Friedhelm Werremeier
TREFF MIT TRIMMEL
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE 02/2358 Herausgegeben von Ber...
34 downloads
765 Views
600KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Friedhelm Werremeier
TREFF MIT TRIMMEL
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE 02/2358 Herausgegeben von Bernhard Matt Neuausgabe der Heyne Taschenbücher 02/2150 und 02/2141 Für diese Ausgabe vom Autor durchgelesen und überarbeitet
Copyright © 1985 by Friedhelm Werremeier Printed in Germany 1992 Umschlagillustration: Foto-Design Johanna Fischer, Rechtmehring Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Kort Satz GmbH, München Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-05450-4
FRIEDHELM WERREMEIER (Jahrgang 1930) studierte Publizistik in Aachen und war dann Gerichtsreporter bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Mit seinem Roman und der Fernsehfassung Taxi nach Leipzig (1970, die erste Folge der Serie ›Tatort‹ in der ARD) wurde er als Kriminalautor bekannt. Er schuf die Figur des bärbeißigen Hauptkommissars Paul Trimmel, der auch in allen Fernsehfilmen im Zentrum der Handlung steht. Friedhelm Werremeier lebt in Bad Bevensen und arbeitet inzwischen hauptsächlich als Drehbuchautor für verschiedene Fernsehserien. 5 Kurzromane mit Hauptkommissar Paul Trimmel im Mittelpunkt. 5 Geschichten, die den Ablauf einen Berufsjahrs in Trimmels Leben illustrieren.
Dies sind fünf Geschichten, jede für sich ein abgeschlossener Kurzroman, die den Ablauf eines Berufsjahrs im Leben von Kriminalhauptkommissar Paul Trimmel widerspiegeln und sich nur ganz gelegentlich miteinander verzahnen. Natürlich sind es, wie sämtliche Erlebnisse Trimmels, fiktive Geschichten, und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, jede Übereinstimmung mit realen Ereignissen wäre deshalb rein zufällig. F. W.
Eine Leiche schreit um Hilfe
Ein blonder, ungewöhnlich gut aussehender Mann Mitte Dreißig kam mit Höffgen in Trimmels Büro und sagte artig: »Guten Tag!« Und fügte hinzu, als Trimmel nicht reagierte: »Eigentlich wollte ich ja nicht stören; bloß…« Trimmel sagte: »Was denn, Herr…« »Herbst«, sagte er, »Herbst wie Winter!« Plötzlich jedoch hatte er eine totale Blockade. Höffgen erklärte ziemlich direkt: »Chef, der spinnt!« Daraufhin aber schaffte es der Blonde, einen Satz astrein zu Ende zu bringen. »Wenn ich mich recht erinnere, Herr Höffgen«, erklärte er cool und durchaus überzeugend, »waren wir übereingekommen, daß Ihr Vorgesetzter über diese Frage entscheiden sollte!« Der Mann sah Robert Redford wirklich erstaunlich ähnlich, dachte Trimmel, und angezogen war er fast zu schick; andererseits allerdings wirkte er noch intelligenter als Hollywoods Schönster. Außerdem war er geradezu unverschämt braun. »Waren Sie im Urlaub?« fragte Trimmel. »Das denken alle«, lächelte der Mann, schnell besänftigt, »aber ich bin im Urlaub. Ich leite ein deutsch geführtes Hotel auf Teneriffa und bin das ganze Jahr da unten. Seit vorgestern bin ich hier… und dann kommt mir dieses Ding unter, daß ich glaube, ich spinne…« »Na also!« sagte Höffgen zufrieden. Aber diesmal war Trimmel geduldiger und ließ den Mann ausreden. Also, der Reihe nach. Mit dem Flugzeug angereist? Ja, mit Charter. Wie war doch gleich der genaue Name? Herbst –
Bernd Herbst, achtundzwanzig Jahre. Was für ein Ding war ihm untergekommen? Furchtbar. Kopfschütteln. Grau-en-haft. »Vielleicht sollten Sie jetzt aber einfach mal…« Herbst nickte. »Sie haben doch gestern früh eine tote Frau gefunden, nicht wahr?« Trimmel fragte Höffgen. »Haben wir das?« »Herr Hauptkommissar, bitte«, sagte der Blonde leicht vorwurfsvoll, »das steht ja nun seit gestern mittag wirklich in allen Zeitungen!« Trimmel sah ihn schräg von der Seite an. »Herr Hoteldirektor«, sagte er im Gegenzug, mit einem bei ihm ziemlich ungewöhnlichen Sarkasmus, »Sie werden jetzt entweder sofort zur Sache kommen, oder ich…« »Ja, ja, ja!« sagte Bernd Herbst. »Von der Sache rede ich doch die ganze Zeit! Überall steht, daß die Leiche morgens um sechs am Harvestehuder Weg gefunden worden ist, und zwar von einem Jogger, und das stimmt hinten und vorne nicht! Ich hab’ sie gefunden – nachts um zwei!« Er schüttelte sich; zumindest vorübergehend wich die Bräune aus seinem Gesicht. »Mir wird jetzt noch ganz schlecht, wenn ich bloß dran denke! Eiskalt, als ich sie anfaßte. Steif wie ‘n Brett…« »Gleich kommt’s!« freute sich Höffgen. Trimmel jedoch fragte ruhig: »Was machten Sie Anfang Januar mitten in der Nacht zu Fuß am Harvestehuder Weg? Zu Fuß müssen Sie ja gewesen sein – oder?« Herbst nickte. »Die Frau lag nicht direkt am Harvestehuder Weg, sondern so gut hundert Meter…« »Ich weiß!« sagte Trimmel. »Ich war selbst draußen…« Ein ulkiger Vögel, dachte er. Sah dabei tatsächlich recht manierlich aus; man konnte es sich wahrscheinlich gar nicht oft genug sagen. Eigentlich gar nicht wie einer, dem man die Würmer aus der Nase ziehen muß. Aber trotzdem… »Soll ich Ihnen die Würmer etwa einzeln aus der Nase ziehen!«
Das endlich wirkte. »Daß ich mitten in der Nacht am Harvestehuder Weg gewesen bin«, sagte Herbst, »ist hier ja eigentlich nicht mal das Besondere. Aber warum fragen Sie mich nicht, Herr Trimmel, wieso ich um die Zeit die hundert Meter runter bis zur Alster gelaufen bin? Wieso mir dann da diese starre Leiche vor die Füße geraten ist?« »Also – wieso?« »Weil sie geschrien hat!« sagte Bernd Herbst. »Und da frag’ ich Sie – wieso kann ‘ne starre, eiskalte Leiche schreien?«
Das Jahr war gerade erst ein paar Tage alt, und dann das. Der blonde Bernd Herbst blieb stur bei seiner Aussage – und dabei war der Fall schon so gut wie geklärt. »Warum kommen Sie erst heute morgen?« fragte Trimmel. Mittlerweile nahm er die Sache persönlich. »Weil ich ausgeflippt bin«, erwiderte der Blonde. »Ich bin sofort nach Hause gesprintet; ja, und dann – aus meinem Hangover können Sie bestimmt immer noch zwei Flaschen Whisky destillieren! Sie sind doch hier die Mordkommission… Sie sollten sich ja weiß Gott ausmalen können, wie das ist, wenn man nachts über ‘ne ruhestörende Tote stolpert!« Trimmel nickte, fast wider Willen. Bernd Herbst, gab er zu bedenken, hätte sich trotzdem wenigstens gestern nachmittag mal bei der Kripo melden können; ein gestandener Mann in seinem Alter… Nein, nein – so einfach sei auch das nicht, sagte der Zeuge Herbst; er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Als ich gestern zu Ihnen kommen wollte, hab’ ich einen Freund getroffen, der sich gerade den Mittag gekauft hatte… und da erschlägt mich gleich der nächste Hammer – anschließend haben wir zu zweit weitergepichelt. Wegen der angeblichen Todeszeit, die in der Zeitung stand, wegen der Totenstarre…« Seine Stimme bekam
einen flehenden Ton. »Herr Trimmel, ich war so gut wie nüchtern, als ich die Frau nachts gefunden hab’; aber warum wollen Sie denn nicht einsehen, daß man durch so was länger ans Saufen geraten kann?« Widerwillig nickte Trimmel. »Nach unseren Ermittlungen ist der Tod dieser Frau vermutlich kurz vor oder nach Mitternacht eingetreten…« »Dann könnte es also nachts um zwei allenfalls eine kataleptische Totenstarre gewesen sein«, sagte Bernd Herbst, mit einem Mal wieder fast im Plauderton, »diese sofortige Starre, die man nach bestimmten Hirnverletzungen beobachtet. Aber das kommt hier doch gar nicht in Frage, nach dem, was ich in der Zeitung gelesen habe…« »Sind Sie Fachmann?« staunte Trimmel. »Na ja… manchmal ertrinkt bei uns einer oder kommt beim Tauchen um, und ich hab’ dann als Hotelmensch die Scherereien mit der Leiche…« »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen!« sagte Trimmel. Aber diese Rede fand nicht statt: er überlegte es sich anders, und er gab Herbst, etwas gegen die Vorschrift, die dünne rote Akte mit dem Namen Lena Glomm. »Lesen Sie doch selber, daß da was nicht stimmen kann!«
Vorgestern war Dienstag, der Dienstag nach Neujahr – da ruft gegen Mitternacht der Klinikarzt Dr. Gisbert Glomm, neunundvierzig, im Präsidium an und berichtet, seine vierundvierzigjährige Ehefrau Lena sei seit etwa sechs Stunden überfällig; er rechne wegen ihrer labilen seelischen Konstitution mit dem Schlimmsten. Die seit zwanzig Jahren bestehende Ehe Glomm ist im übrigen kinderlos; die Leute haben ein schönes Haus im Innocentiapark und einen guten Leumund.
Gestern war Mittwoch, da wird die tote Lena Glomm in einem Gebüsch direkt an jenem Alsterparkplatz am Harvestehuder Weg gefunden, mit Paß und allen Papieren, vollständig bekleidet, allerdings ohne Mantel. Gegen sechs Uhr morgens, wie gesagt; der Ehemann wird unverzüglich verständigt. Gefaßt identifiziert er die Tote, kommt mit aufs Präsidium und sagt aus, daß er zuletzt am frühen Vorabend etwa um 17.30 Uhr von der Klinik aus mit seiner Ehefrau telefoniert habe; dabei habe sie einen leidlich nüchternen Eindruck gemacht, was bei ihr leider nicht die Regel gewesen sei. Wenig später, bei seinem Eintreffen zu Hause, sei sie weg gewesen. So klar der Fall zu diesem Zeitpunkt für den Ehegatten bereits war, so klar war er, kaum später am Tag, auch für Trimmels Truppe: es handelte sich offenbar schlicht und ergreifend um einen tristen, trostlosen Selbstmord. Neben der Leiche lagen einer ihrer Schuhe – sie hatte ihn ausgezogen oder im Hinfallen verloren – und ihre Krokodilledertasche mit dem üblichen Durcheinander. Außerdem eine halbleere Flasche Cognac und ein leeres Zwanzigerröhrchen des nur auf Rezept erhältlichen Schlafmittels Atripan; eine tödliche Dosis, wenn nicht ziemlich schnell geholfen wird. Und die Gerichtsmediziner zogen daraufhin bereits in einem vorläufigen Gutachten präzise Schlüsse: Auf Grund der festgestellten Leichenstarre und dem Sektionsbefund kann angenommen werden, daß Frau G. zwischen 19 und 20 Uhr, möglicherweise bereits in der Nähe des späteren Fundorts ihrer Leiche, mit Hilfe des Vehikels Alkohol das Atripan zu sich nahm. Zeitlich beeinflußt durch den Alkohol, der die Wirkung des Schlafmittels erheblich beschleunigte, dürfte der Tod zwischen 23.30 Uhr und 1.30
Uhr eingetreten sein; hierbei dürfte auch Unterkühlung eine Rolle gespielt haben, und eine zeitliche Grenze dürfte eher nach hinten als nach vorn anzusiedeln sein. Entsprechende Organproben wurden bei der Autopsie sichergestellt… Dr. Gisbert Glomm, am Nachmittag nochmals ins Präsidium gebeten, sagte bei einer eingehenden Vernehmung über den Tod seiner Frau: »Der Weg an der Alster entlang war schon immer ihr Lieblingsweg, sommers wie winters. Sie ist da sicher bis zu ihrem Zusammenbruch und ihrem anschließenden Tode herumgeirrt; daß ich darauf nicht früher gekommen bin, kann ich mir kaum erklären. Ich mache mir mittlerweile heftige Vorwürfe; vielleicht wäre Lena zu einem nur etwas früheren Zeitpunkt noch zu retten gewesen…« Er sagte es – laut Protokoll – traurig und überzeugend.
Bernd Herbst gab Trimmel die dünne Akte zurück. »Schönen Dank für Ihr Vertrauen. Aber da steht ja nun Aussage gegen Aussage, nicht wahr?« »Nach zwei oder drei Stunden kann eine Leiche nicht starr sein!« sagte Trimmel hartnäckig. »Aber nachdem sie mal starr ist, kann sie erst recht nicht schreien!« »Ja, das sag’ ich doch dauernd!« stöhnte der Blonde. »Ja, eben – das sagen Sie! Und sonst keiner! Wie hat Ihre starre Leiche denn eigentlich geschrien?« Er bemühte sich um eine erstaunlich detaillierte Beschreibung: »Kurz und hoch. Und brach dann mitten drin ab, gerade deshalb war’s ja so grausam. Wie ein Kaninchen, das von einem Metzger fachmännisch geschlachtet wird…« »Da unten gibt’s jede Menge Kaninchen!« sagte Höffgen. »Aber keine Metzger, Herrgott noch mal! Außerdem, nachts und mitten im Winter…«
Trimmel dachte nach wie vor über die Glaubwürdigkeit seines bisher schönsten Zeugen nach. Er kam immer eindeutiger zu positiven Ergebnissen und fragte sich allmählich, ob es ihm unter Umständen gar nicht so unangenehm wäre, Dr. Glomm einiges am Zeug flicken zu können: War der Arzt, direkt oder indirekt, vielleicht doch nicht so ganz dieses Seelchen, das er zu sein schien? »Haben Sie sonst noch was beobachtet?« fragte er Herbst, und es klang fast hoffnungsfroh. Der blonde Mann zögerte. »Auf dem Parkplatz stand ein Mercedes. War aber leer…« »Also, Autos mit Liebespärchen gibt’s da nachts im Gegensatz zu Karnickeln ja nun echt wie Sand am Meer!« sagte Höffgen in all seiner Sturheit. »Im Winter wird sicher eher mehr gebumst als weniger!« Trimmel aber kümmerte sich um das Nächstliegende. »Wissen Sie die Nummer? Oder die Farbe?« Herbst schüttelte den Kopf. »Nee, leider. Genau in dem Moment hab’ ich mich bloß gefragt, wie ich um die Zeit an den nächsten Schnaps komm’.« Wider Willen nickte Trimmel ihm abermals zu.
Später am Abend saß er Dr. Gisbert Glomm vor seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer der weißen Villa am Innocentiapark gegenüber. Glomm schüttelte den Kopf. »Dummes Zeug, was Sie mir da erzählen!« »Mehr nicht?« fragte Trimmel. Dr. Glomm, dunkelgrau gekleidet, mit schwarzer Strickkrawatte, saß quer zum Schreibtisch, halb die Baumkronen in der Dunkelheit, halb Trimmel im Blick. »Nein – mehr nicht«, sagte er. »Selbst wenn wir mal unterstellen wollen, Ihr Zeuge hätte objektiv recht mit seiner
Wahrnehmung einer beginnenden, sicher nicht ausgebildeten Totenstarre bei meiner Frau… wie, so frage ich Sie, hat er die Untersuchung denn überhaupt vorgenommen? Soll ich Ihnen ein Kolleg halten über die entsprechenden Meßmethoden? Über gewisse… Imponderabilien bei der Feststellung exakter Todeszeitpunkte anhand der Starre, zumal durch einen Laien?« »Danke!« sagte Trimmel muffig. »Na, geschenkt!« Dr. Glomm lächelte schwach. »War ja nicht böse gemeint. Aber eins noch in dem Zusammenhang… war diese Nacht nicht sehr kalt?« »Vier Grad unter Null«, sagte Trimmel. »Nicht so kalt, daß von daher alles klar wäre…« »Es ist alles klar, Herr Trimmel!« stellte Glomm energisch fest. »Ich will’s im übrigen auf meinen mir noch ungewohnten Status als frischer Witwer zurückführen, wenn ich eine gewisse… na, Schärfe in Ihrem Ton zu erkennen glaube. Ich hoffe, ich irre mich… Zigarre?« Nun gut, Trimmel nahm sie; immerhin lag gegen Dr. Glomm ja nichts Konkretes vor. Noch nicht, jedenfalls, ob es ihm paßte oder nicht; er biß die Spitze ab, und dann fragte er dennoch: »Besitzen Sie einen Mercedes?« »Ja – warum?« »Weil angeblich einer neben Ihrer toten Frau gestanden haben soll…« Dr. Glomm sagte ernsthaft: »Also, meiner war’s nicht. Ich hab’ die ganze Zeit zu Hause am Telefon gesessen und auf einen Anruf von der Polizei gewartet.« »Konnten Sie sich denn wirklich so sicher sein, daß Ihre Frau tot war?« »Leider, ja!« Glomm holte Whisky, Tabak und Pfeife zusammen. Würziger Rauch stieg dann empor, schwarz von Trimmel, blau von Glomm. Eine dieser Stunden unter angeblich vernünftigen Männern, die sich immerhin, trotz ihrer
Vernunft, schon bei ihrem ersten Zusammentreffen die Versicherung erspart hatten, daß sie einander in tiefster Seele – dazu tatsächlich auch auf den ersten Blick – nicht leiden konnten. »Herr Trimmel, nun mal Tacheles«, sagte Glomm. »Was, bitte, wollen Sie wirklich? Ich habe Ihnen bereits gestern freiwillig mitgeteilt, daß meine Ehefrau in der letzten Phase ihres Lebens als Alkoholikerin zu depressiven Stimmungen neigte. Sie galt als labil und hatte kaum noch zwischenmenschliche Interessen – dabei handelt es sich um Fakten, die Sie ohne weiteres hätten überprüfen können…« »Hab’ ich!« sagte Trimmel. »Und?« »Ihre verstorbene Frau neigte als Alkoholikerin zu depressiven Stimmungen. Sie galt als labil und hatte kaum noch zwischenmenschliche Interessen…« »Aha!« sagte Glomm. Er erleuchtete das schwarzweiße Zimmer mit den schweren Ledermöbeln durch eine Stehlampe und machte die Deckenlichter aus. Er wartete. »Also gut«, sagte Trimmel, scheinbar gottergeben, »nur wegen der Vollständigkeit… trank Ihre verstorbene Ehefrau Alkohol eigentlich zu jeder Tageszeit?« »Meistens schon.« »Also auch morgens?« »Ja. Leider auch morgens.« »Hatten Sie Dienstag morgen ebenfalls den Eindruck, daß sie schon derart früh…?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich ahne Schlimmes«, sagte er, »ich ahne, auf was Sie hinauswollen. Wollen Sie darauf hinaus, daß ich meiner Frau Grund zum Trinken gegeben habe? Beziehungsweise, welchen Grund?« »Zufällig eigentlich gar nicht«, sagte Trimmel. »Im übrigen halt’ ich’s für nicht ganz ausgeschlossen, daß Sie gestern in
Ihrer Aufregung die eine oder andere Einzelheit vergessen haben könnten…« »Und welche könnte das sein?« »Na ja, eben«, sagte Trimmel, »beispielsweise die, ob Ihre Frau am Dienstagmorgen getrunken hatte!« Glomm antwortete, wieder betont lässig: »Wenn’s Ihnen derart wichtig ist – ich glaube nicht. Sie muß das Alkoholquantum, das zumindest indirekt mitursächlich für ihren Tod gewesen sein dürfte, erst relativ kurz zuvor mit den Tabletten zu sich genommen haben.« »Zwei Komma eins Promille?« »Herr Trimmel, ich behaupte keineswegs, daß sie vor ihrem Tod tagsüber überhaupt nichts getrunken hat!« sagte Glomm mit scheinbar aufrichtiger Betrübnis. »Außerdem glaube ich nicht, daß sie in ihren letzten Monaten jemals viel weniger als ein Promille im Blut hatte…« »Damit«, sagte Trimmel, »stehn wir nun allerdings doch vor der Frage, weshalb Ihre Frau trank…« Glomm sog bedächtig an seiner Pfeife; Trimmel, höchst gespannt, zählte bis sieben. »Ich will Ihnen, abermals freiwillig, wie ich betone, etwas erzählen, das mit der Geschichte eigentlich gar nichts zu tun hat«, erklärte der Arzt. »Ich möchte lediglich vermeiden, daß Sie eines Tages aus einer Reihe von Halbwahrheiten falsche Schlüsse ziehen…« »Sie hatten eine Freundin?« sagte Trimmel sofort. Glomm nickte. »Aber erst, nachdem Lena zu trinken begonnen hatte! Nachdem ihre psychische und im Laufe der Zeit zwangsläufig auch körperliche Verfassung einen Tiefpunkt erreicht hatte, der ein normales Zusammenleben nahezu unmöglich… unerträglich machte!« »Sie wollten gelegentlich abschalten, vermute ich?« fragte Trimmel heuchlerisch.
Dr. Glomm lächelte traurig; er stand offenbar nach wie vor über den Dingen. »Ein bißchen unwissenschaftlich, aber gegebenenfalls könnte man es so ausdrücken. Es ist übrigens kein besonders enges Verhältnis…« »Sagen Sie mir trotzdem, wie die Dame heißt?« Da allerdings spie Dr. Glomm den Rauch doch etwas heftiger aus. »Muß das sein? Sie ist derzeit sowieso nicht in Deutschland… Sie könnten sie so und so frühestens erst in mehreren Monaten…« Trimmel stoppte ihn. »Seit wann ist sie weg?« Er hatte das Notizbuch schon aufgeschlagen. »Meine Güte – seit heute!« Und dann diktierte er: »Hannelore Hellmann. Alsterkrugchaussee – sehn Sie, ich weiß nicht mal die Hausnummer!« »Wie alt?« »Neunundzwanzig. Graphikerin. Evangelisch, soweit ich informiert bin, wenn Sie das auch noch…« »Freiberuflich?« fragte Trimmel. »Ja. Wieso?« »Na ja – weil sie so schnell wegfahren konnte. Direkt im Anschluß an den Tod Ihrer Frau…« Ein dünnes Argument, zugegeben. Trotzdem reagierte der bis dahin so überlegene Dr. Gisbert Glomm noch heftiger und überdies noch nervöser, als Trimmel erwartet hatte. »Sie hatte diese Reise seit Monaten geplant, keineswegs erst seit gestern; sie hat einen recht lukrativen touristischen Werbeauftrag! Warum, Herr Trimmel, lassen Sie nicht die Finger von meinem Privatleben? Warum beziehen Sie in Ihre… Ermittlungen Menschen ein, die nicht mal mittelbar mit Lenas Schicksal zu tun haben? Nur weil da nachts ein Verrückter durch die Gegend rennt und idiotische Behauptungen über Totenstarre verzapft? Was, bitte, hindert Sie wirklich, diese Affäre abzuschließen?«
Trimmel dachte nicht daran, ihm zu antworten – ihm schon gar nicht. Trimmel fragte ungerührt weiter. »Wo hält sich Fräulein Hellmann…« »Frau Hellmann!« »… wo genau hält sich Frau Hellmann zur Zeit auf?« »In der Sonne«, sagte Dr. Glomm. »Aber mehr weiß ich wirklich nicht, ob Sie’s mir glauben oder nicht; unsere Beziehung ist tatsächlich nicht so eng, daß einer der Partner bei Abwesenheit des anderen…« Trimmel war überraschend aufgestanden. »Danke, Herr Doktor Glomm – manchmal mach’ ich mir anscheinend völlig falsche Vorstellungen! Ich sollte jetzt doch wohl…« »Na, Gott sei Dank«, sagte Dr. Glomm und erhob sich ebenfalls. Dabei gab er sich nicht die geringste Mühe, seine Erleichterung zu verbergen; über die Plötzlichkeit, mit der Trimmel sich verabschiedete, wunderte er sich anscheinend überhaupt nicht. Höffgen saß noch im Büro herum – ziemlich verbittert, weil er inzwischen auch schon ohne den Fall Glomm derart viele Überstunden abgerissen hatte, daß er sie wahrscheinlich bis zu seiner Pensionierung nicht mehr abbummeln könnte. »Na, gibt’s was Neues?« »Irgendwas ist da faul«, sagte Trimmel. »Glomm hat zugegeben, daß er ‘ne Freundin hat. Und die ist gerade in Richtung Süden abgehauen – ausgerechnet jetzt. Angeblich weiß er nicht mal, wo sie ist!« »Das glaubt er doch selbst nicht!« »Ja, eben. Außerdem hat er dreimal betont, es wär’ sozusagen nur ‘ne Bumsgeschichte. Der ist diesem Mädchen total verfallen – ich kenn’ doch die Symptome!« »Und nun meinen Sie…« Trimmel schüttelte den Kopf. »Er hat seine Ehefrau sicher nicht umgebracht, damit er für sich und seine Freundin freie
Bahn hatte. Aber wenn er schon diese Freundin hat, und wenn die Frau latent selbstmordgefährdet ist…« »Gespenstisch!« sagte Höffgen. »Nee, nee«, sagte Trimmel, »das nun gerade nicht! Das ist eher mehr menschlich, wenn du mich fragst! Und morgen gehste sofort los und guckst zu, daß du über diese Person ‘n bißchen mehr rauskriegst!« »Wie schön!« sagte Höffgen fatalistisch. Dann jedoch hatte er, aus Trimmels Sicht erstaunlicherweise, eine Idee. »Können wir da nicht diesen Herbst einschalten? Der hat doch erstens mit der Urlaubs- und Reisebranche zu tun, und zweitens hat er uns das ja erst eingebrockt, daß aus dem Fall ‘n Fall geworden ist…« Trimmel sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht gar nicht mal so verkehrt…« Er griff zum Telefon. Bernd Herbst meldete sich sofort. Und sagte, wenn auch zögernd, zu, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Zuvor allerdings, sagte er, werde er endlich den Zug durch die Hamburger Gemeinde machen, den er ohne die Leiche, die um Hilfe schrie, schon längst gemacht hätte. Trimmel legte den Hörer auf. »Warum, übrigens, hat die Alkoholikerin Lena Glomm ausgerechnet an ihrem letzten Lebenstag keinen Zug durch die Gemeinde gemacht?« Weil Höffgen nur das halbe Gespräch gehört hatte, wußte er damit wenig anzufangen. »Warum«, fragte Trimmel weiter, »schleppt sie diese volle Flasche Cognac in der Handtasche mit sich rum?« »Die war doch halb leer!« erinnerte sich Höffgen. »Klar, hinterher auf dem Parkplatz – nachdem sie mit dem Zeug ihre Tabletten runtergespült hatte. Aber hast du schon mal beobachtet, daß Alkoholiker Vorratswirtschaft betreiben, statt sofort alles auszusaufen?« Höffgen starrte ihn an. »Da ist was dran…«
»Sicher ist da was dran. Und deshalb gucken wir uns jetzt endlich mal diesen Parkplatz an!« Zehn Uhr abends. Höffgens Stimmung sackte durch bis zum Tiefstpunkt. Es war sogar noch zwei Stunden zu früh, dachte er höhnisch und verbittert, um wenigstens hoffen zu können, durch Spinner oder Spanner unterhalten zu werden.
Zu seiner Überraschung allerdings war da draußen doch schon einiges los: fünf, sechs Wagen, die Hälfte mit, die andere Hälfte ohne Pärchen, standen wegen der Kälte mit laufendem Motor allesamt in einer Wolke von Abgas. Gegen Mitternacht waren es immerhin noch zwei, abgesehen von Trimmels privatem Auto. Und um null null sieben Uhr bog die Funkstreife 567 vom Harvestehuder Weg in die Parkplatzzufahrt ein; die Besatzung strahlte die geparkten Wagen mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern an und machte insofern eine Art Mini-Razzia. Die Beamten mußten gesehen haben, daß in dem uralten Ford mit der Nummer HH-KK 133 zwei männliche Personen saßen. Deshalb schritten sie ein, blockierten das Auto mit ihrem Streifenwagen und stiegen aus. Mit quietschenden Reifen rasten die beiden anderen Wagen an ihnen vorbei und davon. »Ihre Papiere bitte…«, sagte der erste Polizist. Trimmel gab ihm, während Höffgen ebenfalls ausstieg, seine private Zulassung und den Polizeiführerschein. Der Beamte sah erst Höffgen, dann die Papiere und schließlich, leicht betroffen, Trimmel an. »Was machen Sie… können wir Ihnen vielleicht helfen?« »Kontrollieren Sie diesen Parkplatz regelmäßig?« erkundigte sich Trimmel. »Oder nur, wenn gerade Leichen gefunden worden sind?«
»Eigentlich schon ziemlich regelmäßig…« »Auch von Dienstag auf Mittwoch?« Der Beamte sah seinen Kollegen an, und der schüttelte den Kopf. »Da hatten wir dienstfrei – aber wahrscheinlich hat ein anderer Wagen…« »Stellen Sie’s fest und sagen Sie mir Bescheid!« Trimmel steckte die Papiere wieder ein, kurbelte das Fenster hoch und stieg aus. Er hielt die Nase schnuppernd in die kalte, feuchte Alsterluft, und plötzlich sagte er: »Wo ist hier eigentlich der nächste Taxistand?« Die Beamten überlegten. »Blumenstraße«, meinte der Streifenführer. »Wir können Sie gern – übrigens, haben Sie eigentlich ‘ne Panne?« »Nein. Wie lange geht man zu Fuß?« »Fünf, acht Minuten – hier am Wasser links, über die Krugkoppelbrücke rechts, dann wieder links…« Da schloß Trimmel den Wagen ab und marschierte los, unter den wachsamen Augen der Streifenpolizisten. Zuerst schnüffelte er mit Höffgen in den Büschen am Rand des Parkplatzes herum; an diesem Abend jedoch gab es effektiv nichts Besonderes, geschweige denn eine tote Frau, starr oder nicht. Dann allerdings gingen sie tatsächlich im Gänsemarsch Richtung Blumenstraße – und von da an wurde der Fall Lena Glomm endlich nach Metern und Minuten gemessen.
Das nächste Stück Ermittlungsarbeit war pure Routine, nachdem die Idee mit den Taxen einmal geboren war. Ein bißchen Glück kam hinzu, neue Indizien und einige Aspekte mehr tauchten auf – und so ergab sich letztlich doch bereits kurz nach dem ersten Besuch von Bernd Herbst gegen den bis
dahin unangreifbaren Witwer Gisbert Glomm der mehr oder weniger präzise Verdacht, er könne am Tod seiner Ehefrau in irgendeiner Form beteiligt gewesen sein. Erstens, Hannelore Hellmann hatte zwar, wie Höffgen rauskriegte, in Hamburg außer Glomm offenbar weder Freunde noch Verwandte und konnte daher gar nicht ermittelt, geschweige denn vernommen werden – aber dafür machten sie, zweitens, tatsächlich einen Taxifahrer ausfindig, der Glomm am Dienstag in der Stunde vor Mitternacht von der Blumenstraße zur Werderstraße gefahren hatte, nur wenige Schritte vom Innocentiapark entfernt. Drittens erinnerten sich die Streifenbeamten, die den Alsterparkplatz in der Todesnacht um 23.35 Uhr kontrolliert hatten, an einen dunklen, vermutlich blauen Mercedes; dunkelblau indessen war auch das Auto von Dr. Glomm. Und viertens, das vor allem, rief Bernd Herbst, dessen Aussage durch Punkt drei teilweise bestätigt wurde, bei Trimmel an: er erklärte mit Stolz in der Stimme, er wisse jetzt einiges. »Nämlich?« »Hannelore Hellmann ist mit Hapag-Lloyd nach Teneriffa geflogen und von da mit der Fähre auf die Insel Gomera geschippert. Da wohnt sie in einer Pension!« »Ach nee!« sagte Trimmel. Höffgen, sah er, machte mittlerweile ganz lange Ohren. »Liegt das so nah bei Ihnen? Bei Teneriffa, mein’ ich?« Herbst lachte. »Von hier aus gesehen sowieso!« »Und wie haben Sie’s rausgekriegt?« Er lachte immer noch. »Man hat so seine Beziehungen in der Branche… Okay?« »Okay!« sagte Trimmel. Ein noch reichlich unklarer Gedanke kam ihm in diesem Moment. »Wenn Sie irgendwann mal gar nicht wissen, was Sie machen sollen… wollen Sie uns nicht einfach mal wieder besuchen?«
»Ich?« wunderte er sich. »In voller Schönheit? Freiwillig zur Polente?« »Wieso? Sie waren doch schon mal hier?« »Ja, aber da gab’s ‘n konkreten Anlaß…« »Jetzt auch!« behauptete Trimmel. Daraufhin lachte Herbst seltsam glucksend. »Na schön. Das ist ja wirklich der reinste Krimi!« Dabei war’s aber, wie sich zeigte, sogar noch mehr.
Höffgen ließ jetzt zunächst nichts unversucht, Trimmel davon zu überzeugen, daß er als sein Stellvertreter der ideale Mann für die nunmehr dringend nötigen weiteren Ermittlungen sei; im Klartext; er, Höffgen, müsse möglichst noch am selben Tage auf die Insel Gomera reisen, um dort Hannelore Hellmann zu vernehmen. Trimmel jedoch wollte davon überhaupt nichts wissen. »Hast du noch nie gehört«, sagte er, »daß heutzutage gerade die Öffentliche Hand sparen muß? Außerdem komm’ ich ohne dich überhaupt nicht zurecht; sieh das mal von der Seite!« Von seinen noch unausgegorenen Plänen, die sich erst ganz allmählich in seinem Hinterkopf einnisteten und Gestalt annahmen, sagte er nichts. Dann, mit einem Mal, stand Herbst in der Tür, und Trimmel nahm seinen Zeugen – mittlerweile Trumpf-As und Joker in einem – an diesem abermals sehr grauen Tag wie vorgesehen mit in die Gerichtsmedizin. Dort war es zumindest strahlend hell, wenn’s auch etwas streng roch. »Wir müssen da mal endlich was ausräumen«, erklärte Trimmel dem jungen Privatdozenten Dr. Ballhaus, der Lena Glomms Leiche als Erster Obduzent auseinandergenommen hatte. »Liegt es, wenn’s auch noch so unwahrscheinlich ist, im Bereich des Möglichen, daß Frau Glomm bereits um zwei Uhr
früh völlig erkaltet war, wenn sie, wie Sie meinen, tatsächlich noch bis um Mitternacht gelebt hat? Nachdem sie am Nachmittag stocknüchtern, abends aber volltrunken war?« »Jesus Christus«, meinte Ballhaus, »lassen Sie doch wenigstens den Alkohol raus! Und den Rest sagen Sie bitte noch mal ganz langsam zum Mitschreiben…« Dabei hatte er es natürlich auf Anhieb begriffen. »Ich will wissen«, präzisierte Trimmel, »ob grundsätzlich zwei Stunden nach dem Eintritt des Todes eine voll ausgebildete Totenstarre vorhanden sein kann.« Ballhaus schüttelte den Kopf. »Normalerweise ist das erst nach sechs bis neun Stunden der Fall… bei den ganz seltenen Ausnahmefällen in der Literatur gibt es auch nicht einen, der sich verifizieren läßt…« Da wandte sich Trimmel mit großer Geste an Herbst. »Damit sind Sie dran!« Und Herbst nickte und nahm tapfer sein Stichwort auf: »Ich kann die Totenstarre bei Frau Glomm um zwei Uhr früh auf meinen Eid nehmen!« Der Gerichtsmediziner funkelte ihn an. »Sind Sie… naturwissenschaftlich vorgebildet?« »Nein«, sagte Herbst. Der gelegentlich recht arrogante Ballhaus zog mokant die Mundwinkel herab und erklärte, er betrachte unter diesen Umständen das Gespräch mit ›dem Herrn‹ als beendet. »So ja nun nicht!« grollte er. Trimmel verkniff sich sein Grinsen mit letzter Kraft. Der Obduzent hatte haargenau so reagiert, wie er es sich vorgestellt hatte, und Herbst war dunkelrot geworden und drohte an seiner Wut zu ersticken. »Können wir nicht wenigstens mal unterstellen«, sagte Trimmel einlenkend, »daß Frau Glomm schon früher am Tag, am Vormittag oder am Mittag, volltrunken und vergiftet war… daß sie jedenfalls doch schon
spätestens um achtzehn Uhr tot und deshalb um zwei Uhr morgens von Rechts wegen steif war?« Ballhaus nahm die goldgefaßte Brille ab und putzte sie umständlich. »Sie wissen, was das heißt?« »Ja!« sagte Trimmel. »Unterlassene Hilfeleistung kann das heißen… soweit ich im Bilde bin, wird da Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr angedroht…« »Ja!« wiederholte Trimmel. »Man müßte sogar an eine Tötung denken. Totschlag anstelle von unterlassener Hilfeleistung – die berühmte Konkurrenz der Straftaten. Wenn nicht sogar…« »Ja…«, sagte Trimmel zum drittenmal. »Vielleicht sogar an Mord. Dazu allerdings müßte man Glomm nachweisen, daß er gelogen hat. Daß er am frühen Abend nicht mehr mit seiner Frau sprechen konnte. Und daß auch bei einem so fähigen Rechtsmediziner wie Ihnen Irrtümer nicht ausgeschlossen werden können… richtig?« Ballhaus hob die Schultern. Und so schwer es ihm auch fallen mochte – er trat zumindest teilweise, wenn auch mit recht geschraubten Worten, den strategischen Rückzug an. »Die in den Akten enthaltene Zeitangabe des… Kollegen Glomm, seine nachmittags übrigens angeblich noch nicht alkoholisierte Frau sei zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen, muß mit unseren Erkenntnissen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Wir hatten schließlich nicht sehr viele Anhaltspunkte; gegessen, zum Beispiel, hatte die Frau ewig nichts mehr…« »Und der Alkoholspiegel?« »Den können Sie in diesem Zusammenhang wirklich vergessen, der verändert sich im allgemeinen nach dem Eintritt des Todes nicht mehr. Hinsichtlich des Todeszeitpunkts als solchem läßt sich da kaum was hoch- oder zurückrechnen…«
»Aber mit Hilfe dieser Schlaftabletten, die Frau Glomm geschluckt hatte?« schlug Trimmel vor. Auch davon jedoch wollte der Gerichtsmediziner nichts mehr wissen. »Der Giftabbau im Körper eines Menschen kann nach dem Tod des Betreffenden ganz ungewöhnliche Wege gehen, meint einer unserer Meister…« Wenigstens einer auf der Welt, der in letzter Konsequenz doch noch ehrlich ist, dachte Trimmel abschließend und hochzufrieden. Zweierlei vor allem erschien ihm ungeheuer wichtig: daß Lena Glomm nach Ansicht der medizinischen Wissenschaft eben doch früher gestorben sein konnte. Und daß der schöne Bernd Herbst, nachdem ihn Ballhaus derart auf die Hörner genommen hatte, effektiv noch emotionaler als zuvor am Ausgang dieses Falles interessiert war.
