehr blicken, Und schlagen mit Wunden des Hirschen Schatten, Das Wasser sickert wie Blut auf die Matten Aasgeier trug Der schwarze Zug. Und Blätter umschäumen des Pferdes Bug. So werden wir jagen, hat mancher gesagt, Bis zu des Jüngsten Tages Jagd. Holla Pferd und holla Hunde, Haltet ein für kurze Stunde! Hier das Schloß, wie es immer war; Lokis Hafer fresse das Pferd, Ruhm ist dem Manne als Kost nur gewährt. Sie wollte mit der nächsten Strophe fortfahren, Waidemars Lied an die verstorbene Geliebte; aber sie zögerte und sang dann gleich die Schlußverse: Krähend hebt jetzt der Hahn den Kopf, Hai schon Tag im Leibe, Und von den Schwertern tröpfelt rot Wie Rost der Morgentau.
Unsere Zeit ist vorbei! Offnen Mundes das Grab uns ruft, Und lichtscheuen Schrecken saugt die Erde ein. Sinket, sinket! Leben kommt mit Glanz und Macht, Mit Taten und klopfenden Herzen, Für uns der Tod, Kummer und Tod, Schmerzen und Tod. Ins Grab! Ins Grab! Zu traumesschwangerer Ruh — Oh könnten wir Frieden finden! Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann sagte Nilsson: »Das geht zu nahe, Liebling.« Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war blaß vor Müdigkeit. »Ich konnte es nicht vor den anderen singen«, erwiderte sie. Besorgt setzte er sich neben sie und fragte: »Glaubst du wirklich, daß wir uns auf dem Geisterritt der Verdammten befinden? Das wußte ich nicht.« »Ich versuche es in mir zu verschließen.« Sie starrte vor sich hin. Ihre Finger spielten mit den Saiten. »Manchmal — wir sind jetzt etwa eine Million Jahre unterwegs, nicht wahr?« Er legte den Arm um sie. »Was kann ich nur tun, um dir zu helfen, Ingrid?« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich schulde dir soviel. Du hast mich wieder zu einem Menschen gemacht.« Er schluckte. »Natürlich habe ich meine Fehler. Ich sehe nicht gut aus und bin alles andere als gewandt. Manchmal vergesse ich sogar, dir ein guter Partner zu sein.« »Laß doch, Elof!« »Wenn du nicht mehr zufrieden mit mir bist — oder Abwechslung brauchst. ..« »Bitte nicht.« Sie legte die Laute weg. »Wir müssen mit diesem Schiff einen Hafen finden, etwas anderes zählt im Moment nicht.« Er starrte sie entsetzt an, doch bevor er fragen konnte, was sie meinte, küßte sie ihn lächelnd und sagte: »Spannen wir ein wenig aus! Ich glaube, du kannst doch etwas für mich tun, Elof. Hol unsere Schnapsrationen und lade ein paar junge, fröhliche Leute ein — Luis und Maria vielleicht. Wir wollen die düstere Stimmung vertreiben, ja?« Die Leonora Christine erreichte die nächste Galaxis. Sie wählte den Weg durch die Äquatorialebene, wo sich Gas und Sternenstaub dicht zusammendrängten. Heftiger als je zuvor wurde der Rumpf durchgeschüttelt. Kapitän Telander stand auf der Brücke. Er konnte nicht viel tun. Vor dem Bug erstreckte sich der Spiralarm wie eine blausilbern schimmernde Straße. Gelegentlich tauchten Riesensterne so nahe auf, daß sie sich in den nun umgebauten Schirmen zeigten, verzerrt durch den Geschwindigkeitseffekt, der sie vorbeiwirbelte wie Funken. Gelegentlich hüllten dichte Nebel das Schiff in völlige Nacht oder in das grelle Leuchten heißer neugeborener Sternfeuer.
Lenkei und Barrios waren dann die Männer, auf die es ankam. Sie steuerten die Leonora Christine manuell durch die Gefahrenzonen. Navigator Boudreau und Erster Ingenieur Fedoroff standen per Interkom mit ihnen in Verbindung, aber in der Hauptsache mußten sich die beiden auf ihren Instinkt verlassen. Donner grollte durch das Schiff, und heftige Stöße erschütterten es. In den Labors wurden zerbrechliche Apparaturen weggepackt; immer wieder erlosch das Licht, und fluchende, schwitzende Männer mußten mit Taschenlampen die Schadensquelle aufspüren und reparieren. Aber der Kurs wurde beibehalten. Und die Leonora Christine schaffte es. Sie tauchte aus den Gas- und Staubmassen auf und glitt auf den intergalaktischen Raum zu. »Man Dieu«, flüsterte Boudreau, »ich hätte es nicht für möglich gehalten. Aber wir sind durch! In etwa einem Monat können wir mit den Reparaturen am Außenrumpf beginnen.« »Gut«, sagte Telander tonlos. Dunkelheit. Absolute Nacht. Die menschlichen Sinne fanden nichts, nichts. »Wir sind tot.« Fedoroff s Worte hallten in den Kopfhörern wider. »Ich fühle mich recht lebendig«, entgegnete Reymont. »Was ist der Tod anderes als die endgültige Isolation? Keine Sonne, keine Sterne, kein Laut, kein Gewicht, kein Schatten...« Fedoroff atmete rasselnd. Seine Helmlampe warf einen winzigen Lichtteich auf den Schiffsrumpf. »Los, weiter!« drängte Reymont. »Sie haben mir gar nichts zu befehlen«, erklärte der Ingenieur. »Was wissen Sie schon von Bussard-Antrieben? Und weshalb sind Sie überhaupt mitgekommen?« »Weil ich geübt im freien Fall bin und Sie nicht genug Helfer haben können. Ich weiß, daß die Zeit knapp ist. Aber das scheint ihr Schwachköpfe nicht zu begreifen.« »Wir haben eine Ewigkeit vor uns«, spottete Fedoroff. »Vergessen Sie nicht, wir sind tot!« »Wir werden tot sein, wenn wir ohne Abschirmfelder auf irgendeine Masse-Konzentration stoßen«, entgegnete Reymont. »Sind Sie absolut sicher, Fedoroff, daß keine EmbryoGalaxis ... Familie ... Sippe auf uns zukommt? Irgendeine riesige Wasserstoffwolke, noch dunkel, schwach ... aber im Wachsen begriffen?« Fedoroff lachte, aber er verließ die Schleuse. Angeseilt folgten ihm die Männer, eine Geisterschar. Sie schwebten mit ihren unförmigen Anzügen den Rumpf entlang, vorbei am Spinnennetz der hydromagnetischen Generatoren. Unendlich dünn und zerbrechlich sahen die Spreizen im Licht der Helmlampen aus. Es gab keinen Hintergrund. Man stellte sich den Raum allgemein als schwarz vor. Aber nun erinnerten sich die Techniker, daß er von Sternen erfüllt gewesen war. Licht hatte den Kosmos durchdrungen. Den inneren Kosmos . .. »Und wenn wir das Bremssystem nicht reparieren können?« fragte eine Stimme. »Schweben wir dann weiter? Und was geschieht mit uns? Ich meine, verändern sich die Naturgesetze am Rande des Universums?«
»Der Raum ist isotrop«, fauchte Reymont in das Dunkel. »Der Rand des Universums — Blödsinn! Und ihr könnt etwas erleben, wenn es euch nicht gelingt, diese verdammte Maschine zu reparieren!« Er hörte ein paar Flüche und lachte hart. Als die Männer ihre Sicherungsleinen an den Verstrebungen des Ionen-Antriebs befestigten, kam Fedoroff zu ihm. »Danke, Constable«, sagte er. »Wofür?« »Daß Sie ein so nüchterner Bursche sind.« »Nun, wir haben einen nüchternen Job vor uns. Außerdem wollten wir uns nicht so idiotisch ernst nehmen. Auch wenn wir einen weiten Weg zurückgelegt haben und unsere Rasse längst ausgestorben ist, läßt sich nicht leugnen, daß wir eigentlich von ganz ordinären Affen abstammen.« »Hm. Ich begreife, weshalb Ingrid Lindgren darauf bestanden hat, Sie mitzuschicken.« Fedoroff räusperte sich. »Äh — was ich sagen wollte ...« »Ja.« »Damals war ich wütend über die Art, mit der Sie Ingrid behandelten. Und ich fühlte mich gedemütigt. Aber ich finde, man sollte über diese Dinge hinwegkommen.« »Sprechen wir nicht mehr darüber.« »Ich begreife jetzt, daß es für Sie auch schlimm gewesen sein muß. Ingrid hat uns beide verlassen. Sicher hatte sie ihre Gründe dafür. Aber könnten wir nicht wieder Freunde sein, Charles?«
17 Ein schwacher Lichtschimmer machte sich bemerkbar; er breitete sich aus, bis er den halben Himmel erfüllte. Je näher das Schiff kam, desto deutlicher wurde die Aufgliederung der neuen Sternsippe in Familien und Galaxien. Man glaubte, daß die Gruppe an die dreihundert Millionen Lichtjahre von Sol entfernt war. Aber es gab keine Karten für diese Tiefen und keine Vergleichsmaßstäbe. Die Freude über die geglückte Reparatur des Bremssystems hatte nicht lange angehalten. Denn hier draußen konnte man weder beschleunigen noch abbremsen. Die Materieverteilung war einfach zu dünn. Wochenlang mußte deshalb das Schiff auf einem Kurs dahintreiben, der mehr als unsicher war. An Bord herrschte Schwerelosigkeit. Man hatte überlegt, ob man durch Lateralschub einen gewissen Spin und damit eine Pseudo-Schwerkraft erzeugen sollte, aber die Radial- und Corioliskräfte hätten sich zu stark ausgewirkt. Die Schiffsbewohner mußten die Wochen ertragen. Draußen vergingen inzwischen geologische Zeitalter. Reymont schloß erschöpft die Kabinentür hinter sich. Er hatte erwartet, daß Ai-Ling zu dieser Zeit schlafen würde, aber sie schwebte wach ein paar Zentimeter über dem Bett, nur mit einem dünnen Gurt gesichert. Als er eintrat, schaltete sie den
