Und Weihnachten ist Hochzeit Sondra Stanford Julia Weihnachten 1/2 1993
gescannt von suzi_kay korrigiert von Spacey74
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Und Weihnachten ist Hochzeit Sondra Stanford Julia Weihnachten 1/2 1993
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1.KAPITEL Mary Shelton stieß die schwere Eingangstür auf und verließ die Grundschule von Hope. Ihre Kollegin Jane Crane, die das erste Schuljahr unterrichtete, folgte ihr. Die Sonne strahlte an diesem Nachmittag Anfang Dezember, aber das schöne Wetter trog. Die Luft war der Jahreszeit entsprechend kühl. Mary war froh, daß sie einen Blazer über dem engen schwarzen Rock und der Seidenbluse trug. Jane fröstelte in ihrem Kleid, als sie in der Handtasche nach dem Autoschlüssel suchte. "Soll ich dich mitnehmen, Mary?" fragte Jane. "Es ist ziemlich kalt heute." "Danke für das Angebot, aber ich wohne ja nur ein paar Häuserblocks entfernt", antwortete Mary. "Außerdem kann ich unterwegs erste Pläne schmieden." "Mach dich nicht verrückt", meinte Jane. "Es wird bestimmt klappen mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsprogramm." Mary schnitt eine Grimasse. "Ich hoffe, du hast recht. Ich würde mich allerdings wohler fühlen, wenn ich schon ein bißchen Erfahrung auf dem Gebiet hätte. Es wird schwer werden, Jackie Murphy zu ersetzen." Während der Schulkonferenz, die eben zu Ende gegangen war, hatte djer Rektor Mary beauftragt, die Organisation der diesjährigen Weihnachtsfeier zu übernehmen. Die Lehrerin des
fünften Schuljahres, die seit zwanzig Jahren dafür zuständig war, lag nach einer Blinddarmoperation im Krankenhaus von Houston. "Jackie ist ein echter Profi", gab Jane zu, "doch du wirst es genauso schaffen. Und Lydia Willis wird dir eine große Hilfe sein. Sie hat Jackie in den vergangenen Jahren assistiert und kennt alle Tricks." "Ich wünschte, sie könnte die Verantwortung übernehmen und ich ihre Assistentin sein", sagte Mary. Sie unterrichtete erst seit kurzem an der Grundschule von Hope und fühlte sich als Anfängerin nicht wohl in einer leitenden Position. "Lydia ist keine Musiklehrerin. Außer Jackie bist du die einzige in unserem Kollegium, die Expertin im Fach Musik ist, also blieb gar keine andere Wahl, als dir die Aufgabe zu übergeben." "Ich weiß." Mary nickte, und ihr langes blondes Haar, das sie mit einer schwarzen Haarspange am Hinterkopf zusammenhielt, berührte dabei ihre Schultern. "Ich hoffe nur, daß ich Jackie gerecht werden kann. Wie ich gehört habe, kommen fast alle Einwohner von Hope zu diesem Ereignis." Jane schmunzelte. "Kulturelle Veranstaltungen finden bei uns in Hope in Texas selten statt. Wir ergreifen daher jede Gelegenheit, die sich bietet." Sie lachte bei Marys betroffenem Gesichtsausdruck. "Es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge. Denk immer daran, daß du nur die Fäden im Hintergrund ziehst und nicht der Star des Programms bist. Daß Zuschauer kommen, um die Kinder zu sehen, und es gibt kein toleranteres Publikum als Mamas und Daddys, Grandmas und Grandpas und sonstige Verwandte und Freunde. Niemand wird dich beachten." Mary lachte. "Vielen Dank. Das baut mein Selbstvertrauen auf." "Ich will noch schnell zum Supermarkt", sagte Jane. "Pete hat heute ein Vorstellungsgespräch in Nacogdoches und kommt erst
spät nach Hause. Da möchte ich ihn mit einem leckeren Essen empfangen." "Ich wußte gar nicht, daß ihr einen Umzug plant." Janes Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Vor sieben Monaten hatte die Ledbetter Fabrik, die bis dahin Kühlelemente hergestellt hatte, Konkurs angemeldet und ihre Angestellten entlassen. Seitdem war Pete Crane arbeitslos. "Sobald er irgendwo eine gutbezahlte Stellung bekommt, müssen wir umziehen", sagte Jane traurig. "Wir haben keine andere Wahl, und vielen Leuten geht es genauso. Wenn sich in Hope in nächster Zeit nichts ändert, wird die Schule immer mehr Schüler verlieren, weil die Eltern woanders Arbeit suchen müssen. Was wird dann aus uns Lehrern?" Sie zuckte mit den Schultern und fügte philosophisch hinzu: "Trübsal blasen nützt auch nichts. Wir müssen uns mit der Situation abfinden. Bis morgen, Mary." Trotz der Kälte ging Mary langsam nach Hause. Sie hatte es nicht eilig, denn niemand wartete auf sie in dem kleinen Haus in der Oak Grove Street, das sie gemietet hatte. Sie war erst im Herbst nach Hope gezogen, um das zweite Schuljahr zu unterrichten. Da sie als Einzelkind auf einer entlegenen Ranch im Westen von Texas aufgewachsen war, litt sie nicht unter Einsamkeit oder Langeweile, wenn sie allein war. Aber in den vergangenen Monaten, seit dem Fiasko in Abüene, hatte sie wirklich zu abgeschieden gelebt. Ihre Kollegen in der Schule waren zwar freundlich und entgegenkommend, doch Mary war mit ihren 26 Jahren mit Abstand die Jüngste. Jane paßte altersmäßig am ehesten zu ihr und war ihre beste Freundin in der Stadt geworden, aber Jane war privat mit ihrem Ehemann und ihrem Baby beschäftigt, und Mary traf sie nur selten außerhalb der Schule. Als Mary vor ihrem Haus ankam, fegte Mr. Starr, ihr Nachbar vom Haus gegenüber, gerade seine Veranda. Er war ein alleinstehender älterer Witwer. Jetzt grüßte er Mary, und sie winkte zurück.
Die Stille im leeren Haus wirkte heute bedrohlich auf Mary. Andere Leute hatten ein erfülltes und interessantes Privatleben, hatten Ehepartner und Kinder, zu denen sie nach der Arbeit heimkehrten. Mary hatte niemanden, den es kümmerte, ob sie kam oder ging. Sie streifte die Pumps ab, bereitete sich eine Tasse Tee zu und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sic h ans Klavier und spielte gedankenverloren die ersten Takte von "Jingle Bells". Das Klavier war der entscheidende Grund gewesen, warum Mary dieses Haus gemietet hatte. Es hatte, ebenso wie die anderen Möbel, der verstorbenen Schwester ihrer Vermieterin gehört. Mary verbrachte manche freie Stunde am Klavier. Sie liebte Musik und Literatur. Obwohl Mary unsicher war, ob sie die Weihnachtsfeier in der Schule zufriedenstellend organisieren könnte, störte sie der zusätzliche Arbeitsaufwand nicht. Sie war lieber beschäftigt, als zuviel Zeit zum Grübeln zu haben. Was sie beunruhigte, war vielmehr der Gedanke an die bevorstehenden Feiertage. Mary fürchtete sich vor Weihnachten. Wie sollte sie das Fest bloß überstehen? Letztes Jahr hatte sie Weihnachten mit ihrer Großmutter... und mit Wayne verbracht. Dieses Jahr hatte sie niemanden mehr. Mary schlug die Tasten heftig an und produzierte dabei einen Mißklang. Abrupt schloß sie den Klavierdeckel und stand auf. Sie ließ ihren Tee stehen, schlüpfte in die Pumps, griff nach ihrer Handtasche und dem Blazer und eilte zur Tür. Die beste Waffe gegen aufkommende depressive Stimmungen war Handeln. Was ist schon schlimm daran, daß ich Weihnachten allein bin? dachte Mary trotzig. Ich habe niemanden, mit dem ich Geschenke austauschen kann, na und! Ich werde mir trotzdem das schönste Weihnachtsfest leisten, das möglich ist.
Mary stieg in ihren drei Jahre alten grauen Honda und bog in die Hauptstraße ein. Sie fuhr am Supermarkt vorbei, an der Bank von Hope, einer Tankstelle und Greens Immobilienbüro. Direkt neben der Apotheke befand sich ein normalerweise freies Gelände. Jetzt stand ein transportables Holzhäuschen darauf, um das Dutzende von Tannenbäumen gruppiert waren, die zum Verkauf angeboten wurden. Mary parkte ihr Auto und stieg aus. Sie hatte beschlossen, sich den größten und schönsten Weihnachtsbaum zu kaufen, den sie finden konnte. Rob Green betrat langsam das Holzhäuschen und blieb im Türrahmen stehen. Seine ausgeblichene Jeans war fleckig von Wagenschmiere und roter Erde. Sein blaues T-Shirt war genauso schmutzig wie die Jeans, doch darüber trug er eine saubere, wenn auch abgetragene Twilljacke. Die Westernstiefel paßten perfekt zu seinem Aussehen. Er war verschwitzt und staubig und hatte offensichtlich körperlich sehr schwer gearbeitet. Seine dunkelbraunen Augen waren halb unter dem Schirm einer blauen Baseball-Mütze verborgen. Er beobachtete die Kunden bei der Wahl ihrer Weihnachtsbäume und amüsierte sich über eine Großfamilie, die lautstark die Vorzüge und Nachteile verschiedener Bäume diskutierte, bevor sie sich für einen bestimmten entschied. Robs Freund und Nachbar, Ed Watson, verkaufte die Weihnachtsbäume. Gerade half er einem Kunden, einen großen Baum auf dessen Lieferwagen zu laden. Er war so beschäftigt, daß er Rob nur kurz zunicken konnte. Das Wetter war umgeschlagen. Die Sonne schien nicht mehr, statt dessen war es neblig und sehr kalt geworden. Die Lampen, die an dem Zaun rund um die Tannenbäume angebracht waren, gaben nur spärliches Licht. Als Ed einen Moment Zeit hatte, kam er zu Rob in das Holzhäuschen, das ihm vorübergehend als Geschäftsstelle
diente. "Es gibt frischen Kaffee, ich bin nur noch nicht dazu gekommen, ihn zu trinken. Möchtest du eine Tasse?" schlug Ed vor. "Das klingt gut", meinte Rob. In dem engen Raum war kaum Platz für zwei Stühle, einen Klapptisch und den Hocker, auf dem die Kaffeemaschine stand. "Was machst du hier?" fragte Ed und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. "Ich vertreib' mir die Zeit, bis ich Holly abholen kann." Holly war Robs achtjährige Tochter. "Sie ist bei einer Klassenkameradin. Die beiden basteln etwas für die Schule, und Holly bleibt noch zum Abendessen. Um acht Uhr hol' ich sie ab." Er blickte an sich herab. "Zum Duschen und Umziehen war's zu knapp. Ich habe heute nachmittag Weidezäune repariert und war mit dem Traktor unterwegs." Ed nickte verständnisvoll. Beide Männer waren Farmersöhne und nur eine halbe Meile voneinander entfernt aufgewachsen. Ed arbeitete immer noch als Farmer. Er hatte ein modernes Haus für seine Frau und die Kinder gebaut, direkt gegenüber seinem Geburtshaus, in dem die verwitwete Mutter lebte. Außerdem hatte er einen großen Teil der Ländereien gepachtet, die Rob von seinen Eltern geerbt hatte. Rob lebte zwar weiterhin auf eigenem Grund und Boden in einem neuen Haus, das er gebaut hatte, aber er hatte die Landwirtschaft aufgegeben und leitete statt dessen ein Immobilienbüro in der Stadt. Er hatte nur wenige Felder für ein paar Kühe und seine Pferde behalten. "Wie geht das Geschäft?" fragte Rob und trank einen Schluck Kaffee. "Nicht schlecht für Anfang Dezember. Willst du dir einen Baum aussuchen?" Rob schmunzelte. "Du kennst doch Holly. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn wir nicht in den Wald gehen und unseren Baum selbst fällen."
Obwohl Ed in jedem Dezember Weihnachtsbäume verkaufte, ging es ihm mit seiner Familie genauso. Er wollte etwas sagen, zog dann aber ein Taschentuch hervor und nieste mehrmals hintereinander. "Das klingt nach einem bösen Schnupfen", bemerkte Rob mitfühlend. "Stimmt. Irgendwie werd' ich ihn nicht los, und die feuchte Luft verschlimmert ihn noch." "Warum machst du nicht Schluß und gehst nach Hause ins Bett?" Rob spähte hinaus. "Es sind kaum noch Kunden da." Ed mußte wieder niesen. "Das werde ich wohl tun. Ich fühle mich wirklich mies." Er schlug sich gegen die Stirn. "Eh ich's vergesse, ich hab Randys Lehrerin versprochen, ihr den Baum vorbeizubringen, wenn ich hier fertig bin." Rob war überrascht. "Seit wann lieferst du den Leuten die Bäume ins Haus?" "Eigentlich mach ich das nur in Ausnahme fällen, wie bei der alten Mrs. Phillips." Ed nieste schon wieder. "Aber die Lehrerin wollte den Baum da." Er zeigte durch die offene Tür auf eine große ausladende Tanne, an der das rote Schildchen ,verkauft' baumelte. "Und der paßte absolut nicht in ihren kleinen Honda. Also bot ich mich als Lieferant an." Ed schmunzelte. "Das bin ich ihr wohl schuldig dafür, daß sie jeden Tag meinen Bengel bändigt." Rob lachte. Eds siebenjähriger Sohn Randy war tatsächlich ein Wildfang. Ed nieste erneut, und Rob schaute auf die Armbanduhr. "Wo wohnt diese Lehrerin? Ich bringe ihr schnell den Baum und hole dann Holly ab. Fahr du nach Hause." "Du bist ein echter Freund", murmelte Ed und schneuzte sich ausgiebig. Fünfzehn Minuten später hielt Rob vor dem unauffälligen Haus in der Oak Grove Street. Ein Honda parkte in der Auffahrt. Rob hatte keine spezielle Vorstellung von der Lehrerin. Als sie die Tür öffnete, verschlug es ihm die Sprache.
Sie war jung und äußerst attraktiv, hatte langes goldblondes Haar und eine atemberaubende Figur unter dem engen schwarzen Rock und der Seidenbluse. Rob wünschte, er könnte die Farbe ihrer Augen erkennen, doch er stand zu weit weg. "Miss Shelton?" Sie sah ihn an, aber ihre Stimme klang etwas mißtrauisch. "Ja. Sie wünschen?" Rob berührte den Schirm seiner Mütze und verbeugte sich unbewußt auf die althergebrachte Art, in der ein Gentleman in Texas eine Dame begrüßt. "Ich bringe Ihren Weihnachtsbaum", erklärte er. "Aber... Mr. Watson...?" "Er hat mich geschickt. Soll ich Ihnen den Baum ins Haus bringen oder neben den Eingang stellen?" "Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn auf die Veranda hinters Haus zu tragen?" "Natürlich nicht." "Ich schalte das Licht für Sie an." Rob ging zu seinem Lastwagen. Ihre Nase ist leicht nach oben gebogen, sie hat volle Lippen und große magische Augen, stellte er in Gedanken fest und überlegte, seit wann diese Lehrerin wohl in Hope wohnte. Lange kann es noch nicht sein, dachte er, sonst wäre sie mir bestimmt schon aufgefallen. Das Außenlicht brannte, als Rob den schweren Baum um das Haus herum transportierte. Miss Shelton stand auf der Veranda und hatte die Arme unter der Brust gekreuzt, sie schien zu frieren. "Ich weiß nicht, wohin Sie den Baum stellen wollen", bemerkte Rob, als er die Stufen zur Veranda emporstieg. "Er ist so groß, daß Sie wahrscheinlich die unteren Zweige und sogar einen Teil des Stammes absägen müssen, damit er überhaupt in einen Ständer paßt, geschweige denn durch die Tür." "Sie haben recht", gab sie freimütig zu, während er die Tanne in eine Ecke der Veranda stellte. "Ich wußte eigentlich, daß der
Baum viel zu groß ist, aber er gefiel mir so gut, daß ich ihn einfach kaufen mußte." Sie lächelte selbstkritisch. "Ich fürchte, ich hab ein wenig übertrieben." Rob gefiel die melodische Stimme der Lehrerin, und er wettete, daß es ihren Schülern genauso ging. Er klopfte die Hände an den Hosenbeinen ab und trat einen Schritt näher. Im Licht der Verandalampe konnte er jede Einzelheit ihres Gesichts erkennen, und seine Vermutung bestätigte sich. Miss Shelton war nicht nur attraktiv, sondern bildschön! Rob wurde ganz heiß. Er ertappte sich dabei, wie er ihre Lippen anschaute und sich unwillkürlich fragte, ob sie wohl so weich wären, wie sie aussahen. Außerdem wollte er ihr goldblondes Haar streicheln. Rob war verblüfft über seine heftige Reaktion. Es war schon lange her, seit eine Frau so anziehend auf ihn gewirkt hatte. Und seine Bewunderung war ihm anzumerken. Rob war sich nicht bewußt, wie verräterisch seine dunklen Augen glühten, als er Marys Blick suchte. Es kostete ihn seine ganze Kraft, eine zusammenhängende Frage zu stellen. "Haben Sie jemanden, der Ihnen die Zweige absägt?" Mary war verwirrt darüber, wie faszinierend sie ihr Gegenüber fand. Er wirkte so kraftvoll und war beeindruckend groß im Gegensatz zu ihr, die sie nur einsachtundfünfzig war. Es lag bestimmt an seiner imposanten Erscheinung, daß seine Gegenwart sie atemlos machte. Aber warum fühlte sie sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen? Wie konnte ein völlig fremder Mann solche Gefühle in ihr auslösen? Seine breiten, muskulösen Schultern paßten zu seiner hochgewachsenen Gestalt. Mary fragte sich flüchtig, ob er wohl Bodybuilding betrieb, und verwarf den Gedanken gleich wieder. Dieser Mann verrichtete offensichtlich tagtäglich harte körperliche Arbeit. Seine ausgeblichene Jeans, die schmutzigen Stiefel und seine rauhen Hände zeugten davon.
Ihr Blick verweilte auf den kräftigen, von der Arbeit gestählten Händen, und plötzlich überlegte sie, wie diese Hände sich auf ihrem Körper anfühlen würden. Mary war schockiert. Bin ich verrückt geworden? dachte sie. Unfaßbar, bei einem Mann, den ich noch nie vorher gesehen habe, auf so schamlose Gedanken zu kommen! "Geht es Ihnen gut?" fragte der Mann besorgt. Er trat einen Schritt näher, und das machte Mary noch nervöser. Hoffentlich merkt er nicht, was mit mir los ist! Sie errötete, als er ihr herausfordernd in die Augen blickte. Dann zwang sie sich zu einem unverbindlichen Lächeln. "Mir fehlt nichts. Was sagten Sie noch?" "Haben Sie jemanden, der Ihnen die Zweige absägt? Heute abend hab ich keine Zeit mehr, aber falls Sie jemanden brauchen, könnte ich morgen abend wiederkommen und meine Säge mitbringen." Mary war versucht, sein Angebot anzunehmen. Sie besaß keine Säge und brauchte auf jeden Fall Hilfe bei diesem Ungetüm von einem Baum, andererseits wollte sie die Gutmütigkeit des Mannes nicht ausnutzen. So wie er aussah, war er wahrscheinlich schon von seiner harten Arbeit müde gewesen, bevor er ihr den Baum brachte. "Danke, aber das ist nicht nötig." Mary vermied eine direkte Antwort. Rob nickte freundlich. "Dann ist ja alles in Ordnung. Gute Nacht." "Gute Nacht", erwiderte Mary, "und nochmals vielen Dank." Als er die Verandastufen hinabstieg, fiel ihr gerade noch rechtzeitig der Geldschein ein, den sie in der Hand zerknüllte. Sie hatte ihn auf dem Weg durchs Haus aus ihrem Portemonnaie genommen, während er den Baum von seinem Lastwagen lud. "Warten Sie!" rief sie hinter ihm her. Rob blieb auf der untersten Treppenstufe stehen und drehte sich um. "Ja?"
Mary ging ihm entge gen und streckte die Hand aus. Rob war total verblüfft, als sie sagte: "Hier ist Ihr Trinkgeld. Entschuldigen Sie, daß ich es fast vergessen hätte." Diese Miss Shelton hielt ihn offenbar für einen einfachen Arbeiter, der bei Ed Watson angestellt war. Rob wußte nicht, ob er lachen, das Spiel mitspielen oder beleidigt sein sollte. Er unterdrückte ein Lächeln und hob die Hände in einer abwehrenden Geste. "Das ist absolut unnötig." "Tun Sie mir den Gefallen" bat Mary nachdrücklich. "Es war zusätzliche Arbeit für Sie, mir den Baum nach Hause zu bringen, und ich schulde Ihnen etwas für Ihre Mühe. Bitte... ich würde mir Vorwürfe machen, wenn Sie es ausschlügen." Rob biß sich auf die Unterlippe, um ernst zu bleiben. "Wenn das so ist", meinte er schließlich, "nehme ich es an, Ma'am. Das letzte, was ich möchte, ist Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten." Er nahm den Geldschein aus ihrer Hand. Dabei berührten sich ihre Finger, und noch eine Vermutung bestätigte sich. Miss Shelton hatte eine glatte, samtweiche Haut. Rob berührte wiederum den Schirm seiner Mütze. "Vielen Dank, Ma'am. Gute Nacht." Er drehte sich um und ging eilig zu seinem Lastwagen. In der Fahrerkabine sah er, daß sie ihm fünf Dollar gegeben hatte. Rob seufzte, steckte den Geldschein in die Brusttasche seiner Jacke und überlegte, wie in aller Welt er der Lehrerin das Geld zurückgeben konnte, ohne sie in Verlegenheit zu bringen oder ihren Stolz zu verletzen. Als er losfuhr, wanderten seine Gedanken unausweichlich von dem Trinkgeld zu der Spenderin. Rob fand Miss Sheltons erotische Ausstrahlung unwiderstehlich, und das beunruhigte ihn. Er wollte sich nicht mehr verlieben. Immerhin hatte er schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht, und eine weitere Enttäuschung sollte es nicht geben.
