Friedhelm Werremeier
Trimmel hat Angst vor dem Mond
Kriminalstories
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag Gm...
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Friedhelm Werremeier
Trimmel hat Angst vor dem Mond
Kriminalstories
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, August 1977
Redaktion: K. Schelf Umschlagentwurf: Ulrich Mack Umschlagtypographie: Manfred Waller © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1977 Satz Aldus (Linotron 505 C)
Was ist das eigentlich für einer, dieser Trimmel? Paul Trimmel, Hauptkommissar bei der Hamburger Kripo, unaufdringlicher Held in zahlreichen Kriminalromanen und Fernsehspielen der ARDSerie ‹Tatort›? Paul Trimmel sieht aus wie der Schauspieler Walter Richter (der ihn im Fernsehen verkörpert); er ist ein grantiger Bulle, der das StGB nicht dauernd unter dem Arm trägt, der unkonventionelle, manchmal fragwürdige Wege geht und doch, unkorrumpierbar wie ein Bleiklotz, im besten Sinn des Wortes recht tut und niemand scheut – kein gescheiter, aber ein kluger Mann; keine Intelligenzbestie, aber einer mit Instinkt und unerwartetem Herzenstakt; ein Leuteschinder, für den seine Leute durchs Teuer gehen, ein Zyniker mit Herz… Vor allem: er ist ein Polizist, der seine Fälle löst – Punkt. So hat ihn sein ‹Vater› Friedhelm Werremeier angelegt; so kennen wir ihn. Aber auch ein Mensch und Polizist wie Trimmel hat seine Grenzen: sie liegen da, wo das Kriminelle in das Psychopathologische übergeht, in der Grauzone zwischen Verbrechen und seelischer Krankheit. Und da kommt ihm in den drei Stories dieses Bandes der Psychiater Dr. Walter Lorff zu Hilfe.
Es war wohl ziemlich zwangsläufig, daß mein Hamburger Krimmalhauptkommissar Paul Trimmel seine heimliche Liebe zur Psychiatrie eines Tages beruflich zu nutzen versuchte – mit einem Erfolg, der ihn dann mehrfach veranlaßte, bei der Aufklärung kapitaler Verbrechen den ihm und anderen auch menschlich sehr sympathischen Facharzt für Psychiatrie Dr. Walter Lorff um Hilfe zu bitten. Drei dieser Begegnungen zwischen dem Polizisten und dem Seelenarzt werden hier, jeweils in Form abgeschlossener Kurzromane, mitgeteilt. Selbstverständlich handelt es sich auch hier, wie bei sämtlichen bisherigen Erlebnissen Trimmels, um fiktive Geschichten, und jede Ähnlichkeit der auftretenden Figuren mit lebenden oder toten Personen, jede Übereinstimmung einer Romanszene mit einem tatsächlichen Ereignis wäre deshalb rein zufällig. Sehr real dagegen war die fachkundige Beratung, die ich durch namhafte deutsche Psychiater erhielt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. F. W.
Ein Psychiater auf dem Kriegspfad
Die Sache fängt für Dr. Walter Lorff ganz harmlos an, mit einem Telefonanruf in der Praxis, freitags gegen achtzehn Uhr. Der Kriminalhauptkommissar Paul Trimmel meldet sich, dieser Typ mit der haarigen Stimme, die er nun auch noch zu glätten versucht und erkennbar aus der untersten Etage herausheben möchte: »Herr Doktor Lorff«, knarrt er, »ich halt’s ja für möglich, daß Sie sich noch an mich erinnern…« »Herr Trimmel, ja«, sagt Lorff. »Wieso so kokett?« »Na, hätt ja sein können«, sagt Trimmel, um gut Wetter bemüht, »ist ja wirklich erstaunlich, daß Sie um die Zeit noch arbeiten…« »Sie ja wohl auch«, meint Lorff. »Oder haben Sie… persönliche Schwierigkeiten?« »Ach, wissen Sie«, sagt er heuchlerisch, »die hab ich zwar mal öfter. Ich bin im Moment auch ‘n bißchen heiser, aber das ist natürlich nicht der Grund, warum ich mich an Sie als Psychiater wende…« »Sondern?« »Dienstlich«, sagt Trimmel, »wie Sie schon vermuteten…« »Immer noch Mord und Totschlag?« »Diesmal Mord«, sagt er, was ihm als Polizist, als rechtliche Würdigung gar nicht zusteht. Aber die Worte kommen wie vom Grunde eines frisch ausgehobenen Grabes. »Schlimme Geschichte… schlimmer als alle, die wir gemeinsam erlebt haben…« Lorff sagt langsam, um Zeit zu gewinnen: »Daß Sie glauben konnten, ich könnte jemanden vergessen, mit dem ich mal länger als eine Stunde zu tun hatte… Aber mir fällt auf, daß
Sie im Gegensatz zu sonst Ihre Sätze zu Ende sprechen. Mal direkt gefragt, Herr Trimmel: Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Anrufs? Was steckt dahinter, wenn Sie sich sprachlich solche Mühe geben? Was soll ich für Sie tun?« »Uns helfen!« sagt Trimmel schlicht. »Es geht darum, daß wir’s für sinnvoll halten würden, wenn Sie einen Menschen für uns hypnotisieren könnten…« »Ach du Schreck!« sagt Lorff, ehrlich betroffen. »Da kommen Sie ausgerechnet auf mich?« »Ja, wieso?« sagt Trimmel scheinheilig. »Kommt die Hypnose nicht aus der Psychiatrie?« »Passen Sie mal auf«, sagt Lorff bedächtig, »früher hab’ ich tatsächlich öfter mal hypnotisiert – als rationelle zeitsparende Therapie, simpel gesagt; heute mach ich’s nur noch ganz gelegentlich – Hypnose sozusagen statt zeitraubender Analyse… Aber Ihnen kommt’s ja sicher nicht auf eine therapeutische Hypnose an?« »Das nicht«, gibt Trimmel zu. »Sondern? Soll ich Ihnen eine Hypnose als Superlügendetektortest veranstalten?« »Nee, so auch wieder nicht«, sagt Trimmel, »‘n bißchen anders schon…« »Ja, wie denn, zum Henker?« Da sagt Trimmel sehr direkt: »Am Telefon kann man das kaum erklären. Kann ich’s Ihnen nicht mal in Ruhe persönlich auseinanderpusseln?« Lorff seufzt herzergreifend, quer durch die halbe Stadt Hamburg. »Hypnose ist vor allem juristisch eine sehr umstrittene Methode zur Wahrheitsfindung, würde ich immer sagen. Außerdem wollte ich gerade Feierabend machen… morgen ist mein erster freier Tag seit sechs Wochen…« »Bitte«, sagt Trimmel, »morgen um neun?«
»Nein – auf keinen Fall vor zehn!« Lorff hört ein Aufatmen von der anderen Seite, und darüber ärgert er sich mehr, als die Sache wert ist. »Ich seh gerade – es geht erst um zehn Uhr dreißig!« sagt er entschlossen. Denn bei aller dummen Gutmütigkeit, allem Nicht-nein-sagen-Können – irgendwann muß man diesen naßforschen Typen doch mal die Zähne zeigen!
Diesen Trimmel kennt er noch aus der Zeit, in der er, als quasi amtierender Privatdozent, noch Oberarzt bei Professor Kemm in der Hamburger Nervenklinik Rietbrook war. Kemm, eine der glänzendsten, aber auch flackerndsten, sprich umstrittensten Leuchten der deutschen psychiatrischen Wissenschaft, hatte sich damals mehr und mehr auf die gerichtliche Psychiatrie geworfen und trat als Gutachter in zahlreichen spektakulären Kriminalprozessen in Erscheinung – und da war, landauf und landab, lange keiner, der das Wort des Meisters anzuzweifeln wagte. Aber dann gab’s den Fall Brigitta Beerenberg, jener Gattin eines Chefarztes, die ihren Mann erschossen hatte: mit seinem ganzen Gewicht hatte Kemm der Frau eine Schuldunfähigkeit attestiert und sie damit vor einer lebenslangen Verurteilung bewahrt. Und schuldunfähig war sie tatsächlich; davon war die ganze Klinik überzeugt. Die Sache war nur die: Zunächst hatte der Stargutachter Kemm die angeklagte Dame als uneingeschränkt zurechnungsfähig bezeichnet – und er war erst umgekippt, als sie während ihres Schwurgerichtsprozesses durch Trimmels Aussagen mehr und mehr auf ihr Lebenslänglich zusteuerte… Damals hatte der Privatdozent Dr. Walter Lorff seinen bis dahin so verehrten Chef gehaßt wie eine Kröte, denn Kemm hatte ihn gezwungen, das ›Beerenberg-Theater‹ mitzuspielen.
Und das war sogar, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, der eigentliche Grund dafür gewesen, daß er seine erfolgversprechende akademische Laufbahn aufgegeben und sich als Facharzt für Psychiatrie niedergelassen hatte. So gesehen ein Mordstyp, dieser Trimmel: der einzige, der Kemm jemals in die Ecke gestellt hatte. Etwas sehr selbstherrlich für einen Beamten… Gott ja, Lorff sieht ihn noch vor sich wie auf einer Fotografie, wie er da während des Beerenberg-Prozesses ständig mit vorgeschobener Unterlippe im Gerichtsflur stand und sein Gott-helfe-mir-ich-kann-nichtanders-Gesicht machte. Und ein Jahr später hatte Lorff dann noch ein Gutachten in einem anderen von Trimmel bearbeiteten Fall zu liefern, der, aus heutiger Sicht, einer seiner interessantesten Fälle überhaupt war… Lorff verriegelt die Türen seiner Praxis, die nahtlos in die Wohnung übergeht, holt sich seinen zwölfjährigen Whisky für besondere und besonderste Gelegenheiten, trinkt ihn, die Beine auf dem Schreibtisch, im runden Licht der Tischlampe pur und denkt dabei einen Gedanken zu Ende, vor dem er sich bisher immer gescheut hat: Er ist diesem Trimmel, den er nach normalen Maßstäben allenfalls als flüchtigen Bekannten einstufen müßte, zu Dank verpflichtet wie kaum einem anderen Menschen. Denn ohne ihn wäre er immer noch bei Kemm – und er wäre sein Lebtag ein Feigling geblieben! »Scheiße!« sagt er halblaut, wie so mancher Mann, der sich selbst in die Seele guckt. Auch Seelenärzte benutzen da nicht unbedingt ein gehobenes Vokabular. Aber andererseits: erstens ahnt Trimmel gar nicht, was er da als Weichensteller geleistet hat – er kann’s nicht ahnen. Und zweitens ist das alles noch längst kein zwingender Grund, sich jetzt um jeden Preis – gar um den einer Hypnose – erkenntlich zu zeigen!
Noch ein Whisky, und noch ein dritter; das schärft die Gedanken. Vor allem dann, wenn man, wie jetzt Lorff, endlich auch mal früh ins Bett geht und die teuren Fachzeitschriften auf dem Nachttisch gar nicht erst aufschlägt… Trimmel, sagt er sich, verwechselt hier offensichtlich die Hypnose mit der Zauberkunst oder Wahrsagerei. Und dafür muß sich ein Psychiater, der auf sich hält, letztlich einfach zu schade sein.
Trimmel steht dann am nächsten Morgen wirklich mit dem Glockenschlag halb elf auf der Matte. Und hat noch einen Menschen mitgebracht, den er als Petersen vorstellt, Johannes Petersen, Kriminalhauptmeister. War der nicht schon in der Sache Beerenberg dabei? »Doch, war ich!« sagt der farblose Petersen. Trimmel sagt, nun doch wie zu einem alten Bekannten: »Ich freu mich, Sie wiederzusehen, Doktor! Sind Sie gegenüber Ihrem alten Chef immer noch so zwiespältig?« »Treten Sie ein«, sagt Lorff, »nehmen Sie Platz… Sie reden von Kemm, nehme ich an? Der weiß bestimmt kaum noch, wie ich heiße…« »Das weiß ich besser«, behauptet Trimmel. »Ich war neulich mal in einer Hauptverhandlung als Zeuge, da trat er auf seine alten Tage noch mal als Gutachter auf… Kommt er doch in der Pause tatsächlich auf mich zu und begrüßt mich! Und redet dabei auch von Ihnen: Es sei ‘ne Schande, daß Sie der Wissenschaft verloren gegangen sind!« »Nächsten Monat hat er Geburtstag«, sagt Lorff, betont uninteressiert. »Ich werde ihm Blumen schicken.« »Nette Idee«, sagt Trimmel, »gerade weil er ja gar nicht mal so ganz unrecht hat. Deswegen bin ich ja auch hier; ich mein’, wir sollten in unserem verrückten Job wenigstens nicht total auf Sie verzichten…«
»Auf mich als Zauberkünstler und Wahrsager?« Aber Trimmel überhört den Sarkasmus. »Ich bin ja nun öfter mal bei Gericht, meistens beim Schwurgericht, und meistens sind da ja auch Leute Ihres Standes…« »Aha…!« »Ja, sicher«, fährt er fort, »und ich will in der Beziehung auch mal ganz offen reden. Wenn ich mir anhöre, was da an psychiatrischen Gutachten verzapft wird – also, da krieg ich meistens spontan die Gänsehaut! Und daß da das Gericht den Psychiater von Fall zu Fall quasi als Pflichtübung eingebaut hat, ist oft das Mindeste, was ich denke…« »Wie reden Sie eigentlich?« fragt Lorff. »Sie meinen unverschämt?« fragt Trimmel zurück, scheinbar bestürzt. »Auch«, sagt Lorff, »aber ich meinte eher, so… so geschwollen, würden Sie selbst sagen…« Trimmel lacht, wird aber rasch wieder ernst. »Ich wollte immer schon mal auf eines hinaus… ob man den Psychiater nicht mal öfter vorher in einen Fall einbauen sollte, noch in die Ermittlung! So was gibt’s ja, aber das gibt’s eben viel zu selten…« »Na, kommen Sie! Machen Sie’s nicht ganz so spannend!« Der Arzt steht auf. »Wollen Sie ein Bier?« »Gern!« sagt der dankbar. Der bleiche Herr Petersen schüttelt den Kopf. Also holt Lorff zwei Bier, eins für sich – anstandshalber, sagt er sich’ selbst. Und sobald Trimmel den ersten Schluck getrunken hat, kommt er endlich zur Sache. »Die Sache ist nämlich ziemlich bitter«, erklärt er, »wir wissen in einem bestimmten Fall hinten und vorn nicht mehr weiter… jetzt red’ du…« Petersen nimmt aus einem Köfferchen eine schmale Handakte und erzählt in allen Einzelheiten die bittere
Geschichte der siebenjährigen Ute Gerlach aus HamburgOsdorf. Das Kind ist vor zwei Monaten auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwunden – effektiv an dem einzigen Tag, an dem es von der Mutter nicht abgeholt worden war. Man hatte zunächst an Kidnapping gedacht, weil der Vater ziemlich reich ist – unter anderem ist er Großaktionär einer Brauerei, und das weiß man. Aber als dann weder eine Lösegeldforderung kam noch sonst was, kriegte man’s mit der doppelten großen Angst zu tun… ja, und vor zehn Tagen hat man dann das Kind gefunden, tot vermutlich schon seit dem Tag des Verschwindens. Die kleine Leiche lag in einem Bach, zwei Kilometer vom normalen Nachhauseweg entfernt, durch die herabhängenden Zweige einer Trauerweide verdeckt. »Ja, mir fällt’s ein«, sagt Lorff, »ich hab’s in der Zeitung gelesen. Ein Sexualverbrechen, soweit es sich noch feststellen ließ…« »Es ließ sich mit einiger Wahrscheinlichkeit feststellen«, sagt Trimmel, »und gelesen hat’s inzwischen vermutlich jeder zweite Deutsche, weil wir auf Bitten der Eltern ganz groß in die Presse gegangen sind, auch in die überregionale. Innerhalb einer Woche hatten wir dann bis vor vier Tagen sechsundvierzig Hinweise – aber keinen einzigen, mit dem wir was anfangen konnten!« Petersen erklärt bedächtig: »Aus den Reihen der ständigen Mordkommission wurde eine Sonderkommission Ute Gerlach gebildet, und wir sind natürlich auch den abwegigsten Hinweisen nachgegangen. Aber wie Herr Trimmel schon sagte, bis vor vier Tagen…« »Jetzt kommt’s!« sagt Trimmel. »Vor vier Tagen kommt der Personalchef einer Autofirma auf die Polizeistation in Blankenese, das ist ja nicht sehr weit vom Leichenfundort entfernt, und sagt, daß ihm einer seiner Verkäufer erzählt hat, er sei an einem bestimmten Tag fast in
einen schweren Unfall verwickelt worden. Das sei nun exakt an dem Tag gewesen, an dem dieses Kind verschwunden sei, wie er jetzt in der Zeitung gelesen habe, am sechsten Mai, und außerdem exakt am Osdorfer Born! Der Verkäufer heißt Gaether, sagt er, Richard Gaether, und der sei zwar im Moment auf ‘ner Dienstreise, aber nach seiner Rückkehr – vorgestern – würde er ihn sofort zur Polizei schicken…« »Und?« »Na ja, der Kollege in Blankenese sagt, Gaether soll dann besser gleich zur Sonderkommission ins Präsidium gehen«, sagt Petersen, »und genau das hat er dann auch getan. Erst war er etwas maulig, aber am Ende ganz kooperativ. Und was er dann sagte – also, das entpuppte sich wirklich als eine hochinteressante Beobachtung…« »Fast ein Tatzeuge, Doktor!« platzt Trimmel heraus. »Ja. Wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen«, fährt Petersen, plötzlich merkwürdig hochgestochen, fort, »daß Herr Gaether beobachtet hat, wie ein dunkelblauer BMW zweitausend, Typ hunderteinundzwanzig vom Motor her, neben dem allein den Osdorfer Born entlanggehenden Mädchen anhielt. Das ist effektiv sicher in dreierlei Hinsicht: das Kind hatte langes blondes Haar, die Uhrzeit und das Datum stimmen, und auf genaue Autobeschreibungen ist Gaether durch seinen Beruf getrimmt…« »Autovertreter, sagten Sie?« »Ja, Verkäufer. Sogar bei…« »Und wieso«, unterbricht er, »kann er sich nach fast zwei Monaten noch derart präzise an das Datum erinnern?« »Das«, sagt Petersen, »steht in seinem Terminkalender und stimmt haargenau mit den Angaben seines Personalchefs überein – wir konnten das prüfen! Gaether war unterwegs zu einem Geschäft, das kurz vor dem Abschluß stand… eine
Stunde später hat er tatsächlich einen Wagen verkauft – so was behält man ja wohl in seiner Branche!« Lorff jedoch ist und bleibt skeptisch. »Der Mann ist doch sicher dauernd auf Achse – der sieht diese typischen Anhalterszenen drei- bis zehnmal am Tag…« »Nein, nein, so typisch war’s nicht«, sagt Petersen kopfschüttelnd. »Ute Gerlach war selbst für ihr Alter ziemlich klein, auf jeden Fall aber viel zu klein für eine Anhalterin! Außerdem hat der blaue BMW so scharf gebremst und dann neben dem Kind gehalten, daß es eben zu diesem erwähnten Fastunfall kam und Gaether dem anderen Wagen beinahe voll hinten reingefahren wäre… er fuhr viel zu schnell!« Lorff nickte, fast wider Willen. »Trotzdem. Blauer BMW, das kann ich auch noch erkennen. Aber diese genaue Typenbeschreibung, hunderteinundzwanzig oder was Sie da sagten…« »Das will ich Ihnen ja die ganze Zeit sagen!« erklärte Petersen. »Herr Gaether verkauft speziell diese Fabrikate der Bayerischen Motorenwerke, der kennt an diesen Autos jede einzelne Schraube! Und jedes Geräusch!« »Na gut!« sagt Lorff, »das klingt schlüssig…« »Dabei geht’s sogar noch weiter!« drängt Trimmel. »Erzähl doch mal schneller!« »Wir haben den Zeugen natürlich gefragt«, erzählte Petersen, ohne das Tempo zu steigern, »ob er sich das Kennzeichen des blauen BMW nicht gemerkt hat. Doch, sagt er, hat er – er hatte nämlich ursprünglich die Absicht, den Fahrer wegen Verkehrsgefährdung anzuzeigen. Aber nachdem er später seinen Autoverkauf perfekt hatte, war er wieder milder gestimmt und hat’s vergessen…« »Den ganzen Vorfall?« »Ja. Und das Kennzeichen dazu!« knurrt Trimmel.
»Hhmm…« murmelt Lorff. Mittlerweile kann er sich denken, was die Polizisten von ihm wollen. »… aber jetzt unser eigentliches Anliegen«, sagt Petersen prompt, während Trimmel den Arzt regelrecht belauert, »wir haben jetzt zwei Tage lang versucht, Herrn Gaether wegen dieser Autonummer auf die Sprünge zu helfen – Sie können sich ja sicher vorstellen, wie wir dadurch in unseren Ermittlungen weiterkommen würden! Aber es hat nichts geholfen… Er hat allerdings immer wieder behauptet, daß er die Nummer tagelang im Kopf gehabt hat. Gerade deshalb kam uns dann die Idee, ob man da was mit Hypnose machen könnte…« Lorff sieht Trimmel an. »Das ist es?« »Ja, das ist es!« sagt Trimmel. »Ist es unter bestimmten Voraussetzungen möglich, ein Erlebnis durch Hypnose aufzufrischen?« Lorff denkt nach. »Es gibt diese Amnesien, diese Gedächtnisstörungen, massenhaft… Sie sind tatsächlich nichts weiter als eine Störung der Reproduktionsfähigkeit. Das Gehirn hat sozusagen alles gespeichert, und es kann trotzdem nicht abgerufen werden, der Index ist verrutscht… Doch, ja, versuchen könnte man’s! Praktisch wie theoretisch könnte man versuchen, diese abgespaltenen Erinnerungen zu reaktivieren!« Da tut Trimmel etwas Nettes. »Gratuliere, Petersen«, sagt er, »da ist dir dann ja offenbar wirklich mal was eingefallen…« »Sie hatten also diese grandiose Idee?« »Na ja«, sagt der Hauptmeister bescheiden, »mehr oder weniger war’s Teamwork…« »Also, Doktor«, sagt Trimmel wieder ungeduldig. »Wie sieht’s denn nun aus?« »Der Zeuge müßte vor allem kräftig mitarbeiten«, überlegt Lorff, »erst mal müßte er überhaupt einwilligen…«
»Hat er schon!« sagt Trimmel schnell. »Gleich nachdem wir uns gestern verabredet hatten, bin ich mit Petersen zu ihm hingefahren. Ich hab ihm zugesichert, daß nur ein sehr guter Facharzt das Experiment durchführt und daß er gar nichts zu befürchten hätte… Das könnt’ ich ihm ja wohl ohne weiteres sagen, oder?« »Zu befürchten hätte er nichts…« Es kommt gedehnt. »Na, sehen Sie! Und dann war er innerhalb von zwanzig Sekunden völlig einverstanden… Netter Mann übrigens, dieser Gaether!« »Erfreulich für Sie«, sagt Lorff. »Soweit ich weiß, ist Ihr Polizeiarzt ja auch insoweit psychiatrisch ausgebildet, daß er Ihnen die erforderliche Hilfe…« »Nee, nee!« sagt Trimmel, als hätte plötzlich er das Kommando. »Nichts gegen Doktor Brammer, überhaupt nichts, aber diese Sache ist so heikel, da nehm’ ich nur den allerbesten Spezialisten!« »Ich kann Ihnen jederzeit gern einige Kollegennamen nennen…«, setzt Lorff an. Aber da fragt Trimmel ihn so direkt, daß es ihm für den Moment glatt die Sprache verschlägt: »Wann und wo kann ich Sie mit dem Zeugen Gaether zusammenbringen?«
Weshalb bin ich Nervenarzt geworden? fragt sich Dr. Lorff stocksauer, als er in seine kleine Küche geht und für Trimmel und sich neues Bier holt. Weshalb habe ich mich hier in der Eilenau als Facharzt für Psychiatrie niedergelassen, nachdem der Knatsch mit Kemm nicht mehr zu reparieren war? Hab’ ich das etwa getan, damit ich vom Justizgehilfen zum Polizeigehilfen werde? Zutiefst verbittert ist er, und er fühlt sich dabei völlig im Recht. Und um auch mal ans Geld zu denken, ganz am Rande:
was, fragt er sich, würde ihm die hanseatische Staatskasse wohl für die Hypnoseschau zahlen, falls er sie wirklich machen würde? Einen Bettel! sagt er sich – ein Almosen, gemessen an dem, was er sonst kassiert! Dieser Trimmel mag zwar auf seine Weise ein ganz nützlicher Mensch sein, gelegentlich vielleicht sogar ein halbwegs amüsanter Zeitgenosse – aber was heißt das denn, wer verschenkt denn was heutzutage? Also wird er diese Sache abschmettern, wenn auch aus taktischen Gründen nicht mit dem Hinweis auf die Stundenlöhne für medizinische Sachverständige, sondern mit Motivationen der ärztlichen Moral – basta!
Als Lorff mit dem Bier zurückkommt, fragt Trimmel: »Wie lange sind Sie jetzt eigentlich selbständig?« »Knapp drei Jahre!« Er steht leicht vornübergebeugt, weil er gerade einschenkt. Trimmel steht auf, als wolle er sich mal die Beine vertreten. Sie halten sich in dem Zimmer auf, in dem Lorff normalerweise seine Patienten empfängt und die allerersten Gespräche mit ihnen führt. Trimmel geht die paar Schritte zu der Tür zum eigentlichen Sprech- und Untersuchungszimmer, und er macht sie so selbstverständlich auf, als sei er in seinem eigenen Büro. Dann sieht er staunend auf all die Geräte, die da blinken und blitzen. »Drei Jahre!« sagt er voller Hochachtung. »Wie die Zeit vergeht! Ihr EEG-Gerät hat sich ja hoffentlich wohl schon amortisiert?« »Hab ich mich beklagt?« fragt Lorff ungewohnt aggressiv. »Ach wo… ich freu’ mich nur, daß Sie anscheinend ganz gut auf die Füße gefallen sind!« Dabei sieht er sich um wie ein Quartiermeister. »Außerdem frag’ ich mich, in welchem Ihrer
Räume Herr Gaether untergebracht werden könnte… Was meinst du, Petersen?« »Hören Sie«, sagt Lorff, ehe Petersen antworten kann, »bevor Sie hier weiter disponieren, darf ich vielleicht auch mal was sagen… Ich habe Ihren Besuch so aufgefaßt, daß Sie mich zu einem bestimmten Punkt um meine mehr oder weniger wissenschaftliche Meinung fragen wollten, und die hab ich Ihnen gesagt. Was Sie da sonst noch an Überlegungen anstellen, ist doch wohl ein Witz ohne jede…« »Witz?« fragt Trimmel verblüfft. »Ja – ohne jede Pointe! Soll ich etwa auch noch Ihre Polizeischule absolvieren, damit ich mich beim Mörderfang richtig benehmen kann?« Trimmel starrt ihn an und schüttelt den Kopf. »Mal ganz abgesehen von den zweifelhaften Erfolgsaussichten der Aktion, für die Sie mich hier verpflichten wollen«, fährt Lorff fort, »ich bin Arzt – verstehen Sie? Ich will Ihnen da gar nicht groß mit der Standesethik kommen, aber ganz ohne Pathos geht’s bei Ihnen offenbar nicht… Ich bin Arzt, und ich fange keine Menschen! Ich helfe ihnen, wenn ich kann, aber ich fange sie nicht. Und ich helfe auch nicht, sie zu fangen!« Trimmel sieht Petersen an. »Sag du’s…« Und Petersen, der wahrhaftig imstande ist, auch den sachlichsten Text feierlich zu gestalten, sagt: »Es handelt sich hier mutmaßlich um einen Triebverbrecher. Wir alle wissen, wie groß da die Wiederholungsgefahr ist – Sie würden also nicht nur einer unbestimmten Anzahl potentieller Opfer helfen, sondern auch dem Täter selbst! Auch wenn Sie nie erfahren würden, wie vielen Kindern Sie geholfen und das Leben gerettet haben – geholfen hätten Sie immer!« Lorff schweigt.