»Das ist ja vielleicht ein Superarschloch!« sagte Herbst später tatsächlich stinksauer, sobald sie am Biertisch Platz genommen hatten. »Wenn ich daran denke, daß man so einem sogar mal in die Finger geraten kann…« Trimmel nickte. Er hatte eigentlich ins Old Farmsen Inn gehen wollen, sein derzeit beliebtestes Ausflugsziel nach Besuchen bei der Gerichtsmedizin. Aber damit, bitteschön, mußte man leben: Herbst hatte eine Art Disco bevorzugt. »Ich würd’s eher so sehen«, sagte Trimmel, wegen des wahnsinnigen Lärms zwangsläufig sehr laut, »daß Ballhaus Ihnen ja im Endeffekt recht gegeben hat!« »Meinen Sie, ich hab’ vorher nicht gewußt, daß ich gut hören kann? Aber apropos hören; dieser Schrei – mir ist da noch was eingefallen…« »Nämlich?« schrie Trimmel.
»Wenn wir jetzt annehmen dürfen, daß Frau Glomm sogar noch früher gestorben ist, kann sie nachts ja nun erst recht nicht um Hilfe geschrien haben!« »Ich weiß nicht ganz, auf was…« »Doch«, widersprach Herbst, immer noch wütend und deshalb noch lauter, »seien Sie nicht begriffsstutzig!« Trimmel sah ihn lange an. Dann nickte Herbst – und Trimmel nickte zurück. Und dann lösten sie, die ganze Zeit über fast schreiend, den Fall auf der Rückseite einer fettigen Speisekarte wenigstens, wie sie meinten, theoretisch.
Drei Tage später machte Herbst der Kriminalgruppe 1 scheinbar überraschend seinen Abschiedsbesuch; er wolle, sagte er Trimmel, doch lieber zurück in die Sonne, deren dauernde Abwesenheit hierzulande ihn allmählich trübsinnig mache. Dabei sah er immer noch gesünder aus als die meisten anderen Menschen in diesem Winter, die mittlerweile durch die Bank käsebleich oder mit roten, verschnupften Nasen herumliefen. Und ganz unvermittelt holte er seine Brieftasche aus der lässigen Lederjacke und zeigte Trimmel das Bild eines dunkelhaarigen, hübschen Mädchens im Bikini. »Wer ist das denn?« fragte Trimmel scheinheilig. Die und Glomm! dachte er, und ganz unvermittelt machte sein Herz einen kleinen Sprung. »Wissen Sie doch…«, sagte Herbst grinsend. Er sah aus wie der Leibhaftige – der leibhaftige Verführer. »Und wie kommen Sie an das Bild?« »Ich hab’ auf Gomera einen Freund angerufen«, sagte Herbst, »der hat mir verpfiffen, daß diese Hannelore mal mit Bremen telefoniert hat, und von da an war’s einfach. Im Bremer Telefonbuch gibt es eine Erika Hellmann, und das ist ihre
Schwester; die hab’ ich gestern besucht. Die ist übrigens gar nicht übel, aber die ist wirklich in festen Händen…« »Und nun?« fragte Trimmel. »Hannelore kommt vielleicht gar nicht mehr nach Deutschland zurück, sagt die Schwester…« »Und warum nicht?« »Tja«, sagte Herbst, »das wollte ich Hannelore eigentlich selbst fragen, weil mich das doch ziemlich beschäftigt. Wenn sie was sagt – wären Sie auch interessiert?« Trimmel spielte seinen Part konsequent zu Ende. Er schüttelte scheinbar entrüstet den Kopf. »Irgendwann wird sie hier schon wieder aufkreuzen. Glauben Sie, ich würd’ mich bis dahin langweilen? Hier…« Er hob den Aktenstapel auf dem Schreibtisch hoch und ließ ihn fallen, daß es knallte. »Nee, Bester, ich laß selten andere für mich Detektiv spielen, dabei kommt nie was raus!« »Aber ich kann Ihnen doch einfach mal schreiben…«, sagte Herbst verwirrt. »Daran kann ich Sie nicht hindern«, sagte Trimmel, inzwischen wirklich auf dem Höhepunkt seiner Schauspielkunst, »machen Sie da aber um Himmels willen keine Zicken! Wenn Sie die Nase mal was tiefer als andere Sterbliche in so einen Fall gesteckt haben, heißt das…« »Ja, ja«, sagte Herbst. »Aber von wegen Sterbliche… mit meiner schreienden Leiche werd’ ich ja wohl noch sprechen dürfen, wenn wir noch davon ausgehen, was wir die Tage beredet haben, oder?« Und weg war er. Trimmel rieb sich unwillkürlich die Hände. Er war – was normalerweise so gut wie nie vorkam – ernsthaft versucht, mit sich selbst zu wetten.
Bis in den Februar hinein schneite es dann unaufhörlich. Kaum ein Flugzeug startete; Herbst hatte gerade noch die Kurve gekriegt und war seitdem in tiefstes Schweigen versunken. Dennoch drückte sich Trimmel Tag für Tag um den Schlußbericht in Sachen Glomm herum, und keiner mahnte ihn, denn bei Licht besehen hat ja jeder auf dieser Welt viel zu viele düstere Geschichten auf dem Tisch und der Seele. Auch Trimmel hatte mittlerweile Hannelore Hellmanns Schwester kennengelernt, allerdings amtlich mit Hilfe einer Vorladung. Nein, nein, erklärte Erika Hellmann, Hannelore habe ihr keinerlei Grund dafür angegeben, warum sie sich auf den Kanarischen Inseln häuslich niederlassen wolle; von einer Affäre Glomm, außerdem, wisse sie gar nichts. Für das also, was sich am Todestage von Lena Glomm zwischen ihr und ihrem Mann abgespielt hatte, gab es offenbar auch keine sogenannten Hörensagen-Zeugen. Es sei denn, dachte Trimmel mittlerweile fast sehnsüchtig, doch auf Gomera. Trotzdem verwies er Höffgen, der immer noch auf eine Dienstreise in die Sonne hoffte, bis zuletzt nachdrücklich in seine Schranken; als gar nichts mehr half, weihte er ihn zu seiner größten Verblüffung dahingehend ein, er sei seit längerem der Überzeugung, Hannelore Hellmann werde möglicherweise bei einem Frauentyp wie Herbst eher auspacken als bei Polizisten ihrer beider Fasson. Abends saß Trimmel mehrmals nach Feierabend im Dunkeln in seinem Büro, die Beine auf dem Schreibtisch, Hamburgs Lichter zu Füßen. Und am 9. Februar erwischte ihn Höffgen, der spät noch mal in die Firma mußte: laut schnarchend, jedoch sofort wach, als Höffgen Licht machte. »Glimm, Glamm, Glomm«, sagte Höffgen, »lassen Sie doch den Blödsinn, Chef!« »Ich kann perfekte Mörder nicht ab!« sagte Trimmel. »Wieso ist das Blödsinn?«
Höffgen sperrte Mund und Nase auf. »Haben Sie da eben Mörder gesagt?« Trimmel dachte längere Zeit nach. »Hast recht«, meinte er schließlich, »im Grunde ist es egal – unterlassene Hilfeleistung oder Mord und Totschlag. Was kratzt es mich, ob sich da einer zwei oder zehn Jahre einfängt oder lebenslänglich? Ich glaub’, ich will nur noch wissen, was da auf diesem Parkplatz tatsächlich passiert ist!« Er stand auf, reckte sich, schlenkerte die Beine aus und nahm den Mantel aus dem Schrank. »Was ist, kommste noch kurz mit?« »Auf den Parkplatz?« fragte Höffgen entsetzt. »Quatsch!« sagte Trimmel verblüfft. »Wieso Parkplatz?«
Nachdem sie zähneklappernd ins Old Farmsen Inn gestolpert waren, ging Höffgen als erstes zur Toilette. Der Wirt sagte zu Trimmel: »Tach, Paul, du sollst mal ganz dringend deine Frau anrufen!« »Warum das denn?« »Frag sie doch selber!« schlug der Wirt vor. Gleich darauf sagte Gaby Montag, Trimmels Nach-wie-vorLebensgefährtin: »Da ist ein Eilbrief gekommen!« »Aus Teneriffa?« fragte Trimmel. Sein Herz schlug mit einem Male viel schneller. »Kann man nicht lesen. Aber spanische Briefmarken… ziemlich dünn übrigens. Luftpost…« »Mach auf und lies vor!« Knistern von dünnem Papier über den Draht. Höffgen kam vom Pinkeln zurück, sah Trimmel, setzte sich jedoch ziemlich weit weg an den Stammtisch. »Lieber Herr Trimmel«, las Gaby, »ich habe Hannelore Hellmann inzwischen kennengelernt und schreibe Ihnen hier mit ihrem Einverständnis, Semikolon, daher die Verspätung.
Wir sind außerdem inzwischen in mein Hotel auf Teneriffa gefahren, und Hannelore wird als mein Gast vorerst hierbleiben…« »Hab’ ich’s geahnt!« sagte Trimmel. »…jetzt aber zur Sache, Ausrufezeichen«, las Gaby weiter. »Ich kann Ihnen zwar versichern, daß wir beide, Sie und ich, mit unseren Vermutungen neulich in der Disco hundertprozentig recht hatten, wieder Semikolon, da niemand weiß, wovon hier die Rede ist, kann ich das ebenso schreiben wie die Mitteilung, daß es auch einen diesbezüglichen Grund für Hannelores Übersiedlung in die Republik Kanarien gibt, wie wir das nennen. Zweitens aber sehe ich mich, wie Sie einsehen werden, nicht in der Lage, Ihnen dazu Näheres mitzuteilen, Semikolon, offiziell also würden Sie von uns auch dann nichts erfahren, wenn Sie selbst herkämen. Sie schickt übrigens gleich morgen einen Brief an Herrn Doktor G-punkt ab, Komma, den dürfte er sich hinter den Spiegel stecken. Absatz, ja, das wär’s dann, Gedankenstrich, Herzlich Ihr…« »Bernd H-punkt!« vollendete Trimmel. »Wirklich ein gerissener Mensch. Bei dem packen die Mädchen nicht nur aus, sondern sie…« »Ziehen sich aus?« Sie lachte. »Ja, ja«, sagte Trimmel. »Also morgen…« Er legte auf und orderte – für sich und Höffgen, dem er etliches schuldig zu sein glaubte – wahr und wahrhaftig eine Flasche Markensekt.
Von der kühlen Souveränität, die Dr. Gisbert Glomm einst ausgestrahlt hatte, war anderntags nicht mehr allzuviel zu spüren, als er Trimmel in seinem Arbeitszimmer wieder gegenübersaß; auf den Möbeln lag außerdem eine dünne Staubschicht. Es war Wochenende, Glomms fünftes oder sechstes Wochenende als Witwer, allesamt ohne Freundin;
trotzdem, er gab auch diesmal nicht mehr zu, als unbedingt nötig war. Das Ganze habe an jenem Abend, wie schon früher gesagt, in der Tat gegen neunzehn Uhr mit seinem Eintreffen in der leeren Wohnung angefangen, erklärt er; er habe auf Lena gewartet, sei dann jedoch, im Gegensatz zu seiner bisherigen Aussage, Stunden später von einer Ahnung getrieben zum Alsterparkplatz gefahren, wo er mit einem Mal vor ihr gestanden habe… »Weiter!« drängte Trimmel. Glomm hatte die Augen geschlossen und stockte. »Ja, ja, ja«, meinte Glomm gehorsam, also, genau in dem Moment, in dem er auf dem Parkplatz wieder in seinen Mercedes habe steigen wollen, sei vom etwa hundert Meter entfernten Harvestehuder Weg her eine Funkstreife in die Zufahrt eingebogen; da habe er sich gedacht, daß er auf keinen Fall eine Alkoholkontrolle riskieren dürfe. Er sei zwar nicht betrunken gewesen, habe aber immerhin mit zwei oder drei Scotch im Leibe ständig das Risiko vor Augen gehabt, die Polizisten könnten Lenas Leiche entdecken. »Verstehe…«, sagte Trimmel. Glomm machte die Augen wieder auf. Wirklich ausschließlich wegen der Streife, fuhr er fort, habe er seinen Mercedes stehenlassen und sich zur Krugkoppel und tatsächlich zum Taxistand Blumenstraße geschlichen. Zur Sicherheit sei er etwas vor seinem Haus ausgestiegen; man komme sich, meinte er mit einem sekundenlangen Lächeln, manchmal ja vor wie Kimble auf der Flucht. Erst von zu Hause aus schließlich habe er der Polizei die Vermißtenmeldung durchgegeben und etwas später Frau Hellmann angerufen…
Trimmel sah es noch deutlicher als zuvor: Die Augen glänzten feucht schon bei der Erwähnung des Namens. Glomm war verrückter nach dem Mädchen denn je. … und sie habe er dann, ohne Näheres mitzuteilen, beauftragt, sich ebenfalls mit einem Taxi zum Parkplatz fahren zu lassen und den Mercedes zu holen. »Sie war nicht zufällig schon vorher bei Ihnen?« erkundigte sich Trimmel. »Nein! Ich schwöre Ihnen, daß sie diese Wohnung nie zuvor betreten hatte!« »Aber woher hatte sie Ihre Wagenschlüssel?« Die, gestand Glomm, habe er ihr bereits vor längerer Zeit gegeben; so eng seien sie eben doch befreundet gewesen. Nunmehr jedenfalls komme er im Ablauf der Ereignisse wohl auf das zu sprechen, was Trimmel bislang Kopfzerbrechen bereitet habe… Hannelore habe am Rande des Parkplatzes einen Schuh Lenas entdeckt und gleich darauf, ebenso wie vorher er, die Tote selbst gefunden. Sie habe entsetzt aufgeschrien, und buchstäblich im selben Moment sei ein Mann angerannt gekommen… »Der Spinner…«, murmelte Trimmel. Herbst, den Höffgen als Spinner bezeichnet hatte. Glomm bezog die Bemerkung auf sich. Es sei ja eigentlich verständlich, meinte er, daß er jenen Mann erst mal abzustempeln versucht habe. Aber wie auch immer, in jener Situation habe Frau Hellmann wirklich eine nahezu unglaubliche Nervenstärke bewiesen und sich neben ein Gebüsch geduckt. Der betreffende Mann sei wieder fortgerast, und sie habe den Schuh, den sie nach wie vor in Händen hielt, neben die tote Lena gelegt. Dann endlich sei sie, wie abgesprochen, mit dem Mercedes zum Innocentiapark gefahren.
»Aber die Handtasche?« drängte Trimmel. »Das leere Tablettenröhrchen?« »Beides hatte ich schon vorher entdeckt und auf dem Betonboden liegenlassen, auch die halbleere Hasche Cognac. Offenbar hatte es inzwischen niemand bemerkt. Haben Sie« – wieder lächelte er schwach – »immer noch das Gefühl, ich hätte was vergessen?« In diesem Augenblick schrillte die Türglocke. Dr. Gisbert Glomm stand überrascht auf, entschuldigte sich, ging aus dem Raum und blieb längere Zeit weg. Trimmel war ans Fenster getreten, um zu gucken, wer geläutet hatte. Aber das Zimmer lag an der Gartenseite. Der Mann, der dann schließlich zurückkehrte, war deutlich ein anderer Mensch. Er ließ sich in den Sessel fallen, stöhnte dumpf und barg den Kopf in den Händen. Trimmel hielt fast den Atem an. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte Glomm mit einem Mal, »ich gebe auf, ich will…« Trimmel sagte immer noch nichts. »Ich will Ihnen alles sagen…« Glomms Stimme war kaum zu verstehen. »Alles über diesen Abend – ich bin schuld an ihrem Tod! Ich – begreifen Sie? Ich! Es war seit langem nicht mehr zu ertragen mit Lena… sie war tatsächlich hysterisch und depressiv und machte mir das Leben zur Hölle… und dann immer der Streit wegen Hannelore – Lena wußte ja, daß es da eine andere Frau gab. Lena hat um neunzehn Uhr vor meinen Augen die Tabletten genommen, und bis zuletzt hat sie damit gerechnet, daß ich sie ihr aus der Hand schlagen und wegnehmen würde. Ich würde sie schon retten, hat sie sich gedacht, ich als Arzt – aber ich bin statt dessen aus dem Haus gegangen und hab’ mir gesagt, wenn sie sterben will, soll sie sterben! Und als ich sie bei meiner Rückkehr tot in ihrem Bett fand – also, da kam eins zum anderen, da hatte ich nur noch
Angst, die Polizei würde Lenas Tod mit mir in Verbindung bringen; so was liest man ja ständig, und es wäre – es hätte ja auch genauso gestimmt! Jedenfalls überlegte ich…« Seine allerletzte Pause. »Was überlegten Sie?« mahnte Trimmel. Zögernd und noch leiser erzählte der Arzt den Rest: »Nachdem ich stundenlang neben Lenas Bett gesessen hatte, packte ich sie, weil sie immer starrer wurde, gegen Mitternacht auf den Rücksitz des Mercedes… das war einfach, weil die Garage vom Haus zu erreichen ist. Dann bin ich losgefahren und habe sie dort abgelegt, wo sie dreimal gefunden wurde… Das ist alles…« Trimmel nickte. »Wer hat da vorhin geläutet?« Glomm machte eine vage Geste in Richtung Tür. Trimmel ging in die Diele. Der Brief mit den blauweißroten Luftpost- und den grellroten Eilbriefstreifen lag ganz am anderen Ende, auf einem Tischchen neben der Garderobe. Aber Trimmel wußte, daß er mit spanischen Marken frankiert war. Und natürlich, was drin stand… und endlich, dachte er, endlich wußte er alles. Er hätte es nicht für möglich gehalten. Als er in das Arbeitszimmer zurückkehrte, tat ihm Dr. Gisbert Glomm unvermittelt leid.
Bitte lügen Sie wie folgt…
Trimmel in Braun, als er ins Büro kommt – das hat’s noch nie gegeben. Das hat nicht mal Höffgen in Erinnerung, der ihn am längsten kennt. »Schönes Wetter gehabt?« fragt Höffgen. Nach wie vor ein richtiger Neidhammel. »Einen Tag hat’s geregnet!« antwortet Trimmel. Einen Tag von fünfzehn inklusive Hin- und Rückflug. Richtig gesprächig ist er geworden: »Im Grund – eigentlich ist Teneriffa gar nicht so schlecht!« Da mag was dran sein. Jedenfalls hat der Heimkehrer, der am 6. März mit Gaby Montag überraschend nach Kanarien geflogen war und dort Sonnenbäder und Formalitäten erledigt hatte, wochenlang überhaupt keine Lust, wieder zu arbeiten. Bis zu dem Tag, an dem der Schnellzug aus München kommt. Der Tag, an dem’s sein muß.
Am 26. April, einem Mittwoch, hält der D 758 aus München um 20.03 für zwei Minuten im Bahnhof Hamburg-Dammtor. Einer der beiden Jungen, die aus dem Zweite-Klasse-Wagen ganz vorn aussteigen, trägt hellblaue Jeans, einen verwaschenen, weißblauen Norwegerpullover und einen grünen Rucksack. Der andere – braune Windjacke, halbwegs dazu passende Jeans und helle Segeltuchschuhe – sagt zähneklappernd und übermüdet: »Sollen wir jetzt vielleicht im Freien pennen?«
»Du glaubst wohl immer noch, wir fahren in Urlaub?« fragt der größere, etwas ältere. Dabei ist es für die Jahreszeit wirklich arschkalt, und es kann jeden Moment wieder regnen. »Erst mal ab durch die Mitte!« sagt der größere. Die Jungen mogeln sich über die Ampeln, marschieren neben dem Campus her bis zur Moorweide, biegen rechts ab und bleiben ein paarmal vor geparkten Autos stehen: sie zögern, gehen dann aber erst mal weiter. Genau in einem dunklen Winkel zwischen zwei Laternen finden sie den Senator. Versuchsweise ein Griff an die Türklinke: Der Wagen ist nicht abgeschlossen! »Mensch, Rolf!« sagt der Junge mit dem Rucksack begeistert. »Wülste den klauen?« fragt der kleinere Rolf. »Quatsch«, sagt der andere. »Rent a Car, sonst gar nichts!« Rolf setzt seinen Seesack ab und überlegt. »Die Karre ist viel zu groß für uns, Klaus!« Aber in diesem Moment fängt es tatsächlich wieder an zu regnen, und Klaus steigt einfach ein. »Los, komm!« befiehlt er. »Der Schlitten ist optimal!« Nicht mal die rechte Seitentür ist abgeschlossen; Rolf steigt ein, läßt sich auf den weichen Beifahrersitz fallen, klemmt den Seesack zwischen die Beine und fühlt sich, alles in allem, hundsmiserabel. Wo das noch hinführen soll… Klaus ist da resoluter. In einer Minute hat er den Wagen kurzgeschlossen und fährt an. Es ruckt, der Wagen schießt nach vorn. »Verdammt weiche Kupplung!« flucht Klaus. In Wirklichkeit hat er etwas zu kurze Füße.
Aber dann geht’s. Geradeaus, wieder rechts, den Mittelweg entlang, quer durch die City, den Schildern zur Autobahn nach – Richtung Elbbrücken. Plötzlich kriegen die beiden eine Gänsehaut, und der Wagen macht einen Schlenker nach rechts. Plötzlich kommt vom Rücksitz ein halblautes, ersticktes, jämmerliches Weinen. Das Weinen eines Kindes, eines noch sehr kleinen Kindes. Klaus tritt hart auf die Bremse, Rolf schlägt sich den Schädel an, das Kind fällt vom Rücksitz auf den Boden. Und dann schreit es unaufhörlich, wie am Spieß.
Über den Notruf 110 schreit der Diplomingenieur Georg Bartels die Polizei an: »Mein Kind ist geraubt worden, hören Sie – tun Sie was, ich will mein Kind zurück!« Der Anruf des verstörten Vaters wird registriert um 20.46 Uhr. »… höchstens drei Minuten allein im Wagen gewesen!« schwört Bartels unter Schluchzen. »…zwischen, warten Sie… fünf nach halb und zwanzig vor neun…« »Mal der Reihe nach«, sagt der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung beruhigend, »beruhigen Sie sich erst mal. Wie heißen Sie? Wie heißt das Kind?« »Bartels«, sagt er erschöpft, »Petra Bartels. Ist das denn wichtig?« »Wo stand der Wagen?« »Moorweide, aber wirklich nur drei…« »Was für ein Wagen?« »Hamburg, Gustav Berta, zwo zwo vier, Senator. Dunkelblau…« »Bleiben Sie am Apparat!«
Noch vor einundzwanzig Uhr werden alle Hamburger Streifenwagen auf die Jagd nach dem dunkelblauen Senator geschickt. Weit kann er ja noch nicht sein. »Sind Sie noch dran, Herr Bartels?« »Natürlich, was ist denn…?« »Fahren Sie sofort ins Polizeipräsidium und melden Sie sich beim Oberbeamten vom Dienst!« »Ja, womit denn, ich hab’ doch kein…?« »Wie wär’s ausnahmsweise mit einem Taxi?« schlägt der Polizeibeamte vor. Die Sonnenbräune verblaßt am schnellsten beim Spätdienst unter Neonlicht. Trimmel sieht wieder aus wie Trimmel; er ist vorgewarnt, aber der hysterische Besucher macht ihm ganz schön zu schaffen. »Mal ganz ruhig«, sagt er und muß sich den verzweifelten Mann buchstäblich mit den Händen vom Leib halten, »hilft ja alles nichts, Herr…« »Bartels!« »Herr Bartels. Also ein Mädchen. Wie alt?« »Sie wird nächste Woche zwei Jahre!« »Der Wagen war nicht abgeschlossen?« »Aber das hab’ ich doch schon fünfmal…« »Bei mir noch nicht!« sagt Trimmel. »Wirklich, Herr Kommissar…« Bartels schüttelt verzweifelt den Kopf. »Ich schließe den Wagen immer ab… aber gerade hier… ich hatte nur einen winzigen Moment was abzugeben, hab’ in der Eile tatsächlich vergessen…« »Was tut Ihre zweijährige Tochter um neun Uhr abends bei Ihnen im Auto?« fragt Trimmel. »Sie fuhr mit mir nach Hause«, antwortet Bartels, »ich hatte Petra eine halbe Stunde vorher bei meiner Mutter in Langenhorn abgeholt…« »Der Zündschlüssel?«
»Hier!« sagt er und wirft ihn auf den Tisch. »Den hatte ich natürlich abgezogen…« »Natürlich!« Also war der Wagen kurzgeschlossen worden. »Und Petra schlief?« fragt Trimmel. »Natürlich, tief und fest…« »So natürlich ist das nun auch wieder nicht!« sagt Trimmel. »Ihre Frau… die Mutter, meine ich…?« »Sie ist verreist!« sagt Bartels schnell. »Verreist, oder…?« Aber dann klingelt das Telefon, und im Moment muß Bartels nicht mehr antworten. Denn die Funkleitstelle berichtet, daß der Senator verkehrswidrig geparkt und leer auf der Amsinckstraße gefunden worden ist und die Spurensicherung ihn bereits in den Fingern hat. Höffgen bringt ein Foto des Kindes aus der Brieftasche von Georg Bartels zum Fernsehen, und dort geht’s – im Notfall – erstaunlich schnell: Um 22.30 Uhr, in der nächsten erreichbaren Nachrichtensendung, wird bereits nach der möglicherweise aus Versehen gestohlenen Petra Bartels gefahndet. Ein hellblondes, strahlendes Kind, die Geschichte geht von Anfang an zu Herzen, auch wenn der Zuschauer kaum eine Einzelheit erfährt. Der Taxifahrer, der gegen dreiundzwanzig Uhr aufgeregt und schwer atmend bei Trimmel erscheint, ist dann auch, wie er sagt, tatsächlich selbst Vater. »Ich hab’ sie gefahren!« stammelt er. »Nach Harburg gefahren… bin da ganz sicher…!« »Wen?« fragt Trimmel. »Das Mädchen natürlich…« »Aber sie fuhr ja wohl nicht allein?« »Na, natürlich nicht… bloß, die Jungens, mit denen sie fuhr, sahen eigentlich ganz manierlich…« »Wieviel Jungens?«
»Zwei!« sagt er und beschreibt sie. »Also zwei!« wiederholt Trimmel. Der Taxifahrer ist von einer Tankstelle an der Amsinckstraße aus – letzte Station vor der Autobahn – angerufen worden und hat dort das blonde Mädchen und die beiden Jungen aufgenommen. Peter 17 bringt in diesem Moment den Tankwart ins Präsidium, eine lobenswert selbständige Tat der Verkehrspolizei. »Ja, ja«, sagte der Tankwart und zeigt auf den Taxifahrer, »der war’s…« »Der war’s ganz sicher nicht!« sagt Trimmel. »Also ich«, sagt der Tankwart, »ich kann mich nur an den einen Jungen erinnern, der telefoniert hat. Hellblaue Jeans und so ‘n dicken Pullover. Kein Gepäck…« »Aber es standen wirklich zwei Jungen vor der Tankstelle, als ich kam!« sagte der aufgeregte Taxifahrer. »Der andere war gelb angezogen, er hatte das Kind auf dem Arm…« »Ich hab’ kein Kind gesehen«, behauptet der Tankwart, »kein Kind und keinen zweiten Jungen und auch kein Auto!« Warum sollte er lügen? Trimmel fragt den Taxifahrer: »Haben Sie sich denn gar nichts dabei gedacht? Spätabends? Zwei Halbstarke und ein Kleinkind? Nach Harburg? Nicht mal ‘ne Adresse?« »Natürlich ‘ne Adresse! Reinholdstraße. Eine ganz kleine Straße, ich kannte sie selbst nicht, ich mußte selbst erst mal nachsehen…« Petersen sitzt dabei und protokolliert. »Der Junge, der bei mir telefoniert hat, hat sich einen Stadtplan gekauft«, sagt der Tankwart plötzlich, »außerdem eine Karte von Norddeutschland, Generalkarte eins und zwei…« Aber das ist dann auch wirklich alles.
Trimmel schickt die beiden Zeugen weg und geht ins Vorzimmer, wo der Herr Bartels inzwischen die zehnte oder zwölfte Zigarette raucht. »Sie gehen auch am besten nach Haus und bleiben am Telefon sitzen!« sagt er. »Mehr haben Sie im Moment…?« »Doch«, sagt Trimmel, »mit Ihrem Einverständnis werden wir an Ihr Telefon eine Fangschaltung schließen!« Im Augenblick gibt er sein Einverständnis noch sehr bereitwillig. Später bereut er es, überhaupt zur Polizei gegangen zu sein.
In der Nacht ereignet sich nichts mehr. Morgens um 8.10 Uhr kommt der Anruf, der aus einem Autodiebstahl mit Folgen eine Kindesentführung mit zunächst unübersehbaren Folgen macht, bei Bartels an. Die Polizei hört schon mit: Für die Herausgabe von Petra wird ein Lösegeld von dreißigtausend Mark gefordert – eine Summe, die Bartels aufbringen kann und auch aufbringen will. Aber wie dann weiter? »Wir melden uns wieder!« sagt die erstaunlich junge Stimme des Erpressers, und die Leitung ist tot. Trimmel kommt zwanzig Minuten später in die Wohnung in der St.-Benedict-Straße, unrasiert und unausgeschlafen, außerdem unzufrieden mit dem Fall, mit sich selbst und mit der Post. Die hat den Anruf wegen der Kürze des Gesprächs nicht lokalisieren können. Er macht sich inzwischen doch Vorwürfe, daß er in der vergangenen Nacht die Anwohner der Reinholdstraße nicht doch noch aus dem Schlaf geholt hat. »Was macht die Fangschaltung?« fragt Bartels zur Begrüßung, ebenso übernächtigt.
»Funktioniert nicht!« sagt Trimmel. Immerhin die halbe Wahrheit. »Dann ist es ja gut«, sagt er. »Herr Trimmel, ich hab’s mir überlegt, ich möchte nämlich nicht mehr, daß die Polizei im Fall meiner Tochter…« »Wieviel?« fragt Trimmel, obgleich er’s schon weiß. Dabei sind seine eisblauen Augen so hart, daß Bartels ihm die Wahrheit sagt. »Dreißigtausend!« »Hören Sie«, sagt Trimmel, »ich versteh’ Sie ja. Aber wie ich das immer noch sehe – da sind zwei Autoknacker, zwei offenbar blutjunge Burschen an eine Kiste geraten, die viel zu groß für sie ist. Die letzten Amateure, darauf wette ich meine Pension…« »Ich gehe kein Risiko ein!« sagt Georg Bartels hartnäckig, stur und verbiestert. »Haben Sie über diesen Punkt wenigstens schon mit Ihrer Frau gesprochen?« Die Frage, die heute nacht ausgeklammert und später scheinbar vergessen worden ist. Bartels zögert. »Nein«, sagt er, »es geht nicht. Ich weiß nicht mal, wo sie ist!« »Das heißt, Sie leben…?« Getrennt, wollte er sagen. Aber Bartels bestätigt: »Ganz recht, Herr Trimmel, wir leben in Scheidung!«
Trimmel sucht ab sofort eine Frau, die er dem Namen Bartels nach kennt, Irene Bartels, und zwei jugendliche Kidnapper, von denen einer bei dem Anruf in der Wohnung Bartels leicht Bayrisch gesprochen hat. Und merkwürdigerweise läuft die Jagd nach den Kidnappern zunächst viel einfacher ab als die
Suche nach Frau Bartels. Sie lebt anscheinend so gründlich in Scheidung, daß sie spurlos verschwunden ist. Die Namen der Jungen hingegen werden über den Fernschreiber frei Haus geliefert: In Pfaffenhofen, nördlich von Rosenheim, sind zwei Tage zuvor der sechzehnjährige Mechanikerlehrling Klaus Huballer und der gleichaltrige Schüler Rolf Dengler ausgerissen. Huballer hat schon als Dreizehnjähriger ein Auto gestohlen; damals war er zwar noch nicht straf mündig, man hat ihm jedoch die Fingerabdrücke abgenommen. Zwischen Hamburg und München wird der Bildfunk in Betrieb gesetzt. Dann kommt die Bestätigung. »Einwandfrei!« sagt Laumen, der diesen Komplex bearbeitet. Huballers Fingerabdrücke, per Bildfunk übermittelt, sind identisch mit zwei sauberen Abdrücken aus dem Senator des Herrn Bartels und wenig später kommen auch die Fotos der beiden Jungen: sie werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den herbeizitierten Taxifahrer identifiziert, auch wenn die Haare der beiden auf den Fotos noch kürzer sind. H. und D. sollen Freunden gegenüber geäußert haben, in Kürze in die Vereinigten Staaten von Amerika fahren zu wollen, steht in dem von München gesteuerten Fernschreiben der Bayrischen Landpolizei, es ist davon auszugehen, daß H. und D. die vor ihrem Verschwinden gestohlenen DM 800, – in diese Reise investieren wollen… Trimmel liest das Telex zum fünften Mal, hält Kriegsrat mit Höffgen und mit sich selbst, und Höffgen spricht es aus: »Harburg liegt zwar auf dem Weg von Pfaffenhofen nach Amerika, aber…« Ja, aber.