2. KAPITEL Mary benotete die letzte Rechenarbeit und legte das Heft zu den anderen. Seufzend packte sie den ganzen Stapel in ein Schreibtischfach. Dann schob sie den Stuhl zurück und holte ihren Regenmantel und den Regenschirm aus dem schmalen Wandschrank. Seit heute morgen regnete es ununterbrochen. Der Pausenhof vor ihrem Klassenfenster hatte sich schon in einen kleinen See verwandelt. Marys Absätze klapperten auf dem Marmorfußboden, als sie durch den langen Flur zur Eingangshalle eilte. Sie blickte auf ihre roten Pumps, die hervorragend zum Kleid paßten, und wünschte, sie hätte statt dessen ein Paar Gummistiefel dabei. Anscheinend verließ sie heute als letzte das Gebäude. Für gewöhnlich war der Hausmeister noch anwesend, aber sie konnte ihn weder sehen noch hören. Als Mary um die Ecke bog, stellte sie überrascht fest, daß ein kleines Mädchen neben der Eingangstür stand. Das Mädchen trug eine Jeans und einen rosa und lila gestreiften Anorak und preßte die Nase gegen das Glasfenster, während es angestrengt nach draußen spähte. Bei Marys Ankunft schreckte das Mädchen auf und drehte sich schnell um. Mary erkannte, daß es sich um eine Drittkläßlerin von Mrs. Daniels handelte, die vorhin an der Probe für das Weihnachtsspiel teilgenommen hatte. Sie hatte eine Sprechrolle.
Es war ein sehr hübsches Mädchen mit langen, fast schwarzen Haaren und einer reizenden Ponyfrisur. Jetzt wirkte es bedrückt, und die ausdrucksvollen dunklen Augen blickten ängstlich drein. Mary blieb stehen und lächelte aufmunternd. "Du bist Holly Green, nicht wahr?" Das Mädchen nickte. "Warum bist du noch hier?" fragte Mary freundlich. "Es ist schon nach vier Uhr." "Mein Dad wollte mich eigentlich abholen." Die Stimme des Mädchens zitterte. "Aber er ist nicht gekommen." Das Büro der Sekretärin, in dem das Telefon stand, war schon verschlossen. Mary konnte Hollys Vater also nicht anrufen. Genausowenig konnte sie das Mädchen hier allein lassen. "Ich bringe dich nach Hause", bot sie an. "Danke schön, Miss Shelton", murmelte Holly offensichtlich erleichtert. "Aber was ist mit meinem Daddy?" "Wir hinterlassen ihm eine Nachricht." Mary kehrte kurz in ihren Klassenraum zurück, schrieb einen Zettel und nahm Tesafilm mit. Sie riß einen Streifen ab, und Holly klebte den Zettel außen an die Eingangstür. Danach liefen sie quer über den Parkplatz zu Marys Auto. Holly wohnte ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Auf dem Weg dorthin verwickelte Mary das Mädchen in ein Gespräch, um es abzulenken. "Ist dein Vater Farmer?" fragte sie. "So was Ähnliches", antwortete Holly. "Er hat ein paar Kühe, aber Mr. Eddie bewirtschaftet das Land, das mein Dad von meinem Grandpa geerbt hat." "Ich verstehe." Anscheinend hatte Mr. Green sein Land geerbt und es jetzt größtenteils verpachtet. "Arbeitet dein Vater in der Stadt?"
Holly nickte. "Ja. Er verkauft Grundstücke und Häuser." "Aha. Gehört ihm Greens Immobilienbüro?" Holly nickte wieder, und Mary fragte weiter: "Arbeitet deine Mutter auch in der Stadt?" Holly antwortete nicht gleich. Mary warf ihr einen prüfenden Blick zu. Das Mädchen hatte den Kopf gesenkt. "Ich hab keine Mami", sagte Holly leise. "Sie ist gestorben, als ich noch klein war." "Das tut mir leid." Marys Stimme klang sanft. "Bestimmt vermißt du sie sehr." Holly zog traurig die Schultern hoch. "Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern." Mary lenkte das Auto mit einer Hand und strich Holly mitfühlend übers Haar. Sie wußte aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, mutterlos aufzuwachsen. Niemand konnte den Platz der Mutter wirklich ersetzen. "Wie weit ist es noch bis zu eurem Haus?" wechselte sie absichtlich das Thema. "Nicht mehr weit. Sehen Sie die Scheune dort? Es ist gleich dahinter." Als sie die Zufahrt erreichten, blickte Holly sich um. "Daddys Lastwagen ist noch nicht da." "Hast du einen Schlüssel fürs Haus?" "Ja." "Dann warte ich mit dir, bis dein Vater heimkommt." ' Für dieses Versprechen bekam Mary ein strahlendes Lächeln. Das Haus war ein langgestrecktes, modernes Backsteingebäude, um das Sträucher und Büsche in großer Anzahl gepflanzt waren. Der ausgedehnte Vorgarten wurde von gewaltigen Eichen und Nußbäumen überschattet. Rechts und links der Zufahrt wuchsen Pinien. Hinter dem Haus erstreckten sich mehrere Weiden. Die Kühe ließen ihre Köpfe im Regen hängen.
Das Haus war bequem und komfortabel eingerichtet. Im Wohnzimmer standen weich gepolsterte Sofas und Sessel vor einem massiven Kamin aus Stein. Regale und Vitrinen bedeckten die angrenzende Wand. Es gab ein Fernsehgerät, eine Videoanlage, einen Hi-Fi-Turm sowie zahlreiche Bücher und Zeitschriften. Mary setzte sich auf ein Sofa, während Holly ihren Vater im Büro anzurufen versuchte. Nach einem Moment kam sie mit der unangenehmen Nachricht, daß die Telefonleitung defekt sei. "Das kommt manchmal vor, wenn es zu sehr regnet." Mary nickte. Das Problem kannte sie, denn sie hatte ihre Kindheit ebenfalls in einer ländlichen Gegend verbracht. "Bist du allein zu Hause, wenn dein Dad arbeitet?" Holly schüttelte den Kopf. "Entweder gehe ich nach der Schule zu Mrs. Dudley und bleibe bei ihr, bis Daddy mich abholt, oder ich fahre mit dem Schulbus hierher und geh zu Miss Maggie." Sie zeigte aus dem Fenster. "Die wohnt dort drüben." Mary verbarg ihren wachsenden Unmut über Hollys abwesenden Vater. Äußerlich wirkte sie gelassen, doch innerlich war sie zornig. Wie konnte Mr. Green seine Tochter nur so vernachlässigen, noch dazu an einem frostigen Regentag wie heute? Das Kind war höchstens acht oder neun Jahre alt. "Bestimmt freust du dich schon auf Weihnachten, oder?" setzte Mary das Gespräch fort. Die Reifen quietschten, als Robs Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit in die Straße einbog, die zur Grundschule von Hope führte. Rob hatte sich erheblich verspätet. Holly war bestimmt schon außer sich vor Angst. Der Gedanke machte Rob noch nervöser. Gerade, als er sein Büro verlassen wollte, um Holly abzuholen, hatte er einen wichtigen Anruf bekommen. Es war ein Ferngespräch aus Houston gewesen, und sein langatmiger Geschäftspartner hätte die fällige Entscheidung schließlich genau wie seine Kollegen
hinausgezögert. Man müsse die Details noch überdenken, bevor man einen endgültigen Entschluß fassen könne, er persönlich könne Rob nur versichern, daß sein Vorschlag ernsthaft in Erwägung gezogen werden würde... Der Schulparkplatz war leer. Rob hielt vor dem Haupteingang und rannte durch den Regen die Treppe hoch. Das Gebäude lag im Dunkeln, und als er die Eingangstür öffnen wollte, fand er sie verschlossen. Wo war Holly? Aufgeregt lief Rob zum Lastwagen zurück. Er war so in Eile gewesen, daß er sein Jackett im Büro vergessen hatte. Jetzt war sein Hemd durchnäßt, und er zitterte, als er den Motor startete. Dann zwang er sich, tief durchzuatmen. Es gab keinen Grund, in Panik auszubrechen. Holly war ein vernünftiges Kind. Sie hatte wahrscheinlich eine Weile auf ihn gewartet und war anschließend zu den Dudleys gegangen, die nicht weit entfernt wohnten. Mrs. Dudley paßte oft auf Holly auf, wenn Rob noch in der Stadt zu tun hatte. Erleichtert fuhr er los, aber ein paar Minuten später war die nette, mollige Mrs. Dudley offensichtlich überrascht über seinen Besuch. Er erklärte den Grund, und sie schüttelte den Kopf. "Holly war heute nicht hier, Rob." Rob erschrak, und Angst lahmte erneut seine Gedanken. "Vielleicht ist sie mit einer ihrer Freundinnen nach Hause gegangen, nachdem du nicht gekommen bist", meinte Mrs. Dudley zuversichtlich. "So wird es wohl sein", antwortete Rob und wußte doch, daß es völlig untypisch für Holly war, ohne seine Erlaubnis irgendwohin zu gehen, egal, ob er sich verspätete oder nicht. "Du kannst von uns aus herumtelefonieren", bot Mrs. Dudley an. "O ja, danke." Rob folgte ihr ins Haus. Zehn Minuten später hatte er erfolglos bei Hollys Freundinnen und allen anderen Bekannten angerufen. Nur Ed
Watsons Mutter Maggie hatte er nicht erreicht und auch bei ihm zu Hause nahm niemand ab. Wenn Miss Maggie auf Holly aufpaßte, fuhren sie für gewöhnlich nach Schulschluß gemeinsam mit dem Bus nach Hause, während Rob noch arbeitete. Heute wollte Rob Holly ausnahmsweise selbst abholen. Jetzt machte er sich große Vorwürfe. "Vielleicht sollten wir Charlie Bescheid sagen", schlug Mrs. Dudley vor. Rob nickte grimmig. Charlie war Mrs. Dudleys Sohn und gleichzeitig der Sheriff. "Ich fahre nach Hause, für den Fall, daß Holly doch irgendwie hingelangt ist. Die Telefonverbindung ist bestimmt wegen der starken Regenfälle gestört. Rufen Sie Charlie an, und bitten Sie ihn, eine Suchaktion zu starten, Mrs. Dudley?" Auf ihr Einverständnis hin hastete Rob zur Tür. "Sagen Sie ihm, Holly trägt eine Jeans, einen rosa und lila gestreiften Anorak und Turnschuhe." Auf der Heimfahrt verspürte Rob eine eisige Kälte, obwohl die Heizung im Lastwagen bestens funktionierte. Diese Kälte hatte nichts damit zu tun, daß er naß war und es draußen fast fror. Es ging um Holly, sein geliebtes Kind. Sie war der Sinn seines Lebens. Wenn er sie auch noch verlor... Bitte, lieber Gott, betete er im stillen, tu mir das nicht an. Nimm mir Holly nicht weg! Als Rob in seine Zufahrt einbog, bemerkte er den grauen Honda sofort. Das Auto kam ihm irgendwie bekannt vor, aber in seiner Erregung nahm er sich nicht die Zeit, es einzuordnen. Er bremste scharf, sprang aus dem Lastwagen und eilte zum Haus. Die Anwesenheit des fremden Autos erfüllte ihn mit Panik. War Holly verletzt... oder was war passiert? Rob riß die Haustür auf, und sein Atem stockte. Holly rannte ihm entgegen! Rob schloß sie in die Arme, wirbelte sie herum und drückte sie so fest, daß sie lautstark protestierte.
"Wo warst du, Schätzchen?" fragte er mit rauher Stimme. "Ich hab' mir schreckliche Sorgen gemacht, als ich dich nicht bei der Schule fand!" Holly küßte ihren Vater auf die Wange. "Ich hab' ganz lange auf dich gewartet, Daddy. Zum Schluß waren schon alle weg, und du bist immer noch nicht gekommen. Da hat Miss Shelton mich nach Hause gebracht." "Ich liebe dich, mein Herz", murmelte Rob und küßte Hollys Nacken. "Ich hab' dich auch lieb", erwiderte Holly, lehnte sich vor und rieb ihre Nase an seiner. Dann kicherte sie und bat: "Laß mich runter, Daddy." Erst jetzt beachtete Rob die Frau, die auf seinem Sofa saß. Es war die Lehrerin mit dem riesigen Weihnachtsbaum. Rob war immer noch sehr erregt und fuhr sie an: "Wie können Sie es wagen, ein kleines Kind vom Schulgelände mitzunehmen, ohne eine Nachricht für die Eltern zu hinterlassen? Wissen Sie überhaupt, was Sie mir angetan haben? Ich bin vor Angst fast verrückt geworden, daß meine Tochter entführt worden oder in einen furchtbaren Unfall verwickelt sein könnte." Mary hatte die zärtliche Szene zwischen Vater und Tochter gerührt beobachtet. Nun stand sie ernüchtert auf, streckte stolz die Schultern und erwiderte den Blick ihres Widersachers, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist derselbe Mann, stellte sie schockiert fest, der mir gestern abend den Weihnachtsbaum geliefert hat. Derselbe Mann, dem ich ein großzügiges Trinkgeld gegeben habe, weil ich, glaubte, daß er es vielleicht nötig hat. Was für ein schlechter Scherz! Heute trug er statt der schmutzigen Arbeitsjeans und Stiefel ein Nadelstreifenhemd, einen Schlips und eine maßgeschneiderte Hose. Außerdem wohnte er in einem kostspieligen modernen Haus und war der Chef eines Unternehmens. Wahrscheinlich hatte er sich über ihr Trinkgeld köstlich amüsiert!
Im Moment war ihm das Lachen vergangen. Er zitterte vor Nässe und Kälte und sah direkt elend aus, aber Mary empfand kein Mitleid, als sie sich abschätzend musterten. "Was ist mit Ihnen?" fragte sie herausfordernd. "Was für eine Art Vater sind Sie, daß Sie so verantwortungslos handeln? Holly hätte wirklich das Schlimmste passieren können, selbst in so einer kleinen Stadt wie Hope. Sie sollten dem Schicksal dankbar sein, daß ich zufällig vorbeikam und mich um Ihre Tochter kümmerte - und nicht jemand anderes. Übrigens habe ich Ihnen einen Zettel geschrieben. Holly hat ihn an die Eingangstür geklebt. Er war nicht zu übersehen." "Da war kein Zettel", behauptete Rob stur, "und ich bin bis zur Eingangstür gegangen." "Dann weiß ich nicht, was damit passiert ist", entgegnete Mary ungeduldig. "Wir haben jedenfalls einen hingehängt." "Natürlich..." bemerkte Rob bissig. "Daddy, das stimmt!" unterbrach Holly ihn schrill. "Ich hab' ihn selbst aufgeklebt." "Und wo ist er jetzt?" Rob klagte immer noch Mary an. "Woher soll ich das wissen?" gab sie zurück. "Vielleicht hat, der Wind ihn abgerissen. Oder jemand hat sich einen Spaß erlaubt." "Vielleicht hab' ich ihn nicht gut genug angeklebt, Dad." Holly war den Tränen nahe. "Sind Sie jetzt zufrieden?" schimpfte Mary. "Sie machen Ihre Tochter unglücklich." Rob warf ihr einen vernichtenden Blick zu, bevor er Holly versicherte, daß er nicht böse auf sie sei. "Ich würde nicht im Traum daran denken, ein fremdes Kind ohne einen Hinweis mitzunehmen", erklärte Mary steif. "Genausowenig würde ich allerdings ein kleines Kind sich selbst überlassen. Immerhin war es bereits nach vier Uhr!" "Hört auf zu streiten", bettelte Holly. "Bitte, Dad!"
Ihre Bitte beendete die Auseinandersetzung. Rob und Mary sahen erst Holly an, dann trafen sich ihre Blicke wieder. "Es tut mir leid", bedauerte Rob. "Ich bin ein unverbesserlicher Narr. Selbstverständlich bin ich Ihnen dankbar, daß Sie Holly wohlbehalten nach Hause gebracht haben. Ich war einfach zu..." ' Mary konnte ihm nicht länger böse sein. "Ich weiß", meinte sie verständnisvoll. "Sie müssen außer sich vor Angst gewesen sein, als Sie Holly nicht vorfanden. Es tut mir leid, daß Sie meine Nachricht nicht erhalten haben. Ich erfuhr erst auf dem Weg hierher, daß Sie ein Büro in der Stadt haben, sonst hätte ich Holly zuerst dorthin gebracht. Sie hat versucht, Sie anzurufen, aber das Telefon funktionierte nicht." Rob beruhigte sich allmählich. "Das kommt manchmal vor, wenn es zu stark regnet. Ich habe auch versucht, hier anzurufen." "Wo warst du denn, Dad?" "Gerade, als ich dich abholen wollte, erreichte mich ein wichtiges Ferngespräch, und ich war ganz allein im Büro. Sonst hätte ich Beth oder Jack zu dir geschickt." Er wandte sich an Mary. "Ich habe nur zwei Mitarbeiter, meine Sekretärin und einen Verkäufer. Beth liegt mit Grippe im Bett, und Jack hat sich den Tag freigenommen, um ein privates Problem zu regeln. Am liebsten hätte ich das Telefongespräch verschoben, aber das war nicht möglich. Ich fuhr sofort danach los, aber Holly war schon weg. Ich rief ihre Freundinnen an und verlor die Nerven, als ich sie nicht aufspüren konnte..." Rob kniete nieder und umarmte seine Tochter wieder. Sie kuschelte sich an ihn. "Jetzt ist nur noch wichtig, daß es Holly gut geht." "Der Meinung bin ich auch", stimmte Mary zu. "Und da es der Fall ist, werde ich gehen."
Rob ließ Holly los und stand auf. "Nochmals vielen Dank, daß Sie sich um Holly gekümmert haben, und verzeihen Sie mein ungehobeltes Benehmen." "Keine Ursache." Mary lächelte, sie war nicht nachtragend. Rob war entzückt von dem Grübchen auf ihrer Wange. Heute fand er Miss Shelton noch bezaubernder als gestern. Sie hatte ein kirschrotes Kleid an, das ihn an Weihnachten erinnerte, und dabei fiel ihm ihr Weihnachtsbaum ein, der noch gekürzt werden mußte. "Warten Sie!" rief Rob energisch, als Mary schon fast an der Tür war. "Bitte... warten Sie, bis ich mich umgezogen habe, dann folge ich Ihnen in die Stadt. Es regnet immer noch so stark, daß ich Sie nicht allein fahren lassen möchte. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Ihnen auf dem Rückweg etwas zustoßen würde." "Das ist doch nicht nötig", protestierte Mary. "Bitte", wiederholte Rob. "Da mein Telefon nicht funktioniert, muß ich sowieso noch einmal in die Stadt, um dem Sheriff Bescheid zu sagen, daß Holly in Sicherheit ist, damit er die Suchaktion abbrechen kann." "Wenn das so ist, warte ich. Vielleicht ist es eine vernünftige Idee, bei dem schlechten Wetter zu zweit zu fa hren." "Soll ich meine Säge mitnehmen?" Rob schmunzelte. "Nachdem ich beim Sheriff war, könnte ich Ihren Weihnachtsbaum in Form bringen." Mary errötete, als sie an das Trinkgeld dachte, das sie diesem offensichtlich wohlhabenden Mann aufgedrängt hatte. "Das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Ich bin sicher, daß ich allein zurechtkomme." "Ich weiß. Das haben Sie gestern abend schon gesagt. Ich würde es aber wirklich gern tun, als eine Art Dankeschön, wenn Sie es zulassen." "Aber bei dem scheußlichen Wetter..."
"Na und? Ich kann den Baum in Ihrer Garage absägen, das dauert nicht lange. Holly müßte allerdings solange bei Ihnen im Haus bleiben." Mary zögerte und musterte ihn abschätzend. "Mögen Sie Chili con Carne nach Hausmacherart, Mr. Green?" "Es ist mein Leibgericht, Miss Shelton." Die unerwartete Frage weckte Hoffnung in ihm. "Und du, Holly?" fragte Mary lächelnd. Holly nickte begeistert. "Dann mach' ich Ihnen einen Vorschlag." Mary blickte Rob an. "Sie sägen meinen Weihnachtsbaum zurecht, und ich koche Abendessen. Danach können Sie und Holly mir helfen, den Baum zu schmücken. Er ist so groß, daß ich Unterstützung brauchen kann." Rob schmunzelte und wandte sich dann an seine Tochter. "Bist du einverstanden, Schätzchen?" Holly freute sich und hüpfte aufgeregt herum. "Das ist also geklärt. Lassen Sie Holly mit mir in die Stadt fahren", schlug Mary Rob vor. "Während Sie beim Sheriff sind, könnten wir beide Lebensmittel und Weihnachtsbaumschmuck einkaufen. Ich besitze viel zu wenig für den riesigen Baum und bin überzeugt davon, daß Holly eine Expertin auf dem Gebiet ist." "Das stimmt", versicherte Rob, griff vergnügt in seine Hosentasche und überreichte Mary einen Geldschein. "Hier ist meine Spende für die Anschaffung von Lametta und Weihnachtsbaumkugeln." Mary wurde knallrot, noch bevor sie den Geldschein ansah. Zweifelsohne handelte es sich um die besagten fünf Dollar Trinkgeld. Rob lachte lauthals, doch bevor sie ihm eine passende Antwort geben konnte, durchquerte er den Flur und verschwand vermutlich in seinem Schlafzimmer, um die nasse Kleidung zu wechseln.
3. KAPITEL Mary, Rob und Holly bewunderten den riesigen Weihnachtsbaum an seinem Platz zwischen den Eckfenstern. Ein langer Zweig reichte fast bis zur Tür, ein anderer streifte die Armlehne des Sofas. Der Baum füllte die Hälfte des kleinen Wohnzimmers aus, und obwohl Rob ein Stück vom Stamm abgesägt hatte, berührte die Spitze des Baumes die Zimmerdecke. "Warum wollten Sie so einen großen Weihnachtsbaum haben, Miss Shelton?" wagte Holly zu fragen. "Ist das nicht klar?" antwortete Mary. "Ich habe meinen Verstand total verloren! Eine andere Erklärung gibt es nicht." Holly kicherte vergnügt. "Das passiert Lehrern doch nicht. Lehrer sind immer vernünftig!" "Soso. Das bezweifle ich", meinte Mary trocken. "Und jetzt, wo ich den Baum habe, muß ich damit leben." "Wir können ihn zu Ed zurückbringen und gegen einen kleineren eintauschen", bot Rob an. "Nach all der Arbeit, die Sie bereits investiert haben?", Mary schüttelte den Kopf. "Das kommt gar nicht in Frage! Außerdem wird es mir jedesmal eine Lehre sein, wenn ich über ihn steigen muß, um das Zimmer zu durchqueren." "Tatsächlich?" amüsierte sich Rob . "Welche Lehre denn?" "Man sollte niemals maßlos sein. Größer ist nicht immer besser."