Trimmel setzt nach: »Doktor, mal ehrlich: Helfen Sie nur, wenn Sie den Namen und die Adresse eines Patienten haben und vor allem seine Krankenkasse?« Lorff schüttelt den Kopf, verkneift sich jedoch die bissige Antwort, die ihm auf der Zunge liegt, und sagt immer noch nichts. Und wieder redet Petersen; wieder klingt es wie auswendig gelernt – sie haben sich weiß Gott gut vorbereitet: »Sie wären ja gar nicht der erste, Herr Doktor Lorff, der jemals der Polizei geholfen hat! Denken Sie doch an Ihren Kollegen Brussel, der soll sogar Chefpsychiater beim FBI gewesen sein! Auf jeden Fall hat er dem FBI gelegentlich ein paar ausgezeichnete Tips gegeben…« »Sie sind nicht das FBI«, sagt Dr. Lorff streng, »und ich bin nicht James Brussel. Ich habe nicht die geringste Lust, Chefpsychiater Ihrer Behörde beziehungsweise Dienststelle oder überhaupt einer Behörde zu werden. Und ich fühle mich nach wie vor weder berufen noch in der Lage…« Er hört mitten im Satz auf. Trimmel grinst ihn unverschämt an. »Halten zu Gnaden, Verehrtester, aber wenn einer berufen ist unter denen, die ich kenne…« Es ist wirklich ein Katz-und-Maus-Spiel und überdies zum Verzweifeln. »Ich erinnere mich noch dunkel an meine juristischen Seminare«, sagt Dr. Lorff, »ich erinnere mich deutlich, daß die Hypnose zumindest damals laut Strafprozeßordnung verfahrensmäßig überhaupt nicht zulässig war…« Trimmel schüttelt nachsichtig den Kopf. »Wollen Sie ernsthaft auf diesen Unfug hinaus, wir würden dauernd unzulässige Vernehmungsmethoden anwenden?« »Also, da können Sie viel reden; ganz von der Hand zu weisen wär’s nicht…«
»Doktor«, sagt Trimmel, »sehen Sie’s mir nach, daß ich die StPO von Berufs wegen noch besser kenne als Sie; mit der muß ich ja leben. Hier geht’s doch gar nicht um einen Beschuldigten, sondern um einen Zeugen – schon deswegen können Sie sich nicht auf die Problematik des Hundertsechsunddreißig a Absatz drei rausreden!« »Absatz drei ist mir nicht geläufig!« sagt Lorff widerborstig. »Die Aussagen eines Beschuldigten unter Hypnose«, sagt Petersen eifrig, »wären auch dann kein Beweismittel, wenn sie mit dem Einverständnis des Beschuldigten zustande gekommen wären…« Lorff wendet sich ab und sieht auf den Eilbekkanal hinaus, auf dem die Sonne glitzert. Wie von fern hört er Petersens Stimme, obgleich der Mann höchstens zwei Meter von ihm entfernt sitzt, und fragt sich, warum er von Satz zu Satz geschwollener redet. »Wenn Sie uns die Vergünstigung Ihrer Mitarbeit gewähren, Herr Doktor Lorff, würden wir sie schlicht als quasi internes polizeiliches Fahndungsmittel bewerten und sie in ein späteres Verfahren unter Umständen gar nicht erst einführen… Uns geht’s ja im Moment nur um die richtige Richtung, wenn ich mich da klar ausdrücke, den Beweis suchen wir uns dann schon selber…« »Man hat das Gefühl«, sagt Lorff unvermittelt, »seine Ohnmacht überwinden zu können, der Ruf des Wundertäters ist ausgesprochen schmeichelhaft…« »Was reden Sie da?« fragt Trimmel perplex. »Freud«, sagt Lorff und dreht sich wieder um. »Sigmund der Große persönlich über die Hypnose. Nur, die Zeiten haben sich geändert, Herr Trimmel! Ich als Hypnotiseur, mal ganz unabhängig von Ihnen…« »Erstens«, sagt Trimmel stur, »brauch’ ich einfach einen Mann, der hypnotisieren kann – soviel Unterschied zwischen
therapeutischer Hypnose und dem, was wir brauchen, wird’s ja wohl nicht geben! Zweitens brauch’ ich einen, der gegebenenfalls kriminalistische Zusammenhänge erkennen kann, wenn überraschend welche auftauchen sollten, und das können Sie ebenfalls!« »Das sagen Sie…«, murmelt Lorff müde. »Ja, das sag’ ich! Lassen Sie uns hängen oder nicht?« »Also, ausnahmsweise… Ich versuch’s!« sagt Lorff. Und gleich darauf hat er wenigstens eine Genugtuung: die beiden Polizisten strahlen wie zwei Teufel, die gerade wieder eine Seele geschanghait haben.
Richard Gaether kommt am Montag gegen achtzehn Uhr in Begleitung der Herren Trimmel und Petersen, und Lorff ist zunächst einmal enttäuscht: auf den zweiten Blick, denkt er, mag er ja tatsächlich ein netter Mann sein – auf den ersten ist er’s nicht! Der typische breite, runde Pykniker; gerade Anfang Dreißig und schon mit deutlicher Neigung zum Bäuchlein; ausgeprägte Stirnglatze, und genau die Hornbrille, die nicht zum Gesicht paßt… Als Autovertreter ist er außerdem sicherlich nicht so beeinflußbar und suggestibel, wie es sich für eine erfolgreiche Hypnose gehört. Neugierig, zugleich allerdings nicht gerade sehr gut gelaunt ist der wohlgenährte Herr Gaether offenbar auch noch. Sobald er es sich in dem ihm zugewiesenen Sessel bequem gemacht hat, fragt er auf eine unangenehm spöttische Art: »Sie glauben also, daß mein Gehirn auf Ihr Kommando hört?« »Na ja – die Chancen stehen fünfzig-fünfzig«, sagt Lorff geduldig, »wenn Sie wirklich den festen Willen zur Mitarbeit haben…« »Doch, doch!« beteuert Gaether; überspannen will er den Bogen offenbar nicht.
»… und sofern Sie den Gegenstand, auf den es ankommt, in diesem Fall das Kennzeichen eines bestimmten Fahrzeugs, tatsächlich wahrgenommen haben, wenngleich auch nur kurzfristig…« »Da bin ich mir allerdings absolut sicher!« behauptet Gaether. »Bloß, wie das nun auf einmal hier funktionieren soll, nachdem mir die Nummer die ganzen Tage über nicht wieder eingefallen ist…« Dabei sieht er Trimmel an – vielleicht deshalb, weil ihn der bisher am heftigsten in die Zange genommen hat. Trimmel nickt. »Das war eine Frage!« sagt Gaether pampig. »An mich?« sagt Trimmel scheinheilig. »Aber ich bin doch nur Laie…« »Hypnose«, sagt Lorff an seiner Stelle, »ist eine veränderte Bewußtseinslage im Sinn eines partiellen Schlafs!« Wenn er den Mann schon einschlafen lassen soll, denkt er, hat der ja wohl wenigstens ein Anrecht darauf, zu erfahren, was mit ihm geschieht. »Sie als Versuchsperson haben dabei, eben durch die veränderte Bewußtseinslage, eine sehr unmittelbare Aufnahmefähigkeit für den Willen des Hypnotiseurs – für meinen Willen in diesem Fall, meinen Willen als Versuchsleiter…« »Aha«, sagte Gaether. »Und dabei erstatte ich Ihnen gegenüber den Rapport?« »Genau!« Lorff ist überrascht. »Das ist genau der richtige Ausdruck! Verstehen Sie was davon?« »Ich hab’s im Lexikon nachgeschlagen«, sagt Gaether, stolz und bescheiden zugleich. »Ein bißchen muß man ja heute über alles Bescheid wissen. Bloß…« Er zögert. Und wieder sieht er Trimmel an. »Bloß was?« fragt Trimmel.
»Mir ist nicht ganz klar, weshalb ich schlafend angeblich besser rapportieren kann als hellwach…« »Gut«, sagt Lorff. »Nochmals: es geht nicht um eine Ausschaltung, sondern eine zielgerichtete Einengung Ihres Bewußtseins. Wir schalten alle Außenreize und all Ihre Gedanken ab, die Sie ablenken könnten, und auf diese Art bekommen Sie eine sogenannte Hypermnesie, eine normalerweise kaum vorstellbare Gedächtnisstärke…« »Wirklich ‘n hübsches Spielchen!« scherzt Richard Gaether. Die anwesenden Herren nicken und lächeln ihm pflichtschuldig zu. Ganz wohl ist ihm sichtlich nicht. »Herr Gaether hat übrigens nichts dagegen, wenn Herr Petersen und ich dabei sind«, sagt Trimmel. »Vom ärztlichen Standpunkt aus spricht doch nichts dagegen, oder?« »Bitte«, sagt Lorff etwas indigniert. »Obgleich ich nicht genau sagen kann…« »Ich möchte es aber selbst gern!« verkündet Gaether mit Nachdruck. »Na schön«, entscheidet Lorff. Trimmel hat den Mann während der Fahrt zur Eilenau offenbar gut geimpft. »Dann wollen wir mal…« Gaether drückt seine Zigarette aus und hat nun doch den leicht verzweifelten Blick eines Tieres auf den letzten Metern vor der Schlachtbank. Er wird auf die Couch komplimentiert – in demselben Zimmer, in dem bisher alle Gespräche stattgefunden haben, also wenigstens nicht in dem Raum mit den sterilen weißen Geräten, netterweise. Er wird in die Rückenlage gebeten, Schuhe aus, Schlips locker. Lorff zieht die Vorhänge zu, schaltet die matte Stehlampe ein; die Welt wird ausgesperrt. Trimmel und Petersen sitzen mucksmäuschenstill ein paar Meter daneben in ihren Sesseln und werden es gefälligst nicht wagen, sich auch nur zu räuspern. Von draußen hört man jetzt tatsächlich keinen Laut,
nicht mal das Summen der Stadt, das sonst nie ganz verstummt… Unvermittelt ertönt die Stimme von Dr. Lorff, eine ganz normale Stimme, allenfalls noch ruhiger als sonst und ein klein wenig dunkler. »Ihre Gedächtnisschwäche, Herr Gaether, ist eine natürliche Störung Ihrer Reproduktionsfähigkeit, so was kommt häufig vor. In Ihrem Gedächtnis ist aber grundsätzlich alles vorhanden, was wir wissen wollen – Sie wollen es ja auch selbst wissen, Herr Gaether, und wir werden jetzt versuchen, es zu wecken…« »Ja, gern…«, sagt Gaether leise. Seine Augen sind weit geöffnet, und Lorff sitzt am Kopfende hinter ihm und hält ihm einen Zeigefinger vor die Augen. »Wir müssen nur den fehlenden Teil Ihrer Erinnerung wieder mit der ganzen Erinnerung zusammenbringen«, sagt Lorff. »Dazu müssen wir das ganze Erlebnis rekapitulieren, den ganzen Komplex, der sich da abgespielt hat, den ganzen systematischen Zusammenhang…« Nun komm schon zur Sache! sagt er zu sich selbst; das ist doch noch viel zu intellektualisiert, viel zu wenig emotionalisiert – da merkt man einfach, wer der Richtige ist für derartige Experimente beziehungsweise wer nicht! Er selbst als VL, als Versuchsleiter, ist bei diesem ungewohnten Job viel nervöser, als der Sache guttut. Gott sei Dank, daß wenigstens sein Finger ohne die geringste Spur eines Tremors über Gaethers Stirn schwebt – kein Muskelzittern… eben doch die eigene routinierte Psychohygiene… »Schauen Sie jetzt ganz ruhig meine Hand an. Ich lege sie Ihnen auf die Stirn…« Er tut es. »Sie fühlen, wie die Wärme meiner Hand ganz unmittelbar auf Ihren Kopf übergeht… Sie fühlen es…« »Ja«, murmelt VP – die Versuchsperson – gehorsam.
»Sie fühlen, wie die Wärme auf die Augen übergeht und sie schwer macht…« »Ja…«, wiederholt Gaether, diesmal etwas zögernd. Dabei wirkt er aber schlaff und entspannt; er schließt unvermittelt die Augen. »Gut, daß Sie die Augen schließen. Es ist angenehm… Sie entspannen sich – es ist sehr gut…« Es ist aber irgend wie doch Voodoo, denkt plötzlich Trimmel im Hintergrund voller Skepsis – fauler Zauber, auch wenn er ihn selbst angezettelt hat. Er sieht Petersen an, der neben ihm sitzt. Der blickt jedoch starr geradeaus… und bei alledem kann niemand von ihnen ahnen, wieviel Glück sie doch haben in dieser Situation, eine wie ideale Versuchsperson dieser Richard Gaether tatsächlich ist! Überraschend schnell, nur mit einem Stichwort als Übergang kommt der Versuchsleiter Dr. Lorff zur Sache. Er springt mitten in die Situation am Tag des Verschwindens der Zweitkläßlerin Ute Gerlach. »Es ist sehr gut«, sagt Lorff, »Sie fühlen es ganz deutlich. Sie werden heute noch ein ausgezeichnetes Geschäft abschließen… ist doch völlig klar, daß man dabei ein sehr gutes Gefühl hat…« »Jochen Lierskamp«, sagt Gaether sofort, mit einer allerdings völlig veränderten Stimme, fast flüsternd und trotzdem klar verständlich. »Nicht mal Makler und trotzdem stinkreicher Grundbesitzer, das gibt’s auch nur noch in Osdorf… er will einen Zweifünf kaufen, und ich bin sicher, ich verkauf ihm einen Zweiacht…« »Sehr vernünftig«, lobt Lorff. »Sie fahren den Osdorfer Born entlang, Richtung Schenefeld, allerdings ein bißchen zu schnell, was soll’s…«
»Aber ich kann Radarfallen schon von weitem riechen!« sagt Gaether leise und lebhaft. »Da war nix in der Hinsicht an dem Tag, weit und breit nix!« Diesmal erwidert Petersen Trimmels Blick spontan: Respekt, der Herr Versuchsleiter! Die Aktenlage zumindest hat er exzellent in Erinnerung! Lorff sagt: »Ist ja auch meistens nur Schikane von der Polizei… Sie nehmen das Gas ja auch schon wieder weg. Da vor Ihnen fährt ein anderer BMW… Welche Farbe hat er?« »Dunkelblau«, sagt die Versuchsperson, »einer von diesen Zweitausendern, war’n doch die besten…« »Typ hundertzwanzig?« »Ach wo!« empört er sich. »Hunderteinundzwanzig! Also, hören und sehen kann ich wirklich noch!« »Richtig… ja. Und rechts am Straßenrand erscheint jetzt ein Kind?« »Da sind Bäume, dicke Birken. Zwischen zwei Bäumen steht das Kind. Das heißt, es geht… Es trägt einen orangeblauen Schultornister…« »Der Rock ist…« »Blau! Mensch, das ist ja gestochen scharf!« »Welche Farbe hat die Bluse?« »Rot«, sagt Gaether, »sieht man doch!« »Hat das Mädchen einen Mantel an?« »Doch nicht bei der Hitze!« »Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« »Im Moment kann ich’s noch nicht… Doch, ja, jetzt dreht es sich um… Ja, sehr niedlich! Blonde Haare, zwei Affenschaukeln; das sieht gut aus. Aber jetzt… Ach du Scheiße, verdammt!« Gaether ballt die Fäuste, verkrampft sie, als müsse er ein Lenkrad mit aller Gewalt festhalten, knirscht laut mit den Zähnen, strengt sich unheimlich an: »…Mensch,
ich muß doch bremsen, das Arschloch bleibt mitten auf der Straße stehen!« »Wer?« »Scheiße, dieser blaue Zweitausender… Au weia, das wird knapp wie nie… Ich schaff’s nicht, ich muß links an dem Typ vorbei… Du, da fehlt kein Zentimeter… Der ist doch bescheuert, der Kerl! Ich komm’ ins Schleudern… gegensteuern, fang die Karre ab… jeeeeeetzt! O Scheiße, geschafft!« »Sehr gut!« sagt Dr. Lorff. »Oh Mann… Puuuh…« »… ja wirklich! Sie halten jetzt an?« »Na klar!« sagt Gaether. Überlegt dann aber und schüttelt den Kopf. »Ach, Scheiße, warum soll ich hier ‘ne Schlägerei anfangen? Ich fahr’ erst mal ganz langsam und guck’ in den Rückspiegel… ich kann dir sagen, so, wie mir die Knie zittern, und jetzt… ach nee…« »Ach nee?« »Jetzt hat der Kerl angehalten! Er macht rechts seine Tür auf, redet mit dem kleinen Mädchen…« »Lesen Sie die Autonummer ab!« befiehlt Lorff. Trimmel und Petersen halten die Luft an. In ihren Händen halten sie Papier und Kugelschreiber. »Ja, ja, sofort…«, sagt Richard Gaether gedehnt. Und dann schweigt er. »Die Autonummer!« wiederholt Lorff. »Das Mädchen steigt in das blaue Auto«, berichtet Gaether, monoton wie ein Verkehrspolizist bei einer Tempoüberschreitungsverhandlung. »Ich kann’s gerade noch sehen – ich bin ja höchstens hundert Meter weit weg in der Zwischenzeit, kommt einem alles wie ‘ne Ewigkeit vor…« »Der andere Wagen fährt los?«
»Fährt wieder los«, bestätigt Gaether, »fährt schneller als ich… ich fahr ja immer noch langsamer als vorher. Laß ihn mal kommen…« »Er kommt auf?« »Klar… Jaa, da kommt er…« »Sie haben ihn voll im Rückspiegel?« »Hab’ ich!« »Die Autonummer?« »Jaaa… Moment…« »Aus Hamburg?« »Ja… Nein… Moment noch…« »Woher denn sonst?« »Nu wartense doch!« »Sie haben ihn voll im Rückspiegel?« »Hamse doch schon gefragt!« »Und Sie können die Nummer jetzt lesen?« Er verzieht den Mund. »Mann, die seh’ ich doch in Spiegelschrift! Außerdem fahr ich ja nu wieder schneller. Ich wollt ihn ja anzeigen, aber nu bin ich ruhiger…« »Wenigstens die Stadt«, sagt Lorff sanft. »Sie können doch die ersten Buchstaben der Autonummer erkennen - Sie müssen sie doch erkennen!« »Ja, das ist… nein, doch nicht! Ich geb’ volle Pulle und mach’, daß ich weiterkomm’ zu Lierskamp… Mal ehrlich, hättense das denn nicht genauso gemacht?« »Also, einen Blick hätt ich schon noch riskiert«, sagt der Psychiater. »Wenn’s Hamburg ist… also, HH können Sie doch auch in Spiegelschrift gut lesen…« Aber jetzt wird Gaether plötzlich unruhig. Seine Gesichtsmuskeln verziehen sich; er grimassiert, wird deutlich ängstlich, und er zuckt mit einem Mal am ganzen Körper. Die Augenlider flattern, und auf der Stirn erscheinen tausend kleine Schweißperlen.
»Sie können die Nummer des anderen immer noch deutlich erkennen!« sagt Dr. Lorff eindringlich. »Sie sind doch dauernd auf Achse und im Training, Herr Gaether… Bloß diese eine dumme Kleinigkeit brauchen wir – die Nummer von dem blauen Zweitausender…« Gaether stöhnt nur. Seine völlig unerwartet aufgetretenen Streßsymptome werden noch deutlicher. »Ich… ich kann überhaupt nichts erkennen – keine Nummer, noch nicht mal ‘n einzigen Buchstaben…« Lorff macht wider besseres Wissen einen allerletzten Versuch, ihn ›festzuhalten‹ und den Widerstand, der sich da aufgebaut hat, zu durchbrechen. »Sie wollen im Grunde doch immer noch zur Polizei und den Idioten anzeigen, Herr Gaether! Sie sehen immer noch nach hinten… Welche Nummer wollen Sie der Polizei melden, Herr Gaether?« Weiter kommt er nicht mehr. Richard Gaether, die zuvor gegen alle Prognosen so überraschend bereitwillige Versuchsperson, öffnet die Augen und richtet sich auf. »Ich hab doch alles gesagt!« brüllt er Lorff an. »Was wollen Sie eigentlich mit Ihrem Scheißzirkus?« Die Sitzung, die bis zur Autonummer so glatt gelaufen ist, hat ein unerwartetes und jähes Ende gefunden. Dr. Lorff kann sich sogar das Wecken sparen, was nicht gerade als psychohygienisch einwandfrei gilt. Er ist tief bestürzt. Gaethers Hände zittern; er zieht sich mühsam die Krawatte zurecht. Er steht auf, geht auf Socken im Raum herum und torkelt dabei wie ein Betrunkener. Er reißt vor dem großen Fenster den Vorhang weg, als brauche er Licht zum Leben, und er murmelt was von ›schwindlig‹ und ›unverantwortlich‹ und von Knochen, die schwer sind wie Blei. Er wirkt noch wie in Trance, aber Lorff erkennt deutlich, daß er hellwach ist.
»Haben Sie Angst?« fragt Lorff, um Fassung bemüht. »Herr Gaether, überlegen Sie: warum haben Sie Angst?« »Ach, ich weiß nicht«, sagt er zitternd und zugleich verärgert. »Ihre saublöden Sprüche – ich bin fix und fertig! Was soll das?« »Ruhen Sie sich aus, Herr Gaether… legen Sie sich wieder hin! Wir lassen Sie mal allein…« »Aber erst bringen Sie mir ‘n Schnaps! Gefälligst ‘n Doppelten – wird ja wohl drin sein!« In seinem privaten Wohnzimmer sagt der Psychiater wenig später selbstkritisch: »Es ist durchaus möglich, daß es an mir gelegen hat… Ich hab Ihnen schon vorher gesagt, daß es Leute mit größerer Erfahrung…« Aber da steht Gaether, das leere Glas in der Hand, bereits in der Tür. Er hat auch seine Schuhe wieder an, und mindestens den letzten Satz muß er voll mitgekriegt haben. »Sie haben mir gesagt, das macht der beste deutsche Facharzt überhaupt«, giftet er in Richtung Trimmel, »nicht mal auf ‘n Oberbullen kann man sich heute noch verlassen!« »Herr Doktor Lorff ist Privatdozent und tatsächlich einer unserer besten Fachärzte!« sagt Trimmel. »Na, dann gute Nacht!« sagt Gaether, immer noch aggressiv wie eine Kobra. »Kann ich jetzt endlich meine Spesen kriegen und nach Hause gebracht werden? Oder muß ich mir auch noch auf eigene Kosten ‘n Taxi nehmen?« »Nein, nein, Herr Gaether…« Petersen steht schon auf. Er ist froh, wenn’s vorbei ist. »Und Sie?« »Ich bleib noch…«, sagt Trimmel. »Aha – Geheimnisse hinter meinem Rücken! Leckt mich doch alle am Arsch!« knirscht Gaether und rast dann, Petersen im Sprint hinter ihm her, wie ein angestochenes Kalb die Treppe hinunter. »Ich bin froh, daß Sie noch geblieben sind«,
sagt Lorff. »Einen solchen Fall kenne ich nicht mal aus der Literatur – ich kann’s mir einfach nicht erklären!« Fast die ganze nächste halbe Stunde blättert er an seiner Sechs-Meter-Bücherwand herum, jeweils die Abteilung Kasuistik, um vielleicht doch noch eine Art Vergleichsfall zu finden. Manchmal murmelt er was vor sich hin, aber Trimmel versteht kein Wort; er fragt auch nicht nach. Endlich knallt Lorff die Schwarte, die er gerade in der Hand hat, auf den Tisch. »Also, so ganz im Hinterkopf hätte ich da ja sogar ‘n Gedanken…« »Nämlich?« Lorff schüttelt den Kopf, »Gedanke ist eigentlich schon zuviel gesagt. Eher ein Eindruck… das, was uns der Herr Gaether da produziert hat, war ja fast schon ein Gedächtnisgeneralstreik! Erstens, er erinnert sich zunächst vorzüglich; zweitens, er kann sich nicht mal an einen einzigen Buchstaben, eine einzige Ziffer der Autonummer erinnern, sobald es ernst wird… Also, irgendwie hab ich den Eindruck, er will sich nicht erinnern!« »Sie meinen, er hat das Kennzeichen doch erkannt?« Trimmel klingt skeptisch. »Irgendwas in der Richtung, ja…« »Aber es ist doch nicht logisch, daß er dann erst an Ort und Stelle aussteigt! Hätt’ er doch viel früher Terror machen können… müssen, würd ich fast sagen…« Lorff nimmt das Buch wieder auf und nickt geistesabwesend. Blättert von vorn nach hinten und von hinten nach vorn. »Refraktär ist er nicht, das haben Sie ja gesehen…« »Unempfindlich, meinen Sie?« fragt Trimmel. »Nicht beeinflußbar durch Hypnose?« »Ja, so in etwa!« murmelt Lorff, immer noch abgelenkt. Die Verwertung von hypnotisch zutage gefördertem Material bedarf in jedem Fall strengster Kritik, liest er gerade. »Hier,
beim alten Kollegen Schultz – hören Sie sich das mal genau an. Besonders in tieferen hypnotischen Zuständen sind regellose Fantasiefälschungen mit der Überzeugungstreue echter Erinnerungen nicht selten…« »Ja, aber Gaether hat doch überhaupt nichts gesagt!« unterbricht Trimmel. »…Ende des Zitats«, fährt Lorff fort, »jedenfalls wird laut Schultz in der Hypnose ebenso gelogen wie in sogenannten normalen Bewußtseinszuständen!« »Also, ehrlich«, sagt Trimmel kopfschüttelnd, »das, was er gesagt hat, war ja richtig, und wenn er darüber hinaus nichts sagt, kann er nicht gelogen haben!« Lorff stellt den Folianten zurück ins Regal. »Gaether hat gesagt, er könne zu der Autonummer nichts sagen. Allein dies, Bester, kann ja eine dicke Lüge sein… Stichwort: Verpflichtung…« »Was heißt das?« »Eine sogenannte moralische Verpflichtung könnte nach meiner Ansicht höchstwahrscheinlich ohne weiteres eine Hypnoseblockade herbeiführen, wie wir sie da gerade dramatisch erlebt haben…« »Also, ich weiß nicht…« »… doch, doch! Nehmen Sie mal ein ganz simples Beispiel für eine moralische Verpflichtung – einen Schuljungen, der sich an die Verpflichtung erinnert, seine Hausaufgaben noch machen zu müssen…« »Gaether hatte keine Hausaufgaben zu machen«, sagt Trimmel, »er hat mir unmittelbar vor unserem Eintreffen noch gesagt, er hätte heute nichts vor!« »Trotzdem!« sagt Lorff. »Er könnte sich während der Hypnose an eine andere, viel wichtigere Verpflichtung erinnert haben… zum Beispiel, aus guten Gründen eine Beobachtung
für sich behalten zu müssen – in diesem Fall diese verdammte Autonummer!« Trimmel starrt ihn an. Er steckt sich eine Zigarre an, üblicherweise ein Zeichen des Seelenfriedens – aber nein, das Stück für zwei Mark schmeckt heute scheußlich nach einem für zwanzig Pfennig! »Das kommt nicht hin!« sagt er düster. »Das kommt hinten und vorne nicht hin!« »Wieso nicht?« »Nehmen wir mal an, Doktor, Sie fahren Mercedes. Nehmen wir weiter an, mir ist diese Tatsache bekannt, und Ihre Nummer kenn’ ich auch. Da es in meinem Umkreis aber soundso viele hundert oder tausend Mercedes gibt, registriere ich, wenn Sie vor mir herfahren, erst mal nur, daß ein Mercedes vor mir herfährt. Ich würde Sie beziehungsweise Ihren Mercedes also erst mal gar nicht mit dem Wagen vor mir in Verbindung bringen, ich seh’ Sie ja sowieso auch nur von hinten… Aber nun mal wachsam… was passiert in dem Moment, in dem mir bewußt wird, daß Sie es sind? Sie und Ihre Nummer?« Lorff zuckt die Achseln. »Vielleicht hupen Sie oder blinken, bei normalem Sozialverhalten…« »Eben«, sagt Trimmel, »das mein’ ich! Aber was tu ich, wenn ich nicht zum Hupen oder Blinken komme, weil Sie ausgerechnet in dem Moment, wo ich’s tun würde oder müßte, was Kriminelles machen?« »Dann zeigen Sie mich entweder sofort bei der Polizei an, nachdem Sie mich nun mal erkannt haben, oder Sie tun’s nie, weil Sie mich schonen wollen!« »Genau!« sagt Trimmel, anscheinend wieder äußerst selbstzufrieden. »Wenn Sie mich nun aber anzeigen«, spekuliert Lorff weiter, »dann sagen Sie ja, was Sache ist – dann machen Sie sicher nicht ein derartiges Theater wie der liebe Herr Gaether,
einschließlich Hypnose… Das war’s vermutlich, was Sie mir sagen wollten, oder?« »Das war’s!« bestätigt Trimmel. »Es läuft raus auf ein Entweder-Oder… haben Sie ja gerade selber gesagt!« Lorff beugt sich plötzlich vor. »Das bringt mich allerdings auf einen ganz anderen Gedanken…« »Ja…?« »Gaether hat die Autonummer unter Umständen tatsächlich nicht gekannt, als er sie zum erstenmal sah. Nur hat er sie später nochmals gesehen, in einem völlig anderen Zusammenhang… Und diese beiden voneinander getrennten Beobachtungen hat er jetzt in der Hypnose zusammengebracht! Dabei ist ihm das vielleicht noch nicht mal ganz ins Bewußtsein geraten; er hat erst mal sozusagen aus dem Unterbewußtsein heraus diese Unlustgefühle produziert, die er hier demonstriert hat… Wär’ das nicht die Möglichkeit?« Er gibt sich, auf Allgemeinverständlichkeit aus, mit seiner Psychotheorie wahrhaftig Mühe – aber Trimmel begreift’s nicht. Und so reden sie zwar noch eine ganze Weile herum, bis Trimmel endlich Anstalten macht, sich zu verabschieden; aber im Grund drehen sie sich dabei im Kreis, auch wenn sie zwischendurch kaum mal aus ihren Sesseln aufstehen. Petersen erfährt am nächsten Vormittag, daß Richard Gaether auch noch nach seiner Heimkehr einen ziemlichen Putz veranstaltet hat, bis gegen Mitternacht. Die Ehefrau Gaether ruft an, besorgt und wohl auch ein bißchen empört: Ihr Mann sei selbst morgens so unleidlich und schlecht gelaunt gewesen wie in ihrer ganzen fünfjährigen Ehe noch nicht. »Ich kann Sie ja verstehen, gnä’ Frau«, sagt Petersen mit seinem gelegentlich recht heuchlerischen Charme, »aber ich kann Ihnen nur versichern, daß wir Ihren Gatten wirklich nichts Bösem unterzogen haben!«
Im Grunde allerdings ist er gar nicht überrascht. Denn während der Heimfahrt gestern hat Gaether die ganze Zeit über auch schon mit ihm rumgepöbelt, hat den Staat beschimpft, die Bullen im allgemeinen, die Justiz und gewisse Ärzte – die Seelenklempner – im speziellen. So saublöd, irgendwann noch mal als Zeuge freiwillig mehr auszusagen als unbedingt nötig… ehrlich, ein solcher Idiot sei er einmal gewesen und nie wieder! Petersen erzählt’s Trimmel, sobald der sich im Büro sehen läßt, und Trimmel, seinerseits recht besorgt, ruft vorsichtshalber gleich mal bei Lorff an. »Können Sie sich darauf noch ‘n Vers machen?« »Nicht mal einen mit einem unsauberen Reim!« sagt der Psychiater vorsichtig. Er hat in aller Herrgottsfrühe schon ein langes Telefongespräch mit der Psychologin Dr. Linde geführt, einer ebenso hübschen wie klugen Exkollegin aus Kemms Zeiten, und er ist beunruhigt, weil auch sie mit ihrer viel größeren Hypnosepraxis keine Erklärung für die Sache hatte. »Hat Herr Petersen irgend was Genaueres über Gaethers Verhalten erfahren können?« fragt er Trimmel. »Weiß man, was heute nacht und nach dem Aufwachen im einzelnen passiert ist? Welche Worte er gewählt hat?« »Also, so im einzelnen nicht… gestern abend allerdings hat er drei, vier Bier getrunken und war volltrunken«, sagt Trimmel, »die Ehefrau kann’s schwören, sagt sie, daß er nicht heimlich mehr geschluckt hat – sie hat ihn nicht eine Minute allein gelassen, aber trotzdem hat er bis fast um eins krakeelt wie nie. Heute früh ist er dann zwar pünktlich um acht aus dem Haus gegangen, war auch ‘n bißchen ruhiger, aber auch irgendwie…« »Verschlossener?« fragt Lorff gespannt. »Nee, nee… Moment – was sagst du?« »Entschlossener!« sagt Petersen im Hintergrund.