»Ausgerechnet die Reinholdstraße?« »Das Kind ist ihnen in die Quere gekommen!« entscheidet Trimmel. »Als sie’s hatten, dachten sie, sie könnten das große Geschäft machen. Sie konnten sich ausrechnen, daß sie mit dem auffälligen Senator nicht weit kommen. Deshalb das Taxi!« Das Taxi zur kleinen Reinholdstraße. »Bis nach Cuxhaven konnten sie ja schließlich nicht fahren – noch haben sie das Lösegeld nicht! Stell dir bloß mal vor, was das Taxi nach Cuxhaven kostet!« Höffgen nickt. »Außerdem müssen sie ja das Geld irgendwie in Empfang nehmen, und das Geld kommt aus Hamburg!« Soweit paßt alles zusammen. Die Generalkarte von Norddeutschland, der Hamburger Stadtplan, das Taxi. Die Reinholdstraße ist ganz zufällig ins Spiel gekommen, es hätte auch der Harburger Bahnhof sein können. »Hoffentlich haben Sie recht, Chef!« sagt Höffgen. »Ich weiß nicht«, sagt Trimmel. »Mit Halbstarken hab’ ich überhaupt nicht gern zu tun. Die sind so unberechenbar.« Immerhin kommt Laumen gleich darauf mit der Nachricht, daß in Hamburg in der vergangenen Nacht zwei Autos gestohlen worden sind, in der weiteren Umgebung der Reinholdstraße – ein Opel und ein Mercedes. »Die Fahndung läuft schon!« sagt Laumen. Und wundert sich, daß Trimmels Miene dadurch auch nicht eine Spur fröhlicher wird.
Was Trimmel nicht weiß und erst sehr viel später erfährt: Die andere Seite hat zur Zeit auch ihre Sorgen. »Sie hat sich schon wieder in die Hose gemacht!« sagt Dengler, den Tränen nahe. »Gepißt oder geschissen?« fragt Huballer.
»Riech’s doch selbst!« Sie sind mit dem Opel Rekord, den Klaus Huballer in der vergangenen Nacht in Harburg geknackt hat, über Buxtehude bis Stade gefahren. Dort rechts ab über ziemlich krumme Wege bis Ritscher Moor. In der Ortschaft Bützfleth, wo man deutlich die Elbe riecht, hat Huballer morgens von einer Telefonzelle aus bei Georg Bartels angerufen: so hochdeutsch wie möglich; Name und Telefonnummer standen auf einem vergammelten Briefbogen im Handschuhfach des Senator. »Stimmt alles!« hat er gesagt, als er zurückkam. »Sie heißt Petra.« Und dreißigtausend. Für zwei Sechzehnjährige ein bedeutendes Startkapital in Amerika. »Jetzt aber erst mal untertauchen!« Mitten im Moor, in einer stinkenden, verfallenen Kate, richten sie sich notdürftig ein. Draußen steht der Opel, geschützt vor Polizeistreifen – aber es ist ein Wunder, daß er nicht abgesoffen ist. »Wenn ich wieder telefonieren geh’«, sagt Huballer, mit Abstand der Stärkere und Klügere, »geh’ ich besser zu Fuß!« Für den Moment sind sie sicher. Wenn sich Petra nur nicht immer in die Hose gemacht hätte! Oder wenn sie wenigstens Pampers oder so was gehabt hätten! Aber so muß Dengler das T-Shirt, in das sie das Kind gewickelt haben, im brackigen Moorwasser auswaschen, übergibt sich dabei und hofft verzweifelt, daß das Kind inzwischen nicht auch noch auf ihre einzige Wolldecke scheißt. Mittags, als Huballer wieder unterwegs ist, tatsächlich zu Fuß, schläft Dengler frierend ein. Er träumt, daß er Reisig sucht für ein ganz großes Feuer. Georg Bartels weigert sich nach wie vor, in irgendeiner Form mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Petersen hat ihn
angerufen, um irgendeinen Hinweis zu kriegen, wo er Irene Bartels finden könnte. Aber Bartels hat ihn angebrüllt: »Gehen Sie aus der Leitung! Ich erwarte wichtigere Gespräche als Ihren Quatsch!« Dann hat er eingehängt, und Petersen hat beim Meldeamt und beim Standesamt angerufen und sich anschließend auf die Socken gemacht. 13.50 Uhr inzwischen. Bisher hat’s bei Georg Bartels noch nicht wieder geklingelt, sagt die Fangschaltung. Und Petersen latscht und latscht: er befragt alle erreichbaren Verwandten von Georg und Irene Bartels. Die Leute zucken die Achseln. »Keine Ahnung, wo Irene stecken könnte!« Freundinnen, vielleicht sogar Liebhaber? »Dafür war sie nicht der Typ!« heißt es. Das sagt zwar gar nichts, denkt Petersen, stille Typen gründen manchmal tief. Aber find sie mal erst, gerade jetzt, als es wieder zu regnen beginnt! Find sie ausgerechnet hier im Regen auf der Straße! Dann geht er plötzlich zurück in das Haus, aus dem er gerade gekommen ist, nochmals zu der Kusine der verschwundenen und verschmähten Ehefrau. »Entschuldigen Sie«, sagt er, »aber es regnet gerade, und mir ist noch was eingefallen…« »Bitte sehr, treten Sie doch ein, für die arme Petra ist ja schließlich…« »Hat Frau Bartels vor ihrer Eheschließung gearbeitet?« »Sie war Buchhalterin bei einer Speditionsfirma, warten Sie mal… so ‘n ulkiger Name…« Schreiner & Maurer & Co. »Wirklich ulkig«, bestätigt Petersen, »war sie da länger tätig?«
»Also, vier oder fünf Jahre bestimmt, bevor sie Georg kennenlernte…« Und diesmal klappt’s! Tatsächlich findet Petersen, als es zu regnen aufgehört hat, über Schreiner & Maurer & Co. erst die einzige wirkliche Freundin von Irene Bartels, geb. Sperling, und dann den mutmaßlichen Aufenthaltsort der gesuchten Person. Ein Sanatorium hinter Dibbersen in der Nordheide. »Sanatorium?« fragt Petersen, mäßig überrascht. »Erlenbusch«, sagt die Freundin zögernd, »eine Art Heilschlaf… sie war durch die Geschichte mit ihrem Mann ziemlich mit den Nerven fertig…« »Sie glauben gar nicht, wie Sie uns geholfen haben!« sagt Petersen erleichtert. Nichts wie hin zu Trimmel, denkt er. Der war so merkwürdig scharf darauf, Irene Bartels zu finden – der will bestimmt selbst mit ihr sprechen! »Hoffentlich schläft Irene nicht gerade…«, gibt die Freundin zum Abschied zu bedenken.
Vier Uhr nachmittags inzwischen, 27. April. In Kürze übernimmt das Telefon die wichtigste Funktion im Fall Petra Bartels. Huballer sitzt in einer winzigen Dorfkneipe hinterm Ritscher Moor und zählt sein Geld. Vor ihm das zweite Bier. Nur noch knapp hundertfünfzig Mark. Huballer geht auf die Toilette: in dem ziemlich blinden Spiegel sieht er älter aus, als er ist, mindestens achtzehn, sogar schon etwas Bart. Und Huballer denkt immer noch – erstaunlich kaltblütig für sein Alter – darüber nach, wie er das Kind am schnellsten und sichersten loswerden kann. Für dreißig Mille. Die ersten Ideen sind die besten.
Er geht zurück, ißt zwei Bouletten und läßt sich fünf einpacken. Wenn das Kind keine Bouletten ißt, muß es eben hungern. Aber wie lange soll es hungern? Nachdem es den alten Käse, den Dengler unterwegs aus einem Automaten gezogen hat, mitsamt Brot wieder ausgekotzt hat? Und grundsätzlich: was essen kleine Kinder? »Kann ich mal telefonieren?« fragt Huballer, plötzlich von Angst gepackt, den verhutzelten Wirt. Hinter dem Tresen. Sogar allein, denn der Wirt stellt die Zähluhr ein und geht hinaus. Huballer wählt. Sofort wird am anderen Ende der Hörer abgenommen. »Bartels!« sagt die Stimme. Heller als vorher, scharf, trotzdem fast ohne Hoffnung. »Schönen Gruß von Ihrem Baby!« sagt Klaus Huballer kaltschnäuzig. »Wie… wie geht’s Petra?« »Wird Ihr Telefon abgehört?« fragt Huballer. »Ja… das heißt nein… ich weiß nicht…«, sagt Georg Bartels verstört. »Also dann…« »Bleiben Sie dran!« schreit Bartels. »Bitte, ich bin ganz ehrlich mit Ihnen, Ehrenwort, es geht mir nur um mein Kind… rufen Sie sofort dieselbe Nummer an, nur hinten statt der Zwölf eine Dreiundzwanzig… meine Privatnummer, die andere ist umgeschaltet vom Büro, bitte, sofort…« Sofort ist die Leitung unterbrochen.
Siebzig Sekunden sind eine Ewigkeit. Es klingelt auf der Dreiundzwanzig, eine Zehntelsekunde später hat Bartels den Hörer am Ohr.
»Wieso haben Sie zwei Telefone?« fragt die mißtrauische junge Stimme mit dem leichten süddeutschen Akzent. »Ich hab’ ein Ingenieurbüro«, sagt Bartels hastig, »dies ist eine Geheimnummer, die Leitung ist wirklich sauber, ganz bestimmt…« »Ich will’s Ihnen mal glauben…«, sagt die Stimme gedehnt. »Danke«, flüstert er, »ich schwör’s Ihnen, es ist keine Polizei mehr im Haus!« »Warum haben Sie sie überhaupt geholt?« »Hab’ ich ja gar nicht… sie ist doch nur durch Ihren Autodiebstahl… soll ja kein Vorwurf sein, ich mein’ ja auch nur…« »Haben Sie die Karre wieder?« »Ja, aber das ist doch nicht wichtig! Sagen Sie mir doch endlich…« »Haben Sie das Geld?« »Alles, wie Sie gesagt haben, in Hundertern…« »Prima für Sie!« sagt die Stimme zufrieden. »… aber wohin soll ich’s bringen?« »Das sag’ ich Ihnen heute abend oder morgen früh!« sagt die Stimme, und das Gespräch wird beendet.
Zum Schluß hat Klaus Huballer ganz leise gesprochen, denn vielleicht steht der Gastwirt ja doch hinter der Tür und hört zu. Zwei Minuten später wählt er nochmals auf der 23 durch, um festzustellen, ob Bartels vielleicht mit jemand anderem telefoniert. Aber Bartels ist auch diesmal frei und sagt erregt: »Ja, bitte, wer ist da?« »Ich bin’s noch mal«, sagt Huballer grinsend, »nur damit Sie sehen – Sie stehen laufend unter Kontrolle!«
»Selbstverständlich!« schreit Bartels, längst am Ende mit seinen Nerven. »Bitte, bitte, machen Sie schnell, lassen Sie mich nicht mehr warten!« »Schreien Sie mich nicht so an!« sagt Huballer vorwurfsvoll. Dann ist er zum dritten Mal weg, diesmal für länger.
Als Petersen eintrifft, hat Trimmel gerade erfahren, daß Bartels vorsätzlich die Fangschaltung unterlaufen und die Polizei abgehängt hat. »Ich hab’ sie!« sagt Petersen. »Fein!« antwortet er, und dabei wirkt er richtig geistesabwesend. »Sie macht Tief schlaf im Sanatorium!« sagt Petersen. »Müssen wir sie wecken…«, murmelt Trimmel. Eine Idee, die er schon morgens hatte, nimmt Gestalt an. Bartels zwingt ihn dazu. Bartels zwingt ihn zu einer ungeheuer riskanten Kiste, denkt er. Petersen sagt: »Sie schläft ja nicht ständig, soweit ich informiert bin…« »So?« »Hören Sie mir eigentlich zu?« fragt Petersen. »Ja, sicher!« sagt Trimmel und greift zum Telefon. Mit der anderen Hand sucht er im Schreibtisch nach dem Telefonbuch von Nordniedersachsen. ›»Dibbersen‹? sagst du?« »Erlenbusch in Dibbersen!« bestätigt Petersen.
»Kripo Hamburg hier, Trimmel, Sie haben doch eine Patientin Irene Bartels?«
Der Chefarzt von Erlenbusch meint rechtens, das mit der Kripo solle er zunächst mal unter Beweis stellen, und Trimmel gibt ihm die Nummer des Hamburger Polizeipräsidiums nebst Durchwahl und buchstabiert seinen Namen. Er sagt drängend: »Hören Sie, das Kind von Frau Bartels ist möglicherweise einem Verbrechen zum Opfer gefallen, ist entführt worden, wir haben keine Minute Zeit! Rufen Sie mich sofort zurück, dann wissen Sie, woran Sie sind!« Tatsächlich, das zieht: in nicht einmal zwei Minuten ist der Arzt auf eigene Kosten wieder in der Leitung. »Ist Frau Bartels ansprechbar?« fragt Trimmel. »Im Notfall ja«, sagt der Arzt, »jetzt am Nachmittag ist sogar eine recht gute Zeit…« »Ist sie das, was man eine resolute Person nennt?« »Resolut…«, sagt der Arzt. »Ich weiß nicht recht, was Sie damit…« »Würde sie lügen«, fragt Trimmel direkt, »wenn damit die Chance besteht, ihr Kind zu retten?« Nur sekundenlang verschlägt es dem Arzt die Sprache. »Das würde ja wohl jede Mutter… im vorliegenden Fall, sieht’s so aus, daß Frau Bartels über eine sehr praktische Intelligenz verfügt, und wenn Sie ihr plausibel machen können…« »Kann ich!« sagt Trimmel. »Ich fahre in der nächsten Viertelstunde los!« Petersen, der neben Trimmel sitzt, fragt einigermaßen ratlos: »Warum soll sie denn lügen, Chef?« »Weil ihr Ehemann oder Noch-Ehemann eine Nase ist!« sagt Trimmel ohne Groll. Petersens Frage ist damit allerdings kaum beantwortet. Und Trimmel wählt schon wieder, diesmal die Psychiatrie in der Universitätsklinik Eppendorf. Er verlangt einen Oberarzt namens Hergelt, den er mal als Gutachter in einem Jugendgerichtsverfahren kennengelernt hat – flüchtig zwar, aber doch als einigermaßen unkonventionellen
Zeitgenossen. »Hören Sie«, sagt er, als er ihn hat, »ich brauche dringend eine pauschale Antwort. Frage: wie groß ist die Gefahr, daß zwei Sechzehnjährige, die per Zufall ein Kind gefunden haben und sich dann als Kidnapper aufspielen, das Kind in einer Panikreaktion umbringen?« Hergelt sagt vernünftigerweise. »Also, so ist das wirklich nicht pauschal zu beantworten!« Aber Trimmel bleibt hartnäckig. »Auf Leben und Tod, Herr Hergelt! Ich kenn’ selber kaum Einzelheiten. Die Jungs sind bisher nicht bösartig gewesen; einer ist leicht frühkriminell als Autoknacker… also bitte?« Er ist überrascht, daß Hergelt dann überhaupt was sagt: »Je länger sie das Kind haben, desto größer dürfte die von Ihnen skizzierte Gefahr werden… äußerliche Schwierigkeiten…« »Aber wenn man sie zusätzlich unter Druck setzt?« »Wie denn?« »Indem man Ihnen sozusagen noch mehr Verantwortung aufbürdet? Mehr als sie vertragen können… sozusagen öffentlich?« »Lassen Sie mich da raus!« sagt Dr. Hergelt scharf. »Was hilft’s, wenn ich Ihnen sage, daß ich blödsinnigerweise immer noch an das Gute im jungen Menschen glaube?« »Sie meinen also, daß die Knaben das Kind eher zurückbringen als es umbringen würden?« »Eine viel zu zugespitzte Folgerung!« erregt sich der Arzt. »Das können Sie mir nicht…« »Will ich ja gar nicht!« sagt Trimmel. »Ich will weder Sie zitieren noch mir ein Alibi verschaffen. Ich will nur wissen, woran ich bin…« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können!« sagt Dr. Hergelt erschöpft. »Also ja…?«
»Sprechen Sie die jugendlichen Täter so persönlich wie möglich an!« Dann sagt es knack, und als Trimmel »Danke!« sagt, sagt er es in eine tote Leitung. Petersen ist aufgestanden und sieht Trimmel totenbleich an. »Wenn Sie hier nicht der Boß wären…«, sagt er. Ein seltsamer Satz aus dem Munde des abgebrühten ›Leichenbestatters‹, wie sie Petersen nennen. »Vielleicht bin ich’s die längste Zeit gewesen!« sagt Trimmel fatalistisch. »Komm, wir hauen ab!« Irene Bartels sitzt in einem bequemen Sessel im Zimmer des Chefarztes, trägt einen geblümten Morgenmantel und ist ansprechbar, wenn auch – darauf hat der Arzt bestanden – nur in seiner Gegenwart. Eine gutaussehende Frau, Ende Dreißig, etwas herbe Züge, ohne Make-up; vielleicht sieht man deshalb die Fältchen um ihre Augen besonders deutlich. »Ich bin in groben Zügen informiert«, sagt sie mit erstaunlicher Sachlichkeit, die vielleicht auf den Einfluß von Medikamenten zurückzuführen ist. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich informieren ließen… haben Sie noch Hoffnung?« »Ich hoffe auf Ihre Hilfe!« sagt Trimmel ehrlich. »Natürlich. Ich werde gleich anschließend mit Ihnen nach Hamburg fahren!« »Frau Bartels«, sagt der Chefarzt, »Sie wissen, daß das ausgeschlossen ist…« Überraschend kommt ihm Trimmel zu Hilfe. »Es ist wohl wirklich besser, wenn Sie hierbleiben, Frau Bartels! Ich werde Sie ständig auf dem laufenden halten. Das einzige, was Sie im Moment tun können, ist folgendes…« So schonend wie möglich erzählt er ihr die wenigen Einzelheiten über die Entführung ihrer Tochter. Teilt seine Ansicht mit, daß es im Grunde relativ harmlose, etwas verdrehte Burschen sind und sagt, daß es seiner Ansicht nach helfen könne, wenn sie einen
Appell an die Entführer auf Tonband spräche. »Den möchten wir nämlich über Rundfunk und Fernsehen ausstrahlen und vorsichtshalber den Text auch an die Zeitungen geben. Selbst wenn wir das Gebiet, in dem Petra versteckt ist, näher kennen würden… ich verspreche mir von einem Aufruf der Mutter mehr als von einer großen Durchsuchungsaktion…« »Was sagt mein Mann dazu?« fragt Irene Bartels mit ihrer fast unnatürlichen Ruhe. »Er ist strikt dagegen«, sagt Trimmel ehrlich; dieses heikle Spiel um Leben und Tod eines Kleinkinds läßt sich nur mit völlig offenen Karten spielen. »Ich kann es ihm sogar nachfühlen, daß er panisch reagiert. Schließlich hatte er den Wagen nicht abgeschlossen…« »Und was soll ich sagen?« Da sagt er es ihr, während Petersen, der einzige Begleiter, den er in diesen Stunden um sich haben will, schon das Tonband installiert. »Und jetzt lügen Sie bitte wie folgt…« Das Tonband läuft. Unten im Hof läuft der Wagen, in dem Höffgen sitzt – der Wagen mit der schnellsten Streifenwagenbesatzung Hamburgs. Höffgen hält eine inzwischen vorzügliche Verbindung zur Hamburger Tagesschau.
Sieben Uhr abends. Dengler riecht die Bierfahne, als Huballer endlich in die Kate zurückkommt. »Haste mir wenigstens eins mitgebracht?« fragt er. Aber Huballer packt nur die Bouletten aus. »Ich weiß jetzt, wie wir’s machen!« sagt er. »Wie denn?« »Wir fahren heute nacht um vier nach Stade rein, da sind die Straßen ganz leer. Parken tun wir irgendwo ganz einsam. Um fünf ruf’ ich den Kerl in Hamburg an und bestell’ ihn zum
Stader Bahnhof. Ich sag’ ihm, sobald er mir das Geld gegeben hat, ruf’ ich meinen Komplizen in Hamburg an; er wird das Baby irgendwo in Hamburg aussetzen und dafür sorgen, daß es gefunden wird…« »Wie soll ich nach Hamburg kommen?« fragt Rolf Dengler ängstlich. »Quatsch!« sagt er. »In Wirklichkeit lassen wir den Wagen mit dem Balg natürlich in Stade – da wird ihn schon einer finden! Wir fahren dann mit dem Zug nach Cuxhaven, von da aus hauen wir endgültig ab. Kapiert?« »Ja, schon«, sagt Rolf Dengler. »Bloß, du kannst mir erzählen, was du willst – ich hab’ ein saublödes Gefühl dabei…« »Dann scheiß dir doch gleich in die Hosen!« sagt Klaus Huballer grob. Aber diesen Teil übernimmt dann – abermals – Petra. Noch von Erlenbusch aus, nachdem Höffgen mit dem Tonband schon unterwegs ist, ruft Trimmel in seinem Büro an und erreicht Laumen. »Was machst du gerade?« »Ich warte auf Sie… nichts Neues inzwischen…« »Paß auf«, sagt er, »sieh zu, daß du um acht bei Bartels in der Benedictstraße bist. Laß dich auf keinen Fall abwimmeln – erzähl ihm von mir aus, wir hätten alle Aussichten, sein Kind heute nacht noch zu finden. Und vor allem…« »Vor allem?« fragt Laumen, als Trimmel stockt. »Paß unbedingt auf, daß Bartels keine Tagesschau sieht. Wenn er sie laufen hat, dreh sie aus oder mach sie leise!« »Aber wieso…?« »Das erzähl’ ich dir später. Alles klar?« »Ja, schon«, sagt Laumen, »ich werd’s versuchen. Bloß, wenn mein Kind entführt worden wäre – mich brächte niemand vom Fernsehen weg! Vor allem nicht, wenn da schon mal was gelaufen wär’…«
»Wofür habe ich dich erzogen?« sagt Trimmel sanft. »Sie… mich?« fragt Laumen überrascht zurück.
»Ich geh’ jetzt ein Bier trinken, ich halt’s nicht mehr aus!« sagt Dengler verbittert. Huballer hört es nicht oder will’s nicht hören. »Hör zu!« sagt Dengler lauter. »Ich krieg’ die Bouletten so nicht runter. Ich geh ‘n Bier trinken!« Huballer grunzt nur. Dafür jammert das Kind. »Mamma, Mamma!« – so ziemlich das einzige, was es bisher von sich gegeben hat. »Ich halt’s nicht mehr aus!« stöhnt Dengler. Huballers Plan in Ehren, denkt er, aber es ist und bleibt doch ein Plan mit Löchern! Dengler kramt aus allen Taschen sein Geld zusammen. Gerade sechzig Mark kommen noch zusammen – das kommt davon, daß Huballer ihm gesagt hat, er solle erst mal bezahlen, wenn irgendwas zu bezahlen war. »Ich geh’ jetzt!« schreit er. »Ich hab’ genauso ‘n Bier verdient wie du – du Arschloch!« Dabei könnte er Huballer abmurksen, denn er schläft und schläft und merkt wahrscheinlich nicht mal, wie schlimm das Kind neben ihm stinkt. Da zieht sich Dengler entschlossen die Windjacke an und marschiert hinaus ins Moor, den kaum erkennbaren Weg entlang, über den sich ein erster grauer Schleier zieht. Nur ein Bier…! redet er sich ein. Wenn er Angst hat, redet er schon von Kindheit an immer mit sich selbst und macht sich Mut.
Endlich, um 20.12 Uhr, gegen Ende der Tagesschau, sagt der Nachrichtensprecher: »Im Fall der von bisher immer noch
unbekannten Tätern entführten zweijährigen Petra Bartels aus Hamburg zeichnet sich heute abend möglicherweise eine dramatische Wendung ab. Die Mutter des Kindes, die zur Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, vor unserer Kamera zu erscheinen, hat einen Appell an die Entführer auf Tonband gesprochen. Auf Wunsch der Mutter und im Einverständnis mit der Hamburger Polizei werden wir dieses Tonband jetzt abspielen…« Ausblenden. Dann das blonde, strahlende Foto von Petra aus Vaters Brieftasche. Dann die dunkle, traurige, seltsam monotone Stimme der Mutter. »Ich bin Irene Bartels, die Mutter von Petra. Ich bin nicht gesund, aber die Polizei hat mir erzählt, was – wie sie glaubt – mit Petra geschehen ist. Die Polizei glaubt nämlich, daß zwei selbst noch nicht genug erwachsene Jungen mit Petra unterwegs sind, und sie glaubt auch, daß diese Jungen im Grunde ein gutes Herz haben. Sie glaubt, daß es gut ist, wenn ich sie selbst anspreche. Bitte, ihr beiden – macht euch nicht noch mehr schuldig! Petra ist nämlich, ohne daß ihr es seht, in höchster Lebensgefahr! Sie hat von Geburt an ein äußerlich nicht erkennbares schweres Herzleiden und braucht täglich ein bestimmtes, nicht in einer normalen Apotheke vorrätiges Medikament. Sie hat dieses Medikament heute nicht bekommen, und sie würde vielleicht die Nacht nicht überleben, wenn sie nicht in den nächsten Stunden in ärztliche Hände kommt. Bitte, ihr beiden, macht nicht euch und uns und Petra zugleich unglücklich! Ruft umgehend meinen Mann an…« Anstelle des Fotos von Petra erscheint groß die Telefonnummer und der Name Georg Bartels – die Nummer mit der Dreiundzwanzig am Schluß, wie Trimmel entschieden hat. Nochmals die Stimme von Irene Bartels. »… verabreden Sie mit ihm eine sofortige Übergabe des Kindes gegen das geforderte Lösegeld, das bei meinem Mann
bereitliegt. Ich verspreche Ihnen, daß wir die Polizei nicht mehr hinzugezogen haben und von uns aus auch nicht mehr hinzuziehen werden, wenn das Kind wohlbehalten zu uns zurückgekehrt ist. Bitte, zum letzten Mal, helfen Sie uns, den Eltern, und vor allem Petra, meinem unschuldigen kleinen Kind…« Ende. Als der Sprecher wieder erscheint, ist offenbar sogar er gerührt, als er sagt: »Aus Frankfurt nun die Wetterkarte für morgen, Freitag, den achtundzwanzigsten April…« Nichts Gutes verheißend verlagert sich ein Tief von Island aus südwärts und bringt für die Jahreszeit viel zu kalte Meeresluft mit sich. »Nicht schlecht!« sagt Trimmel. Er steht auf, schaltet das Fernsehgerät aus und ist trotzdem immer noch grün um die Nase. »Soll ich uns ein Brötchen holen?« fragt Petersen. »Hast du Hunger?« »Das nicht, aber…« »Also!« sagt er. Kein Brötchen, kein Korn. Warten auf Huballer oder Dengler oder wenigstens ein Wunder. Zum ersten Mal, seit er ihn kennt, hat Petersen Mitleid mit Trimmel. Dabei hat sich das Wunder, ohne daß es zunächst jemand ahnt, tatsächlich schon ereignet. Rolf Dengler sitzt hinter dem Bier in der kleinen Wirtschaft beim Ritscher Moor, grob gesagt zwischen Hamburg und Cuxhaven, und das Bier schmeckt ihm plötzlich wie Petroleum, und um ihn herum tanzen die Tische, denn es geht ihm sofort alles auf den Magen. Dengler raucht, nur vergißt er, zu ziehen, und am Ende verbrennt er sich die Finger und läßt den angeschmorten Filter einfach fallen. 20.17 Uhr sagt die Dorfkrug-Uhr.
Vier Leute spielen Karten, und der Gastwirt sieht ihnen zu. Auf Dengler achtet niemand. Und außer Dengler hat auch niemand auf das Fernsehen geachtet. Herzleiden! Medikament… …muß sterben! Sie wimmert, sie spuckt, sie scheißt ein ums andere Mal vor sich hin… hat das Herz nicht schon ausgesetzt, als er sie wieder in das noch feuchte T-Shirt wickelte und ihr die längst auch schon schmutzige Decke wegzog? »Zahlen!« würgt Dengler. Ein großes, einmal unartig gewesenes Kind mit einer inzwischen viel zu großen, mörderischen Verantwortung. Nichts wie weg von hier! denkt er. Retten, was überhaupt noch zu retten ist! Vier Kilometer sind’s durch das Moor zu der verfallenen Kate. Links und rechts Gespenster aus Nebel und blauem Dunst, dazwischen Zerrbilder: Zuchthaustore. Stinkende Kübel – ein schlimmerer Gestank als der von Petra. Kleine weiße Särge zwischen den Weiden… Rechts und links des schmalen Weges sackt Dengler mehrfach bis über die Knöchel ein. Als er höchstens den halben Weg hinter sich hat, hat er nur noch einen Schuh an. Trimmel am anderen Ende des Falles möchte beide Schuhe ausziehen, die Beine hochlegen, abschlaffen – und er traut sich nicht. Als käme es, sagt er sich selbst, im Ernstfall auf zwanzig Sekunden an! Höffgen meldet sich. »Wo bist du jetzt?« »Noch beim Fernsehen. Gibt’s schon was Neues?« »So schnell doch nicht!« sagt Trimmel. »Meinste, Ganoven können hexen?«
»Aber Sie glauben immer noch…?« »Ja, ich glaube!« sagt Trimmel. »Und deshalb bleibst du da draußen und paßt für alle Fälle auf, was da läuft. Hast du da ‘ne Durchwahl?« Höffgen gibt sie ihm. Besonders aufregend, sagt er, sei’s hier nicht zwischen Senderaum und Maske und Verwaltung. Aber was sonst kann man tun zu diesem Zeitpunkt? überlegt Trimmel nach diesem Gespräch. Norddeutschland zwischen Hamburg und Cuxhaven auf den Kopf stellen? Nichts da. Oder noch nicht. Im Ernstfall könnte Trimmel innerhalb von Minuten über Polizisten in Bataillonsstärke verfügen, in Hamburg, in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen. Wenn das nicht ausreichen würde, könnte er auch noch auf die Bereitschaftspolizei zurückgreifen. Für Petra, das angeblich todkranke Kleinkind mit dem blonden Schopf, wäre kein Einsatz zu üppig. Und dann läutet’s wieder: Endlich Laumen… »Ich kann nicht lange sprechen«, sagt er hastig, »er ist gerade mal pinkeln… hat alles geklappt!« »Von wo rufst du an?« »Auf der Nummer mit der zwölf hinten…« »Aber die hat doch Fangschaltung?« »Quatsch!« sagt Laumen, in der Eile ohne jeden Respekt. »Die liegt jetzt auf der Dreiundzwanzig, hab’ ich selbst veranlaßt. War aber noch nichts…« »Er hat wirklich keine Tagesschau gesehen?« »Der Fernseher lief ohne Ton, als ich kam. Er hatte dann soviel damit zu tun, mich anzubrüllen, daß er… oh, ich muß Schluß machen, er kommt…« Trimmel hört im Hintergrund gerade noch eine Tür klappen, bevor er mit dem Hörer in der Hand wieder allein am Telefon sitzt.
Gute Nachrichten bisher, aber alles andere als entscheidende oder auch nur wichtige Nachrichten.
Die entscheidenden letzten Meter bis zur Kate legt Dengler ganz ohne Schuhe zurück. Er schleicht sich wie ein Indianer an die Bruchbude heran. Links vor dem Eingang, durch ein paar halbhohe Büsche geschützt, steht der Opel. Das Heck zum Eingang, die Schnauze in Fluchtrichtung. Dengler macht die Tür an der Fahrerseite so vorsichtig auf, daß es beim Ausrasten des Schlosses nicht mal ein Knacken gibt. Allerdings, das Licht im Wagen geht an, und das muß auch sein, denn niemand mit einer so geringen kriminellen Erfahrung wie Rolf Dengler kann einen Wagen im Dunkeln kurzschließen. Zum ersten Mal ist Dengler heilfroh, daß Huballer ihm überhaupt gezeigt hat, wie man das macht. »Für den Notfall!« hatte er gesagt. Für den Notfall auf dem Weg nach Amerika… Rolf Dengler will nicht mehr nach Amerika – dann schon lieber in die Jugendstrafanstalt für ein paar Monate. Huballer war immer viel stärker als Dengler. Aber jetzt schläft er – wenigstens schnarcht er. Dengler zögert eine Sekunde, dann schaltet er die Scheinwerfer an: Nur Abblendlicht, aber in der Dämmerung so hell, daß er es sofort wieder ausschaltet. Er bleibt bei Standlicht, wartet einen Moment vergeblich darauf, daß sein Herzschlag leiser wird, geht auf nassen Socken zur angelehnten Tür… Es stinkt grauenhaft. Daß ein Mensch in einer solchen Luft schlafen kann! Eine Mischung aus Erbrochenem und Durchfall. Und zwischen den Schnarchtönen Huballers ein anderes Geräusch: das Wimmern des Kindes…
Petra hat sich schutzsuchend fest an den schlafenden großen Jungen gekuschelt. Sie weint einmal auf, als Dengler sie von Huballer wegzieht… Huballer dreht sich auf die andere Seite, und Dengler, mit dem stinkenden Kind auf dem Arm, bleibt fast das Herz stehen. Aber Klaus Huballer schläft weiter. Er hat sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf gutzumachen. Trotzdem ist er plötzlich wie der Blitz auf den Beinen – mit einem irren Schrei, als Dengler mit dem Kind schon im Wagen ist und die Zündung ineinanderhakt. Dengler verriegelt in einer Reflexbewegung die Tür an der Fahrerseite; das Kind liegt neben ihm auf dem Sitz, Huballer reißt an der Tür und kriegt sie nicht auf und springt vor das Auto… ein verzerrtes Gesicht, ein tanzender, irrer Teufel, als Denglers zitternde Hände den Scheinwerfer einschalten. Huballer liegt halb auf dem Kühler und trommelt mit den Fäusten gegen die Windschutzscheibe… Dann gibt Dengler Gas! Huballer wird abgeschüttelt und kommt mit dem rechten Bein unter Vorder- und Hinterrad des Wagens. Er schreit gellend auf, noch lauter als bisher, bleibt liegen, schreit immer noch, als Dengler dreißig Meter weiter den Weg verfehlt – und ist dann still… Der Wagen sackt nach rechts ins Moor. Dengler packt das Kind und klettert links aus dem Wagen: Fester Boden unter den Füßen! Das Kind brüllt wie am Spieß. Aber Huballer ist still, immer noch still, und Dengler sieht sich nicht einmal um, als er mit dem Kind in Richtung Ortschaft davonrennt – ein Schatten, der im Nebel schon nach wenigen Metern nicht mehr zu sehen ist. Als er in der Tür der Gaststube auftaucht, haben die Spieler ihre Karten schon weggelegt und stehen entgeistert neben ihrem Tisch: Das Kind hat sie hochgescheucht – ein plötzlich näher kommendes jämmerliches Geschrei…
»Polizei rufen«, japst Dengler, »Kind ist entführt… krank… sofort…« Sie nehmen ihm sofort das Kind vom Arm, der verhutzelte Wirt holt seine Frau, die fast doppelt so groß ist wie er und auch doppelt so resolut. Und zwei der vier Kartenspieler fahren sie und das Kind sofort nach Stade ins Krankenhaus. Der zitternde Wirt ruft die Polizei an: die weiß tatsächlich Bescheid. Sie wird gleich kommen – sie sollen Dengler unbedingt festhalten. »Aber… mein Freund… da draußen!« jammert der Junge plötzlich. Und so erfährt’s Trimmel. Keine Zeit, sich zu freuen, daß er recht gehabt hat. Er ruft an: Laumen soll mit Bartels sofort ins Präsidium kommen! Draußen vor dem Moor laufen zwei Torfbauern los, fahren mit einem Trecker hinaus und finden den bewußtlosen Klaus Huballer. Sein rechtes Bein ist oberhalb des Knies merkwürdig verdreht. Er stöhnt laut, mit geschlossenen Augen, als sie ihn aufladen. Rolf Dengler sitzt derweil immer noch in der Gaststube, ruft laut und immer lauter, immer undeutlicher nach Bier und Schnaps, und der zitternde Wirt gibt ihm soviel, wie er haben will. Fast gleichzeitig treffen zwei Streifenwagen aus Stade und der Traktor mit Huballer ein. Zwei Beamte haben vorsichtshalber die Pistolen gezogen: sie stecken sie weg, als sie Huballer sehen – und als ihnen Dengler geradezu entgegenfällt, sinnlos betrunken. »So ein Milchgesicht…«, sagt der Polizist, der Dengler in den Streifenwagen hievt.
Für Huballer, entscheiden seine Kollegen, ist der Krankenwagen zuständig; sie rufen ihn an, und er fährt gleich los, im Stadtgebiet mit Blaulicht und Sirene. So sind am Ende – mit dem ersten Wagen – vier Autos im Fall Petra Bartels zwischen Ritscher Moor und Stade unterwegs. Alle in Richtung Krankenhaus. Denn auch der Zustand von Dengler ließ während der Fahrt an eine akute Alkoholvergiftung denken, und mit dem Belegen von Ausnüchterungszellen ist die Polizei seit einiger Zeit verdammt vorsichtig.