"Hast du das gehört, Schätzchen?" fragte Rob seine Tochter . "Ach, Daddy!" "Holly besitzt ein Pony, doch sie möchte ein eigenes Pferd haben. Ich sage ihr, sie muß noch ein Jahr warten, bis sie etwas älter ist." Rob zwinkerte Mary zu, aber so, daß Holly es nicht sehen konnte. "Sie sind bestimmt meiner'Meinung, Miss Shelton, oder?" "Ich bin schon im dritten Schuljahr und fast neun Jahre alt. Also bin ich groß genug für ein eigenes Pferd. Nicht wahr, Miss Shelton?" "O nein!" Mary lachte. "Ihr beide werdet mich nicht in eure Auseinandersetzung hineinziehen. Ich persönlich bin der Meinung, daß ich mich besser ums Essen kümmern sollte." "Was für eine schlaue Entscheidung!" Rob grinste. "Anscheinend verlieren Sie nur den Verstand, wenn es um Weihnachtsbäume geht." Mary betrachtete den riesigen Baum, der den Raum völlig beherrschte, und dann den gutgelaunten Mann neben sich. Sie seufzte. "Das wollen Sie wohl nicht vergessen, oder?" "Keineswegs", gab er fröhlich zu. "Für die ,Weihnachtsbaumverschluckt-Wohnzimmer-Geschichte' kombiniert mit der ,Trinkgeld-Geschichte' kann ich in Ellas Cafe monatelang umsonst Kaffee trinken." "Sie haben eine hinterhältige Veranlagung, Mr. Green." Mary gab ihrer Stimme einen anklagenden Tonfall. "Das höre ich von Zeit zu Zeit," antwortete er schlagfertig. "Und es gefällt mir viel besser, als wenn man mich für einen netten, furchtbar langweiligen Kerl halten würde." "Meinen Sie die Sorte, die riesige Weihnachtsbäume umsonst an Fremde ausliefert und dann am nächsten Tag wiederkommt, um in eiskalten Garagen Stämme abzusägen?" Mary verdrehte die Augen. "Wenn sich das herumsprechen würde, könnte der gute Ruf eines Mannes schwer darunter leiden, vielleicht sogar für immer dahin sein."
Rob trat auf sie zu und umschloß ihr schmales Handgelenk mit seinen großen Fingern. "Unterstehen Sie sich..." drohte er scherzhaft und rollte mit den Augen. "Sie erzählen Ihre Geschichten, und ich erzähle meine", zog Mary ihn auf. "Daddy!" rief Holly verunsichert. "Warum streitest du mit Miss Shelton?" Rob ließ Mary sofort los und beugte sich zu seiner Tochter herab, um sie zu beruhigen. Obwohl er und Holly sich oft neckten und miteinander scherzten, legte Rob auf Offenheit und Aufrichtigkeit wert, sobald Holly etwas bekümmerte. Nur so konnte das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen funktionieren, und Holly war darauf angewiesen. Sie hatte niemanden außer ihm. "Wir haben nur gescherzt, Liebling. So wie wir beide es manchmal auch tun." Holly musterte ihn ernst und suchte in seinem Gesicht nach der Wahrheit. Rob erwiderte ihren Blick genauso ernst. Er konnte es seiner Tochter nicht übelnehmen, daß sie fürchtete, er und die Lehrerin würden streiten. Immerhin hatten sie heute nachmittag auf der Farm einen heftigen Wortwechsel gehabt. "Schwörst du's?" Rob nickte und hob feierlich die Hand. "Wenn dir das nicht reicht, frag Miss Shelton." Holly sah Mary fragend an, und die nickte ebenfalls. "Dein Vater sagt dir die Wahrheit, Holly. Wir haben nur Spaß gemacht." Jetzt war Holly endlich zufriedengestellt und wollte gleich am Vergnügen teilhaben. Sie drohte schalkhaft mit dem Zeigefinger und sagte streng: "Einverstanden, aber echter Streit ist verboten." "Zu Befehl, Ma'am", antwortete Mary artig. Holly kicherte, und Rob zerzauste liebevoll ihr Haar, bevor er aufstand. Er lächelte, als er das Funkeln in Marys Augen sah.
"Nun muß ich aber wirklich nach den Chillibohnen sehen", meinte sie. "Holly, packst du meinen alten Weihnachtsschmuck aus? Du findest ihn in der Schachtel unter dem Sofa." "Klar." "Ich bin der amtliche Vorkoster", erklärte Rob und folgte Mary in die Küche. "Wer sagt, daß wir einen brauchen?" "Jede Küche braucht einen." "Wenn das so ist, kann ich nicht nein sagen." Mary hob den Deckel vom Topf, rührte das Gericht um und bot Rob einen großen Löffel voll an. Er probierte und setzte eine gedankenvolle Miene auf. Mary verkniff sich ein Lächeln. "Nun?" "Ich muß unbedingt noch einmal probieren, um ein fachmännisches Urteil abgeben zu können." Mary reichte ihm einen weiteren Löffel voll. "Nun?" setzte sie ihn unter Druck. "Aller guten Dinge sind drei. Als anerkannter Chili-Spezialist muß ich gründlich sein." "Soso. Noch ein bißchen mehr Gründlichkeit, und für Holly und mich bleibt nichts mehr übrig." Rob lachte fröhlich. "Wie schade, daß Sie mich durchschaut haben!" Er entwendete Mary den leeren Löffel und tauchte ihn in den Topf. "Aber wie Holly schon sagte, Lehrer sind schlau." Er steckte den Löffel in den Mund und leckte ihn dann genüßlich ab. "Mm. Miss Shelton, Sie sind eine exzellente ChiliKöchin." "Vielen Dank." Mary nahm ihm den Löffel weg, bevor er weiter probieren konnte. "Wenn Sie mich noch einmal Miss Shelton nennen, kriegen Sie überhaupt nichts mehr zu essen! Meine Schüler nennen mich den ganzen Tag lang Miss Shelton, und das reicht mir vollkommen." Rob gab vor, ungeheuer erleichtert zu sein. "Ich vergesse nämlich immer, daß Sie von mir reden, wenn Sie Mr. Green
sagen. So hieß mein Vater, und niemand in der Stadt nennt mich so. Also, wie soll ich Sie anreden... ,Frau Lehrerin'? Oder vielleicht ,Hey, Sie'?" "Mary reicht völlig aus. Und wie steht's mit Ihnen?" "Mein Name ist Robert, doch jeder nennt mich Rob. Kenne ich Sie inzwischen gut genug, um aufrichtig sein zu dürfen, Mary?" "Bestimmt." "Sie haben einen Fleck Chili am Kinn. Wie ist der bloß dahingelangt? Sie haben doch nicht probiert, sondern nur ich." "Oh." Mary griff verlegen nach dem Küchenhandtuch und fing an, damit an dem Fleck zu reiben. "Das war die falsche Stelle." Rob nahm das Handtuch, umfaßte ihr Kinn und tupfte eifrig. Sein Gesicht war ihrem so nah, daß Mary unwillkürlich die Luft anhielt. Sie traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen, und heftete den Blick statt dessen auf seinen Hals. Seine Berührung war sanft, und er brauchte unverhältnismäßig lange, bis er den kleinen Fleck beseitigt hatte. Endlich gab er sie frei und trat einen Schritt zurück. "Danke", sagte Mary hastig. Dann drehte sie sich zum Küchentisch um, erleichtert, daß sie einen Grund hatte, ihm den Rücken zuzukehren. "Ich muß den Teig für das Maisbrot noch fertig zubereiten. Es wird Zeit, daß es in den Backofen kommt." "Maisbrot gibt es auch?" Rob war begeistert. "Sie erfüllen wohl alle Wünsche. Mit oder ohne Cayennepfeffer?" "Mit, wenn Sie es scharf mögen." "Ich liebe es scharf und Holly auch." Rob bewunderte, wie leicht Mary die Arbeit von der Hand ging, als sie die nötige Menge Mehl und Maismehl abwog und in einer Schüssel vermischte. Jeder Handgriff saß. Es gab keinen Zweifel, sie wußte, wie man kochte. "Ist das Ihr erstes Unterrichtsjahr hier?" fragte er. "Ich hab Sie noch nie in der Stadt gesehen."
"Ja. Holen Sie mir bitte dafür ein paar Eier und Milch aus dem Kühlschrank?" "Natürlich." Rob suchte die Zutaten und brachte sie Mary. "Wie gefällt Ihnen das Leben in einer Kleinstadt wie Hope?" Mary zuckte mit den Schultern und öffnete ein Päckchen Backpulver. "Gut", antwortete sie. Da Rob mit ihrer einsilbigen Antwort nicht zufrieden zu sein schien, fügte sie hinzu: "Ich wuchs auf einer Ranch in der Nähe einer Kleinstadt auf. Die nächstgrößere Stadt war Abilene, fast fünfzig Kilometer entfernt." "Aha. Ein Mädchen vom Lande. Dann sind Sie das Kleinstadtleben gewöhnt." "Ja. Allerdings ist es in kleineren Ortschaften oft schwer, Leute kennenzulernen, wenn man als Außenstehender auf eine festgefügte Gemeinschaft trifft." Mary erwähnte nicht, wie allein sie in den letzten Monaten oft gewesen war. Ihre Kollegen an der Schule waren zwar nett zu ihr, ebenso wie die wenigen anderen Leute, die sie getroffen hatte, aber diese Bekanntschaften blieben oberflächlich. Mary wurde plötzlich bewußt, daß Rob und Holly Green ihre ersten Gäste waren, seit sie hierhergezogen war. "Die Leute können sehr abweisend sein, bis sie jemanden wirklich akzeptieren", stimmte Rob zu. "Lynn hat sich oft darüber beschwert. Lynn war meine Frau. Sie starb vor vier Jahren." "Holly hat mir davon erzählt. Wie traurig. Es muß schwierig für Sie sein, Ihre Tochter allein zu erziehen." "Es ist nicht immer leicht", gab Rob zu. "Was wollten Sie noch über das Kleinstadtleben sagen?" "Einerseits vermisse ich die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin und zur Schule ging, vor allem meine Großeltern und ihre Ranch, andererseits muß ich zugeben, daß mir die Zeit im College und die drei Jahre, die ich in Abilene unterrichtete, genauso gut gefielen."
"Warum sind Sie dann hierhergekommen?" Weil ich unbedingt einen Ortswechsel brauchte, dachte Mary, um meine Wunden zu pflegen. Weil die Lehrerstelle in Hope das erste Angebot war, das ich erhielt, als ich verzweifelt von Abilene weg wollte... und von Wayne. Mary konnte einem Fremden solche Gedanken natürlich nicht anvertrauen, also wich sie aus. "Es war einfach Zeit für eine Veränderung." Rob ahnte, daß mehr dahintersteckte. Wahrscheinlich hatte ein Mann damit zu tun, aber er fragte nicht nach. Er wollte den wahren Grund gar nicht wissen, denn er war auch nicht bereit, Mary von Lynn zu erzählen. Lynn hatte sich von ihm scheiden lassen und lange vor ihrem Tod neu geheiratet. Marys Reize waren ganz anderer Art als Lynns. Lynns kultivierte Schönheit war immer irgendwie unantastbar gewesen, Mary wirkte dagegen wohltuend warmherzig und natürlich. Außerdem war sie viel attraktiver als die anderen Frauen, mit denen er ab und zu in Houston oder Dallas ausgegangen war. Trotzdem war es ratsam, sie nicht zu gut kennenzulernen und die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Nach seiner bitteren Erfahrung mit Lynn hatte Rob sich geschworen, nie wieder eine so enge Beziehung einzugehen. Es schmerzte zu tief, wenn alles endete. Er war überrascht, wohin seine Gedanken ihn führten. "Ich sollte lieber die Kerzen am Baum befestigen", meinte er abrupt und verließ die Küche, ohne auf ihre Antwort zu warten. Mary war verblüfft. Gerade noch hatten sie gescherzt und sich freundlich unterhalten, plötzlich schlug die Stimmung um, und Rob ließ sie einfach stehen. Lag es daran, daß sie seine verstorbene Frau erwähnt hatten? Mary war jedenfalls nicht böse, ein paar Minuten allein zu sein. Sie mußte unbedingt ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Gestern abend hatte sie Rob für eine Aushilfskraft von Ed Watson gehalten. Heute nachmittag hatte sie geglaubt, daß er ein
verantwortungsloser Vater und undankbarer, unsensibler Kerl wäre. Jetzt fand sie, daß er der aufregendste und gutaussehendste Mann sei, dem sie seit langem begegnet war. Das beunruhigte sie. Sie war nach Hope gekommen, um die Treulosigkeit eines Mannes zu vergessen. Es wäre der größte Fehler, sich überstürzt auf eine neue Beziehung einzulassen. Was für ein Glück, daß Holly da ist, dachte Mary später, als sie zu dritt am Tisch saßen und aßen. Zwischen ihr und Rob herrschte eine seltsame Befangenheit, und es fiel ihnen schwer, ein Gesprächsthema zu finden. Holly hatte dieses Problem nicht. Sie plapperte zwanglos über die neusten Schulereignisse und überbrückte so das peinliche Schweigen. "Mrs. Murphy ist im Krankenhaus, Dad. Sie hatte eine O-pera-tion." Holly betonte jede Silbe des schwierigen Wortes einzeln. "Miss Shelton hat jetzt die Vorbereitungen für das Weihnachtsprogramm übernommen." "Das klingt nach ziemlich viel Verantwortung", bemerkte Rob. "Stimmt", erwiderte Mary. "Jeder einzelne Schüler ist auf die eine oder andere Weise an dem Programm beteiligt, und sei es nur; um etwas auf die Bühne oder von der Bühne zu tragen." "Ich weiß." Rob schmunzelte. "Kein Kind darf vergessen werden. Das war schon zu meiner Zeit so. Die Weihnachtsvorstellung der Grundschule ist alljährlich eines der bedeutendsten kulturellen Ereignisse in Hope." Mary lachte. "Darüber bin ich schon informiert worden. Mein größtes Problem ist zur Zeit, wer mir das Bühnenbild rechtzeitig anfertigt. Bisher hat Mrs. Murphys Mann diese Aufgabe immer übernommen, aber wie Sie vielleicht gehört haben, ist er Anfang des Jahres gestorben. Ich weiß nicht wen ich um Hilfe bitten kann, und an der Schule scheint niemand zu wissen, wo die alten Bühnenbilder geblieben sind." "Was brauchen Sie denn?"
Zwei möglichst einfache Dekorationen, die man leicht aufund abbauen kann. Der eine Hintergrund soll ein typisches Wohnzimmer andeuten - mit einem Fenster, einer Tür , einem Kamin - und der andere eine Außenansicht - mit einer Hauptstraße und rechts und links Schaufensterfronten. Mir fehlen sowohl die künstlerische Begabung als auch die handwerklichen Fertigkeiten, so etwas herzustellen." "Es klingt nicht allzu kompliziert", überlegte Rob. "Ich könnte einen Versuch wagen. Wenn Ihnen meine Entwürfe gefallen, bau ich sie persönlich nach. Greens Immobilienbüro wird die Materialkosten übernehmen." Mary strahlte. "Danke, Rob. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin!" "Danken Sie mir nicht zu früh", warnte Rob. "Immerhin haben Sie meine Entwürfe noch nicht gesehen." "Ich bin sicher, daß sie großartig sein werden!" Marys blaue Augen funkelten, und Rob hatte plötzlich keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr mit zwei gelungenen Bühnenbildern zu imponieren - und vielleicht sogar auf einer persönlicheren Ebene. Nach dem Abendessen dekorierten sie zu dritt Marys Tannenbaum. Mary bestand darauf, daß Holly die Ehre zukommen sollte, den goldenen Stern an die Spitze des Baumes zu stecken. Rob hob Holly bereitwillig hoch. Weil der Baum so groß war, hing der Stern ein wenig schief, aber das war egal. Sie stimmten darin überein, daß sie noch nie einen schöneren Weihnachtsbaum gesehen hatten. Anschließend bereitete Mary heiße Schokolade und Popcorn zu, und sie genossen den Imbiß in entspannter Atmosphäre. "Ich vermute, Sie können spielen, sonst hätten Sie wohl kein Klavier", meinte Rob. "Dann müßte ich die Weihnachtsfeier auch nicht vorbereiten." Mary lachte. "Das Klavier gehört zur Wohnungseinrichtung. Deswegen hab' ich dieses Haus gemietet,
statt eines Apartments in den Wohnblocks am Ende der Pine Street." "Ich kann auch Klavier spielen", verkündete Holly. "Ich hab' seit zwei Jahren Klavierunterricht." "Spiel ein Weihnachtslied für uns", bat Mary. Holly setzte sich ans Klavier und spielte "Jingle Bells". Rob und Mary sangen dazu. Dann spielte Holly eine einfache Version von "Stille Nacht", und sie sangen wieder mit. Mary hatte eine wohlklingende Stimme, doch sie war ihrerseits beeindruckt von Robs angenehmem Bariton. Danach war Mary mit der Klavierbegleitung dran, und in der nächsten halben Stunde sangen sie die meisten der bekannten Weihnachtslieder. "Das war schön", erklärte Rob hinterher und lächelte Mary an. "Der ganze Abend war überhaupt sehr schön." Mary erwiderte sein Lächeln. "Für mich auch." Ihre Blicke trafen sich und verschmolzen für einen langen Moment. Etwas war geschehen, das ihr Verhältnis unbemerkt verändert hatte. Sie spürten eine Vertrautheit, die nicht zu leugnen war. Kein Wort und keine Berührung waren nötig gewesen, um dieses Gefühl zu erzeugen. Schließlich brach Rob den Zauberbann. "Morgen ist ein Schultag. Es wird höchste Zeit, daß ich Holly ins Bett bringe." Ein paar Minuten später war Mary mit ihrem riesigen Weihnachtsbaum und den leuchtenden Kerzen allein. Die Stille, die Rob und Holly zurückließen, machte ihr plötzlich gnadenlos bewußt, wie einsam sie eigentlich war. Fast wünschte sie, die beiden hätten sie nicht besucht. Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Sie paßte nun zu dem naßkalten Wetter draußen.
4. KAPITEL Am Donnerstag nachmittag stand Mary auf der Klappleiter in ihrem Klassenraum und befestigte Lametta über den Fenstern. Vor zwanzig Minuten hatte der Unterricht geendet, und die Kinder waren lärmend und fröhlich aus dem Klassenraum gestürmt. Mary hatte zuerst den morgigen Schultag vorbereitet und dann mit der Dekoration begonnen. Morgen sollten die Schüler ihren Klassenraum selber fertig schmücken. Die ganze Woche lang hatten sie gemeinsam Goldpapierketten gebastelt und aus Pappe Glocken, Sterne, Engel und andere Weihnachtssymbole ausgeschnitten und bunt angemalt, um sie an den künstlichen Tannenbaum zu hängen. Rob betrat den Klassenraum und schloß die Tür hinter sich, ohne daß Mary es bemerkte: Er stellte sein Mitbringsel auf ihren Schreibtisch und ging dann weiter in den hinteren Teil des Raumes, wo sie arbeitete. Mary hob gerade den linken Arm, um ein Bündel Lametta mit einer Reißzwecke anzuheften. Die goldenen Lamettafäden fielen lose um sie herum. Sie sieht umwerfend sexy aus und ist sich dessen absolut nicht bewußt, dachte Rob. Dir rosa Pullover war am Rücken ein bißchen hochgerutscht und enthüllte einen schmalen Streifen makelloser Haut über dem engen schwarzen Rock. Der Rock selber war bis über die Knie verschoben und gab den Blick auf ihre schlanken,
wohlgeformten Beine frei. Sie preßte ein Knie gegen die nächste Leitersprosse, um besser Halt zu gewinnen. Dadurch spannte sich der Rock verführerisch übgr ihren kurvenreichen Hüften. Das andere Bein hatte sie ausgestreckt. Rob ließ den Blick über die zarten Fesseln zu dem schmalen Fuß wandern der auf einer niedrigeren Leitersprosse stand. Mary hatte die Pumps ausgezogen. "Hallo", sagte er, als er den Raum halb durchquert hatte. Mary war beim Hören seiner Stimme so überrascht, daß sie das Gleichgewicht verlor, als sie sich hastig umdrehen wollte. Mit einem Aufschrei fiel sie. Ohne zu überlegen, bahnte Rob sich den Weg zu ihr. Dabei stieß er mehrere Schülertische und Stühle um. Er fing Mary gerade noch auf und schloß die starken Arme beschützend um sie. Marys Augen hatten sich vor Schreck geweitet. Sie atmeten beide heftig, und ihre Gesichter waren einander sehr nah. Wie hypnotisiert verschmolzen ihre Blicke. Rob konnte dem Drang, sie zu küssen, kaum widerstehen. Ihre vollen, weichen Lippen, so dicht vor seinem Mund, zogen ihn magisch an. Aber glücklicherweise siegte bei ihm die Vernunft. Es handelte sich hier um eine Lehrerin, der er Hilfe versprochen hatte. Obwohl sie jetzt das zweite Schuljahr unterrichtete, bestand die Möglichkeit, daß sie in Zukunft einen höheren Jahrgang übernehmen und eventuell Hollys Klassenlehrerin werden könnte. Intimitäten zwischen ihm und Mary könnten Holly in eine Zwangslage bringen. Das wollte Rob unbedingt verhindern, wenn die Situation in diesem Moment auch noch so kompromittierend war. Außerdem hatte er bisher nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Mary überhaupt von ihm geküßt werden wollte. "Ist alles in Ordnung?" Robs Stimme klang rauher, als er wollte. "Ja," flüsterte sie atemlos. "Ich glaube schon."