»Ja, richtig – entschlossener! Finster entschlossen! Hat der Frau weder guten Morgen gesagt noch auf Wiedersehen, und zum erstenmal hat er ihr nicht mal ‘nen Kuß gegeben, stellen Sie sich das vor!« »So komisch ist das gar nicht«, sagt Lorff. »Irgendwie muß da tatsächlich ein… ja, doch, regelrecht unheimliches Erlebnis nach vorn drängen, wenn er derart aus dem Tritt gerät, derartig aus seinem Trott! Am liebsten würde ich ihn mir noch mal vornehmen…« »Das wird nicht gehen«, sagt Trimmel, »nach allem, was Petersen sich anhören mußte…« Lorff schaut auf die Uhr: halb elf vorbei; sein nächster Termin ist um drei Uhr nachmittags, und den könnte er sogar zur Not absagen. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich Frau Gaether mal besuche?« »Sie?« fragt Trimmel erstaunt. »Erst wollen Sie gar nicht, und nun auf einmal…« »Ich fühle mich inzwischen ärztlich für den Mann verantwortlich«, sagt Lorff. »So selten passiert das gar nicht, daß man meint, den Leuten helfen zu müssen, ohne daß sie es wollen…« »So, so – na ja, daran hindern kann ich Sie ja wohl so und so nicht«, sagt Trimmel zögernd. »Aber wenn’s denn schon sein muß, könnten wir uns hinterher sicher mal kurz unterhalten…?« Lorff fragt zurück, wenig begeistert: »Ist das eine Vorladung?« »Ach wo!« sagt Trimmel. »Ich denk’ nur, so in aller Freundschaft…« »Freundschaft?« sagt Lorff daraufhin vergrätzt. »Mein lieber Herr Trimmel – ich habe hier weder einen Auftrag als Sachverständiger, noch würde ich mich selbst als sachverständigen Zeugen bezeichnen… nur für den Fall, daß
ich tatsächlich hinter das Geheimnis der Verstimmung von Herrn Gaether kommen sollte! Was gestern war, ist passe… ich wäre ausschließlich Arzt, mit allen gesetzlichen Schutzbestimmungen hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht!« »Machen Sie’s doch nicht spannender, als es ist!« sagt der Polizist unwirsch. »Nee, nee, besser jetzt als später!« erwidert der Psychiater – jetzt seinerseits finster entschlossen.
Richard Gaether, immerhin ja auch noch eine Figur in diesem seltsam hypnotischen Rätselspiel, wenn nicht zumindest derzeit sogar die eigentliche Hauptfigur, ist am Morgen tatsächlich pünktlich aus dem Haus gegangen und hat sich auch kurz in der Firma sehen lassen – seiner BMW-Vertretung. Dann allerdings ist er unter dem Vorwand, er müsse ein paar Kunden besuchen, seine eigenen Wege gegangen – und Trimmel und Lorff und alle anderen würden Bauklötze staunen, wenn sie ihn dabei beobachten könnten. Er geht zu Richleder, keinem Kunden, sondern einem Vetter seiner Frau, der als Meister in einer Maschinenfabrik draußen in Billwerder arbeitet. Buchstäblich, er geht – denn er hat seinen BMW 525 mindestens einen halben Kilometer vor dem Fabriktor abgestellt. Der Pförtner telefoniert, und wenige Minuten später kommt Richleder angelaufen. »Hallo«, staunt er, »was treibt dich denn her?« »Große Scheiße«, lügt Gaether, »ich hab ‘n Unfall gebaut, zwei Kilometer von hier. Das einzig Gute ist, daß eindeutig der andere schuldig ist… wie bei dir neulich – da war doch der andere schuld, oder?«
»Na, so halb und halb«, meint Richleder unbestimmt. »Aber was ist denn – brauchst du Geld?« »Nee, das nicht – ich mußte einfach mal mit ‘nem Menschen reden. Ich hab’ mich derart aufgeregt… Aber nun geht’s schon wieder!« »Wie bist du denn hergekommen?« fragt Richleder. Und Gaether in seiner ungewohnten Rolle als Detektiv hat deutlich den Eindruck, daß er mißtrauisch ist. »Taxi«, sagt er – und kriegt im gleichen Moment einen Heidenschreck. Was passiert, wenn Richleder ihn fragt, warum er das Taxi wieder weggeschickt hat? Aber Richleder nickt nur verständnisvoll mit dem Kopf und sagt voller Mitgefühl: »Tja – so ist das?« »Na ja«, sagt Gaether tapfer, »aber sag’ mal, nachdem ich nun schon mal hier bin – ich brauch’ ja ‘n Leihwagen, ohne Auto bin ich echt aufgeschmissen. Wie war das nochmals du gebumst hast: du hast doch ‘n Leihwagen gehabt und warst ganz zufrieden mit der Firma, oder?« Richleder nickt und wundert sich: »Du als Autofritze fragst mich nach ‘nem Leihwagen?« Darauf allerdings ist Gaether vorbereitet: »Ach«, sagt er, »ich will ‘n BMW wie du damals, und den kriegt man nicht überall, und vor allem geht’s ja bei uns in der Firma keinen was an, daß ich ‘n Unfall hab’. Da kannste tausendmal unschuldig sein – glaubt dir doch keiner!« Und das, aus eigener Erfahrung, sieht Richleder ein. »Autoverleih Braubach, Wilhelmsburg. Ist dein Dampfer denn schlimm kaputt?« »Totalschaden nicht gerade«, lügt Gaether, »aber der halbe Kofferraum rechts hinten ist weg; ‘n paar Mille macht das allemal…«
»Na, kommst du abends mal rum auf ‘n Bier!« sagt Richleder tröstend. »Und bring Edith mit, die hab’ ich ja ewig nicht gesehen, im Gegensatz zu dir…« »Okay, mach’ ich!« verspricht Gaether. Sie schütteln sich die Hand; Gaether geht wieder weg, die Straße zu Fuß entlang, und als er sich kurz umschaut, sieht er, daß Heinrich Richleder immer noch an seinem Werkstor steht und ihm unverwandt nachblickt. Mit letzter Kraft winkt er ihm fröhlich zu; Richleder winkt zurück, und dann, endlich, geht er wieder an seine Arbeit. Ein übler Finger, auf den er sich da eingelassen hat, sagt sich Gaether. Er rast quer durch den Hamburger Süden, über tausend Fleete und Kanäle und die Elbe, und er findet Auto Braubach nicht weit von der Wilhelmsburger Reichsstraße. Dort sitzt ein etwa fünfzigjähriges Mädchen hinter dem Tresen und lächelt ihn erwartungsvoll an. »Ich komm auf Empfehlung eines Freundes«, sagt Gaether, »Richleder, Heinrich Richleder…« Seinen eigenen BMW hat er vorsichtshalber wieder zwei Ecken vorher stehen lassen – er ist lange nicht so viel zu Fuß gegangen. »Herr Richleder hatte neulich einen BMW bei Ihnen gemietet, und ich hätt’ jetzt eigentlich gern denselben. Ich hab’ da nämlich mal mit dringesessen, und mir kam’s so vor, als sei der Wagen besonders gut in Schuß…« »Im allgemeinen sind unsere Wagen durch die Bank gut gepflegt«, behauptet die Braubach-Repräsentantin, »aber warten Sie mal, ich guck mal eben…« Sie blättert in einem Ordner. »Ja, hier – Anfang Mai!« »Wann genau?« »Vom vierten Mai an«, sagt sie verwundert. »Wieso ist das wichtig?«
Beschwichtigend winkt er ab. »Ist mir nur so rausgerutscht… das war doch dieser Zweitausender Hamburg Konrad Siegfried vierfünfunddreißig?« Er macht’s tatsächlich nicht ungeschickt. Und sie fällt prompt darauf rein. »Konrad Siegfried vierfünfunddreißig gibt’s nicht, Herr Richleder hatte Icks… Viktor zwölf achtundachtzig…« »Ja, richtig«, sagt Gaether, plötzlich mit schrecklichem Herzklopfen. Er sieht sich unschlüssig um und tritt dann den Rückzug an. »Wissen Sie, ich überleg’s mir noch mal und komm wieder vorbei!« »Der Wagen ist im Moment sowieso ausgeliehen«, erklärt sie spitz. »Wiedersehen…« Aber das hört er schon nicht mehr. Er ist schon draußen, und er rennt fast davon, diesmal wirklich mit den Nerven am Ende. Anfang Mai, vom 4. Mai an… Das ist ja das Schlimme, das kommt genau hin! HH-XV 1288 – dieser blaue BMW und kein anderer ist in Osdorf vor ihm hergefahren, und der Fahrer hat vor seinen Augen die Schülerin Ute Gerlach mitgenommen und hinterher umgebracht! Ob die bei der Kripo sich auch so beschissen vorkommen, wenn sie gerade im Begriff sind, einen Mord aufzuklären? Richard Gaether erreicht sein Auto, schließt es mit zitternden Fingern auf, wirft sich auf den Sitz und greift nach seinem schmalen Terminkalender. Er flattert förmlich durch die Seiten… Dann fällt ihm der Kalender aus der Hand. Er bricht über dem Steuer zusammen wie jemand mit einem schweren Herzanfall und stöhnt aus tiefster Seele vor sich hin. Das Datum stimmt. Es gibt kein Vertun – es ist und bleibt der 6. Mai. Richleders Schwager braucht mindestens eine Viertelstunde, bis er sich aufraffen kann und nochmals aussteigt.
Gegen halb ein Uhr mittags läutet Dr. Walter Lorff an der Tür eines Reihenhauses im Stadtteil Iserbrook, und eine hübsche, blonde Frau macht ihm auf. Adrett in Jeans und einer grün und weiß karierten Bluse… eigentlich, denkt er in seinem Immernoch-Vorurteil, mindestens eine halbe Nummer zu gut für den pummeligen, frechen Brillenträger und Hypnosequerulanten Gaether von gestern. »Guten Tag, Frau Gaether«, sagt Lorff und fragt im selben Atemzug, obgleich er es besser weiß: »Ist Ihr Mann zu sprechen?« Er bedauert es auch noch ausdrücklich, daß Herr Gaether nicht da ist – die ärztliche Kunst steuert hier wahrhaftig um sechs Ecken in Richtung Ziel. »Mein Name ist Lorff, Doktor Walter Lorff… Ihr Mann war gestern in meiner Praxis…« »Ach, Sie sind das! Was kann ich…« »Ich weiß nicht…«, überlegt Lorff, hat aber schon den rechten Fuß in der Diele. »Das heißt – wenn ich Sie nicht gerade beim Essen störe – mir macht dieser Fall doch ziemliche Kopfschmerzen!« »O ja, mir auch!« sagt sie ehrlich. »Kommen Sie doch rein, wir essen immer erst gegen Abend…« Bis dahin geht’s ja noch relativ einfach. »Ich hörte heute morgen von Herrn Trimmel von der Kriminalpolizei, daß Ihr Mann gestern sehr… na ja, abgespannt nach Hause gekommen ist«, sagt Lorff, nachdem er in einem Sessel Platz genommen hat. Das Wohnzimmer, registriert er, ist von IKEA und eigentlich ganz gemütlich. »Das ist alles an sich nicht gerade besorgniserregend, aber auch nicht normal nach einer solchen quasi routinemäßigen hypnotischen Untersuchung…« »Ja, komisch«, sagt sie. »Da kann die Polizei viel reden, Sie müssen ihm ganz schön zugesetzt haben!«
»Sehen Sie, Frau Gaether«, sagt Lorff, »das ist es ja: Von Zusetzen kann effektiv nicht die Rede sein! Ihr Mann hat sich freiwillig einer normalen Hypnose unterzogen, und dabei ist es eigentlich ausgeschlossen, daß – na ja, Unlustgefühle, wie wir dazu sagen würden, zurückbleiben. Beziehungsweise überhaupt erst entstehen…« »Ich nehm’s ja auch nicht mehr so tragisch!« erklärt Frau Gaether halbwegs entschuldigend. »Ich hatte heute angerufen, eben weil ich mir Sorgen machte, aber da war’s ja eigentlich schon viel besser…« »Wirklich?« zweifelt Lorff. »Doch, doch…« Lorff riskiert eine Lippe mehr; immerhin, die Frau macht einen nicht nur appetitlichen, sondern auch recht vernünftigen Eindruck. »Sie haben Ihren Mann doch sicher schon mal in einer Situation erlebt, in der er ein schlechtes Gewissen hatte?« Sie errötet ein bißchen. »Was man da im allgemeinen darunter versteht – nein, ich glaube nicht!« »Um Himmels willen!« sagt Lorff hastig und zwingt sich zu einem therapeutischen Lächeln. »Ein schlechtes Gewissen hat man beispielsweise, wenn man den Hochzeitstag vergißt – so etwa habe ich das gemeint…« »Ach so!« Sie lächelt tatsächlich. »…und irgend so eine Art von schlechtem Gewissen könnte während einer Hypnose plötzlich hochkommen… eigentlich was ganz Harmloses, das dann aber plötzlich viel mehr Bedeutung zu haben scheint, als ihm tatsächlich zukommt… Verstehen Sie, wie ich das meine?« »Ich glaub schon…« »Und deshalb meine ich fast«, sagt er, »daß Sie und ich nochmals alles durchsprechen sollten, was da im Umkreis der gestrigen Hypnose zur Sprache gekommen ist oder sonst von Bedeutung sein könnte…«
»Ja, gern – wenn Sie meinen…« Und so fängt er einfach an, ohne Rücksicht darauf, daß er eigentlich eine sehr linke Tour reitet. »Hat Ihr Mann Ihnen seinerzeit erzählt, daß er auf dem Osdorfer Born fast einen schweren Unfall hatte?« Sie schüttelt den Kopf. »Damals nicht. Erst, als es in der Zeitung stand, daß das ermordete Kind gefunden wurde… also, bevor er zur Polizei ging!« »Am Abend vorher?« »Ja, es war abends«, bestätigt sie. »Ist da auch schon davon gesprochen worden, daß er das Autokennzeichen seines… seines Kontrahenten bei diesem Fastunfall nicht mehr wußte?« »Nein, ganz bestimmt nicht! Auf die ganze Idee mit der Autonummer ist wohl erst die Polizei gekommen – die Mordkommission…« Die nächste Frage ist unterschwellig mehr als heikel. »Hat Ihr Mann Ihnen« – Betonung auf Ihnen – »erzählt, daß ihm dieser BMW bekannt vorgekommen war?« Sie überlegt. »Also, von bekannt vorgekommen war nicht die Rede. Nur… welche Idioten manchmal BMW fahren, hat er gesagt…« Lächelnd: »Genaugenommen hat er sogar noch was viel Schlimmeres gesagt – was man als Mann so sagt in solchen Situationen!« »Aha…« »Aber deshalb«, fügt sie hinzu, »müßte er ja kein schlechtes Gewissen haben!« »Sicher nicht«, sagt Lorff mit falscher Würde, »aber man muß eben auch der geringsten Kleinigkeit nachspüren!« Er holt seufzend Luft. »War da in Ihrem Verwandten- oder Freundeskreis irgend wann in den letzten Monaten mal irgend was unter dem Stichwort Auto?« »Sie meinen, ob jemand verunglückt ist?«
»Oder auch harmloser. Jemand hat sich ein Auto gekauft und vielleicht Ärger damit gehabt…« Kopfschütteln. »Ein Vetter von mir hat einen ziemlichen Unfall gehabt, ging noch gerade gut, aber sonst… Nein, nicht daß ich wüßte…« »Ja, dann hätte ich eigentlich nur noch eine Frage«, sagt Lorff mutig. »Ist in Ihrem weiteren Bekanntenkreis irgend jemand mal sexuell auffällig geworden?« Edith Gaether nimmt’s offensichtlich von der wissenschaftlichen Seite und antwortet betont sachlich. »Freunde von uns haben sich vor einem Jahr scheiden lassen, wenn das in Frage kommen sollte – da klappte im Bett gar nichts mehr. Ein Onkel von Richard ist mal wegen groben Unfugs bestraft worden, aber das war derart lächerlich, daß wir alle gemeinsam darüber gelacht haben…« »Was hat er denn angestellt?« fragt Lorff. Da lacht sie, als hätte man’s ihr gerade erst erzählt. »Er ist… er ist nachts mit zwei Freunden aus einer Wirtschaft gekommen und hat sich an eine Ecke gestellt und gepinkelt! Dann hat ihn irgend eine alberne Gans bei der Polizei angezeigt als… Exhibitionisten!« Es ist sicherlich nicht ganz auszuschließen, denkt Lorff, daß dahinter letztlich mehr steckt, aber doch wohl verdammt unwahrscheinlich. Andererseits, wenn man bedenkt, wie viele massive Triebverbrecher und Sittenstrolche als Exhibitionisten anfangen… Plötzlich hupt draußen ein Wagen. Dreimal kurz… der typische helle Ton einer BMW-Fanfare. »Was, so früh?« sagt Edith Gaether überrascht. Sie schaut auf die Uhr. Und als sie aufsteht, scheint sie sich richtig zu freuen. »Ihr Mann?« fragt Lorff überflüssigerweise. Er hat ein ungewöhnlich flaues Gefühl im Magen.
Aber aus diesem Gaether wird und wird er nicht klug. Statt ihm eine eklige Szene zu machen, wie Lorff im Grund befürchtet hatte, ist er zwar erstaunt, als er Lorff sieht, geht jedoch mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Na so was!« sagt er freudestrahlend. »Wo kommen Sie denn her?« Lorff hält die Hand länger fest. »Ich sehe, es geht Ihnen wieder besser… Ich bin eigentlich nur mal vorbeigekommen, weil Sie gestern so nervös…« »Ja, ja«, sagt er, nun doch etwas vorwurfsvoll, »das kann man wohl sagen! Die ganze Nacht, sag’ ich Ihnen – fürchterlich! Ich hab’ kaum ein Auge zugemacht, ich wußte selber nicht mehr, was mit mir los war…« »Wissen Sie’s denn jetzt?« »Seit heute früh um sieben wüßt’ ich’s«, antwortet er geradeheraus. »Danach war mir allerdings erst recht schlecht. Oh, Gott, wenn ich dran denk’… Edith, hol mal ‘n Schnaps! Doktor Lorff hat noch ‘n Doppelten gut!« »Whisky oder Cognac?« fragt Edith Gaether. »Whisky!« bestimmt ihr Mann. »Ich hab’ zwar nicht den ganz so teuren wie Sie…« Nach der Fast-Tragödie gestern, denkt Lorff, ist das alles kaum zu glauben. Edith Gaether serviert zwei Teachers pur. Ihr Mann steht feixend in der Gegend herum. »Was sagen Sie denn dazu, daß ich heute Privatdetektiv gespielt hab?« fragt Gaether. »Tatsächlich?« staunt der Psychiater, sozusagen selbst noch auf dem Kriegspfad. »Ja, tatsächlich!« Gaether hebt das Glas. »Und mit was für ‘nem Erfolg… Prost!« »Prost!« sagt Lorff und verschluckt sich beinahe an seinem ersten Schluck, als er über den Rand des Glases Gaethers infernalisches Gesicht sieht.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Herr Doktor, erstens dieses Gefühl von wegen Amtsanmaßung, dann diese Angst, daß mir gleich einer ‘ne Kugel ins Kreuz schießt…« Er übertreibt maßlos, aber sichtlich mit Genuß. »Ja, nun erzählen Sie doch mal!« sagt Lorff besorgt; mittlerweile fragt er sich, von Berufs wegen stets aufs Schlimmste gefaßt, ob Gaether sich überraschend einen schizophrenen Schub eingehandelt haben kann. Gaether jedoch sagt mit einem derart hinterhältigen Grinsen, wie es nur ein normaler Mensch zustande bringt: »Um mal ganz von hinten anzufangen, Doktor: diese Autonummer, die wir suchen, heißt Icks-Vau zwölf-achtundachtzig, Hamburg Xaver Viktor eins zwo acht acht!« »Soll das ein Witz sein?« fragt Lorff unsicher. »Das ist ‘ne Bombe!« erklärt Gaether stolz. »Und eins will ich Ihnen gleich sagen, Doktor – das müssen Sie mir einfach glauben: Direkt erinnert hab’ ich mich bei Ihnen auf der Couch tatsächlich nicht! Ich hab’ mich nur erinnert, daß ich den Wagen mit der Nummer schon mal irgendwo gesehen hatte, obwohl ich die Nummer im Grunde nicht kannte, so komisch sich das anhört… Und dann ist mir eingefallen, wo mir die Karre untergekommen war, und wer drin gesessen hatte… Die Nummer selber hab’ ich dann ziemlich leicht rausgekriegt – das heißt, nee, natürlich war’s verdammt schwer, ich mußte ja Detektiv spielen und so…« »Sind Sie sich denn effektiv sicher?« »Absolut!« sagt Gaether. »Folgendermaßen…« Aber Lorff hört momentan nicht mehr zu. Lorff geht zum Telefon, das in einer Nische neben dem Fenster steht, nimmt den Hörer ab und hält ihn Gaether hin. »Rufen Sie die Polizei an!« »Wieso das denn?« »Das können Sie sich ja wohl denken…«
»Sie meinen… nee, nee, Sie – ich hab’ geschworen, nie wieder tu ich den Bullen…« »Sie müssen!« »Nee, ich wüßte ja nicht mal, wie ich denen erklären könnte, daß ich…« »Los jetzt!« sagt Lorff. »Also, hörnse mal, wie reden Sie denn…« Aber dann, endlich, wird er friedlich, in all seinem Hochgefühl – und dann, endlich, zahlt es sich aus, daß sich Lorff persönlich auf den Kriegspfad begeben hat. »Na, schön… wo Heinrich ja nun aus dem Schneider ist…« »Welcher Heinrich?« fragt Edith Gaether plötzlich. »Na, unser…« »Heinrich Richleder?« »Ja, sicher!« Ihr Mann dreht die Nummer der Kriminalpolizei, die sie ihm damals auf der Revierwache in Blankenese gegeben haben und die er seitdem in seinem Buch hat, hinten in seinem schmalen Terminkalender. Edith Gaether begreift das alles anscheinend viel schneller als Walter Lorff: in ihrem Gesicht breitet sich das nackte Entsetzen aus. Lorff kann nur ahnen, daß er halbwegs recht gehabt hat mit seiner Vermutung, daß Gaether die Nummer zweimal gesehen hat, einmal am mutmaßlichen Mordauto und einmal ganz woanders, wahrscheinlich eben bei diesem ihm unbekannten Richleder… Richard Gaether, hört er, hat unterdessen Trimmel erreicht und erzählt ihm ungeniert und allen Ernstes, die Autonummer sei ihm nun doch noch – als Spätfolge sozusagen – unter dem Einfluß der Hypnose eingefallen. Und dabei zwinkert und zwinkert und zwinkert er ihm zu, sieht Lorff, wie ein Volkswagenkäfer mit nur einem Scheinwerfer.
Der dunkelblaue BMW 2000, Motortyp 121, der Leihwagen mit dem Kennzeichen HH-XV 1288 wird zwei Stunden später mit der tätigen Hilfe der Autoverleihfirma Braubach auf einem Hotelparkplatz in Holzminden entdeckt. Örtliche Kripobeamte sind dabei, als der Wagen gegen den lahmen Protest des derzeitigen Mieters gegen ein anderes Fahrzeug ausgetauscht wird, das die Braubach-Vertragsfirma im Weserbergland sofort zur Verfügung gestellt hat. Der Mann, der das Auto am 6. Mai gefahren hat, an eben dem Tag, an dem die kleine Ute Gerlach verschwand und vermutlich ermordet wurde, wird etwa zur selben Zeit in einer Gaststätte in Hamburg-Berne ermittelt. Gegen seinen Protest wird er ins Polizeipräsidium gebracht, ungefesselt zwar, aber unter der strengen, wenn auch noch diskreten Bewachung durch die Herren Trimmel und Petersen. Der Mann heißt Rudolf Feltkamp. Er ist fünfundvierzig Jahre alt, geschieden und alleinstehend, Buchvertreter verschiedener Verlage in Norddeutschland, schmächtig, etwas überelegant angezogen… also, wie ein Sexualstraftäter sieht Feltkamp wahrhaftig nicht aus. Aber wer schaut dahinter: er ist vorbestraft wegen versuchter Notzucht an einem dreizehnjährigen Mädchen aus seiner früheren Nachbarschaft, wie sich über den Computer schnell herausstellt. Trimmel und seine Leute pokern dann ein bißchen mit Mogeln, während sie Feltkamp vernehmen – durchaus etwas am Rande der Legalität. Staatsanwalt Portheine, der sofort benachrichtigte und unverzüglich persönlich erschienene Sachbearbeiter der Anklagebehörde für Kapitalverbrechen, hört scheinbar kurz weg und in Wirklichkeit fasziniert zu: Da behaupten diese Polizisten dem erst mal nur vorläufig festgenommenen Feltkamp gegenüber allen Ernstes, sie hätten den BMW, den er am 6. Mai gefahren habe, bereits untersucht! Und damit nicht genug… sie hätten, sagen sie, an dem Auto
auch schon Bodenspuren aus Hamburg-Osdorf festgestellt sowie einige Haare der bedauernswerten Ute Gerlach… »Der Name sagt mir gar nichts!« behauptet Rudolf Feltkamp pampig. »Reden Sie nicht!« sagt Trimmel. »Den haben Sie spätestens ‘n paar Tage später in der Zeitung gelesen!« Mit Hilfe derartiger Methoden dauert es dann tatsächlich nur noch zwei Stunden, bis Feltkamp zusammenklappt wie ein Taschenmesser und ein förmliches Geständnis ablegt: Am 6. Mai habe er ein Schulmädchen, dessen Namen er erst später erfuhr, in seinem Leihwagen mitgenommen, sexuell belästigt und aus Furcht vor Entdeckung getötet. Es sei dies nicht sein erstes, wenn auch sein schwerstes Delikt gewesen, und zur Tarnung, sozusagen, habe er häufig Leihwagen verschiedener Firmen gefahren, selten auf solchen Streifzügen sein eigenes Auto, einen Toyota… Er schluchzt bitterlich, als er sein Geständnis unterschreibt. Er will es nicht mal mehr gegenlesen, sagt er.