Trimmel, Petersen und Georg Bartels erreichen das Krankenhaus von Stade gegen Mitternacht. Bartels führt sich wieder auf wie am Anfang der Geschichte: hysterisch, laut und unkontrolliert. »Ich will sofort zu meinem Kind!« schreit er den nächstbesten Mann im weißen Kittel an. »Sind Sie Herr Bartels?« fragt der Arzt ruhig. »Ja, natürlich! Wer denn sonst?« »Im Augenblick geht’s nicht, Herr Bartels. Übrigens, ich bin Doktor Oskopp…« »Da muß ich mich aber doch sehr wundern!« trompetet Bartels. »Sind Sie hier der Chefarzt?« »Nein…« »Aber warum darf Herr Bartels sein Kind nicht sehen?« fragt Trimmel. »Doktor Lamprecht hat es nicht gern, wenn ihm jemand zusieht!« sagt Dr. Oskopp, immer noch sehr ruhig. »Zusieht…?« fragt Bartels. Er geht Trimmel immer mehr auf die Nerven – jetzt, wo anscheinend alles gelaufen ist. »Können Sie nicht einsehen, daß Petra nach dem, was sie erlebt hat, wenigstens einer
Routineuntersuchung unterzogen werden muß?« Überrascht sieht er, daß Dr. Oskopp, statt ihm für seine Schützenhilfe dankbar zu sein, plötzlich Mund und Nase aufsperrt. »Sagten Sie… Routineuntersuchung?« fragt der Arzt. »Ja – wieso…?« Sie stehen allein auf einem langen Flur, zehn Meter von einer großen Glastür entfernt; dahinter beginnt die nächste Station. »Ich weiß nicht allzu viel über diesen… Fall«, sagt Dr. Oskopp zu Trimmel; Bartels läßt er im Moment außen vor. »Ich weiß nur, daß heute abend im Fernsehen gesagt worden sein soll, das Überleben des entführten Kindes sei eine Frage von Stunden. Das stimmt doch, oder?« »Ja, sicher«, sagt Trimmel unbehaglich, »aber…« Bartels mischt sich ein: »Wovon reden Sie da?« »Ich erklär’s Ihnen später, Herr Bartels!« sagt Trimmel. Aber Dr. Oskopp redet einfach weiter: »Das Überleben des Kindes war wahrscheinlich wirklich nur eine Frage von Stunden, ich weiß nicht, warum Sie so erstaunt sind…« »Sie hat einen Herzfehler?« flüstert Trimmel. »Herzfehler?« sagt Oskopp kopfschüttelnd. »Akute Gastroenteritis hat sie – bakterielle Lebensmittelvergiftung, wenn Ihnen das mehr sagt! Für ein Kleinkind eine verdammt lebensgefährliche Angelegenheit!«
Man hat darauf verzichten können, Petra Bartels den Magen zu spülen; für ein Kleinkind ist das eine verdammt unangenehme Angelegenheit. Medikamente in gerade noch zu rechtfertigenden Dosen, nachdem im Anschluß an die Vergiftung und eine Inkubationszeit von wenigen Stunden die Symptome der akuten Gastroenteritis deutlich geworden waren: Typhuszunge, Brechdurchfall, linsengroße rote Roseolen auf der Haut, vermutlich auch heftiger Kopfschmerz.
»Es muß ihr ziemlich weh tun!« sagt später der etwas angeschlagene Chefarzt Dr. Lamprecht voller Mitgefühl; er gestattet immerhin, daß Bartels und auch Trimmel kurz an das Bett der schlafenden Petra treten und sehen können, daß sie ruhig atmet, manchmal aber auch immer noch im Schlaf wimmert. »Wird sie… wieder gesund?« fragt Bartels, als sie wieder draußen sind – inzwischen ziemlich kleinlaut. Dr. Lamprecht nickt. »Im allgemeinen keine Staatsaktion… nur, in dem Alter… trotzdem auch hier eine ausgesprochen gute Prognose…« Er ist zu erschöpft, denkt Trimmel, um einfach und unmißverständlich »Ja!« zu sagen. Und dann knicken ihm selbst fast die Beine weg, und er fragt sich nur noch: Wo ist eigentlich Petersen?
Er trifft ihn auf dem langen Flur zur nächsten Station wieder, und der Leichenbestatter trägt ausnahmsweise einen geradezu strahlenden Optimismus zur Schau. »Wir müssen noch in Erlenbusch Bescheid sagen!« sagt Trimmel müde. »Hab’ ich doch schon!« antwortet Petersen. »Na gut«, sagt er, »dann noch…« »Hab’ ich auch schon!« strahlt Petersen. »Was denn?« »Ich hab’ Bartels die Adresse seiner Frau gegeben: der ist mir bald um den Hals gefallen. Er will morgen gleich mal hinfahren…« »Ach so…?« »Tja«, sagt Petersen, »in dem Teil der Angelegenheit können wir ja kaum mehr tun…«
»Nee, nee«, sagt Trimmel. »Dann wollen wir mal allmählich nach Hause fahren und überlegen, wie wir unsere Sünden ausbaden…« Aber Petersen strahlt und strahlt und strahlt weiter. »Bloß wegen diesem Tonband von Frau Bartels?« sagt er. »Chef, das hat mir dieser Doktor Oskopp doch schon längst erzählt, das ist doch alles klar – den Rest hab’ ich mir dann selbst zusammengereimt. Sie sind doch schließlich kein Gerichtsmediziner, Chef!« Trimmel starrt ihn an. »Was heißt das?« »Wir sind längst aus dem Schneider!« behauptet Petersen. »Diese kleinen Ganoven müssen dem Kind ja irgendwann mal was zu fr… ich mein’, zu essen gegeben haben?« – »Logisch!« sagt Trimmel. »Davon hat’s dann diese Enteritis oder wie das heißt gekriegt, oder?« – »Aber kein Herzleiden…« »Eben doch!« sagt er fröhlich und duldet keinen Widerspruch mehr. »Zu dieser Enteritis gehört nämlich auch Kollapsneigung. Ist das etwa keine Herzkrankheit?« Sie haben beide nicht gemerkt, daß der Chefarzt gekommen ist, um sich zu verabschieden, und daß er den letzten Satz mitgehört hat. »Kollapsneigung ist allenfalls eine Folgeerscheinung von Herzmuskelschwäche!« sagt Dr. Lamprecht. »War’s das?« »Das war’s!« sagt Trimmel und schüttelt ihm die Hand. »Sind Sie nicht auch der Ansicht, daß Ursache und Wirkung manchmal schwer auseinanderzuhalten sind?«
Ein Todesfall in der Familie
Schaerbaum sieht müde aus, als er endlich gelandet ist. Und er ist tatsächlich müde – müde wie nie, böse, zerschlagen, verbittert. Bei der Paßkontrolle geht’s noch; der Beamte vergleicht das Paßfoto flüchtig mit dem Original und sagt mitfühlend: »Bitteschön!« »Dankeschön!« sagt Herbert Schaerbaum, als er den Paß wieder wegsteckt. Aber beim Zoll gibt’s den ersten Ärger, wie so oft in Fuhlsbüttel. Schaerbaum stellt seine Reisetasche hin, und der Mann in der grünen Uniform fragt: »Kommen Sie aus Paris?« »Aus San Juan!« sagt Schaerbaum wahrheitsgetreu. »Welches San Juan?« »Puerto Rico.« »Aha!« sagt der Zöllner. »Haben Sie denn sonst kein Gepäck?« »Finden Sie das komisch?« fragt Schaerbaum ungeduldig zurück. Daraufhin filzen sie seine Tasche bis auf den letzten Krümel Pfeifentabak. Drei Maschinen sind gleichzeitig gelandet, und er kann froh sein, daß er dann draußen noch das letzte Taxi erwischt. »Otto-Ernst-Straße«, sagt er, »Flottbek!« Dann schläft er ein, nur Sekunden später, und wird in seinem Leben nur noch ein einziges Mal wach. Er wird wach, als ihn der Taxifahrer heftig an der Schulter rüttelt: »He, hallo – wir sind da!« »Is’ ja gut!« murmelt Schaerbaum schlaftrunken.
Er gibt dem Mann zwei Zwanziger, wartet das Wechselgeld und das Dankeschön überhaupt nicht mehr ab und geht zum Haus. Er taumelt durch den Vorgarten, fischt den Schlüssel aus irgendeiner Tasche und schließt auf wie ein Betrunkener. Trotzdem, er merkt es sofort: Muffig riecht es, obgleich er nur ein paar Tage weggewesen ist. Und es ist traurig, wie schnell einem das eigene Haus fremd wird, wenn es leersteht, vor allem, wenn man allein zurückkommt… Schaerbaum sitzt zwei oder drei Minuten in der Diele herum, als hätte er keinen Mut, die anderen Räume wiederzusehen. Er kramt sein Etui aus der Reisetasche, stopft sich eine Pfeife und zündet sie umständlich an. Schließlich nimmt er die Reisetasche und geht in sein Arbeitszimmer, die Pfeife im Mund, blaue Wölkchen paffend… Vermutlich deshalb fällt es ihm nicht auf, daß es im Zimmer schon nach Tabakrauch riecht, als er eintritt. Wieder sitzt er eine Weile herum, müde und traurig, unfähig fast, einen Entschluß zu fassen. Endlich reißt er sich zusammen. Er zieht das Telefon heran, wählt die Nummer von John Streckmann; es tutet dreimal – und Gott sei Dank, Streckmann ist zu Hause! »Hallo, John«, sagt Schaerbaum, »ich bin’s wieder – Herbert…« »Ich hab’s kommen sehen!« sagt Streckmann am anderen Ende, weder überrascht noch begeistert. Pause, kaum, daß es angefangen hat. Ein Schwein! denkt Schaerbaum. Streckmann fragt: »Hast du gerade was gesagt…?« »Nein, nein…«, erwidert Schaerbaum. »Das heißt, ich wollt’ wenigstens mal fragen – wie geht’s Marion?« »Na, endlich sprichst du’s aus!« sagt Streckmann. »Marion geht’s gut!« »Habt ihr denn… ich meine, hast du…?«
»Natürlich!« sagt Streckmann. »Du hättest wirklich noch bleiben können!« »Ist sie noch…?« »Ja, sie ist!« stellt Streckmann fest. »Und ich bin hier, wie du siehst. Wenn du willst, kannst du sie anrufen!« Dazu kommt es aber nicht mehr. Denn Schaerbaum sieht plötzlich, daß Zigarettenkippen im Aschenbecher liegen, obgleich er doch schon seit Tagen weg ist und seit ewig keine Zigaretten mehr raucht. Er sieht sich um – und er entdeckt, daß die oberste Schublade des Schreibtischs offensteht. »Was ist?« fragt Streckmann nervös. Aber er kriegt nur noch scheinbar völlig wirres Zeug zur Antwort. »Ja, du hast völlig recht, alter Junge; warte, ich hol den Kram mal sofort aus dem Koffer…« Schaerbaum legt den Hörer hin. Unter dem Samtvorhang des rechten Fensters ist eine Schuhspitze sichtbar geworden. Er steht auf, geht leise auf das Fenster zu – und reißt den Vorhang ruckartig zur Seite. Zwei fremde Männer stehen hinter dem Vorhang. Zwei junge Männer mit Pistolen. »Was machen Sie…«, sagt Schaerbaum scharf; weiter kommt er nicht mehr. Denn dann kracht es, dünn und scharf wie ein Peitschenknall. Zwar nur eine ziemlich kleine Sechsfünfunddreißig. Aber Schaerbaum stirbt sofort, auf die allerkürzeste Distanz. John Streckmann hört durch das Telefon den Knall und ein letztes schweres Stöhnen und schließlich den Fall. »Hallo, Herbert…«, schreit er, »was ist los bei dir… um Gottes willen…« Nur noch klick. Die Leitung ist tot. Der Mörder hat in Schaerbaums Arbeitszimmer den Hörer einfach auf die Gabel gelegt.
»So muß das gewesen sein!« sagt Streckmann zwei Stunden später. »Ich mein’, ich hab’ mir da einiges zusammengereimt, aber viel anders…« Trimmel nickt. »Viel anders geht’s kaum!« Streckmann hat von seinem Haus aus die Polizei alarmiert, und er hat schon vor Schaerbaums Haus gewartet, als die Polizei kam. Erst ein Streifenwagen, dann der Mordwagen, dann Trimmel mit Petersen. »Sie wohnen nicht weit?« fragt Trimmel. Streckmann schüttelt den Kopf. »Gleich hier um die nächste Ecke…« »Aber Sie waren nicht etwa vor uns im Haus?« Da wirkt er richtig beleidigt. »Ich hab’ keine zwei Minuten warten müssen, bis Ihre Beamten kamen. Außerdem – es war ja wohl ziemlich klar, was mit Herbert…« Er schüttelt immer noch den Kopf, weil er das alles nicht fassen kann und so schön er sonst ist: im Augenblick ist er richtig zerknittert. John Streckmann, so sieht’s aus, ist tatsächlich ein vorbildlicher Freund und Zeuge. Er hat nicht nur den Schuß gehört, der Schaerbaum umwarf, er kennt sich auch aus im internationalen Flugplan. Nur durch ihn erfährt man jetzt schon, wann und wie Herbert Schaerbaum heute abend nach Hamburg zurückgekommen ist. Streckmanns Stimme klingt mitfühlend. »Ganze drei Tage war er in der Karibik. Dabei wollte er mindestens drei, vier Wochen Golf spielen…« »So, so…«, sagt Trimmel. Er sieht sich die Leiche neugierig an. Schaerbaums Gesicht ist sonnenverbrannt, aber trotzdem nicht richtig gebräunt, und offenbar liegt das nicht nur an der Blässe des Todes. »Weshalb ist er so plötzlich zurückgeflogen?« Da zuckt Streckmann bedauernd die Achseln. »Natürlich sind wir… waren wir befreundet, ich mach’ auch mit ihm
Geschäfte. Aber auf Anhieb wüßte ich auch nicht… das heißt, er hat was von einem Telegramm gesagt, bevor er…« »Bevor der Schuß fiel?« »Ja – bevor der Schuß fiel. Im übrigen – Sie werden das ja so und so noch erfahren – ging’s ihm in der letzten Zeit geschäftlich nicht besonders gut. Sein Partner machte ihm ziemliche Schwierigkeiten…« »Und wie ging’s ihm privat?« »Ach – Marion, meinen Sie!« Streckmann zögert fast unmerklich. »Marion ist sehr klug und charmant… zur Zeit ist sie in Travemünde, ich muß sie benachrichtigen…« Ein plötzlicher Argwohn flammt auf, eigentlich ganz ohne Grund. Und selbst, wenn es so wäre – was hätte es mit Schaerbaums Tod zu tun? »Sie kennen Frau Schaerbaum näher?« fragt Trimmel trotzdem. »Sicher so gut wie ihn… ich meine, bevor Sie da was Falsches… Marion und ich sind natürlich sehr befreundet…« »Natürlich!« sagt Trimmel – einen Tick zu freundlich. Aber Streckmann überhört es. »Es bleibt mir ja doch nicht erspart… ich werde mich um sie kümmern, sobald wir hier fertig sind…« Wir hat er gesagt, registriert Trimmel, wahr und wahrhaftig wir! Er sieht sich im Zimmer um, schleicht um die Leiche wie eine dicke Katze, murmelt vor sich hin, daß nur Petersen es versteht: »… sieht nicht gerade zwingend nach Raubmord aus…« Petersen nickt: »Auf den ersten Blick nicht allzuviel geklaut…« Hier auf dem Schreibtisch und gleich daneben liegen interkontinentale Flugscheine, eine Reisetasche mit persönlichen Dingen, darunter Sonnenöl, Paß und Impfzeugnis – und vor allem jede Menge Mark, Dollars und Traveller-
Schecks. Das Geld stammt aus der Brieftasche, die die Spurensicherer dem toten Schaerbaum vorsichtig aus der Jacke gezogen haben – aus der Innentasche, in der sie gesteckt hat, ein paar Zentimeter neben dem schwarzroten Einschuß. »Wenn es Einbrecher waren«, überlegt Streckmann vorsichtig, »könnten sie die Nerven verloren haben…?« »Wie kommen Sie denn auf die Idee«, fragt Trimmel sofort, »daß es mehrere waren?« Streckmann schüttelt nachsichtig den Kopf – sanft und arrogant, wie er es oft tut. »Ihre eigenen Leute haben vorhin gesagt, daß sie zwei verschiedene Zigarettenreste gefunden haben – einmal schwarz und einmal blond…« »Ach so, ja!« erinnert sich Trimmel. Und dann hört er erstaunt, daß John Streckmann bereits eine richtige Theorie über den Fall entwickelt hat. »Sie gehen doch sicher davon aus, daß Herbert Schaerbaum erschossen wurde, weil er überraschend zurückkam und hier im Haus… ungebetene Gäste traf?« »Möglich!« sagt Trimmel. Aber das reicht Streckmann nicht. »Heutzutage ist anscheinend niemand mehr sicher«, sagt er heftig, »der mehr als hundert Mille hat oder auch nur so aussieht!« »Was heißt das?« »Das heißt, daß ich aufgrund der Fakten gewisse Zusammenhänge zu erkennen glaube… Sie sind wohl Spezialist für Kapitalverbrechen, nehme ich an?« »Ja, und?« »Dann wissen Sie vielleicht nicht, daß… Sie, mir fällt es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Wissen Sie eigentlich, daß in den letzten Wochen und Monaten eine ganze Anzahl alteingesessener Hamburger, sämtlich wohlhabende Leute, während ihres Urlaubs ausgeplündert worden sind, sozusagen serienweise?«
»Tatsächlich?« »Ja, ja – Sie sollten das prüfen lassen!« Streckmanns mit einemmal beinahe schulmeisterliche Art geht Trimmel leicht auf die Nerven. »Natürlich prüfen wir es«, sagt er dennoch, »wir leben schließlich von den Informationen anderer Leute!« Dieser Streckmann ist wirklich ein vorbildlicher Zeuge mit einer glasklaren eigenen Meinung, denkt er gehässig. Außerdem auch ein beherzter Mann – ein Mann von Welt, der den Schmerz über den Tod seines Freundes sogar noch angesichts der Leiche tapfer verbirgt.
Am nächsten Morgen hält die Sonne in Hamburg einen glänzenden Einstand: der Tag kündigt die Woche an, in der in Hamburg allgemein der Sommer stattfindet, und der Tag wird im Polizeipräsidium am Berliner Tor zum Anlegen einer ersten Spurenakte im Mordfall Schaerbaum genutzt. Gegen Mittag begibt sich John Streckmann ziemlich übernächtigt auf die Strecke nach Travemünde. Frühmorgens hat er Marion Schaerbaum anrufen müssen, eine Stunde telefoniert, dann noch zwei Stunden geschlafen, dann schnell geduscht und ins Auto. Marion wirkt gefaßt, sieht aber noch ziemlich verweint aus. Streckmann hilft ihr beim Kofferpacken, faltet Kleider und Dessous wie ein umsichtiger Ehemann – oder auch, ganz wie man’s nimmt, wie ein routinierter Junggeselle. Auf der Rückfahrt nach Hamburg hält er dann fast ständig Marions Hand. Sie hat das dunkelste Kleid angezogen, das sie bei sich hatte. Anthrazitgrau. Als Schmuck: nur ein paar strenge Perlen. Kilometer um Kilometer schweigen sie vor sich hin. Bis etwa in die Gegend von Reinfeld.
»Ich glaub’ einfach nicht«, sagt Marion plötzlich, »daß Herbert nur aus… aus Versehen umgekommen ist!« »Warum denn nicht?« fragt Streckmann erstaunt. »Gerade in den letzten Monaten hatte er ziemlich viel Ärger, nicht wahr?« »Feinde, meinst du?« »Vielleicht auch Feinde…« Streckmann nickt. »Feinde hat jeder. Aber erstens nimmt in dieser verdammten Branche niemand einen Revolver, weil’s da sehr viel bessere Mittel gibt, um einen Konkurrenten zu erledigen…« »Und zweitens?« fragt Marion. »Also, paß auf, Marion«, sagt Streckmann entschlossen, »Herbert hatte tatsächlich große Schwierigkeiten. Aber bevor er abflog, hatte ich ihm fest versprochen, daß ich ihm zwei Millionen pumpe. Damit wäre er komplett über den Berg gewesen!« »Deshalb hat er dich gestern angerufen?« »Deshalb auch…«, gibt John Streckmann zu. »Auch wegen…?« »Auch wegen uns!« Die natürlichste Sache der Welt. Aber es dauert eine Weile, bevor sie weiterspricht. »Du wolltest ihm also das Geld geben wegen…?« »Zum Teufel, ja!« sagt er. »Auch wegen uns! Schuldgefühle kann man nicht aufkaufen, aber etwas wohler wär’ mir schon gewesen… bloß, mach das mal der Polizei plausibel!« »Vielleicht versuchen wir es mit der Wahrheit!« schlägt Marion vor. »Hab’ ich schon halb…«, sagt er. »Und?« »Es war ziemlich unerfreulich. Der Leiter der Mordkommission ist offenbar Oberpriester im Bund gegen den
Mißbrauch der Ehe. Gesagt hat er ja nicht viel, zugegeben, aber der Ton…« »Er heißt Trimmel, sagst du? Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden…« »Du wirst noch früh genug Gelegenheit dazu haben«, sagt er heftig, »bis dahin… gehe nie zum Polizisten, wenn du nicht gerufen bist!« Wieder schweigt sie, diesmal fast gehorsam. Und er läßt plötzlich ihre Hand los, tritt das Gas durch, kommt in Sekunden auf hundertachtzig. »Du ziehst erst mal ins Hotel«, entscheidet er. »Ich werde versuchen, dir die Kripo vom Leib zu halten. Ich glaube, ich hab’ da eine gute Idee…« Bis Hamburg behält er sie erst mal für sich.
Leichenbestatter Petersen, der für sein Leben gern in den privaten und geschäftlichen Angelegenheiten anderer Leute herumstochert, erstattet inzwischen genüßlich Bericht. »Streckmann, John Albert, ist Junggeselle, zweiundvierzig, gilt als Playboy und außerdem als die begehrteste Partie in ganz Hamburg. Verdient mit seinem Afrika- und OstasienExport ein Schweinegeld – viel mehr als Schaerbaum, der dasselbe machte. Wär’ sinnvoll gewesen, wenn die beiden fusioniert hätten – das heißt, das hätte dann so ausgesehen, daß Streckmann den Schaerbaum mit Haut und Haaren gefressen hätte…« »Warum hat er ihn nicht gefressen?« fragt Trimmel. »Weil Streckmann Schaerbaums Frau gefressen hat«, sagt Petersen glücklich, »oder besser vernascht!« »Also doch!« sagt Trimmel. »Ja, hätten Sie denn im Ernst daran gezweifelt?« fragt Petersen verwundert.
Im Grunde war’s ja schon heute nacht klar, überlegt Trimmel, auch wenn er’s nicht wahrhaben wollte; weiß der Henker, warum man manchmal immer noch glaubt, die Welt sei doch nicht so schlecht. »Wußte Schaerbaum Bescheid?« »Ich glaub’ schon«, sagte Petersen. »Bloß, er selbst hat mir dazu natürlich nichts mehr sagen können, und Frau Schaerbaum wird erst heute nachmittag erwartet. Aber mal ganz abgesehen davon, Chef…« Er macht eine eindrucksvolle Kunstpause, und Trimmel sieht ihn gespannt an. »… Schaerbaum hatte einen stillen Teilhaber, einen gewissen Schultzendorff, und der hat ihm vor zwei Monaten ganz plötzlich die Einlage gekündigt – mehrere Millionen; da wär’ Schaerbaum ziemlich pleite gewesen. Und was glauben Sie, wer ihm da massiv helfen wollte?« »Streckmann!« rät Trimmel. »Richtig!« sagt Petersen zufrieden. »Woher weißt du das alles?« »Von Schaerbaums Sekretärin – das und noch mehr. Aber mit der hätte sich der Herr Schaerbaum nun wirklich nicht revanchieren können – die ist achtundfünfzig!« »So, so!« sagt Trimmel nachdenklich. »Helfen mit mehreren Millionen – ist eigentlich reichlich teuer für ‘ne fremde Ehefrau, oder?«
Höffgen ist derweil nicht untätig geblieben. Er trinkt seinen Kaffee bei den Einbruchsspezialisten und studiert deren Akten. Villeneinbrüche in Othmarschen, weiter unten in Flottbek, dann in Pöseldorf und in Harvestehude. Die Leute, die hier eine Villa bewohnen, sind in der Regel reich, selbst wenn sie gerade mal geschäftliche Schwierigkeiten haben sollten. Vor allem aber: die Leute, die hier beklaut worden sind, waren
immer in Urlaub – da hat John Albert Streckmann also tatsächlich recht gehabt. Höffgen legt Listen an und versucht, Gemeinsamkeiten zu entdecken – den Modus operandi, dieselbe Tatausführung; letzten Endes der sicherste Beweis für den Zusammenhang einer Kette von Straftaten. Als erstes kriegt er raus, daß es anscheinend immer zwei Täter waren. Einer raucht schwarze, der andere ›blonde‹ Zigaretten. Vermutlich Kette. Denn welcher nicht so starke Raucher könnte nicht wenigstens bei einem Einbruch darauf verzichten? Genau wie bei Schaerbaum! registriert Höffgen. Und macht weiter mit seiner Liste. Es sind Brecher; sie schlagen Scheiben ein, und von Nachschlüsseln, Dietrichen oder Zellophanstreifen halten sie nicht viel. Dann stehlen sie Schmuck, Geld und Gold – alles das, was sich schnell versilbern läßt. Bei Schaerbaum haben sie das Geld zwar in der Brieftasche steckenlassen. Aber auch bei Schaerbaum haben sie neben der seitlich vom Haupteingang gelegenen Wintergartentür ein Fenster eingeschlagen und sind auf diese Weise, wie man nachweisen konnte, ins Haus gekommen. Höffgen ist längst überzeugt, daß es in allen Fällen, also auch bei Schaerbaum, dieselben Täter waren – insgesamt an die fünfzehn- bis zwanzigmal. Er fragt einen Sachbearbeiter vom Einbruchsdezernat, einen gewissen Grundler: »Hättet ihr nicht merken müssen, daß das zusammenpaßt?« »Komm«, sagt Grundler, »halt uns doch nicht für blöd! Hast du überhaupt ‘ne Vorstellung, was ‘ne Serie ist?« »Nicht so ganz…«, gibt Höffgen zu. »Na also«, sagt der Kollege befriedigt, »dann wirst du ja auch nicht wissen, wie oft unser Serienkönig in zwölf Monaten eingestiegen ist…«
»Sag schon!« sagt Höffgen. »Vierhundertachtzehnmal!« antwortet Grundler stolz. »Und das nachweislich – die unsicheren Fälle nicht gerechnet! Ist das vielleicht nichts?« Höffgen ist beeindruckt. »Wie heißt der Kerl?« »Knoll heißt er«, sagt Grundler kopfschüttelnd, »aber ausgerechnet eure Sache kann er eigentlich nicht gemacht haben – das kommt zeitlich nicht hin. Außerdem schießt der nicht!« Tatsächlich hat ja allerdings wenigstens einer der Täter, die für ihn in Frage kommen, eine Knarre bei sich gehabt, überlegt Höffgen. »Ist das heute nicht die Regel, daß Einbrecher bewaffnet sind?« »Ja, schon«, erwidert Grundler. »Aber manchmal gibt’s eben rühmliche Ausnahmen!« Höffgen nickt bekümmert: bei ihm gibt’s solche Ausnahmen nie – von dieser Art Gewalt versteht er was. Als er weiterblättert, findet er noch zwei weitere Fälle, die in ›seine‹ Serie passen, in denen die Täter allerdings von einer Alarmanlage verjagt worden sind; als der erste Streifenwagen kam, waren sie längst über alle Berge. Der Mann vom Einbruchsdezernat, am Anfang nur mäßig interessiert, steht inzwischen neben Höffgen und guckt ihm neugierig über die Schulter. »Wenn du mich fragst«, sagt er, »diese Anlagen stiften mehr Schaden als Nutzen! Weil die Leute denken, daß ihnen gar nichts mehr passiert, bloß weil sie ‘ne Sirene oder so was haben – dabei ahnst du gar nicht, wie schnell das unterlaufen werden kann!« Höffgen nickt. »Im Grunde ist es irre, was die Menschen im Haus behalten, wenn sie verreisen!« Der Gesamtschaden, den er bei ›seiner‹ Serie errechnet hat, geht immerhin längst in die Millionen. Am Ende stößt er dann auf ein merkwürdiges Faktum: bis auf einen Geschädigten, bei dem’s nicht sicher ist,
haben sämtliche der für ihn in Frage kommenden Opfer ihre Urlaubsoder Geschäftsreisen über eine Reiseveranstaltungsfirma namens IFA gebucht! »Was ist IFA?« fragt er. »Die Abkürzung für International First Airlines!« sagt der Einbruchexperte verbittert, »‘n Laden für stinkreiche Leute, mit dem asozialen Werbespruch Bei uns fliegen Sie teuer, bei uns fliegen Sie First! Ein total verludertes Produkt unserer zwieund mehrspaltigen Wohlfahrtsgesellschaft, wenn du mich fragst…« »Und?« sagt Höffgen, plötzlich wie elektrisiert. »Kann das nicht der Schlüssel sein?« »Reg dich ab!« sagt Grundler. »Den Punkt haben wir doppelt und dreifach…« Aber dann fällt ihm offenbar was ein, und er hört mitten im Satz auf. »… überprüft?« fragt Höffgen. Der Kollege nickt zögernd. »Ich mein’ nur – wenn ich an unsere Arbeitsüberlastung denke… vielleicht könnt’s nicht schaden, wenn ihr euch mal drum kümmert!« Trotz und alledem – für Höffgen bringt das alles erst mal gar nichts. Zwar rast er drei Etagen zu Fuß nach oben, weil’s ihm zu lange dauert, bis der Fahrstuhl kommt, fällt fast in Trimmels Büro und sagt atemlos: »Da müssen wir bloß mal das Personal eines Reisebüros überprüfen, dann haben wir diesen Fall Schaerbaum…« Aber dann wird ihm buchstäblich die Butter vom Brot genommen – denn dann steckt ausgerechnet der sichtlich gut erholte John Streckmann seinen Kopf durch die Tür. »Schönen guten Tag«, meint er höflich. »Das Vorzimmer war leer… störe ich Sie?« »Was wollen Sie?« fragt Trimmel. »Einiges…«, sagt Streckmann und nimmt einfach Platz. »Zunächst mal, ich habe Frau Schaerbaum soeben nach Hamburg zurückgebracht, sie wohnt zur Zeit im Atlantic, ich
hielt’s für besser, sie erst einmal einer ebenso neutralen wie kultivierten Atmosphäre…« Merkwürdig, denkt Trimmel, wie häufig er seine langen Sätze nicht zu Ende spricht und trotzdem genau zu erkennen gibt, auf was er hinaus will. »Aus demselben Grund würde ich, falls Ihre Ermittlungen es gestatten, bitten…« »Aber wir müssen sie vernehmen!« sagt Trimmel. »Selbstverständlich!« sagt Streckmann eifrig. »Ich schlage ja nur vor, ob vielleicht die Reihenfolge…« »Ich bin ja im allgemeinen die Güte selbst«, sagt Trimmel, und Höffgen kriegt beinahe einen Lachkrampf. »Ich denke auch, daß sich da eine Lösung finden läßt…« »Aber?« »Aber es könnte zum Beispiel nicht so ganz unwichtig sein, ob Sie mit Frau Schaerbaum möglicherweise nicht doch eine etwas engere Beziehung…« »Wieso das denn?« »Nun ja, wir stehen ja erst am Anfang…« Da nickt Streckmann, nicht eben sehr heiter, aber erfreulicherweise recht verständnisvoll. »Wenn’s nur das ist – Frau Schaerbaum und ich sind tatsächlich sehr eng befreundet. Ich weiß es übrigens zu würdigen, daß Sie mich nicht am… na ja, am Tatort selbst eindringlicher gefragt haben…« »Bitte, bitte!« sagt Trimmel generös. »Haben Sie sonst was auf dem Herzen?« »Ich werde morgen eine Urlaubsreise in Richtung Südsee antreten!« sagt Streckmann überraschend. Dann kommt’s: »Wissen Sie, über wen ich gebucht habe?« Trimmel und Höffgen sehen ihn fragend an. »Über den exklusiven Reiseveranstalter IFA!« sagt Streckmann wichtig. »IFA heißt…« »International First Airlines!« sagt Höffgen.
»Ach, das wissen Sie schon?« »Ja, das wissen wir schon…« »Na, das ist ja ganz prima!« fährt Streckmann selbstsicher fort. »Dann ist Ihnen ja wohl auch die Tatsache bekannt, daß eine ganze Reihe meiner ausgeplünderten Freunde und Bekannten bei IFA gebucht hatten…« »Ja. Und?« »Mir«, sagt Streckmann betont, »ist das erst heute morgen klargeworden. Und das hat mich auf eine Idee gebracht… ab morgen mittag steht mein Haus völlig leer…« Trimmel kapiert sofort. »Sie denken an eine Art Falle? Sie wollen uns Ihren – Ihre Villa quasi als Mausefalle zur Verfügung stellen?« »Wenn Sie’s so nennen wollen – ja!« erklärt Streckmann gedehnt. »Man kann’s allerdings auch so ausdrücken… ich gehe natürlich davon aus, daß die Polizei das Haus eines so guten Steuerzahlers, wie ich es bin, während meiner Abwesenheit zu schützen weiß…« Beim Schach nennt man das Zugzwang. Eine ärgerliche, nicht selten gefährliche Situation. Ob ihm das wirklich erst heute morgen eingefallen ist? fragt sich Trimmel mit immer größerem Argwohn. »Jedenfalls…« – John Streckmann fingert in seiner rechten Jackentasche – »…hier ist der Zweitschlüssel!« Er legt ihn auf den Tisch. »Außerdem habe ich die Wach- und Schließgesellschaft informiert, daß Sie gegebenenfalls in amtlicher Eigenschaft…« »Also, ich bestimmt nicht!« sagt Trimmel. »…dann vielleicht Ihre Leute!« sagt Streckmann verbindlich und steht auf. »Sie wären sicher schlecht beraten, Herr Trimmel, wenn Sie meine Vorschläge so gänzlich ohne zwingenden Grund… und statt dessen…«
Auch Trimmel erhebt sich; Höffgen in seiner Wut ist sowieso immer nur im Zimmer herumstolziert. »Wann genau verlassen Sie Ihr Haus?« »Na, sehen Sie!« sagt Steckmann fröhlich. »Ich hab’s doch gewußt… ab morgen um elf bin ich…« »Ab elf sind Sie weg?« »Richtig!« sagt John Streckmann zufrieden. »Verabschieden darf ich mich in aller Form jetzt schon…«
Sobald er mit Trimmel allein ist, mosert Höffgen: »Also, ich an Ihrer Stelle, ich würd’ mir diese Witwe mal sofort vorknöpfen, statt mit ihrem Lover krumme Dinger…« »Krumme Dinger?« »Ja, sicher – wie wollen Sie das denn mit allen Konsequenzen rechtlich absichern?« Trimmel starrt aus dem Fenster. Er hat ja recht, denkt er; gerade noch im April dieser getürkte Fernsehaufruf, und jetzt schon wieder das… Petersen kommt ins Büro. Schnuppert, als könne er die dicke Luft riechen. »Was wird denn hier gespielt?« »Räuber und Schandi sollen wir spielen«, erklärt Höffgen giftig. »Fallen stellen, mit Arschlöchern paktieren, uns zeigen lassen, wo’s lang geht…« Aber Trimmel schüttelt den Kopf. »Streckmanns Idee ist gar nicht so ungeschickt! Ich kann ihn ja auch nicht ab, aber mit dem Mord direkt hat er ja nun bestimmt nichts zu tun! Kannst du dir deine Helfershelfer immer aussuchen?« »Na schön«, sagt Höffgen verbiestert. »Warum gehn wir dann nicht gleich? Soll ich Ihnen in den Mantel helfen?« »Ich bleibe hier!« entscheidet Trimmel. »Sie… Sie bleiben was?«
»Erstens hab’ ich hier noch mehr Leichen als diesen Schaerbaum!« behauptet Trimmel – eine Ausrede, die er sonst nie gebraucht, obgleich sie weiß Gott stimmt. »Zweitens muß ich mal ausspannen – ich werde die Aktion bloß überwachen. Und drittens…« Er zögert. »Drittens was?« fragt Höffgen. »Ach, nichts! Haut mal ab!« Kaum, daß sie dann aus dem Zimmer sind, ruft Trimmel seltsamerweise beim Hamburger Mittag an und verlangt, ohne seinen Namen zu nennen, die Redaktion – einen gewissen Gerber. Der wird jedoch erst abends erwartet, erfährt er, und das heißt, daß es unter Umständen eine recht lange Nacht werden kann.