Vorsichtig stellte er sie auf die Füße. Mary nahm sofort ein paar Schritte Abstand und schlüpfte in ihre schwarzen Pumps. Ihr Puls raste, und sie war froh, daß sie wenigstens für einen Moment etwas zu tun hatte. So war sie gezwungen, den Blick von Rob loszureißen, der sie eben noch so fest in den Armen gehalten hatte. Außerdem fühlte sie sich in Schuhen irgendwie angezogener, und das half ihr, die Haltung zu bewahren. Sei froh, daß Hollys Vater dich nicht geküßt hat! redete Mary sich ein. Dabei war sie einen zauberhaften Augenblick lang fast sicher gewesen, daß er es tun würde. Ich bin wirklich erleichtert, dachte sie, denn es ist besser für uns alle. Aber das war nur zur Hälfte wahr. In ihre Erleichterung mischte sich Enttäuschung. Mary war von Robs ungemein männlicher Ausstrahlung überwältigt. Heute trug er eine elegante braune Hose und ein farblich dazu passendes maßgeschneidertes Jackett. Sein After-shave betörte ihre Sinne, und sie bebte von seiner Berührung. Seine Lippen waren ihren so nah gewesen, und sie war vor Erregung und törichter Erwartung ganz schwach geworden. Marys Gesicht glühte immer noch, und sie reagierte körperlich überempfindlich auf Robs Nähe. Zum Glück hatte er der Versuchung widerstanden und dafür gesorgt, daß sie wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand! Wie demütigend wäre es gewesen, wenn sie sich geküßt hätten und er es später bedauert hätte. In einer Kleinstadt und einer kleinen Schule wie dieser war es unvermeidlich, daß man sich ab und zu begegnete. Sie hatte im letzten Schuljahr in Abilene genug gelitten und keine andere Wahl gehabt, als das Schuljahr zu beenden. So war sie gezwungen gewesen, tagtäglich weiter mit Wayne zusammenzuarbeiten. Es hatte sie fast übermenschliche Kraft gekostet, vorzugeben, daß Waynes Gegenwart ihr gleichgültig wäre. Mary wollte denselben Fehler nicht noch einmal begehen. Unerwiderte Liebe verursachte unnötige Schmerzen, und sie war fest entschlossen, tiefere Gefühle nicht mehr zuzulassen.
Mary hatte es plötzlich sehr eilig, einen umgefallenen Tisch und einen Stuhl aufzustellen. Rob folgte ihrem Beispiel und brachte die Tischreihe wieder in Ordnung, die er vorhin umgeworfen hatte. Mary drehte sich um und ging zu ihrem Schreibtisch im vorderen Teil des Klassenraumes. "Was ist der Grund für Ihr Kommen?" begann sie so distanziert wie möglich und brach überrascht ab, als sie den üppigen Christstern auf ihrem Schreibtisch entdeckte. Er war mindestens fünfzig Zentimeter hoch und voller Blüten. Der geflochtene Korb, in dem er stand, war mit einer großen roten Samtschleife und einem Tannenzapfen verziert. "Wie schön!" rief sie hingerissen, berührte eine Blüte fast zärtlich und drehte sich wieder zu Rob um. "Ist die Blume von Ihnen?" Er nickte. "Vielen Dank." Mary konnte es kaum glauben. "Aber warum?" , Rob lächelte. "Dafür, daß Sie sich gestern so verantwortungsvoll um meine Tochter gekümmert haben." "Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen." Dann schmunzelte sie schelmisch und wirkte gar nicht mehr lehrerinnenhaft. "Ich freu' mich trotzdem riesig." "Das hatte ich gehofft", sagte Rob herzlich zu ihr. "S ind Sie hier bald fertig?" "Ja, endlich!" Mary seufzte, zog die Schreibtischschublade auf und holte ihre Handtasche heraus. "Es war ein langer und sehr anstrengender Tag." "Sie haben viel zu tun, nicht wahr?" murmelte Rob verständnisvoll. Sie holte ihren Mantel aus dem Schrank, und er nahm ihn ihr ab und half ihr zuvorkommend hinein. Dann glättete er den Kragen und berührte dabei leicht ihren Nacken. Ihre Haut prickelte bei seiner sanften Berührung.
Auf dem Weg zur Tür fragte Rob: "Wollen Sie den Christstern nicht mit nach Hause nehmen?" Mary schüttelte den Kopf. "Ich möchte die Freude an Ihrem Geschenk lieber mit meinen Schülern teilen. Finden Sie nicht, daß er den Klassenraum erheblich verschönert?" Rob mußte ihr Recht geben. Als sie den Raum verließen und den langen Flur entlanggingen, bewunderte er Marys Großzügigkeit. Er war sicher, daß ihre Schüler sie liebten. Draußen war Holly nirgends zu entdecken. Mary hatte selbstverständlich angenommen, daß Robs Tochter auf ihn wartete. "Wo ist Holly?" fragte sie. "Sind Sie nicht gekommen, um sie abzuholen?" "Nein. Ich bin gekommen, um Ihnen die Blume zu bringen. Donnerstags hat Holly Klavierunterricht. Die Klavierlehrerin wohnt nur einen Häuserblock von der Schule entfernt, und Holly geht zu Fuß dorthin. Nach dem Unterricht wartet Mrs. Dudley auf sie. Ich habe jeden Donnerstag nachmittag eine Sitzung und hole Holly erst danach ab." Mary wandte sich vom Parkplatz ab in Richtung Bürgersteig. "Hier trennen sich unsere Wege", sagte sie. "Ich gehe heute zu Fuß nach Hause. Nochmals vielen Dank für den Christstern." Impulsiv schlug Rob vor: "Ich hab' noch eine Stunde Zeit bis zu meiner Sitzung und würde Sie gern zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen in Ellas Cafe einladen. Was halten Sie davon?" Mary zögerte. Sie fand Rob viel zu attraktiv, um die Einladung bedenkenlos anzunehmen. Er war freundlich, aber weil sie einsam war, bestand die Gefahr, daß sie sich falsche Hoffnungen machte. Andererseits war sie nicht in der Stimmung, allein zu Hause zu sein. Was war schlimm daran, wenn sie Robs Gesellschaft für eine Weile genoß und sich in seinem warmen Lächeln sonnte?
"Einverstanden." Mary verdrängte schließlich ihre Bedenken. "Ich freue mich." Das Cafe war einfach eingerichtet, aber jetzt weihnachtlich herausgeputzt. Die Fenster waren mit Goldsternen dekoriert, über dem Tresen hingen rote Papierglocken und glitzernde Engelsfiguren, und in einer Ecke stand ein etwas abgenutzter künstlicher Weihnachtsbaum, der mit roten Glaskugeln verziert war. Rob und Mary zogen die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Gäste sofort auf sich. Rob grüßte nach allen Richtungen, während er Mary zu einem Tisch an der Wand führte. Abschätzende Blicke folgten ihnen. "Sie machen ein Paar aus uns", flüsterte Mary Rob zu, als sie sich setzten. Rob schmunzelte amüsiert. "Das sollte Sie nicht stören! Sie wissen doch, wie die Leute in Kleinstädten sind. Sie vergessen uns, sobald etwas anderes ihr Interesse erregt. Erzählen Sie mir von ihrem heutigen Schultag." Die nächste halbe Stunde verlief erstaunlich zwanglos, trotz der neugierigen Blicke rundherum. Mary bereute es nicht, daß sie Robs Einladung angenommen hatte. Am Fenster saß eine Gruppe Männer, die in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. Einer der Männer stand auf und kam auf Rob und Mary zu. Rob stellte ihn als Dan Baxter vor, anschließend unterhielten sieh die beiden Männer kurz. Als der andere Mann sich verabschiedete, deutete er eine Verbeugung an. "Es war nett, Sie kennenzulernen", sagte er höflich zu Mary und wandte sich noch einmal an Rob. "Wir sehen uns später auf der Ratsversammlung." "Selbstverständlich", antwortete Rob. "Ratsversammlung?" wiederholte Mary fragend, nachdem Mr. Baxter gegangen war. Rob nickte. "Wir sind beide Mitglieder des Stadtrats." "Oh. Das wußte ich nicht. Wie schön."
Rob seufzte. "In diesen Tagen ist es weniger angenehm, aber ich halte es für meine Pflicht, mich zu engagieren. Anfang des Jahres hat einer der Hauptarbeitgeber der Region Konkurs angemeldet. Viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz." "Ich habe davon gehört. Es ist äußerst bedauernswert." "Das ist es wirklich", stimmte Rob traurig zu. "Viele Familien müssen wegen der Arbeitslosigkeit große Entbehrungen auf sich nehmen. Neue Arbeitsplätze sind bitter nötig. Der Stadtrat versucht alles, um Unternehmen anzulocken. Wir haben Verbindung mit mehreren Firmen aufgenommen, die Standorte für Zweigwerke suchen. Ich verhandle mit der Prichart Vinyl Company in Houston, die nächstes Jahr ein neues Werk errichten möchte. Dan verhandelt mit einer Gesellschaft, deren Hauptwerk in Colorado steht. Andere Mitglieder des Stadtrats haben ebenfalls Kontakte zu verschiedenen Firmen geknüpft." Er seufzte wieder. "Glauben Sie mir, es ist nicht einfach für eine kleine Stadt wie Hope, attraktiv für große Betriebe zu wirken. Die meisten erwarten ein breitgefächertes kulturelles und schulisches Angebot." Mary nickte. "Das ist das Problem vieler Kleinstädte, die dann allmählich verwaisen. Ich hoffe, daß Sie zum Wohl der Allgemeinheit Erfolg haben. Eine Kollegin von mir erzählte erst neulich, daß sie und ihr Mann wahrscheinlich wegziehen müssen, weil er hier keine Arbeitsstelle findet. Jetzt bewirbt er sich andernorts. Zählen Sie noch etliche Familien in derselben Situation hinzu, und Geschäftsleute wie Sie und Lehrrer wie ich werden die Auswirkungen bald zu spüren bekommen. Wenn die Schülerzahl drastisch sinkt, muß ich als zuletzt angestellte Lehrerin zuerst gehen." "Mein Geschäft leidet bereits darunter", sagte Rob ernst. "Zur Zeit werden mehr Grundstücke und Häuser verkauft als gekauft. Dieses Jahr bringt scheinbar für jeden Einbußen." Dann wechselte er plötzlich das Thema und lächelte Mary an. "Wollen
Sie etwa sagen, Hope gefällt Ihnen inzwischen so gut, daß Sie nicht mehr fortmöchten?" Mary erwiderte sein Lächeln. "So könnte man es ausdrücken." "Gibt es da eine bestimmte Person, um derentwillen es Ihnen schwerfallen würde, die Stadt Hope zu verlassen?" fragte er bedeutungsvoll. "Vielleicht gibt es jemanden, den Sie eventuell erst kürzlich kennengelernt haben?" Rob erkannte sich selbst nicht wieder. Er flirtete tatsächlich! Seit Lynn hatte ihn keine Frau mehr dazu herausgefordert. Auch diese wird den Schutzwall, den ich um mein Herz errichtet habe, nicht durchdringen, versicherte er sich hastig. Aber sobald Mary ihn anlachte, verfiel er ihrem Charme. Rob mußte zugeben, daß er ihre Gesellschaft außerordentlich genoß. Was für eine Dreistigkeit, dachte Mary, flirtet dieser Mann doch in aller Öffentlichkeit mit mir hier in Ellas Cafe"! Normalerweise wies Mary attraktive, alleinstehende Männer strikt ab. Jetzt stellte sie erstaunt fest, daß ihr der Flirt mit Rob gefiel. Sie neigte den Kopf und klimperte aufreizend mit den Wimpern. "Vielleicht", antwortete sie gedehnt. Rob schmunzelte. "Wer könnte diese Person bloß sein?" fragte er unschuldig. "Oder bin ich etwa zu neugierig?" "Oh, Sie sind entschieden zu neugierig." Mary hob scherzhaft den Zeigefinger. "Aber wenn Sie's unbedingt wissen müssen, die Person ist natürlich Holly Green. Ich habe mich über ihren Besuch gestern abend sehr gefreut und hoffe, daß es nicht der letzte war." "Würden Sie sonst noch jemanden vermissen?" Rob blieb hartnäckig beim Thema. Mary tat so, als ob sie angestrengt nachdenken müßte. "Nein", behauptete sie schließlich. "Mir fällt niemand mehr ein. Außerdem fragten Sie mich nach einer bestimmten Person, nicht nach zwei Personen." "Okay, okay, l : 0 für Sie. Ich geb' auf."
"Das haben Sie verdient", meinte Mary keß. "Wer in einer Gießkanne angelt, kann wohl nicht im Ernst erwarten, einen riesigen Wal zu fangen." Rob legte den Kopf zurück und lachte schallend. Hopes neue Grundschullehrerin gefiel ihm immer besser, und eins wurde ihm allmählich klar: Er würde sie sehr vermissen, wenn sie fortzog. Diese 'Erkenntnis war ihm gar nicht recht, aber es war zu spät, er konnte nichts mehr dagegen tun.
5. KAPITEL Freitag früh schien die Sonne, und Mary beschloß, zu Fuß zur Schule zu gehen. Als sie das Haus verließ, sah sie Mr. Starr in seinem Vorgarten, der gerade eine Lichterkette für die Weihnachtsbeleuchtung auspackte. Mary überquerte die Straße und sprach ihn an. "Guten Morgen. Wie ich sehe, geht es bei Ihnen auch weihnachtlich zu." "Meine Frau hat lieber den Garten als die Wohnung geschmückt, weil sich dann jeder an der Dekoration freuen kann." Mr. Starr blickte Mary traurig an. "Sie starb im letzten Herbst, wie Sie ja schon wissen." Mary nickte. Er hatte ihr davon gleich erzählt, als sie sich bei ihrem Einzug kennenlernten. "Ich setze die Tradition fort. Wilma hätte es so gewollt." Mary war gerührt. "Da tun Sie etwas sehr Liebes zu ihrem Gedenken", sagte sie einfühlsam. Dann verabschiedeten sie sich, und Mary ging weiter. Die Kinder waren den ganzen Morgen aufgeregt, weil sie wußten, daß ihr Klassenraum nach der großen Pause geschmückt werden sollte. Mary ließ sich von der Bege isterung anstecken. Das Dekorieren klappte problemlos, danach sollte für das Weihnachtsprogramm geübt werden.
Mary sortierte die Notenblätter in der Aula, während die Schüler der verschiedenen Jahrgänge zusammenkamen. Holly Green trat zu ihr. "Hallo, Miss Shelton." "Hallo." Mary lächelte sie freundlich an. Holly hielt ihr einen weißen Briefumschlag hin. "Das ist eine" Nachricht von meinem Vater." Bevor Mary den Umschlag öffnen konnte, verriet Holly den Inhalt. "Wir möchten Sie zum Abendessen einladen, und hinterher wollen wir unseren Weihnachtsbaum schmücken. Helfen Sie uns dabei?" Rob hatte folgendes geschrieben: "Wir sind Ihnen ein Essen schuldig, also sagen Sie nicht nein. Kommen Sie gegen achtzehn Uhr. Eine Jeans reicht aus." Dann kam noch ein Zusatz. "D ie Entwürfe für die Bühnenbilder sind fertig. Ich brauche Ihre Zustimmung, damit ich mit der Konstruktion anfangen kann." Es wäre besser, die Einladung auszuschlagen, dachte Mary. Sie traf Rob Green zu häufig, und er bedeutete ihr schon mehr, als sie zugeben wollte. Das würde unweigerlich irgendwann zu einer neuen Enttäuschung führen, und die wollte Mary sich eigentlich ersparen. Andererseits war die Versuchung groß, und Holly zerstreute ihre Einwände geschickt. "Bitte kommen Sie, Miss Shelton! Wir haben bestimmt viel Spaß zusammen. Dad meint, Sie könnten uns bei der Weihnachtsdekoration helfen. Zu dritt geht das viel besser. Bitte!" drängte sie. Mary kapitulierte. "Einverstanden. Ich bin pünktlich da." Rob öffnete Mary die Tür. Er hatte eine Schürze umgebunden, auf der ,Küß den Koch' stand. Ohne ein Wort zu sagen, deutete er auf die Aufschrift. Mary versuchte, ernst zu bleiben, was mißlang. "Muß ich?" fragte sie amüsiert. "Selbstverständlich, wenn Sie etwas zu essen haben wollen." Ein erregender Schauer lief ihr über den Rücken, und sie vergaß alle Vorsichtsmaßregeln. "Ich bin tatsächlich hungrig", seufzte sie abgrundtief und küßte ihn schnell auf die Wange.
"Das reicht nicht", behauptete Rob unnachgiebig. "Keinesfalls." Diesmal zeigte er auf seine Lippen. Dann verlieh er seiner Aufforderung Nachdruck, indem er einen Mistelzweig hinter seinem Rücken hervorholte und ihn über seinen Kopf hielt. Bevor Mary nachdenken konnte, lag sie in seinen Armen, und jetzt trafen sich ihre Lippen. Der Kuß dauerte nur ein paar Sekunden und konnte eigentlich keine tiefgreifende Wirkung hinterlassen. Das wollte Mary sich jedenfalls einreden. Trotzdem konnten sie den Blick nicht voneinander lösen, und Rob wirkte genauso überrascht wie sie selbst. Es gab keinen Zweifel, der Kuß hatte sie beide aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatten nicht erwartet, daß er diese ungestillte Sehnsucht auslösen könnte. Einen Moment schwiegen sie beide wie betäubt. Rob faßte sich zuerst wieder. "Kommen Sie herein", sagte er reichlich heiser. "Danke." Mary verwünschte ihre Unsicherheit. Vor den Wohnzimmerfenstern stand ein kahler Weihnachtsbaum, der darauf wartete, geschmückt zu werden. Mary atmete den würzigen Tannenduft tief ein, während Rob ihr höflich den Mantel abnahm. "Hoffentlich haben Sie ordent lich Appetit", meinte Rob. "Es gibt Brathähnchen. Kommen Sie mit in die Küche. Dort können Sie uns beaufsichtigen." Holly und ihre Freundin Ami Grant zerkleinerten die Zutaten für den Salat. "Hallo, Miss Shelton", begrüßten sie Mary einstimmig. "Hallo, Mädchen. Was kann ich euch helfen?" "Dad hat gesagt, daß Sie nur zugucken sollen. Schließlich sind Sie unser Gast." "Ich würde aber lieber helfen, als faul herumzustehen." Mary wandte sich an Rob, der die Hähnchenschenkel in der Pfanne umdrehte. "Das ist mein Ernst: Geben Sie mir eine Aufgabe."
"Wenn das so ist, dann dürfen Sie den Tisch decken. Übrigens, können Sie zufällig Sahnesoße zubereiten?" "Ob ich Sahnesoße zubereiten kann? Das ist, als ob Sie fragen würden, ob es den Weihnachtsmann wirklich gibt!" Mary zwinkerte den Mädchen zu. "Ich bin weltberühmt für meine Sahnesoße." "Ihre Bescheidenheit ist überwältigend!" stellte Rob fest. "Ich ernenne Sie also feierlieh zu unserem Soßenkoch." "Daddy kriegt nämlich keine Soße hin, egal, wie sehr er sich anstrengt", verriet Holly. "Er macht nur Klumpen und läßt alles anbrennen." "So schlimm?" Mary lachte. Das Abendessen schmeckte nicht nur hervorragend, sondern verlief in unbeschwerter Atmosphäre. Rob scherzte abwechselnd mit Mary und den Mädchen, und sie neckten ihn und verbündeten sich manchmal sogar zu dritt gegen ihn. Rob hatte ein sehr entspanntes Verhältnis zu seiner Tochter und bezog ihre Freundin locker mit ein. Das gefiel Mary. Nach dem Abendessen bestand Mary darauf, daß sie und die Mädchen sich um den Abwasch und die Küche kümmern sollten, da Rob schon genug Schwerarbeit mit dem Hähnchenbraten geleistet hätte. Das ließ er sich nicht zweimal sagen und verschwand bereitwillig im Wohnzimmer. Die Mädchen waren weniger begeistert, fügten sich aber ohne Murren. Während sie gemeinsam die Küche aufräumten, lernten sie sich besser kennen. Mary bot den beiden sogar an, sie mit Vornamen anzusprechen, solange sie es nicht in der Schule oder in der Gegenwart von Mitschülern taten. Nachdem die Küchenarbeit erledigt war, kramten Holly und Amy mehrere Schachteln mit Weihnachtsschmuck aus dem Wandschrank in der Eingangshalle. Mary genehmigte inzwischen Robs Entwürfe für die Bühnenbilder. Er versprach, bereits morgen mit dem Anfertigen anzufangen.
Das Dekorieren des Weihnachtsbaumes wurde eine vergnügliche Angelegenheit. Rob hängte gehäuft silberne Eiszapfen an ein paar Zweige und mehrere Kugeln direkt nebeneinander. Die Mädchen protestierten, aber er behauptete, daß er den Baum so viel schöner fände. Natürlich berichtigten sie seine "Fehler", und schließlich gab er auf und entzündete statt dessen ein Feuer im Kamin. Gelegentlich ärgerte er sie, indem er einen Zuckerkringel klaute, den sie gerade an den Baum gehängt hatten. Als die Mädchen fertig waren, sah der Weihnachtsbaum trotz Robs Sabotage wunderschön aus. Die künstlichen Kerzen blinkten in allen Farben und zauberten märchenhafte Lichteffekte auf die verzierten Glaskugeln. Holly war überzeugt davon, daß der Weihnachtsmann zufrieden sein würde. Dann klingelte es, und die beiden Mädchen rannten zur Tür und öffneten. "Hallo, Mama", begrüßte Amy die Frau, die auf der Türschwelle stand. "Seid ihr Mädchen abfahrbereit?" fragte sie. "Gleich", versprach Holly. "Bitte Amys Mutter herein", rief Rob aus dem Wohnzimmer. Die Frau folgte der Aufforderung. "Hallo, Joanne", sagte er. "Setz dich doch." "Das geht nicht. Brad wartet im Auto. Beeilt euch, Mädchen. Wir haben einen Walt Disney Videofilm für euch ausgeliehen." Holly und Amy stürmten begeistert los, um Hollys Tasche sofort zu packen. Rob stellte Mary und Amys Mutter einander vor, und Joanne Grant lächelte freundlich. "Ich habe Sie schon in der Schule gesehen. Ich bin die Sekretärin des Schulrats." "Aha: Sie kamen mir gleich bekannt vor." Rob holte Geld aus seinem Portemonnaie und gab es Joanne. "Das müßte für Hollys Mittagessen und die Weihnachtsgeschenke ausreichen. Wenn sie mehr braucht und du es für sinnvoll hältst..."