Leseschirm aus. »Du auch?« fragte er. »Was?« Ihr Lächeln wirkte besorgt. In letzter Zeit hatten sie kaum noch Kontakt miteinander. Die veränderten Umstände forderten seinen ganzen Einsatz. »Findest du in der Schwerelosigkeit keinen Schlaf?« »Oh doch. Ich träume zwar viel und schrecke leicht hoch, aber ich fühle mich am Morgen durchaus erfrischt.« »Das ist gut.« Er seufzte. »Dr. Latvala hat mir zwei neue Fälle gemeldet.« »Von Schlaflosigkeit?« »Ja. Verbunden mit einer Art Nervenzusammenbruch. Die Leute leiden unter Alpträumen. Ich weiß nicht, ob die Schwerelosigkeit der Auslöser oder nur der letzte Anstoß ist. Dr. Latvala ist ratlos. Er hat keine Psychodrogen mehr.« »Wie lange geht das noch so weiter, Charles?« »Wer weiß? Von morgen an sollen die Kraftfelder vom Schiffsgenerator betrieben werden. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls wir rascher als vermutet auf Materie stoßen. Es heißt, daß wir die Ausläufer der neuen Sternsippe in etwa einer Woche erreichen werden.« Sie wirkte erleichtert. »Das läßt sich ertragen. Und dann machen wir uns auf die Suche nach einer neuen Heimat?« »Ich hoffe es.« Reymont begann sich auszuziehen. »Was heißt das?« fragte Ai-Ling scharf. »Hör mal«, erwiderte er erschöpft, »du kennst die Probleme, die sich durch die unzureichenden Instrumente ergeben. Herrgott, wir haben eben keine Sicherheit!« »Entschuldige ...« »Kann man den Offizieren die Schuld zuschieben, wenn die Passagiere sich nicht um die Berichte kümmern, die ständig herausgegeben werden?« Er schrie jetzt. »Einige von euch spielen schon wieder verrückt. Sie verschließen die Augen vor dem großen bösen Universum. Macht doch, was ihr wollt! Die ganze Bande! Aber hackt nicht immer auf mir herum! Verstanden?« Er warf sich auf das Bett und schnallte den Sicherheitsgurt um. Ai-Ling beugte sich über ihn. »Oh, Liebling«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid. Du bist müde, nicht wahr?« »Meine Nerven lassen allmählich nach.« »Kein Wunder.« Sie zeichnete die harten Linien seiner Wangenknochen nach. »Warum schläfst du nicht?« »Ich möchte ja.« Er schloß die Augen. »Ai-Ling ... du kennst Iwasaki ziemlich gut. Glaubst du, er kommt ohne Beruhigungsmittel aus? Der Doktor und ich waren nicht ganz sicher.« »Pst!« Sie legte ihm den Finger auf den Mund. »Nichts mehr davon.« »Aber...« »Nein, ich lasse es nicht zu. Das Schiff bricht nicht in Stücke, wenn du mal eine Nacht durchschläfst.«
»Hm ... vielleicht nicht.« »So, und nun mach die Augen zu! Denke nur an angenehme Dinge! An unsere neue Heimat. Blauen Himmel. Eine warme helle Sonne. Licht, das sich auf dem Fluß spiegelt und das Laub durchdringt. Vogelgesang . , .« Er atmete gleichmäßiger. Ai-Ling strich ihm sanft über die Stirn. Ein Klicken in der Lautsprecheranlage. »Constable«, hörte man Kapitän Telanders Stimme, »Sind Sie hier?« Reymont war sofort hellwach. »Jawohl, Sir.« »Könnten Sie auf die Brücke kommen? Ohne die anderen zu verständigen?« »Aye, aye.« Reymont hatte den Sicherheitsgurt gelöst und schlüpfte bereits in seine Kleider. »Nicht einmal fünf Minuten Schlaf gönnen sie dir«, sagte Chi-Yuen bitter. »Es muß wichtig sein.« Mit raschen Bewegungen machte er sich fertig und verließ die Kabine. Telander und Professor Nilsson erwarteten ihn auf der Brücke. Der Kapitän war leichenblaß, und auch der Astronom verbarg nur mühsam seine Erregung. Er umklammerte einen Notizblock. »Navigationsschwierigkeiten?« fragte Reymont. »Aber wo ist Boudreau?« »Die Angelegenheit betrifft ihn nicht direkt«, entgegnete Nilsson. »Es geht um die Auswertung der Daten, die ich mit Hilfe meiner neuesten Instrumente gewonnen habe. Ich bin zu einem — äh — entmutigenden Ergebnis gekommen.« Reymont umklammerte ein Haltekabel. »Wir schaffen es nicht bis zu den neuen Galaxien?« fragte er vorsichtig. Telander nickte in dumpfer Verzweiflung, aber Nilsson machte eine abwehrende Geste. »Wir schaffen es — daran besteht gar kein Zweifel.« »Aber...« »Aber wir haben hier im intergalaktischen Raum keine Möglichkeit, den Kurs zu ändern. Das Schiff wird einen ganz bestimmten Sektor der Galaxiensippe durchdringen ...« »... und die Materiedichte in diesem Sektor reicht nicht aus, um es abzubremsen?« »Richtig.« Nilsson nickte. »Vergessen Sie nicht, unser Weg hat durch das Zentrum von zwei Galaxien geführt. Unser umgekehrtes Tau ist riesig. Wenn wir nach dem Abbremsmanöver die Galaxiensippe verlassen und wieder in den materiefreien Raum vorstoßen, beträgt es vielleicht zehn hoch minus drei oder vier. Sie wissen selbst, was das bedeutet: Mit diesem Wert gelingt es uns nicht, die Entfernung bis zur nächsten Galaxiengruppe zu überwinden, bevor wir an Altersschwäche sterben.« Die salbungsvolle Stimme brach ab. Nilsson warf Reymont einen beinahe triumphierenden Blick zu. Aber dem Constable war der Triumph des Wissenschaftlers noch lieber als die völlige Niedergeschlagenheit Telanders. »Weshalb erzählen Sie mir das und nicht dem Ersten Offizier?« fragte er. Einen Moment lang machte die Zärtlichkeit einen anderen Menschen aus Nilsson. »Ingrid sorgt sich ohnehin schon zu sehr. Was könnte sie hier tun? Ich hielt es für das beste, sie schlafen zu lassen.«
»Nun, und was kann ich tun?« »Wir brauchen — Ihren Rat«, sagte Telander. »Aber, Sir, Sie sind der Kapitän.« »Wirklich, Carl? Gewiß, ich kümmere mich um die Routinedinge und erteile immer noch die Befehle.« Er streckte die Hände aus, und sie zitterten wie welke Blätter im Herbst. »Aber zu mehr bin ich nicht fähig, Carl. Ich besitze keine Kraft mehr. Sie müssen den anderen die Wahrheit sagen.« »Die Wahrheit — daß alles umsonst war?« rief Reymont. »Daß wir in diesem Gefängnis weiterfliegen müssen, bis wir wahnsinnig werden und sterben? Sie verlangen viel von mir, Käpten.« »Ganz so schlimm sieht es vielleicht nicht aus«, warf Nilsson ein. Reymont wirbelte herum. Es sah so aus, als wollte er dem dicken Wissenschaftler an die Kehle springen. Aber er beherrschte sich. »Es besteht noch Hoffnung?« fragte er heiser. »Vielleicht.« Nilsson sprach jetzt rasch. »Ich habe keine Daten. Die Entfernungen sind zu groß. Aber ich gründe meine Hoffnungen auf das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Irgendwo werden wir schließlich auf die richtige Konfiguration stoßen — eine besonders weit ausgedehnte Galaxiensippe oder eine Reihe kleinerer, die wir nacheinander durchqueren können.« »Wie stehen die Chancen?« fragte Reymont knapp. »Ich weiß es nicht.« Nilsson schüttelte den Kopf. »Ich verstehe. Wir benötigen also ein Tau, das niedrig genug ist, um uns in Jahren oder Monaten durch den gesamten Kosmos zu tragen. Und das wiederum heißt, daß wir in der Galaxiensippe, die vor uns liegt, nicht abbremsen können, sondern erneut zur Beschleunigung gezwungen sind. Nur das gibt uns eine Überlebenschance.« Telanders Lippen zuckten. »Können wir das noch ertragen?« »Wir müssen«, stellte Reymont fest. Er hatte sich wieder ganz in der Hand. »Ich werde versuchen, den Leuten schonend die Wahrheit beizubringen. Zum Glück hatten wir auch diese Möglichkeit ins Auge gefaßt. Das erleichtert die Sache. Und dann stellen wir ein Trainingsprogramm auf. Es wäre doch gelacht, wenn wir diesen Zivilisten nicht beibringen könnten, wie man sich in der Schwerelosigkeit bewegt. Und schläft. Und hofft, bei Gott!« Er ballte die Fäuste.