»Richleder war’s ja so und so nicht!« meint Richard Gaether, nachdem er darauf bestanden hat, Lorff spät in der Nacht vom Präsidium, wo sie allesamt Mäuschen gespielt haben, nach Hause zu fahren. »Er hatte den BMW ja zwar am vierten Mai gemietet, hatte mir diese Braubachangestellte gesagt, als ich das erstemal bei ihr war, und am vierten Mai war er mit dem Wagen auch kurz bei uns in Iserbrook gewesen… Das war so ungefähr das, was mir bei und nach Ihrer Hypnose eingefallen war. Aber dann…« Er stockt und umkurvt ein Fahrzeug, das abbiegt und zu spät geblinkt hat. »Aber dann?« sagt Lorff ermunternd. »Dann geh’ ich ja ‘ne Viertelstunde später noch mal hin zu Braubach, nachdem ich mich ‘n bißchen beruhigt hab’, weil
ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß unser guter Heinrich ein Mörder ist – das war dann übrigens auch der Moment, wo ich mich tatsächlich halbwegs als Detektiv aufgespielt hab’, so ‘n bißchen als Bulle, mal ganz unter uns. Und dann, schließlich, sagt mir die Puppe, Richleder hat den Wagen tatsächlich schon am fünften Mai nachmittags zurückgebracht… Mann, ist mir da ‘n Stein vom Herzen gefallen!« »Sie haben den BMW also sowohl am vierten Mai mit Richleder gesehen als auch am sechsten Mai am Osdorfer Born?« fragt Lorff interessiert. »Ja…« »Also, ich hatte gedacht«, gibt Lorff zu, »es sei eher umgekehrt gewesen… Aber so kommt’s ja auch hin!« »Zunächst hätt’ ja wirklich keiner vermuten können«, fährt Gaether fort, als müsse er sich für seinen Verdacht gegen den Schwippschwager entschuldigen, »daß der dusselige Heinrich sich für einen einzigen Tag ‘n Auto mietet, wenn sein eigenes fast zwei Wochen lang in die Werkstatt muß…« Sie fahren über die noch ziemlich volle Wandsbeker Chaussee, und Lorff fragt: »Und warum hat er den BMW so rasch zurückgegeben?« »Na, ganz einfach!« erklärt Gaether. »Erst hat er rumtrompetet, daß bloß der andere schuldig ist an seinem Unfall und er total unschuldig – und dann mit einem Mal, nachdem er den Leihwagen hat, kriegt er seine Zweifel. Fragt sich, ob die gegnerische Versicherung ihm den Leihwagen auch tatsächlich bezahlt, ist und bleibt sowieso ‘n Geizkragen und bringt deshalb vorsichtshalber den BMW zurück und fährt Bus… Na, was soll ich Ihnen sagen: die haben sich den Schaden tatsächlich geteilt, hab’ ich jetzt gehört!« »Wirklich, Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht!« sagt dazu Dr. Lorff mit wissenschaftlichem Ernst.
»Nur um eins bitt’ ich Sie, Doktor«, sagt Gaether. »Sie haben ja gesehen, daß ich nicht mal Herrn Trimmel oder Herrn Petersen die Geschichte erzählt hab’ – die sollen ruhig bis an ihr Lebensende glauben, mir wär’ die Autonummer doch noch so ohne weiteres eingefallen…« »Aber Sie haben doch nichts Unrechtes getan?« fragt Lorff erstaunt. »Na, logisch nicht«, sagt er, »Ihnen hab’ ich’s ja auch so erzählt, wie’s gewesen ist – irgend einem muß man das einfach mal erzählen, wenn das Herz voll ist und so… Aber Heinrich Richleder – der muß es ja eigentlich wirklich nicht wissen, oder?« »Klar!« verspricht Lorff. »Sie behalten’s bestimmt für sich?« »Ehrenwort!« bekräftigt er und streckt ihm die Hand hin. Und dann passiert’s. Gaether nimmt Lorffs Hand und schreit plötzlich auf – »Himmelarsch!« oder so ähnlich. Hat offenbar gerade jetzt, nur mit einer Hand am Steuer, eine Katze auf der Straße gesehen oder ein Gespenst – er tritt jedenfalls vor Schreck auf das falsche Pedal! Grelles Licht von hinten, Hupen, kreischende Bremsen. Dann bumst es so dumpf und ekelhaft, wie es in solchen Fällen immer bumst – der Hintermann war auch nicht ganz bei der Sache und ist voll auf Gaether aufgefahren. Drei Schrecksekunden lang sitzen sie wie erstarrt. Dann denken sie, unabhängig voneinander: Sicher ziemlicher Blechschaden… keiner verletzt, Gott sei Dank… Und dann beginnt Gaether plötzlich schallend zu lachen. »Sind Sie verrückt?« schreit Lorff ihn an – die Heiterkeit erschreckt ihn mehr als der Unfall.
»Nee, nee…«, lacht er, will wohl auch aufhören und kann sich trotzdem kaum wieder einkriegen, »bestimmt, Doktor, ich bin gleich wieder ruhig… Aber so was Irres…« »Was denn nun wieder?« fragt Lorff erschöpft. Gaether kann endlich wieder halbwegs normale Sätze formulieren. »Mir ist gerade eingefallen, daß ich Heinrich Richleder erzählt hab’, ich hätt ‘n Unfall gehabt – und wie hätt’ ich ihm das nun jemals plausibel erklären können, wenn ich nicht tatsächlich ‘n Unfall…?« »Weiß ich doch nicht?« stöhnt Lorff. »Bloß meine Frau muß ich noch vergattern!« sagt Gaether, als habe er hier neben all dem verbogenen Blech und den Glassplittern auf der Fahrbahn beim besten Willen keine anderen Sorgen. »Die hat diesen ganzen Scheiß ja nu auch voll mitgekriegt – Heinrich ist ja ihr Lieblingsvetter. Aber das schaff ich schon!« Ja, das schafft er, sagt sich Lorff; das zumindest schafft er sicher auf Anhieb. Denn diese Edith Gaether ist wahrhaftig die netteste Person in der Geschichte – vielleicht die einzige, die wirklich keine Macke hat. Und dann hält er sich raus, als der Unglücksrabe von hinten nach vorn gelaufen kommt und sofort ein irres Gezeter anfängt, wobei er von Richard Gaether von Anfang an massiv kontra kriegt. Dann macht Lorff die Tür auf und steigt einfach aus und begeht Zeugenflucht. Sein Problem ist es, daß er zwar jetzt schon definitiv beschlossen hat, sich über diesen Fall niemals schriftlich zu verbreiten – so sehr man ihn auch drängen wird, das alles wissenschaftlich unter die Leute zu bringen, vor allem, weil er’s in einer anderen kriminalpsychiatrischen Sache mal getan hat. Aber dennoch… sein langes Gespräch mit Frau Dr. Linde kann er ja nicht aus der Welt schaffen, und das schöne
›Lindelein‹ wird die Geschichte mit Sicherheit nicht für sich behalten. Sie wird zudem zwei und zwei zusammenrechnen, wenn sie, wie üblich, die Zeitung auswendig lernt… dumm ist sie ja nicht… Schauerlich. Lorff sieht’s plastisch vor sich, wie er hier durch die Nacht stapft… von Linde hört’s der Kollege X, und der erzählt’s dem Kollegen Y, und der Kollege Z, schließlich, sagt’s unter der Hand einem Reporter, den er zufällig kennt. Und der, unter Berufung auf zwei angesehene Wissenschaftler wie Dr. Lorff und Dr. Linde, posaunt die Affäre groß raus – als den Superkriminalfall, der durch Hypnose geklärt worden ist. Und er, als der eigentliche Urheber, kann die Angelegenheit dann als einziger, der zum Schweigen verpflichtet ist, bis in alle Ewigkeit hinein weder bestätigen noch dementieren.
Der Mann, der die Sonne anhielt
Über die erwähnte kriminalpsychiatrische Studie hinaus, die Dr. Walter Lorff vor einigen Jahren auf der Grundlage eines eigenen Gutachtens und nach zusätzlichen Gesprächen mit den wichtigsten Personen des betreffenden Falles veröffentlicht hatte, handelte es sich letztlich, im Zusammenhang erzählt, um folgende merkwürdige Geschichte – die merkwürdigste in den Annalen der Ständigen Mordkommission: In der kleinen Kirche der katholischen St. Lugidus-Gemeinde in Hamburg – am oberen Fischreiherweg, zwischen Billstedt und Marienthal – war nachts der Pfarrer überfallen und niedergeschlagen worden; die Sache roch nach versuchtem Mord, und überhaupt nur deshalb, vielleicht sogar etwas voreilig, hatten die ›Schwerkriminellen‹ den Job gekriegt. Gregor Meyers hieß der Geistliche, und der oder die Täter hatten auch noch die hölzerne Sankt-Lugidus-Figur entwendet, den Schutzpatron der Gemeinde persönlich. Und dies, immerhin, war im vorwiegend protestantischen oder heidnischen Hamburg ein ungewöhnlicher Tatbestand – er machte einen Menschen wie Paul Trimmel auf Anhieb stutzig. »Wer war Lugidus?« fragte Trimmel. Der Kriminalobermeister Laumen, an und für sich durchaus ein vielseitig interessierter Mann, sagte erstaunt: »Aber das ist doch nun wirklich egal! Diese Kirchen sind doch immer nach irgendwelchen Heiligen benannt – statt Lugidus hätte es ja auch Rosinus oder Korinthus sein können! Der Priester wird’s übrigens überleben, hab’ ich gehört – was sollen wir da eigentlich noch?«
Aber Trimmel überhörte den Widerspruch. »Ich will wissen, wer Sankt Lugidus war!« Da hob Laumen die Schultern und versprach mit anzüglichem Grinsen, der Frage nachzugehen. Viel zu tun gab es derzeit sowieso nicht: die Spurensicherer hatten mitgeteilt, sie hätten in der Kirche an die hundert Fingerabdrücke sichergestellt, und sie hofften zuversichtlich, in absehbarer Zeit entscheidende Hinweise geben zu können. Sie hofften indessen vergebens, um es gleich vorwegzunehmen: mit den üblichen Mitteln und Methoden wurde der Räuber von St. Lugidus nicht gefaßt – Laumens ungewöhnlicher Auftrag führte da tatsächlich schon eher in die richtige Richtung. Allerdings war Laumen zunächst keineswegs der einzige, der sich fehl am Platz fühlte und seine Zeit zu verplempern glaubte: der Gottesmann Meyers besaß zum Glück einen ungewöhnlich harten Schädel, und der Schlag mit einem noch unbekannten Gegenstand auf das Vorderhaupt hatte ihm neben einer Platzwunde lediglich eine schwere Commotio eingetragen, eine Gehirnerschütterung. Am Ende dieses ersten Tages war sogar die komplette Mordkommission der Ansicht, sie sei hier nur noch deshalb am Ball, weil er ihr nun mal zugespielt worden war – eine äußerst lästige Pflicht… Selbst Trimmel, um ehrlich zu sein, nahm den Fall nicht mehr allzu wichtig, nachdem sein erstes spontanes Interesse abgeklungen war: nachdem sich seine Truppe nach und nach verdrückt hatte, war auch er bereits in der Tür, um endlich mal wieder früh nach Hause zu gehen. Aber dann rief er doch noch mal den Kirchenvorsteher Brandes an, mit dem er mittags bereits ein erstes Gespräch geführt hatte. »Diese gestohlene Figur – ist die eigentlich sehr kostbar?«
Brandes reagierte merkwürdig aggressiv und vorwurfsvoll. »Sie stellt innerhalb der Gemeinde einen unschätzbaren religiösen Wert dar!« sagte er scharf. »Ja, und sonst?« fragte Trimmel. »Nun ja… ihr Wert auf dem Kunstmarkt, wenn Sie das meinen, liegt nicht ganz so hoch…« »Wie hoch denn genau?« Da seufzte Brandes. »Ich würde schätzen, so um die dreitausend – wie in den anderen Fällen auch!« »Was heißt das?« wunderte sich Trimmel. »Sind noch mehr Figuren weg?« »Aha!« empörte sich Brandes. »Nicht mal das ist Ihnen bekannt! Dabei werden hier in Norddeutschland seit acht Monaten Heiligenfiguren am laufenden Band gestohlen! Ihre Frage beweist doch nur, daß Sie das überhaupt nicht ernst nehmen! Finden Sie es nicht selbst unverantwortlich, daß sich die Polizei ausschließlich am materiellen Wert der Beute orientiert?« »Ich werde mich ab sofort persönlich drum kümmern!« versprach Trimmel. Anschließend setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch – und nach einer Reihe erster Telefonate mit den Landeskriminalämtern zwischen Hannover und Kiel mußte er sich eingestehen, daß Brandes mit seiner Entrüstung grundsätzlich gar nicht mal unrecht hatte.
»Erstens«, sagte Laumen am nächsten Morgen, »ein im allgemeinen leider sehr unterschätzter Hamburger Holzschnitzer namens Friedrich Hebensack hat diese LugidusFigur vor fünfundneunzig Jahren hergestellt. Sie ist ein gutes Beispiel neugotischer Kunst, ohne sich bereits im reinen Historismus zu erschöpfen, hab’ ich gelesen… jedenfalls war
es eine Arbeit im Auftrag der damals schon bestehenden Lugidus-Gemeinde, die dafür hundert Taler gesammelt hatte!« »Zweitens?« fragte Trimmel. »Zweitens hat die Figur ein außergewöhnlich schweres Schicksal gehabt. Die Kirche wurde zwei Jahre vor Kriegsende zerbombt, und den Lugidus hat man hinterher aus den Trümmern graben müssen. Erst im Jahre siebenundsechzig, nach dem Neubau der Kirche, wurde er wieder auf seinen ihm zustehenden Ehrenplatz gestellt…« »Hast du das auch gelesen?« »Hamburg, deine verborgenen Schätze!« nickte Laumen. »Ein sehr schönes Buch mit einer beklagenswert kleinen Auflage, sagt mein Buchhändler…« »Zeig’ mal her!« sagte Trimmel und wollte nach dem schmalen Band greifen, den Laumen auspackte. Dabei sah er irritiert, daß gleich noch ein viel dickeres Werk zum Vorschein kam – ein Buch in Weiß und Schwarzlila. »Lugidus«, sagte Laumen, während er es aufschlug und wieder reichlich blasphemisch grinste, »soll im sechsten, siebten Jahrhundert nach Christus in Irland gelebt haben. Er hat Fleisch in Fisch verwandelt und Laubbäume bei Bedarf zu Birnen- und Pflaumenbäumen umfunktioniert. Dazwischen hat er sogar mal die Sonne angehalten, und wenn wir ihn jetzt anrufen könnten, Chef… also, ich bin sicher, daß er sofort das Attentat auf Pfarrer Meyers aufklären würde!« Petersen, der gestern in anderer Sache unterwegs gewesen war, meckerte: »Was soll der Quatsch?« Trimmel jedoch nahm sich das zweite Buch vor, das Laumen aufgetrieben hatte. »Goswin Frenken, Wunder und Taten der Heiligen… Mensch, das können wir vielleicht ja noch sehr gut gebrauchen!« Laumen schüttelte den Kopf. »Glaub’ ich nicht… viel mehr steht über Lugidus nicht drin…«
»Goswin Frenken«, las Trimmel unbeeindruckt vom Klappentext ab, »Professor für mittellateinische Sprachwissenschaft… von den Nazis eingesperrt und gegen Kriegsende, zwanzig Jahre nach Erscheinen dieses Standardwerks, im Konzentrationslager Flossenbürg an Flecktyphus gestorben!« Er sah befriedigt auf. »Nicht schlecht, Laumen!« Laumen war eher verwirrt als stolz über das unerwartete Lob. »Ich weiß allerdings nicht, warum sich die Katholiken von Marienthal ausgerechnet diesen irischen Typen als Patron ausgesucht haben…« »Ja, wieso denn nicht?« fragte der aus Münster stammende Kriminalmeister Krombach. »Diesen angelsächsischen Tick haben die Hamburger doch schon immer gehabt!« Petersen widersprach ihm sofort. »Die Iren sind keine Angelsachsen, sondern Kelten!« Trimmel las schon weiter. »Heiliger Columban… Felix, Urban, Helenus, Gregor – kommt alles hin!« Da wurde Krombach humorlos. »Chef, hier geht’s um den lebenden Gregor! Um Gregor Meyers! Der ist Pfarrer, und heilig ist er ja vielleicht auch – aber deswegen ist er ja bestimmt nicht niedergeschlagen worden! Wie wär’s, wenn Sie ihn mal fragen, ob er vorher bedroht worden ist?« Trimmel legte das Buch zur Seite. »Ja, mach’ ich«, sagte er friedlich, »aber die Heiligen brauch’ ich trotzdem!« Dann, endlich, erzählte er, was er am Vorabend in Erfahrung gebracht hatte: »Hier in Norddeutschland sind in der letzten Zeit mehr Heiligenfiguren geklaut worden als in ganz Bayern und Österreich zusammen!« »Und?« fragte Krombach. »Müssen wir deshalb gleich in die Volkshochschule gehen?« »Komm, denk’ mal nach!« meinte Trimmel. »In Bayern sind die Dinger von Tilman Riemenschneider und kosten Millionen,
und hier sind sie von Friedrich Hebensack und kosten so gut wie nichts! Irgendwie steckt da doch der Holzwurm drin!« Ausgerechnet Petersen bekam dann die Aufgabe übertragen, die einzelnen Diebstähle, von denen bislang neun katholische Gemeinden zwischen Lüneburg und Hohenlockstedt betroffen worden waren, miteinander zu vergleichen. »Denk’ mal nach«, wiederholte Trimmel, »wenn da einer lauter Statuen klaut, die er eigentlich nur auf dem Flohmarkt verhökern kann, muß er entweder Bilderstürmer sein oder Fetischist!« »Wieso muß es denn ein Einzeltäter sein?« fragte Petersen, wenig begeistert. »Eigentlich kann’s doch auch eine Art Bande…« »Hör’ auf!« unterbrach Trimmel. »Hast du jemals mal was von einer Fetischistenbande gehört?« Widerwillig gab ihm Petersen recht. Trotzdem – er mußte sich in den folgenden Stunden immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß er Gott sei Dank doch noch nicht zum Einbruchsdezernat versetzt worden war, sondern wenigstens noch eine Körperverletzung aufklären sollte. Stunden um Stunden lief er im eigenen Hause herum und telefonierte, auftragsgemäß gründlicher als Trimmel, mit einzelnen Polizeidienststellen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Sorgsam und pingelig, wie es seine Art war, notierte er sich seine Recherchenergebnisse unter- und auch nebeneinander, ergänzte sie durch die Legenden früh- und mittelchristlicher Wundertäter und Märtyrer – und unversehens gingen ihm dabei die Augen über… Normalerweise, dachte er erschauernd, wäre diese glühend fromme Welt einem kühlen, ehemals blonden, inzwischen allerdings haarlosen Hanseaten wie ihm für immer verschlossen geblieben. Aber da sie sich ihm hier nun mal öffnete, erkannte er bald, daß es Polizisten im Mittelalter sicherlich viel schwerer gehabt hatten als heute. Früher
nämlich – da wurden regelmäßig nicht nur die Gesetze des Staates, sondern auch die der Gerichtsmedizin und der Logik schlicht auf den Kopf gestellt. Da wurden, beispielsweise, Menschen dadurch ermordet, daß man sie zwang, literweise flüssiges Blei zu trinken – sie waren angeblich erst tot, nachdem sie den letzten Tropfen geschluckt hatten. Und das, dachte Petersen, sollte dann erst mal einer aufklären! Trimmel und Laumen wurden inzwischen im Krankenhaus St. Georg an das Lager von Pfarrer Meyers geführt. Meyers war ein riesiger Mann, was sich selbst unter der Bettdecke erkennen ließ; seine untere Kopfhälfte bestand aus einem rabenschwarzen Vollbart, die obere war weiß durch einen dicken Putz aus Mull. Gleichwohl – er war vernehmungsfähig. »Wie war das denn, Hochwürden?« begann Trimmel. »Sie sollen gegen Mitternacht in Ihr Gotteshaus gegangen sein und dabei ein Geräusch gehört haben?« »Nennen Sie mich Meyers!« sagte der Priester. »Ich kann Ihnen leider sowieso nicht viel sagen…« »Gut, Herr Meyers! Aber irgendwas wird Ihnen doch noch in Erinnerung geblieben sein?« Meyers nickte, wobei er allerdings vor Schmerzen das Gesicht verzog, eine Hand unter der Decke hervorholte und sie behutsam an den Schädel führte. »Üblicherweise schließen wir die Kirche gegen neunzehn Uhr ab, weil dann niemand mehr kommt. So war das auch vorgestern, und so etwa um elf glaubte ich, einen flüchtigen Lichtschein zu sehen, etwa wie von einem Streichholz…« Laumen sagte: »Das könnte stimmen – es lagen mehrere abgebrannte Streichhölzer herum!« »Ich dachte also, ich seh’ mal nach«, fuhr Meyers fort, wobei er vorsichtig nur noch den Mund bewegte, »ich nehme meinen Zweitschlüssel, den ersten hat der Küster, schließe das Portal auf und will links innen das Licht anknipsen. Dazu komme ich
aber nicht mehr, denn mit einem Mal höre ich ein Geräusch, ein sekundenlanges Zischen – und dann hab’ ich einen totalen Blackout! Ich weiß nichts mehr, und heute erst weiß ich, daß ich über eine Stunde ohne Bewußtsein gewesen bin. Ich bin irgendwann zu mir gekommen und hab’ albernerweise überlegt, wo meine Kopfschmerztabletten sind…« »Sie hatten starke Schmerzen?« fragte Trimmel. »O, Mann…«, sagte Meyers kläglich. »Trotzdem haben Sie eine Art Inventur gemacht?« »Ja, so halb im Tran«, sagte Meyers, »und dabei sah ich, daß der Lugidus weg war!« Es sah so aus, als würde er länger über diesen Verlust nachdenken wollen, und Trimmel fragte schnell: »Als Sie diesen… diesen Streichholzschein sahen – saßen Sie da an Ihrem Schreibtisch?« »Ja«, bestätigte der Pfarrer, »gegenüber im Pfarrhaus… ich habe von da aus zwei Fenster im vorderen Kirchensegment voll im Blick!« »Im vorderen Schiff, meinen Sie?« »Ja, so in etwa«, erklärte Meyers, »wobei der Ausdruck Segment präziser ist. Ein Kugelausschnitt… unsere Kirche ist wie eine Halbkugel gebaut – sie galt mal als eine der modernsten in Norddeutschland…« »Aha. Und nach der Feststellung, daß Ihr Schutzpatron weg war, sind Sie aus eigener Kraft wieder in Ihr Büro gegangen und haben die Polizei angerufen?« »So ist es!« sagte Meyers mit verhaltenem Stolz. »Es war nicht einfach, aber ich habe es geschafft. Wobei mir dann allerdings nur der Notruf hundertzehn einfiel…« »Dafür ist er ja da!« sagte Trimmel. Er erinnerte sich an dieser Stelle an Krombachs Vermutung. »Haben Sie mal Drohbriefe bekommen oder vielleicht entsprechende Anrufe?«
Da schüttelte Meyers heftig den Kopf, wodurch die Platzwunde wieder zu schmerzen begann. »Nicht die Bohne, Herr Trimmel! Ich bin ja schon von Amts wegen ein friedliebender Mensch, und weil ich mich außerdem auf meine Körperkräfte verlassen kann, gelingt es mir im allgemeinen sehr gut, mit meiner Umwelt harmonisch zusammenzuleben…« »Das leuchtet ein!« stellte Trimmel fest. »Jedenfalls wüßte ich wirklich nicht«, sagte Meyers, »daß ich jemals einen Menschen vor den Kopf gestoßen hätte – oder einer mich!« Er mußte lachen. »Na ja… einer schon!« Wieder verzog er das Gesicht. »Wir haben’s gleich hinter uns!« tröstete Trimmel, der den Mann eigentlich ganz sympathisch fand. »Wenn ich noch eines fragen darf – Sie werden ja sicher bald wieder die… die Messe feiern?« »Unbedingt!« bestätigte Meyers. »Entweder ich oder ein Amtsbruder – Pausen gibt’s nicht! Ich nehme an, daß das Gotteshaus demnächst neu geweiht wird, aber ich sehe keinerlei Grund, es bis dahin zuzusperren!« »Also Gottesdienst ohne Lugidus?« fragte Trimmel. »Die Figur des Heiligen ist für uns nicht mehr und nicht weniger als ein Symbol«, verkündete der Priester, »wir hoffen auch dringend, daß wir den Guten mit Ihrer Hilfe bald wieder aufstellen können. Sie sollten jedoch nicht annehmen, daß er unseren Glauben personifiziert…« Nichtsdestotrotz versprach Trimmel dem Priester zum Abschied: »Wir werden uns die allergrößte Mühe geben!«
Petersen legte, kaum, daß sie wieder versammelt waren, den Finger auf das von Laumen besorgte Heiligen-Werk wie auf eine Bibel und zitierte auswendig einen besonders schönen
Satz aus dem Vorwort: »Es handelt sich ja bei diesen Heiligengeschichten um den Glauben des einfachen Volkes, betont der Verfasser; man sollte diesen Glauben also respektieren und ihn sicher nicht mit rationalen Motiven auszurotten versuchen. Ich finde, das klingt sehr einleuchtend!« Trimmel hängte seinen Mantel in den Schrank. »Was willst du damit sagen?« »Damit«, erklärte Petersen, »meine ich unter anderem, daß wir es besser ohne jede Skepsis hinnehmen, daß beispielsweise der heilige Abban zu Lebzeiten wirklich nur ein einziger Mensch war, obgleich nach seinem Tode plötzlich zwei Leichen Abban vorhanden waren…« »Komm’, hör’ auf!« sagte Trimmel und setzte sich. »Daß es von manchen Heiligen mehr Reliquien gibt, als ein Mensch Knochen hat, hab’ ich schon in der Schule gelernt!« »Sie mißverstehen mich da, Chef!« sagte Petersen nachsichtig. »Im Fall Abban werden nicht etwa die Besitzansprüche verschiedener Bistümer auf zwei Schädeldächer geltend gemacht, sondern da gab’s in dem Moment, in dem er verstarb, effektiv zwei Leichname!« Trimmel runzelte die Stirn. Im Moment war seltsamerweise er derjenige, der sich auf diese ganzen Heiligenaffären keinen rechten Vers machen konnte, ganz im Gegensatz zu Petersen. »Hast du vielleicht doch mehr im Sinn als Verhohnepipeleien?« »Doch, doch!« behauptete Petersen. Er ließ es sich dann allerdings nicht nehmen, die großen Zusammenhänge im Detail zu schildern. »Der heilige Richard ist vor tausend Jahren gestorben und zu Staub und Asche verwest, aber seine rechte Hand ist erhalten geblieben, weil er damit jede Menge Evangelien abgeschrieben hatte…«
»Und?« fragte Trimmel unkonzentriert. »Ist die Hand etwa gestohlen worden?« »Nicht die Hand selbst«, antwortete Petersen, »aber immerhin die Figur. Vierzig Zentimeter hoch, auf dem Kunstmarkt gar nicht notiert…« »Also Richard. Und wer noch?« Petersen nahm seine Liste zu Hilfe. »Columban – den hatten Sie ja bereits erwähnt. Ein Schwabe, der mit der Kraft seines Atems ein durch eiserne Reifen gesichertes Faß voller Alkohol zerspringen ließ. Reinhold – der wurde als Leiche aus dem Wasser gefischt und suchte sich dann erst mal selbst eine geeignete Grabstätte, bevor er sich endgültig zur Ruhe begab. Der heilige Krispin, der imponiert mir am allermeisten – der hat ein Bad in einer Art Hochofen überlebt und außerdem sämtliche Übeltäter, die ihn umbringen wollten. Der heilige Helenus – den hatten Sie ja ebenfalls schon ausfindig gemacht…« »Er ließ sich von einem Krokodil wie von einem Boot auf die andere Seite eines Flusses tragen«, erinnerte sich Trimmel, »und jetzt hör’ auf mit deinen Schauergeschichten und komm’ zur Sache!« »Das gehört zur Sache!« sagte Petersen penetrant. »Felix ging dreihundert Jahre in einem Garten voller Nachtigallen spazieren und wurde dabei keinen Tag älter. Gregor richtete eine Schlange ab, und sie vertrieb ihm anschließend sämtliche Gemüsediebe, wo wir gerade beim Garten sind…« »Ogottogott!« murmelte Trimmel. Er war auf dem besten Wege, seinem derzeitigen Berichterstatter kurzerhand den Mund zu verbieten. »Chef«, sagte Petersen pikiert, »ich habe mich nicht um diese Forschungsarbeit gerissen! Jedenfalls muß ich Ihnen noch mitteilen, daß der vor kurzem ebenfalls gestohlene Urban über
die Gabe verfügte, durch die geballte Kraft seines Gebets massive Mauern zum Einsturz zu bringen!« Laumen und Krombach verfolgten die seltsame Konferenz inzwischen mit offenen Mündern. »Das wär’s?« fragte Trimmel. »Was ich mache, mache ich gründlich!« erklärte Petersen ungerührt. »Ich bin die Sache deshalb auch noch statistisch angegangen…« »Sehr gut!« höhnte Trimmel. »Statistik ist immer gut!« »… ich wollte nämlich herausfinden, nach welchen Gesichtspunkten der Heiligenräuber seine Kollektion eigentlich zusammenstellt. Meinen Sie nicht auch, daß wir ihm von daher vielleicht am ehesten auf die Schliche kommen können?« Trimmels Gesicht war eine Maske. Aber er beherrschte sich und sagte nichts. »Ich habe also ermittelt«, fuhr Petersen fort, »daß vier der gestohlenen Heiligen zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen vierzig und fünfzig Jahren waren. Einer muß erheblich jünger gewesen sein, einer war ein Greis, der Rest ist nicht mehr feststellbar. Sechs haben im ersten Jahrtausend nach Christi gelebt, die Daten der übrigen lassen sich nach den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht einordnen. Drei der späteren Heiligen waren von Beruf Geistliche, einer war Diplomat, einer Landwirt und einer Handwerker. Bis auf zwei haben alle im Gebiet der heutigen NATO gelebt, sofern sie überhaupt gelebt haben, und bis auf einen Neger oder Araber waren alle von weißer Hautfarbe. Dieser letzte Punkt ist jedoch wenig beweiskräftig, weil die Welt jenseits von Europa damals noch ziemlich unerschlossen war…« »Petersen«, sagte Trimmel, ruhig zwar, aber mit hochrotem Kopf, »was bringt das?«
Durch das verbotenerweise geöffnete Fenster drang in diesem Moment der Lärm von Sprechchören und Autohupen, der Lärm einer Demonstration gegen den Bau von Wiederaufbereitungsanlagen in Niedersachsen. Ein typischer Lärm aus dem zwanzigsten Jahrhundert… Petersen schloß das Fenster und sperrte ihn aus. »In einem Punkt allerdings«, sagte er dann, als sei er nie unterbrochen worden, »sind sich alle hier in Frage kommenden Heiligen gleich. Von Antonia und Barbara bis Ursula und Zita, der Schutzherrin der Dienstmädchen, gibt es jede Menge weiblicher Heiliger – aber einschließlich Sankt Lugidus sind in der uns interessierenden Serie ausschließlich männliche Figuren gestohlen worden!« »Was heißt jede Menge?« wandte Krombach ein. »Es gibt mit Sicherheit mehr männliche als weibliche Heilige!« Aber Trimmel, plötzlich wieder sehr nachdenklich, wußte es besser. »In jedem Fall gibt’s Maria«, sagte er, »ich bin jedenfalls noch nie in einer Kirche gewesen, in der nicht mindestens eine Madonna stand…« »Eben, Chef!« sagte Petersen, arrogant an seinen jüngeren Kollegen vorbei. »Aus einer Statistik des Bundeskriminalamts geht eindeutig hervor, daß sich, wenn man die Gottesmutter mitrechnet, die Geschlechter erbeuteter religiöser Kunstfiguren normalerweise absolut die Waage halten!« Gerade jetzt schrillte das Telefon, das schon die ganze Zeit über verdächtig ruhig gewesen war. Laumen ging hin und nahm den Hörer ab. »Wir haben was Neues für euch«, meldete der Hauptmeister, der in diesem Fall die Spurensicherung koordinierte, »am Hochaltar in der Lugidus-Kirche war ein Fingerabdruck, der interessant sein könnte…« Trimmel persönlich, den Mithörer am Ohr, schrieb den Namen auf. »Dieter Schumm, Seeadlerweg… Mensch, das ist
doch bloß ein paar Ecken vom Fischreiherweg entfernt! Vierundzwanzig Jahre alt… was, sechsmal? Sechsmal vorbestraft wegen schweren Diebstahls?«
In Petersens Augen stand deutlich ein stummer Vorwurf, als er sich mit Laumen und Krombach auf den Weg machte, um sich Dieter Schumm gleich mal aus der Nähe anzusehen. Trimmel jedoch vergaß die Heiligen sehr schnell, nachdem ihm Schumms äußerst unheilige Polizeiakte gebracht worden war. Schon vor acht Jahren, las er, hatte der Junge seine unerfreuliche Karriere begonnen – er war mit siebzehn bereits ein vielseitiger und geschickter Autoknacker. Alles in allem hatte Schumm vierundsechzig Autos ausgeräumt, die ungeklärten Fälle gar nicht mitgerechnet – und dafür hatte er insgesamt mehr als vier Jahre Jugendstrafe und Knast abgerissen… In zwei Fällen war der Verdächtige auch gewalttätig geworden, als man ihn auf frischer Tat überrascht hatte. Einem Autobesitzer hatte er das Nasenbein zertrümmert, und einen Polizeimeister hätte er bei einer Prügelei fast entwaffnet, wenn ihm der zweite Mann aus dem Streifenwagen nicht auch noch in die Quere gekommen wäre. Es sprach scheinbar nichts dagegen, daß Dieter Schumm auch dem Pfarrer Meyers eins über den Schädel gezogen hatte. Dann allerdings lehnte sich Trimmel im Sessel zurück und dachte nach. Erstens, dachte er, war Schumm seit zwei Jahren ›sauber‹ – das ließ sich immerhin noch dadurch erklären, daß er zu geschickt geworden war, sich noch erwischen zu lassen. Zweitens jedoch – warum sollte ein Autoknacker eigentlich von jetzt auf gleich auf preiswerte, wenn nicht billige Heiligenfiguren umsteigen?