Joanne lachte. "Im Notfall kriegt sie von mir ein Darlehen. Ich nehme Amy und Holly morgen zu einem Einkaufsbummel in Houston mit", erklärte sie auf Marys fragenden Blick hin. Rob schmunzelte. "Joanne läßt sich durch nichts abschrecken." Die Mädchen kamen mit Hollys Rucksack zurück und verabschiedeten sich lautstark. Dann waren Mary und Rob plötzlich allein. Für eine Weile hörte man nur das Prasseln des Feuers. Mary schwieg angespannt. "Nun..." begann Rob. Mary unterbrach ihn. "Das war nicht besonders fair", erklärte sie ihm rundheraus. "Was? Wieso?" Rob tat, als ob er nichts verstünde. Dabei sah er so zerknirscht aus, daß Mary beinah gelacht hätte. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der beim Naschen ertappt worden war. "Sie haben mich absichtlich falsch informiert", beschuldigte sie ihn. "Ich war überzeugt, daß wir den ganzen Abend zusammen mit Holly verbringen würden." Rob wies die Schuld rigoros von sich. "Ich habe nur vergessen, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen." Er kam langsam auf sie zu. "Ist das wirklich so ein schlimmes Verbrechen? Ist es so furchtbar... mit mir allein zu sein?" Mary war verwirrt und unsicher. Ihr Herz schlug schneller, weil sie wußte, was jetzt passieren würde. Es war von Anfang an unvermeidbar und nur eine Frage der Zeit und des Ortes gewesen, Rob nahm sie in die Arme, neigte entschlossen den Kopf und küßte sie leidenschaftlich. Dieser Kuß hatte mit dem Kuß bei ihrer Ankunft ungefähr soviel gemein wie Weihnachten mit Ostern. Mary wurde ganz heiß, und sie konnte ihre Gefühle für Rob nicht länger unterdrücken. So zögerte sie nur einen Herzschlag lang, dann öffnete sie bereitwillig die Lippen und hob die
Hände, um sein Gesicht zu streicheln. Als sie ihn berührte, erbebten sie beide vor dem Ansturm der Gefühle, und ihre Erregung wuchs. "Ich danke dir dafür, daß du in mein Leben getreten bist, Mary Shelton", murmelte Rob und strich verlockend mit der Zunge über ihre Lippen. Was für liebevolle, unerwartete Worte! Mary lehnte sich ein wenig zurück und sah ihn verwundert an. "Noch nie hat mir jemand dafür gedankt... daß ich existiere", flüsterte sie kaum hörbar, und das stimmte. "Dann hast du bisher nur Egoisten und Ignoranten kennengelernt", murmelte Rob. Er strich zärtlich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. "Ich war so lange Zeit einsam und bin sehr froh, daß du hier bist." Mary stellte sich auf die Zehenspitzen Und küßte ihn impulsiv. Ihre Spontaneität entflammte Rob, und er zog sie immer dichter an sich. Als er sie so nah an seinem Körper spürte, stellte er überrascht fest, daß er sie nie wieder loslassen wollte. "Ich bin auch unglaublich froh, daß ich hier bin", flüsterte Mary schließlich leise. "Aber ich hab' nicht erwartet, daß ich so viel für dich... oder überhaupt irgend jemanden empfinden könnte." "Mir geht es genauso", gestand er rauh. "Und ich finde es wunderbar." Rob küßte Mary auf die Wange und die Schläfe und vergrub sein Gesieht in ihrem glänzenden, seidigen Haar. Dann suchte er ihre Lippen wieder, küßte sie fordernd und zog sie mit sich aufs Sofa. Einen Moment später hatte er Mary auf ein paar weiche Kissen gebettet und lag neben ihr. Sie waren beide angezogen. Trotzdem ging er mit den Händen auf eine sinnliche Entdeckungsreise und erforschte jeden Zentimeter ihres anmutigen Körpers.
Langsam ließ er die Hände unter ihren Pullover gleiten und wärmte sie an ihrer samtweichen Haut. Dann wanderten seine Finger weiter und stießen auf den BH aus Seide, der ihre vollen Brüste umhüllte. Rob schob den dünnen Stoff beiseite und umkreiste ihre Brustwarzen aufreizend. Mary erschauerte lustvoll, und er steigerte ihr Verlangen, bis sie alle Hemmungen verlor und sich ihm ohne jede Scham entgegendrängte. Jetzt konnte Rob sich kaum noch zurückhalten. Er wollte ihren nackten Körper spüren und mit Küssen bedecken, und er wollte mit ihr schlafen. Als er den Reißverschluß ihrer Jeans öffnete, wurden seine Bewegungen durch die Rücklehne des Sofas eingeschränkt. "Es ist zu eng hier, Liebling", flüsterte er. "Ich bringe dich lieber zu mir ins Schlafzimmer." Mary wollte einwilligen. Sie begehrte Rob wie noch keinen Mann zuvor und war überwältigt von der Macht ihrer Gefühle. v Er stand vom Sofa auf und reichte ihr die Hand. Doch Mary schlug sie aus, setzte sich steif hin und zog sich den Pullover mit fahrigen Fingern zurecht. Ihre Kehle war trocken, und es fiel ihr unendlich schwer zu sprechen. Ihr Körper brannte vor Verlangen. Es war fast unmöglich, zu widerstehen. Aber sie mußte es für ihr Seelenheil tun! "Verzeih mir", flüsterte sie unglücklich. "Es tut mir wirklich leid, Rob, aber ich kann nicht." Rob reagierte betroffen. "Hab ich die Zeichen falsch verstanden? Ich dachte, du willst mich auch. Hab ich dich zu sehr bedrängt?" Er fuhr sich aufgeregt durchs Haar. "Du hältst mich bestimmt für einen Narren." "Nein", rief Mary schrill und sprang auf. "So etwas würde ich nie denken! Du hast nichts falsch gemacht. Und es stimmt... ich wollte dich auch." Sie senkte den Kopf. "Ich will dich immer noch."
Rob trat einen Schritt auf sie zu, als ob er sie wieder in die Arme nehmen wollte. Da wich Mary hastig zurück. Robs Augen weiteten sich. "Du sagst, daß du mich willst, aber dann sagst du wieder nein. Das ist verrückt. Es sei denn", fügte er plötzlich argwöhnisch hinzu, "du hast irgendwo einen Ehemann, der auf dich wartet." Mary schüttelte entschieden den Kopf. "Es gibt keinen", antwortete sie ehrlich. "Was hält uns dann zurück?" "Ich kann einfach nicht. Ich will ehrlich sein: Ich will mich nicht in dich verlieben." Rob war wie erschlagen von ihrer Antwort. Er hob beide Hände und deutete mit einer wortlosen Geste an, daß er sie nicht wieder berühren würde. "Es tut mir so leid", murmelte Mary den Tränen nahe. "Das braucht es nicht", sagte er hart. "Es ist alles mein Fehler. Ich hätte dich nicht küssen sollen, geschweige denn..." Er brach ab und sah weg, als sie errötete. "Ich will mich auch nicht in dich verlieben", fügte er nüchtern hinzu. "Nicht in dich oder sonst irgend jemanden. Es wäre für uns beide besser gewesen, wenn ich daran gedacht hätte, bevor ich dich heute abend einlud. Wenn sich also jemand entschuldigen muß, dann bin ich es." Ihre Blicke trafen sich. Es blieb nichts mehr zu sagen außer einem Lebewohl. Mary holte ihre Handtasche und den Mantel. Rob war ihr nicht behilflich wie gestern nachmittag in der Schule, und das schmerzte. Als sie fertig war, öffnete er die Haustür für sie. Sein Gesicht war wie versteinert. "Vergib mir", bat sie. "Gute Nacht", entgegnete er tonlos.
6. KAPITEL Am Samstag beschäftigte sich Mary mit Haushaltspflichten und kleinen Besorgungen, damit sie nicht ununterbrochen an Rob und das katastrophale Ende ihres Treffens am vorhergehenden Abend denken mußte. Ab und zu schaute sie aus dem Fenster und beobachtete fasziniert, wie Mr. Starr seinen Vorgarten weiter dekorierte. Er hatte Lichterketten an jedem Baum und jedem Strauch, an allen Ecken des Hauses, an der Dachrinne und selbst am Briefkasten an der Straße angebracht. Mary hatte so eine prachtvolle Weihnachtsbeleuchtung noch nie an einem einfachen Wohnhaus gesehen. Mr. Starr schien dafür Tag und Nacht zu arbeiten. Sonntag früh beschloß Mary, zur Kirche zu gehen. Sie erhoffte sich eine Inspiration von der Predigt, die sie aus ihrer trüben Stimmung reißen sollte. Zehn Minuten vor Beginn des Gottesdienstes war sie da und setzte sich auf eine Bank in der Mitte der Kirche. Ein paar Minuten später stellte sie überrascht fest, daß der Pastor auf sie zukam. "Mary", begrüßte Pastor Harwick sie freundlich und reichte ihr die Hand. "Guten Morgen, Herr Pastor." "Man hat mir erzählt, daß Sie Klavier spielen können. Stimmt das?" Mary nickte. "Können Sie auch Orgel spielen?" "Ja."
"Wären Sie so nett, den Gottesdienst für uns auf der Orgel zu begleiten? Jackie Murphy, an deren Stelle Sie die Schulweihnachtsfeier organisieren, ist sonst unsere Organistin. Sie fehlt uns sehr." "Natürlich." Mary folgte dem Geistlichen sofort in den vorderen Teil der Kirche, wo auch die Orgel stand. Nach ein paar Liedern war es Zeit für die Predigt. Mary ließ den Blick über die Gemeinde schweifen und entdeckte Rob und seine Tochter. Ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment, aber das reichte. Um Marys Fassung war es geschehen. Rob wirkte genauso deprimiert, wie sie sich fühlte. Danach konnte Mary sich nicht mehr auf die Predigt konzentrieren. Sie spürte Robs Gegenwart und seinen intensiven Blick zu deutlich. Mary wurde die Kehle eng. Obwohl sie sich auf keinen Fall in Rob verlieben wollte, empfand sie offensichtlich schon mehr für ihn, als für sie gut war. Der Gedanke, daß es keine gemütlichen Abendessen zu dritt mehr geben würde, kein Lachen und - sie mußte es zugeben - keine leidenschaftlichen Küsse, schmerzte bitter. Trotzdem war es die vernünftigste Lösung. Ein bißchen Schmerz jetzt war besser als ein gebrochenes Herz später. Mary hatte bereits zu viele Enttäuschungen erlebt, sie war zu oft in ihrem Leben zurückgewiesen worden, um ein neues Risiko eingehen zu wollen. Sie war erleichtert, als der Gottesdienst endlich vorbei war. Noch ein Lied, dann ordnete sie die Notenblätter, klappte den Deckel der Orgel zu und erhob sich. "Hallo, Miss Shelton". Das war Holly Greens Stimme. "Guten Morgen, Holly", antwortete Mary. Noch bevor sie sich umdrehte, wußte sie, daß Hollys Vater hinter ihr stehen würde.
Rob sah umwerfend gut aus. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein schneeweißes Hemd und einen rot und silber gestreiften Schlips. "Hallo, Mary", begrüßte er sie leise. "Hallo, Rob." Holly rannte zu einer Freundin und ließ sie allein. "Du siehst sehr hübsch aus", brach Rob schließlich das Schweigen. "Und du hast wunderbar Orgel gespielt." "Danke. Du siehst auch sehr gut aus." Es war nur fair, das Kompliment zu erwidern. Außerdem stimmte es, in ihren Augen war er schöner als alle anderen Männer. Danach stockte die Unterhaltung. Sie musterten sich unglücklich, und jeder suchte nach einer Ausrede, um gehen zu können. Der Pastor trat zu ihnen. "Vielen Dank, daß Sie uns heute ausgeholfen haben, meine Liebe. Könnten wir Sie überreden, daß Sie weiter für uns spielen, bis Mrs. Murphy wieder gesund ist? Wir brauchten Sie nicht nur sonntags, sondern auch bei den Proben des Kinderchors und beim Weihnachtsgottesdienst. Natürlich bezahlen wir Sie." "Ich helfe Ihnen gern", erklärte Mary, "aber selbstverständlich ohne Bezahlung. Betrachten Sie es als mein Weihnachtsgeschenk für die Kirchengemeinde." "Wir wissen es zu schätzen." Im nächsten Moment bat ein älteres Gemeindemitglied Pastor Harwick um ein Gespräch, und er verabschiedete sich. Mary und Rob blieben wieder allein. Das war typisch für Mary, sie war großzügig und warmherzig. Robs jüngster Entschluß, Gefühle auszuschalten, schmolz dahin. Gestern abend hatte Mary ihn abgewiesen, bevor die Situation ganz außer Kontrolle geriet. Sie hatte ihm schmerzlich klar gemacht, daß sie sich nicht in ihn verlieben wollte. Als ob das überhaupt denkbar wäre! Robs Antwort, daß er Sich auch nicht verlieben wollte, war eine voreilige Trotzreaktion
gewesen, um seinen verletzten Stolz zu retten. Außerdem hatte er sich nach dem Fiasko mit Lynn geschworen, nie wieder eine feste Beziehung einzugehen. Jetzt, als Mary in dem blauen Seidenkleid, das ihre Figur so vorteilhaft betonte, vor ihm stand, fragte Rob sich unwillkürlich, welche unsichtbaren Wunden,sie trug. Er folgte ihr den Gang entlang aus der Kirche. Es war ein herrlicher Tag. Die Luft war noch kühl, aber die strahlende Sonne wärmte bereits. Der Nachmittag würde einzigartig werden. Auf dem begrünten Platz vor der Kirche unterhielt sich Holly mit mehreren Freundinnen. Rob blieb neben Mary stehen und überlegte krampfhaft, wie er das Gespräch anfangen sollte. Die Spannung zwischen ihnen wurde allmählich unerträglich. "Ist der Tag nicht großartig?" begann Mary auf gut Glück. "Ja. Und er ist viel zu schön, um ihn zu verschwenden." Rob wagte die Flucht nach vorn. "Was hast du heute nachmittag vor?" fragte er impulsiv. Mary zuckte mit den Schultern. "Oh, ich habe noch allerhand für die Schule zu erledigen..." "Vergiß es", unterbrach er sie. "Solche Tage wie heute sind im Dezember selten. Du hast mir erzählt, daß du auf einer Ranch aufgewachsen bist, also magst du bestimmt Pferde, oder? Wie war's mit einem Reitausflug?" Mary zögerte ein paar Sekunden. Es wäre unklug, die Einladung anzunehmen. Sie wußte, daß es ihr später um so schwerer fallen würde, Rob zu vergessen. Aber reiten! Es war so lange her! Rob bemerkte ihre Unentschlossenheit. Offensichtlich fand sie seinen Vorschlag verlockend. "Keine Hintergedanken", versprach er. "Holly wird unsere Anstandsdame sein."
Marys Augen funkelten zu Robs Freude. "Ich bin einverstanden", sagte sie erwartungsvoll. Zwei Stunden später saßen Mary und Rob auf einer Decke neben einem plätschernden Bach. Ihre Pferde waren ein paar Meter entfernt an einem Baum angebunden. Holly und ihre Freundin Amy ritten quer über die riesige Weide zu Mrs, Watsons Haus und hofften, zu einer heißen Schokolade und ein paar Weihnachtskeksen eingeladen zu werden. Sie waren nicht mit Hollys Pony unterwegs. Rob hatte statt dessen eine gutmütige alte Stute name ns Honey gewählt, die beide Mädchen trug. Er selbst ritt seinen feurigen Zuchthengst und Mary eine lebhafte Weiße Stute namens Winnie. Vorher hatte sie ihm versichert, daß sie reiten konnte. Mary hatte das Pferd mit der Sicherheit eines Profis beherrscht. Jetzt musterte Rob sie anerkennend. Sie trug knackige Jeans, eine blaukarierte Bluse, darüber eine Lederweste und Westernstiefel. Ihre Kleidung war praktisch und der Situation angepaßt. Sie bewegte sich frei und ungezwungen, und es. war klar, daß sie sich äußerst wohl fühlte. "Du reitest perfekt", stellte Rob bewundernd fest, "als ob du auf dem Sattel geboren wärst." Mary lächelte. "Das stimmt beinah. Mein Großvater hat mir das Reiten beigebracht, als ich noch sehr klein war. In Hollys Alter nahm ich regelmäßig an Rodeos teil und konnte auch gut mit dem Lasso umgehen. Als Teenager habe ich ein paar Trophäen bei Wettkämpfen gewonnen." Sie seufzte. "Manchmal vermisse ich den Nervenkitzel und die einzigartige Atmosphäre der Rodeos. Und ganz besonders vermisse ich mein Pferd Champion." "Was ist mit ihm passiert?" Mary lächelte wieder, und ihre natürliche Herzlichkeit wirkte bezaubernd. "Nichts, er ist einfach alt geworden wie eure Honey. Als ich fort ins College ging, schenkte ich ihn der
jüngsten Nachbarstochter. Dort bekommt er inzwischen sein Gnadenbrot." "Das klingt, als ob du eine schöne Kindheit hattest. Hast du in der Nähe deiner Großeltern gelebt?" Mary schüttelte den Kopf. "Ich habe bei ihnen gelebt." "Was ist mit deinen Eltern?" fragte Rob einfühlsam. Mary ließ den Blick in die Ferne schweifen und richtete ihn dann auf Holly und Amy, die rittlings auf Honey saßen und ihr Ziel fast erreicht hatten. Zu keinem Zeitpunkt waren die Kinder außer Sichtweite gewesen. "Ich habe meinen Vater nie kennengelernt", ant wortete Mary. "Meine Eltern waren nicht verheiratet. Als ich sieben Jahre alt war, ging meine Mutter mit einem Mann fort, von dem sie hoffte, daß er sie heiraten würde. Er wollte mich nicht dabei haben." Rob hörte den tiefen Schmerz in ihrer Stimme und legte die Hand tröstend auf ihre. "Das tut mir leid", murmelte er. "Deine Mutter... lebt sie noch?" Mary hob die Schultern. "Ich habe keine Ahnung. In den ersten Jahren erhielten wir gelegentlich Postkarten von ihr, aber immer aus verschiedenen Orten und ohne Adresse. Als ich ein Teenager wurde, kamen keine Karten mehr." Rob drückte ihre Hand mitfühlend. "Wie kann man einem Kind nur so etwas Gemeines antun!" Mary zuckte wieder mit den Schultern und schien einen unsichtbaren Schutzwall um sich herum zu aktivieren. "Das passiert", antwortete sie kurzangebunden "Glaub mir, für deine Eltern ist es ein furchtbarer Verlust", rief Rob aufgebracht. "Sie haben es aus eigener Schuld verpaßt, eine ganz besondere Person kennenzulernen, deren äußere Schönheit mit der inneren in Einklang steht." "Danke", sagte Mary gerührt. "Meine positiven Erfahrungen verdanke ich meinen Großeltern. Sie waren immer gut zu mir.
Sie waren die einzigen Menschen, die mich jemals wirklich geliebt haben." "Das glaube ich keinen Augenblick." Rob ließ Marys Hand los. Nur so konnte er sein Bedürfnis, ihren Schmerz wegzuküssen, unterdrücken. "Willst du etwa behaupten, daß dich bisher kein Mann geliebt hat?" fragte er herausfordernd. "Das kann ich einfach nicht glauben!" Rob wollte Mary mit dieser halb scherzhaft gemeinten Bemerkung von ihren qualvollen Erinnerungen ablenken. Er hatte nicht geahnt, daß er damit ihren Zorn erregen würde. "Es ist die Wahrheit!" erklärte sie empört. "Willst du jetzt die ganze traurige Geschichte über mein Liebesleben wissen?" Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern erzählte ehrlich. "Ich hatte keinen Freund, während ich auf dem Gymnasium war. Ich wohnte zu weit außerhalb auf dem Land. Kein Junge wollte sich auf eine solche Entfernung einlassen. Im College war ich viel zu schüchtern und zu unerfahren, das stieß die Jungs ab. Sie bevorzugten die unbeschwerten, lebenslustigen Partygirls. Für sie war ich die Landpomeranze, die mit dem Leben in der Stadt nicht zurechtkam. Während meiner Collegezeit bin ich nur zweioder dreimal zu einem Rendezvous eingeladen worden." "Und später?" "Nach dem Examen bekam ich eine Stelle als Lehrerin in Abilene. Das paßte mir gut, denn von dort aus konnte ich meine Großmutter problemlos an den Wochenenden besuchen. Sie war inzwischen gesundheitlich sehr anfällig, und ich machte mir ihretwegen Sorgen wegen ihres einsamen Lebens auf dem Land. Mein Großvater war schon während meines letzten Schuljahres auf dem Gymnasium gestorben." Mary holte tief Luft. "In meinem dritten Jahr in Abilene kam ein neuer Lehrer an unsere Schule. Das war Wayne. Aus irgendeinem Grund schien er mich zu mögen, und wir gingen öfter miteinander aus. Ich nahm ihn sogar ein paarmal mit zu
meiner Großmutter, aber meistens trafen wir uns unter der Woche, und ich fuhr an den Woche nenden allein nach Hause." Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie weitersprach. "Wir verlobten uns und planten eine Sommerhochzeit. Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich nicht leidenschaftlich verliebt in Wayne. Es war nicht die heiße, alles verzehrende und romantische Liebe, von der man immer liest... Aber ich hatte ihn sehr gern, und ich vertraute ihm vollkommen." Rob umfaßte ihre Hand wieder. "Laß mich den Rest erraten. Der Schuft hat dich betrogen." "Oh, es war noch viel besser!" rief Mary erregt. "An einem Wochenende, als ich meine Großmutter besuchte, heiratete er eine andere Frau. Die war nämlich schwanger von ihm. Und das, wo wir beide niemals... wir hatten uns darauf geeinigt, bis zur Hochzeitsnacht zu warten..." Sie brach ab und schluchzte trocken. Rob war völlig verdutzt. Mary erzählte ihm, daß sie noch Jungfrau war! Eine zurückgewiesene Jungfrau! Ohne weiter nachzudenken, legte er die Arme beschützend um sie, und Mary lehnte den Kopf an seine Schulter. Er streichelte ihren Rücken zärtlich und beruhigend, wie man ein unglückliches Kind tröstet. "Alles wird gut", flüsterte er. "Der elende Schurke hat dich nicht verdient, Mary, das schwör ich dir." Da lächelte Mary trotz ihres Schmerzes. "Ich bin ganz deiner Meinung. Für solche Typen bin ich viel zu gut. Aber das ändert nichts daran, daß ich verletzt und enttäuscht bin... und manchmal sehr einsam, verstehst du?" "Ja," stimmte er ernst zu. "Ich weiß, was es bedeutet, verletzt und einsam zu sein." Er meint bestimmt die Trauer über den Tod seiner Frau, dachte Mary. Sie schniefte, sagte aber nichts. Rob ließ ihre Hand los und gab ihr sein Taschentuch. "Putz die Nase", ordnete er an.