Alles in allem wird’s im übrigen erwartungsgemäß ein ziemlich trister Tag, und nur ein Optimist wie Laumen, Kriminalmeister und Kriminalkommissarsanwärter, kann sich’s leisten, da noch von der Ruhe vor dem Sturm zu reden. Laumen hat zwar Urlaub, spart aber für ein neues Auto, ist deshalb in Hamburg geblieben und kann sofort zur Verstärkung zitiert werden; spätnachmittags jedenfalls lungert er mit Petersen auf der oberen Mönckebergstraße herum und wartet darauf, daß das dortige IFA-Büro seine Pforten schließt. Das zumindest hat Trimmel sich reiflich überlegt, nachdem er unter anderem tatsächlich auch die Vernehmung der Witwe Schaerbaum zurückgestellt hatte: nach Lage der Dinge ist es sicher nicht ratsam, sich den Tresor des Reiseunternehmens von vornherein amtlich aufmachen zu lassen und die Personalunterlagen zu beschlagnahmen. Wenn nämlich die Streckmann-Falle überhaupt jemals zuklappen soll, ist bestimmt alles mögliche angebracht, allerdings kein Wirbel.
Vier Mädchen kommen dann aus dem eleganten Laden, allesamt ziemlich hübsch. Zwei von ihnen gehen gemeinsam weg, und zwei gehen einzeln. Diese beiden – man muß sich entscheiden – werden daraufhin getrennt beschattet. Sie fahren offenbar gleich heim, in zwei Appartementhäuser am Grindelhof und in Altona – und in diesen Häusern herrscht ein solcher Publikumsverkehr, daß es unmöglich ist, auch nur annähernd festzustellen, ob die jungen Damen im Verlauf des Abends Besuch empfangen. Unter dem Strich also: Petersen und Laumen kommen ziemlich spät ins Bett, aber heraus kommt nichts. Einige Kilometer weiter westlich sehen sich derweil Höffgen und der Knall auf Fall zur Mordkommission abkommandierte Grundler das Haus an, in dem sich John Streckmann heute abend noch aufhält; sie erkunden das Anwesen über die Vorund Hintergärten. Grundler entwickelt in allen Einzelheiten seinen Plan, wie sie’s machen sollen, und Höffgen findet’s auf einmal spaßig. »Wollen wir nicht noch ein Bier trinken?« fragt er am Ende der Ortsbesichtigung. Grundler schüttelt den Kopf. »Schlaf lieber vor – das kann lange dauern! Mach’s wie Trimmel: spann dich aus!«
Aber was macht der gestreßte Leiter der Ständigen Mordkommission wirklich? Stunden um Stunden hockt Trimmel in seiner Stammkneipe Old Farmsen Inn – er kauft sich ein Bier nach dem anderen. Sein Auto hat er, da er ahnte, was auf ihn zukam, vorsichtshalber in der Garage gelassen. Reichlich spät kommt dann endlich jener Robert Gerber hereingeschneit, nach dem Trimmel zuvor gefahndet hatte – trotz seines Reporterjobs beim Mittag ein ganz manierlicher
Mensch. Er sieht Trimmel, ist hoch erfreut, setzt sich gleich zu ihm an den Tisch und bestellt sofort die erste Runde. Und Trimmel nimmt’s hin: er hat den Mann mal beim sogenannten Bundesligamord kennen und sogar schätzen gelernt – und ›Bobby‹ Gerber seinerseits, bis dahin eigentlich ausschließlich im Sport zu Hause, hat bei jener Gelegenheit ein für allemal seinen Spaß am Kriminellen entdeckt. »Wann arbeiten Sie eigentlich mal?« erkundigt sich Trimmel grämlich. »Ich hab’ heute dreimal versucht…« »Sie? Mich?« fragt Gerber erstaunt zurück. »Ja – stellen Sie sich das vor!« Gerber, heiter wie meist, sagt versöhnlich: »Nun haben Sie mich ja! Im übrigen haben Sie ja wieder mal einen ganz dicken Fisch in der Mache, wie man so hört…« Er bemüht sich sichtlich um eine Sprache, die er, richtig oder nicht, für Bullendeutsch hält. »Ein Scheißfall«, sagt Trimmel. »Für den Fall, daß Sie an Schaerbaum denken!« »Darf man Näheres wissen?« »Prost!« sagt Trimmel, weil Gerbers Runde gerade kommt. Er kippt den Korn, trinkt einen mächtigen Schluck Export hinterher und erklärt in all jener Scheinheiligkeit, die lediglich er vollkommen beherrscht: »Die ganze Sache geht Sie einstweilen überhaupt nichts an!« »Also nicht…«, meint Gerber heiter. Aber sie hocken dann trotzdem noch an die drei Stunden zusammen, reden über Gott und die Welt und sicher auch über die Leute, und im Zweifelsfall wird niemand je erfahren, über was sie denn nun im einzelnen geredet haben. Denn zumindest Trimmel – so hat es den Anschein – ist am Ende in einem so ›fortgeschrittenen‹ Zustand, daß er sich schon am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern kann.
Fragt sich, ob er das überhaupt will. Und ob er nicht von Gerber dasselbe verlangt, wenn auch allerdings nur teilweise.
Aufstehen wie immer, erstaunlicherweise ganz ohne Kater – offenbar war’s doch nicht ganz so schlimm –, und um Punkt zehn geht Trimmel am Atlantic-Portier vorbei, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Frage zu verschwenden, ob er ihm eine Mark geben soll. Er hat dann endlich sein hinausgeschobenes Gespräch unter vier Augen mit Marion Schaerbaum, wobei er ihr vor allem sein Beileid ausdrückt. Ebenso wie über den Verblichenen sagt er über John Streckmann, wenn überhaupt, nur Nettes, und Marion, die das Schlimmste befürchtet hatte, ist nach kurzer Zeit eigentlich recht angetan von ihm. Und so plaudert sie aus, mit tragischem Tonfall und Augenaufschlag: ja – Streckmann wollte ihrem Mann in der Tat zwei Millionen zu günstigsten Bedingungen geben, weil er offenbar eine Art Wiedergutmachung betreiben zu müssen glaubte. »Ja, ja«, sagt Trimmel verständnisvoll. »Wo die Liebe hinfällt… es steht niemandem zu, zu richten!« Hübsch sieht sie aus, denkt er, aber so schlau, wie Streckmann sie geschildert hatte, ist sie bestimmt nicht. »Es könnte sein, Frau Schaerbaum, daß die Presse Ihren Aufenthaltsort ausfindig macht und Sie befragen will…« »Ich werde gar nichts sagen!« sagt Marion hastig. »Ach«, meint er, »gewisse Stellungnahmen und überprüfbare Tatsachen… ich meine, bevor die Reporter dann was Falsches schreiben…« »Gewiß, Herr Trimmel!« sagt sie gehorsam. Und er verabschiedet sich, um, wie er ausdrücklich ankündigt, die Herren Foltis und Schultzendorff in der Firma Schaerbaum aufzusuchen.
Zunächst Foltis. Prokurist, mit Ende Vierzig schon ein ziemlich zerknittertes Männchen. »Ich weiß ja auch nicht«, behauptet er, »warum Herr Schaerbaum ausgerechnet in einer recht prekären geschäftlichen Situation in die Karibik gefahren ist…« »Natürlich wissen Sie’s!« sagt Trimmel. Ein Schuß ins Blaue, aber Foltis wird getroffen. »Also, genau weiß ich’s wirklich nicht, Herr Trimmel… Herr Schaerbaum hat mir lediglich mal gesagt, Herr Streckmann hätte unsere derzeitige Finanzlücke überbrücken wollen, wenn er… wenn Herr Schaerbaum vorher mal ausspannt und mal richtig Urlaub machen würde…« »Sieh an!« sagt Trimmel befriedigt. Dann Schultzendorff, gleich nebenan: Schaerbaums stiller Teilhaber hat nach dem Tod des aktiven Partners sofort die Regie in der Firma übernommen. »Ich hatte eigentlich erwartet, daß Sie mich schon früher aufsuchen würden!« sagt Schultzendorff jovial. Er trägt einen eleganten Nadelstreifen, und er hat die Jacke ausgezogen, denn der Sommer hält immer noch an. Im Zimmer stehen drei teure Koffer, einer davon geöffnet. »Schaerbaums Gepäck?« fragt Trimmel. »Ja, es ist angekommen… schreckliche Geschichte, verfolgt mich auf Schritt und Tritt…« »Warum packen Sie die Koffer aus?« »Weil Marion nicht zu erreichen ist«, sagt Schultzendorff, »weil da irgendwo ein paar wichtige Papiere…« »Was wird mit der Firma?« »Tja«, sagt er bedächtig, ohne sich durch Trimmels sprunghafte Art irritieren zu lassen, »da bleibt wohl nicht mehr viel übrig, wir werden nun doch wohl mit John Streckmann zusammengehen müssen…« »War das nicht schon immer Ihre Idee?«
»Ehrlich gesagt, ja. Streckmann ist ein verdammt guter Partner – wär’s auch gewesen, als Herbert noch lebte… ich hab’s ja selbst erfahren…« »Heißt das, daß Sie schon länger Kontakt hatten?« »Ja. Und?« »Sie wollten also Ihre Einlagen mit Streckmanns Wissen aus der Firma Schaerbaum nehmen?« Schultzendorff versteht nicht ganz, warum das so wichtig ist, und so liefert er die Antwort auf eine mögliche dritte Frage freiwillig. »Streckmann hat mich förmlich dazu gedrängt, mein Geld zu viel besseren Konditionen bei ihm unterzubringen!« »Danke!« sagt Trimmel. Aufatmend wie ein Regisseur, der eine gute Szene im Kasten hat.
Es ist inzwischen ein Krimi mit vertauschten Rollen. Der Chef läuft sich die Beine ab, klappert möglichst viele Adressen von der Liste der sogenannten IFA-Bestohlenen ab und erfährt nicht mehr und nicht weniger, als daß drei von ihnen Streckmann gekannt hatten; er, außerdem, hatte ihnen die Firma IFA für ihren geplanten Urlaub empfohlen. Und zur gleichen Zeit erledigen Trimmels Leute, sonst immer die Laufburschen, die andere Arbeit – die eigentliche und wichtigere, die zwar dazu führen soll, einen, wenn nicht zwei Mörder zu fangen, im Augenblick aber noch die viel, viel ruhigere ist. Petersen und Laumen haben sich nach wie vor an die Abmachung gehalten, die elegante IFA nicht von vorn anzugreifen, und gehen deshalb, wie verabredet, mit Höffgen und Grundler gemeinsam auf Fallenstellerei. Notdürftig als harmlose Lieferanten verkleidet gehen sie allesamt, wenngleich in Abständen, von hinten an den Palazzo
Streckmann heran; der Schlüssel, den der Hausherr der Polizei gegeben hatte, hat auf Anhieb gepaßt, und sie sind drin. Für wie lange? Sie wissen es nicht. Für alle Fälle haben sie außer einem Tonbandgerät, das sie brauchen, Tee, Kaffee und Brote für einen Tag dabei. Von einem Erkerfenster aus, geschützt durch eine schwere Seidengardine, entdeckt Höffgen plötzlich einen im überdachten Hauseingang liegenden Blumenstrauß. Er ist alarmiert und ruft Grundler herbei, und der gerät erwartungsgemäß fast aus dem Häuschen. »Trick siebzehn! Die Typen haben angebissen! Wenn bis heute abend keiner die Blumen reingeholt hat, glauben sie, daß die Luft sauber ist!« Bis dahin schiebt die Polizei Wache und hält sorgsam Vorder- und Hinterfront im Auge. Höffgen installiert das Tonband hinter dem Schreibtisch, verlegt das Kabel für die Fernsteuerung sorgfältig bis in einen Einbauschrank, stellt sich dann probeweise in den Schrank und jagt den anderen von da aus einen Heidenschreck ein. Nur ein Druck auf die Steuertaste, und vom Tonband dröhnt Petersens Stimme: »Lassen Sie Ihre Waffen fallen, heben Sie Ihre Hände hoch, hier spricht die Polizei!« »Du dumme Sau!« sagt Petersen. »Was willste denn?« fragt Höffgen. »Klappt doch ganz ausgezeichnet!« Laumen grinst. »Ich möcht’ bloß wissen, warum Trimmel sich die Schau entgehen läßt!« Grundler vermutet: »Wahrscheinlich, weil er hier ja nicht rauchen dürfte…« Daraufhin erteilen ihm die anderen das strikte Verbot, vor dem Ende der Aktion, egal, wie’s ausgeht, auch nur noch einmal vom Rauchen zu reden.
Trimmel, telefonisch informiert, ist immer noch skeptisch, ob die Falle funktioniert. Aber seit dem Antrittsbesuch in Herbert Schaerbaums Firma drängt’s ihn immer heftiger, dem cleveren Streckmann was am Zeug zu flicken – und so läuft er und läuft und läuft, und auf einmal, zwischen zwei Vernehmungen, läuft ihm beim Pressehaus scheinbar zufällig Gerber über den Weg. »Was reden die Leute denn so?« fragt der Mittag-Reporter. »Fragen Sie sie doch selber!« knurrt Trimmel. »Guter Tip!« grinst Gerber. Trimmel überlegt. »Kommen Sie, wir trinken einen Kaffee!« sagt er kurzentschlossen. Erst gegen einundzwanzig Uhr trifft er wieder in seinem Büro ein und richtet sich dort für die Nacht ein. Gegen 21.30 Uhr liegt Höffgen lang auf dem Teppich, hält die Armbanduhr in einen Lichtspalt, der von der Straße her in das Zimmer fällt, und flüstert mürrisch: »Wird das denn heute gar nicht mehr später?« »Stell die Uhr doch vor!« schlägt Grundler vom Fenster her vor – mit normaler Lautstärke. Höffgen gähnt herzerweichend. »Sehr witzig!« Er starrt in das fast stockdunkle Zimmer, auf den riesigen Einbauschrank, der dem Schreibtisch mit dem Tonband gegenübersteht und dessen Tür sich unauffällig anlehnen läßt; vier erwachsene Männer können sich locker darin verstecken. »Im Grunde könnt’ ich hier ja noch viel länger…« »Still!« zischt Grundler plötzlich.
Viel früher als erwartet – um 21.50 Uhr – stehen die Einbrecher Carstens und Aljahren vor dem Blumenstrauß im Eingang des Hauses Streckmann, den Aljahren frühmorgens dort abgelegt hatte. »Na?« sagt Carstens stolz.
Aljahren nickt, schlägt mit dem mitgebrachten Ziegelstein die Scheibe des Fensters neben der Haustür ein und öffnet das Fenster von innen. Sie steigen ein, leuchten planlos ein bißchen in der großen Diele und dann im Parterre herum, werfen eine Madonna vom Sockel, die zwar weich auf den Veloursboden fällt, aber trotzdem dabei ihr Kind verliert – und schleichen schließlich in den ersten Stock. »Schöner Spiegel!« sagt Carstens laut. Aljahren erschrickt sich fast zu Tode. »Schrei doch nicht so!« »Reg dich ab, hier ist kein Mensch!« Trotzdem hat Aljahren Angst. Sie öffnen und schließen ein paar Türen, sind immer noch der Ansicht, daß sie jede Menge Zeit haben, und kommen in das riesige Wohn-Arbeits-Zimmer des Hausherrn. »Hier fangen wir an!« beschließt Carstens. Aber dann ist Höffgen im Einbauschrank nicht mehr in der Lage, die Luft anzuhalten. Er stößt Petersen an, glaubt zu spüren, wie der nickt – und drückt die Taste der Fernsteuerung. »Lassen Sie Ihre Waffen fallen, heben Sie Ihre Hände hoch, hier spricht die Polizei!« Petersens scharfe, norddeutsche Stimme. Dazwischen – von Waffen an – zwei, drei, vier Schüsse, dünn und scharf aus der Sechsfünfunddreißig, und viermal bläuliches Blitzlicht… Carstens hat in Richtung Tonband geschossen, und Höffgen und Petersen sind aus der anderen Richtung hinter ihm, bevor das Magazin leer ist. »Nun reicht’s!« sagt Petersen, als er ihn niederschlägt. Aljahren hat die Hände oben, läßt sich von Laumen und Grundler nach Waffen absuchen, die er nicht mehr bei sich hat, seit Carstens Schaerbaum erschossen hat, und läßt sich widerstandslos, völlig geschockt, Handfesseln anlegen.
Höffgen, der Pedant, steckt die Pistole von Carstens ein, holt ihm noch ein Messer aus der Tasche, fesselt ihn ebenfalls und schaltet das Tonbandgerät aus. »Ruft einer an?« sagt er, setzt sich stolz in einen Sessel und überblickt die Lage. »War ja ziemlich riskant«, sagt Petersen, als er Trimmels Nummer wählt. »Vier Nasen gegen zwei Mörder…« »Sind doch Amateure!« meint Höffgen lässig. Und urplötzlich prustet er los, ohne ersichtlichen Grund. Das erste, was Trimmel dann am Telefon zu hören bekommt, ist ein hysterisches Gelächter seiner siegreichen Truppe.
Ernst wird es wieder bei den Vernehmungen – bitter ernst wie immer, wenn die bittere Routine hereinbricht. Ein paar Stunden noch in dieser Nacht und anschließend den ganzen nächsten Tag. Eine späte Pointe für Laumen: die IFAAngestellte, die von der Mönckebergstraße an von ihm verfolgt worden war, ist tatsächlich die Freundin von Carstens und, wie sie gesteht, die Tipgeberin. Abermals einen Tag später stehen in allen deutschen Zeitungen mehr oder weniger ausführliche Berichte von der Festnahme der lange gesuchten Serieneinbrecher Carstens und Aljahren, von denen mindestens einer ein Mörder ist – von der Aufklärung des Falles Schaerbaum also. Aber nur eine Gazette – der Mittag – stellt die Überlegung an, daß möglicherweise beide Täter lebenslänglich kriegen – und auch nur der Mittag kündigt für den nächsten Tag ausdrücklich noch einen großen Hintergrundbericht an. Von John Streckmann hört und sieht Trimmel bis zu diesem Nachmittag und Abend überhaupt nichts.
Streckmann kommt weitere zwanzig Stunden danach gegen vierzehn Uhr, wirkt fast, als sei er ein bißchen außer Atem, was bei ihm im Grunde nicht vorkommen dürfte, und erklärt glückstrahlend: »Das ist ja wirklich ein Ding!« »Sie sind aber schnell geflogen!« staunt Trimmel. »Von der Südsee bis Hamburg…« »Also, hören Sie«, grinst Streckmann. »Haben Sie ernsthaft geglaubt, ich würde in dieser Situation nach Tahiti oder BoraBora fliegen?« »Wo waren Sie denn wirklich?« »In London«, sagt Streckmann ungeduldig. »Spielt doch keine Rolle – ich hab’ unsere dortige Niederlassung besucht, war mal fällig…« »So, so. Und jetzt kommen Sie vom Flughafen?« »Direkt! Nachdem ich gestern am späten Abend in London erfuhr, daß die Einbrecher… Mörder muß man ja sagen, Herberts Mörder…« »Aber sonst«, sagt Trimmel hinterhältig, »sonst haben Sie nichts erfahren?« Streckmann schüttelt den Kopf, etwas erstaunt. »Darum bin ich ja hier! Ich dachte eigentlich, Sie könnten mir liebenswürdigerweise…« »Wollen mal sehen!« Trimmel greift sich die rote Akte, rot wie Mord, die zuvor scheinbar ziellos auf seinen Stapel von roten Akten geworfen worden ist, und blättert scheinbar ziellos in ihr herum. Dabei fragt er scheinbar beiläufig: »Das Trauerjahr werden Sie ja vermutlich abwarten, oder?« »Trauerjahr?« fragt Streckmann konsterniert. »Wie meinen Sie das?« »Unter anderem geschäftlich…«, erwidert Trimmel und blättert weiter.
»Unsinn!« sagt Streckmann tadelnd. »So scharf bin ich nun auch nicht auf Herberts Firma! Bin ich nicht der erste gewesen, der Sie auf Schaerbaums finanzielle Schwierigkeiten aufmerksam gemacht hat?« »Gut, dann eben wegen anderer möglicher Fusionen, die sich hier anbieten…« Streckmann denkt nach, bevor er zu lachen beginnt. »Denken Sie an eine Ehe zwischen mir und Marion?« »Eine hübsche Frau«, meint Trimmel. »Wie Sie mir schon ankündigten…« Der Mann lacht immer noch: das in Hamburg weithin bekannte und oft auch gefürchtete Streckmann-Lachen, siegessicher, unwiderstehlich, rücksichtslos bis zum letzten, dabei nicht mal besonders laut. »Ich bewundere rückhaltlos Ihre Leistung als Polizeibeamter, Herr Trimmel! Meine bescheidene Idee in Ehren – aber wie Sie damit umgegangen sind und den Mordfall Schaerbaum geklärt haben: Respekt, Respekt! Um so weniger allerdings verstehe ich, wieso Sie mir hier offensichtlich beibringen wollen, ich empfände das plötzliche Ableben meines Freundes Herbert ausschließlich und gewissermaßen rundum als Geschenk des Himmels…« »Also – Geschenk ist möglicherweise nicht ganz das richtige Wort«, sagt Trimmel. »Sondern?« Endlich erstirbt der letzte Lacher. »Man ist anscheinend der Ansicht, daß Sie sich das alles redlich verdient hätten – das heißt, ich muß mich verbessern, weniger redlich als vielmehr auf eine reichlich anstrengende Weise verdient…« Ein starker Satz. Stark genug eigentlich, um hart zurückzuschlagen. Aber Leute wie Streckmann prügeln sich nicht. »Wer, bitte, ist man? Würden Sie sich erklären, Herr Trimmel?«
Der Chef der Ständigen Mordkommission nickt. Er hat allem Anschein nach endlich die Aktenseite gefunden, die er suchte; seltsam nur, daß es die erste Seite war. »John Albert Streckmann«, liest er vor, »war mit der Ehefrau des Ermordeten sehr eng befreundet. Diese Tatsache ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie wesentlich zum Verständnis aller folgenden Ereignisse beiträgt…« Pause. »Wie ich unsere Justiz kenne«, sagt Streckmann bedächtig, »ist sie am Schutz der Privatsphäre der Bürger erfreulich umfangreich interessiert. Wenn Sie also die Absicht haben, meine Beziehungen zu Marion Schaerbaum überflüssigerweise in Ihren Abschlußbericht für den Staatsanwalt aufzunehmen, könnte ich mir vorstellen…« Trimmel widerspricht mit keiner Silbe. »Haben Sie mich verstanden, Herr Trimmel?« Statt einer Antwort liest Trimmel weiter. »Freunde des ermordeten Herbert Schaerbaum erinnern sich, daß Streckmann ihn zu seiner Reise nach Puerto Rico seit längerem zu überreden versuchte. Schließlich gab Schaerbaum diesem Drängen nach und buchte seine Flugreise nach Puerto Rico, die er dann allerdings, aus mehr oder weniger naheliegenden Gründen, nach wenigen Tagen wieder beendete…« »Was heißt das?« »Na – das, was hier steht!« sagt Trimmel verwundert. »Ich könnte mir vorstellen, daß er da drüben allmählich wahnsinnig wurde vor Eifersucht!« »Mann Gottes«, sagt Streckmann vorwurfsvoll, »ich weiß ja echt nicht, warum ich mir das anhöre…« »Sie sind doch freiwillig hier!« erinnert ihn Trimmel und nimmt sich wieder die Akte vor. »Immerhin bestätigte uns Marion Schaerbaum, die Witwe des Toten, daß Streckmann ihr nach dem Verbrechen und vor dem Beginn einer eigenen Reise
›bewundernswert freundschaftlich‹ – das steht hier in Gänsefüßchen, Herr Streckmann! – beigestanden habe. Frau Schaerbaum bestätigte ebenso, daß Streckmann und ihr Mann enge geschäftliche und private Kontakte unterhalten und kurz vor einem besonders wichtigen Gespräch gestanden hätten – möglicherweise den abschließenden Verhandlungen über ein Zusammengehen der beiden Firmen…« »Im Grunde sind das ja wirklich meine Privatangelegenheiten…«, sagt Streckmann beiläufig. »Hören Sie sich das erst mal zu Ende an!« schlägt Trimmel vor. »Weder Frau Schaerbaum noch die derzeitigen Repräsentanten der Firma Schaerbaum bestritten im übrigen, daß Herbert Schaerbaum von John Streckmann zu eben jener Reise nach San Juan angeregt worden war, Ausrufezeichen, Absatz. Streckmann war es ferner auch, der, ebenso wie im Fall Schaerbaum, mehreren seiner Bekannten riet, ihre kombinierten Urlaubs- und Geschäftsreisen über die Reiseunternehmung IFA zu buchen. Und in drei uns bekannten Fällen wurden die Reisenden – der Spediteur Jochen M. der Reeder Helmut Z. sowie der Versicherungsgeneralagent Wilhelm K. – während ihrer Abwesenheit denn auch prompt von Einbrechern heimgesucht…« »Mehr nicht?« sagt Streckmann sarkastisch. »Hören Sie doch auf mit dem kalten Kaffee!« Trimmel aber läßt sich nicht mehr stoppen. »Die Kripo hat inzwischen ermittelt, daß eine Angestellte der IFA mit einem der beiden Serieneinbrecher befreundet war und ihm von Fall zu Fall mitteilte, daß das Haus des betreffenden IFA-Kunden die nächste Zeit leerstehen würde. Sowohl gegen diese Angestellte als auch gegen die Einbrecher selbst – die dann halbwegs zufällig zu Mördern geworden sein dürften – hat ein Hamburger Richter inzwischen Haftbefehl erlassen…«
»Interessant…«, murmelt John Streckmann. Er ahnt ganz offensichtlich nicht, was jetzt kommt. »Unsere Recherchen haben inzwischen allerdings auch ergeben, daß zumindest der dringende Verdacht besteht, Streckmann habe schon seit einiger Zeit von einem Zusammenhang zwischen IFA und den Einbrüchen gewußt. Dadurch allerdings gerät der Millionär in ein zweifach schiefes Licht: Erstens hat er es offenbar versäumt, seinen Verdacht, der ihm vermutlich durch eigene Kombinationen gekommen war, den Behörden zu offenbaren und auf diese Weise einer gefährlichen Einbrechergruppe das Handwerk zu legen. Zweitens aber spricht einiges dafür, daß John Streckmann seinen Freund Herbert Schaerbaum aus äußerst persönlichen Gründen aus Hamburg weggeschickt hat, obgleich er wissen konnte, daß Schaerbaum Gefahr lief, in dieser Zeit ausgeplündert zu werden…« Streckmann springt so heftig auf, daß sein Stuhl nach hinten umkippt. »Nun reicht’s!« sagt er. »Gnade Ihnen Gott, wenn irgendwas von diesen Albernheiten über Ihren Abschlußbericht an die Öffentlichkeit…« Trimmel wiegt bedauernd den Kopf. »Ist doch schon!« sagt er. »Ist doch längst öffentlich!« Er läßt den Aktenverschluß aufspringen, nimmt das Blatt, von dem er abgelesen hat, heraus und reicht es Streckmann über den Tisch. »Ich versteh’ gar nicht, was Sie da immer von unserem Abschlußbericht faseln… hier, bitte…« Eine Zeitungsseite. Die Titelseite des Mittag von heute. Ein Bericht von Robert Gerber. Die balkenhohe Schlagzeile lautet: HINTERGRÜNDE IM SENSATIONSMORDFALL HERBERT SCHAERBAUM! Und die Zeile darunter ist auch nicht gerade viel kleiner:
WIE SCHWER WIEGT DIE MORALISCHE SCHULD EINES HAMBURGER MILLIONÄRS? »Ich bin ruiniert!« sagt Streckmann nach einer Weile mit tonloser Stimme. »Sicher«, sagt Trimmel, »so schnell nimmt von Ihnen keiner mehr was geschenkt. Aber das haben Sie sich ja weiß Gott selber zuzuschreiben!« Streckmann starrt ihn an. »Dahinter stecken doch Sie! Das haben Sie doch veranlaßt!« »Ich?« entrüstet sich Trimmel. Er deutet auf das Ende des Berichts. »Vielleicht lesen Sie das mal!« Sowohl der für den Fall Herbert Schaerbaum zuständige Kriminalhauptkommissar Trimmel als auch die Pressestelle der Polizei lehnten zu den hier geschilderten Tatsachen jeden Kommentar ab. »Sie… Sie sind…« »Was denn?« fragt Trimmel. Aber er erfährt es weder jetzt noch später. Streckmann geht davon als Geschlagener. Er hätte sich die Zeitung – was er, zu Trimmels klammheimlicher Freude, nicht getan hatte – schon bei seiner Ankunft aus London am Flughafen kaufen können. Allerdings hätte er auch dann buchstäblich nichts mehr ändern können. Draußen geht der Sommer zu Ende, der nicht einmal die eine berühmte Woche alt geworden ist: schwarze Wolken ziehen von Harburg her auf – aber nicht für mich, denkt Trimmel zufrieden, diesmal nicht… Mit dem letzten Satz hat Robert Gerber sein Werk gekrönt, sich und anderen freies Schußfeld geschaffen und ganze Arbeit geleistet. Bessere vielleicht als Trimmel selbst in diesem Fall oder sogar der liebe Gott, den Trimmel im Zweifelsfall viel zu oft im Munde führt, weil er die Übeltäter dieser Welt angeblich alle kriegt.
Die clevere Rechtsabteilung des Mittag wird sicher gewußt haben, sagt sich Trimmel, was sie mit der Veröffentlichung der schmutzigen Wäsche, die gleichwohl einen Haufen Leser bringen dürfte, riskiert – sie wird sich leicht mit der Wahrnehmung öffentlicher Interessen herausreden können, wenn Streckmann wider Erwarten den Kadi bemühen sollte. So gesehen sind Zeitungsleute allemal besser dran als die Kripo – gerade bei Millionären, die vom Schicksal gestraft sind, wenn schon nicht offiziell von Trimmel. Er seufzt vor sich hin, ausnahmsweise mal mit sich und der Welt zufrieden. Und als Höffgen zehn Minuten später bei ihm aufkreuzt, liest er, die Beine auf dem Tisch, offenbar besten Gewissens schon die nächste Akte von oben.
Mörder auf dem toten Gleis
Der Sommerhimmel ist von morgens bis spätnachmittags grau, der Sommerregen ist kalt, der August, sagen die Zeitungen, ist der ungemütlichste August seit sechsundzwanzig Jahren. »Typisch Hamburg!« sagen die Hamburger. Und in höheren Lagen, liest Trimmel fassungslos, ist idiotischerweise bereits mit Schneefall zu rechnen! »Was soll das?« fragt Trimmel. »Siehst du nicht, daß ich zu tun habe?« Petersen legt ihm ein dünnes Päckchen Fernschreiben neben die Zeitung und sagt gleichgültig: »Dann werfen Sie’s doch weg. Obwohl, dieser Bankraub gestern in Ulm, zwei Leute einfach umgenietet…« »Ulm ist weit weg!« entscheidet Trimmel. »Oberbayern auch«, sagt Petersen. »Erinnern Sie sich doch bloß an diese beiden Minikidnapper… ich weiß ja auch nicht, was die Leute immer hier in die Gegend treibt…« Im Grunde allerdings weiß er’s: Sicherlich ist’s die Reeperbahn, unter anderem. Die sündigste Meile der Welt mit dem dichtesten Spitzelnetz der Bundesrepublik. Nur weiß das kaum jeder dritte all jener Ganoven, die hier immer wieder versuchen, mit ihrer meist nur mittelgroßen Beute den großen Max zu markieren. Trimmel antwortet nicht. Petersen geht zurück ins Vorzimmer, um für sich und Höffgen Kaffee zu kochen. »Krieg ich etwa keinen?« ruft Trimmel, sobald er das Klappern hört. Er wirft das Päckchen Fernschreiben tatsächlich in den Papierkorb, die langweilige Zeitung mit den üblichen Greuelnachrichten hinterher, ächzt, stöhnt, nimmt die Beine
mühsam vom Schreibtisch und sieht aus dem Fenster des Polizeihochhauses elf Stockwerke tief auf Hamburg herab. Es regnet. Typisch Hamburg. Daß es außerdem seit fast zwei Wochen auch in ganz Deutschland regnet, ist aus Hamburger Sicht höchstens ein nichtssagender Zufall. Später kommt Laumen klatschnaß von einer Überprüfung zurück. Er hat den Mittag mitgebracht, die letzte Ausgabe; die Zeitung wird von Trimmel sofort beschlagnahmt. Auf der Titelseite die Fotos von zwei Herren ohne Kragen und Krawatte namens Blei und Bindermann – die mutmaßlichen Räuber und Mörder von Ulm, offenbar alte Bekannte der deutschen Erkennungsdienste, bei früherer Gelegenheit abgelichtet von einem Polizeifotografen. Dazu die Zeile: Zwei Familienväter starben im Kugelhagel der Gangster! Und im Text die Nachricht, daß 165000 Mark mit den Gangstern verschwunden sind. Trimmel steht auf und geht zu seinen Leuten. »Habt ihr das gelesen?« fragt er entrüstet. »Ja – vorhin im Fernschreiben!« sagt Petersen spitz. »Aha!« sagt Trimmel mürrisch, aber halbwegs friedlich. Und dann landet auch der Mittag im Papierkorb. Blei und Bindermann mit dem Gesicht nach unten. Es wird ein Abend, an dem die Leute von der Hamburger Kriminalinspektion 1 offenbar zu faul oder zu wasserscheu sind, nach Hause oder wenigstens in die Kneipe zu gehen.
Die Sache von Ulm indessen rollt auf sie zu, meist mit weit über hundert Stundenkilometern, wenn auch mit zehn Minuten Verspätung.
Im Hauptbahnhof von Hannover steht der Trans-EuropExpreß Blauer Enzian unter Strom, und der Lautsprecher gibt bekannt, daß der Zug vor der Weiterfahrt nach Hamburg erst noch den verspätet eintreffenden Trans-Europ-Expreß Roland abwarten muß. Der Zugführer des Blauen Enzian mosert den Fahrdienstleiter an: »Ich möcht’ einmal erleben, daß wir hier pünktlich rauskommen!« Ein weiblicher Fahrgast, eine attraktive Enddreißigerin, sorgt sich: »Mein Mann muß ja nicht unbedingt wissen, daß ich in Hannover war!« Der Mann aber, der die Frau zum Zug gebracht hat, sagt tröstend: »Vielleicht holt er’s bis Hamburg wieder rein!« Schließlich wieder der Lautsprecher: »Auf Gleis neun hat jetzt Einfahrt der verspätete Trans-Europ-Expreß Roland von Mailand nach Bremen. Dieser Zug führt nur die erste Wagenklasse mit erhöhtem…« »Zuschlag!« ergänzt der Zugführer des Blauen Enzian, als von einem anderen Gleis eine Lok kreischend dazwischenpfeift. Zehn Minuten – das geht gerade noch. Vor allem im Dauerregen. Es hat schon erheblich längeren Ärger in Hannover gegeben, der Kreuzung zwischen den beiden großen Zügen von Klagenfurt und München nach Hamburg und von Mailand nach Bremen. Beruhigt kauft sich Zugführer Erwin Mohr rasch noch eine Zeitung.