Trimmel rief im Krankenhaus an und erreichte es, daß ihm Pfarrer Meyers an den Apparat geholt wurde. »Kennen Sie einen Dieter Schumm?« fragte Trimmel. »Ja, aber natürlich!« sagte Meyers mit Nachdruck. Gleich darauf sprudelte er los, als sei er längst wieder gesund – und Trimmel hielt den Hörer zehn Zentimeter vom Ohr entfernt in die Luft, weil ihm die Lautstärke des geübten Predigers das Trommelfell zu zerreißen drohte. »Danke, Herr Meyers!« sagte er schließlich und legte behutsam auf. Er zuckte zusammen, als der Apparat sofort wieder losschrillte, und riß den Hörer ans Ohr. »Schumm wohnt bei seinen Eltern«, meldete Laumen, »es war zwar niemand zu Hause, aber wir haben erfahren, daß er als Automechaniker in Bramfeld arbeitet. Da sind wir jetzt… sollen wir ihn hopsnehmen?« »Nein!« sagte Trimmel. »Macht keinen Putz!« »Wieso?« fragte Laumen perplex. »Kommt sofort zurück!« sagte Trimmel müde. »Schumm ist heilig geworden – er ist führend in der Jugendarbeit der Lugidus-Gemeinde tätig. Der Pfarrer hat ihn resozialisiert, er legt die Hand für ihn ins Feuer. Willst du dem lieben Gott etwa ins Handwerk pfuschen?« »Scheiße!« sagte Laumen rüde, als er einhängte. Trimmel dagegen sagte sich zum hundertsten Mal, daß seine Anordnung, unmittelbar vor einer vorläufigen Festnahme nochmals durchzurufen, eine gute Anordnung gewesen war. Die eigene Frustration nämlich ließ sich weiß Gott immer noch besser verkraften als die geharnischte Beschwerde eines Advokaten im Auftrag eines fälschlich Festgenommenen.
Immerhin – wenigstens Petersen wirkte gelöst und gelockert, als die Expedition wieder eintraf. Während sich Laumen und
Krombach gleich in die Kantine verkrümelten, nahm er seine Notizen einschließlich der BKA-Statistik gleich wieder zur Hand – und Trimmel faltete ergeben die Hände über dem Bauch und hörte ihm zu. »Nach diesem voraussehbaren Fehlschlag«, begann Petersen, »müssen wir ja nun leider von vorn anfangen. Gehen wir also mal davon aus, daß es sich bei den im Süden tätigen Kunsträubern eindeutig um organisierte Banden handelt, die organisierte Hehler hinter sich haben und allein auf der Basis von Profitgier arbeiten…« »Von Profit!« verbesserte Trimmel. »… dann«, fuhr Petersen unbeirrt fort, »erkennen wir sehr deutlich, daß es sich bei uns genau umgekehrt verhält! Unsere Fälle lassen sich mit den normalen Diebstählen überhaupt nicht vergleichen!« »Du drehst dich im Kreise!« mahnte Trimmel. »Keineswegs«, sagte Petersen, »ich seh’ die Sache bloß mal unter anderen Perspektiven! Im Süden wird immer wertvolle, im Norden dagegen immer billige Beute gemacht… Chef – wir haben es ja tatsächlich nicht mit organisierter Kriminalität zu tun! Und Sie kommen ebenso zu keinem anderen Ergebnis, wenn Sie das alles unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten…« Trimmel nickte. »Hinter jeder Form von organisiertem Verbrechen gibt’s einen Markt, und den gibt’s hier eindeutig nicht!« »Goldrichtig!« sagte Petersen. »In Süddeutschland gibt es heutzutage kaum noch einen Millionär, der sich nicht seinen gotischen oder barocken Heiligen in den Luxusbungalow stellen möchte! Ganz egal, ob’s Johannes der Täufer oder Franz von Assisi ist… Hauptsache, die Figur ist teuer! Aber nun sagen Sie mal selber… halten Sie die norddeutschen Kapitalisten etwa für so geschmacklos, daß sie sich unbedingt
nur mit billigem Kitsch umgeben wollen? Pfarrer Meyers hört ja nicht mit – man kann das deshalb ruhig mal in dieser Form aussprechen…« »Sicher«, meinte Trimmel, »aber willst du nicht doch mal allmählich auf den Punkt kommen?« »Gestatten Sie mir doch bitte, daß ich Ihnen über unsere bisherigen Vermutungen hinaus doch noch den Beweis liefere!« bat Petersen. »Das ist nämlich so… die Profis im Süden erbeuten pro Einbruch immer zehn oder noch mehr Figuren auf einen Schlag – bei uns dagegen wird bei jedem Diebstahl immer nur eine einzige Figur mitgenommen! Wissen Sie, was das heißt?« »Ja, ja, ja!« sagte Trimmel ungeduldig. »Unser Mann ist ein Einzelgänger – aber davon gehen wir doch von Anfang an aus! Ein ganz bestimmter Typ… bloß, was für einer? Da ist der Hund begraben!« »Könnte es vielleicht sein«, fragte Petersen, »daß es jemand ist, der etwa den Bonifatius-Verein haßt? Den Verein, der sich um die Gebiete kümmert, in denen weniger als ein Drittel der Bevölkerung katholisch ist?« Trimmel dachte nach. »Das ist mir zu weit hergeholt. Da gibt’s doch sicher Geschäftsstellen… also, um die zu ärgern, würde man eher die Scheiben einschlagen oder eine Bombe hochgehen lassen…« Laumen war ins Zimmer gekommen – er hatte gerade noch den letzten Satz mitgekriegt. »Ja, das ist es!« höhnte er. »Der verrückte Bomber ist es gewesen!« Aber Petersen beachtete ihn nicht. »Was halten Sie denn von einem Sammlertyp?« fragte er Trimmel. »Einen, der diese Holzfiguren sammelt wie andere Leute Kronenkorken oder Bierdeckel oder Briefmarken?« Da sagte Laumen, schon wieder im Hinausgehen: »Vielleicht wollte bloß mal einer seiner Puppe was Hübsches schenken!«
Trimmel sah ihm böse nach, bevor er sich wieder an Petersen wandte. »Irgendwie schmeckt mir das auch nicht. Sammeln, gut und schön… aber billige heilige Holzfiguren kann man doch kaufen!« »Oh – das versuchen Sie mal!« sagte Petersen. »Diese Heiligen sind allesamt zwischen vierzig und sechzig Zentimeter groß – da müssen Sie aber eine Menge Devotionalienhandlungen abklabastern, bis Sie die Größe finden! Aber was soll’s – ich hätte ja durchaus noch eine weitere Idee. Ich könnte mir ohne weiteres vorstellen, daß der Mensch, den wir suchen, einfach nur eine ganz bestimmte Sorte Kirchen heimsucht, weil er sie schänden will – nämlich genau diese supermodernen Betonkirchen in diesen katholischen Diasporagemeinden! Die sind ja nun tatsächlich nicht jedermanns Geschmack – meiner, nebenbei, auch nicht…« Trimmel sah ihn groß an. »Kommt das denn hin?« »Hundertprozentig!« teilte Petersen mit. »Sämtliche Beutestücke, die ich erfaßt habe, stammen aus diesem Typ Gotteshaus! Ich bin zwar noch nicht so weit gekommen, mir von allen beraubten Kirchen Fotos zu besorgen, aber angeblich sehen sie durch die Bank aus wie Zuckerhüte oder Atombunker des lieben Gottes! Und da mein’ ich wirklich nicht mehr, daß das Zufall ist!« Trimmel war endgültig hellwach. »Wer hat diese Klötze denn gebaut?« »Gebaut worden«, sagte Petersen, »sind sie von insgesamt fünf verschiedenen Firmen, meist ortsansässigen Unternehmern. Konstruiert worden sind sie jedoch von ein und demselben Architekten!« »Weißt du auch, wie der heißt?« »Leonhard Weise!« antwortete Petersen. Dann ging er unaufgefordert zu Trimmels Wandschrank und nahm sich
einen Cognac zur Brust – nun, da er es endlich los war. »Sie wollen doch nicht etwa auch einen, Chef?« »Doch, sicher…« »Oh, das tut mir aber leid!« sagte Petersen scheinheilig. »Es war leider nur noch ein einziger Schluck drin!«
Es wurde dann – Schnaps hin, Schnaps her – eine elende Jagd auf Gespenster und weiße Mäuse. Ein Münchner Kollege, erinnerte sich Trimmel später, hatte mal gesagt, die Heiligen und ihre verdammten Narren brächten die Kripo manchmal wirklich zum Sankt-Veitstanz; das Bonmot aus dem Stammland der religiösen Diebstähle war von der Presse anschließend derart hochgespielt worden, daß es selbst ihm als Nichtzeitungsleser aufgefallen war. Hier allerdings paßte es noch besser als anderswo, dachte Trimmel: bei der Verfolgung der von Petersen entdeckten Spur Leonhard Weise sprangen sie oft buchstäblich im Quadrat. Wochenlang wurde der Mann, aus der Deckung heraus, überprüft. Und alles, was man über Leonhard Weise erfuhr, war dies: Der Architekt wohnte auf einem umgebauten Bauernhof mit vierzigtausend Quadratmetern im Kreis Herzogtum Lauenburg, und seine einzige Auffälligkeit war zunächst sein etwas zu jugendliches Auftreten. Dazu paßte es auch, daß der zweiundfünfzigjährige Mann seinen Cadillac und einen Porsche als Zweitwagen selbst steuerte – statt eines Chauffeurs allerdings beschäftigte er einen Hausmeister, eine Köchin, einen Gärtner und einen englisch ausstaffierten Butler. Und dann gab es dort draußen auch noch seine deutlich ältere Frau Liane, geborene Wendig, die ihn offenbar ziemlich bemutterte; daß die drei Töchter, von denen die jüngste einundzwanzig Jahre alt war, das Elternhaus längst verlassen hatten und in
Stuttgart und Mannheim wohnten, spielte in diesem Zusammenhang sicher kaum noch eine Rolle. Weise hatte im übrigen nicht etwa nur norddeutsche Betonkirchen entworfen, sondern auch Hochhäuser in Berlin und Gesamtschulen in Hessen und Rheinland-Pfalz. Er hatte sein Architekturbüro zwar vor einiger Zeit aufgelöst, vermutlich, weil er reich genug war – aber er wirkte schon vom äußeren Anschein her nach wie vor wie ein Mann, der mitten im Leben steht, ganz sicher nicht wie ein Psychopath, ein kleptomanischer Kirchenschänder… »Also, wirklich«, sagte Trimmel irgendwann gegen Feierabend, »wenn einer wie der nachts in Kirchen einsteigt – da kann ich nur sagen: gute Nacht, Marie! Dann müßt ihr ab sofort auch auf mich aufpassen!« Nicht ganz uninteressant indessen waren schließlich die Ergebnisse diskreter Recherchen bei der Lufthansa, die Leonhard Weise immer noch als VIP registriert hatte, als besonders guten Kunden und ehemals häufigen First-ClassPassagier nach Südamerika: von dort, war zu vermuten, hatte er sich alle nasenlang neue architektonische Anregungen geholt. Allerdings war er auch noch in jüngerer Zeit derart oft unterwegs gewesen, daß es fast schon ein erstaunlicher Zufall war, ihn auf seinem Bauernhof überhaupt gesehen zu haben… Laumen war hier der Sachbearbeiter, und er deckte gerade an dieser Stelle erste seltsame Tatbestände auf: beispielsweise immer dann, wenn wieder mal in eine Kirche eingebrochen worden war, hatte sich Leonhard Weise ausnahmsweise mal nicht in einem Flugzeug aufgehalten, sondern war allem Anschein nach zu Hause gewesen! »Aber kann er dann nicht mit dem Auto oder mit der Eisenbahn unterwegs gewesen sein?« wandte Trimmel ein.
»Im Zug hat der bestimmt noch nie gesessen!« behauptete Laumen. »Und mit dem Auto fährt er höchstens zum Hamburger Flughafen und zurück!« »Und woher willst du das wissen?« »Von den Parkplatzwächtern am Flughafen. Die kennen seinen Riesenschlitten schon von weitem… sie geben ihm immer einen Platz ganz vorn, damit er nicht so weit laufen muß, und er gibt ihnen dafür regelmäßig zehn Mark. Da gibt’s gar kein Vertun, bei diesem auffälligen Auto… gestern abend war ich außerdem auch noch in seiner Dorfkneipe – soll ich Ihnen mal sagen, Chef, was mir einer von diesen Bauern gesagt hat?« »Was denn?« knurrte Trimmel. Laumen grinste, merkwürdigerweise ausgesprochen unbehaglich. »Der Weise wär ein verdammt komischer Heiliger, hat er gesagt! Ach so – und dann hat er mir auch noch erzählt, daß Weise grundsätzlich nur Pfeife raucht!« »Hasch?« fragte Trimmel sarkastisch. »Opium?« »Nee – nur Tabak. Aber Tabak mit Streichhölzern!« Laumen wollte diesem ehemaligen Architektenstar offenbar mit Gewalt was anhängen, überlegte Trimmel. Beweiskräftig allerdings war das, was er da zusammengetragen hatte, noch lange nicht: in der Lugidus-Kirche und in vier anderen Kirchen waren zwar zahlreiche abgebrannte Streichhölzer gefunden worden – aber konnte man denn im Ernst annehmen, daß ein Heiligendieb sich erst mal ein Pfeifchen ansteckte, bevor er seine Beutefigur vom Sockel schraubte? Ließ sich, davon mal abgesehen, auf ein paar möglicherweise ganz und gar zufällige Daten überhaupt ein Verdacht gründen? Laumen redete schon weiter. »Weise stiftet seiner evangelischen Dorfkirche seit einiger Zeit regelmäßig dreitausend Mark, obgleich er doch meistens für die
Katholiken arbeitet. Das riecht doch nach Wiedergutmachung!« Trimmel wurde böse. »Hat er die letzte Zeit vielleicht auch mal zehn Mille gestiftet? Dafür, daß er den Schaden an Pfarrer Meyers wiedergutmachen wollte?« Da sah Laumen ihn fast schon traurig an – offensichtlich doch schwer bedrückt. »Da ist noch was, Chef«, sagte er zögernd, »ich hab’ mich gestern abend auch mal mit dem örtlichen Taxiunternehmer unterhalten – ich hab’ mich da etwas aus der Reserve wagen und dem Mann so halbwegs zu verstehen geben müssen, daß ich von der Polizei bin… allerdings hatte er mir da schon von sich aus einiges verpfiffen…« »Bist du wahnsinnig?« fragte Trimmel erschrocken. »Also, ich mußte es doch riskieren!« sagte Laumen händeringend. »Außerdem hab’ ich den Typ schwer vergattert – der hält schon die Schnauze! Jedenfalls wissen wir jetzt, daß Weise öfter auch mal mit dem Taxi nach Hamburg gefahren ist, immer zu ganz komischen Zeiten! Der Taximensch führt da genaue Fahrtenbücher – das waren regelmäßig immer zwei Tage nach diesen Kircheneinbrüchen!« Trimmel starrte ihn an. »Du meinst, nach jedem einzelnen Einbruch?« Laumen hielt den Atem an. »Ja, genau!« »Auch nach dem letzten?« »Ja, auch!« sagte Laumen, erleichtert und heilfroh, daß wenigstens eine seiner Ideen Wirkung zeigte – daß ihm also wegen seiner Eigenmächtigkeit anscheinend doch nicht gleich der Kopf abgerissen wurde. »Präzise zwei Abende nach dem Lugidus-Bruch hat er sich das Taxi kommen lassen!« Vielleicht war es im Endeffekt Leonhard Weise es entscheidendes Pech, daß sich in dieser ganzen Zeit kaum ein Verbrechen ereignete, das Trimmel und seine Leute länger als
acht Stunden in Atem hielt – nur dadurch nämlich konnten sie sich so intensiv mit der Sache beschäftigen. Laumen war abgestellt worden, um Leonhard Weise möglichst gründlich zu beobachten, vermutlich doch wohl zur Strafe für seinen Übereifer, was ihm gar nicht schmeckte. Alles in allem aber kam der Fall dann auch der gesamten übrigen Mordkommission immer sinnloser und mystischer vor, weil man sich immer noch nicht ausmalen konnte, wohin das alles noch führen würde: die eigentlich unüblichen, seltsamerweise allerdings schon gleich zu Anfang registrierten gegenseitigen Angiftereien häuften sich – und am Ende wußte niemand mehr, wie sich mehr als je zuvor ausgerechnet an einer simplen Körperverletzung ohne jede Todesfolge der allgemeine Ärger entzünden konnte. »Wir müssen da einfach mal Ordnung reinbringen!« stellte Trimmel eines Tages fest, als sie alle mal wieder beisammen waren. Er wandte sich an Petersen, den ordentlichsten unter ihnen. »Weißt du auswendig, welche Jahreszeiten der Kirchenräuber bevorzugte?« »Jede und keine«, sagte Petersen, »das verteilt sich. Nur im März und im November hat’s keinen Einbruch gegeben, aber das kann Zufall sein…« »Was für Wetter war zu den Tatzeiten?« »Sternklar bis Schneeregen!« »Immer abends?« »Abends und nachts…« »Und welche Wochentage?« »Ziemlich gleichmäßig montags, dienstags und mittwochs«, sagte Petersen, »das ist die einzige Signifikanz, die überhaupt zu gebrauchen wäre!« Trimmel sah Laumen an. »An welchen Wochentagen hat sich Weise nach Hamburg fahren lassen?«
Im Gegensatz zu Petersen mußte Laumen nachschauen. »Also, mittwochs, donnerstags oder freitags!« »Wohin ist er in Hamburg gefahren?« »Immer zum Hauptbahnhof…« »Aha – mit Gepäck?« »Nee, immer ohne… weggefahren scheint er nicht zu sein, wenn Sie das meinen…« »Ich mein’ gar nichts!« sagte Trimmel ruppig. »Aber kannst du diese Taxifahrten vielleicht liebenswürdigerweise mal mit seinen üblichen Reiseterminen koordinieren?« Laumen koordinierte sie mit einem Kugelschreiber auf der Rückseite eines alten Aktendeckels. Dann verwandelte sich sein Mißmut in eine gelinde Verblüffung. »Das ist ja immer dasselbe – fast eine Art Wochenfahrplan…« Sie scharten sich neugierig um seine Liste. »Hier«, sagte Laumen, »erster Tag – Weise kommt von einer Reise zurück und landet in Fuhlsbüttel. Zweiter Tag – einer von diesen Heiligen wird geraubt. Dritter Tag – da weiß ich nichts, aber irgendwann an diesem Tag oder früh am nächsten muß er ja zu Hause gewesen sein, denn am vierten Tag fährt er von dort mit dem Taxi nach Hamburg. Am fünften oder sechsten Tag ist er wieder auf seinem Bauernhof – und genau immer am siebten Tag fährt er mit dem Cadillac zum Flughafen und startet durch!« »Sieh mal einer an!« knurrte Trimmel. »Warum kommst du damit jetzt erst?« »Ist ja wohl noch früh genug!« sagte Laumen pampig. »Was heißt das?« Laumen starrte Trimmel fast feindselig an. »Früh genug für’n Haftbefehl – der wär’ jetzt ja wohl fällig. Aber wahrscheinlich reicht’s Ihnen wieder mal nicht…« Trimmel schüttelte den Kopf. »Idiotisch! Allein schon die Vorstellung…«
Petersen jedoch meinte: »Der Hundertzwei ist drin, wenn wir die Sache pointiert genug darstellen!« »Nein!« sagte Trimmel. »Nie im Leben!« »Na – Moment mal!« Petersen, hartnäckig wie immer, schlug die Strafprozeßordnung auf, Paragraph 102, Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume einer Person, die einer strafbaren Handlung verdächtig ist. »Hier, der letzte Satz… wenn wir behaupten, daß die Durchsuchung bei Weise zur Auffindung von Beweismitteln führen kann…« Trimmel indessen ließ sich erwartungsgemäß nicht umstimmen. »Ich würd’s mir noch überlegen, wenn’s in Hamburg war… aber da beim Amtsgericht Lauenburg oder was da sonst für den Fall zuständig ist…« »Ratzeburg!« sagte Petersen. »… das wird nichts!« entschied Trimmel. »Da fegt uns der Richter diese ganzen Wochenpläne vom Tisch und lacht sich krank!« Dann griff Krombach ein. »Wie lange ist das jetzt her mit Pfarrer Meyers?« Petersen wußte gleich, worauf er hinauswollte. »Der eigentlich zu erwartende nächste Einbruch ist seit drei Wochen überfällig, wenn man von den längsten Zwischenräumen bei den bisherigen Diebstählen ausgeht…« »Schön. Und wann haben wir Weise zuletzt gesehen?« Laumen zögerte. »Ungefähr vor zehn Tagen… ich kann ja nicht Tag und Nacht auf der Lauer liegen!« Krombach griff nach der Akte, bevor Trimmel wieder lospoltern konnte, und suchte sich Weises private Telefonnummer heraus. Alle sahen zu, wie er wählte – und alle hörten, daß er sich, sobald am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde, unter falscher Flagge meldete. »Hier
katholisches Pfarramt Sankt Suitbertus in Münster, grüß Gott – ist vielleicht der Herr Weise zu sprechen?« Trimmel nahm den Mithörer. »Herr Weise ist leider erkrankt!« sagte eine Männerstimme – vermutlich der Butler. »Oh, das tut mir leid!« sagte Krombach. »Schon länger?« »Seit einigen Wochen«, antwortete der Butler, »es dürfte auch noch einige Zeit dauern…« »Ist er denn zu Hause?« fragte Krombach. Der Butler hustete. »Vielleicht können Sie mir mal Ihre Nummer geben, und dann…« »Ach, danke, ich ruf’ später mal an!« sagte Krombach hastig und legte auf. Er sah der Reihe nach seine Kollegen an und strahlte. »Paßt doch hervorragend! Wenn er krank ist, kann er ja nicht klauen… im Grunde müssen wir ja jetzt nur noch warten, bis er wieder auf dem Damm ist und das nächste Ding dreht!« Viel Beifall bekam er nicht. »Ich glaub’ eher, der Weise hat in Hamburg eine Freundin!« sagte Petersen plötzlich. »Vielleicht ist er ja gar nicht krank und lebt mit ihr zusammen!« »Und?« fragte Trimmel. »Ist das strafbar?« »Manchmal ja!« giftete Petersen zurück. Da stand Trimmel abrupt auf. »Packt die Klamotten zusammen und schickt sie an die Staatsanwaltschaft! Ich bin’s leid – die sollen den Quatsch erst mal einstellen!«
Die große Überraschung, die das Verfahren dann doch noch rettete, zugleich aber auch Petersens Idee mit der WeiseFreundin erst mal blockierte, kam am nächsten Vormittag aus heiterem Himmel – ein verfrühtes Geschenk von Sankt Nikolaus. Ein Polizeimeister namens Wagenknecht aus
Schreckenberg (Nordheide) rief Trimmel an. »Haben wir nicht neulich wegen unserer gestohlenen Urban-Figur telefoniert?« »Nee«, sagte Trimmel, »aber ich weiß Bescheid…« »Um so besser«, sagte der Schreckenberger fröhlich, »die Figur ist nämlich wieder da!« »Tatsächlich?« fragte Trimmel verdutzt. »Ja – sie lag heute früh vor dem Kirchenportal, in braunes Packpapier eingewickelt und mit dickem Bindfaden verschnürt… der Pfarrer hat das Paket aufgeschnitten, und wir haben natürlich alles asserviert…« »Irgendein Brief dabei?« »Nix!« sagte Wagenknecht. »Rein gar nix!« »Ist die Figur beschädigt?« »Nein – völlig in Ordnung. Der Pfarrer möchte sie gern sofort wieder aufstellen. Aber so schnell geht das ja nun nicht, haben wir ihm gesagt…« »Sehr gut. Hat denn irgend jemand in der letzten Nacht was gehört oder gesehen?« »Leider nicht. Sie können die Zeugen selbstverständlich Ihrerseits noch vernehmen…« Trimmel bedankte sich, versprach, sich in Kürze wieder zu melden, und legte auf. Aber dabei blieb’s – denn als er sich in all seiner Fassungslosigkeit umdrehte, hatte Petersen bereits geschaltet und hing an einem anderen Apparat. »Kripo Hamburg, Hauptmeister Petersen… gibt’s was Neues in Sachen heiliger Felix?« Man sah es seinem Gesicht an: auch der heilige Felix war zu seinen Gläubigen zurückgekehrt. Und ebenso Columban – das nächste Gespräch. Und ebenso Abban und Richard und Reinhold: jedes Telefonat ein Volltreffer. Auch Krispin, Helenus und Gregor hatten den Weg in Packpapier eingewickelt zurückgefunden –
und der einzige, der nach wie vor im Underground verschwunden war, war der heilige Lugidus… »Das begreif’ einer!« sagte Trimmel. »Vielleicht hat er den Allerletzten nicht mehr schaffen können…«, vermutete Petersen. »Wer?« »Na, Weise… oder wer da immer plötzlich die kalten Füße gekriegt hat…« Trimmel nickte. »Kannst du nicht mal ausrechnen, wieviel Kilometer der Mann gefahren sein muß, um in einer Nacht diese ganzen Figuren zurückzubringen?« »Über’n Daumen vierhundert!« sagte Laumen, obgleich eigentlich Petersen gefragt war. »Bist du sicher?« »Mindestens!« sagte Laumen mit hochrotem Kopf. »Ist ja auch egal – kommt gar nicht auf hundert Kilometer an! Aber daß auf dieser ganzen Strecke nirgendwo einer was gesehen haben soll…« Der Knüller kam, wie’s bei Petersen üblich war, ganz zum Schluß. »In zwei Fällen«, sagte er bedächtig, »ist in der letzten Nacht ein großer, dunkler Amischlitten vor den Kirchen gesehen worden!« Da sprang Laumen auf und tänzelte wie ein Boxer im Ring durchs Büro. Alle Spannung der letzten Wochen schien plötzlich von ihm abzufallen – von ihm als erstem, noch vor Petersen. »Leonhard Weises Cadillac!« schrie Laumen. »Auf ihn mit Gebrüll! Hat sich also doch gelohnt, ich werd’ verrückt – heiliger Bimbam!« »Reg’ dich ab!« sagte Trimmel scharf. Lange jedoch hielt auch seine Brummigkeit nicht mehr vor – er mußte grinsen.