Mary gehorchte und schniefte dann noch einmal, wie zum Trotz. "Du bist herrschsüchtig", schimpfte sie und tat beleidigt. Rob schmunzelte. "Das ist die Macht der Gewohnheit. Immerhin hab ich ein achtjähriges Kind. Fühlst du dich jetzt besser?" Mary nickte. "Wirst du deine Großmutter in den Weihnachtsferien besuchen?" Er stellte sich vor, wie langweilig es zwei Wochen ohne sie sein würde. Aber Mary schüttelte den Kopf. "Meine Großmutter starb einen Monat, nachdem Wayne mich verlassen hatte." "Auch das noch! Dann bist du wahrscheinlich hierhergekommen, um von allem Abstand zu gewinnen." "Ja. Ich fand es unerträglich, Wayne nach seiner Heirat jeden Tag in der Schule treffen zu müssen. Ein Schulwechsel innerhalb von Abilene wäre möglich gewesen, aber in der Zwischenzeit hatte ich die Ranch verkauft, und nichts hielt mich mehr in der Gegend. Also bewarb ich mich überall. Eigentlich war es mir egal, wo ich eine Stelle bekommen würde, solange es nur weit genug von Abilene entfernt wäre. Die Grundschule von Hope antwortete zuerst, und ich sagte zu." "Hast du es bedauert?" fragte Rob. Mary wischte die letzte Träne ab und schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Ich bin froh, daß ich hierherkam. Sehr froh. Rob, ich möchte mich für gestern abend entschuldigen, aber... mich überfiel plötzlich Panik." "Eine Entschuldigung ist nicht nötig", versicherte Rob ihr sanft. Er schaute über ihre Schulter und schlug einen lockeren Tonfall an. "Da kommen die Mädchen."
7. KAPITEL Als Rob Mary später nach Hause brachte, waren sie von Mr. Starrs Weihnachtsbeleuchtung überwältigt. Er hatte sein Grundstück noch weiter dekoriert. Jetzt war aus der hohen Tanne dicht am Bürgersteig der schönste Weihnachtsbaum geworden. An den Zweigen hing handgeschnitztes, bunt bemaltes Holzspielzeug zwischen unzähligen elektrischen Kerzen. An der Spitze des Baumes war ein großer goldener Stern angebracht, der von weißen Lämpchen umrahmt war und sich hell leuchtend vom dunklen Nachthimmel abhob. "Das ist noch längst nicht alles", meinte Holly. "Die Krippe und der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten und den Rentieren fehlen bisher." "Laß ihm Zeit." Rob lachte. "Jedes Jahr kommt außerdem etwas Neues hinzu. Mr. Starrs Weihnachtsdekoration ist inzwischen zu einer Sehenswürdigkeit von Hope geworden, die sich niemand entgehen läßt." "Ich hatte keine Ahnung, daß er so ins Detail geht", sagte Mary beeindruckt. Dann brachte Rob Mary bis zur Haustür. Weil die beiden Mädchen im Auto saßen, hielt er sich zurück und küßte sie nicht, zumal er ihr ja auch versprochen hatte, heute keinen Annäherungsversuch zu machen. Mary war sich der beiden Zuschauerinnen ebenso bewußt. Sie wünschte, Rob könnte sie küssen, und fragte sich doch
gleichzeitig, ob er nach ihrer gestrigen hysterischen Reaktion überhaupt noch Lust dazu hätte. Heute war er freundlich und liebenswürdig gewesen, ansonsten aber distanziert. Kein Vergleich zu der Leidenschaft, die er am Abend davor gezeigt hatte. Am Montag vormittag hatte Mary während des Sportunterrichts ihrer Schüler eine Freistunde. Sie wollte ins Lehrerzimmer gehen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, und stellte überrascht fest, daß Rob vor dem Klassenraum auf sie wartete. "Ist etwas passiert?" fragte sie. "Nein. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten", sagte er. "Ich muß heute nachmittag überraschend zu einer wichtigen Sitzung nach Houston. Einige Vorstandsmitglieder der Firma, von der ich dir erzählte, werden daran teilnehmen." "Du meinst die Firma, von der vielleicht ein Zweigwerk in Hope gebaut werden könnte?" Rob nickte. "Ich hab' gerade erst davon erfahren, und es sieht so aus, als ob ich über Nacht bleiben müßte. Ich hatte Holly eigentlich versprochen, heute mit ihr einkaufen zu gehen. Ich möchte ihr etwas Neues zum Anziehen für die Weihnachtsfeier am Freitag schenken. Jetzt bin ich verhindert. Könntest du an meiner Stelle mit ihr zu Betsy's oder Hope's Kleiderboutique fahren und sie hinterher zu Mrs. Watson bringen? Dort kann sie übernachten." "Natürlich", versprach Mary sofort. "Aber was hältst du davon, wenn Holly statt dessen bei mir übernachtet? Ich besitze ein Gästezimmer. Nach dem Einkaufen könnten wir ihr Nachthemd, ihre Zahnbürste und die Schulsachen für morgen holen." Rob lächelte. "Willst du dir tatsächlich solche Umstände machen? Es ist kein Problem, Holly bei Mrs. Watson zu lassen." "Falls sie das vorzieht...?"
Rob schmunzelte. "Holly liebt Mrs. Watson, aber sie beklagt sich immer, daß sie so zeitig ins Bett muß." "Dann ist doch alles klar", entschied Mary. "Ich freu' mich auf Hollys Besuch. Sie ist ein großartiges Kind." "Ich bin ganz deiner Meinung", pflichtete Rob ihr stolz bei. Anschließend schwiegen sie und schauten sich nur an. Mary glaubte, in seinem Blick dasselbe unterdrückte Verlangen zu entdecken, das sie spürte, und ihr Herz schlug unwillkürlich schneller. Warum vergaß sie immer wieder, daß ihr unweigerlich eine weitere Enttäuschung bevorstand, wenn sie sich ernsthaft in Rob verlieben würde. "Nun", sagte er schließlich verlegen, "ich sollte lieber Holly suchen, ihr die Neuigkeiten mitteilen und mich auf den Weg machen. Sonst komme ich noch zu spät." Mary nickte. "Fahr vorsichtig." Nach Schulschluß machten Mary und Holly einen Einkaufsbummel und hatten viel Spaß dabei. Sie fanden das perfekte Kleid für die Weihnachtsfeier, es war aus rotem Samt und hatte einen schneeweißen Spitzenkragen. Rob hatte Mary außerdem gebeten, passende Schuhe und Unterwäsche zu besorgen, und sie entschieden sich für schwarze Lackschuhe, einen Slip mit Rüschen und eine weiße Spitzenstrumpfhose. Eine große rote Haarschleife sollte die Krönung sein. Holly würde am Freitag abend wie ein Engel aussehen und Rob bestimmt ungeheuer stolz auf sie sein. Das sollte er auch. Als es dunkel wurde, fuhren sie müde aber zufrieden zum Anwesen der Greens. Sie gingen direkt in Hollys Zimmer, um die neuen Kleidungsstücke wegzuräumen und das Nötigste für die Nacht einzupacken. Es war ein typisches Mädchenzimmer, ganz in rosa und weiß gehalten und mit einer Blümchentapete. Auf dem Bett befand sich ein Zoo von Stofftieren, und auf dem Nachttischchen stand das Foto einer gutaussehenden Frau. "Das ist meine Mami",
sagte Holly, als Mary das Foto betrachtete. "War sie nicht schön?" Mary nickte. "Das war sie wirklich, und du siehst ihr sehr ähnlich." Beim Anblick des Fotos bedauerte Mary die Frau, die so jung sterben mußte und um die Freude betrogen wurde, ihre Tochter aufwachsen zu sehen. Während Holly ein Paar Strümpfe in der Kommode suchte, klingelte das Telefon. Sie sauste aus dem Zimmer und rannte über den Flur. Gleich darauf hörte Mary ein begeistertes "Hallo, Dad!", gefolgt von einer kurzen Pause und dann eine aufgeregte Beschreibung ihrer neuen Kleidungsstücke. Mary lächelte und faltete das Nachthemd zusammen, das Holly aufs Bett geworfen hatte. Einen Moment später stand Holly in der Tür. "Daddy möchte Sie sprechen. Das Telefon steht in seinem Zimmer." Mary fühlte sich wie ein Eindringling, als sie Robs Schlafzimmer betrat. Es war solide und zweckmäßig eingerichtet und typisch männlich. Die Farben braun und himmelblau überwogen. Das Telefon stand auf dem Nachttischchen neben dem großen französischen Bett. Mary durchquerte den Raum und setzte sich auf den Bettrand. "Hallo, Rob", sprach sie in den Hörer, "wie verläuft die Sitzung?" "Ich bin optimistisch", antwortete er. "Die Herren sind noch nicht zu einer Entscheidung bereit, aber interessiert genug, um sich mit weiteren Mitgliedern des Stadtrats zu treffen. Morgen kommt der Bürgermeister mit zwei anderen Sachverständigen zu einer zweiten Sitzung. Wahrscheinlich muß ich noch eine Nacht länger bleiben. Es tut mir leid, Mary, aber ich fürchte, daß ich nicht rechtzeitig zurück bin, um die Bühnenbilder bis Freitag abend fertigzustellen. Ich hab zwar am Samstag damit angefangen, rechnete jedoch nicht mit dieser plötzlich anberaumten Sitzung, sonst hätte ich den ganzen Sonntag daran
gearbeitet, anstatt reiten zu gehen. Es ist mir sehr unangenehm, daß ich dich im Stich lassen muß." "Ich weiß, daß du nichts daran ändern kannst", versicherte Mary ihm. "Außerdem ist es wichtiger, sich um neue Arbeitsplätze für die Region zu kümmern, als die Bühnenbilder für eine Grundschulaufführung zu bauen. Wir werden mit dem Weihnachtsbaum als Hintergrund auskommen, und vielleicht hab' ich noch Zeit für eine Zusatzdekoration. Mach' dir keine Sorgen. Die Zuschauer kommen hauptsächlich, um die Kinder zu sehen. Das Bühnenbild ist nicht so wichtig." "Du bist sehr verständnisvoll und nachsichtig", murmelte Rob. "Natürlich verstehe ich das, und es gibt nichts zu entschuldigen." "Danke. Holly hat mir erzählt, daß ihr ein passendes Kleid für Freitag abend gefunden habt." "Ich glaube, du wirst zufrieden sein. Holly sieht wunderschön darin aus." "Ich bin erleichtert, daß du mir diese Aufgabe abgenommen hast. Nochmals vielen Dank." "Keine Ursache." Mary lachte. "Es hat mir Spaß gemacht, dein Geld auszugeben", neckte sie ihn. Rob scherzte mit. "Ich wette, Holly hat das auch besser gefallen, als wenn ich es selbst getan hätte." "Bestimmt!" erklärte Mary übermütig. "Bewaffnet mit einer Kreditkarte ohne den Besitzer, der einschreiten könnte, eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten." "O weh, das klingt, als ob ich jetzt pleite wäre." Mary lachte wieder. "Beinah." Rob stimmte gutgelaunt ein. "Habt ihr schon Abendbrot gegessen?" "Nein. Wir wollen uns auf der Rückfahrt in die Stadt etwas besorgen. Holly stimmt für Pizza."
"Ich wünschte, ich könnte bei euch sein", sagte Rob sehnsuchtsvoll. "Statt dessen muß ich zwei Vorstandsmitglieder der Prichart Vinyl Company zum Essen ausführen. Wahrscheinlich wird es 23 Uhr oder noch später, bis ich endlich die Füße hochlegen und mich ausruhen kann." "Du klingst müde", meinte Mary. "Das bin ich auch." Er gähnte. "Vielleicht wird der Abend besser, als du denkst." "Das bezweifle ich." Rob senkte die Stimme und wechselte das Thema. "Ich wette, daß du auf meinem Bett sitzt, stimmt's?" Mary errötete unwillkürlich. Ohne es zu merken, hatte sie mit der freien Hand sein Kopfkissen gestreichelt. Jetzt zog sie die Hand abrupt zurück, als ob sie bei etwas Verbotenem ertappt worden wäre. "Ah... ja, es stimmt", gab sie schließlich zu. "Ich stell mir vor, wie du auf meinem Bett liegst", murmelte er verträumt, "das Haar auf meinem Kopfkissen ausgebreitet, mit nichts an als..." "Rob!" Mary schnappte nach Luft und korrigierte seine Vorstellung eilig. "Ich bin vollständig angezogen und sitze auf der Bettkante, mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Ich würde mir niemals herausnehmen..." "Wie schade!" unterbrach er sie amüsiert. "Ich hätte nichts dagegen, wenn du heute nacht in meinem Bett schlafen würdest. Im Gegenteil, der Gedanke gefällt mir immer besser." "Sei still!" flehte Mary ihn an. "Du hast mir gestern versprochen, daß du solche Sachen nicht mehr sagen willst." "Hab' ich nicht", stritt Rob ab. "Ich hab' dir nur versprochen, daß ich während unseres Reitausflugs keinen Annäherungsversuch machen werde, und daran habe ich mich gehalten. An ein Versprechen für die Zukunft kann ich mich nicht erinnern. Ich stell' mir gern vor, wie du in meinem Bett liegst, warum sollte ich es also nicht tun?"
"Bitte", begann Mary atemlos. "Wir haben darüber gesprochen. Ich will nicht..." "Ich weiß", unterbrach Rob sie. "Du hast dich einmal verbrannt und nun Angst, wieder mit dem Feuer zu spielen. Das kann ich verstehen. Ich will auch keine feste Bindung mehr eingehen. Andererseits mag ich dich immer mehr, Mary, und ich glaube, daß du mich ebenfalls magst. Wir sind zwei einsame Erwachsene mit völlig normalen Wünschen und Bedürfnissen, wir sind frei und fühle n uns zueinander hingezogen. Warum sollten wir das Zusammensein nicht genießen?" "Ich will nicht wieder verletzt werden", flüsterte Mary kaum hörbar ins Telefon. "Das will ich ebensowenig, das kannst du mir glauben." Robs Stimme klang seltsam gepreßt. "Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen, besonders nicht von dir." "Wie meinst du das?" fragte Mary irritiert. "Vergiß es. Gute Nacht, Mary, träum' schön." Nachdem das Gespräch beendet war, sah sich Mary in Robs Schlafzimmer um." Es gab nirgends ein Foto vo n seiner verstorbenen Frau, und Mary fragte sich, warum. War die Erinnerung noch zu schmerzhaft für ihn? Als Rob sagte, daß er es nicht ertragen könnte, noch einmal verletzt zu werden, wirkte er ehrlich betroffen. Mary stand schnell auf und kehrte in Hollys Zimmer zurück. Auf dem Rückweg in die Stadt hielt Mary an der Pizzeria und kaufte zwei Pizzas. Als sie vor ihrem Haus ankamen, war Holly ganz begeistert. "Sehen Sie! Es ist genau, wie ich gesagt habe. Da ist der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten und seinen Rentieren!" Sie konnte es kaum erwarten auszusteigen und rannte sofort quer über die Straße zu Mr. Starrs Vorgarten. Mary folgte etwas gemächlicher. Auf der einen Seite des Rasens stand jetzt ein niedliches Holzhäuschen, aus dessen Fenster die Frau des
Weihnachtsmannes winkte. Der Weihnachtsmann selber saß auf seinem Schlitten, vor den die Rentiere gespannt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rasens stand eine große strohgedeckte Krippe mit Holzfiguren der Heiligen Familie in Lebensgröße. Vor der Krippe warteten die Heiligen Drei Könige, Schäfer und ein paar Schafe. Alle Figuren waren liebevoll mit der Hand geschnitzt. Holly sah sich zuerst das Holzhäuschen an. Mary ging derweil zu Mr. Starr, der in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda saß. "Guten Abend, Mary ," begrüßte er sie freundlich. "Guten Abend, Mr. Starr. Ihre Weihnachtdekoration ist phantastisch!" lobte sie ihn. Er nickte und akzeptierte ihr Lob schweigend. "Haben Sie all die Holzfiguren selbst geschnitzt?" fragte Mary bewundernd. "O nein", antwortete Mr. Starr. "Ich bin leider nicht so künstlerisch begabt. Meine Frau Wilma hat sie alle geschnitzt, angemalt und lackiert." Holly sauste vom Holzhäuschen zur Krippe. "Ich geh besser aufpassen, daß sie nichts kaputtmacht", meinte Mary beunruhigt und wollte ihr folgen. "Lassen Sie sie", sagte Mr. Starr. "Es ist in Ordnung. Die Figuren sind extra so angefertigt, daß die Kinder sie anfassen können, vor allem die Krippe mit der Heiligen Familie. Es war Wilmas Wunsch, daß die Kinder ihre Freude daran haben. Und nun erzählen Sie mir von Ihren Weihnachtsplänen." Mary hob die Hände. "Ich hab keine. Wie steht's mit Ihnen?" "Ich hab auch nichts Besonderes vor." "Werden Sie allein sein?" Er nickte kurz. "Dann lade ich Sie am ersten Weihnachtstag zum Essen ein", schlug Mary vor. "Ich werde kommen." Mr. Starr lächelte beinah.
"Mary, haben Sie die Krippe schon gesehen?" rief Holly. "Entschuldigen Sie mich, Mr. Starr." Er machte eine umfassende Handbewegung. "Bleiben Sie, solange Sie wollen, meine Liebe." Im Stall saß Maria, die Mutter von Jesus, auf einem Strohballen. In der Krippe daneben lag ihr kleiner Sohn auf Heu und Stroh gebettet. Sie blickte ihr heiliges Kind mit Freude und Stolz an, und ihr Ehemann Joseph stand beschützend hinter ihnen. Holly streiche lte ehrfurchtsvoll ein ausgestrecktes Ärmchen des Kindes und strahlte übers ganze Gesicht, als sie zu Mary aufsah. "Sind sie nicht wunderbar?" meinte sie tief beeindruckt. "Ganz gewiß", stimmte Mary sanft zu. "Ich hab' dem Baby Jesus gesagt, was ich mir zu Weihnachten wünsche", verriet Holly, "denn das kann der Weihnachtsmann nicht allein erfüllen." "Und was ist das?" "Jesus weiß es", wich Holly ihr aus und rannte schnell zu Mr. Starr hinüber. Mary blieb noch einen Moment stehen, ergriffen von der Schönheit und Aussagekraft der Weihnachtsschnitzereien. Spontan folgte sie Hollys Beispiel und flüsterte dem heiligen Kind ihre geheimen Wünsche und Hoffnungen ins Ohr. Schließlich war Weihnachten, die Zeit der Wunder.
8. KAPITEL Holly kniete auf einem Stuhl und war eifrig damit beschäftigt, die dickflüssige Masse in dem Topf vor sich auf dem Tisch umzurühren. Sie hatte gerade Erdnüsse zur geschmolzenen Schokolade hinzugefügt und fand es gar nicht einfach, beides zu vermischen. Holly und Mary stellten Erdnußkkonfekt nach einem Lieblingsrezept von Mary her. Es schmeckte hervorragend, und die Zubereitung war unkompliziert. Es war Dienstagabend, und Rob war immer noch in Houston. Er hatte Mary während der Mittagspause in der Schule angerufen, um Bescheid zu sagen, daß er heute nicht mehr heimkommen würde. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Holly eine weitere Nacht bei Mary bleiben durfte. Nach einem einfachen Abendessen hatte Mary beschlossen, Holly zu zeigen, wie man Erdnußkonfekt zubereitet. Beide hatten inzwischen Schokoladenspritzer im Gesicht, aber das minderte ihr Vergnügen nicht. "Fertig?" fragte Holly, als Mary ein großes Stück Backpapier auf dem Tisch ausbreitete. "Moment." Mary strich die Ecken des Papiers glatt. "So, jetzt kannst du anfangen." Holly nahm einen Teelöffel, füllte ihn mit Schokoladenmasse und setzte ein Häufchen auf das Backpapier.
"Perfekt!" erklärte Mary. "Jetzt muß es nur noch abkühlen, um fest zu werden, und fertig ist das Konfekt." "Können wir vor dem Schlafengehen ein Stückchen probieren?" bettelte Holly: Mary verzog die Stirn. "Da bin ich mir nicht sicher. Wenn wir uns beeilen, vielleicht. Ausnahmsweise..." Holly setzte das nächste Häufchen Teig sorgfältig auf das Backpapier. "Magst du meinen Dad?" fragte sie plötzlich ohne Vorwarnung. Mary schluckte. "Natürlich mag ich ihn." "Aber magst du ihn auch wirklich sehr gern?" Hollys Stimme klang ungewöhnlich ernst. Ich mag deinen Daddy nicht nur sehr gern, dachte Mary, sondern das, was ich am meisten befürchtete, ist passiert: Ich habe mich unsterblich in ihn verliebt! Doch das konnte sie Robs Tochter natürlich nicht sagen. Holly musterte sie durchdringend und wartete auf eine Antwort. Mary lächelte gezwungen "Ich weiß nicht genau, warum du das wissen willst, aber es stimmt, Holly, ich mag deinen Vater sehr gern." Dann fiel ihr etwas ein, und sie fragte ganz gezielt: "Bist du damit einverstanden?" Holly grinste respektlos. "Ich bin damit einverstanden, auch wenn du ihn noch viel lieber als sehr gern magst!" Mary schüttelte den Kopf. Wollte Holly sie etwa mit ihrem Vater verkuppeln? Am Mittwoch nachmittag übten Mary und die Kinder das Weihnachtsprogramm nur einmal und schmückten dann den Weihnachtsbaum, der auf der Bühne stand. Mary hängte außerdem Lametta und Sterne aus Goldpapier an die Umrandung der Bühne. Jemand hatte einen kleinen Tisch, eine Lampe und einen Klappstuhl organisiert. Das mußte für die Wohnzimmerszene ausreichen. Für die Szene im Freien hatten sie mehrere Packungen Papiertaschentücher in Schnipsel zerrissen und in Schachteln aufbewahrt. Ein Vater sollte diese
"Schneeflocken" im passenden Moment von der Leiter aus auf die kleinen Darsteller herabrieseln lassen. Rob rief wiederum mit einer Entschuldigung an. Er mußte eine weitere Nacht in Houston verbringen. Am nächsten Morgen sollte eine letzte gemeinsame Sitzung mit den Stadtvertretern von Hope und den Vorstandsmitgliedern der Firma Prichart stattfinden. Danach würde Rob sofort heimkommen. "Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, wie du dich um Holly kümmerst", sagte Rob. "Sie hat mir gesagt, daß es ihr bei dir viel besser als bei Mrs. Watson gefällt." "Ich bin auch gern mit ihr zusammen", erwiderte Mary ehrlich. Am folgenden Nachmittag wollten Mary und Holly sich nach Schulschluß vor dem Gebäude treffen und zu Fuß zu Marys Haus gehen. Eigentlich hatte Holly donnerstags Klavierunterricht, aber diese Woche fiel er aus, weil die Lehrerin in Urlaub war. In dem Moment, als Mary die Schule verließ, erblickte sie Rob. Er stand neben seinem Auto auf dem Parkplatz, und Holly rannte auf ihn zu. Er breitete die Arme aus und. fing sie auf, dann drückten und küßten sie sich überschwenglich. Es war eine herzerwärmende Szene. Marys Herz schlug beim Anblick von Rob auch schneller. Ihr wurde plötzlich heiß, obwohl das Wetter unangenehm kalt war. Rob stellte Holly wieder auf die Füße und lächelte dabei Mary mitreißend an. Am liebsten hätte sie sich wie Holly in seine Arme geworfen. Statt dessen ging sie ihm so ruhig und gelassen wie nur möglich entgegen. Robs Lächeln vertiefte sich, und sein Blick sprach Bände. Als Mary vor ihm stand, nahm er ihre Hand. "Wie schön, dich endlich wiederzusehen." Seine Worte versetzten sie in Hochstimmung.