18 »Nein — so nicht — paß auf!« Margarita Jimenez verfehlte den Haltegriff, prallte hart gegen die Metallwand und trudelte hilflos dahin. Boris Fedoroff stieß sich in ihre Richtung ab. Er brauchte keine Berechnung dazu. Sein Körper reagierte unterbewußt, völlig automatisch. Sie befanden sich in einem leeren Frachtraum, der selten benutzt wurde. Ein kaltes, bläuliches Licht umgab sie. Fedoroff hatte seine Partnerin hierhergebracht, um ihr ein paar Lek
tionen über die Fortbewegung bei null g zu erteilen. Sie erzielte in dem Kurs, den Ingrid Lindgren abhielt, kaum Fortschritte. Die dunklen Locken klebten ihr in der Stirn, und Schweiß glänzte auf ihrer nackten Haut. »Entspannen, sage ich!« rief Fedoroff. »Das mußt du zuallererst lernen.« Er nahm sie an der Taille und wirbelte sie herum. Plötzlich übergab sich Margarita. Es kam für Fedoroff völlig unerwartet, denn er hatte ihr vor der Übungsstunde eine Pille gegen die Raumkrankheit gegeben. Der erste Schwall traf ihn mitten ins Gesicht. Dann umfaßte er Margarita von hinten und bugsierte sie auf ein leeres Regal zu, wo sie sich festhalten konnte. Endlich war der Anfall vorüber. »Fühlst du dich besser?« fragte er besorgt. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich muß mich waschen. Dieser ekelhafte Geruch ...« »Ja, ja, wir suchen ein Bad. Warte hier! Aber halte dich gut fest! Ich bin gleich wieder da.« Fedoroff stieß sich ab. Er mußte die Ventilatoren schließen, bevor sich das Zeug in der Belüftungsanlage verteilte. Den Laderaum säuberte er wohl am besten selbst mit einem Vakuumsauger. Wenn er jemanden von der Besatzung damit beauftragte, entstanden vielleicht die wildesten Gerüchte ... Fedoroff preßte die Lippen zusammen. Er wirbelte herum und kehrte zu Margarita zurück. Obwohl sie immer noch schneeweiß war, hatte sie ihre Bewegungen jetzt unter Kontrolle. »Es tut mir entsetzlich leid, Boris«, flüsterte sie. »Sonst wage ich mich nicht so weit von einer Toilette weg.« »Seit wann hast du diese Anfälle?« fragte er hart. Sie zuckte zusammen, und er mußte sie auffangen, damit sie nicht davontrieb. Er umklammerte ihr Handgelenk. »Wann war deine letzte Periode?« »Das weißt du doch ...« »Du hättest mich ebensogut belügen können. Besonders, da ich in letzter Zeit eine Menge Arbeit hatte. Margarita, sag mir die Wahrheit!« Er schüttelte sie, und sie schrie auf. Abrupt ließ er sie los. Sie pendelte durch den Raum, und er holte sie wieder zu sich heran. »Ich wollte dir nicht weh tun«, keuchte er. »Vor drei Monaten«, gestand sie schluchzend. Er ließ sie weinen. Ungeschickt strich er ihr über das feuchte Haar. Dann brachte er sie in ein Bad. Sie rieben sich gründlich sauber, bis auch der letzte Geruch verflogen war. Margarita zitterte vor Kälte. Fedoroff warf die Schwämme in den Wäschereischacht und schaltete den Warmlufttrockner ein. Als er merkte, daß sie sich einigermaßen erholt hatte, fragte er ernst: »Also schön — wie konnte das geschehen? Ich dachte, die Empfängnisverhütung stünde unter ärztlicher Kontrolle.« Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Ihre Antwort kam leise, kaum hörbar. »Ja. Einmal jährlich bekommt jede von uns eine Spritze.« »Und — hast du den Zeitpunkt diesmal versäumt?«
»Nein. Ich suchte Dr. Latvala zum fälligen Termin auf, denn es ist peinlich, wenn er eine der Frauen erinnern muß. Er war nicht in seinem Sprechzimmer — wahrscheinlich bei einem Kranken. Aber unsere Karten lagen auf dem Schreibtisch. Ich blätterte sie durch. Jane war offenbar kurz vor mir dagewesen — aus dem gleichen Grund. Plötzlich nahm ich seinen Stift in die Hand und hakte meinen Namen auf der Liste ab. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Danach schlich ich mich weg wie eine Diebin.« »Weshalb hast du ihm die Sache später nicht gebeichtet? Du weißt doch, daß er für alles Verständnis zeigt.« Sie setzte eine trotzige Miene auf. »Warum? Wenn er mich vergißt...« Fedoroff umklammerte mit hartem Griff ihr Handgelenk. »Nun nimm aber Vernunft an!« fauchte er. »Latvala schindet sich halb zu Tode — für uns! Und du nützt das auch noch aus!« Ihr Trotz verstärkte sich. »Du hast mir Kinder versprochen.« »Nun — ja, natürlich, aber doch erst, sobald wir einen Planeten erreicht haben ...« »Und wenn wir keinen Planeten finden? Was dann? Kannst du nicht die Biosysteme verbessern? Du warst fest dazu entschlossen.« »Nilssons Instrumente nahmen meine ganze Zeit in Anspruch. Außerdem würde so ein Projekt Jahre dauern.« »Ein oder zwei Babys machen doch nicht viel Unterschied für das Schiff — dieses verdammte Schiff — aber für uns bedeuten sie so viel ...« Er kam auf sie zu. Sie riß die Augen weit auf. »Nein!« schrie sie. »Ich weiß genau, was du vorhast. Du bekommst mein Kind nicht. Du darfst es nicht töten. Es ist von dir! Wenn du mir das Baby nimmst, bringe ich dich um! Alle bringe ich um!« »Ruhe!« brüllte er sie an. Er zog sich ein Stück zurück. Margarita umklammerte schluchzend die Halteleine. »Ich werde gar nichts tun. Wir sprechen mit dem Constable.« Er schwebte auf die Tür zu. »Warte hier! Und nimm dich zusammen! Denk darüber nach, wie du dich verteidigen willst. Ich hole uns ein paar Kleider.« Auf dem Weg in die Kabine bat er per Interkom kurz um eine Unterredung mit Reymont. Er wechselte kein Wort mit Margarita. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, nahm sie plötzlich seine Hände und sagte beschwörend: »Boris, unser Kind — du darfst nicht — Ostern kommt doch bald ...« »Beruhige dich!« Er schnallte ihr den Sicherheitsgurt um und reichte ihr eine Plastikflasche mit Tequila. »Das hilft vielleicht. Aber trink nicht zu viel! Du wirst deinen klaren Verstand brauchen.« Der Türgong schlug an. Fedoroff ließ Reymont ein. »Trinken Sie einen Schluck, Charles?« fragte der Ingenieur. »Erst die Probleme«, entgegnete Reymont. Seine Miene war ausdruckslos. »Margarita erwartet ein Kind.« Reymont zuckte zusammen. Er hielt sich am Bettgestänge fest. »Bitte ...«, begann Margarita. Reymont winkte ab. »Wie konnte das passieren?« fragte er leise. Fedoroff mußte es schließlich erklären, da sie immer wieder von Schluchzen geschüttelt wurde.