Eine Stunde später allerdings, draußen im Lauenburgischen, verging ihm das Lachen wieder sehr schnell. Sogar ein für allemal, wie er glaubte – denn er und Laumen, den er als den Ortskundigsten mitgenommen hatte, erlebten den schieren Horror. Weises Frau Liane machte ihnen auf – aus der Nähe eine erstaunlich robuste Person, ganz in Schwarz gekleidet, feierlich wie zu einem Kirchenbesuch. »Sie wünschen?« »Trimmel«, sagte Trimmel, »Kripo Hamburg. Können wir mal Ihren Mann sprechen?« Sie wirkte seltsamerweise kaum überrascht und gab die Tür sofort frei. »Bitte…« Quer durch eine große Diele wurden Trimmel und Laumen in einen riesigen, seltsam sterilen Wohnraum geführt – eine Art Halle in Schwarz und Silber mit sicherlich sündhaft teuren Möbeln aus Glas und Stahl. Frühmittelalterliche Heilige müßten sich hier eigentlich ausgesprochen fehl am Platz fühlen, ging es Trimmel durch den Kopf… Dann erst sah er den hier total unpassend wirkenden Schaukelstuhl hinten rechts in der Ecke. Und den Mann im Schaukelstuhl: Leonhard Weise! Eine kalte Hand griff Trimmel ans Herz… der Mann war leger gekleidet, trug ein blaues Hemd mit Halstuch zu hellen Jeans – und seine Augen waren blicklos wie die eines Toten! »Guten Tag!« sagte Trimmel. Leonhard Weise antwortete nicht. »Er kann nicht antworten«, sagte Liane Weise in Trimmels Rücken, »wenn Sie mir bitte nach nebenan folgen, will ich Ihnen alles erklären…« Das Zimmer nebenan war nur wenig kleiner. Und kaum gemütlicher… daß der Sessel, in den er sich setzte, überraschend bequem war, registrierte Trimmel erst später.
Laumen blieb stehen, auch, nachdem die Hausherrin Trimmel gegenüber Platz genommen hatte. »Mein Mann befindet sich in einem sogenannten stuporösen Zustand«, sagte Liane Weise sachlich, »einen Zustand geistiger und zum Teil auch körperlicher Erstarrung… seine Denkvorgänge sind eingeschränkt…« »Seit… seit wann?« fragte Trimmel mühsam. »Seit einigen Wochen. Er hat schwere Erlebnisse hinter sich, die den… die akute Krankheit ausgelöst haben. Es gelingt selbst mir nur gelegentlich, ihn anzusprechen…« »Ja, aber… müssen Sie da nicht einen Arzt…« »Natürlich!« sagte Liane Weise. »Er befindet sich praktisch unter ständiger ärztlicher Beobachtung – vom ersten Tag an. Ein seit langem mit uns befreundeter Arzt… nur deshalb bin ich ja in der Lage, Ihnen diese ärztliche Diagnose mitzuteilen – ich hoffe jedenfalls, ich habe Sie überzeugt, daß Sie hier mit mir vorliebnehmen müssen?« »Ja, doch…« »Gut!« sagte sie. »Was wollen Sie wissen?« Trimmel nahm sich zusammen. »Hat Ihr Mann… ich meine, war er gestern nacht in der Lage, eine – na ja, eine längere Autofahrt zu unternehmen?« Sie nickte. »Er allein zwar sicher nicht, ich habe ihn begleitet und bin auch gefahren… aber ich denke eigentlich, wir können die Sache abkürzen. Mein Mann hat in der jüngeren Vergangenheit aus Gründen, die ich Ihnen noch erläutern werde, mehrere Kirchen der weiteren Umgebung aufgesucht und eine Anzahl religiöser Statuen entwendet – ich bin sicher, daß Sie deshalb hier sind! In der vergangenen Nacht hat er sie zurückgegeben, wie gesagt in meiner Gegenwart; soweit ich es beurteilen kann, hat er in tätiger Reue gehandelt. Wir haben uns letzte Nacht jedenfalls keine Mühe mehr gegeben, unerkannt zu bleiben…«
Sie redet wie auswendig gelernt! registrierte Trimmel automatisch. Er starrte sie an: er hatte mit einem Geständnis gerechnet, aber sicher nicht mit einer derart flüssigen Aussage scheinbar ohne alle Emotionen. Und apropos Aussage – er sah Laumen an und sah erleichtert, daß er im Stehen stenographierte. »Setzen Sie sich doch!« sagte Liane Weise in diesem Moment, geradezu im Plauderton. »Danke!« sagte Laumen und nahm Platz, ohne dabei eine Sekunde innezuhalten… Trimmel räusperte sich. »Wo hatte Ihr Mann die Figuren bis gestern versteckt?« »Hier im Haus!« antwortete sie bereitwillig. »Oben in seinem privaten Büro…« »Wo sind eigentlich Ihre Bediensteten?« »Ich habe ihnen bezahlten Urlaub gegeben… nach Lage der Dinge erschien es mir sinnvoll…« »Sicher. Nur – mindestens einer ihrer Angestellten war doch gestern noch hier?« »Ja, das stimmt!« sagte Liane Weise. »Gestern abend ist Schneehase zu seiner Schwester nach Lübeck gefahren… unser Butler. Ist das wichtig?« Trimmel sah sie nachdenklich an. »Es interessiert mich aus zwei Gründen. Erstens, diese Heiligen wurden nachts gestohlen… sind sie jeweils in derselben Nacht hierher gebracht worden?« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Mann hat sie zunächst immer in ein Schließfach am Hamburger Hauptbahnhof gebracht; warum, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Erst anschließend, zwei Tage später, hat mein Mann sie dann in sein Büro geschafft – zu Zeiten, in denen er damit rechnen konnte, daß weder ich noch sonst jemand ihn beobachtete…«
»Zweitens. Ist im Büro Ihres Mannes niemals saubergemacht worden? Hätten Sie oder einer der Angestellten nicht geradezu zwangsläufig mal über den… über diese seltsame Sammlung stolpern müssen? Oder waren Sie – ich muß Ihnen leider diese Frage stellen – vielleicht doch schon länger die mehr oder weniger unfreiwillige Komplizin Ihres Mannes?« »Nein!« sagte sie ruhig. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir glauben würden!« »Ja, aber seit wann haben Sie denn nun von den… von den Straftaten Ihres Mannes gewußt?« fragte Trimmel. »Effektiv erst seit dem Beginn seiner derzeitigen Erkrankung«, behauptete sie, »also praktisch erst seit wenigen Tagen. Als ich die Statuen entdeckte, habe ich Leonhard natürlich auch sofort in seinem bereits von sich aus gefaßten Entschluß bestärkt, sie den betreffenden Kirchen zurückzugeben. Ich kann Ihnen wirklich guten Gewissens versichern, daß ausschließlich… medizinische Gründe diese Rückgabe hinausgezögert haben; wenn es nach mir gegangen wäre, hätte mein Mann die betreffenden Priester sogar selbst aufgesucht. Dazu allerdings war er dann doch nicht zu bewegen…« »Kann ich verstehen!« murmelte Trimmel. »Ja, nicht wahr? Sie werden es dann ja auch sicherlich verstehen können, daß mein Mann seine absonderlichen Taten eindeutig im Zustand einer geistigen und seelischen Störung begangen hat…« »Also, das«, sagte Trimmel, »übersteigt sowohl meine Kompetenzen als auch meine Erkenntnismöglichkeiten!« »Ach was!« sagte sie da unwirsch – ihre erste Gemütsreaktion überhaupt. »Sie wären doch weiß Gott wohl der einzige, der nicht auf Anhieb begreifen würde, daß es sich hier tatsächlich um eine Serie völlig sinnloser Aktionen handelt… handeln muß!«
»Sinnlos?« fragte er. »Ja – mindestens im landläufigen Sprachgebrauch! Natürlich gibt es eine Erklärung, wie ich Ihnen ja auch schon ankündigte… eine psychologische oder besser psychopathologische Erklärung…« »Und welche?« fragte Trimmel behutsam. Sie zögerte. »Wissen Sie, was man allgemein unter einem Stifterbildnis versteht?« Die Frage kam unerwartet. »Also im Moment…« Sie lächelte schwach. »Ich habe mich auch erst informieren müssen, als mein Mann davon sprach… er sprach außerdem sehr unzusammenhängend, wie Sie sich denken können. Es handelt sich jedenfalls, hat man mir gesagt, um das Bildnis desjenigen, der in früheren Jahrhunderten ein religiöses Kunstwerk gestiftet hatte und sich zum irdischen und einzig möglichen Dank dafür innerhalb dieses Kunstwerks, meist eines Gemäldes, abbilden ließ… sich sozusagen verewigen ließ. Es gibt eine zweite Version, nämlich diejenige, daß sich der Künstler selbst abbildete, in diesem Fall also nicht der Auftraggeber…« Trimmel ging ein Licht auf. »Quasi wie die winzigen Rollen, die Hitchcock in seinen Filmen gespielt hat?« »Ja, so in etwa. Etwa dieses weitverbreitete Bedürfnis der Menschen motivierte auch meinen Mann… der Drang, den eigenen Werken durch die eigene Darstellung den Stempel aufzudrücken. Allerdings genau umgekehrt – da er sich in seinen anerkanntermaßen künstlerisch sehr hoch zu bewertenden sakralen Bauten selbst nicht abbilden, nicht verewigen konnte, kehrte er die Sache um…« »Ich verstehe. Er holte sich eine aus dem Werk stammende Figur ins Haus, meinen Sie?«
»Eben. Er konnte und durfte nicht auf das Bild, deshalb mußte ihm das Bild seinerseits ein Stück abgeben. So habe ich ihn verstanden!« Trimmel dachte nach. Er sah Laumen an, aber der konzentrierte sich nach wie vor ganz auf seinen Block und war ihm absolut keine Hilfe. »Es ist ja tatsächlich ziemlich psychologisch…« »Nein, es ist pathologisch!« wiederholte sie – in dieser Hinsicht ihr letztes Wort. Urban, Felix und Columban. Abban, Richard und Reinhold. Krispin, Helenus und Gregor – neun Heilige, dachte Trimmel, die ihren Narren gefunden hatten… »Was ist eigentlich mit der Lugidus-Figur?« fragte er unvermittelt. »Lugidus, Lugidus… also, ich bring’ die Namen gelegentlich offenbar doch noch etwas durcheinander…«, sagte Liane Weise leicht verwirrt. »Die Figur, die noch verschwunden ist?« »Ach ja, die…« Sie stand auf und ging durch eine Terrassentür nach draußen; Trimmel und Laumen folgten ihr. Sie stieg eine nahezu frei vor dem schwarzweißen Fachwerk schwebende Treppe hinauf und führte die Polizisten in ein Zimmer, das aussah wie eine Mischung aus einem Zeichenbüro und einer geräumigen Klosterzelle und offenbar nur von außen, über die Treppe, zu erreichen war. Zeichengerät aller Art und Reißbretter standen in der Gegend herum, ein leerer Schreibtisch, ein Leuchttisch – das private Büro des Meisters, bis vor wenigen Stunden das Depot von zehn Heiligen, wie seine Frau gesagt hatte. Und mitten drin, sinnlos und fremd, stand auf einer Kiste immer noch die viel zu grell bemalte Statue eines Mannes in altertümlicher Kleidung, der eine Art Orange in den Händen hielt, eine Sonnenscheibe.
Der heilige Lugidus! Der Mann, der die Sonne anhielt… »Ist er das?« fragte Liane Weise hinter Trimmel. »Muß wohl!« sagte Trimmel beklommen. Er drehte sich langsam um. »Sie wissen wahrscheinlich, daß Ihr Mann einen Pfarrer niedergeschlagen hat, als er diese Figur stahl?« Sie nickte. »Womit?« »Mit der Figur selbst. Er hatte sie schon in der Hand, als er überrascht wurde… er war wie von Sinnen…« »Kannte er diesen Pfarrer? Meyers heißt er?« »Ja, er kannte ihn!« sagte sie. »Das ist auch der Grund, warum er die Statue noch nicht zurückgegeben hat – in diesem Fall wollte er sich entschuldigen…« »Aber?« »Sie haben es doch gesehen! Er konnte es nicht! Dann kamen Sie…« Sie gingen zurück. Laumen hatte eine Plastiktüte gefunden und trug den Heiligen vorsichtig unter dem Arm. Eine Spurensicherung war hier wohl kaum noch nötig. »Die Tatsache, daß mein Mann gewalttätig geworden war, hat ihm gewissermaßen die Augen geöffnet!« sagte Liane Weise später. »Damit war allerdings gleichzeitig auch die akute Phase seiner Krise markiert, wie der Arzt es ausdrückte… das heißt, sie kam eigentlich erst in dem Moment zum endgültigen Durchbruch, als ein Bekannter zu uns kam und erklärte, ein Polizeibeamter habe ihn ausgefragt…« »Ein Taxiunternehmer?« fragte Laumen – seine ersten zusammenhängenden Worte, seit er hier war. »Ja!« bestätigte sie erstaunt. Dann begriff sie. »Ach so, waren Sie das?« »Einer von uns!« sagte Trimmel schnell. »So – einer von Ihnen…«, meinte sie mechanisch.
Es war plötzlich so still, daß man von nebenan ein leises Lachen hörte, gefolgt von einem Gemurmel. Trimmel spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch. »Ihr Mann… er scheint zu sich zu kommen!« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist ja nicht richtig bewußtlos… nur, seit heute früh ist er völlig unzugänglich und reagiert auch nicht mehr auf mich. Eigentlich wird es seit längerem immer schlimmer…« Trimmel sah Laumen an – und der sah diesmal doch von seinem Block auf und nickte ihm zu. »Wie stellen Sie sich die nächste Zukunft vor, Frau Weise?« fragte Trimmel. Sie sah plötzlich sehr alt aus – älter, als sie war. »Er ist mein Mann, ich werde immer zu ihm halten… aber ich muß ihn wohl in eine Klinik bringen…« »Hier in Hamburg?« fragte er erleichtert, weil es ihm die Arbeit abnahm, sich um eine Einweisung zu kümmern. »Ja. Nach Rietbrook, zu Professor Kemm. Unser Hausarzt kennt da den Oberarzt, einen Doktor Lorff…« So also kam Lorff ins Spiel. Scheinbar erst, als alles gelaufen war – aber eben doch nur scheinbar, wie sich zeigte.
Lorff rief Trimmel, den er seit langem kannte und schätzte, drei Wochen später an. »Sind Sie bei Ihren Ermittlungen eigentlich mal auf eine feste Beziehung gestoßen, die der Herr Weise neben seiner Ehe unterhalten hat?« Eine ausgesprochen heikle Frage, vor allem für den Arzt selbst. Lorff mußte ungewöhnlich triftige Gründe haben, einem Kriminalbeamten einen wenn auch noch so winzigen Einblick in seine gutachterliche Tätigkeit zu geben, die er inzwischen im allseitigen Einverständnis und im Auftrag der Staatsanwaltschaft aufgenommen hatte.
»Hallo?« fragte Lorff. »Sind Sie noch dran?« »Ja, doch!« sagte Trimmel. »Ich denke nach… Im Grunde war der Fall nach der umfassenden Aussage der Ehefrau Weise für uns erledigt. Petersen – Sie kennen ihn – hatte zwischenzeitlich allerdings tatsächlich mal die Idee, daß Weise eine Freundin haben könnte…« »Hören Sie«, meinte Lorff, »gehen Sie diesem Punkt unbedingt noch mal nach! Und bevor Sie sich zu sehr darüber wundern, daß ich Sie angesprochen habe – ich bin hier schließlich vorrangig Arzt und erst in zweiter Linie Gutachter! Ich muß wissen, was hinter dieser Krankheit steckt – sicherlich läßt sich der Stupor, den Weise da zweifellos aufweist, auf Erlebnisse zurückführen, die ihrerseits starke Affekte geweckt haben… aber ich glaub’s einfach nicht, daß der Gewaltakt gegen diesen Priester da schon der absolute Höhepunkt gewesen sein soll!«
Gleich nach diesem Gespräch wurde, einmal mehr, Laumen auf die Strecke geschickt – ihr schnellster Sprinter, wie Petersen ihn nannte. Die Entfernung indessen, die Laumen zunächst zurücklegte, war selbst für eine Sprintstrecke lächerlich kurz: er lief ganze zehn Meter bis zum Telefon in seinem Büro, weil er plötzlich eine Idee hatte und es unbedingt vermeiden wollte, daß ihm jemand zuhörte. Er rief das Zentrale Meldeamt an – und binnen zwei Minuten wußte er, daß er recht hatte: Leonhard Weise war bis zum Ende des vergangenen Monats in Hamburg gemeldet gewesen – in Harvestehude, vom Präsidium aus einmal quer über die Alster, Klosterbrücke 17-19, ein zweiter Wohnsitz… Laumen versuchte später immer wieder vergebens, sich klar darüber zu werden, warum er nicht eher auf diesen Einfall gekommen war: es hatte einfach alles zu prompt gepaßt und
gestimmt, sagte er sich, diese ganze Geschichte mit den Figuren, die zuerst am Hauptbahnhof deponiert und dann per Taxi abgeholt und ins Lauenburgische verfrachtet worden waren, diese unheimliche Sicherheit, mit der Frau Weise ihre Aussage gemacht hatte – ja, und dann nicht zuletzt ihrer aller Erleichterung, als der Fall geklärt war! Aber er war nicht geklärt – Laumen wußte es in dem Augenblick, in dem er die Klosterbrücken-Adresse notierte. Er raste mit seiner alten Ente schneller, als es der Polizei erlaubt ist, nach Harvestehude, und im Anwesen 17-19, einem scheußlichen Betonklotz am teuren Abhang zur Alster, trieb er den Hausmeister auf. »Kriminalpolizei! Hier hat ein Herr Weise gewohnt – haben Sie ihn gekannt?« »Flüchtig!« sagte der Mann erschrocken. »Kann ich seine ehemalige Wohnung sehen?« »Das geht schlecht… die ist anderweitig vermietet…« Laumen überlegte. »…aber ich kann Ihnen die Wohnung darunter zeigen«, bot der Hausmeister an, »die ist gerade frei. Die sieht ganz genauso aus!« Zwei Zimmer, Küche, Flur, Bad, Balkönchen. Wuchtige deutsche Einheitsmöbel zierten die Räume – ein Zimmer im Hilton war dagegen eine Oase der Wohnkultur. »Sie sagten doch, die Wohnung ist frei?« fragte Laumen. »Wir vermieten weitgehend möbliert«, erklärte der Hausmeister, »ursprünglich sollten das alles mal Eigentumswohnungen werden, aber das klappte nicht so ganz…« »Herr Weise hat also genauso gewohnt?« »Haargenau! Eine Wohnung wie die andere, sagte ich Ihnen doch…« »Wie lange?«
»Kann das sein – vierzehn Monate?« überlegte der Mann. »Allein?« Der Mann zögerte. »Als er ausgezogen ist, war seine Ehefrau dabei. Sie hat alles unterschrieben und die Monatsmiete bezahlt, die noch ausstand. Er hat gar nichts gesagt, stand nur so rum… das heißt, er hat dann jede Menge Pakete rausgetragen und unter ihrer Aufsicht in dem großen Amiwagen verstaut, mit dem sie gekommen waren…« »Wann war das?« fragte Laumen schnell. Er kannte die Antwort im voraus: einen Tag vor der Nacht, in der die Heiligen – die Pakete – allüberall vor die Kirchentüren gelegt worden waren… »War es das einzige Mal, daß Frau Weise hier war?« fragte er weiter. »Sie ja…«, sagte der Hausmeister gedehnt. »Also eine andere?« Der Mann nickte. »Ende Dreißig, langes, schwarzes Haar… irgendwie komisch…« »Können Sie sie nicht näher beschreiben?« »Also, das ist nicht gerade meine Stärke«, sagte der Mann bedauernd, »ich kann Ihnen höchstens den Namen sagen…« »Wie bitte?« fragte Laumen perplex. »Ja, sie hat mal bei mir geklingelt, als Herr Weise nicht da war, und ich hab sie dann mit meinem Passepartout reingelassen. Dabei hab ich mir zur Vorsicht ihren Ausweis zeigen lassen… also, ein Name, sag ich Ihnen – den vergessen Sie nie mehr…« Laumen platzte fast. »Wie denn?« »Wie Zucker!« sagte der Mann verklärt. »Viola Markos…«
Ende Dreißig also, dachte Laumen geschockt, langes, schwarzes Haar, irgendwie komisch. Markos, Viola stand
sogar im Telefonbuch – aber Laumen hielt es für ratsamer, nicht bei ihr anzurufen, und fuhr gleich hin… weit bis hinten in die Dehnheide. Gleich nach dem ersten Klingeln machte eine ältere Frau die Tür auf – langes, graues Haar, irgendwie komisch. »Sie sind sicher von der Polizei?« sagte sie, ängstlich und zugleich erwartungsvoll. »Ja, schon«, sagte Laumen, »nur…« »Haben Sie meine Tochter gefunden?« Da schaltete Laumen sofort. »Sie haben sie als vermißt gemeldet, meinen Sie?« Sie bestätigte es. Ihre Tochter war, wie Laumen mit immer größerem Entsetzen registrierte, kurz nach dem Überfall auf den Lugidus-Pfarrer verschwunden… »Sagen Sie mir doch endlich, was los ist!« klagte Frau Markos. »Nichts, Frau Markos! Noch nichts… ich wollte Sie nur fragen, ob Sie nicht noch ein Foto von Viola haben. Vielleicht ein jüngeres…« Sie ließ ihn in der Tür stehen und holte tatsächlich ein brauchbares Bild – ihr letztes, wie sie jammerte. Ein postkartengroßes Porträt – eine melancholisch wirkende Madonna mit einer ziemlich langen Nase und schmalen, fest zusammengepreßten Lippen; auch das noch nach all diesen grotesken Heiligen! Laumen zitterte vor Nervosität. »Hatte Ihre Tochter eigentlich einen Freund?« »Natürlich nicht!« sagte die Frau entschieden. »Sie ist meine Tochter! Sie wußte, was sie von den Männern zu halten hatte!« »Sagt Ihnen denn der Name Leonhard nichts?« »Nein – wer ist das?« »Vielleicht Leo?« fragte Laumen. »Leonhard Weise?«
»Ach so«, überlegte sie, »ihr früherer Arbeitgeber… was ist mit dem?« »Ja, das frag ich Sie…« »Aber das ist doch absurd!« Sie begriff, was Laumen meinte. »Viola hat ihren Chef kaum gekannt! Ich verbitte mir Ihre schmutzigen Unterstellungen!« Laumen hielt’s nicht mehr aus. »Gut, Frau Markos – wir melden uns wieder, sobald wir mehr wissen!« Aber dabei blieb es – auch hier. Laumen sprintete die Treppe hinunter und hörte nicht mehr, daß die Frau hinter ihm her auf die unverschämte, schlampige Polizei schimpfte. Er raste weiter, erst mit dem Auto durch die Stadt, dann zu Fuß zur Vermißtenstelle, wo er außer Atem nach einer Akte Viola Markos fragte und sie – ein erstaunlich dickes Paket – auch erhielt, dann zu Trimmel. Dort erst kam er zur Ruhe und erstattete, immer noch nach Luft schnappend, rücksichtslos gegen sich und die Kollegen Bericht. »Weißt du, was das heißt?« fragte Trimmel leise. Laumen nickte bedrückt. Trimmel starrte das Foto an, das Laumen beschafft hatte: es war erheblich besser als das aus der Akte – besser für polizeiliche Zwecke. Und er schlug die Akte auf. Viola Markos, las er, technische Zeichnerin, achtunddreißig Jahre alt und ledig… sie war ohne jeden erkennbaren Grund eines Tages beziehungsweise Abends nicht nach Hause gekommen und seitdem nicht mehr gesehen worden. Ihre vierundsechzigjährige Mutter hatte sie als hochbegabtes, braves, etwas sensibles, auf jeden Fall aber völlig normales Mädchen geschildert, das mit ihr zusammenlebte und viel las, jedoch wenig Umgang hatte und selten ausging. Wenn Viola, vielleicht zweimal im Monat, die Nacht außerhalb der Wohnung verbracht hatte, war sie angeblich bei der Schwester einer früheren Klassenkameradin in Rotenburg gewesen, ihrer
einzigen Freundin – davon war ihre Mutter derart felsenfest überzeugt, daß sie dem ermittelnden Kriminalbeamten, der daran zweifelte, heftig über den Mund gefahren war. Nicht ganz so positiv wie die Aussage der Mutter waren die Urteile der wenigen Leute, die Viola Markos sonst noch gekannt hatten. Sie sei weltfremd und hochnäsig, hatte ein Lebensmittelhändler erklärt, bei dem sie einkaufte – was immer er darunter verstehen mochte. Ein Hautarzt, der sie über einen längeren Zeitraum wegen einer Akne behandelt hatte, war erheblich differenzierter: er sagte seiner Patientin Bigotterie, maßlose Prüderie, Situationsunangepaßtheit und eine totale Verklemmtheit nach. »Sie wirkte auf mich wie eine Schizoide!« hatte der Arzt, offensichtlich ein verhinderter Seelenforscher, reichlich souverän zu Protokoll gegeben. »Ihre Verhaltensweise würde von einem psychiatrischen Kollegen vermutlich als pathologisch bezeichnet worden sein. Ich würde sie verrückt nennen – mit meinen Worten, die Frau war irgendwie nicht ganz dicht!« Es gab einen vorläufigen Abschlußbericht. Die erwähnte Freundin der Verschwundenen, schrieb ein Kriminalmeister von der Vermißtenstelle, sei nicht ausfindig zu machen – der Verdacht, es gebe diese Person gar nicht, sei ebensowenig auszuschließen wie die Möglichkeit, Viola Markos habe einen Mann kennengelernt und ihre Mutter klammheimlich deswegen verlassen. Gearbeitet, im übrigen, habe Viola Markos seit langem nicht mehr – der Sachbearbeiter des Arbeitsamtes, der sie nur vom Sehen kannte, könne allerdings nichts zur Sache mitteilen. Frühere Arbeitskollegen seien nicht zu ermitteln gewesen – ihre letzte Arbeitsstelle bestehe nicht mehr und sei im Register gelöscht. Gelebt habe die Vermißte von ihrem Arbeitslosengeld und der nicht unbeträchtlichen Pension ihrer Mutter, einer Offizierswitwe.