Alfred Blei und Hans Bindermann, Fahrgäste mit erhöhtem Zuschlag und zur Zeit auch Pulsschlag, stehen mit vier gewichtigen Reisetaschen auf der Plattform vor einer
Ausgangstür des Roland und starren in die vorbeihuschenden Lichter von Hannover. Die Lichter werden langsamer. Leichtes Quietschen der Bremsen; auch ein TEE ist nicht hundertprozentig wasserfest. Endlich der Hauptbahnhof. »Gott sei Dank«, sagt Blei, »da drüben steht er!« »Wär’ ja wohl nicht der letzte Zug nach Hamburg gewesen!« sagt Bindermann. »Aber so ist’s besser!« entscheidet Blei. Immer muß er recht haben, sogar noch auf der Flucht. »Erst mal einen drauf machen…« »Angst hast du wohl keine?« Da lacht der andere nur. »Noch zwei Stunden, Kumpel. Tausend nackte…« Aber den Rest verschluckt er, weil sie ziemlich dicht am Zugführer des Blauen Enzian vorbeikommen – und weil sich, wie der Lautsprecher sagt, Reisende zum Blauen Enzian nach Hamburg bitte beeilen sollen. »Nur zu gern!« sagt Alfred Blei begeistert. Er kriegt mit, wie an der Tür neben ihm die vorhin so besorgte Dame von ihrem Begleiter einen Fünfzigmarkschein bekommt. »Wenn ich dir schon keine Blumen schenken kann, Linda«, sagt der Mann traurig. »Was soll das?« fragt Linda verblüfft. »Trink ein Glas Champagner auf uns!« sagt der Mensch. »Du hast fast anderthalb Stunden Zeit…« Da küßt sie ihn, und Blei grinst und pfeift durch die Zähne. Ein Abschied ist immer was Schönes, wenn man ihn nicht selbst erlebt. Fast gleichzeitig rollen die großen bunten Züge dann aus der lauten Halle in den stillen Abend, beide dünn besetzt, fast nur mit Männern – der Blaue Enzian immerhin mit einer Ehefrau
auf Abwegen und zwei mörderischen Gangstern samt ihrer Beute an Bord. Genau elf Minuten Verspätung.
Als Linda Jürgens den Speisewagen betritt, sitzen nur zwei Männer an einem Vierertisch, offenbar gerade zugestiegen und schon um Bier und Bommerlunder bemüht. Linda wird gemustert, ärgert sich leicht, was sie bei solchen Gelegenheiten sonst selten tut, und setzt sich möglichst weit weg von den beiden. Oberkellner Giuseppe Verone steuert sofort auf sie zu und sagt strahlend und in perfektem Deutsch: »Guten Abend, gnädige Frau!« Sie blättert nur kurz durch die Karte. »Die halbe Hasche Heidsieck, bitte!« »Sehr gern, gnädige Frau!« Während Verone den Champagner aus der Eisbox holt, kommen Blei und Bindermann sowie zwei weitere Herren herein. Damit befinden sich dann im Speisewagen, gut verteilt, insgesamt sieben Fahrgäste. Verone bedient sich selbst, weil er sich langweilt. Kaum anzunehmen, daß bis Hamburg noch mehr Publikum erscheint.
Zugführer Mohr hat ein Problem mit seinem Schaffner. Der Mann sitzt im Dienstabteil, atmet schwer, stöhnt bitter vor sich hin. »Immer noch Migräne?« fragt Mohr. »Ooouuuhh…« Es zerreißt ihm den Schädel und krempelt den Magen um.
»Dann bleib sitzen!« entscheidet Mohr. »Ich mach’ für dich die Kontrollen!« Nur noch schnell ein Blick auf die Zeitung mit den Bildern der beiden Bankräuber: Erkennen wäre zuviel gesagt. Allenfalls ein Stutzen, als hätte er die Männer irgendwann mal gesehen, nicht unbedingt vor ein paar Minuten. Erwin Mohr geht durch den Zug. Er rechnet sich am immer schnelleren Rollen der Räder aus, daß der Zug schon vor Celle mindestens zwei Minuten Verspätung wieder eingeholt hat.
Bindermann im Speisewagen steht auf, kaum, daß er den ersten Schluck Bier getrunken hat, und sagt: »Ich glaub’, mir ist was auf die Blase geschlagen!« Sein Pech ist es, daß er auf dem Weg zur Toilette dem Zugführer begegnet. Und diesmal funkt es bei Erwin Mohr, und vor Entsetzen bleibt ihm fast das Herz stehen: Mörder! Doppelmörder im Zug! Wie ist das, um Himmels willen, mit den Dienstvorschriften der Deutschen Bundesbahn vereinbar? Erwin Mohr sieht, daß der Mann aus dem Speisewagen gekommen ist. Er läuft zurück ins Dienstabteil, guckt sich die Fotos in der Zeitung an, geht wieder nach vorn, sieht Blei und den gerade zurückgekommenen Bindermann gemeinsam beim Bier sitzen, geht geschäftig und möglichst unauffällig noch einen Wagen weiter nach vorn und läßt sich auf den Sitz in einem leeren Abteil fallen. Inzwischen stöhnt schon das halbe Zugbegleitpersonal. Wohin soll das noch führen, bei weit über hundert Kilometern in der Stunde?
Die beschäftigungslose Zugsekretärin Uschi Leichsenring malt sich die Fingernägel an und hat dabei den Telefonhörer ans Ohr geklemmt. »…doch noch ziemlich pünktlich«, plappert sie, »ich glaub’, du kannst allmählich losfahren, Hauptbahnhof, klar, natürlich lieb’ ich dich… Moment mal…« Mohr reißt die Tür auf, macht sie schleunigst wieder zu, reißt Uschi den Hörer vom Ohr, drückt auf die Gabel. »Gib mir sofort die Kripo Hamburg!« zischt er. Uschi wählt ihre Zentrale, meldet sich mit zitternder Stimme als ›TEE 90‹ und verlangt das Polizeipräsidium Hamburg – mit Gebühren. Wer die dann bezahlt, ist noch unklar. Mohr nimmt ihr den Hörer wieder ab. »Bitte die Mordkommission!« sagt er amtlich. Die erste Nachricht aus dem nur noch leicht verspäteten Blauen Enzian läuft somit zuständigkeitshalber bei der Kriminalinspektion 1 auf.
»Ferngespräch?« sagt Höffgen zur Polizeizentrale. »Ja, geben Sie… Ja, hier Kriminalinspektion 1, Kriminalhauptmeister Höffgen… wer sind Sie?« Mohr im Zuge sagt ihm, wer er ist, aber der Draht knistert, und Höffgen kriegt’s erst mal in den völlig falschen Hals. »Moment mal!« sagt er und hält die Sprechmuschel zu. Trimmel und die anderen sehen, wie er heftig grinst. »Da will uns einer Enzian verkaufen oder so…« Trimmel nimmt Höffgen den Hörer aus der Hand. »Ja, hier Trimmel… was sind Sie? Zugführer? Zugführer Mohr, Mohr wie Mohr, im Blauen Enzian… ach so, der Zug heißt Blauer Enzian, aha… und von dort aus rufen Sie an?« Plötzlich ist die Leitung knisterfrei, und Mohr spricht so überbetont deutlich, daß es jeder im Raum versteht.
»Herr Kommissar, ich bin mir absolut sicher, daß in diesem Zug die beiden Bankräuber Blei und Bindermann sitzen, die gestern in Ulm hundertfünfundsechzigtausend Mark erbeutet und dabei zwei Menschen ermordet haben… so steht das jedenfalls in der Zeitung…« »Im Mittag?« fragt Trimmel sofort. »Ja – im Mittag… ich hab’ ihn vorhin in Hannover gekauft, und…« Petersen hat Trimmels Papierkorb bereits umgestülpt. Draußen rennt plötzlich eine Sturmböe gegen das Polizeihochhaus an und peitscht den Regen gegen die Scheiben, heftiger als in all den Stunden zuvor. Die Finsternis wird immer tiefer. »Wann kommen Sie in Hamburg an?« fragt Trimmel. »Planmäßig sind wir zweiundzwanzig Uhr vierunddreißig am Hauptbahnhof… im Moment haben wir allerdings noch ein paar Minuten Verspätung…« »Wo sitzen die Männer?« »Zur Zeit im Speisewagen…« »Betrunken?« »Nein, nein…« »Allein?« »Nein, sag’ ich doch – zu zweit!« »Ich meine, ob noch andere Leute im Speisewagen…« »Ja, leider… aber ich könnte…« »Sie können gar nichts!« sagt Trimmel laut. »Nicht mal wir können da mehr machen, als pünktlich am Hauptbahnhof zu sein und die beiden… Moment mal!« Laumen, der am dichtesten bei Trimmel steht, flüstert sehr leise, damit Mohr nichts versteht: »Aber am Hauptbahnhof sind doch tausend Leute!«
»Ich könnte auf jeden Fall versuchen, die Kerle im Speisewagen einzusperren!« tönt die energische Stimme aus dem Blauen Enzian dazwischen. »Den Teufel werden Sie versuchen!« sagt Trimmel heftig in den Hörer. »Sie werden nichts tun, was für irgend jemanden gefährlich werden kann! Haben Sie kapiert?« »Es war laut genug!« »Also!« »Und?« »Diese Leitung bleibt als Dauerleitung stehen!« entscheidet Trimmel. »Und Sie sind gefälligst immer zu erreichen!«
»Typisch Beamter!« sagt Erwin Mohr wütend, als im Zugsekretariat der Hörer neben dem Telefon liegt. Die Sekretärin starrt ihn leer und entsetzt an. Mohr geht auf den Gang, sieht sich unauffällig um, blickt zurück ins Abteil und befiehlt: »Halt die Stellung, Mädchen, sonst gibt’s hier ein Unglück!« »Ja – sicher!« sagt Uschi Leichsenring mit bebender Stimme und nimmt den Hörer ans Ohr. Der Zugführer hat hier zwar nicht ganz so viele Vollmachten wie ein Captain im Flugzeug, aber doch einige. Und davon, beschließt Mohr, wird er Gebrauch machen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Noch ziemlich genau eine Stunde bis Hamburg. Geiselnahme! geht’s Mohr durch den Kopf. Schießerei im TEE fordert mehrere… ach Quatsch, das ist doch absurd! Denn ein Zug kann weder abstürzen noch sofort entgleisen, wenn zufällig ein Loch in die Außenwand geballert würde! Er geht festen Schrittes zurück zum Speisewagen, breitbeinig wie Gary Cooper in High Noon, um das Schlingern des Zuges auszugleichen, und tritt ein.
Immer noch sieben Personen sitzen im Speisewagen. Mohr am nächsten, vor einem halbleeren Fläschchen Champagner, eine Dame, die mit leicht verträumtem Gesicht an einem Buschwindröschen der Tischdekoration riecht. »Bitte die Fahrkarten, gnä’ Frau!« sagt Mohr. Sie schrickt zusammen. »Ach so… ja…« Die Fahrkarten sind in Ordnung. Auch bei den nächsten beiden Fahrgästen, die, wie der Zugführer hört, über ein medizinisches Problem reden. Gott sei Dank sind die Fahrkarten der beiden Schnaps-undBier-Trinker zwei Tische daneben zumindest nicht ganz in Ordnung. Mohr runzelt die Stirn. »Sie wollen von Düsseldorf über Hannover nach Hamburg?« »Ja – und?« sagte der eine. »Das ist leider ein kleiner Umweg!« bedauert Mohr. »Ungefähr vierzig Kilometer mehr als der direkte Weg über Münster, Bremen… es ist deshalb etwas teurer, und wenn ich Sie bitten dürfte…« »Wieviel?« »Muß ich rechnen. Wenn ich, wie gesagt, bitten dürfte, für einen Moment mit ins Dienstabteil zu kommen…« »Wir? Wir mit Ihnen?« »Ja!« »Also, ehrlich! Statt daß Sie froh sind, daß man überhaupt noch mit der Bundesbahn…« Dann aber sieht der Mann, der wie sein Gegenüber mittelschwer angetrunken ist, daß der Zugführer – mit dem Rücken zu den bisher nicht kontrollierten Fahrgästen Blei und Bindermann – ihn starr anschaut. Daß die Lippen lautlos das Wort ›bitte‹ formen… Der Mann begreift nur, daß etwas im Gang ist, das er nicht begreift. »Na, schön«, sagt er, »komm, Oskar, tun wir ihm den Gefallen!«
Zu dritt gehen sie – wieder zurück in Richtung Zugsekretärin – aus dem Speisewagen. Und dabei wächst Erwin Mohr über sich selbst hinaus. Erstens gelingt’s ihm, dem Oberkellner Giuseppe Verone zuzuflüstern, auch er möge ihm schleunigst und unauffällig folgen. Zweitens entdeckt er an einem Aktenkoffer im Gepäcknetz über dem Tisch der beiden mutmaßlichen Mediziner ein Namensschild. Dr. E. Grasshoff. Möglicherweise, denkt er, ist das ja tatsächlich Gold wert in dieser Situation.
Sie gehen zum Kriegsrat in Uschis Sekretariat. Mohr, Giuseppe Verone und die beiden Fahrgäste, die sich, nach Aufforderung, mit Meyerling und Schultheiß vorstellen. Uschi hat den Hörer am Ohr. »Ist die Polizei dran?« fragt Mohr hastig. Uschi schüttelt den Kopf. Dann Mohr zu Meyerling und Schultheiß: »Die beiden Männer am anderen Ende des Speisewagens sind gefährliche Schwerverbrecher! Sie sind wahrscheinlich bewaffnet… wir müssen unbedingt unauffällig den Speisewagen räumen!« »Gottsdonner!« sagt Schultheiß fassungslos. »Gehn Sie deshalb zurück«, ordnet Mohr an, »trinken Sie in Ruhe aus und gehen dann wieder raus!« »Aber bezahlen!« sagt der wachsbleiche Verone. »Ich meine, damit da nix auffällt…« »Ja, genau!« sagt Mohr. Noch einen Satz lang gebärdet sich Meyerling, etwas angeschlagener als der andere, widerborstig. »Ich denk’ gar nicht dran, wieder dahin zu gehen!« »Dann geh’ ich allein!« sagt Schultheiß.
Aber das will Meyerling auch nicht, und so marschieren sie zwar angstschlotternd, aber gemeinsam zurück. »Mamma mia!« stöhnt der italienische Oberkellner. Dann hat er eine Idee. »Diese Frau, Herr Mohr… wissen Sie was, das mach’ ich alleine!« Und er stiefelt spornstreichs hinter den beiden her. Mohr bricht plötzlich heftig der Schweiß aus.
Ein hektischer Kriegsrat findet auch bei Trimmel statt – ein ziemlich ratloser Rat. »Wissen wir überhaupt, wie viele Leute im Zug sind?« fragt Höffgen. »Bestimmt genug Geiseln für hundert Ganoven!« sagt Trimmel fatalistisch. Petersen überlegt. »Wenn wir diesen Zug irgendwo auf freier Strecke stoppen würden…« »Und? Damit wär’s doch höchstens noch schlimmer!« Am Ende wenigstens ein Beschluß auf die schnelle. Fünf Experten der Bundesbahn sind eingetroffen, verlangen und erhalten Dauerleitungen, breiten Streckenpläne aus – und erhalten die polizeiliche Order, den Zug nicht etwa zu beschleunigen, sondern zu verlangsamen. Der verdammte Zeitdruck. Trimmel greift sich das Telefon zum Blauen Enzian und erreicht die Schaltstelle Uschi. »Ja, Herr Kommissar?« »Den Zugführer bitte!« »Der ist gerade unterwegs…« »O Gott – der macht doch hoffentlich keinen Unsinn?« »Herr Mohr«, sagt Uschi entschieden, »macht ganz bestimmt keinen Unsinn!«
»Suchen Sie ihn, er soll sich sofort melden – hier sind außer mir auch noch einige seiner Vorgesetzten!« »Ich kann ihn über Lautsprecher ausrufen…«, überlegt die Sekretärin. »Ja, sind Sie denn noch…« »Ich mach’ das schon!« sagt die verängstigte Uschi, und plötzlich fällt ihr ein, daß sie vor drei Jahren mal als Reiseleiterin gearbeitet hat.
An fast alles haben Zugführer Mohr und sein gastronomischer Helfershelfer Verone inzwischen gedacht. Vor den beiden Zugängen zum Speisewagen stehen zwei weißgekleidete Männer, ein Kellner und ein Koch. Der Kellner schickt einen älteren Herrn zurück, der noch schnell einen Weinbrand trinken wollte und sich widerspruchslos fügt. Und der Koch hat es etwas schwerer, aber nur etwas, mit einem etwas albernen Pärchen. »Es tut mir leid, meine Herrschaften, der Speisewagen ist bereits geschlossen!« »Hast du gehört«, sagt das Mädchen, »Herrschaften hat er gesagt…« »Ist doch noch fast ‘ne Dreiviertelstunde…« »Wir haben einen kleinen Defekt in der elektrischen Küche!« lügt der Koch aufs Geratewohl. »Dann wird man ja wohl noch ‘ne Büchse Bier…« »Bier?« sagt der Koch ratlos. »Ist alle…« Der Junge will sich aufregen. »Holen Sie sofort den Oberkellner!« »Er repariert die Küche…« »Du, komm«, sagt die Kleine, »solche Idioten sind manchmal gemeingefährlich…«
Sie ziehen ab; Mohr, der gerade vorbeikommt, muß nicht mehr eingreifen. Beleidigt und stinksauer auf die Deutsche Speisewagengesellschaft. Tot wäre schlimmer, denkt Erwin Mohr unter der Last seiner Verantwortung. Erleichtert sieht er, daß Meyerling und Schultheiß eine Mark Trinkgeld auf ein Tellerchen gelegt haben und gerade den Speisewagen verlassen. Dann kommt aus dem Lautsprecher eine seltsame Durchsage. Uschis Stimme, als hätte sie den Verstand verloren: »Meine Damen und Herren, rechts und links von unserer Strecke könnten Sie jetzt, wenn es hell wäre, gerade noch das Uelzener Moor sehen, das bekannte Uelzener Moor. In diesem Moor sind vor zweihundert Jahren noch die letzten Hexen ertränkt worden, ein bedeutsames Moor also, ein besonders bedeutsames Moor…« Blitzartig begreift der Zugführer: das gilt mir! Mohr -Mohr wie Moor! Aber auch: wer immer mich sprechen will, muß warten – und wenn’s die Polizei wäre… Erwin Mohr ist endlich vor dem Tisch von Alfred Blei und Hans Bindermann angelangt. Blei reicht ihm die Fahrkarten mit den Zuschlägen hin. In Ordnung. Natürlich. Denn Profis schießen, aber sie fahren nicht schwarz. »Viel Vergnügen in Hamburg, die Herrschaften!« sagt Mohr möglichst locker. »Wird schon werden…!« sagt Bindermann grinsend. Eine unangenehm helle, fast kindliche Stimme. Aber wo steht geschrieben, daß Mörder einen Baß haben müssen? Dann dreht Erwin Mohr sich um und wird Zeuge einer denkwürdigen Szene. Giuseppe Verone schaukelt mit einem Kännchen Kaffee auf einem silbernen Tablett auf Linda Jürgens zu, die selbstvergessen mit dem leeren Champagnerglas spielt.
»Ihr Kaffee, gnädige Frau!« sagt er sonor. »Aber ich hab’ doch gar keinen Kaffee…« Und gleich darauf schreit sie schrill auf. Mohr und Blei und Bindermann erschrecken sich gemeinsam fast zu Tode. Der Oberkellner hat das Kännchen Kaffee zielsicher ausgekippt – genau auf den Schoß des hellen Kostüms der Dame! »Sind Sie wahnsinnig?« schreit Linda. »Ich bin untröstlich!« behauptet Verone. »Gnädige Frau, Signora… was kann ich tun, wie konnte das passieren…?« Dabei faßt er sie beim Arm und zieht sie fast gewaltsam mit sich in Richtung Küchenraum und Ausgang. Eine reife schauspielerische Leistung, erkennt Mohr; fast kommen ihm die Tränen unter dem Geschrei. »Das können Sie nie wieder gutmachen, Sie, Sie…« »Wir haben ein vorzügliches Fleckenwasser…« – Verone zerrt und zerrt – »… und heißes Wasser, Signora, bitte kommen Sie nur…« »Entschuldigen Sie mich!« sagt Mohr knapp zu Blei und Bindermann. »Ein kleines Malheur…« Sieh an – die Gangster lachen! Mohr erreicht den Italiener und seine Beute jenseits der Plattform zum nächsten Wagen in einem leeren Abteil. »Sie geben mir Ihren Namen und die Adresse für die Versicherung!« sagt Verone. »Linda Jürgens«, sagt sie weinerlich, »HamburgOthmarschen, Parkallee… aber ich will keine Versicherung…« »Wollen Sie lieber Kaffee auf Kostüm oder sterben?« Auch Verone ist erregt; sein gutes Deutsch läßt vorübergehend zu wünschen übrig. »Was… was heißt das?« fragt Linda verstört.
»Ich habe Kaffee absichtlich geschüttet… war kalter Kaffee… sind Mörder im Speisewagen… Sie müssen raus, wenn schießen…« Sie ist blaß und entsetzt wie vorher schon Mohr und Verone und Schultheiß und Meyerling. »Sie brauchen nicht bezahlen… Versicherung ist gut… fahren mit Taxi nach Hause… tut mir leid…« Aber sie schluchzt: »Mein Mann… er weiß nicht… ich kann ihm nichts erklären… ich versteh’ das alles nicht…« Da versteht wenigstens Mohr, daß es nicht nur die Todesangst ist, die ihr im Genick sitzt. »Bleiben Sie ruhig«, sagt er sanft, »es wird schon alles gut werden, Frau Jürgens… es sind tatsächlich zwei Bankräuber im Speisewagen, und der Herr Verone hatte gar keine andere Wahl, als Sie auf diese Weise in Sicherheit zu bringen…« Sie schluchzt und nickt gleichzeitig. »Gehen Sie jetzt bitte noch weiter nach hinten… es kann und wird Ihnen nichts passieren!« Linda schleicht davon, immer bemüht, eng an der Abteilwand zu bleiben. Irgendwie hat Mohr unversehens das unangenehme Gefühl, daß nicht das Bankräuber- und Mörderpaar aus Ulm, sondern er das alles angezettelt hat.
Wenigstens einer der Bankräuber und Mörder von Ulm wird gerade in diesen Minuten seltsam unruhig, und er spricht’s auch aus. »Also, mich juckt’s überall, als ob ich Läuse kriegen würde!« sagt Alfred Blei, eigentlich der Stabilere von den beiden. Dabei kratzt er sich den Kopf und trinkt einen langen Schluck Bier aus der Flasche, obgleich das Glas direkt daneben steht.
»Gestern warst du ruhiger…«, sagt Bindermann. Insgeheim freut er sich. »Hhmmm… und die beiden waren dann plötzlich ganz ruhig, meinst du?« »Du wirst es schon überleben!« meint Bindermann. Der eiskalte Alfred hat Nerven, begreift er – ich lach’ mich tot! Er stößt mit dem Fuß an die vier Taschen mit dem Geld unter dem Tisch und sieht sich vorsichtig um. »Wenn wir die Weiber in Hamburg leid sind, dampfen wir ja sowieso nix wie ab nach Kanada – oder?« Alfred Blei kratzt sich abermals. Und ganz plötzlich fällt ihm der Grund für seine Unruhe ein: »Ich weiß jetzt, wie sie uns erkannt haben können!« »Uns?« sagt Bindermann erschrocken. »Na, vor allem dich! Die Frau in dem Zigarettenladen! Als du dir zehn Minuten vor der Knallerei gegenüber von der Bank unbedingt Zigaretten kaufen mußtest!« »Aber – aber wir hatten… wir hatten doch die Strumpfmasken…« »Ja – und dieselben Klamotten an! Und ich häng’ damit auch drin – Kacke!« »Wieso du denn?« »Na, hör mal – im Knast waren wir zusammen, und einschlägig sind wir auch… also, wenn da einer der Zigarettenfrau erst mal dein Foto zeigt, dann sind sie ganz schnell auch bei mir…« »Scheiße!« »Ja, das kannste dreimal sagen!« Blei steht auf. »Ich geh’ mal durch den Zug… bin gleich wieder da!« Als er – entgegen der Fahrtrichtung, wie die anderen auch schon – den Speisewagen verläßt, fällt dem wachhabenden Kellner überhaupt nichts mehr ein. »Na, Spaghetti?« sagt Blei. »Langeweile?«
»Ich bin kein Spaghetti!« entrüstet sich der Kellner. Tatsächlich ist er Jugoslawe und schon seit ewig in der Bundesrepublik. Innen im Speisewagen registriert Bindermann, daß außer ihm nur noch zwei Männer herumsitzen, nimmt dann eine Pistole aus einer der Taschen, legt sie vorsichtig auf den Tisch und verdeckt sie mit zwei Speisekarten.
»Warum haben Sie mich rufen lassen?« fragt Mohr, als er im Zugsekretariat aufkreuzt. Und fast im selben Atemzug: »Rufen Sie mal ganz schnell einen Doktor Grasshoff mit Geschäftsfreund aus, die Herren würden hier dringend am Telefon verlangt… seit wann gibt’s übrigens in Uelzen ein Moor?« Aber Uschi hält ihm erst mal nur den Hörer hin. »Die Kripo«, flüstert sie, »die macht mich hier wahnsinnig, weil ich Sie…« »Hier Mohr!« sagt er. »Mann«, donnert Trimmel, »wo stecken Sie denn die ganze Zeit?« »Hier im Zug«, sagt Mohr, »wo sonst?« »Also, passen Sie auf. Wir fahren gleich los zum Hauptbahnhof, die Bahnpolizei weiß auch schon Bescheid. Sie laufen ein, als wär’ überhaupt nichts passiert – Sie kümmern sich effektiv um gar nichts! Wir lassen die beiden nicht mehr aus den Augen, wenn sie aussteigen, und wenn sie zufällig bis Dammtor oder Altona fahren sollten, ist auch vorgesorgt… alles klar?« »Herr Kommissar«, sagt Mohr tapfer, »ich weiß wirklich nicht, warum das nicht anders gehen soll… die beiden sitzen inzwischen fast völlig allein im Speisewagen, außer ihnen nur noch zwei Männer, und die kriegen wir auch noch raus, und was dann noch…«
Trimmel stockt fast der Atem. »Haben Sie das gefingert?« »Ja, aber…« »Und was machen Sie, wenn die Täter jetzt zahlen und einfach rausgehen?« »Dann verzögern wir’s mit dem Wechselgeld… der Oberkellner weiß auch Bescheid und spielt mit…« »Aufhören!« schreit Trimmel. »Sofort aufhören mit Ihrer Privataktion! Das kann niemand verantworten, das hab’ ich Ihnen schon vor ‘ner Stunde oder…« Plötzlich merkt er, daß er völlig unnütz schreit. »Hallo, hallo…?« Völlig hilflos. »Hallo…?« Die Dauerleitung ist tot. Blei ist plötzlich im Türrahmen aufgetaucht, während Mohr noch telefonierte. Uschi hat blitzschnell auf die Gabel gedrückt, ohne Rücksicht auf den wütenden Mohr und die wütende Polizei – und Blei öffnet die Abteiltür. Zunächst ist die Lage mal gerettet. Aber dann? Dann sagt Blei: »Kann ich mal telefonieren?« Das Dienstabteil ist dunkel! denkt Mohr verzweifelt. Der kranke Schaffner… die Zeitung auf dem Sitz… »Das geht im Moment nicht!« sagt Uschi und deutet auf den Hörer. »Wir versuchen schon seit ewig, wegen unserer Verspätung… irgendwie ist da heute der Wurm drin…« Sie kann sogar noch lächeln. »Sie können sich doch sicher bis Hamburg gedulden…« Blei überlegt. Er hat nichts gesehen, denkt Mohr; der kranke Schaffner – alles war dunkel… und Blei nickt. »Na gut, ich gedulde mich. Ziemlich leerer Zug übrigens, was? Wie wär’s, wenn die Dame uns ‘n bißchen Gesellschaft leistet?« Uschi wird blaß.
»Das… das… Sie sind im Dienst – das geht nicht…«, stammelt Mohr. »Ich glaub’ doch!« sagt Blei. Knallhart plötzlich. »Wollen wir wetten?« Sobald Uschi erkennt, daß er sie auf jeden Fall mitnimmt, entwickelt unversehens auch sie geradezu kriminalistische Eigenschaften. »Was heißt hier Dienst?« sagt sie. »Weshalb soll ich nicht mal einen Sherry trinken?« »Aber erst die Durchsage!« stöhnt Mohr. »Sie müssen’s auch noch mal mit dem Telefon versuchen…« »Richtig!« sagt Uschi. Sie versucht noch ein letztes Mal, ihrem Schicksal zu entgehen – nimmt den Hörer, wählt die Vermittlung und sagt zu Blei: »Ich komm’ nach!« Blei jedoch läßt sich ins Polster fallen. »So eilig ist es nun auch wieder nicht…« Uschi: »Hallo – Vermittlung? Bitte, geben Sie mir noch mal diese Nummer in Hamburg… TEE neunzig hier…« »Die Polizeinummer?« fragt die Vermittlung. »Ja, sicher!« sagt Uschi tapfer. »Ich warte!« Blei hat erkennbar nichts mitgekriegt. Der Zug wird langsamer. Die Lok pfeift – anscheinend steht ein Signal auf rot. »Schrecklicher Regen, nicht?« meint Uschi zu Blei. Sie lächelt ihn fast entschuldigend an. »Hhmm…« Dann ist Trimmel am Apparat und schreit so laut, daß es im ganzen Zugsekretariat zu hören sein muß: »Was bilden Sie sich eigentlich… komplett wahnsinnig geworden, Sie… wen Sie da vor sich haben…!!!« Sie schneidet ihm kaltschnäuzig das Wort ab – und er begreift, Gott sei Dank, er begreift sofort, was das soll und was sie ihm sagen will.
»Hören Sie mal, Herr Kollege«, – sie sagt tatsächlich Kollege! – »ich hab’ unter dieser miesen Verbindung genau so zu leiden wie Sie… bleiben Sie jetzt bitte so lange in der Leitung, bis Sie die Verbindung mit der Direktion kriegen… ich oder der Zugführer sind hier ständig am Telefon, verstanden?« »Verstanden!« sagt Trimmel atemlos. Kein Wort mehr. Uschi fragt Mohr: »Wen sollte ich ausrufen?« »Doktor Grasshoff mit Geschäftsfreund…« »Richtig, ja…« Sie zieht eine Schau ab, die noch besser ist als Verones Kaffee-Arie. Nimmt das Mikrofon des Zuglautsprechers und sagt: »Herr Doktor Grasshoff, bitte, Herr Doktor Grasshoff mit Geschäftsfreund wird im Zugsekretariat am Telefon verlangt, Telefon für Herrn Doktor Grasshoff mit Begleitung…« Der Kripo-Mensch muß es mitgehört haben, denkt sie, sonst ist ihm nicht zu helfen. Sie wendet sich an den Gangster. »Mein Name ist Leichsenring… Uschi – Wollen wir jetzt gehen?« »Blei!« sagt der Mann, offensichtlich ein Gangster von Welt. »Alfred…« Und Uschi wiederholt nur für die Kripo: »Wollen wir jetzt gehen, Herr Blei?« Trimmel hat alles gehört, hört auch noch die Abteiltür, die krachend bis zum Anschlag aufgerissen wird, zählt dann zwei und zwei zusammen und weiß ziemlich genau, was gerade passiert. »Ist sowieso besser, wenn Sie mit Herrn Doktor Grasshoff und der Direktion reden!« sagt Uschi, offenbar zum Zugführer. Dann wird die Tür wieder zugeschlagen. Eine Geiselnahme! Was anderes kann es kaum sein! Mohr bestätigt es, zwanzig Sekunden später, sobald Uschi mit dem Gangster außer Hörweite ist, sobald er telefonieren
kann. »Der Mann hat darauf bestanden, die Sekretärin mit in den Speisewagen zu nehmen!« Damit ist die Entscheidung gefallen: Der Blaue Enzian kann und wird nicht in den Hauptbahnhof einlaufen! Eine Geiselübergabe und alles, was damit zusammenhängen kann – im Hauptbahnhof ist das unvorstellbar! »Sie sind ein richtiges Arschloch!« sagt Trimmel erschöpft.
Ein paar Meter vor dem Speisewagen begegnen Uschi und Blei den Herren Dr. Grasshoff nebst Geschäftsfreund. Uschi improvisiert weiter: »Herr Doktor Grasshoff?« »Ja, bitte?« sagt der ahnungslose Mann rechts. »Es ist dringend«, sagt Uschi, »der Zugführer erwartet Sie… Sie wissen schon, diese Direktionsgeschichte…« Dann geht sie weiter. Grasshoff und sein Kollege Christian gehen leicht verstört in die andere Richtung.
Zum vierten oder fünften Mal hintereinander kriegt der Zug ein rotes Signal vorgesetzt. Die Verspätung macht schon fast eine halbe Stunde aus. Bindermann weiß überhaupt nicht mehr, was er von der Lage zu halten hat: Seit die beiden, die weiter vorn saßen, ausgerufen worden und gegangen sind, ist er völlig allein im Speisewagen. Nur der Oberkellner lungert noch im Hintergrund herum. Vorsichtig schiebt Bindermann eine der beiden Speisekarten über der Pistole etwas zur Seite. Dann aber kommt Blei in den Wagen, fröhlich grinsend – Blei mit einem netten Mädchen! Blei kommt auf Bindermann zu, und der kann die Pistole gerade noch geschickt in der Hosentasche verschwinden lassen, bevor er aufsteht.
»Darf ich bekannt machen«, sagt Blei, »mein Freund Hans – Fräulein Uschi vom Schreibabteil…« »Angenehm!« sagt Hans Bindermann. »Ich hatte schon Angst, ich müßt’ hier verhungern… komisch, nicht? Mitten im Speisewagen?« Uschi lacht, tapfer wie bisher. Verone kommt näher, und sie sagt: »Kann ich bitte einen Sherry haben?« »Sofort!« sagt Verone. »Die Herren auch noch was?« »Zwei Bier!« sagt Hans Bindermann. Er fragt Uschi: »Sind Sie hier die Telefonistin?« »Zugsekretärin!« sagt Uschi. »Oh, pardon…!« Er lacht sich halbtot. Sobald Verone die Getränke gebracht hat, flirten sie munter und ein bißchen deftig drauflos, und Uschi flirtet offenbar heftig mit.
»Es wäre bestimmt sicherer gewesen«, sagt der erste Experte der Bundesbahn in Trimmels Büro bestimmt schon zum zehnten Mal, »die Leute am Bahnhof normal aussteigen zu lassen und dann zu beschatten!« Dabei ist dieser Teil des Rennens längst gelaufen. »Also, bleibt’s dabei?« sagt der zweite Experte. »Natürlich!« sagt Trimmel. »Okay. Ich wiederhole. Der Zug passiert jetzt Winsen. Wir werden ihn« – er sieht auf die Uhr – »bei freier Strecke noch weitere elf Minuten verzögern können. Dann kommt’s hin…« Der dritte Experte beugt sich über die komplizierte Gleiskarte. »Hier kommt der Zug über die Freihafenbrücke, von der Veddel. Links rum. Versmannstraße, am Baakenhafen vorbei. Dort würde er sonst abbiegen zum Hauptbahnhof. Statt
dessen fährt er jetzt geradeaus auf dieses eine tote Gleis – da ist zu dieser Zeit kein Mensch…« »Wollen’s hoffen!« sagt Trimmel. »Ja, ich hoff’s auch!« sagt der vierte Experte, der am meisten zu sagen hat. »Wir können dann starten!« Die Mobilen Einsatzkommandos, begleitet von Bahnpolizisten, sind bereits unterwegs. Die Technik läuft. Weiche um Weiche, sozusagen. Aber geht’s in der Mehrzahl der Fälle, in denen die Technik im Mittelpunkt steht, nicht doch noch schief? Bloß nicht dran denken!
Mohr verriegelt mit einem Vierkantschlüssel die Türen zwischen dem ersten und zweiten Wagen hinter dem Speisewagen. Der erste Wagen hinter dem Speisewagen ist leer – bis auf Dr. Grasshoff und Dr. Christian. Gynäkologen auf dem Weg zu einem Kongreß. Dann dieses Abenteuer. »Sie bleiben auf jeden Fall im Abteil!« befiehlt Mohr. »Ja, ja – bestimmt…« Im Grunde kann’s nicht schaden, wenn zwei Ärzte in der Nähe sind, denkt Mohr – so für den Notfall. Gleich darauf ist der Notfall, wie immer er ausgeht, nicht mehr aufzuhalten. Und Erwin Mohr selbst hat ihn sich eingebrockt – sich und anderen… Er betritt den Speisewagen, geht geschäftsmäßig durch bis zum anderen Ende und ruft: »Wir erreichen in wenigen Minuten Hamburg Hauptbahnhof. Der Zug fährt weiter über Hamburg Dammtor nach Hamburg Altona…« Laut genug, daß es jeder in einem überfüllten Speisewagen verstehen könnte. Dabei sind aber nur noch Blei und Bindermann anwesend – und natürlich Uschi, Verone und er selbst.