»Ich verstehe«, sagte Reymont. »Aber weshalb haben Sie mich geholt? Das ist ein Fall für den Ersten Offizier. Ich kann Sie höchstens wegen eines schweren Verstoßes gegen die Vorschriften verhaften.« »Ich ... ich dachte, wie seien Freunde, Charles«, sagte Fedoroff. »Meine Verantwortung gehört dem ganzen Schiff«, erwiderte Reymont ausdruckslos. »Ich kann nicht zulassen, daß jemand durch seinen Egoismus das Leben der anderen gefährdet.« »Ein winziges Baby?« Margarita sah ihn aus tränenverquollenen Augen an. »Es gibt viele Frauen an Bord, die sich Kinder wünschen.« »Müssen wir denn ewig warten?« »Zumindest scheint es ratsam, so lange zu warten, bis wir mehr über unsere Zukunft wissen. Ein Kind, das hier draußen geboren wird, hat vielleicht ein kurzes Leben und einen grausamen Tod.« Margarita verkrampfte die Hände über dem Leib. »Ihr bringt mein Kind nicht um! Das dürft ihr nicht!« »Ruhe!« fauchte der Constable sie an. Sie schwieg. Reymont sah Fedoroff an. »Was sagen Sie dazu?« Langsam zog sich der Russe zurück, bis er neben seiner Partnerin schwebte. Er zog sie an sich und erklärte: »Abtreibung ist Mord. Das hier hätte vielleicht nicht geschehen sollen, aber ich glaube nicht, daß meine Schiffsgefährten Mörder sind. Ich werde das Kind mit meinem Leben verteidigen.« »Nun .. .« Reymont wandte den Blick ab. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie mich rufen ließen.« »Ich weiß, was Sie vermögen«, erwiderte Fedoroff. »Ingrid wird dieses Leben erhalten wollen. Aber dazu braucht sie vielleicht Ihren Rat und Ihre Unterstützung.« »Hm.« Reymont trommelte mit den Fingern gegen die Metallwand. »Eigentlich ist es nicht das Schlimmste für uns«, meinte er nach einigem Nachdenken. »Vielleicht können wir sogar einen Gewinn daraus ziehen ... wenn wir es als Mißgeschick, als Versehen hinstellen und nicht als Absicht. In gewisser Hinsicht stimmt das sogar; Margarita handelte im Kurzschluß ... wie so viele. Hm. Angenommen, wir lockern die Bestimmungen in dieser Richtung und erlauben eine beschränkte Anzahl von Geburten. Ich bezweifle, daß sich unter den gegebenen Umständen viele Frauen bewerben werden. Aber kleine Kinder verbreiten Optimismus — und sie stärken den Wunsch zum Überleben.« Margarita wollte ihn umarmen. Sie lachte und weinte zugleich. Er schob sie Fedoroff zu und sagte: »Sorgen Sie dafür, daß sie sich beruhigt. Ich werde mit dem Ersten Ingenieur sprechen. Später beraten wir gemeinsam über die Angelegenheit. Und bewahren Sie Stillschweigen!« »Sie nehmen die Sache kühl auf«, meinte Fedoroff. »Wie sonst?« Reymonts Antwort klang gereizt. »Durch die verdammte Gefühlsduselei ist schon viel verdorben worden. Zuviel!« Einen Moment lang legte er die Maske ab. Seine Züge verrieten Erschöpfung. Dann riß er die Tür auf und schlängelte sich in den Korridor hinaus.
Boudreau starrte durch das Periskop. Die Galaxis, die vor ihnen lag, zeigte sich als bläulichweißer Schleier auf dunklem Hintergrund. Stirnrunzelnd richtete sich der Navigator auf und wanderte über das Deck. Sie passierten eben wieder eine Galaxienfamilie, so daß die Schwerelosigkeit für kurze Zeit aufgehoben war. »Da stimmt etwas nicht«, sagte er. »Ich weiß es; ich habe sie alle beobachtet.« »Sie meinen die Farbe?« fragte Foxe-Jameson. Boudreau hatte den Astrophysiker gebeten, zu ihm auf die Brücke zu kommen. »Die Wellenlänge erscheint Ihnen zu niedrig für unsere Geschwindigkeit? Das hat in der Hauptsache mit der Ausdehnung des Raumes zu tun, Auguste. Die Hubble-Konstante. Wir überholen galaktische Gruppen, deren Geschwindigkeit in bezug auf unseren Ausgangspunkt immer stärker zunimmt, je weiter wir reisen. Ganz praktisch übrigens,, sonst würde uns der Doppler-Effekt mehr Gamma-Strahlung liefern, als das Schiff abschirmen könnte.« »Soviel ist mir klar.« Boudreau stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischkante und betrachtete seine Aufzeichnungen. »Aber ich sage Ihnen, ich habe jede Galaxis studiert, die wir durchquerten oder an der wir in Beobachtungsreichweite vorbeikamen. Ich kenne die verschiedenen Typen. Und ganz allmählich verändern sie sich.« Er deutete auf das Periskop. »Dort drüben beispielsweise, das ist die unregelmäßige Form der Magellanschen Wolken. Sie müßte eine hohe Anzahl von blauen Gasriesen besitzen. Aber ich sehe keine. Auch die Spektren, soweit ich sie interpretieren kann, weichen immer stärker von der Norm ab.« Er sah Foxe-Jameson an. »Malcolm, was geht hier vor?« Der Astrophysiker lachte leise. »Ach, du liebe Güte! Ist das alles, was Sie bedrückt? Für uns Profis ist diese Erscheinung so selbstverständlich, daß wir sie gar nicht erwähnten. Überlegen Sie doch!« Foxe-Jameson setzte sich auf die Schreibtischplatte. »Die Sterne machen einen Entwicklungsprozeß durch. Mit Hilfe von thermonuklearen Reaktionen bilden sie schwerere Elemente als Wasserstoff. Wenn sie so groß sind, daß sie am Ende ihrer Evolution als Supernovae explodieren, verteilt sich etwas von ihrer Substanz wieder im interstellaren Medium. Ein wichtigerer Vorgang, wenn auch weniger spektakulär, ist jedoch das Abgeben von Masse durch die vielen kleinen Sterne, wenn sie sich im Stadium des Erlöschens befinden. Neue Sterngenerationen kondensieren sich aus diesem angereicherten Medium, und der Prozeß wiederholt sich. Im Laufe der Zeitalter bekommt man einen wachsenden Anteil von stark metallhaltigen Sonnen. Das wiederum beeinflußt das Gesamtspektrum. Aber natürlich gibt jeder Stern nur einen Bruchteil der Substanz ab, aus der er geformt ist. Der Rest bleibt für immer in den Gestirnen eingeschlossen, bis auf den absoluten Nullpunkt erstarrt. So erschöpft sich das interstellare Medium. Der Raum zwischen den Galaxien wird ärmer an Materie. Es bilden sich immer weniger Sterne.« Er deutete zum Bug. »Schließlich erreicht man einen Punkt, wo kaum noch eine Kontraktion möglich ist. Die heißen, kurzlebigen blauen Riesensterne erschöpfen ihre Energie und haben keine Nachfolger. Lediglich die schwachen roten M-Typen glimmen noch eine Weile — an die hundert Gigajahre. Ich nehme an, die Galaxis, die vor uns liegt, ist noch nicht ganz soweit. Aber sie steuert hin.« Er klopfte dem Navigator freundlich auf die Schulter. »Vergessen Sie nicht, wir haben jetzt an die dreihundert Mega-Parsek zurückgelegt. Das entspricht etwa einer Milliarde von Jahren. Da muß man einfach mit Veränderungen rechnen.«