Trimmel klappte die Akte zu und steckte sie in sein Köfferchen. Er wirkte finster und wild entschlossen – einer, der’s jetzt wissen will und das ewige Hin und Her restlos leid ist… Als erstes telefonierte er mit Staatsanwalt Portheine und der Spurensicherung und veranlaßte eine sofortige spurenkundliche Durchsuchung des ehemaligen WeiseAppartements in Harvestehude, des Anwesens im Lauenburgischen und des Cadillacs sowie des Porsches. »Aber wir können nicht alles auf einmal machen!« jammerte der wie immer überarbeitete Boß der Spurensicherer. »Wo sollen wir anfangen?« »Macht erst mal die Wohnung Klosterbrücke!« sagte Trimmel nach kurzem Nachdenken. »Der Staatsanwalt soll euch helfen, wenn die jetzigen Mieter Schwierigkeiten machen – die haben mit der Sache nichts zu tun!« Er überlegte weiter. »Ihr könnt euch eigentlich sogar Zeit lassen, die Autos stehen ja sowieso draußen… also, wenn ihr in ein, zwei Stunden auf dem Bauernhof seid, reicht’s völlig!« »Kalte Kartoffeln, heiße Kartoffeln«, meinte der Kollege bitter, »immer dasselbe…« Trimmel rief noch in Rietbrook an, wo er Lorff ausnahmsweise auf Anhieb erreichte. Er mußte sich einfach Luft machen und schimpfte wie ein Rohrspatz – und Lorff, Gott sei Dank, schien es wenigstens einzusehen, daß er und niemand sonst diese Suppe eingebrockt hatte. Dann stand Trimmel auf, zog sich den Mantel an und verließ – zu Laumens Erstaunen und Ärger – halbwegs besänftigt und ohne ein weiteres Wort das Büro. Ganz allein.
»Ach – ist sie das?« fragte Liane Weise fast gleichgültig, als Trimmel ihr – in demselben großen Zimmer wie damals – das Postkartenfoto der späten Madonna vorlegte. Trimmel nickte. »Sie wissen also Bescheid… um so besser! Aber wollen Sie etwa sagen, daß Sie Viola Markos nicht gekannt haben?« »Richtig!« behauptete sie. »Gesehen habe ich meine… Nebenbuhlerin nie!« »Sie waren also nur darüber im Bilde, daß sie… daß Ihr Mann eine Freundin hatte?« »Sagte ich doch! Zuletzt wußte ich ja fast alles, wie Sie sich denken können… mein Mann hatte Sprachschwierigkeiten, aber sicher kaum noch Hemmungen!« Sie legte das Bild auf den Glastisch und sah es nicht mehr an. »Eine unerfreuliche Geschichte, zu allem anderen. Für ihn wie für mich!« Eine Weile sagte niemand was. Das große Haus war still wie ein Grab – die Angestellten waren offenbar noch nicht aus dem bezahlten Urlaub zurückgekehrt. »Ich muß Sie leider fragen, welcher Art die Beziehungen zwischen Ihrem Mann und Frau Markos gewesen sind!« sagte Trimmel schließlich. »Meine Güte«, höhnte sie, »unter anderem wird’s sicher eine sexuelle Beziehung gewesen sein! Was weiß ich – warum fragen Sie die Frau nicht selbst?« »Sie ist spurlos verschwunden. Ausgerechnet in dieser kritischen Zeit…« »Und?« fragte sie vorwurfsvoll. »Was habe ich damit zu tun, Herr Trimmel?« »Frau Weise… so kommen wir nicht weiter! Die Frau hat mit Ihrem Mann wenigstens sporadisch zusammengelebt! Sie war eine ausgesprochen schwierige Persönlichkeit; über Ihren Mann müssen wir da keine weiteren Worte verlieren. Außerdem haben in dieser Hamburger Wohnung, im
Gegensatz zu Ihrer früheren Aussage, bis zum Verschwinden von Frau Markos und dem Auszug Ihres Mannes auch die von ihm gestohlenen Heiligenfiguren gestanden! Sie verlangen da doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen dann noch Ihre Geschichte mit den Stifterbildern abnehme!« »Wieso denn nicht?« fragte sie erstaunt. »Wieso kommt’s denn da auf den Aufenthaltsort an?« »Weil die Wohnung kleiner war!« sagte Trimmel, geduldig wie mit einem Kind. »Weil Frau Markos, angeblich im Gegensatz zu Ihnen, die Figuren gesehen haben muß und auch von daher irgendwie mit drinhängt! Das hängt doch alles zusammen, Frau Weise… oder soll ich etwa davon ausgehen, daß Ihr Mann seiner Freundin eingeredet hat, er müßte die Figuren neu anmalen oder reparieren? Kaputt waren sie nicht, soweit ich weiß…« Liane Weise war aufgestanden. Sie trug heute Cordhosen und ein Westernhemd – und sie gab sich lockerer als neulich, immer noch. »Lassen Sie mich mal nachdenken… mögen Sie vielleicht auch einen Sherry?« »Nein, danke…« Anschließend allerdings schenkte sie sich, wie Trimmel beobachtete, aus Versehen Whisky ein – sie war, im Gegensatz zu ihrer zur Schau gestellten Gelassenheit, offenbar doch so verwirrt, daß sie es selbst beim Trinken nicht zu merken schien. »Gut! Ich gebe zu, daß ich Ihnen in diesem einen Punkt die Unwahrheit gesagt habe!« sagte sie. »Die Figuren waren in Hamburg… aber ist das nicht verständlich in meiner Situation der betrogenen Ehefrau, die nicht möchte, daß die Polizei nach der Krankheit ihres Mannes auch noch seinen Seitensprung aufdeckt? Vor allem, wenn man berücksichtigt, daß seine… seine Untreue mit der Sache selbst, mit diesen Diebstählen, nichts zu tun hat?«
»Doch!« sagte Trimmel. »Es hat damit zu tun! Es gibt da zwei kranke Menschen, nicht nur einen! Zwei geistig oder seelisch kranke Menschen – Sie zwingen mich doch, es derart drastisch zu sagen – hausen mit einer Herde von muffigen Heiligen, die auch noch geklaut sind, in einer Absteige! Ich kann Ihnen gern noch mehr…« »Nein!« schrie sie unvermittelt – es hallte wie ein Echo durch das leere Haus. So also nicht, sagte er sich – er fing nochmals von vorn an. »Wann und wo haben sich die beiden kennengelernt, Frau Weise?« Sie beruhigte sich erstaunlich schnell. »Frau Markos war eine frühere Angestellte. Zeichnerin – stimmt das?« Trimmel nickte. »Gut. Bis sie, schon vor längerem, von sich aus kündigte, war da wohl nichts… das Verhältnis fing erst an, nachdem er sie vor zwei Jahren zufällig auf der Straße getroffen hatte. Das ist dazu alles… aber ich will Ihnen gern noch was sagen: diese Verbindung muß vom ersten bis zum letzten Tag die Hölle für ihn gewesen sein! Einmal diese tatsächlich unmögliche Wohnung, die ich ja bei seinem Auszug kennengelernt habe… aber vor allem ihre widerliche Prüderie. Erst hat sie mir meinen Mann weggenommen, und dann hat sie ihn buchstäblich verhungern lassen, soweit ich das zuletzt aus seinen Reden entnehmen konnte…« »Sexuell, meinen Sie?« »Ja – sicher! Ich habe Ihre Frage nach der Art der Beziehung vorhin viel zu oberflächlich beantwortet… jedenfalls, wenn sie die ganze Zeit insgesamt sechs-, achtmal mit ihm geschlafen hat, ist das viel!« Sie sah Trimmel an und hielt abrupt inne. »Was starren Sie so?« Trimmel indessen schien durch sie hindurchzusehen. Wenn sie sechs-, achtmal mit ihm geschlafen hat… eine noch unklare
und unscharfe, aber zugleich auch fast ungeheuerliche Idee war ihm plötzlich gekommen – ungeheuerlicher noch als sein Verdacht, Viola Markos könne im Zusammenhang mit den Heiligendiebstählen eines unnatürlichen, ja gewaltsamen Todes gestorben sein. »Ihr Mann hat Kirchen entworfen – war er eigentlich selbst sehr religiös?« »Es hielt sich in Grenzen. Das eine, meinte er, hätte mit dem anderen nichts zu tun…« »Und Frau Markos?« Er deutete auf die Akte in dem geöffneten Köfferchen neben ihm. »Sie war ja ebenfalls katholisch… sie soll sogar sehr bigott gewesen sein…« »Ja, sie war angeblich sehr fromm!« sagte sie unbehaglich. »Genau weiß ich es natürlich nicht – die Kommunikation mit meinem Mann ließ zuletzt rapide nach, wie Ihnen erinnerlich sein dürfte…« Trimmel hielt jetzt fast den Atem an. Laumens flapsige Idee, dachte er. »Halten Sie es für vorstellbar, Frau Weise, daß Ihr Mann die Heiligenfiguren gestohlen hat, um sie seiner Freundin zu schenken?« Sie sah ihn bestürzt an. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Auf eine Antwort. Eine Antwort nicht nur auf diese Frage!« sagte Trimmel; es klang seltsam feierlich. »Viola Markos ist nicht nur verschwunden, sondern ich halte es auch für durchaus wahrscheinlich, daß sie nicht mehr lebt. Und wenn ich mir dann sage, daß dieser letzte Heilige eigentlich eine sehr seltsame Rolle gespielt hat, dieser Lugidus, der die Sonne angehalten haben soll… Frau Weise, bitte – wäre es nicht doch vorstellbar, daß Ihr Mann oder wer auch immer seinerseits versucht hat, die Sonne anzuhalten?« »Daß er… daß er sie getötet hat?« »Ja… es würde vieles erklären. Nicht zuletzt seinen totalen Zusammenbruch!«
Sie stellte ihr Glas so heftig ab, daß es zerbrach. »Der totale Zusammenbruch meines Mannes kann durchaus mit dem Verschwinden der Dame zu tun haben – bis dahin kann ich Ihnen zwar noch folgen. Aber daraus den Schluß ziehen, daß er… o Gott, glauben Sie das wirklich?« »Es besteht der begründete Verdacht, daß er es getan haben könnte!« sagte Trimmel ruhig. »Es gibt allerdings auch noch eine ebenso wahrscheinliche zweite Möglichkeit… ich sollte Sie besser darauf hinweisen, daß ich Sie hier unter Umständen als Beschuldigte vernehme, und daß es Ihnen freisteht, sich zu äußern oder nicht…« »Ich?« fragte sie ungläubig. »Ich soll diese schreckliche Viola Markos umgebracht haben?« Trimmel sah, wie sie zu zittern begann. Sie rang offenbar nach Luft und wohl auch nach Worten… gleichzeitig jedoch wirkte sie, von Sekunde zu Sekunde mehr, erleichtert. »Vielleicht wollten Sie Ihrem Mann und sich selbst helfen«, sagte Trimmel, »sich rächen, was weiß ich – Viola bestrafen. Frau Weise, bitte… waren Sie es? Haben Sie die Sonne stillstehen lassen?« »Lassen Sie mir Zeit!« sagte Liane Weise. Und genau in dieser Minute fuhr der Mordwagen auf das Grundstück – der Wagen der Spurensicherer: sie hatten die Durchsuchung an der Klosterbrücke ergebnislos beendet und wollten die Aktion jetzt hier draußen fortsetzen. Daraufhin entwickelte Liane Weise ungeahnte neue Kräfte: sie schaffte es, daß die Beamten trotz des mitgebrachten Durchsuchungsbefehls erst mit ihrer Arbeit beginnen konnten, als der sofort aus Hamburg herbeizitierte Familienanwalt der Weises eingetroffen war. Trimmel erlebte es nicht mehr mit. Er fuhr kurzentschlossen nach Rietbrook und konferierte mit Dr. Lorff. Im Grunde allerdings war es eine reichlich einseitige Konferenz, bei der fast ausschließlich Trimmel redete; Lorff
beschränkte sich penetrant auf ein gelegentliches ›Aha‹. Und dennoch – Trimmel war merkwürdig heiter. Er schien einfach damit zufrieden zu sein, daß ihm jemand, der sich immer auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen konnte, zuhörte.
Drei Monate später wurde versucht, von Amts wegen Licht in die Sache zu bringen: vor dem Hamburger Landgericht fand in Abwesenheit des kranken Leonhard Weise ein Sicherungsverfahren gegen ihn statt. Staatsanwalt Portheine erklärte in seiner Antragsschrift, die in solchen Fällen an die Stelle einer Anklage zu treten pflegt, Weise habe zehn Einbruchsdiebstähle und eine schwere Körperverletzung zum Nachteil des Geistlichen Meyers verübt; es sei überdies auch nicht auszuschließen, wenngleich vielleicht nicht mit letzter Sicherheit beweisbar, daß er die nach wie vor verschwundene Viola Markos getötet habe. Trimmel hörte sich nach seiner eigenen Aussage hinten im Saal Dr. Lorffs Gutachten an, das im allseitigen Einverständnis unter Ausschluß der Öffentlichkeit erstattet wurde. Und er staunte mehr denn je, wie geschickt der Sachverständige mit seinen Fachbegriffen jonglierte und was er aus den Informationen, die ihm zur Verfügung standen, zusammengebastelt hatte. Der Vortrag, dachte Trimmel schon gleich zu Anfang, war ein wirkliches Kunstwerk. Er müsse, sagte Lorff, des besseren Verständnisses wegen von der Persönlichkeit jener Weise-Freundin ausgehen, soweit sie sich hier derzeit offenbare – einer anscheinend ungewöhnlich ungeselligen, überempfindlichen Persönlichkeit. Viola Markos sei weltfremd bis hin zu einem fast totalen Verlust des Kontaktes zur Wirklichkeit gewesen – ein Mediziner, immerhin, habe sie als Schizoide bezeichnet. Sie sei – und damit komme er zu Herrn Weise selbst – in ihrem
Verhältnis zu ihm mutmaßlich von vornherein Täterin und Opfer gewesen, was ausdrücklich nicht im strafrechtlichen Sinne zu verstehen sei und erst recht nicht im Rahmen einer Beweiswürdigung oder gar Schuldzumessung… Der Vorsitzende Richter runzelte die Stirn. Aber Dr. Lorff ließ sich nicht beirren. Leonhard Weise, fuhr er fort, leide seit jeher an einer schweren, längst chronifizierten Neurose – unheilbar also, allgemeinverständlich ausgedrückt, im Gegensatz zu chronisch. Sie gehe zurück auf eine nie überwundene Abhängigkeit von seiner Mutter, und es sei dadurch eine Abhängigkeit von der Frau schlechthin entstanden: man habe deshalb von vornherein erwarten müssen, daß er eine neurotische Partnerwahl treffen werde. Hier zur Verdeutlichung: Weise habe, analytisch gesprochen, immer nur mit seiner Mutter schlafen wollen – und das, im Endeffekt, sei zum Ansatzpunkt für seinen Leidensdruck und das neurotische schlechte Gewissen geworden! »Eine Zwischenfrage, Herr Dr. Lorff«, unterbrach der Vorsitzende nun doch, »die neurotische Partnerwahl wäre wohl Frau Markos gewesen?« »Mit einer rätselhaften Verspätung – ja!« sagte Lorff verbindlich. »Genau darauf wollte ich hinaus – auf gar keinen Fall habe ich Herrn Weises Ehefrau gemeint! Mit ihr hatte er noch eine sozusagen normale, in seiner seelischen Situation jedoch ungeeignete Beziehung begründet… dann allerdings wählte er doch die Schizoide – eine uns gespenstisch anmutende Situation…« Alles in allem sei Herr Weise jedenfalls ein Borderline Case – ein Grenzfall zwischen Neurose und Schizophrenie. Die beiden Krankheitsbilder könnten einander so ähnlich sein, daß man bei den überdeutlich ausgeprägten stuporösen Phänomenen bei Herrn Weise unbedingt auch an das pseudo-
neurotische Vorstadium einer Schizophrenie denken müsse – dies, leider, sei voraussichtlich unkorrigierbar. Und das, letztendlich, sei auch der Punkt, an dem der schuldausschließende Paragraph 20 StGB zwingend werde – das Gericht habe dem ja auch schon Rechnung getragen, indem es ein Verfahren wählte, das nicht auf ein Urteil, sondern allenfalls auf die Sicherung des Beschuldigten abziele. Als Arzt jedenfalls rege er, Lorff, an, Herrn Weise dort zu belassen, wo er bereits sei – nämlich in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik wie Rietbrook. Lorff war fertig. Er sah den Vorsitzenden an – und der nickte, ebenfalls sichtlich beeindruckt. »Das Gericht dankt Ihnen, Herr Sachverständiger. Ich habe allerdings noch zwei Fragen – nicht an Sie als Sachverständigen, sondern als den Arzt von Herrn Weise, als sachverständigen Zeugen…« Eine Gerichtsverhandlung, dachte Trimmel, ist das Komplizierteste auf der Welt: durch langatmige Belehrungen mußte Lorff tatsächlich erst zum Zeugen umfunktioniert werden, bevor er sich weiter äußern durfte. Dann jedoch hielt Trimmel den Atem an: es kam plötzlich genau das zur Sprache, was ihm bei Liane Weise schon vor Monaten durch den Kopf gegangen war – und was er inzwischen verdrängt hatte… »Erstens«, fragte der Vorsitzende, zunächst noch, um eine Beweislücke zu schließen, »der Herr Staatsanwalt hat vorhin erwähnt, daß bei der Durchsuchung des Autos von Herrn Weise Kopfhaare von Frau Markos gefunden wurden, die allerdings auch von einer Fahrt zu einem früheren Zeitpunkt stammen könnten – sozusagen aus einer Zeit, in der sie mit Sicherheit noch lebte. Hat Herr Weise sich Ihnen gegenüber dazu mal geäußert, Herr Doktor Lorff?«
Lorff war sichtlich froh, daß Leonhard Weise es nicht getan hatte. »Nein!« »Gut. Dann aber, zweitens. Mir ist aufgefallen, daß in dieser Verhandlung mehrfach von einem mutmaßlichen Zusammenhang zwischen den Heiligendiebstählen und der doch wohl auch sexuell gefärbten Beziehung Weise-Markos die Rede war, ohne daß dazu eine abschließende oder wenigstens einleuchtende nähere Begründung gegeben wurde. Können Sie dem Gericht dazu einiges sagen?« Diesmal konnte er es. Dennoch antwortete er nur zögernd und leise. »Es ging wohl tatsächlich um Geschenke an die Geliebte. Herr Weise ist mit Frau Markos insgesamt vermutlich neunmal intim gewesen. Für jede Heiligenfigur, die er für sie stahl, hat sie sich ihm jeweils einmal hingegeben…« Der Richter war der einzige, der keine Miene verzog. »Waren es denn nicht zehn Figuren? Zehn Diebstähle?« Lorff räusperte sich. »Sicher – aber die letzte hat gewissermaßen nicht mehr funktioniert…« »Ach! Und warum nicht?« »Er hatte«, antwortete Lorff, jetzt mit deutlich festerer Stimme, »den aus seiner Sicht gravierenden Fehler begangen, Frau Markos sein Rencontre mit dem Pfarrer zu beichten – jene einzige von ihm begangene Gewalttat. Daraufhin reagierte sie dramatisch, wie ich annehmen kann, und verließ ihn für immer!« Er trank einen Schluck Wasser, was Trimmel, solange er ihn kannte, noch nie beobachtet hatte. »Dieses Erlebnis war für Leonhard Weise der eigentliche Auslöser seiner sichtbaren seelischen Katastrophe… die Frage, ob er Frau Markos letzten Endes getötet hat, sofern sie überhaupt getötet worden ist, muß unter diesem Gesichtspunkt als absolut zweitrangig gelten!« Grandios! dachte Trimmel. Schlicht genial! Lorff allerdings entwischte ihm, nachdem das Gericht sich vertagt hatte, wie ein Wiesel.
Tief zur Winterzeit – lange, nachdem Weise als schuldunfähiger Einbrecher und eben doch auch als mutmaßlicher Mörder seiner Geliebten bezeichnet und nunmehr amtlich nach Rietbrook eingewiesen worden war – wurde dann in einem ausgedehnten Forst in der Göhrde eine weibliche Leiche gefunden. Es war ein Winter, der bis dahin eher ein ungewöhnlich warmer Herbst gewesen war – die Leiche war insofern weitgehend skelettiert und durch Tierfraß zerstört, und man konnte die Tote nur anhand des Zahnschemas als Viola Markos identifizieren. Eine Todesursache allerdings ließ sich bei der Obduktion nicht mehr feststellen – streng genommen also würde man nie mehr erfahren, ob das späte Mädchen, das seiner Mutter in Hamburg zur Bestattung anvertraut wurde, eines natürlichen Todes gestorben war, Selbstmord begangen hatte oder umgebracht worden war. »Hauptsache, wir wissen es!« sagte Laumen, als er, nach der Rückkehr aus der Gerichtsmedizin, die jüngsten Berichte, Fernschreiben und Zeitungsartikel über den Leichenfund abheftete. »Wobei ich mir ja allerdings überlege… wollen wir nicht doch noch mal?« »Na, was denn?« fragte Petersen. »Komm’, komm’, tu’ nicht so scheinheilig! Ihr wißt genau, was ich meine…« »So, glaubst du?« Petersens sonst so leiernde Stimme klang jetzt aggressiv; er und Krombach hatten in der Göhrde bei Nebel und inzwischen nur noch zwei Grad plus ziemlich gezittert, und im Endeffekt war auch dort so gut wie nichts herausgekommen. »Vielleicht drückst du dich doch mal etwas deutlicher aus!« »Ich meine einfach, daß wir die Ehefrau Weise noch mal in die Zange nehmen sollten«, sagte Laumen, »die sitzt doch in ihrem schönen Haus und lacht sich krank über uns! Überleg’
doch mal – sie hatte das Motiv – Viola Markos war für sie diejenige, die ihr den Mann kaputtgemacht hatte, so kaputt, daß er nicht mal mehr imstande war, jemand totzumachen! Aber sie hatte die Energie, und sie war imstande, und die Gelegenheit hatte sie auch! Sie hat die Heiligen zurückgebracht – Zufall ist das nie im Leben, daß der Fundort von Violas Leiche und zwei von diesen Kirchen keine zwanzig Kilometer auseinander liegen! Die hat die Heiligenfiguren aus dem Auto geschmissen und Viola gleich mit bei der Gelegenheit… warum sagt ihr denn nichts?« Die versammelten Kollegen guckten aus der Wäsche wie die Ölgötzen und sahen ihn dabei nicht mal an. »Nun sagen Sie doch auch mal was, Chef!« sagte Laumen fast verstört. »Ich hab’ doch bloß…« »Laßt die Frau in Ruhe!« sagte Trimmel. »Überführen können wir die sowieso nie!« Er dachte an jene Stunde, in der Liane Weise gebeten hatte, er möge ihr Zeit lassen – an die Situation, in der sie eindeutig vor einem Geständnis stand. »Wenn’s an Leonhard Weise hängenbleibt, schadet’s ja keinem mehr! Außerdem hat er noch jede Menge an seiner Frau gutzumachen!« Draußen begann es plötzlich heftig zu schneien. Der Winter machte endlich Ernst; dicke Flocken rieselten auf Gerechte und Ungerechte, Polizisten und Verdächtige, Psychiater und Neurotiker und Pseudo-Neurotiker. Und Krombach, zufällig, fand das passende letzte Wort: die nächsten richtigen Leichen, sagte er, würden sicher nicht lange auf sich warten lassen.
Trimmel hat Angst vor dem Mond
Und da liegt nun, an einem schönen Frühlingswochenende, immerhin schon die vierte Leiche eines offensichtlich einzigen Falles. Die vierte weibliche Leiche in Serie, die der Polizei Kummer macht und noch machen wird, auch wenn sie, wie die übrigen, zu Lebzeiten den sogenannten Beruf eines Freudenmädchens ausgeübt hat. Es sind gerade erst vierzehn Monate vergangen, seit Trimmel und seine Truppe unter dramatischen Umständen einen anderen Serienmörder gefangen haben – einen Täter, der es ebenfalls auf junge Frauen abgesehen hatte. Damals vier, alles in allem, nun schon wieder die vierte… macht’s für die Polizei etwa einen Unterschied, daß es diesmal Huren sind und seinerzeit, mit einer seltsamen Ausnahme, Schülerinnen, Lehrlinge oder Jungfrauen waren? »Sie heißt Elvira Dunkel«, sagt der Kriminalmeister Hellmann, der erst vor drei Wochen zur Hamburger Kriminalinspektion I versetzt worden ist – zur sogenannten Ständigen Mordkommission. »Na so was!« sagt Trimmel, viel zu bissig. Denn es ist ja außer dem Täter niemand dafür verantwortlich zu machen, daß das Dunkel in diesem Mordfall Dunkel so dunkel ist wie in den drei Fällen zuvor, und der Mensch, der zufällig Hellmann heißt, war ja nicht dabei, als Trimmel vorher ähnlich aussehende Opfer ähnlicher Herkunft mit den Namen Bertram, Glück und Greisberg besichtigen mußte. Vom ersten bis zum vierten Opfer, Elvira Dunkel also schon mitgezählt, hat er sie zwar innerhalb von einem Jahr, neun Monaten, sieben Tagen und vierzehn Stunden besichtigen müssen – aber
bitte, das ist schließlich sein Beruf… es gibt eigentlich beim besten Willen keinen Grund, deshalb auszuflippen oder gar die Contenance zu verlieren! Oder doch? Man kann’s immerhin so sehen: Trimmel hat nie Buch geführt über all die Leichen, die ihm untergekommen sind, seit er bei der Kripo ist. Aber wenn heute alle Welt scheinbar immer begründeter davon spricht, daß Kapitalverbrechen immer kapitaler werden, wenn immer mehr Leute öffentlich für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintreten… ehrlich, exakt an der Stelle könnte man ins Schleudern kommen! Könnte zynisch werden, ungeduldiger, unduldsamer und unleidlich… und könnte zumindest deshalb ins Schleudern kommen, weil sich instinktiv die Befürchtung aufdrängt, eines Tages die eigene Überzeugung vom Unsinn der Todesstrafe einfach nicht mehr handfest genug vorbringen zu können. Trimmel tritt, ganz gegen seine Gewohnheit, so schnell von der toten Elvira Dunkel weg, daß Krombach ihn erstaunt von der Seite ansieht. Trimmel bleibt mindestens fünf Meter entfernt stehen und sieht sich merkwürdigerweise wie ein Zaungast die Szene an, die von Amts wegen von Leuten mit Kugelschreibern und Kameras und allen möglichen Gerätschaften bevölkert wird. Fotografen, Kriminaltechniker und Protokolleure mit handlichen Diktaphonen betreiben Spurensicherungen, Tatortbestandsaufnahmen und die Gründung eines polizeilichen Aktenzeichens. Stupide, aber auch immer wieder sinnvoll – und letztlich doch immer unbefriedigender. Er schafft’s seelisch nicht mehr, sagt er sich; es fallen einem keine neuen Widerreden mehr ein, wenn die Menschen inzwischen lauthals sogar die öffentliche Hinrichtung von Verbrechern fordern. Und die alten Argumente, die bewährten – die sind verbraucht! behaupten sie einfach. Und da mach was!