Er reckt sich am Ende des Wagens hoch und schließt die automatische Tür von innen ab. Dazu muß er mit einem vierkantigen Schlüssel einen vierkantigen Metallblock drehen. Wenn ihn dabei einer sehen könnte… Es sieht ihn zwar niemand. Aber sein Geschrei hat die Verbrecher endgültig aufgeschreckt. Mohr geht zurück, bleibt vor dem Tisch mit Blei, Bindermann und Uschi stehen und sagt vorwurfsvoll: »Fräulein Leichsenring, Sie müssen Ihre Abrechnung machen!« »Ja, sicher«, sagt Uschi, »ich wollte gerade…« Sie steht auf und macht ein paar Schritte in Richtung hinterer Ausgang – vielleicht ein paar zu hastige Schritte. Sofort ist Blei bei ihr. »Langsam, Fräulein… wollen Sie nicht mal Wiedersehen sagen?« »Vielen Dank für den Drink!« sagt Uschi. Ihr Herz schlägt bis in den Hals. »Wiedersehen…« Und weil inzwischen auch Bindermann aufgestanden ist und eine drohende Haltung einnimmt, kommt von vorn Verone zu Hilfe. »Signore, prego… bitte, belästigen Sie keine Gäste unseres…« »Wir sind gleich am Hauptbahnhof – machen Sie, bitte, keinen Ärger!« fleht Mohr. Es gelingt ihm, Uschi und Verone so abzuschirmen, daß sie bis zu der noch unverschlossenen Tür hinter dem Küchentrakt kommen und sie sogar öffnen können; er erkennt’s am typischen Zischen der Tür. Er selbst geht rückwärts zu dieser Tür, wie in Zeitlupe, erreicht den schmalen Gang neben der Küche – und wie in Zeitlupe registriert er auch, daß das leise Zischen der Tür vor ihm, die er noch nicht sehen kann, ausbleibt… das kann eigentlich nur passieren, überlegt er, wenn Uschi oder Verone oder wer auch immer die Tür mit dem Fuß blockiert und sie für ihn offen hält… »Stop!« sagt Blei hinter ihm.
Mohr dreht sich um. Endlich, denkt er erschöpft, ich hab’s ja kommen sehen! Es mußte so kommen… Er sieht in die Pistole in der Hand von Alfred Blei. Auch Bindermann hat eine Pistole in der Hand. Er steht in der Nähe seines Tisches – dem, unter dem die Geldtaschen stehen, für jeden zwei. »Keinen Schritt weiter!« sagt Blei. Einen Fuß setzt er vor den anderen. Noch fünf Fußlängen bis hin zu Mohr. Die Pistole hält Blei in Magenhöhe, die Mündung einen Tick nach oben gerichtet, auf die Herzgegend von Mohr… Alfred Blei schießt normalerweise beidhändig gut. Aber am liebsten schießt er links. Und von links kracht jetzt plötzlich ein schwarzer, schwerer Gegenstand auf seine linke Hand, ein eiserner Gegenstand aus der Küche… Blei drückt automatisch ab – und dann geht sein Schrei unter im ohrenbetäubenden Krachen des Schusses aus seiner NeunMillimeter-FN. Das Geschoß schlägt zwischen Mohr und dem Kücheneingang in die Kunststofftäfelung. Blei bückt sich nach der Pistole, die ihm aus der Hand gefallen ist – und bekommt von der Küche aus einen Tritt direkt ins Gesicht! Er richtet sich schreiend auf, hält die Hände vor das blutende Gesicht – auch die kaputte linke Hand. Und hört Bindermanns Geschrei, er könne nicht schießen, denn er steht ihm genau im Schußfeld… Erwin Mohr ist draußen – und schlägt dort der Länge nach hin, weil ihn der aus der Küche kommende Kellner glatt über den Haufen gerannt hat. Aber auch der Kellner ist draußen, der jugoslawische Kellner, der um alles in der Welt kein Spaghetti sein will!
Bruchteile von Sekunden entscheiden über das Zuschnappen der Falle – ein paar Zentimeter. Zischend schließt sich die Tür, als Verone endlich den Fuß wegnimmt und hinter Uschi her weiter nach hinten in den Wagen türmt. Und über Mohr hinweg türmt der Kellner. Mohr richtet sich auf, und zwischen ihm und dem heranstürmenden Bindermann ist nur noch die zwar zugeschnappte, aber nicht verschlossene Tür. Mohr in ganzer Größe kriegt oben an der Tür den vierkantigen Metallblock der Verriegelung zu fassen – Sekundenbruchteile, bevor Bindermann den Türgriff packen kann. Eine ideale Zielscheibe… Ist das Glas kugelsicher? denkt Mohr. Aber Bindermann, auf einen knappen Meter Distanz, schießt nicht auf das Glas, sondern – von innen – auf die Türverriegelung… einmal, zweimal – fünfmal! Ein Lärm wie im Krieg. Der sechste Schuß kommt von Blei – er hat ihn diesmal mit rechts abgefeuert. Aber die Verriegelung hält stand. Und inzwischen hat Mohr auch die zweite Tür zwischen dem Speisewagen und dem nächsten Sitz wagen vierkantig verschlossen.
»Da ist er!« sagt einer der Bundesbahner atemlos. Drei Lichter – ein gleichschenkliges Dreieck. Der TEE 90 von Klagenfurt und München nach Hamburg, am Ende einer langen Strecke. Der Blaue Enzian – schon in Hamburg, aber auf dem toten Gleis. Trimmel wischt sich das Wasser aus dem Haar vorn unter der Mütze und aus dem Gesicht, und er weiß nicht, ob es Regen ist oder Schweiß. Die drei Lichter kommen ganz langsam näher. Viel zu langsam…
Stunden um Stunden hat der Lokführer des Blauen Enzian kaum mehr gesehen als den Scheibenwischer – und seit einer guten Stunde ein rotes Signal nach dem anderen. Er ist zu müde zum Fluchen. »Das geht ja nun schon seit Uelzen«, plappert sein zweiter Mann neben ihm, »ich möcht’ wirklich wissen, wer hier verrückt spielt… sag mal, ist das da vorn etwa…?« Kettenförmig angeordnete Lichter sind da vorn. Ein totes Gleis. »Hauptsache Ende!« sagt der Lokführer und spielt mit der Bremse, sanft wie ein Pianist bei der Passion. Dabei weiß er nicht mal, was hier zu Ende gehen soll. Die Gangster versuchen inzwischen, die Türscheibe einzuschlagen. Schießen hat keinen Zweck. »Wir sind dran, Freddy!« jammert Bindermann alle zehn Sekunden mit seiner schrillen, hohen Stimme. »Da kommen wir nie mehr raus!« »Aber die gehen alle mit hops!« knirscht Blei und läßt dabei mit anderthalb Händen einen Nothammer, den er in der Küche gefunden hat, gegen die Tür krachen. Das Glas springt, aber es splittert nicht. Und selbst, wenn es splittern würde: dahinter ist noch eine Tür, und hinter dieser zweiten Tür steht der Zugführer mit der einzigen Waffe, die er auftreiben konnte – einem Feuerlöscher.
23.43 Uhr. So voll, wie Laumen vermutet hatte, ist der Bahnsteig um diese Zeit längst nicht mehr. Am Gleis 11 des Hamburger Hauptbahnhofs warten nur wenige Abholer auf den Zug, für den bereits eine Stunde Verspätung gemeldet worden ist. Verregnete Mäntel, durchgeweichte Blumen, unzählige
Zigaretten… die Stunde ist auch schon um neun Minuten überschritten. Es knackt und knistert. »Achtung für Gleis elf«, sagt der Lautsprecher, »der Trans-Europ-Expreß Blauer Enzian aus Klagenfurt, Salzburg und München, planmäßige Ankunft zwoundzwanzig Uhr vierunddreißig, verspätet sich jetzt wegen eines technischen Defekts auf unbestimmte Zeit…« »Diese blöden Ausreden!« sagt der Junge mit der hochgeknöpften Lederjacke, der die Zugsekretärin Uschi abholen will. »Hinter Hannover hat sie doch noch gesagt…« Die meisten Leute sagen gar nichts. Mürrisch und naß, mit dem Gefühl, daß man sich heute buchstäblich auf nichts mehr verlassen kann, gehen sie Bier trinken oder Kaffee oder einfach nach Hause. 23.49 Uhr. In dieser Minute, in der letzten Stunde des Kriminalfalls Blauer Enzian, fährt der Zug nur noch mit einer Geschwindigkeit von drei Stundenkilometern. Plötzlich reißt Bindermann seinen Komplizen, der nach wie vor wie wahnsinnig gegen die Scheibe hämmert, an der Schulter zurück; dabei hat Blei inzwischen ein Loch geschafft, das mit jedem Schlag größer wird. »Gib den Hammer her«, schreit Bindermann, »ich schlag’ das Fenster ein… wir müssen abspringen – unsere letzte Chance…« »Hau ab!« schreit Blei und stößt Bindermann zu Boden; dabei verliert er den Hammer. Als Bindermann sich aufrappelt, schluchzt er nur noch vor Wut – Blei ist sogar stärker mit der halben Hand weniger. »Ich bin schuld«, schluchzt er hemmungslos, »bloß, weil ich Zigaretten haben wollte…« »Ja«, Sagt Blei, mit einemmal ganz ruhig. »Bloß, weil du Zigaretten haben wolltest…«
Der Zug fährt so langsam, daß man nichts mehr hört, außer dem prasselnden Regen. Dann fallen Schüsse. Blei hat Bindermann nicht daran gehindert, ein neues Magazin einzuschieben. Bindermann knallt es leer bis auf die allerletzte Kugel in die Geldtaschen unter dem Tisch.
23.52 Uhr. Der Zug hat die Kette der zu beiden Seiten am toten Gleis aufgestellten MEK-Männer erreicht – und drinnen und draußen merkt’s kaum noch jemand, daß er jetzt hinter dem Baakenhafen zum Stehen kommt. Einer der Bundesbahner klettert auf die Lok und informiert die beiden Männer am Führerstand, die längst wieder ganz wach sind. Trimmel ist gut postiert gewesen, dank der Experten – ganz in der Nähe des Schreibabteils. Und mit Höffgen, Petersen und Laumen klettert er in den Zug. »Hier!« schreit Uschi. »Wo ist das Mikrofon für den Zuglautsprecher?« »Hier!« »Achtung, Achtung«, sagt Trimmel ins Mikrofon, »an alle Reisenden. Bitte bleiben Sie unbedingt in Ihren Ab teilen und halten Sie die Türen geschlossen… die jetzt folgende Durchsage ist für Sie mit keinerlei Gefahr verbunden…« Zwei Sekunden Pause. Dann die Durchsage: »Achtung, Achtung – hier spricht die Polizei! Diese Durchsage gilt Herrn Blei und Herrn Bindermann im Speisewagen. Der Speisewagen ist abgeriegelt und ebenso wie der ganze Zug umstellt. Bitte werfen Sie Ihre Waffen weg und ergeben Sie sich den Beamten, die jetzt in den Speisewagen kommen… Ende!«
Trimmel legt das Mikrofon weg. »Und jetzt?« fragt Uschi. Er hastet nach vorn zum Speisewagen. Er kennt sich aus mit Profis, auch wenn er die beiden hier noch nicht persönlich kennt. Er ist fest überzeugt: Für alles, was nun noch kommt, würde im Grunde eine einzige Funkstreife ausreichen.
23.58 Uhr. Zum letzten Mal eine Zeitnahme – fürs Protokoll. Noch einmal richtet Erwin Mohr sich zu seiner ganzen Größe auf und schließt mit seinem Vierkantschlüssel hintereinander die beiden Türen zum Speisewagen auf, die unversehrte und die lädierte. Blei und Bindermann, tatsächlich Profis bis zuletzt, haben die Hände über den Kopf genommen, und zwei Meter vor ihnen liegen ihre Waffen auf dem Boden, deutlich sichtbar. »Runter die Hände!« sagt Trimmel. Er, Höffgen und Petersen geben Laumen dann quasi Feuerschutz, als er Bindennann und anschließend Blei die Handfesseln anlegt. Blei stöhnt leise, weil ihm die linke Hand immer noch unheimlich weh tut.
Mitternacht vorbei. Drei Geldtaschen haben Löcher. Stapel von Geldscheinen, notdürftig verborgen unter einigen Unterhosen und T-Shirts, sind durchlöchert. »Ihr Idioten…«, sagt Trimmel zu den Gangstern. Es klingt fast mitfühlend. Sie steigen aus.
Ganz anders, als Blei und Bindermann sich das vorgestellt haben: gefesselt, jeder zwischen zwei Männern. Irgendwo fern, Richtung Westnordwest, ist der Himmel trotz der schwarzen Wolken heller als anderswo. Die Reeperbahn und St. Pauli… die sündigste Meile der Welt mit dem dichtesten Spitzelnetz in der Bundesrepublik; aber das war diesmal nicht mal nötig. Freddy: Kanada, kennst du Kanada…? Blei und Bindermann werden Kanada sicher nie mehr sehen.
Der Zugführer hat sich dünnegemacht. Er ist ins Dienstabteil gegangen. Auf dem Sitz liegt noch die Zeitung mit den Bildern der Ulmer Bankräuber. Der kranke Schaffner räkelt sich. »Kannst ruhig Licht machen, meine Migräne ist fast weg. Ich hab’ geschlafen wie ein Bär…« Mohr aber macht kein Licht. Denn jetzt auf einmal hat er Angst – nackte Angst. Der Schock kommt meistens erst ziemlich spät. Trimmel steht im Türrahmen. »Mein Name ist Trimmel!« »Mohr!« sagt Erwin Mohr, und das Herz schlägt ihm bis ins Gehirn. »Früher gab’s für so was Ritterkreuze!« grollt Trimmel. »Hören Sie«, sagt Mohr, »ich könnt’ ja schließlich beim besten Willen…« »Sie melden sich so rasch wie möglich im Präsidium und machen Ihre Aussage!« befiehlt Trimmel. Ihm ist er böse, denkt er, halbwegs verwundert, nicht mal Blei und Bindermann. Denn das wird eine lange Nacht, eine entsetzlich lange Nacht, und das ist, so denkt Trimmel, ausschließlich diesem Menschen zu verdanken – dem Herrn Mohr!
Uschi Leichsenring, die heute nacht auf ihren Freund mit der hochgeknöpften Lederjacke verzichten muß, Linda Jürgens, von der niemand weiß, daß sie über nichts anderes nachdenkt als über die geeignete Ausrede zu Hause, Giuseppe Verone, der Held Nummer zwei, dann Velija, der tapfere NichtSpaghetti mit dem unaussprechlichen Namen. Und schließlich Grasshoff, Christian, Schultheiß, Meyerling: sie alle werden heute nacht noch ihre Aussage machen müssen. Trimmel und seine Leute werden die Aussagen aufnehmen müssen, wenn nicht irgendwer ein Einsehen hat und die Sache doch noch zum Teil auf den Vormittag vertagt wird. Der Blaue Enzian setzt mittlerweile vorsichtig zurück und fährt dann mit letzter Kraft die paar hundert Meter in Richtung Hauptbahnhof. Trimmel fährt mit. Erwin Mohr spürt überdeutlich, wie er schräg von hinten fixiert wird. Er hat Angst wie noch nie im Leben, mehr sogar als in der letzten Stunde. Denn kann er wissen, daß Trimmels Zorn schon während dieser kurzen Fahrt verraucht? Daß er der einzige sein wird, dem Trimmel bei der Vernehmung einen Korn anbietet?
Treff mit Trimmel
Erst schießt er unter die Decke des Kassenraums, dann unter die Schädeldecke eines Menschen – und Gaby Montag muß zusehen, mit offenem, verkrampftem Mund, stumm und gelähmt vor Entsetzen, wie dieser Mensch drei Meter von ihr entfernt in einer einzigen Sekunde stirbt, beim brutalsten Überfall des Jahres in Hamburg. Zwei Männer mit Strumpfmasken sind in die Bank gestürmt, Männer mit Maschinenpistolen, hinter einem Mann her, der einen Blechbehälter trägt, einen sogenannten Geldcontainer. Einer der Maskierten ist an der Tür stehengeblieben, die MP drohend im Anschlag: »Halt, stehenbleiben! Überfall, keiner hier rührt sich!« Und einer hat sich doch gerührt. Der Mann mit dem Container denkt nicht daran, dem zweiten Gangster, der ihn vor dem Tresen eingeholt hat, das Ding einfach als Präsent zu überreichen. Er riskiert sein Leben für das Geld, das nicht sein Geld ist, reißt dem Gangster die Maske hoch – und dann verliert er sein Leben. Zwei Feuerstöße. Spätestens der zweite ist tödlich. »Bist du wahnsinnig!« schreit der Gangster an der Tür. Aber der andere – der Mörder – zieht sich in aller Ruhe die Maske wieder herunter, und seine Augen glitzern. Er nimmt den Geldbehälter, den der Tote endlich losgelassen hat, und geht rückwärts zur Ausgangstür. Eine Horrorszene, ein Alptraum – ein Spuk, der so plötzlich zu Ende ist, wie er begonnen hat…
Die Gangster rennen auf die Straße, springen in einen weißen Simca, dessen Türen nur angelehnt sind und dessen Motor läuft – und rasen davon, mit quietschenden Reifen. Ein weißer Simca: das gibt später Gaby zu Protokoll. Es wird von anderen Zeugen bestätigt. Die Nummer ist verschmiert und kaum lesbar: eine Hamburger Nummer, vermutlich mit den Buchstaben KX. Irgend jemand in der Bank gibt Alarm, und dann ist da innerhalb von Minuten der erste Streifenwagen da. Polizisten mit gezogenen Pistolen springen heraus, der zweite Wagen stoppt, dann einer nach dem anderen… Und mitten in dem Getümmel und dem Geschrei liegt der Tote mit dem zerstörten Schädel, quer vor dem Tresen, vor dem er getroffen wurde – ein Mann Ende Dreißig vielleicht, soweit man das überhaupt noch erkennen kann, und ein anderer Mann beugt sich über ihn und sagt immer noch stammelnd, mit einem Schluchzer in der Stimme: »Karlheinz… das ist doch… das kann doch alles gar nicht… Karlheinz… so hör doch…!« Denn fünf Minuten zuvor haben sie noch gemeinsam in dem gepanzerten Geldtransporter gesessen, der jetzt verlassen vor der Bank auf der Straße steht – er als Fahrer, Karlheinz als sogenannter Transportbegleiter.
So was kann heute jedem passieren, ohne Ausnahme – ohne weiters also auch der unverehelichten Frau des Leiters der Hamburger Kriminalinspektion 1. Der Mann geht morgens zum Dienst, man erledigt sein Pensum Hausarbeit, geht einkaufen im Viertel, will etwas Geld von der Kasse holen, weil man etwas zuviel eingekauft hat, steht am Schalter – und plötzlich sieht man den starren Blick des Bankmenschen auf der anderen Seite des Tresens…
»Es war für mich das erste Zeichen, daß etwas nicht in Ordnung ist!« sagt Gaby Montag bei ihrer Zeugenvernehmung eine halbe Stunde später, noch am Tatort. Den Mann, der sie befragt, kennt sie nicht; es ist niemand aus Trimmels Kerntruppe, und er macht es sachlich und rücksichtsvoll. »Sie haben sich also umgedreht«, sagt der Beamte, »und sahen, daß der Geldbote anscheinend versuchte, von der Straße in den Kassenraum zu flüchten?« Sie nickt. »Das hat er auch geschafft. Er hatte vielleicht einen Meter Vorsprung, aber es reichte nicht, um dem… dem Verbrecher die Tür vor der Nase zuzuschlagen!« »Es kam zu einem Handgemenge?« »Ich meine«, sagt sie, »er hätte ihm den Geldbehälter geben sollen… statt dessen reißt er ihm die Maske herunter, und der hat dann wohl die Nerven verloren…« »Sie haben den Verbrecher ohne Maske gesehen?« »Ja, natürlich…« »Können Sie ihn beschreiben?« Natürlich kann sie, denkt aber trotzdem sekundenlang nach, um so präzise wie möglich zu sein. »Etwa einsachtzig groß, kurzes, fast schwarzes krauses Haar, schlank… eine, warten Sie… eine auffällig schmale Nase, wirkte etwas südländisch…« Er schreibt jede Silbe mit. »Ein hübscher Mann eigentlich…«, sagt sie leicht errötend, »wenn Sie verstehen, was ich meine…« Natürlich versteht er. »Glauben Sie, daß wir mit Ihrer Hilfe ein Bild des Täters anfertigen könnten?« »Ich will es gern versuchen!« sagt sie. Dann erscheint Trimmel, begleitet von Petersen. Die Großfahndung nach dem weißen Simca KX läuft noch, auch mit Hubschraubern, aber der Erfolg wird mit jeder Minute
unwahrscheinlicher. Der Hamburger Stadtverkehr bricht zusammen – bis jetzt der einzige Effekt. »Was machst du denn hier?« fragt Trimmel. »Ich bin Zeugin…«, sagt sie fast verschüchtert. »Also, ehrlich!« sagt er. Sieht sich den Toten an und sieht zurück über die Schulter. »Geh nach draußen und warte!« sagt er. Später, im Präsidium, kriegt sie ihn nicht mehr zu Gesicht. Der Mann, der sie vernommen hat, bringt sie zur Kriminaltechnik. Irgend jemand holt Puzzlespiele und Folien und fragt halbwegs ratlos: »Was denn nun? Identikat, Minolta, PIK?« Gaby begreift, daß sie behilflich sein soll, ein Bild des Mörders sozusagen zusammenzusetzen. »Ist das nicht…«, sagt sie zögernd, »ich meine, könnte man das nicht besser zeichnen?« »Natürlich könnte man!« sagt der Mann mit den Puzzles. »Ist Ihnen der Eindruck denn wirklich noch so gegenwärtig?« fragt der andere Beamte. »Ja, leider Gottes. Denn es war, alles in allem, ein grausames Erlebnis und ein schrecklicher Anblick.« »Welchen Zeichner nehmen wir denn da?« überlegen die Polizisten. Gaby überlegt mit. »Gibt es da einen bestimmten, mit dem Sie ständig zusammenarbeiten?« »Nö«, sagt der Fachmann. »Kennen Sie einen?« Sie zögert. »Meine Freundin ist Malerin… ich sehe ihr oft zu, sie zeichnet ungeheuer ähnliche Porträts, und wir… wir verstehen uns sehr gut…« Überraschend für sie sind die Beamten von der Idee begeistert. »Hat die Dame Telefon?« Sie hat, und sie ist auch zu Hause. Anita Berg. Sie ist sofort einverstanden, und zehn Minuten später ist sie bereits von
ihrem Atelier in Blankenese aus mit einem Streifenwagen unterwegs zum Präsidium.
Der weiße Simca KX wird, wie üblich, noch am selben Nachmittag gefunden. Verlassen, wie üblich, und wie üblich in der Nacht zuvor in der City gestohlen. Fingerabdrücke gibt es, wie sich herausstellt, nur vom Besitzer, und der hat – untersucht wird eben alles – ein narrensicheres Alibi. Die Zeugenvernehmungen der Bankbeamten und Kunden bestätigen zwar den genauen Ablauf des mörderischen Überfalls. Aber niemand sonst ist in der Lage, den Todesschützen genau zu beschreiben – er war eben doch nur Sekunden ohne Maske. Alle Hoffnung ruht damit auf Gaby. Trimmel kommt nur kurz in das Zimmer, in dem sie mit der Malerin Anita sitzt, gibt Anita die Hand und sagt zu Gaby: »Vielleicht hast du ja was von mir gelernt!« Dann geht er wieder. Die Zeichnung ist noch nicht sehr weit fortgeschritten, und sehr viel Hoffnung hat er eigentlich nicht. Weiche Bleistifte und Radiergummi sind für einen Polizisten der nicht mehr ganz jungen Generation nach wie vor nicht die wahren Waffen, einen Mörder zu fangen. Der 14. Oktober. Niemand, am wenigsten Trimmel, ahnt, daß sie zwar doch schon kurz vor einem wichtigen Teilerfolg stehen, daß sich die Sache aber noch fast bis Weihnachten hinziehen wird.
Einstweilen huscht nur der Bleistift über den Block, fast lautlos, mal spitz, mal breit. Anita ist so gekommen, wie sie war: in farbverschmierten Slacks und einem bunten Poncho. Kaum geschminkt, mit
langen, glatten Haaren – ein exotischer Vogel, der aus dem Indianerland in ein schmutzig-weißes Büro mit phantasielosen Holzmöbeln geflattert zu sein scheint. Erst ein Oval, der Umriß des Kopfes. Gaby korrigiert, die Kontur wird teilweise ausgelöscht, neu gezeichnet – ja, so könnte es sein! Dann die Augen. »Sanfter!« sagt Gaby. Also werden sie sanft, ein bißchen schräg, beim fünften Versuch ziemlich eng zusammenstehend. Aber die Augen sind und bleiben die größte Schwierigkeit – so ganz ist Gaby bis zuletzt nicht zufrieden. »Tee, die Damen?« sagt der Mann von der KTU, der zwischendurch mal kurz erscheint. »Gern«, sagt Anita keß, »auch etwas Toast…« Im Augenblick hätten sie den Damen vermutlich auch Kaviar gebracht. Die Nase ist am einfachsten. Auffällig schmal, immer noch schmaler – solange, bis Anita sagt: »Das nennt man dann aber schon eine scharfe Nase!« »Genau!« sagt Gaby. »Eine scharfe Nase! Und unten wurde sie etwas breiter…« »Ich wußte gar nicht«, sagt Anita beiläufig, während sie die scharfe Nase unten etwas breiter zeichnet, »daß du ein so optisches Gedächtnis hast…« Der Mund allerdings ist gar nicht schmal und erst recht nicht scharf. »Mehr… mehr sinnlich…«, sagt Gaby. Anita grinst. Volle Lippen, in den Winkeln fast weiblich geschwungen. »Wird ‘n hübscher Knabe!« stellt die Künstlerin fest. »Er ist ein Mörder!« sagt Gaby ernst. »‘tschuldige«, sagt sie. »Muß ja auch wirklich schlimm gewesen sein… wenn ich mir so vorstelle, daß mir das passiert wär’… ich weiß nicht…« »Mal ihm nicht so große Ohren!« bestimmt Gaby.
So geht es drei Stunden lang. Und am Ende kann Gaby sagen, was sie will: wenn der Mann wirklich so aussieht, wie sie ihn geschildert und Anita gezeichnet hat, ist es ein erstaunlich gut aussehender Mörder! Kurzes, fast schwarzes krauses Haar. »Sollen wir ihn noch kolorieren?« fragt Anita. Gaby schüttelt den Kopf. »So schwarzweiß… ich meine fast, so sieht er am ähnlichsten aus…!« Die Beute der beiden Räuber, von denen einer ein Mörder ist, beträgt 300000 Mark, und es wäre sicherlich eine noch höhere Beute gewesen, wenn die Leute vom Geldtransport aus Sicherheitsgründen nicht pro Container ein Limit setzen würden. Der Zahltag stand vor der Tür, und die Bank sollte an die anderthalb Millionen kriegen. Gleich beim ersten Gang ist der Geldbote aber schon überfallen worden – auf ein paar Metern, die bei allen Geldtransporteuren als die gefährlichsten ihres ganzen Lebensweges gelten, jeweils den paar Metern vom Panzertransporter bis ins Innere des Geldinstituts. Wenn der Panzer – der, wie in diesem Fall, das Geld von der Landeszentralbank zum Geldinstitut transportiert – geschlossen ist, könnte ihn kaum eine Handgranate ›knacken‹, geschweige denn eine Maschinenpistole. Aber wenn der Panzer geöffnet ist, die elektromagnetische Verriegelung der Geldcontainer im Transportraum gelöst, der Transportbegleiter unterwegs ist – dann ist er anfällig! Dann erst, und nur dann, kann er ein Ziel für solche Gangster sein, die von ihrem ›Handwerk‹ mehr verstehen und kennen als nur den Mechanismus und die Bedienung einer automatischen Waffe… Trimmel stellt fest: »Es müssen Profis gewesen sein, eiskalte Burschen…« Höffgen ergänzt bedeutungsvoll: »Es waren Killer!«
Petersen bleibt sachlich: »Nur einer. Wenn der andere ihm von der Tür aus zugerufen hat, ob er wahnsinnig ist, den Mann umzunieten…« Sie nehmen zu dritt den Fahrer des Geldtransporters in die Zange, ohne Rücksicht auf seine Gefühle über den Tod seines Kumpels oder gar Freundes. Es hat Fälle gegeben, in denen eine Panzerbesatzung einen Raub vorgetäuscht und sich dann gegenseitig umgelegt hat. Aber nicht hier. Der Fahrer ist zwar Profi – aber nur als Panzerfahrer. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, ein mittelgutes Einkommen, sich nie was zuschulden kommen lassen – und vor allem, es gibt keinen Sinn! Er hätte es anders gemacht, bestimmt nicht vor und in der Bank mit Beamten und Kunden und einem unverhältnismäßigen Risiko! Also geht der Mann nach Hause und kann dort endlich ungestört weinen. Im übrigen hatte der erschossene Karlheinz Schlüchter, ermittelt die sofort zusammengestellte Sonderkommission, erstaunlich viele Freunde und keinen einzigen Feind… Trimmel sieht sich das Kunstwerk von Anita Berg an, wahrhaftig ein ungeheuer naturalistisches Porträt. Hinter ihm sagt der Beamte, der es gebracht hat: »Die Damen warten oben, falls Sie noch eine Frage haben…« Dann passiert’s. Petersen und Höffgen sind aufgestanden und mäßig interessiert um Trimmels Schreibtisch herumgegangen. Auch sie sehen sich das Bild an – und während Höffgen sich schon wieder zurückzieht, sagt Petersen plötzlich: »Den kenn’ ich doch…!« Es schlägt ein wie eine Bombe. »Der heißt…«, sagt Petersen, »…warte mal… ja sicher, der schöne Wolfgang…« Trimmel schaut ihn verstört an. »Hat er auch einen Hausnamen?«
Petersen denkt angestrengt nach. »Wolfgang… Wolfgang… ich hab’s auf der Zunge, verdammt… Wolf… Wolfgang Rammthor!« »Mit Theodor Heinrich?« fragt Trimmel. »Ja, genau«, sagt Petersen. »Ich war ja nun früher mal beim Einbruch, und da kenn’ ich so einige…« Als Petersen vom Einbruch zum Mord kam, hat er in der Tat ein ungeheures Wissen über sämtliche Arten schräger Vögel mitgebracht. »Bist du ganz sicher?« fragt Trimmel trotzdem. Petersen nickt. Er ist schon am Telefon und fordert die Fahndungsbücher an. Höffgen ebenfalls schnell wie nie, ruft oben an: die Damen, vor allem Gaby bitte zur Audienz! Und die Bücher und die Damen treffen dann etwa zur selben Zeit ein. Petersen blättert. Er läßt sich den Damen gegenüber nichts anmerken, und er klappt das Buch wieder zu. Trimmel und die übrigen gucken fasziniert zu. »Könnten Sie dann dieses Buch mal durchblättern?« bittet Petersen. Gaby blättert sorgfältig, und sie läßt sich auf jeder Seite viel Zeit. Aber sie zögert keine einzige Sekunde, als sie auf die Seite mit Wolfgang Rammthor kommt. »Der hier!« sagt sie entschieden. Der halbe Sieg. Fünf Stunden nach dem Mord schon der halbe Sieg!
»Der ist noch nie aus Hamburg weggewesen!« sagt Petersen zuversichtlich, als er mit Trimmel und Laumen unterwegs ist in die Richtung St. Pauli. »Das heißt – einmal war er, glaub’ ich, in Celle…«
Im Knast von Celle natürlich; Wolfgang Rammthor hat etwa die Hälfte seines bisherigen erwachsenen Lebens in Strafanstalten verbracht. »Und du glaubst, der hockt hier jetzt einfach rum?« fragt Trimmel. »Wolfgang Rammthor hat keine Phantasie«, sagt Petersen, »hier im Revier kennt er sich aus, aber sonst nirgends. Der wüßt’ gar nicht, wo er sich sonst verstecken sollte!« Sie fahren von der Ost-West-Straße auf die Reeperbahn, ordnungsgemäß über den vorgeschriebenen Schlenker am Millerntor. Über die Reeperbahn hinaus in das Viertel um die Königsstraße – zu den modernen Mietkästen, die da in den letzten Jahren hochgeschossen sind. »Hier halt mal an!« sagt Petersen zu Laumen. »Und paß gut auf dich auf!« Laumen paßt auf, wie Trimmel und Petersen achtzig Meter weiter in ein Haus gehen, und zur Sicherheit legt er seine Dienstwaffe neben sich auf den Sitz, knapp versteckt unter einer Zeitung. Immerhin besser, denkt er, als sich auf der Straße oder in einem Toreingang rumzudrücken.
Bei Elvira Maarck klingelt es, und Elvira macht sofort auf, denn sie wartet auf Kundschaft und auf nichts Böses. Aber dann ist es doch die Polizei: ein jüngerer, den sie kennt, wenn auch länger nicht gesehen hat, und ein älterer, ziemlich massiger Typ. »Um Himmels willen!« sagt Elvira; sie trägt nämlich nur eine Robe, die offenbar aus einer sehr grobmaschigen Tüllgardine geschneidert ist. »Gut siehst du aus!« sagt Petersen, als er mit Trimmel an ihr vorbei ins Appartement geht.