Boudreau bekreuzigte sich, zum erstenmal seit seiner frühen Jugend. »Heißt das, daß wir den Alterungsprozeß des Universums sehen können?« flüsterte er. »Störe ich?« fragte Ai-Ling schüchtern, als Ingrid Lindgren die Tür öffnete. »Ich hörte, daß Sie allein seien.« Sie betrat das Besprechungszimmer. »Aber nein. Nehmen Sie Platz, Ai-Ling!« Ingrid setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, der übersät von Zetteln und Notizen war. Die Kabine dröhnte und zitterte bei der unregelmäßigen Beschleunigung. Noch ein Tag, dann würde die Schwerelosigkeit wieder einsetzen. Chi-Yuen trug einen hübschen roten Kasack und weiße Hosen. Sie hatte ihr Haar zu einer ungewohnt strengen Frisur aufgesteckt. Neben ihr wirkte Ingrid zerzaust, fast schlampig. »Was schreiben Sie, wenn ich fragen darf?« begann Ai-Ling das Gespräch. »Eine Predigt«, seufzte Ingrid. »Nicht leicht. Ich habe kein Talent dafür.« »Sie — eine Predigt?« Ingrids linker Mundwinkel zuckte leicht. »Eigentlich die Ansprache des Kapitäns zum Johannisfest. Die Gottesdienste kann er noch abhalten. Aber diesmal bat er mich, äh, die Truppen in seinem Namen zu inspirieren.« »Er ist ein kranker Mann, nicht wahr?« fragte Ai-Ling leise. »Ja. Ich hoffe, Sie behalten das für sich — obwohl die anderen es ahnen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Last der Verantwortung ist zuviel für ihn.« Ai-Ling nickte. In ihren Augen stand Mitgefühl. »Glauben Sie, daß es richtig ist, diese Feier abzuhalten?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Ingrid erschöpft. »Ich weiß es wirklich nicht.« Einen Moment lang starrten ihre blauen Augen ins Leere. »Der Constable meint, daß es besser sei, an den Traditionen festzuhalten. Es beweist, daß wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, daß Margaritas ungeborenes Kind eine Heimat finden wird. Wir wollen Gott eine neue Welt abtrotzen. Wenn Gott noch etwas bedeutet. Vielleicht lasse ich die Religion ganz beiseite. Carl nannte keine Einzelheiten. Nur die Grundzüge. Ich soll die beste Rednerin an Bord sein. Ich! Das zeigt, wie tief wir gesunken sind, nicht wahr?« Sie winkte nervös ab. »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belästigen.« »Sie gehen uns alle an, Madam«, erwiderte Ai-Ling. »Nennen Sie mich Ingrid. Und — ich möchte Ihnen einmal danken. Sie sind in Ihrer ruhigen Art eine der Schlüsselpersonen an Bord. Ein Garten des Friedens ...« Ingrid verschränkte die Arme. »Was kann ich für Sie tun?« Chi-Yuens Blicke musterten die Schreibtischplatte. »Es geht um Charles.« Ingrid schwieg. »Er braucht Hilfe.« »Hat er nicht die Unterstützung von Freiwald und den anderen?« »Wer außer ihm hält sie in Schwung? Wer hält uns alle in Schwung — auch Sie, Ingrid? Sie sind von ihm abhängig.«
»Gewiß.« Ihre Stimme stockte. »Vielleicht hat er es nie erwähnt, aber es ist auch so offensichtlich. Wir tragen einander nichts nach. Ich wünsche ihm das Beste.« »Ingrid, er braucht Sie. Er ist erschöpft. Erschöpft und völlig auf sich gestellt.« »Das entspricht seiner Natur.« »Vielleicht. Aber bedenken Sie, was er auf dieser Reise alles sein mußte! Feuer, Peitsche, Antrieb ... Das hält kein Mensch durch. Ich habe ihn in letzter Zeit beobachtet, wenn er schläft. Seine Abwehrkräfte sind aufgebraucht. Er kann nicht mehr. Manchmal redet er im Traum.« Ingrid Lindgren sah an ihr vorbei. »Was können wir für ihn tun?« »Geben Sie ihm einen Teil seiner Kraft zurück. Sie allein sind dazu fähig.« Die Chinesin hob den Kopf. »Sehen Sie, er liebt Sie.« Ingrid stand auf und ging nervös hin und her. »Ich habe mir geschworen, Nilsson nicht im Stich zu lassen. Es ist meine Pflicht — ihm und dem Schiff gegenüber. Und ihn zu belügen? Ein einzigesmal, nie wieder ...« Es klang wie ein Schluchzen. »Außerdem würde Carl sich weigern.« Chi-Yuen erhob sich ebenfalls. »Haben Sie heute nacht Zeit?« »Was? Ich sagte doch, es ist unmöglich. Ja, ich habe Zeit, aber es geht nicht. Bitte, lassen Sie mich allein.« »Kommen Sie mit!« Ai-Ling nahm sie an der Hand. »Was kann es für einen Skandal geben, wenn Sie uns beide in der Kabine besuchen?« Die blonde Schwedin folgte ihr wortlos. Die Kabine war leer. Ai-Ling hatte die Betten auseinandergeschoben. »Er wird bald kommen«, sagte sie. »Er weiß nichts. Es ist mein Geschenk an ihn. Eine Nacht zumindest. Zeigen Sie ihm, daß sich Ihre Gefühle nicht geändert haben.« Bevor Ingrid antworten konnte, hatte sie die Trennwand heruntergelassen.
19 »Bitte«, hatte Jane Sadler ihn angefleht. »Sie müssen ihm helfen!« »Schaffen Sie es nicht?« fragte Reymont. Sie schüttelte den Kopf. »Meine Gegenwart macht alles viel schlimmer. Er sorgt sich um mich. Verstehen Sie?« »Nun, ich bin kein Psychologe«, sagte er. »Aber ich will sehen, was ich tun kann.« Er verließ die Nische mit den Zwergbäumen und Blütenzweigen, in der er sich ausgeruht hatte. Er fand auf dem Hy-droponikdeck echte Entspannung, aber ihm fiel auf, daß die anderen selten hierherkamen. Hatten sie Angst vor den Erinnerungen? Ein Stoß ging durch das Schiff. Abrupt hörte die Schwerelosigkeit auf, und Reymont wäre um ein Haar gestürzt. Aber dann war es wieder vorbei. Die Leonora Christine hatte die nächste Galaxis durchquert. Würde das nie ein Ende nehmen? Würden sie nie auf die richtige Konfiguration treffen?