Doch gleich darauf machte er die Wiedersehensfreude mit einem Schlag zunichte. "Steig ein. Ich bringe dich nach Hause, hole Hollys Sachen ab und bezahle dich für deine Mühe." Mary war total schockiert. "Du schuldest mir nichts", sagte sie ziemlich eisig. "Natürlich schulde ich dir etwas", beharrte Rob eigensinnig. "Holly hat nicht, wie geplant, einmal, sondern dreimal bei dir übernachtet. Ich möchte deine Großzügigkeit nicht ausnutzen. Außerdem hätte ich Miss Maggie oder Mrs. Dudley auch bezahlt." Mary fand, daß seine Stimme sehr geschäftsmäßig klang. Sie versteifte sich unwillkürlich. "Ich bin weder Miss Maggie noch Mrs. Dudley", erklärte sie abweisend. "Ich nehme keinen Pfennig." Rob merkte, daß er sie beleidigt hatte, obwohl das nicht seine Absicht gewesen war. "Wenn's dir ums Prinzip geht, dann nehme ich mein Angebot zurück"; schlug er vor. "Gut!" Mary war immer noch verletzt und entriß ihm ihre Hand. Holly hatte zugehört. "Seid ihr böse aufeinander?" fragte sie beunruhigt. "Wie kann ich böse auf Mary sein, wenn du es so gut bei ihr gehabt hast?" lenkte Rob ab und öffnete die hintere Tür des Autos. "Steig ein. " Holly hatte die Hartnäckigkeit von ihrem Vater geerbt. "Es klang aber so, als ob du böse wärst", sagte sie unverblümt und schaute dann von ihm zu Mary. Mary strich Holly übers Haar. "Dein Dad hat recht, wir sind nicht wirklich böse aufeinander. Wir hatten nur eine Meinungsverschiedenheit." Hollys Zweifel waren immer noch nicht restlos beseitigt, aber schließlich sagte sie "Okay" und schlüpfte auf den Rücksitz des Wagens.
Rob schloß die hintere Tür und hielt Mary die vordere Tür auf. Sie hatte keine andere Wahl, als einzusteigen, aber die Fahrt würde wenigstens nicht lange dauern... nur zwei Häuserblocks. Länger hätte sie auch nicht so dicht neben Rob sitzen wollen. Während der kurzen Fahrt fiel Mary auf, daß Rob sehr müde aussah, doch sie sagte nichts. Es wäre sowieso nicht möglich gewesen. Obwohl Holly ihren Vater nur drei Tage nicht gesehen und jeden Abend am Telefon mit ihm gesprochen hatte, sprudelte sie über vor Neuigkeiten. Sie mußte ihm unbedingt vom Erdnußkonfekt erzählen und von Timmy Bates, der he ute im Unterricht mit einem Foto von Mary geprahlt hatte. Das Foto zeigte Mary im Alter von vierzehn Jahren auf ihrem Pferd Champion, nachdem sie bei einem Rodeo den ersten Preis gewonnen hatte. "Das Foto würde ich auch gern mal sehen", meinte Rob und lächelte so entwaffnend, daß Mary die Luft wegblieb. Bevor sie etwas erwidern konnte, war Holly schon beim nächsten Thema. Zu Hause bot Mary Rob aus Höflichkeit eine Tasse Kaffee an, während Holly ihre Sachen zusammenpackte. Er setzte sich ohne ein schlechtes Gewissen an den Küchentisch, und Mary stellte einen Teller voll Erdnußkonfekt hin. "Mmm", murmelte er nach dem ersten Bissen, "ist das köstlich! Darf ich noch ein Stück nehmen?" "Bedien dich", sagte Mary, schon fast wieder versöhnt, und schenkte Kaffee ein. Sie reichte Rob seine Tasse, und er leckte sich wie ein kleiner Junge Schokolade von den Fingern. Unwillkürlich mußte sie schmunzeln. "Hast du was dagegen, wenn ich mir ein drittes Stück nehme?" fragte er spitzbübisch. Mary lachte. "Aber nur ein klitzekleines Stück! Dann mußt du aufhören. Sonst kriegst du Bauchschmerzen." "Vielen Dank, daß du so besorgt um meine Gesundheit und mein Wohlbefinden bist. Ich würde sagen, daß das ein gutes Zeichen ist, oder?"
"Ein gutes Zeichen wofür?" "Ein gutes Zeichen dafür, daß du mich vielleicht magst... wenigstens ein klitzekleines bißchen." Mary blieb die Antwort erspart. Holly rief aus dem Wohnzimmer nach ihnen. "Wir sind in der Küche, Holly", rief Mary zurück. "Jetzt mußt du sie tüchtig loben", forderte sie Rob leise auf, "denn sie hat das Erdnußkonfekt gemacht." "Tatsächlich?" Er schmunzelte. "Mit etwas Hilfe, vermute ich." Mary erwiderte sein Lächeln. "Nur ein wenig. Also denk dran." Als Holly die Küche betrat, lobte Rob ihre Fähigkeiten als Zuckerbäckerin, und Holly strahlte vor Stolz. Mary füllte Holly ein Glas Milch ein, schob ihr den Teller mit dem Erdnußkonfekt hin und schenkte Kaffee nach. "Was ist das Ergebnis von euren Sitzungen in Houston?" fragte sie Rob. Er schnitt eine Grimasse. "Wir wissen immer noch nicht, ob sie das Zweigwerk in Hope errichten werden. Wir haben geboten, was wir können, aber es sind noch andere Städte im Rennen. Alles ist möglich." Er zuckte mit den Schultern. "Das einzig Positive, was ich sagen kann, ist, daß Hope nach wie vor Chancen hat. Die Vorstandsmitglieder haben uns versprochen, ihre Entscheidung noch vor Ende des Jahres zu fällen. Dann müssen wir wenigstens nicht so lange warten." "Du bist entmutigt, weil du müde bist", sagte Mary sanft. "Es klingt doch durchaus vielversprechend, wenn an Hope noch soviel Interesse bekundet wird. Versuch, nicht zu enttäuscht zu sein." Rob lächelte. "Du hast recht, natürlich. Danke." Seit einer Ewigkeit hatte niemand mehr versucht, ihm Mut zu machen und ihn aufzumuntern. Trotzdem mußte er den kostbaren
Augenblick zerstören. "Ich habe leider schlechte Neuigkeiten für dich", sagte er langsam. "Für mich?" fragte Mary erstaunt. "Welche?" "Als ich vorhin nach Hause kam, ging ich gleich in die Garage, um meine Entwürfe für die Bühnenbilder anzuschauen und abzuwägen, ob ich sie doch bis morgen abend fertigstellen könnte." "Und du kannst es nicht?" "Alles ist weg - die Sperrholzplatten, die Farbe, sogar die Entwürfe!" Er schüttelte den Kopf. "Am meisten irritiert mich, daß von meinem Werkzeug und meiner Anglerausrüstung nichts fehlt. Nur das Material für die Bühnenbilder ist verschwunden. Hast du jemanden beauftragt, die Bühnenbilder zu bauen und das Material abzuholen?" "Nein, warum auch? Ich dachte, daß du vielleicht doch noch rechtzeitig zurückkommst, um die Bühnenbilder anzufertigen. Als ich dann von deinen geänderten Plänen hörte, war es zu spät, einen Ersatzmann zu finden. Außerdem kenne ich niemanden außer dir, den ich um einen solchen Gefallen bitten könnte." "Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, meine Garage abzuschließen", meinte Rob nachdenklich, "und bisher ist mir nichts gestohlen worden." Er seufzte. "Auf jeden Fall ist es zu spät, neu anzufangen. Es tut mir schrecklich leid, Mary." Rob machte einen sehr zerknirschten Eindruck. "Es ist nicht schlimm", betonte Mary. "Glaub' mir, die Suche nach neuen Arbeitsplätzen für Hopes Bürger ist erheblich wichtiger als die Bühnenbilder für unsere Weihnachtsaufführung. Da wird mir jeder beipflichten. Außerdem weiß ich aus maßgeblicher Quelle, daß die anwesenden Eltern sowieso nur auf ihre Kinder achten." Rob lachte kurz. "Da ist wohl was Wahres dran." Er stand unvermittelt auf und wandte sich an seine Tochter. "Es wird Zeit, daß wir nach Hause fahren, Holly. Mary, ich danke dir noch einmal dafür, daß du so gut auf mein Kind aufgepaßt hast."
"Vergiß meine Geburtstagsparty am Samstag nicht", mahnte Holly. "Ich werde da sein", versprach Mary. "Geh schon mal vor zum Auto", sagte Rob zu seiner Tochter. "Ich komm sofort nach." "Okay. Tschüs, Mary." Holly hüpfte los. Ohne Holly wurde Mary plötzlich ganz anders zumute, so allein mit Rob. Er stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt, trat jetzt noch näher, legte den Zeigefinger unter ihr Kinn und küßte sie zärtlich. "Ich hab dich vermißt", flüsterte er vielversprechend. "Rob, bitte..." Seine Lippen nahmen wieder von ihrem Mund Besitz, und Mary vergaß alles um sich herum. Sie war ihm bereits so verfallen, daß die leichteste Berührung, der flüchtigste Kuß sie in andere Dimensionen versetzte. Von draußen hörten sie Hollys Stimme. "Daddy, beeil dich!" Rob und Mary lächelten beide. "Das verspreche ich dir", sagte Rob, "an einem der nächsten Tage... oder einer der nächsten Nächte... werden wir wieder Zusammensein, und zwar ungestört." Marys Herz raste, und sie lachte unsicher. "Ist das eine Drohung?" wollte sie wissen. "Oh, nein", antwortete er schlagfertig. "Es ist ein Versprechen." Am Freitag abend wollte Mary gerade losgehen, um rechtzeitig zur Weihnachtsfeier zu kommen, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete. Ein Eilbote händigte ihr eine Schachtel aus, in der ein Blumensträußchen zum Anstecken lag. Es waren weiße Rosen, die mit einem roten Band und silbernen Glöckchen zusammengebunden waren. Auf dem Kärtchen daneben stand nur ein Wort: "Rob".
Mary wollte sich einreden, daß es nett von ihm war und nichts weiter bedeutete, aber das mißlang. Rob hatte bereits einen Stammplatz in ihrem Herzen und in ihrem Kopf, daran gab es nichts zu rütteln. Sie ging zum Spiegel und lächelte. Wie Holly hatte auch Mary ein rotes Kleid für den feierlichen Anlaß gewählt, und das duftende Rosensträußchen bildete die perfekte Ergänzung. Sie steckte es an, nahm die Handtasche und verließ das Haus. Wie gewöhnlich war Mr. Starr in seinem Garten mit der Weihnachtsdekoration beschäftigt. "Sie sehen sehr hübsch aus, Mary", rief er ihr zu. "Viel Glück mit dem Weihnachtsprogramm." "Danke", antwortete Mary. Das ist typisch für eine Kleinstadt, dachte sie, als sie ins Auto einstieg, alles spricht sich herum. Selbst ein älterer kinderloser Mann weiß, daß ich die Organisation für das Weihnachtsprogramm der Grundschule übernommen habe. Als Mary die Aula betrat, war noch niemand da. Verblüfft stellte sie fest, daß ihr Lametta und die Goldpapiersterne verschwunden waren. Anstelle des Klappstuhls stand ein bequemer Ohrensessel auf der Bühne. Das Tischchen, die Lampe und der Weihnachtsbaum waren noch da und verbreiteten eine behagliche Atmosphäre vor einem wunderschön gestalteten Wohnzimmerhintergrund. In die Mitte war ein Kamin mit brennendem Feuer täuschend echt gemalt, und auf dem Kaminsims, der darüber angebracht war, standen rote Kerzen zwischen Tannenzweigen. Rechts davon befand sich ein Fenster mit richtigen Gardinen, links davon eine Tür. Mary konnte kaum glauben, was sie da sah, und trat hinter die Bühne. Ihre Ahnung bestätigte sich. Dort stand ein zweites Bühnenbild bereit, das eine Einkaufsstraße mit einem Süßwarengeschäft, einer Tierhandlung und einem Spielzeugladen zeigte.
Als die Schüler eintrafen, waren sie genauso begeistert von den Bühnenbildern wie Mary. Ein paar Minuten später kamen Rob und Holly, die entzückend in ihrem neuen Kleid aussah. "Sieh mal, Dad", rief sie aufgeregt. "Ich hab's gewußt. Der Weihnachtsmann hat dafür gesorgt, daß die Bühne toll aussieht!" Rob blickte Mary irritiert an. "Wer hat das gemacht?" Sie breitete die Arme aus. "Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war es jemand, der sein Handwerk versteht." Rob nickte. "Wer es auch war, er hat sich nach meinen Entwürfen gerichtet, diese allerdings noch erheblich verbessert. Mir fällt nur eine Person ein, die so etwas kann, und zwar dein Nachbar Mr. Starr." "Du denkst...?" Rob zuckte mit den Schultern. "Es ist möglich. Mr. Starr ist pensionierter Handwerksmeister und Möbelschreiner. Er hat alle Schränke und Regale in meinem Haus gebaut. Und denk an die Weihnachtsdekoration in seinem Garten. Alles ist Handarbeit." Mary schüttelte verwundert den Kopf. "Das wußte ich nicht, obwohl er mir erzählte, daß seine Frau die Krippenfiguren geschnitzt hat. Woher wußte er, daß wir Hilfe brauchen?" "Da fragst du mich zuviel." Rob lächelte. "Laß uns einfach dankbar sein und uns freuen. Darf ich dir sagen, daß du bezaubernd aussiehst?" Mary errötete. "Vielen Dank für die Rosen." Sie berührte die zarten Blütenblätter mit den Fingerspitzen. "Es wäre mir lieber, wenn du dich mit einem Kuß bedanken würdest." "Hier?" fragte Mary schockiert. "Vielleicht nicht gerade hier und jetzt", antwortete er gedehnt. "Aber bald, ich wüßte einen passenden Ort..." "Ich werde darüber nachdenken." Gerade rechtzeitig beanspruc hte die Frage eines Schülers Marys Aufmerksamkeit.
Zu Marys Erleichterung klappte die Weihnachtsaufführung besser als erwartet, von ein paar kleinen Mißgeschicken abgesehen. Ein Mädchen aus dem ersten Schuljahr vergaß seinen Text und brach in Tränen aus. Ein Junge aus dem vierten Schuljahr rempelte den Weihnachtsbaum so ungeschickt, daß der ohne den Zugriff eines geistesgegenwärtigen Vaters umgefallen wäre. Ein paar Kinder sangen in der falschen Tonlage, andere verpaßten ihren Einsatz, aber alles in allem wurde die Aufführung ein großer Erfolg. Danach wurden Erfrischungen serviert, und der Weihnachtsmann hatte seinen Auftritt. Er verteilte Süßigkeiten an die Schüler, und ihre Geschwister. Mary fand, daß der Weihnachtsmann mit dem Kissen unter dem Mantel ihrem Nachbarn Mr. Starr verdächtig ähnelte. Am folgenden Nachmittag zog Mary sich besonders schick für Hollys Geburtstagsparty an. Rob hat damit nichts zu tun, redete sie sich ein, es ist völlig egal, was er über mich denkt. Ja, ja, und die Erde ist eine Sche ibe, spottete ihre innere Stimme. Hör auf mit dem Quatsch, daß er dir gleichgültig ist! Du bist rettungslos verliebt! Mr. Starr war wie gewöhnlich in seinem Garten beschäftigt. Mary überquerte die Straße und sprach ihn an. "Sie waren ein wundervoller Weihnachtsmann gestern abend." "Weihnachtsmann?" Mr. Starr tat, als ob er von nichts wüßte. Mary schmunzelte. "Ich habe Sie unter dem Bart und dem Kissen erkannt." "Das bilden Sie sich bestimmt nur ein." "Aha, Sie wollen es also nicht zugeben." Mary lachte. "Auch gut. Ich bin gekommen, um mich für die schönen Bühnenbilder zu bedanken, die Sie für uns angefertigt haben." "Bühnenbilder? Wovon sprechen Sie?" Wenn sie es nicht besser gewußt hätte, hätte Mary sich von Mr. Starre unschuldigem Gesichtsausdruck täuschen lassen, so aber nicht. Man brauchte nur seinen Garten anzuschauen, und es
gab keine Zweifel mehr. Die Bühnenbilder trugen dieselbe Handschrift wie dieses Weihnachtswunderland. Mary begriff jetzt die Zusammenhänge. Als Holly bei ihr übernachtet hatte, war sie jeden Abend zu Mr. Starr hinübergegangen und hatte seine Fortschritte bei der Weihnachtsdekoration bewundert. Dabei mußte sie irgendwann die unfertigen Bühnenbilder in der Garage ihres Vaters erwähnt haben. Aber Mary beschloß, Mr. Starr nicht weiter mit Fragen zu bedrängen. Wenn seine gute Tat anonym bleiben sollte, dann wollte sie ihm den Gefallen tun. Also spielte sie sein Spiel mit und verabschiedete sich freundlich. Dabei entdeckte sie ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen. Hollys Geburtstagsparty wurde ein großer Erfolg. Zehn kleine Gäste waren anwesend, und ein Clown sorgte für ausgelassene Stimmung. Mary half Rob. Während er Würstchen grillte, schenkte sie Orangensaft aus und füllte Schüsseln mit Chips und Dips. Nach dem Essen wollten die Kinder Holly beim Auspacken ihrer Geburtstagsgeschenke zusehen. Erst danach sollte die Geburtstagstorte angeschnitten werden. Die Geschenke reichten von einer bunten Geldbörse bis zu einem neuen Puzzle. Mary hatte Bücher für Holly mitgebracht, und das kleine Mädchen freute sich riesig darüber. "Du hättest keine bessere Wahl treffen können", raunte Rob Mary ins Ohr. "Lesen ist ein Hobby von ihr." Mary nickte. "Als wir Hollys Sachen zum Übernachten abholten, habe ich die vielen Bücher in ihrem Zimmer entdeckt. Die Lehrerin in mir muß ein solches Hobby natürlich fördern." "Natürlich." Rob schmunzelte. "Ich glaube, jetzt bin ich an der Reihe." Er holte ein kleines Etui aus der Hosentasche und ging zu Holly. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Liebling!"
Holly schnappte nach Luft, als sie es öffnete. "Oh, Daddy..." Ihre Stimme verlor sich vor Bewunderung. Sprachlos starrte sie den Inhalt an. "Gefällt es dir?" wollte Rob wissen. "Es ist super!" Holly zeigte das Etui stolz herum, damit jeder die goldene Kette mit dem herzförmigen Medaillon sehen konnte. Rob nahm das Schmuckstück aus dem Etui. "Bleib still stehen, Schatz, damit ich sie dir umbinden kann." Er fummelte an dem Verschluß. "Diese Kette gehörte deiner Mutter, als sie ein Mädchen war", fügte er noch hinzu, "Wirklich?" Hollys Augen wurden groß, und sie berührte das Medaillon zärtlich. Rob nickte. "Eigentlich solltest du sie erst nächstes Jahr bekommen, aber dann fand ich, daß für eine fast erwachsene junge Dame von neun Jahren jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Öffne das Medaillon, und schau hinein." Holly folgte seiner Aufforderung und staunte. "Da ist ein Foto von Mami und mir drin." Behutsam schloß sie das Medaillon wieder und umarmte ihren Vater liebevoll. Es war eine rührende Szene. Obwohl die anderen Kinder auch anwesend waren, kam Mary sich wie ein Eindringling vor. Sie wollte den vertraulichen Moment zwischen Vater und Tochter, die der innig geliebten Ehefrau und Mutter gedachten, nicht stören. Er kann keine Frau mehr so lieben, wie er seine Frau geliebt hat, dachte sie. Alles, was er von mir will, ist eine lockere Beziehung ohne Verpflichtungen. Wieder einmal fühlte sie sich ausgeschlossen und zurückgewiesen. Sie konnte den Schmerz kaum ertragen.
9. KAPITEL Es war schon fast neun Uhr am selben Abend, als es an Marys Haustür klingelte. Sie war überrascht, Rob vorzufinden. Er begrüßte sie mit dem unwiderstehlichen Lächeln, das ihr Herz jedesmal schneller schlagen ließ. "Darf ich reinkommen? Es ist kalt hier draußen." Mary ließ ihn eintreten. "Wo ist Holly?" fragte sie plötzlich atemlos. "Holly übernachtet bei Amy", antwortete Rob. Dann schloß er Mary ohne Vorwarnung in die Arme. Sie atmete tief durch, als er sie immer dichter an sich zog. "Was machst du da?" Ihre Stimme zitterte ein wenig. "Dreimal darfst du raten." Seine dunklen Augen glühten vor Verlangen, und ein erregender Schauer lief ihr über den Rücken. Bevor Mary Einspruch erheben konnte, küßte er sie aufreizend und leidenschaftlich. Die Küsse hörten überhaupt nicht mehr auf und waren abwechselnd zart und fordernd. Mary wußte, daß sie dem Treiben ein Ende bereiten mußte, aber das war gar nicht so einfach. Wie sollte sie ihren Körper dazu bringen, ihr wieder zu gehorchen? Im Moment konnte sie der Sehnsucht nicht widerstehen. Sie fühlte sich so ungeheuer wohl und geborgen in seinen warmen, kraftspendenden Armen. "Ich will mit dir Zusammensein, Mary, ich will mit dir schlafen. Und das weißt du eigentlich schon längst."