»Es ist niemand hier!« stellt Elvira fest, während sie sich einen Bademantel über die Gardine zieht. »Ihr könnt die Finger ruhig aus der Tasche nehmen!« Petersen lacht. »Die gute alte Elvira…« Alt ist sie allerdings nicht: fünfundzwanzig vielleicht, ganz schön knackig – bestes Durchschnittsalter unter den ›Besseren‹ von St. Pauli. Aber lachen kann sie im Moment überhaupt nicht. »Was wollt ihr?« fragt sie. Petersen sieht sich um. »Wann war er zuletzt hier?« »Wer denn?« »Nun ja«, sagt er todernst, »der einzige Mann, den du liebst…« Trimmel hat inzwischen, da sich niemand dagegen verwahrt hat, vorsichtig Küche und Bad und Kleiderschrank inspiziert: es ist tatsächlich niemand außer ihnen im Appartement. Wenigstens hier dürfte es also keine Schießerei geben. »Ich weiß wirklich nicht, wen Sie meinen!« sagt Elvira Maarck störrisch. »Komm«, sagt Petersen, »sag mir, wo er ist, und wir hauen sofort wieder ab!« Sie überlegt das Angebot sorgfältig und schüttelt dann den Kopf. »Tut mir leid! Wenn’s um Wolfgang geht – der war gestern nachmittag zuletzt hier und hat dann gesagt, er kommt so schnell nicht zurück…« »Na also!« sagt Trimmel. »Seine Post schicken Sie ihm doch sicher nach?« »Er ist ziemlich schreibfaul!« murrt sie. »Deshalb schreibt ihm auch keiner!« »Seit wann hat er eine Schreibmaschine?« fragt Petersen plötzlich, und sie weiß genau, was er damit meint: Schreibmaschine heißt im ›Milieu‹ Maschinenpistole! Also wird sie blaß. »Mit so was hab’ ich nix zu tun!« sagt sie heftig. »Hab’ ich nie gesehen, Ehrenwort!«
»Er hat aber eine!« sagt Trimmel. Aber Petersen, ausgerechnet Petersen hilft ihr aus der Patsche. »Wenn sie Ehrenwort sagt, Chef, stimmt’s wahrscheinlich…« Sie sieht ihn an, eine Mischung aus Angst und Dankbarkeit und Mißtrauen. »Was… was soll er denn gemacht haben…« »Er hat einen umgenietet!« »Tot…?« sagt sie, halb erstickt. »Sehr!« sagt er. »Ich glaub’s nicht…«, flüstert sie, »… überhaupt nicht seine Masche…« »Ich glaub’s auch nicht«, sagt Petersen. »Bloß, ich weiß es!«
Sie teilen ihr mit, daß das Haus Tag und Nacht beschattet wird, und sie verspricht hoch und heilig, daß ihre Liebe zu Wolfgang Rammthor nicht groß genug ist, ihn auch bei einem Mordfall zu schützen. »Sie würde uns tatsächlich anrufen«, sagt Petersen im Fahrstuhl. »Bloß, ich bin sicher, daß Rammthor hier fürs erste nicht mehr auftaucht!« Sie beschließen dann, das Haus doch nicht unter Quarantäne zu stellen. Laumen fährt also mit, als sie eine Gaststätte hinter dem Altenaer Rathaus ansteuern. Hier bedient der Chef selbst: kaum haben sie zu dritt Platz genommen, als der Wirt erscheint und ungefragt drei Bier und drei Weinbrand hinstellt. Ungefragt gibt er anschließend sogar noch mehr von sich, denn auch er kennt Petersen von früher, und auch er rechnet sich aus, wie er zu der Ehre dieses Besuchs kommt. »Wolfgang war vor zwei Stunden hier«, meint er beiläufig. »Er sagt, er ist es nicht gewesen!«
»Was gewesen?« fragt Trimmel sofort. Es hat nämlich noch nichts in der Zeitung gestanden. »Es spricht sich so einiges rum…«, antwortet der Gastwirt ausweichend. »Er hatte wohl was läuten gehört… wahrscheinlich ist er deswegen weggegangen!« Petersen glaubt ihm. Die Kneipe ist Rammthors Stammkneipe – aber der Wirt legt seit Jahren Wert darauf, mit der Polizei auf gutem Fuß zu stehen. Auch Trimmel nickt. Nur Laumen fragt streng: »Sie wissen doch, wo er ist?« »Über alle Berge!« sagt der Wirt ungerührt. Da lacht Petersen meckernd wie eine Ziege. »Höchstens über den Hamburger Berg, wollen wir wetten?« Der Wirt denkt nach, mit verkniffenem Gesicht, und schließlich sagt er: »Da halte ich nicht dagegen, Meister!«
Natürlich hat jede deutsche Polizeidienststelle längst ihr Fahndungsfernschreiben in Sachen Hamburger GeldbotenMord für den Fall, daß Wolfgang Rammthor doch mal verreist sein sollte. Und natürlich hat jeder Hamburger Polizist Rammthors Steckbrief mit Foto in der Tasche und hoffentlich auch im Kopf. Trimmel, Petersen und Laumen klappern immerhin noch eine ganze Reihe von Kontaktadressen Rammthors ab – Kneipen, Spielhöllen und ehemalige Freunde. Bis zum nächsten Abend geht das, mal vereint, wenn’s nötig ist, mal getrennt, und am nächsten Abend erst sagt Petersen, nach wie vor gelassen und fast philosophisch: »Dann dauert’s eben was länger!« Trimmel ist pessimistisch: »Auf die Weise kriegen wir den Kerl nie!«
Aber Petersens Zuversicht ist nicht zu schlagen. »Was soll’s denn, Chef? Wir haben Rammthor doch ganz schön eingekreist seit gestern!«
Die Hamburger Zeitungen berichten vom Tag nach dem Mord an in großer Aufmachung über die Ereignisse. Aber weil die Polizeipressestelle ein so gutes Einvernehmen mit den Redaktionen hat, wird erst um den 25. Oktober herum das eine oder andere kritische Wort laut: Tanzt Wolfgang Rammthor der Kripo auf der Nase herum? Wolfgang Rammthor längst im Ausland? Alles spricht seltsamerweise nur von Wolfgang Rammthor, daß es zwei Männer waren, die den Überfall starteten, gerät fast völlig in Vergessenheit und wird in den Berichten nur ganz am Rande erwähnt. Absolut vergessen und unerwähnt bleibt die Tatsache, daß Trimmels Truppe fast zwanzig Stunden täglich auf Achse ist oder wenigstens in Bereitschaft – daß Gaby Montag Trimmel höchstens noch beim Frühstück zu Gesicht kriegt, Höffgens üppiges Sexualleben fast völlig zum Erliegen kommt, Laumen sein Flötenspiel vernachlässigt und selbst Petersen außer einem Besuch bei der Witwe Schlüchter, der Frau des Erschossenen, keinerlei Höhepunkte erlebt. Der zweite Mann macht ihnen jetzt schon mehr zu schaffen als der erste, den sie noch nicht haben. Weit und breit gibt es keinen Hinweis auf Rammthors Komplizen.
Dann allerdings wird Petersens Optimismus tatsächlich belohnt. Wolfgang Rammthor hält es doch nicht länger als ein paar Wochen in dem Kabuff aus, in dem er sich versteckt hat, und ein Zivilfahnder von der Kripo Budapester Straße erkennt ihn
in der Hein-Heyer-Straße, verfolgt ihn unauffällig und sieht ihn in ein Haus gehen. Eine Viertelstunde später ist das Haus umstellt. Aber so unauffällig das auch alles bewerkstelligt worden ist: Rammthor hat offenbar doch den einen oder anderen Polizeiwagen gesehen und Lunte gerochen. Rammthor schießt, was er mindestens bis zum GeldbotenÜberfall nie getan hatte, sobald die Polizisten das Haus stürmen – schießt mit einer MP, und ein Beamter kriegt einen Schuß ans Bein ab, Gott sei Dank nur einen Streifschuß. »Ich hätt’s ihm wirklich nicht zugetraut!« sagt Petersen immer noch, mit der ihm eigenen Penetranz. Er springt plötzlich aus der Deckung auf der anderen Straßenseite, läuft hakenschlagend wie ein Hase auf das Haus zu und verschwindet im Eingang. Die Schüsse kamen aus dem vierten Stock, aus der Wohnung zur Straße hin. Petersen klingelt an der Tür und geht neben ihr in Deckung, den Revolver in der Hand. »Rammthor, hören Sie mich? Hier spricht Petersen!« Zunächst geschieht nichts. Petersen zählt: …einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig… »Ja, ich höre Sie!« sagt Rammthor von innen. »Dann passen Sie mal auf, Rammthor«, sagt Petersen, »Sie haben überhaupt keine Chance! Entweder ich werf’ Ihnen jetzt ‘ne Handgranate in die Tür, oder Sie kommen freiwillig!« Rammthor: »Was wollt ihr von mir?« Petersen: »Warum schießen Sie denn?« Zum letzten Mal hat Petersen dann recht mit seiner Behauptung, daß Rammthor im Grunde kein Killer ist. »Sind Sie allein?« fragt Rammthor. »Natürlich. Allerdings mit Handschellen…« Zehn Sekunden später öffnet sich die Tür. Wolfgang Rammthor kommt heraus, mit erhobenen Händen, und
Petersen bindet ihn so lässig an wie einen Taschendieb. Handgranaten hat er gar nicht bei sich gehabt.
Noch von St. Pauli aus ruft Trimmel zu Hause an bei Gaby. »Komm sofort ins Büro! Du mußt Rammthor identifizieren!« Sie fährt mit dem Taxi und ziemlich aufgeregt zur ›Parade‹, wie das so heißt. Es sind diesmal nur drei Personen, und Rammthor ist der erste von links. »Der da!« sagt Gaby ohne Zögern. Der da ist der Killer, und sonst niemand… Gaby wird mit einem Streifenwagen nach Hause gebracht, plaudert höflich mit den Polizisten und ist heilfroh, als sie endlich aussteigen darf. »Herzlichen Dank auch!« sagt sie. Die Beamten antworten, es sei ihnen ein Vergnügen gewesen. In der Wohnung kocht sie sich Kaffee und weiß nicht wohin mit ihrer plötzlichen Depression. Ein dummes Gefühl, daß man einen Menschen dem Richter ausgeliefert hat – ein nicht einzuordnendes Gefühl, gegen das kein Kraut gewachsen ist, nicht einmal die grausige Vorstellung vom Bild des erschossenen Karlheinz Schlüchter. Er sah so hilflos aus, dieser Mann, der jetzt einer Mordanklage entgegensieht. Anita Berg, die sie schließlich anruft, hat auch keinen besseren Trost als den Satz: »Du hast einen Vogel!«
Hilflos, hin und wieder allerdings auch schreiend erleben sie Wolfgang Rammthor in den endlosen Vernehmungen der nächsten Tage und Wochen, Trimmel, Petersen, Höffgen und Laumen nehmen ihn abwechselnd, manchmal auch zu
mehreren in die Mangel. Nichts gibt es, das ihm nicht wenigstens dreißigmal unter die Nase gehalten wird. »Sie haben doch die Schreibmaschine bestimmt erst in der Hein-Heyer-Straße gefunden?« heißt es höhnisch. »Ich hab’ sie gekauft«, sagt Rammthor, »diese eine und noch ‘ne andere…« »Sie haben ja auch mal geschworen, Sie würden auf keinen Fall schießen…?« »Geschworen… was soll der Quatsch, ich wollte nicht schießen – genügt das denn nicht?« »Leider nicht. Die Mordanklage ist Ihnen sicher. Sie können Ihren Kumpel ruhig verpfeifen – der kann Ihnen höchstens noch helfen!« Denn immerhin, nach einigen Anfangsschwierigkeiten, hat Wolfgang Rammthor zugegeben, beim Überfall auf den Geldboten dabeigewesen zu sein. Aber auf keinen Fall will er derjenige gewesen sein, der geschossen hat. Ob Rammthor ahnt, daß das an seinem Urteil nichts ändert? »Du hattest…«, beginnt Petersen von vorn, »ich meine, Sie hatten ja nun immerhin noch dreißig Mille bei sich, als Sie uns diese Feldschlacht lieferten…« »Sie können ruhig du zu mir sagen!« sagt Rammthor. »Danke, es geht auch so…« »Okay. Und was soll das?« »Wo ist der Rest?« fragt Petersen. Der Rest von neun Zehnteln der Gesamtbeute. Wolfgang Rammthor beugt sich zu ihm, fast vertraulich. »Es war nicht meine Idee, die Panzerleute zu überfallen. Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl. Und ob Sie mir’s glauben oder nicht… ich würde auch sagen, wo die Kohlen sind, nur…« »Nur was?« sagt Trimmel.
»Damit hätt’ ich euch gleich auch den… den zweiten Mann geliefert!« »Hat er das Geld?« »Wer sonst?« »Dann spuck’s doch aus… wir kriegen ihn ja doch!« Aber Rammthor setzt sich wieder gerade hin. »Tut mir leid. Ich sag’s nicht, und wenn ihr mich foltert!« Er raubt ihnen fast den letzten Nerv; die Zeit dieser im Endeffekt fruchtlosen Verhöre ist viel schlimmer als die Zeit, in der sie ihn noch nicht hatten. Schon die fünfte Woche. »Versteht ihr das?« fragt Trimmel. Natürlich nicht, weder Höffgen noch Petersen noch Laumen. Petersen vor allem ist stocksauer, daß seine Quellen von früher, die ja schließlich auf Umwegen zur Festnahme von Wolfgang Rammthor geführt hatten, inzwischen völlig versiegt sind. »Der andere kann nur vom Kiez kommen!« behauptet er. »Rammthor würd’ sich nie mit was Fremdem einlassen, nicht mal mit einem aus Elmsbüttel oder Barmbek…« Aber die V-Leute versagen in Kompaniestärke. Petersen wiederholt sich: »Der muß vom Kiez kommen! Der muß wissen, wie ‘ne MP funktioniert! Rammthor ist hundertmal vorbestraft, aber geschossen hat er noch nicht ein einziges Mal! Richtig wesensfremd… könnt’ einem leid tun, daß er an so was geraten ist…« »Mir tut er überhaupt nicht leid!« sagt Trimmel herzlos. »Ich tu mir höchstens selbst leid – ganz gewaltig sogar!«
Eines Abends, schon hoch im November, gehen sie ins Old Farmsen Inn, wo sie ewig nicht gewesen sind. Tage zuvor hat Trimmel einen Brief von den Kanarischen Inseln bekommen:
Bernd Herbst, der braungebrannte junge Mann, der im Januar an der Alster quasi eine schreiende Leiche gefunden hatte, teilt ihm mit, er würde ihn anläßlich eines bevorstehenden wichtigen Ereignisses in seinem Privatleben gern im sonnigen Süden begrüßen. »Verrückt! Was der sich bloß einbildet…!« sagt Trimmel. Er hat den Brief einfach in sein Köfferchen geworfen, kaum zu Ende gelesen – und jetzt, in der Kneipe, denkt er überhaupt nicht mehr dran. Sie wollten mal einen Abend lang nicht über Wolfgang Rammthor reden, und jetzt reden sie doch über nichts anderes. Selbst der Wirt – einer der nicht sehr zahlreichen Menschen, der von sich behaupten darf, er sei mit Trimmel befreundet – traut sich nur an den Tisch, wenn er eine neue Runde bringen muß. Erst nach dem Zahlen, kurz vor Mitternacht, wird der Wirt seine Neuigkeit los. »Paul«, sagt er, »abgesehen davon, daß ihr sowieso kaum noch kommt – ich glaub’, mir wird der Laden hier zuviel, ich mach’s nicht mehr lange!« Trimmels Schreck ist längst nicht so groß, wie der Wirt gedacht hatte. »Na und?« sagt Trimmel. »Mußte ja selber wissen. Deine Sorgen möcht’ ich haben!« Kein Wort mehr außer »Tschüs!«
Unerfreuliche Nachrichten, immerhin, auf der ganzen Linie. Die schlechte Stimmung bleibt nicht in den Büromöbeln hängen, sie wird auch nach Hause verschleppt. Rammthor wird längst nicht mehr täglich vernommen. Aber fast täglich nimmt Trimmel nach Feierabend seine Lebensgefährtin und – in diesem Fall – Kronzeugin Gaby auf die Hörner: »Was machst du eigentlich für ein mieses Gesicht?«
Dabei hat er sogar nicht mal ganz unrecht, denn Gaby ist wirklich ›mies‹ dran – kreuzunglücklich und depressiv. Allen Ernstes überlegt sie seit einiger Zeit: Man müßte irgendwie was tun können… Den Ausschlag gibt schließlich ein Bericht im Mittag, der auch nicht mehr recht weiß, was in diesem verfahrenen Fall noch geschrieben werden kann: Eltern weinen um ihren mißratenen Sohn! Die traurige Geschichte des schon über siebzigjährigen Ehepaars Rammthor, das vier wohlgeratene Kinder aufgezogen hat und denen das fünfte offenbar völlig mißraten ist. Eben Wolfgang. Gaby sagt sich selbst, daß sie verrückt ist, als sie sich beim Einwohnermeldeamt die Adresse der Eltern Rammthor beschafft: Irgendwo am Schlump, im Schatten von St. Pauli… Sie hätte Trimmel fragen können, wo die Leute wohnen, wenigstens einen seiner Leute. Aber was hätte sie antworten können, wenn sie gefragt worden wäre, was sie mit der Anschrift wollte? Nichts. Buchstäblich nichts. Buchstäblich mit leeren Händen und leerem Herzen läutet sie an der Wohnungstür Rammthor, und wenn jemand geöffnet hätte, wäre ihr bestimmt nichts anderes eingefallen als der Satz: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Statt dessen öffnet sich die Tür in ihrem Rücken, die andere Wohnungstür auf der Etage, und eine ältere Frau, die dem Namensschild nach Versmann heißt, fragt doch tatsächlich: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Ich… ich weiß nicht…«, sagt Gaby wahrheitsgetreu. »Sind Sie von der Zeitung?« fragt Frau Versmann. »Natürlich nicht!« sagt Gaby.
»Na ja«, meint Frau Versmann, »so natürlich ist das nun auch wieder nicht!« Aber wenn sie auch enttäuscht ist, daß die Dame nicht von der Zeitung kommt – sie gibt doch bereitwillig Auskunft: »Rammthors sind verreist!« »Ach«, sagt Gaby, »für länger?« »Ich glaube nicht«, meint Frau Versmann, »im allgemeinen fahren sie höchstens mal zu ihrem Sohn nach Lüneburg; was sollen sie hier auch alleine machen?« »Ja, natürlich…«, bestätigt Gaby. »Immer die Reporter… dabei kommen sie abends meistens schon wieder zurück. Also, wenn ich Frau Rammthor wäre – ich würd’ bestimmt hier verschwinden…« Es reicht, denkt Gaby. »Ich komm’ dann noch mal wieder!« »Ja, gern!« sagt Frau Versmann – als sei sie es, die darüber zu entscheiden hat, wer bei Rammthors gern gesehen ist und wer nicht.
In Lüneburg gibt es, sagt die Telefonauskunft, nur einen Rammthor: Richard, Antiquitäten. »Ein richtiger Laden?« fragt Gaby. »Also, dafür bin ich nicht zuständig!« sagt das Telefonfräulein. »Ich mein’ nur, Antiquitäten, die will er ja sicher auch verkaufen…« Logisch, denkt Gaby. Und da sie einmal am Telefon ist, ruft sie bei der Bundesbahn an und erfährt, daß vormittags um 10.35 Uhr ein Zug nach Lüneburg fährt, der schon um 11.13 Uhr dort eintrifft. Wenn sie dann den Antiquitätenladen besucht, ist sie immer noch – beispielsweise um 15.11 Uhr ab Lüneburg, an Hamburg Hauptbahnhof um 15.49 Uhr – rechtzeitig zurück.
Im Grunde, beruhigt sie sich, ist es ja viel einfacher, einen öffentlichen Laden aufzusuchen, als bei wildfremden Leuten zu klingeln. Und wenn sie ihren unerklärlichen Drang, die Familie Rammthor kennenzulernen, stillen kann – was soll’s, und warum nicht? Trimmel erfährt am Abend kein Wort, obgleich er endlich mal früher nach Hause kommt. Gaby fragt lediglich: »Bist du endlich weitergekommen mit der Sache Rammthor?« »Frag mich besser nicht«, sagt er, halbwegs friedlich, »den werd’ ich demnächst ohne Geständnis beim Staatsanwalt abliefern, wenn’s so weitergeht!« »Mach dich doch nicht kaputt!« sagt Gaby. »Nee, nee!« verspricht er, wenn auch im höchsten Maße unzufrieden.
Morgens ist er allerdings richtig aufgeräumt, als er das Haus verläßt. Er gibt Gaby sogar einen Kuß und meint, er wolle es heute mal langsam angehen lassen. »Du kannst ja richtig lachen!« sagt Gaby. »Da staunst du, was?« sagt er mit schiefem Grinsen. Sobald er weg ist, packt Gaby zweihundert Mark in ihre Handtasche, für alle Fälle, und macht sich gemächlich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Unterwegs fängt’s an zu schneien, aber der Zug fährt pünktlich ab und kommt auch mit nur fünf Minuten Verspätung in Lüneburg an. Die Straße, in der Richard Rammthor seinen Laden hat, ist in der Nähe des Zentrums, sagt man ihr am Bahnhof, gleich am sogenannten Sande. Ein Taxi lohnt sich nicht; zu Fuß geht’s auch in Lüneburg meist schneller. Es schneit immer noch, und der Schnee sieht aus wie weißer Staub.
Als Gaby den ziemlich komfortablen Laden erreicht, geht sie erst mal vorbei – ein Stück weiter die Straße hoch, wieder zurück auf der anderen Seite. Dabei registriert sie, daß schräg gegenüber ein Café namens Rühl etabliert ist und außerdem auch geöffnet hat. Dann überquert sie die Straße und marschiert tapfer auf das Geschäft zu. Die Ladenglocke scheppert wie eine ganze Kuhherde in ihrer österreichischen Heimat, und anwesend ist scheinbar niemand. Geöffnet von 9-13 und 16-18.30 Uhr steht auf einem Schild zwischen lauter alten Engeln und noch älteren Schußwaffen. Und Teppiche gibt es, an der Wand und auf dem Boden – die dämpfen jeden Schritt… »Was darf es sein, gnä’ Frau?« sagt die Stimme. Sie hat den Mann nicht kommen hören, kriegt einen Schreck, dreht sich auf dem Absatz herum und sieht, daß er von rechts gekommen ist, aus einem Nebenraum. Und gleich darauf bleibt ihr fast das Herz stehen. »Ja, gnä’ Frau?« wiederholt er höflich. Mühsam stammelt sie: »Ich… ich suche einen Zinnteller…« »Aber gern«, sagt er lächelnd, und es sieht aus, als ob der Goldfleck in seinem Auge tanzen würde, »wenn Sie mir bitte folgen möchten…« Soll sie fliehen? Es hat keinen Sinn, denkt sie fatalistisch. Sie folgt ihm, und zwischen den Räumen dreht er sich um und sagt lächelnd: »Übrigens, mein Name ist Rammthor!« »Montag!« sagt sie, und Rammthor bleibt verwundert stehen. »Ich heiße Montag!« wiederholt sie hastig. Da begreift er und lacht. »Hübscher Name. Ich dachte momentan, Sie scherzen… wo doch heute Dienstag ist…« »Ja, ja…«, sagt sie, und es gelingt ihr tatsächlich, ebenfalls zu lächeln. »Dienstag vor Heiligabend!«
Er kramt in seinen Zinntellern. »Soll doch sicher ein Geschenk sein, oder?« »Natürlich«, sagt sie. »So kurz vor den Feiertagen drängt sich alles auf einmal…« Beispielsweise der Friseur. Was bin ich froh, denkt Gaby zwischen zwei Zinntellern, daß ich noch nicht beim Friseur war und momentan meine Perücke trage. Damit seh’ ich Gott sei Dank völlig anders aus… »Wie finden Sie den?« fragt Rammthor. Immer dieses Lächeln. »Sehr… sehr hübsch!« sagt Gaby. Der Goldfleck, der Goldfleck! Sehr lange hat die gute Laune beim Hamburger Leiter K1 an diesem Vormittag nicht vorgehalten. Das Auto hat er viel zu weit weg parken müssen, nachdem er sich widerwillig entschlossen hatte, in die City zu fahren, und leise, aber unangenehm naß rieselt der Schnee. Grau in grau. Vier Nächte noch bis zur Stillen Nacht, und es herrscht ein Rummel wie auf dem Weihnachts-Dom. Trotz und alledem aber: Trimmel kauft ein! Kauft sogar während der Dienstzeit ein, friert sich die Ohren ab bei zwei Grad minus und ersteht zwischen Mönckebergstraße und Staatsoper eine Handtasche für Gaby – ein Sonderangebot, echte Krokodilimitation, für sechsundvierzig Mark – sowie Hausschuhe im Norwegian Style, bei denen es nicht so genau auf die Paßform ankommt. Und der Himmel schickt einen Sonnenstrahl durch eine Wolkenlücke auf den Gänsemarkt, als Trimmel sogar ein kleines Weihnachtsbäumchen kauft, in einem Topf aus rotem Ton… »Soll ich Ihnen eine Manschette drummachen?« fragt die arglose Verkäuferin. »Nicht nötig!« sagt er grämlich, und sie erschrickt. Der Preis bleibt sich gleich.
Für den Kriminalobermeister Petersen kauft Trimmel noch eine dunkelblaue, fast schwarze Krawatte, weil er so gern zu frisch verwitweten Damen geht. Für Höffgen einen Schlag nach! zum Vorzugspreis, eben weil er so selten nachschlägt und sich endlich bilden sollte. Für Laumen schließlich gefütterte Handschuhe, weil er – als Jüngster – am meisten draußen steht und das ganze Jahr über observiert, was das Zeug hält. Dann reicht’s aber. Es ist sowieso eine Sensation, daß bei Trimmel, den ein Reporter mal eine Mischung aus einem Weihnachtsmann und einem russischen Panzergeneral genannt hat, ausnahmsweise der Weihnachtsmann dominiert. Sorgsam breitet er eine Decke über die im Fond seines alten Wagens verstauten Geschenke, damit sie niemand sieht, und kämpft sich – diesmal wirklich rücksichtslos wie ein Panzergeneral – zurück durch den Weihnachtsbetrieb ins Präsidium. »Oh, Moment…!« schreit Petersen in den Telefonhörer, als Trimmel ins Zimmer kommt. Gerade wollte er auflegen. Jetzt reicht er Trimmel den Hörer und freut sich: »Telefon, Chef!« »Was grinst du so?« fragt Trimmel. »Ja, hier Trimmel…?« »Paul«, sagt Gaby, die sonst so gut wie nie im Büro anruft, »du mußt sofort nach Lüneburg kommen!« Ihre Stimme klingt derart gehetzt, ja verzweifelt, daß er erst mal fragt: »Wo bist du denn?« »In Lüneburg!« sagt sie. »Aber du mußt sofort…« »Ich muß arbeiten!« sagt er. »Ich kann doch nicht den ganzen Tag…« »Du sollst ja arbeiten«, behauptet sie, »außerdem…« »Außerdem?« Eine Sekunde Pause. Dann ein reichlich gequältes Lachen aus Lüneburg. »Bitte, Paul! Es ist dringend – hab’ ich das schon
jemals gesagt? Ich muß dir was zu Weihnachten schenken, und das geht nur heute und jetzt sofort!« Dieses Weihnachten macht offenbar alle Menschen verrückt. »Wann und wo?« fragt Trimmel. »Im Café Rühl in der Nähe vom Sande. Du fährst eine gute halbe Stunde…« Trimmel sagt: »Moment mal!«, nimmt den Hörer vom Ohr und fragt Petersen: »Liegt was Besonderes an?« »Überhaupt nichts, Chef!« Da spricht er wieder in den Hörer. »Also gut, ich fahr’ dann gleich los!« Er platzt fast vor Neugier, was Gaby sich unter diesem Treff vorstellt – dem ersten Treff mit Trimmel seit einer halben Ewigkeit. Außerdem ist der Tag sowieso halb kaputt durch diese idiotischen Weihnachtseinkäufe. Er fährt, was der Wagen noch hergibt: zur Autobahn Hannover-Bremen, die Abfahrt Maschen, die Bundesstraße 4, Stelle, Winsen, Bardowick. Unmittelbar vor Lüneburg fragt er an einer Tankstelle nach dem Sande und dem Café Rühl. Der Weg wird ihm gut beschrieben, und er findet auch überraschend schnell einen Parkplatz, geht in das Café, und da sitzt tatsächlich Gaby – aber wie! Sie sitzt am Fenster, ist sichtlich ungeheuer erleichtert, als sie Trimmel sieht, bleibt aber trotzdem sitzen und läßt die Straße nicht aus den Augen. »Wie siehst du denn aus?« fragt Trimmel. »Wieso?« fragt sie geistesabwesend zurück. »Mit dieser Perücke und dem Make-up bist du ja geradezu bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt…« »Ich hätte es vielleicht leicht sein können!« sagt Gaby todernst. »Sieh mal, da drüben…« »Da der Laden…?« Sie nickt.
Antiquitäten, liest Trimmel, sieht stinkvornehm aus. Alte Kunst – alte Waffen – alte Teppiche. Es ist 12.58 Uhr. »Da, jetzt kommt er!« sagt Gaby flüsternd, obgleich es draußen bestimmt niemand hören kann. Ein Mann tritt aus der Tür des Geschäfts, und Trimmel trifft fast der Schlag, auch wenn er den Mann zunächst nur für den Bruchteil einer Sekunde von vorn und dann nur von hinten gesehen hat. »Das ist doch…« »Das ist dein Mörder!« sagt Gaby. »…ja, sicher – Rammthor!« Rammthor dreht sich um, auf dreißig Meter Distanz deutlich sichtbar: gut einsachtzig groß, kurzes, fast schwarzes krauses Haar, schlank und durchtrainiert, das hübsche, etwas südländische Gesicht, die scharfe Nase – nur die Kleidung etwas anders als sonst: dezent, insgesamt nicht so auffällig… »… Wolfgang Rammthor…!« stammelt Trimmel. »… heute morgen war nichts über seine Flucht…« »Richard!« sagt Gaby. »Richard Rammthor!« Richard Rammthor geht zu einem Wagen mit Lüneburger Nummer – Mercedes 350 SEL, registriert Trimmel – und fährt gemächlich davon. Bestimmt nicht schneller, als die Polizei erlaubt. Gaby wiederholt: »Richard Rammthor!« »Ein… ein Bruder…?« sagt Trimmel, immer noch verstört. »Ein Zwillingsbruder«, sagt Gaby, »ein Doppelgänger… bis auf einen Punkt. Er hat ein Goldauge!« Rammthor mit dem Goldauge fährt davon. Weit kann er nicht kommen. Weit kommt er auch nicht. Eine Stunde später wird Richard Rammthor mit Hilfe der Lüneburger Kripo in seiner Villa im Kurviertel gestellt.
»Ich mach’s allein!« entscheidet der Lüneburger Hauptmeister, der für Mord und Totschlag zuständig ist. Unauffällig wie ein Handelsvertreter geht er die Auffahrt hoch und läutet, und Richard Rammthor macht selbst die Tür auf und sieht in eine Pistolenmündung. »Keine Bewegung!« sagt der Hauptmeister. »Nehmen Sie die Hände über den Kopf…« Richard Rammthor tut’s. Trimmel und zwei weitere Beamte kommen im Laufschritt, durchsuchen den Festgenommenen, der bis dahin kein einziges Wort gesagt hat, finden keine Waffe und legen ihm Handschellen an. »Sind Sie Richard Rammthor?« fragt Trimmel. Der Mann nickt. Und sein erster Satz ist ein Geständnis: »Ich wußte, daß es nicht gutgehen konnte!« Er wird in den modernen Lüneburger Polizeibau und später sicher nach Hamburg gebracht, wo man ihn mit seinem Bruder und den Tatsachen konfrontieren wird – einen ehrenwerten Geschäftsmann auf dem Antiquitätensektor mit anfangs leichten, später schweren, am Ende unüberwindlichen finanziellen Schwierigkeiten, die er mit Hilfe seines kriminellen Bruders auf mörderische Weise lösen wollte.
Auf der Rückfahrt nach Hamburg sitzt Gaby die ganze Zeit neben Trimmel und schweigt. Auch Trimmel macht erst hinter Wittorf den Mund auf. »Sag mal, bist du eigentlich wahnsinnig?« »Ich war wahnsinnig vor Angst…«, gibt sie zu. »Konntest du mir nicht eher Bescheid sagen, was da so im Busch ist?« »Bitte, Paul«, sagt sie kläglich, »ich wußte es doch auch nicht! Ich fühlte nur, daß da irgendeine Kleinigkeit bei der
Zeichnung von Anita nicht stimmte… aber Zwillingsbrüder… und daß es dieser Pigmentfehler im Auge war…« Goldgelb, fast herzförmig – wie ausgelaufen aus der graublauen Iris rechts. Eine Spielart der Natur, eine Normvariante, die das Sehvermögen des Betreffenden überhaupt nicht trübt… »Und wenn er dich nun erkannt hätte?« sagt Trimmel grollend. »Dann hätte er mich vielleicht umgebracht!« sagt Gaby trotzig. Ja, wenn… Im Grunde hat es ja wenig Zweck, ständig in der Sache herumzustochern. »Petersens dummes Gesicht hättest du sehen sollen!« sagt Trimmel also nach einer Weile, halb besänftigt. »Wieso – wann hast du das denn gesehen?« fragt sie. »Gehört!« sagt er, wenig logisch. »Am Telefon! Endlich war ihm klar, warum dieser Wolfgang so stur war, sobald es um seinen Komplizen ging!« »Ja, sicher, weil’s sein Bruder war…« Und Trimmel nickt. »Nächstens werden wir sofort nach Brüdern fragen. Was hätten wir uns für ‘ne Arbeit sparen können!« »Nur Arbeit…?« Die Spannung im Wagen ist immer noch da, manchmal unerträglich – die Stimmung wechselt von einer Sekunde zur anderen. Irgendwann wird ein Parkplatz angezeigt, und Trimmel blinkt plötzlich und fährt rechts raus. »Was ist?« fragt Gaby. Als der Wagen dann steht, verlangt Trimmel todernst: »Bitte, schwöre, daß du so was nie wieder tust!«
»Ich schwöre!« sagt sie feierlich, und jetzt endlich zittern ihr so heftig die Knie, daß sie froh ist, als sie Trimmels Hand auf ihnen spürt. »Ich hab’ übrigens was für dich gekauft«, sagt sie und packt den Zinnteller aus, den sie bei Richard Rammthor erstanden hat. »Hier…« »Danke!« sagt er, wiegt ihn zwischen den Händen, prüft ihn von hinten und vorn und fragt: »Was hast du dafür bezahlt?« »Das geht dich nichts an!« sagt sie und lächelt wieder. »Ich will’s aber wissen – wegen der Ermittlungen! Wir müssen ihm ja noch seine Beute aus der Nase ziehen…« »Hundertdreiundzwanzig!« sagt sie gottergeben. »Hundertdreiund…?« Das Wort bleibt ihm im Hals stecken, und er verschluckt sich fast. »Ist das denn wichtig?« »Und ob!« sagt Trimmel. »Über den Schädel hat er dich zwar nicht gehauen, aber frag mich nicht, wie übers Ohr!«
Das ist dann die Geschichte Rammthor, die mit einem vollen Geständnis Richard Rammthors endet und außerdem mit einem Weinkrampf – nicht etwa bei Richard, sondern bei Wolfgang, dem hartgesottenen Gauner. Lebenslänglich kriegen sie vermutlich beide. Zusätzlich zu den dreißig Mille, die bei Wolfgang sichergestellt wurden, werden in Richards Antiquitätenladen noch an die zweihundert Mille gefunden – ziemlich neue Scheine zwischen lauter alten Sachen. Mit dem Rest hat Richard offenbar seine allerdringlichsten Schulden abgezahlt. Und dann ist endgültig Weihnachten, auch im Hause Trimmel. Fünf Kerzen brennen an dem kleinen Bäumchen ohne Manschette, darunter liegen die Handtasche und die
Hausschuhe und ein paar andere Sachen mehr und auch der teure Zinnteller aus Lüneburg – der vor allem. »Muß ‘ne Weile her sein«, sagt Trimmel, locker wie selten, »daß hier Kerzen angesteckt worden sind. Aber du bringst ja alles fertig…« Gaby bringt ihm ein Bier, sagt erst mal – als erfahrene und kluge Lebensgefährtin – gar nichts, dreht das Fernsehen leiser und setzt sich mit einem Gin Tonic daneben. »Hab’ ich dir eigentlich schon erzählt«, fragt Trimmel, »daß das Old Farmsen dicht macht?« »Sag bloß«, sagt sie. »Das tut mir aber leid…« »Mir auch«, sagt er ehrlich. »Auf der anderen Seite, was man da an Taxi spart…« Und er wird dann richtig redselig: War ein komisches Jahr, meint er, zählt die ›komischen‹ Fälle auf, die ihm untergekommen sind, angefangen von Bernd Herbst, der ihm ja jetzt geschrieben hat, er werde bald eine gewisse Hannelore Hellmann heiraten, die Gaby ja auch kennengelernt hat, als sie mit Trimmel anfangs des Jahres die paar Wochen auf Teneriffa war… »Ach«, sagt Gaby plötzlich, »von wegen heiraten…« »Willst du mir vielleicht…?« fragt er in seiner guten Stimmung dieses Abends. Aber sie hört es nicht, denn sie ist rasch aus dem Zimmer gegangen und kommt mit der dicken Weihnachts-Zeitung zurück. »Hast du nicht auch mit einem namens Streckmann zu tun gehabt?« »Ja, und…?« sagt er. Denn an John Albert Streckmann, den ›moralischen Mörder‹ seines Freundes, erinnert er sich nur ungern. Doch sie blättert und blättert, und schließlich findet sie es – eine Anzeige, schlicht um schlicht: John Streckmann – Marion Streckmann, geb. Burmeister. Wir heiraten Weihnachten. Kein Wort mehr. Nur die Nachricht. Nicht mal der Name des
betrogenen und toten ersten Mannes – nicht mal Marion Streckmann, verw. Schaerbaum. Und auch kein Wort von einem Empfang. Gaby hätte die Zeitung vielleicht besser nicht geholt, jedenfalls nicht heute abend. »Ist ja doch seltsam mit der Ehe…«, sagt Trimmel philosophisch, gar nicht mehr so locker. Und wenn jemals eine Erklärung Trimmels, wie sie bei ihm, wenn überhaupt, offenbar nur an hohen Feiertagen möglich ist, in der Luft lag – sie ist wie weggeblasen. Der Abend geht weiter, wird zwar noch gemütlich, aber auch älter und später und geht schließlich ohne besondere Vorkommnisse zu Ende. Das jedenfalls wäre der Tatbestand, wenn ihn die Polizei beschreiben müßte. »Gute Nacht, Gaby!« sagt der Polizist Trimmel. Immerhin, alles, was recht ist, erst gut zwei Stunden nach Mitternacht.