Konnte es sein, daß sich Nilsson, Chidambaran und Foxe-Jameson verrechnet hatten? Und verbrachten sie deshalb ganze Nächte im Observatorium, um dann mit sorgenvollen, zerquälten Mienen aufzutauchen? Sie redeten kaum ein Wort, so vertieft waren sie in ihre Probleme. Reymont betrat Johann Freiwalds Kabine. Der Maschinist schwebte ein paar Zentimeter über dem Bett, nur von einer Sicherungsleine festgehalten. Er starrte mit leerem Blick vor sich hin. »Ah, da sind Sie ja«, begrüßte Reymont den blonden Hünen. »Ich hörte, daß Sie sich nicht wohl fühlen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Freiwald gab keine Antwort. »Es ist wichtig, daß Sie sich bald wieder erholen«, fuhr der Constable fort. »Sie sind mein bester Mann. Ich brauche Sie dringend.« »Sie werden auf mich verzichten müssen«, stieß Freiwald mühsam hervor. »Weshalb? Was ist denn los?« »Ich kann nicht mehr.« »Das begreife ich nicht«, entgegnete Reymont. »Sie verrichten doch keine schwere körperliche Arbeit. Außerdem sind Sie kräftig. Und die Schwerelosigkeit hat Ihnen nie etwas ausgemacht.« »Aber ich bin kein Roboter!« schrie der Deutsche ihm entgegen. »Ich bin ein Mensch, und irgendwann fange ich zu denken an.« »Mein Lieber, wenn unsere Wissenschaftler nicht Tag und Nacht gedacht hätten, wären wir jetzt nicht mehr am Leben.« »Ich meine nicht Ihre verdammten Messungen und Rechenexempel! Das ist reiner Selbsterhaltungstrieb. Ein Hummer, der aus dem Siedekessel zu kriechen versucht, hat die gleiche Würde wie diese Leute. Was machen wir hier draußen? Welchen Sinn hat es?« »Sie also auch«, murmelte Reymont. Freiwald drehte sich herum, bis er Reymont in die Augen sehen konnte. »Sie sind doch so hart im Nehmen! Wissen Sie, welches Jahr wir haben?« »Nein! Und Sie auch nicht. Die Daten sind zu unsicher.« »Das sagt ihr immer. Fünfzig Milliarden Lichtjahre haben wir zurückgelegt. Wir beschreiben einen Bogen durch das Universum. Wenn wir heute zur Milchstraße zurückkehrten, würden wir sie nicht mehr erkennen. Ein paar kümmerliche, blasse Zwergsterne, die dem Ende entgegensiechen. Die Erde — tot! Die Sonne — tot! Unsere Rasse — längst tot!« »Aber wir leben«, unterbrach ihn Reymont. »Und solange wir leben, haben wir Hoffnung. Was wollen Sie mehr? Unserer Reise eine große philosophische Bedeutung geben? Vergessen Sie es! Das wäre Luxus. Dafür haben sicher unsere Nachkommen gesorgt, mit Epen über unseren Heroismus. Schweiß, Tränen und Blut — das ist unser Anteil. Und was soll schlimm daran sein? Ich finde den Hummerinstinkt, den Sie so verachten, gar nicht schlecht. Ich bin sogar froh, daß wir ihn besitzen.« Freiwald schwieg. Reymont begab sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will unsere Probleme nicht verniedlichen«, sagte er. »Es ist schwer, Galaxis um Galaxis zu durchqueren. Unser ärgster Feind ist die Verzweiflung. Hin und wieder packt sie jeden von uns.«
»Nicht Sie«, entgegnete Freiwald. »Oh doch«, widersprach Reymont. »Mich auch. Aber ich lande immer wieder auf beiden Beinen. Ihnen wird es ebenso ergehen.« Der Maschinist schien sich ein wenig zu entspannen. »Vielleicht.« »Bestimmt. Ich brauche Sie, Johann. Ohne Ihre Unterstützung bin ich hilflos.« Er zog etwas aus der Tasche. »Und damit Sie sich schneller erholen, habe ich Ihnen eine Medizin mitgebracht.« Er hielt eine Flasche mit zwei Saugenden hoch. »Echter Scotch. Nicht das schlabberige Zeug, das die Skandinavier dafür halten. Ich verschreibe uns beiden eine kräftige Dosis, ja? Und dann unterhalten wir uns in aller Ruhe.« Allmählich wich Freiwalds Niedergeschlagenheit. Reymont wollte eben Jane holen, als sich Ingrid Lindgren per Interkom meldete. »Ist der Constable hier?« »Äh, ja«, erwiderte Freiwald. Ingrids Stimme klang erleichtert. »Carl, könntest du auf die Brücke kommen?« »Ist es dringend?« »N-nein, eigentlich nicht. Die neuesten Meßergebnisse scheinen auf weitere Veränderungen im Raum hinzudeuten. Vielleicht müssen wir unseren Kurs umstellen.« »Also gut.« Reymont zuckte bedauernd mit den Schultern. »Tut mir leid, Johann.« »Mir auch.« Der Maschinist warf einen wehmütigen Blick auf die Flasche. »Die können Sie behalten«, meinte Reymont lachend. »Aber geben Sie Jane etwas davon! Es ist trostlos, sich allein zu betrinken.« Auf dem Kommandodeck war es still und leer. Ingrid Lindgren umklammerte mit beiden Händen den Sockel des Periskops. Als sie sich umdrehte, sah er, daß sie schneeweiß war. Er schloß die Tür hinter sich. »Was gibt es?« fragte er leise. »Die anderen wissen nicht, daß du hier bist?« »Nein, natürlich nicht. Was ist vorgefallen?« Sie wollte sprechen und konnte nicht. »Kommt noch jemand zu dieser Besprechung?« fragte Reymont. Sie schüttelte den Kopf. Er ließ sich bis zu ihr gleiten, hakte einen Fuß um ein Geländer und nahm sie in die Arme. Sie vergrub den Kopf an seiner Schulter. »Elof ... und Auguste Boudreau ... haben mir Bescheid gesagt. Außer ihnen wissen es nur Malcolm und Mohandas. Sie baten mich ... den Kapitän zu verständigen. Sie haben Angst davor. Genau wie ich.« Ihre Nägel gruben sich in seinen Arm. »Carl, was sollen wir tun?« Er streichelte sie wortlos. Erst als er spürte, daß sich ihre verkrampfte Haltung lockerte, fragte er: »Was hat sich ereignet, älskling?« »Das Universum — das ganze Universum — stirbt.« Er würgte und brachte keinen Ton hervor. Sie fuhr verzweifelt fort: »Wir haben unendliche Entfernungen überbrückt. Im Raum und in der Zeit. Mehr als hundert Milliarden Jahre. Die Astronomen vermuteten es schon eine ganze Weile. Die Galaxien, auf die wir zutreiben, leuchten immer schwächer. Alte Sterne erlöschen, ohne daß neue geboren werden.
Die Männer waren nicht sicher. Aber sie begannen zu überlegen, ob wir vielleicht den Weg, den das Schiff zurückgelegt hatte, unterschätzten. Sie berechneten die Dopplerverschiebungen besonders sorgfältig. Und sie kamen zu dem Schluß, daß die Erscheinung nicht allein durch ein niedriges Tau erklärt werden konnte. Ein weiterer Faktor mußte eine Rolle spielen. Die Galaxien drängen zusammen. Das Gas wird komprimiert. Der Raum dehnt sich nicht mehr aus. Er hat seine Grenzen erreicht und fällt jetzt nach innen zusammen. Elof sagt, daß dieser Prozeß andauern wird. Bis zum Ende.« »Und wir?« fragte er. »Wer weiß? Die Zahlen sagen, daß wir nicht anhalten können. Oh, das Bremsmanöver ließe sich einleiten, gewiß. Aber bis wir zum Stillstand kämen, wäre nichts mehr übrig ... außer Schwärze, ausgebrannten Sonnen, Kälte und Tod.« »Das wollen wir nicht.« Er merkte selbst, wie sinnlos diese Antwort klang. »Nein. Was wollen wir?« Merkwürdig, daß sie nicht weinte. »Ich meine — Carl, sollten wir nicht gute Nacht sagen? Alle. Ein letztes Fest mit Wein und Kerzenlicht. Und danach suchen wir unsere Kabinen auf. Wir haben Morphium. Oh, Carl, wir sind so müde. Der Schlaf wird uns guttun.« Reymont zog sie wieder an sich. »Hast du je Moby Dick gelesen?« flüsterte sie. »Das sind wir. Wir haben den Weißen Wal verfolgt. Bis ans Ende der Zeiten. Und nun — diese Frage. Was ist der Mensch, daß er Gott überleben sollte?« Reymont schob sie sanft zur Seite und warf einen Blick durch das Periskop. Eine Galaxis glitt vorbei, groß und deutlich. Sie hatte eine chaotische Form. Ihre Struktur war zerrissen. Sie schimmerte in einem stumpfen, kalten Rot, das sich an den Rändern vertiefte. Dann war sie verschwunden. Das Schiff durchpflügte die nächste, stampfend, sich aufbäumend. »Nein!« sagte Reymont mit zusammengebissenen Zähnen. »Nein!«