Marys Herz schmerzte. Sie versuchte, sich aus der Umarmung zu lösen, aber Rob hielt sie fest. Sie schaffte es, den Kopf so zu drehen, daß der Abstand zwischen seinen und ihren Lippen größer wurde, aber jetzt rieb er sein verführerisch nach Aftershave duftendes Kinn an ihrer Wange. "Das stimmt", gab sie zu. In ihrer Stimme klang echtes Bedauern mit. "Doch meine Antwort bleibt nein." "Warum?" murmelte er. "Wir mögen uns. Ich bin verrückt nach dir, und ich bin dir auch nicht gleichgültig. Das kannst du nicht leugnen." Mary bewegte die Wange an seinem Kinn und ließ den Kopf dann auf seine starke Schulter sinken. Am liebsten hätte sie nachgegeben. "Ich will gar nichts leugnen", sagte sie traurig, "weil du recht hast. Ich mag dich sehr gern, Rob. Vielleicht viel zu gern." "Warum weist du mich dann immer noch ab? Ich gebe zu, daß wir uns erst kurz kennen, trotzdem..." Jetzt schob er sie ein Stückchen von sich weg, legte die Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. "Ich mag dich wirklich", wiederholte er nachdrücklich. "Ich weiß, daß du in der Vergangenheit verletzt worden bist, daß du Angst davor hast, dich wieder zu verlieben, aber Mary... Liebling, du bist damit nicht allein. Mir geht es genauso. Und das hat aber nichts daran geändert, daß ich immer mehr für dich empfinde. Ich bin anders als dein ExVerlobter. Ich würde dir niemals absichtlich weh tun." Marys Augen füllten sich mit Tränen. "Das ist keine Garantie", flüsterte sie kaum hörbar. Rob ließ die Hände von ihren Schultern fallen und trat ein paar Schritte zurück. Sein Verhalten war schlagartig distanziert. "Wenn du nach Garantien suchst, hältst du dich besser von mir und jedem anderen Mann fern, und zwar für den Rest deines Lebens." Er senkte vorübergehend den Kopf, und als er sie wieder ansah, war sein Gesichtsausdruck trostlos. "Ich dachte, ich hätte eine Garantie, als ich Lynn heiratete, aber das war ein
Irrtum. Ich hatte nie damit gerechnet, ein Kind allein aufziehen zu müssen, und war kein bißchen darauf vorbereitet. Es ist... manchmal sehr schwer, die Verantwortung allein zu tragen. Ich kann es dir nicht übelnehmen, wenn du dich nicht mit einem Mann abgeben willst, der für ein Kind sorgen muß, obwohl ich hoffte, daß du Holly so gern hast..." "Das hat nichts mit Holly zu tun", unterbrach Mary ihn erregt. "Nein?" bezweifelte Rob. "Sei ehrlich, würdest du mich auch abweisen, wenn es Holly nicht gäbe?" "Ja. Ich finde Holly absolut liebenswert." "Aber ihren Vater nicht?" Seine Worte klangen bitter. "Ich muß verrückt sein, mich noch einmal auf die Liebe einzulassen. Nach Lynn hatte ich mir geschworen, solche Gefühle für immer zu verbannen, aber du hast meinen inneren Schutzwall irgendwie durchbrochen. Wahrscheinlich, weil du selber so verletzlich bist. Leb wohl, Mary." Rob drehte sich abrupt um. "Ich werde dich zukünftig nie wieder mit meinen unerwünschten Annäherungsversuc hen belästigen." Er war gegangen, bevor Mary zu einem klaren Gedanken fähig war. Wie aus großer Entfernung hörte sie, daß er mit quietschenden Reifen startete und davonraste. Dann hörte sie nur noch ihr Herz schlagen. Rob hatte wörtlich gesagt, daß er verrückt sein müsse, sich noch einmal auf die Liebe einzulassen. Rob liebte sie? Er liebte sie, und sie hatte soeben dafür gesorgt, daß er aus ihrem Leben verschwand. Sie hatte ihn genauso zurückgewiesen, wie sie früher selbst zurückgewiesen worden war. Wie hatte das passieren können? Hier ging es nicht um Wayne, den Mann, den sie nur halbherzig geliebt hatte. Hier ging es um Rob, den Mann, der ihr Leben umgekrempelt und ihr Herz erobert hatte. Ihre Empfindungen für Wayne waren nicht zu vergleichen mit den tiefgreifenden Gefühlen für Rob. Wie kam sie nur auf so eine
lächerliche Idee! Seit Tagen wußte sie im Grunde ihres Herzens, daß sie Rob heiß und unwiderruflich liebte, aber sie hatte es nicht für möglich gehalten, daß er ihre Liebe erwidern könnte. Er hatte es nicht einmal angedeutet, geschweige denn ausgesprochen. Deshalb hatte sie sich geweigert, ihrem instinktiven Verlangen nachzugeben und mit ihm zu schlafen. Denn dann hätte sie ihre wahren Gefühle nicht vor ihm verbergen können, und sie war zu stolz gewesen, um sich womöglich seinem Mitleid auszusetzen. Warum hat er nicht eher gesagt, daß er mich liebt? dachte Mary beinah ärgerlich. Aber das war nicht fair von ihr. Schließlich hatte sie ihm auch nicht verraten, daß sie ihn liebte... nur, daß sie befürchtete, es könnte passieren. Was war denn dabei, wenn Rob seine Frau immer noch vermißte und ihrer zärtlich gedachte? Das einzige, was einer Beziehung mit ihm im Weg stand, war Marys eigene Unsicherheit, die auf dem schmerzlichen Vertrauensbruch eines anderen Mannes beruhte. Er müsse verrückt sein, das Wagnis der Liebe noch einmal einzugehen, hatte Rob gesagt. Und er hatte außerdem hinzugefügt, daß er sie niemals bewußt verletzen würde. Was konnte eine Frau mehr verlangen? Mary hatte soviel Angst davor gehabt, daß Rob sie verletzen könnte, daß sie dem zuvorgekommen war. Es war höchste Zeit, Rob um Verzeihung zu bitten. Mary blickte sich aufgeregt um, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Was brauchte sie? Mantel, Handtasche, Schlüssel. Robs Gesichtsausdruck war abweisend, als er die Haustür öffnete. Marys Mut sank. Es würde nicht einfach werden. Er war offensichtlich nicht bereit, nachzugeben. "Was willst du?" fragte er ungnädig "Ich muß mit dir reden. Bitte", antwortete Mary sanft. Er schüttelte den Kopf. "Ich habe genug geredet."
"Bitte." Zuerst blieb er wie versteinert in der Tür stehen, dann ließ er sie doch eintreten. Im Wohnzimmer drehte er ihr den Rücken zu, ging zum Kamin und schürte das Feuer. "Ich höre", sagte er kurzangebunden. Mary nahm allen Mut zusammen und ging zu ihm. Sie blieb dicht hinter ihm stehen und hätte am liebsten seinen Rücken und seine Schultern gestreichelt, aber das wagte sie doch nicht. Ihr Herz raste. Jetzt war sie hier und wußte nicht, wie sie anfangen sollte. Es mußte aber etwas geschehen, denn Rob war sehr ungeduldig. Zuletzt platzte sie einfach damit heraus. "Ich liebe dich, Rob." Er zuckte zusammen, als ob ihn der Schlag getroffen hätte. Aber dann schüttelte er den Kopf, immer noch mit dem Rücken zu ihr. "Ich bin zu alt für Märchen, Mary. Eine Frau weist den Mann, den sie liebt, nicht mehrmals ab." Marys Kehle war trocken. "Ich... ich glaubte, daß du meine Liebe niemals erwidern könntest, weil du deine Frau zu sehr geliebt hast, wegen deiner Erinnerungen an sie. Wie sollte ich jemals deine Liebe gewinnen, nachdem du so einen tragischen Verlust erleiden mußtest? Ich dachte, du wolltest in erster Linie eine sexuelle Beziehung zu mir, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß du mich eines Tages verlassen könntest, so wie Wayne und meine Eltern es taten. Außerdem hatte ich Angst davor, ohne Wenn und Aber zu lieben. Jetzt weiß ich, daß du recht hast, Rob. Das Leben bietet keine Garantien. Es war ein Fehler von mir, sie zu verlangen. Du kannst mir keine ewige Liebe versprechen, aber ich will mit dem zufrieden sein, was du mir geben kannst, solange du es möchtest." Rob drehte sich um und wirkte äußerst angespannt. Er trat auf sie zu und legte die Hände um ihr Gesicht. "Meinst du das ehrlich?" fragte er rauh. "Liebst du mich wirklich?"
Mary nickte. Sie brachte kein Wort heraus, als sie die unbändige Sehnsucht in seinen Augen entdeckte. Robs Kuß war unsagbar zart. Er streichelte ihre Wangen mit den Daumen, bevor er ihr durchs Haar fuhr und dann ihren Nacken und ihre Schultern liebkoste. "Sag es noch einmal", murmelte er, den Mund an ihren Lippen. "Ich... liebe... dich", sagte sie zwischen Küssen. Jetzt küßte er sie fordernder und preßte sie eng an sich. "Ah, Mary", flüsterte er und zog sie auf seinen Schoß in einen Sessel. "Du hast alles durcheinandergebracht, Liebling." Er schmiegte sich an ihren Nacken. "Nur den Teil über meine Liebe nicht. Ich liebe dich... wie verrückt." "Was meinst du dann?" fragte Mary irritiert. Mit dem Zeigefinger folgte Rob der Linie ihres Haars und verharrte bei ihrem Ohr. Was für ein hübsches Ohr! Er wollte es mit der Zunge erkunden, aber als er die Unsicherheit in ihren Augen sah, beschloß er, zuerst für Klarheit zu sorgen. "Lynn und ich waren geschieden. Unsere Liebe endete lange, bevor sie starb." Marys Lippen rundeten sich vor Erstaunen. Rob konnte dem Drang, sie zu küssen, kaum widerstehen. "Holly war erst zwei Jahre alt, als Lynn zurück nach Dallas zog, um in der Nähe ihrer Eltern zu wohnen. Sie heiratete ein Jahr später neu und starb ungefähr ein Jahr danach bei einem Verkehrsunfall." "Ich... verstehe", murmelte Mary. "Trotz unserer Meinungsverschiedenheiten bemühten wir uns wegen Holly um eine Scheidung mit beidseitigem Einverständnis. Lynn erhielt das Sorgerecht, aber sie hinderte mich nie daran, Holly zu besuchen. Ich sah Holly fast jedes Wochenende, und mehrmals im Jahr kam sie für ein oder zwei Wochen zu mir." Rob seufzte. "Holly war noch so klein, als Lynn starb. Sie kann sich kaum an ihre Mutter erinnern. Ich habe mein Bestes getan, damit sie voller Liebe an ihre Mutter
denkt. Das hat Lynn verdient. Sie war immerhin eine gute Mutter. Sie war nur nicht als Ehefrau für mich geeignet... und ich nicht als Ehemann für sie. Das war unser Problem." "Was geschah zwischen euch?" fragte Mary. Sie gab der Versuchung nach und strich die Fältchen auf seiner Stirn glatt. Er fuhr mit den Lippen über ihre Handfläche. "Ich bin hier geboren und liebe das Landleben. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Lynn war ein Großstadtmensch. Sie fühlte sic h in Hope eingeengt und begann allmählich, ihre Umgebung zu hassen. Als der Haß sich in unsere Beziehung einschlich, beschlossen wir, uns zu trennen. Wir hatten uns auf dem College kennengelernt und ineinander verliebt, als wir sehr jung und idealistisch waren. Damals glaubten wir, die Unterschiede zwischen uns überwinden zu können, aber sie wurden immer größer." Rob legte die Arme um Mary. "Mit der Trennung brach eine Welt für mich zusammen. Ich hatte das Gefühl, als Ehemann und Mann versagt zu haben. Und ich vermißte meine Tochter furchtbar." "Deine Ehe mag gescheitert sein, aber du bist ein wundervoller Mann und Vater, Rob. Daran gibt es keinen Zweifel!" "Danke." Robs Stimme brach. "Ich kann dir gar nicht sagen, wieviel es mir bedeutet, das von dir zu hören. Holly war erst vier Jahre alt, als Lynn starb und ich sie zu mir nahm. Obwohl ich immer soviel Zeit wie möglich mit ihr verbracht habe, ist es doch etwas ganz anderes, ein Kind allein aufzuziehen. Ich versuche, ein möglichst guter Vater zu sein, trotzdem kann ich ihr die Mutter nicht ersetzen. Lynns Eltern boten mir damals an, Holly zu sich zu nehmen, aber ich wollte sie nicht mit dem Gefühl aufwachsen lassen, daß sie mir gleichgültig ist." Mary nickte zustimmend. Kein Wunder, daß sie diesen Mann liebte. Rob war ein Vater, wie sie ihn nie gehabt hatte und sich immer gewünscht hätte, und sie war sehr glücklich für Holly.
Kein Kind sollte ihrer Ansicht nach jemals Zurückweisung durch die Eltern erleiden müssen. "Sehen die Großeltern Holly noch?" fragte sie. "Selbstverständlich", antwortete Rob. "Schließlich sind sie Hollys einzige Großeltern, und Holly ist ihre einzige Enkelin. Ich sorge dafür, daß sie genügend Zeit miteinander verbringen können. Am zweiten Weihnachtsfeiertag kommen sie hierher und nehmen Holly für eine Woche mit. Ich fahre dann am Tag nach Neujahr nach Dallas und hole sie wieder ab." "Wie freundlich von dir, Holly mit ihnen zu teilen." "Es sind nette Leute", meinte Rob. "Sie lieben Holly über alles, und Holly ist sehr gern bei ihnen. Es war nicht ihre Schuld, daß Lynn und ich nicht zusammenpaßten." Er sah Mary ernst an. "Mary, du sagst, daß du mich liebst, und Gott weiß, daß ich dich liebe, aber... mich gibt es nicht ohne Holly. Du hast dich reizend um sie gekümmert, während ich in Houston war, und bist sogar zu ihrer Geburtstagsparty gekommen. Bisher hat jede Frau schnell ihr Interesse an mir verloren, wenn sie erfuhr, daß ich ein Kind habe. Kannst du Holly wie ein eigenes Kind akzeptieren?" "Robert Green, soll das etwa ein Heiratsantrag sein?" Marys Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sie mußte sich mimer noch an den Gedanken gewöhnen, daß er sie liebte, und jetzt das! Rob lächelte. "Ja, Mary Shelton, ich möchte um deine Hand anhalten. Mir ist bewußt, daß wir uns noch nicht lange kennen, und wenn du Zeit für deine Antwort brauchst, werde ich warten. Doch du sollst wissen, daß ich dich von ganzem Herzen liebe, und wenn du dir vorstellen kannst, mit Holly und mir den Rest deines Lebens hier zu verbringen und mich zu heiraten, wäre mein Glück perfekt." Mary lehnte sich vor und küßte Rob zärtlich auf den Mund. "Ja." Sie küßte ihn noch einmal. "Ja." Und wieder. "Ja", murmelte sie selig.
Rob atmete befreit auf. "Ich hatte solche Angst, daß du nein sagen würdest." "Und ich befürchtete, daß du mich nicht genug lieben könntest, um mich heiraten zu wollen." "Wir hatten beide Angst davor, zurückgewiesen zu werden, und haben uns damit selber das Leben schwer gemacht", meinte Rob. "Das ist vorbei. Ich verspreche dir, daß ich dich immer an meiner Seite haben möchte, so lange ich lebe." "Mehr will ich nicht." Marys Augen funkelten plötzlich. "Was wird Holly dazu sagen? Sie hat mir einmal erklärt, daß sie einverstanden wäre, wenn ich dich noch viel lieber als sehr gern mögen würde." "Tatsächlich?" Rob schmunzelte. "So eine gerissene kleine Kupplerin! Mir hat sie dasselbe von dir gesagt." Sie lachten vergnügt, dann wurde Rob ernst. "Willst du mich bald heiraten, Mary Shelton?" "Sofort, wenn du willst, Robert Green", versprach Mary. Rob stand auf, hob sie auf die Arme und trug sie entschlossen ins Schlafzimmer. Diesmal ließ Mary ihn gewähren. Diesmal sollte sie nichts mehr trennen. Es war am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags. Für eine Braut ohne Verwandtschaft hatte Mary inzwischen eine große selbsternannte Adoptivfamilie, zu der sich viele wohlgesonnene Bürger von Hope zählten. Eigentlich hatten Rob und sie eine kleine Hochzeit im privaten Rahmen geplant, doch ihre Heiratsabsichten hatten sich schnell herumgesprochen, und alle Arbeitskollegen, Nachbarn und Bekannte hatten solange protestiert, bis sie ihre Pläne änderten. Die ganze Gemeinde war in erwartungsvoller Stimmung, die Menschen schöpften neue Hoffnung und glaubten wieder an die Zukunft. Am Montag nach Robs und Marys Verlobung war bekanntgeworden, daß die Inhaber der Firma Prichart Vinyl
Products sich für Hope als Standort ihres Zweigwerks entschieden hatten. Schon Anfang des Jahres sollte mit dem Bau der Firmengebäude begonnen werden. Es war allgemein bekannt, daß diese Entscheidung in erster Linie Robs Engagement zu verdanken war. Er hatte sogar eigenen Grundbesitz zum Schleuderpreis an die Firma verkauft, um einen zusätzlichen Anreiz zu bieten. Für ihn persönlich bedeutete das einen gewissen Verlust, für die Region aber einen unschätzbaren Gewinn. Die Bürger von Hope wollten Rob ihre Dankbarkeit zeigen, und als sie von seinen Heiratsplänen erfuhren, überschütteten sie das Paar mit Geschenken und Segenswünschen. Mary hatte selber viele neue Freunde gewonnen, seit sie die Weihnachtsfeier der Grundschule organisiert und in der Kirche als Organistin ausgeholfen hatte. Als bekannt wurde, daß sie keine Familie hatte, fanden sich lauter freundliche Helfer, die ihr einen Großteil der Hochzeitsvorbereitungen abnahmen. Jane Crane, Marys beste Freundin aus dem Schulkollegium und ihre Brautjungfer, betrat den Vorraum der Kirche und zupfte Marys Schleier noch einmal zurecht. "Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt", verkündete sie. "Es ist soweit, Mary." Jane reichte ihr den Blumenstrauß und umarmte sie vorsichtig. "Ich sag' Pastor Harwick Bescheid, daß du bereit bist." Holly sah hinreißend in dem roten Samtkleid aus, das sie für die Weihnachtsfeier gekauft hatten. Es paßte genausogut zu ihrer heutigen Rolle als Blumenmädchen. Sie lächelte Mary unerwartet scheu an. "Erinnerst du dich, wie ich dem kleinen Jesus meinen Weihnachtswunsch ins Ohr geflüstert habe, weil der Weihnachtsmann allein ihn nicht erfüllen kann?" Mary nickte, und Holly strahlte übers ganze Gesicht. "Ich hab mir eine Mami und eine richtige Familie gewünscht, wie sie alle meine Freunde haben. Jetzt ist der Wunsch in Erfüllung gegangen, und Daddy und ich sind nicht mehr allein."
Mary bückte sich und schloß das kleine Mädchen fest in die Arme. "Ich hab dich ganz lieb, Holly", sagte sie aufrichtig. "Ich hab dich auch lieb... Mami." Holly sprach das Wort versuchsweise aus und blickte Mary unsicher an. "Darf ich dich so nennen?" Mary zwinkerte ein paar Tränen fort. "Natürlich, mein Schatz. Es ist die größte Ehre, die ich je erhalten habe. Ich werde immer für dich da sein, Holly. Immer." Es klopfte an der Tür, und Mr. Starr trat lächelnd ein. Der schwarze Smoking stand ihm ausgezeichnet. Er hatte bis heute nicht zugegeben, daß er die Bühnenbilder angefertigt und den Weihnachtsmann gespielt hatte, aber vielleicht war es das beste. So wurde der Glaube an die Geheimnisse und Wunder von Weihnachten nicht zerstört. Mr. Starr verbeugte sich würdevoll. "Sie sind eine wunderschöne Braut, meine Liebe", sagte er zu Mary. "Ich wünschte nur, meine Wilma könnte bei uns sein. Sie liebte Hochzeiten. Eine Weihnachtshochzeit und die Ehre für mich, den Platz des Brautvaters einnehmen zu dürfen, hätten ihr gefallen." Mary lächelte, legte die Hand auf seinen Arm und ließ sich von ihm in die Kirche begleiten. Orgelmusik emp fing sie. Jackie Murphy war wieder gesund und spielte heute zu Marys und Robs Ehrentag. Mary gab ein Zeichen, und Holly betrat den Gang zwischen den Sitzreihen. Sie trug ein Körbchen und streute stolz Blumen auf dem Weg zum Altar. Jane folgte ihr. Mary kam es so vor, als ob alles in Zeitlupe geschähe. Schließlich war sie dran. An der Seite von Mr. Starr ging Mary dem Mann, der am Altar auf sie wartete, glücklich entgegen. Ihr eigener Weihnachtswunsch hatte sich ebenfalls erfüllt. Sie hatte endlich ihren Traummann gefunden und würde zukünftig nie wieder allein sein.
Rob sah seiner Braut voller Liebe und Stolz entgegen. Er hatte nie zu hoffen gewagt, daß er ein solches Glück noch einmal erleben durfte. Was für ein gesegnetes Weihnachtsfest! An diesem einzigartigen Tag erfüllten sich viele Hoffnungen - von ihm, seiner Braut, seiner Tochter... und außerdem die zahlreicher Bürger von Hope. Robs Herz quoll über vor Liebe und tief empfundener Dankbarkeit, als Mary, strahlend schön wie ein Engel, vor ihm stehenblieb. Er nahm ihre Hand und gemeinsam drehten sie sich zu Pastor Harwick um. Er lächelte und begann mit der Zeremonie: "Liebes Brautpaar..."
-ENDE -