20 »... und wir können nicht anhalten, bevor das Universum stirbt«, beendete Ingrid Lindgren ihre Rede. Hochaufgerichtet stand sie neben Reymont auf dem Podium. Er hatte eine wolfsgraue Uniform angezogen und seine Automatik umgeschnallt. Das Schiff schaukelte und schwankte unter den ständigen Beschleunigungsstößen. Die Zuhörer rührten sich nicht. Nur Kapitän Telander vergrub das Gesicht in den Händen. Ingrid holte tief Atem. »Der Constable hat euch noch etwas zu sagen«, verkündete sie. Er trat vor. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, aber der Blick hatte nichts von seiner Festigkeit verloren. »Ich weiß, was ihr denkt«, begann er ruhig. »Das ist das Ende. Wir haben versagt. Und ihr möchtet in Ruhe gelassen werden und Frieden mit euch oder eurem Gott schließen. Nun,
ich rate euch nicht ab davon. Ich weiß selbst nicht, was aus uns wird. Niemand kann es vorhersagen. Aber ich sage in aller Offenheit, daß unsere Chancen erbärmlich schlecht stehen. Dennoch möchte ich nicht aufgeben. Ich finde, wir haben eine Pflicht gegenüber der Rasse, die uns zeugte, und gegenüber den Kindern, die wir gezeugt haben — die Pflicht, bis zum Ende durchzuhalten. Für die meisten von euch bedeutet das: weiterleben wie bisher, die Nerven behalten wie bisher. Ich weiß, wie entsetzlich schwer das ist. Die Mannschaft und die Spezialisten unter den Wissenschaftlern werden sich obendrein um das Schiff kümmern und es auf die kommenden Ereignisse vorbereiten müssen. Das bedeutet übermenschliche Anstrengungen. So schließt euren Frieden. Inneren Frieden. Der Kampf gegen das Universum geht weiter.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich schlage vor, daß wir den nächsten Zyklus des Kosmos abwarten.« Ein wilder Aufruhr brach los. Reymont wartete eine Zeitlang, dann feuerte er einen Schuß ab. »Besser als ein Hammer«, sagte er mit einem harten Grinsen, als die Menge entsetzt schwieg. »Natürlich sprach ich vorher mit den Experten. Sie sind der Meinung, daß wir das Risiko wagen sollten. Zu verlieren haben wir ohnehin nichts. Aber ich möchte auch Ihre Ansichten hören. Ihre Kommentare. Ah, unser Physiker meldet sich zu Wort. Bitte, Mr. Ben-Zvi!« Der Wissenschaftler räusperte sich und sagte dann mit beinahe empörter Stimme: »Die Expansion des Universums hat etwa zwei Milliarden Jahre in Anspruch genommmen. Der Zusammenbruch wird sich kaum in einer kürzeren Spanne vollziehen. Glauben Sie allen Ernstes, daß wir ein Tau erreichen können, das uns den Zyklus überleben läßt?« »Ich glaube allen Ernstes, daß wir es versuchen sollten«, erwiderte Reymont. »Je dichter die Materie wird, desto stärker beschleunigen wir. Der Raum selbst zieht sich immer mehr zusammen. Professor Chidambaran meint, daß wir das schrumpfende Universum umkreisen könnten.« Mohandas erhob sich. »Das ist richtig. Wir müssen sowohl die Zeit als auch den Raum in Betracht ziehen. Die Charakteristika des gesamten Kontinuums werden sich radikal ändern. Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß die exponentielle Verkleinerung des Faktors Tau in bezug auf die Schiffszeit noch zunehmen dürfte.« Er machte eine Pause. »Grob geschätzt würde ich sagen, daß die subjektive Spanne von jetzt bis zum Zusammenbruch des Universums unter den gegebenen Umständen etwa drei Monate beträgt.« Atemlose Stille. Reymont ergriff wieder das Wort. »Niemand weiß, wie sich dieser Zusammenbruch abspielen wird. Aber ich glaube nicht, daß sich Masse und Energie zu einem einzigen dichten Nukleus zusammenziehen und dann explodieren. Diese Art von Vereinfachung hilft uns zwar in der Mathematik weiter, entspricht jedoch selten den Tatsachen. Meiner Meinung nach wird der Massekern auch noch kurz vor der Detonation eine dichte Wasserstoffhülle besitzen, die einen Großteil der Hitze und Strahlung abschirmt. Wenn das der Fall ist, kann die Leonora Christine den Nukleus umkreisen. Sobald die Detonation erfolgt und der Raum sich wieder auszudehnen beginnt, beschreiben wir eine Spirale nach außen.« Er holte tief Atem. »Wir können nicht leugnen, daß die Geschehnisse, die auf uns zukommen, ehr
furchtgebietend sind. Aber im Grunde gilt das für alle Dinge. Der Kelch einer Blume kann ebenso geheimnisvoll und zauberhaft sein wie ein fremder Stern.« Andere meldeten sich zur Diskussion. Dann redeten alle durcheinander. Als Reymont und Ingrid die Versammlung schließlich aufhoben, waren sie selbst einem Zusammenbruch nahe.
21 Margaritas Tochter wurde in der Nacht geboren. Stürme schüttelten das Schiff durch. Donner grollte. Fluchend und schwitzend verstärkte ein Technikerteam unter Fedoroff s Aufsicht die Rumpfplatten. Der erste Schrei des Babys war die Antwort auf das Tosen der einstürzenden Welten. Dann ließ die Hektik etwas nach. Die Wissenschaftler sammelten Daten über die fremden Kräfte, die durch die Lichtjahre fegten. Immer häufiger gelang es, den Strudeln und Strömungen auszuweichen. Jane Sadler hatte in einer Ecke des Turnsaals alles für eine rauschende Party hergerichtet. Die gedämpfte Beleuchtung betonte die schaurige Halloween-Dekoration, die sie gewählt hatte. »Erinnert das nicht zu stark an die Erde?« fragte Reymont, der mit Chi-Yuen gekommen war. »Aber nein!« lachte Jane. »Es entspricht genau unserer Situation. Ein Heer von Hexen. Geistern und Teufeln, die über den Himmel jagen und ihren Schwarzen Sabbat feiern.« Man gab ihr lärmend recht. Fedoroff wurde schließlich zum Oberteufel gekürt und auf einen improvisierten Thron geschleppt. Andere faßten sich an den Armen und grölten ein Lied, das schon alt gewesen war, als das Schiff die Erde verließ. »Oh, es ist egal, wo ich lande nach dem Tod, Oh, es ist egal, wo ich lande nach dem Tod, Ob im Himmel oder in der Hölle, Meine Freunde sind überall zur Stelle. Oh, es ist egal, wo ich lande nach dem Tod.« Michael O´Donnell schob sich durch die Menge. »He, Boris ...«, rief er, aber er wurde niedergeschrien. »Oh, du brauchst kein Geld, wo du landest nach dem Tod. Denn St. Peter an der Pforte Nimmt dich auch für gute Worte. Oh, du brauchst kein Geld, wo du landest nach dem Tod.« Er erreichte den Thron. »He, Boris! Gratuliere!« »Du sollst mein altes Fahrrad erben nach dem Tod, Denn den letzten Kilometer Fahr‘ ich Tandem mit St. Peter!«
»Wie soll das Kind heißen?« fragte O´Donnell. »Und mein Kartenspiel, das nehm' ich mit in den Tod ...« »Weiß ich noch nicht.« Fedoroff schwenkte die Flasche. »Ganz bestimmt nicht Eva.« »Embla vielleicht«, schlug Ingrid vor. »Die erste Frau in der Edda.« »Wenn ich pokern darf wie hier, Verdien‘ ich mir das himmlische Bier.« »Das auch nicht«, erklärte Fedoroff. »Ebensowenig wie Leonora Christine. Sie soll kein Symbol werden, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Die Sänger stellten sich im Kreis um ihn auf. »Oh, wer weiß, ob es Schnaps gibt nach dem Tod. Oh, wer weift, ob es Schnaps gibt nach dem Tod. Darum hoch die Gläser, Leute, Wir besaufen uns heute. Oh, wer weiß, ob es Schnaps gibt nach dem Tod.« Chidambaran und Foxe-Jameson erhoben sich, als Kapitän Telander eintrat. »Was gibt es?« fragte er angstvoll. »Wir hatten den letzten Monat Ruhe ...« »Damit ist es vorbei«, erwiderte Foxe-Jameson, aber es klang triumphierend. »Elof holt Ingrid persönlich her. Kommen Sie, Sir! Sie sollen es als erster erfahren.« Er deutete auf den riesigen Beobachtungsschirm, den Nilsson aufgebaut hatte. Telander folgte ihm gleichmütig. »Was haben Sie gefunden?« Chidambaran nahm ihn am Ellbogen und deutete. »Da! Sehen Sie?« Ganz schwach zeichnete sich ein Funke in der Dunkelheit ab. »Ein gutes Stück weg natürlich«, erklärte Foxe Jameson. »Wir halten einen Respektabstand ein.« »Was ist das?« fragte Telander. »Der Keim des neuen Universums«, erwiderte Chidambaran. »Der Nukleus.« Telander starrte den Schirm lange Zeit an. Dann sank er in die Knie. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Herr im Himmel, ich danke Dir!« Die Leonora Christine bäumte sich auf. Flammenbünde zuckten um ihren Rumpf, ein Feuersturm, der nicht enden wollte. Die Schöpfung hatte begonnen. Als die Gewalt der Detonation verebbte und die Urkräfte sich beruhigt hatten, setzte an Bord des winzigen Menschenschiffes das Bremsmanöver ein.
22 Reymont warf einen Blick auf den Bildschirm des Observatoriums. »Die galaktischen Gruppen hängen noch dicht zusammen. Wasserstoffnebel, die meisten von ihnen. Habt ihr mich deshalb rufen lassen?«
Boudreau und Nilsson sahen einander an und grinsten. »Nein«, erwiderte Boudreau. »Aber die ersten Meßergebnisse sind ausgewertet. Wir wollten Ihre Meinung dazu hören.« Reymont versteifte sich. »Lars Telander ist der Kapitän.« »Ja, ja. Niemand nimmt ihm diesen Posten, besonders, seit er seinen Kampfgeist wiedergefunden hat. Aber seien Sie realistisch, Charles! Ihr Wort gilt hier an Bord. Sie wissen was Sie der Mannschaft bedeuten.« Reymont verschränkte die Arme. »Also, was gibt es?« Nilsson setzte seine Dozentenmiene auf. »Sie wissen vielleicht — nein, bestimmt, denn der Vorschlag stammte von Ihnen — daß wir die Wege der Plasmamassen durch die Magnetfelder des Universums verfolgten, um die Richtung von Materie und Antimaterie festzustellen. Im Laufe dieser Untersuchungen nun sammelten wir eine Unmenge von Daten, die uns zu erstaunlichen Erkenntnissen verhalfen. Hier nun das Wesentliche: Der Kosmos ist neu und in gewisser Weise ungeordnet. Die endgültige Aufteilung der Materie hat noch nicht stattgefunden. In kurzer Entfernung von uns befinden sich Materiekomplexe — Galaxien und Proto-Galaxien — jeder nur erdenklichen Geschwindigkeit. Diese Tatsache läßt sich zu unserem Vorteil ausnützen. Wir haben die Möglichkeit, die Galaxis, in der wir leben wollen, frei zu wählen, ebenso das Entwicklungsstadium, in dem sie sich befindet. Natürlich gibt es gewisse Grenzen. So können wir keine Galaxis ansteuern, die bei unserer Ankunft jünger als eine Milliarde und älter als fünfzehn Milliarden Jahre ist. Aber sonst steht uns die Wahl frei. Und — wie wir uns auch entscheiden, die maximale Annäherung beträgt ein paar Wochen.« Reymont schüttelte fassungslos den Kopf. »Oh doch«, sagte Nilsson eifrig. »Wenn wir die Geschwindigkeiten aufeinander abstimmen ...« »Ich verstehe schon«, murmelte Reymont. »Aber ich muß mich erst daran gewöhnen, daß wir auch einmal Glück haben.« »Es geht jetzt darum, daß wir uns auf ein Ziel einigen«, sagte Boudreau eifrig. »So rasch wie möglich. Auf eine Volksbefragung können wir uns nicht einlassen, weil jede Stunde zählt. Unsere Auswahl verringert sich ständig. Wir haben Sie hergeholt, damit Sie die Wahl treffen. Der Kapitän wird Ihren Vorschlag annehmen, und die Passagiere betrachten Ihre Meinung ohnehin als Gebot. Das wissen Sie.« Reymont ging nachdenklich auf und ab. Seine Stiefel dröhnten über das Deck. Über seiner Nasenwurzel stand eine steile Falte. Schließlich wandte er sich an Boudreau und Nilsson. »Wir brauchen mehr als eine Galaxis«, sagte er. »Wir brauchen einen Planeten, auf dem wir leben können.« »Natürlich.« Nilsson nickte. »Was halten Sie von einer Welt — oder einem System — etwa im Alter der Erde? Sagen wir fünf Milliarden Jahre? So lange scheint es im allgemeinen zu dauern, bis sich die Biosphäre entwickelt hat, die wir vorziehen. Wir könnten zwar auch in einer Mesozoikum-Umgebung leben, aber das würde uns vielleicht keinen Spaß machen.« »Klingt vernünftig.« Reymont nickte. »Und wie steht es mit Metallen?«
»Ach ja. Am besten wäre ein Planet, der genug Schwermetalle für eine Industrieentwicklung besitzt; zu groß darf die Konzentration wiederum nicht sein, da sonst die Gefahr der Bodenverseuchung besteht. Da die höheren Elemente vor allem in den frühen Sterngenerationen auftreten, sollten wir nach einer Galaxis suchen, die bei unserer Ankunft schon einigermaßen alt ist.« »Nein«, sagte Reymont. »Nein?« Boudreau sah ihn verwundert an. »Könnten wir einen Planeten wie die Erde nicht auch in einer jungen Galaxis finden?« fragte Reymont. »In der Nähe einer Supernova beispielsweise, die den umliegenden Systemen die Zusammensetzung von G-Typ-Sonnen verliehen hat?« »Möglich, aber das dauert vielleicht Jahre«, warnte ihn Nilsson. »Nun, dann verzichten wir eben darauf«, erklärte Reymont. »Wir können auch mit Leichtmetallen und organischen Stoffen auskommen. Wichtig ist, daß wir die ersten intelligenten Lebewesen in jener neuen Galaxis sind.« Sie starrten ihn an. Er lächelte. »Ich möchte, daß unsere Nachkommen eine große Auswahl haben, wenn sie einmal soweit sind, daß sie die Sterne kolonisieren. Die Menschheit soll sich ungehindert ausbreiten können. Ich finde, dieses Recht haben wir uns verdient.« Drei Monate waren seit dem Augenblick der Schöpfung vergangen, als die Leonora Christine ihren Hafen und die Menschen an Bord ihre neue Heimat fanden.
23 Auf der Anhöhe standen ein Mann und eine Frau und genossen den weilen Ausblick ins Tal. Tief unten schlängelte sich golden ein Fluß durch die bläulichen Farnwiesen; die Bäume an seinen Ufern hatten gefiedertes Laub, und ihre Blüten klangen wie Harfen, wenn der Wind sie schüttelte. Es duftete nach Zimt und Dingen, für die es keinen Namen gab. Jenseits des Tales stieg eine Bergwand auf, nackt, rötlichschwarz, mit schroffen Klippen. In den Schattenmulden lagen Schneereste. Aber die Luft war mild, und die Sonne schien. »Du darfst sie nicht verlassen, Carl«, sagte Ingrid. »Das hat sie nicht verdient.« »Wovon sprichst du?« erwiderte Reymont. »Wir gehören alle zusammen. Wir brauchen einander. Ai-Ling versteht, daß du etwas Einzigartiges für mich bedeutest. Und du mußt verstehen, daß ich in gewisser Weise auch sie liebe. Wir haben soviel Gemeinsames erlebt, daß unsere Gruppe für immer verkettet ist.« »Natürlich. Es ist nur — ich hätte nie gedacht, daß du zu solchen Worten fähig wärst, Carl!« Er lachte. »Was hast du erwartet?« »Oh, ich weiß nicht. Etwas Hartes, Unnachgiebiges.«
»Das ist vorbei. Wir haben unser Ziel erreicht. Nun müssen wir ganz neu anfangen.« »Auch wir beide?« Sie sah ihn lächelnd an. »Ja. Natürlich. Du liebe Güte, haben wir das nicht oft genug besprochen? Wir übernehmen aus der Vergangenheit, was gut war, und vergessen alles andere. Siehst du — Dinge wie Eifersucht hätten hier einfach keinen Sinn. Fünfzig Menschen, die eine neue, intelligente Rasse gründen sollen! Das bedeutet, daß wir unsere Gene so gut wie möglich durchmischen müssen. Persönliche Gefühle spielen dabei keine Rolle.« Er zog sie zu sich ins Gras. »Aber deshalb darf ich dir doch sagen, daß du das schönste Geschöpf im ganzen Universum bist. Komm, ich habe dir den heutigen Tag versprochen. Wir wollen ihn genießen.« Inrid zögerte. »Ich weiß nicht...« »Was ist denn?« »Sie werden dich brauchen ...« »Der Hausbau geht voran, die Pflanzen gedeihen, uns drohen keine Gefahren. Was willst du mehr?« »Könige haben keine Freizeit.« Sie lachte, aber es klang ein wenig bitter. »Was redest du nur für einen Unsinn!« Er strich ihr übers Haar, das in der jungen Sonne silbrig glänzte. »Sie sehen zu dir auf«, sagte sie. »Sie betrachten dich als ihren Retter, den Mann, der es gewagt hat, zu überleben ...« Er unterbrach sie mit einem langen Kuß. »Carl!« protestierte sie. »Hast du etwas dagegen?« »Nein, im Gegenteil, aber — deine Arbeit ...« »Ich arbeite wie jeder andere in der Gemeinschaft«, sagte er. »Nicht mehr und nicht weniger. Die Krise ist vorbei. Was kann ein König in so einem Fall Vernünftigeres tun, als seine Krone abzulegen?« Er lachte, und als er sie diesmal an sich zog, wehrte sie sich nicht.