»Ich geh’ mal eben weg!« sagt er plötzlich. »Wohin?« fragt Krombach routinemäßig. »In ’ne Kneipe!« Da klappt Krombach zwar den Mund auf, macht ihn aber auch sofort wieder zu und nickt, als sei das alles das Natürlichste von der Welt. Die nächste Kneipe, fast tausend Meter entfernt, ist über den Mord noch nicht im Bilde; sie besitzt ein Musicbox, und Trimmel zeigt seine Dienstmarke vor und sorgt damit für Ruhe. Die meist jugendlichen Gäste starren und starren, als er sich das Telefon geben läßt; die Nummer, die er braucht, sucht er sich aus seinem Notizbuch, und dann endlich wählt er. »Hier Praxis Doktor Lorff«, sagt Sekunden später die junge und routinemäßig warmherzige Mädchenstimme, die er kennt, »guten Tag…?« »Trimmel«, sagt Trimmel, »Tach, Tach, kann ich wohl Doktor Lorff sprechen?« »Es paßt gerade«, entscheidet sie. »Ich verbinde…« Es dauert aber dann doch zwanzig Sekunden: Der Psychiater, den nichts Menschliches mehr umwerfen sollte, hat den Schreck offenbar doch erst überwinden müssen. »Herr Trimmel«, sagt er dann, »nett, daß Sie sich auch mal wieder melden… Was haben Sie diesmal auf dem Herzen?« Herz sagt er, wo er besser Seele sagen sollte! »Doktor«, sagt Trimmel, »was soll ich lange drum rum reden… ich hab’ ‘ne geradezu unverschämte Bitte…« »Die haben Sie ja eigentlich immer«, sagt Lorff wachsam, klingt allerdings einstweilen noch erstaunlich gefaßt. »Ich kann hier nicht so gut sprechen… ich möcht’ Sie fragen, ob Sie nicht mal nach Oevelgönne kommen und sich was ansehen könnten…« »Jetzt?« »Ja…«
»Eine… eine Leiche?« »Ja, leider«, sagt Trimmel bedrückt, »und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mal, ob ich Sie im öffentlichen Interesse bitte oder in meinem eigenen…« »Also wirklich, Herr Trimmel! Ich meine, wir müssen da mal erörtern, daß Sie mich offenbar wieder mal in die Mordkommission berufen wollen…« »Ja, aber das weiß ich doch noch gar nicht!« unterbricht Trimmel. »… und daß ich dazu nach wie vor weder Lust noch Neigung verspüre, auch, wenn ich Ihnen mal mehr oder weniger zufällig helfen konnte…« »Doktor«, sagte Trimmel, »tun Sie mir ein einziges Mal ‘n persönlichen Gefallen! Hier geht’s um mehr – ich fall’ hier irgendwie vom Stengel, ich weiß nicht, weswegen. Ich mein’, ich könnt’s ja ohne weiteres verstehen, wenn Ihr Wartezimmer im Augenblick proppenvoll ist…« »Wartezimmer gibt’s bei mir nicht«, sagt Lorff indigniert, »das wissen Sie!« »… aber wenn’s nicht voll ist…« Er läßt seinen Satz in der Luft hängen. »Warten Sie mal…«, sagt Lorff. Es raschelt – er blättert in seinem Terminkalender. »Im Grunde geht’s gar nicht… Wie wär’s denn, wenn wir uns die arme Person – ist es übrigens ‘n Mann oder ‘ne Frau?« »‘ne Frau…« »…also, wenn wir heute abend zusammen ins Leichenschauhaus gingen und uns die Frau anguckten?« »Sicher«, sagt Trimmel, »ich hatte eigentlich nur die verrückte Idee, daß sich ‘n Psychiater auch mal einen frischen… ja, Sie wissen schon, angucken sollte. Mehr wollt’ ich nicht – jedenfalls im Moment nicht…« »Und davon versprechen Sie sich was?«
»Ich erhoffe es mir mehr«, sagt er, für seine Begriffe mit erstaunlicher sprachlicher Eleganz. »Also schön«, seufzt Lorff herzzerreißend. »Wo, sagen Sie, ist das?« »Die Elbchaussee runter«, sagt Trimmel sofort, jetzt doch ohne jede Rücksicht auf das Publikum, »stadtauswärts. Bis Sie unsere Wagen sehen, dann einfach bloß links die Treppe runter und nach mir fragen…« »Oevelgönne also!« sagt Lorff, und es klingt nun doch wie ein Ruch oder wenigstens sehr verbittert. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich schon wieder von einer Ihrer albernen Schnapsideen ködern lasse!«
Trimmel, immerhin, ist merkwürdig erleichtert, als er zum Tatort zurückkommt – zum Fundort der toten Elvira, genau gesagt. Andererseits weiß er selbst nicht recht, was er sich von dem Ganzen verspricht. »Wir sind fertig!« meldet Hellmann. »Kann die Frau weggebracht werden?« »Nein!« befiehlt Trimmel und vermeidet es nach Möglichkeit nach wie vor, die Leiche anzuschauen. Es ist Aberglaube und Unfug, daß Polizisten abgestumpft seien gegen den Anblick von Blut und Tod – totaler Nonsens. »Laßt hier erst mal alles so stehen und liegen, nichts mehr verändern… Sperrt ‘n bißchen weiträumiger ab, da könnt’ jetzt noch einiges kommen!« Aus der Kneipe mit der Musicbox zum Beispiel. »Und es könnt noch ‘ne Weile dauern…« Der Befehl wird weitergegeben an die Leute aus den Streifenwagen, und die drängen die Menschenmauer, die sich tatsächlich mehr und mehr staut, mühselig an die dreißig Meter weiter zurück. Inzwischen kommt auch Petersen, und Trimmel beobachtet aus den Augenwinkeln, wie Hellmann ihn abfängt
und wild gestikulierend auf ihn einredet… Soll er doch! sagt er sich; soll er ihn doch davon überzeugen, daß der Chef wieder mal spinnt! Nach vierzig Minuten endlich erscheint Dr. Lorff, hochgewachsen und trotzdem bullig, äußerlich keinen Tag älter geworden seit ihrer letzten Begegnung. Immer noch ein Mann, dem ein Trainingsanzug besser stehen würde als der weiße Kittel oder die Kombination mit dem offenen blauen Hemd, die er derzeit trägt. Sein Gesicht allerdings ist mehr denn je ein einziger bitterer Vorwurf. »Danke, daß Sie gekommen sind!« sagt Trimmel und ist schon dankbar, als Lorff ihm wenigstens die Hand hinhält. Er setzt sich in Bewegung, Lorff ihm nach… die letzten dreißig Meter bis zur Leiche. »Ich hab’ mir überlegt«, sagt Lorff, »ob Sie mit Ihrer Idee vom frischen Tatorteindruck nicht besser den Kollegen Rechtsmediziner hätten beglücken sollen…« »Der war schon hier«, sagt Trimmel. »Ach ja…« »Ja«, sagt er, »in der Regel bei jeder Leiche!« Und dann hebt er selber mit spitzen Fingern das Tuch von der Toten. »Meine Güte…«, sagt Lorff erschrocken. Es ist ein scheußlicher Anblick, schlimmer als fast alles, was er bisher gesehen hat. Und als er sich über den verkrümmt daliegenden Körper beugt, muß er sich regelrecht zwingen, die schlimmen Einzelheiten so exakt zu registrieren, wie Trimmel es offenbar von ihm erwartet. Unten herum ist die tote Frau ziemlich vollständig bekleidet; der Rock ist hochgerutscht, und der Slip sitzt ordnungsgemäß unter der Strumpfhose. Oben jedoch, gleich unter dem Kinn, gibt es eine seltsame Drosselfurche, die auf den ersten Blick den Eindruck macht, als säßen drei solcher Striemen nebeneinander. Den Pullover und die Bluse hat der Mörder bis
zum Hals hochgeschoben, und den BH hat er abgerissen und neben das Opfer gelegt oder geworfen. Das Schlimmste aber sind die Verletzungen am ganzen Oberkörper, vermutlich Messerstiche und Schnitte – der nicht ganz gelungene Versuch, die mittelgroßen Brüste abzuschneiden. »Mir kommt das vor wie ‘n Film, den ich kenne!« sagt Trimmel halblaut. Lorff sieht hoch, immer noch über die Leiche gebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. »Sie meinen, das hat es schon mal…?« »Viermal!« sagt Trimmel. »Das vierte Opfer vom Strich!« Er deutet vage nach links – hafeneinwärts in die grobe Richtung Landungsbrücken, in Richtung Fischmarkt. »Eine wie die andere genau so zugerichtet wie die hier…« »Effektiv so ähnlich«, fragt Lorff, »daß sich ein und derselbe Täter aufdrängt?« Trimmel nickt. »Hundertprozentig. Eindeutig wieder einer, der nicht richtig tickt…« Wieder sieht Lorff die Leiche an. »Die abnorm sadistische Prägung scheint in der Tat offensichtlich zu sein… bei aller zwangsläufig – und immer – gebotenen Vorsicht läßt sich doch wohl annehmen…« »Na sicher«, sagt Trimmel, »sag’ ich ja… dazu hatten wir uns mittlerweile auch schon durchgerungen!« Lorff richtet sich auf. Nachdenklich, mit zusammengekniffenen Augen, schaut er auf die glitzernde Elbe, wo gerade ein großer Pott eingeschleppt wird. »Und was wollen Sie jetzt im einzelnen von mir hören?« fragt er. »Weiß ich nicht!« sagt der Polizist zögernd. »Vielleicht ein Spezialkolleg über sadistisch gefärbte Täterpersönlichkeiten?«
»Wär’ nett«, sagt Trimmel, »schaden könnt’s nicht, obgleich ich auch in der Hinsicht…« »Oder« – da klingt Hohn mit – »gezielte Aussagen über die mutmaßliche Persönlichkeit dieses Abnormen? Macht ja nichts, wenn wir ihn nicht kennen – vielleicht ‘ne Art Steckbrief?« »Ja!« sagt Trimmel. »Das wär’s! Wenn Sie meinen, daß Sie’s könnten…« »Ich kann’s nicht!« erklärt der Arzt entschieden. »Und ich muß Ihnen offenbar doch ein für allemal einen bestimmten Zahn ziehen – wenn Sie glauben, in mir endlich den Wundertäter gefunden zu haben, der auch aus nicht existenten Fakten Schlüsse ziehen kann – dann, Herr Trimmel, befinden Sie sich in einem grundlegenden Irrtum!« Das alles vor einem Mordopfer. Petersen und Hellmann haben sich, fast unmerklich, Meter für Meter, näher herangeschoben. Hellmann kapiert nichts, Petersen manches. Trimmel aber begreift mit einem Male, warum er Lorff tatsächlich hergebeten hat. »Hier ist was faul«, sagt er, »hier ist was anders als anderswo! Hier komm’ ich mit normalen Mitteln nicht weiter – deshalb dürfen Sie mich hier nicht hängenlassen, Doktor!« Lorff sieht ihn konsterniert an. »Und wie stellen Sie sich das technisch vor?« »Ich könnt’ gegen Abend bei Ihnen sein«, sagt Trimmel, »mit den wichtigsten Akten aller Fälle. Glauben Sie nicht, daß wir gemeinsam eher Land sehen?« Es klingt derart hoffungsfroh, daß Lorff nicht fähig ist, spontan nein zu sagen. Er fährt zurück in die Stadt und verbringt den halben Nachmittag damit, seine therapeutischen und anderen Termine für den Abend abzusagen und sie im überfüllten Terminkalender anderweitig unterzubringen.
Kemm, ja, der beste Schauspieler unter den deutschen Psychiatrie-Professoren, Robert Kemm hätte dieses Spielchen bestimmt von Anfang an mit Begeisterung mitgemacht. Kemm aber ist out, offenbar vor allem bei der Kriminalpolizei, und das seltsamerweise ausgerechnet zu einer Zeit, in der es mehr und mehr in zu werden scheint, Seelenklempner bei Mordermittlungen zu ge- oder zu mißbrauchen – je nachdem. Das ist die eine Seite, sagt sich Lorff: er, der ehemalige Oberarzt des Richters in Weiß, hat sein böses Kemm-Trauma immer noch nicht ausgeheilt, und es wird auch wohl nichts mehr werden damit. Er versucht sich selbst zu therapieren – dergestalt, daß er sich immer bemüht, aus Prinzip alles anders zu machen, als sein ehemaliger Meister es vermutlich machen würde… Kemm also, hält er fest, würde spontan bei Trimmel mitmachen, und er, Lorff, dem ein solches Angebot dieses Herrn nun bereits zum wiederholten Mal unterkommt, müßte es infolgedessen ablehnen. Es gibt hier jedoch noch eine andere Seite, und die wiegt inzwischen schwerer, als Lorff es sich zunächst eingestehen will: Tagaus und tagein jagt er Neurosen und psychopathologische Störgewitter in den Seelen seiner Patienten, anonyme, unfaßbare Gespenster, meist mit erheblich weniger Erfolg, als ihm und den Patienten zu wünschen wäre. Und dann, eines Tages, hat er mit Trimmel mal einen realen Täter gejagt, sogar mit viel Erfolg, aus der Distanz betrachtet, und dann auch noch den nächsten! Die Einladung zur neuen Jagd muß also, wenn überhaupt, Trimmel und dem eigenen Ego gegenüber sehr, sehr höflich abgesagt werden! Lorff ist nicht Kemm, zum hundertsten und tausendsten Mal gesagt – und als Trimmel gegen 18.30 Uhr in der Eilenau eintrifft, hat sich Lorff, wie er meint, endgültig dazu durchgerungen, ihm mit dieser Begründung allenfalls zwei
Whisky zu spendieren und sonst nichts. Keinen Rat, diesmal keine Theorie, keine Meinung… Er hat allerdings kaum seine erste Runde eingeschenkt, als der Polizist Trimmel auch schön seine Akten auspackt, sie ungefragt auf den Mahagonitisch legt und etwas unbeholfen nach einem bestimmten Schriftstück stochert, vermutlich nach einem umfassenden Zwischenbericht. »Sie kennen den Fischmarkt?« fragt Trimmel, während er immer noch erfolglos sucht. »Doch, doch…« »Auch nachts?« »Flüchtig – aber lassen Sie doch mal die Finger von Ihrem Gepäck!« »Warum?« fragt Trimmel und macht weiter. »Weil ich es mir inzwischen noch mal hin und her überlegt habe«, sagt Lorff, »es ist nach wie vor nicht mein Job, Herr Trimmel, Ihnen zu helfen – ich sagte Ihnen das früher schon! Vor allem aber seh’ ich gerade in diesem Fall nicht die allergeringste Wahrscheinlichkeit, Ihnen durch eine… na, sagen wir, vorgutachterliche Äußerung einen Hinweis auf Ihren Täter geben zu können!« »Ach, da ist es ja!« freut sich Trimmel, entdeckt endlich sein Dokument und sieht Lorff erwartungsvoll an. »Was sagten Sie gerade?« »Herr Trimmel«, sagt Lorff grollend, »ich bin von Haus aus ein konzilianter und gastfreundlicher Mensch und sag’s Ihnen deshalb äußerst ungern… aber eingeladen haben Sie sich in diesem Fall schließlich selbst! Und da Sie mir bisher keine Gelegenheit gegeben haben, Ihnen definitiv abzusagen…« »Aber ich wollte doch nur ‘n paar Tips von Ihnen«, sagt er mit plötzlicher Panik in der Stimme, »daran hat sich tatsächlich nichts geändert…« »Ich kann sie Ihnen nicht geben!«
»Ja, aber wer denn sonst? Sie gelten doch als der führende Experte für sadistische Serientäter; keiner sonst in der ganzen Bundesrepublik…« »Wie ich schon sagte«, sagt Lorff geschwollen, »auch ich muß hin und wieder von Fakten ausgehen und nicht nur von Spekulationen…« »Meine Güte… drei Fakten haben wir im Endeffekt doch ermittelt!« »Herr des Himmels«, sagt Lorff, völlig entnervt von diesem Geplänkel, das der Boß der Mordkommission plötzlich erstaunlich gut beherrscht, »Ihre Fakten sind doch nicht die der Wissenschaft!« Trimmel wechselt geschickt das Thema. »Erinnern Sie sich noch an diesen Hypnosefall? Diese Sache Gaether?« »Die hat sich unter Umständen abgespielt, die nicht wiederholbar sind! Einerseits ist es gut, daß da im Endeffekt doch nie was publiziert worden ist, andererseits war das Ganze sehr viel – na, handfester! Im Gegensatz zu heute war die Situation geradezu ungewöhnlich erfolgversprechend!« »Damals haben Sie anfangs anders getönt!« sagt Trimmel, inzwischen eindeutig vorwurfsvoll. »So ähnlich wie jetzt, meinen Sie?« »Aber wie!« grollt er. »Und dann haben Sie mir doch geholfen… Bloß ging’s da ja auch um ‘n Kind aus gutem Hause, und jetzt geht’s bloß um ‘n paar lausige Nutten – stimmt’s?« »Überlegen Sie sich bitte, was Sie reden!« sagt Lorff zornig. »Eine derartige Unverschämtheit ist mir doch wahrhaftig seit längerem…« »Ja, ja, ja«, fährt er ihm abermals dazwischen, bitterböse und mit einem Mal maßlos, »geschenkt, Herr Doktor! Ich bin im Gegensatz zu Ihnen der Auffassung, daß Nutten auch Menschen sind! Außerdem hat der Typ, den wir suchen, bis
jetzt erst vier umgebracht, aber eines Tages sind’s vielleicht acht oder ‘n Dutzend oder sogar noch ‘n paar mehr, was weiß ich! Und wenn Sie mich fragen…« »Ich frage Sie aber nicht!« »Wenn Sie mich fragen… Sie tun mir jetzt schon leid, daß Sie damit mal fertig werden müssen. Und nun entschuldigen Sie die Störung…« Er fängt an, seine Papiere wieder in die alte schwarze Tasche zu stopfen. »Herr des Himmels«, sagt Lorff, zum zweitenmal binnen weniger Minuten, »ich sollte Sie wahrhaftig rausschmeißen! Oder zur Minna machen, wie Sie das immer nennen… manchmal ärgere ich mich über meine gute Erziehung schwarz! Sehn Sie doch gefälligst auch mal meine Situation; überlegen Sie nur mal, was auf mich zukommen könnte, wenn ich mich in der Form mit Ihnen einlasse und wenn’s eines Tages doch mal einen Tatverdächtigen geben sollte!« »Was denn?« »Ärztliche Schweigepflicht«, tönt er, »damit verknüpft die Rechtsgüterabwägung hinsichtlich der Kollision mit der Anzeigepflicht bei Kenntniserlangung des Vorhabens gewisser besonders schwerer Straftaten… die Voraussetzung ist doch bei einem Seriensadisten immer gegeben! Dieses idiotische Problem, daß ein beim Gutachter abgelegtes Mordgeständnis juristisch unter Umständen so gut wie öffentlich ist… Mann, Trimmel, wie soll ich es Ihnen noch erklären, daß ich’s nicht kann – nicht kann und nicht will?« »Soweit müßt’s bei uns doch gar nicht kommen«, meint Trimmel, »malen Sie doch nicht sämtliche Teufel auf einmal an die Wand!« »Oh, ja«, höhnt Lorff, »nach dem allerersten erfolgreichen Hinweis, den Sie von mir kriegen, entpflichten Sie mich! Sie, ausgerechnet Sie!«
»Doch!« behauptet Trimmel. »Ich schwör’s Ihnen! Jederzeit, wenn Sie mal Wert auf eine derartige Entpflichtung legen sollten – sofort!« Er sitzt Lorff unbeweglich und massiv wie ein Klotz gegenüber, die Tasche nach wie vor auf den Knien – und wenn ihn nicht alles täuscht, ist Lorff überraschenderweise doch noch auf den Trip geraten, letztlich nachzugeben. »In der DDR hat’s neulich ‘n fast vergleichbaren Fall gegeben«, erzählt er, und hartnäckig – allzu hartnäckig, wie jemand, der im Boxring nachschlägt – fischt er ein paar zusammengeheftete Blätter aus dem rechten Taschenfach. Ist ja wirklich erstaunlich, sagt sich Lorff gerade noch, was er da so alles mit sich rumschleppt! »Hier, ich kann’s ja mal zitieren«, sagt Trimmel, »es ging da um ‘n dreifachen Kindermord… Die Erarbeitung einer Täterhypothese als Grundlage für die Einleitung zielgerichteter Ermittlungen zur Feststellung Tatverdächtiger war zweckmäßig. Hiermit wurden Experten der gerichtlichen Psychiatrie und Psychologie beauftragt…« Er sieht auf – und er sieht Lorff an, als habe er ihm soeben das Evangelium verkündet. »Und?« fragt Lorff. »Wo ist die Pointe? Haben die den Täter ermittelt?« »Sie haben ihn so genau beschrieben, daß die Vopos bei dem Kerl bloß noch klingeln und ihn abholen mußten«, sagt Trimmel. »Tatsächlich, Ihre Kollegen drüben – Klasseleute! Und wenn Sie nicht so stur wären – für uns beide wär das geradezu ‘n Modellbeispiel!« »O Mann«, stöhnt Lorff, »packen Sie Ihren Kram wieder aus, nur damit’s bald vorbei ist…«
Tatort-Komplex-Fischmarkt-Oevelgönne steht in Trimmels Zwischenbericht. Zum Verständnis aller folgenden Ereignisse
ist eine ungefähre Kenntnis des Milieus im erweiterten Bereich Fischmarkt erforderlich… Ab acht Uhr werde da draußen die Prostitution quasi offiziell geduldet – toleriert, hat einer aus Trimmels Truppe geschrieben. An der Ecke Fischmarkt und St. PauliHafenstraße ständen um diese Zeit knusprige junge Bienen, die sich noch nicht ganz zu Vollprofis entwickelt hätten und von daher für einen heutzutage fast lächerlich geringen sogenannten Liebeslohn in das Auto jener kundigen Freier stiegen, die nicht ohne Grund so früh dran seien. »Handelt es sich ausschließlich um einen Autostrich?« erkundigt sich Dr. Lorff. Trimmel nickt. Nicht selten, zitiert er, handele es sich bei diesen frühen Freiern um Vertreter von auswärts, die noch hundert und mehr Kilometer fahren müßten, wenn sie ihr Fischmarkterlebnis wieder mal hinter sich hätten, oder um Hamburger Geschäftsleute, die der Ehefrau gegenüber ihre Ausflüge ins Zwielicht als Überstunden deklarieren müßten. »Aber damit wir uns klar sind«, sagt Trimmel, »Personen aus diesen breiten Gruppen kommen nach unseren bisherigen Ermittlungen eindeutig nicht als Täter in Frage!« »Warum nicht?« fragt Lorff. »Weil es zeitlich nicht paßt«, sagt Trimmel, »darauf komm’ ich gleich noch…« Die eigentlichen Autofreier, berichtet er, kämen erst frühestens abends um halb zehn, und sie tränken sich dann auch erst noch Mut an. Sie suchten sich anschließend ihre handtaschenschwenkenden jugendlichen Damen aus jener Gruppe, die weiter westlich hin zu den Fischhallen ständen und in ihren Miniröcken zwar hoffnungslos, aber vorsätzlich der Mode hinterher hinkten. Schäferstündchen dauerten dort fünf Minuten und seien etwas, wenn auch nicht viel teurer. Gerade zwanzig Meter hinter dem Kai fänden sie statt, hinter den
River-Kasematten; Diskretion sei da draußen nicht so recht gefragt, und Voyeure, sprich Spanner, die’s geschickt anfingen, hätten das reinste Paradies. »Sie können folgen?« fragt Trimmel zwischendurch. »Ja, ja… gar nicht uninteressant…« »Jetzt kommt’s nämlich!« kündigt Trimmel an. Wenn man nämlich aus der Tür einer Gaststätte mit dem für die Gegend bezeichnenden Namen Fick trete und rechts um die Ecke gehe, erläutert er, begegneten einem um die Zeit auch ein paar besonders adrette Mädchen. Sie allerdings machten es, als einzige im ganzen Fischmarktrevier, nicht im Auto, sondern in ihren Räumen am Pinasberg. »Und dazu gehörten Leni Bertram, Annette Glück und Beate Greisberg…« »… und Elvira Dunkel, nehme ich an?« »Auch die!« sagt Trimmel. »Alle vier Opfer wurden zwischen halb zehn und halb elf an dieser Stelle eingefangen und abgeschleppt, und das ist da gar nicht so einfach unter den Augen der Loddel – der Zuhälter, mein’ ich. Die fangen zwar ungefähr um die Zeit an, bei Fick ‘n scharfen Skat oder Poker aufzulegen, aber zwischendurch geht derjenige, der gerade keine Karten hat, mal vor die Tür und schaut nach, wie’s draußen so läuft…« »…aber trotzdem«, fragt Lorff, »gibt’s in allen Fällen keine unmittelbaren Zeugen?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Alles in allem, da gibt’s ungefähr vierhundert Dirnen… ich bin mir ziemlich sicher, daß wir bei den Vernehmungen keine übersehen haben. In zwei, drei Aussagen taucht ein angeblich hübscher, langhaariger Typ auf, blond, so weit man das in der Finsternis erkennen kann. Nachdem wir das zunächst nur mal registriert hatten, ist dann bei der ermordeten Beate Greisberg tatsächlich ein langes blondes Haar gefunden worden… Dabei war sie selber ‘ne echte Rothaarige!«
Lorff gibt sich Mühe, wie ein Polizist zu denken, und staunt, wie schwer es ihm fällt. »Können Sie in sämtlichen Fällen sagen, wo der Tatort war?« »Im Grunde da, wo die Leichen später gelegen haben«, sagt Trimmel, »also Tatort gleich Fundort. Allerdings zieht sich das irgendwie seltsam auseinander…« Überfallen worden sind die Mädchen möglicherweise auf dem Straßenzug zwischen dem Fischmarkt und dem westlich davon gelegenen Fußgängerweg Oevelgönne, erklärt er, diesem berühmten Hamburger Kapitänsweg parallel zur Elbe. Gefunden hingegen wurden die Opfer im unmittelbaren Bereich Oevelgönne. Lorff überlegt. Auch da draußen, tagsüber natürlich, kennt er sich einigermaßen aus, und auch ihm fällt jetzt auf, daß da irgendwas nicht stimmen kann. »Da kann man doch von der einen zur anderen Stelle kaum mit dem Auto fahren, sofern ich mich recht erinnere?« »Nee, aber hinlaufen!« sagt Trimmel befriedigt. »Genau das ist der Punkt, den wir immer noch nicht einordnen können! Das weiß bis jetzt keiner – kein Reporter, mein’ ich; das müßte tatsächlich so gewesen sein, daß die Mädchen erst mal gedrosselt worden sind, dann wieder zu sich gekommen sind und zum Schluß bis Oevelgönne laufen mußten! Und da erst sind sie erstochen worden – irgendwie unvorstellbar!« »Ist das der Punkt, der Sie gestört hat?« fragt Lorff. »Ja und nein«, sagt Trimmel, »so ganz genau weiß ich’s immer noch nicht…« »Wirklich seltsam…« Das Ganze paßt nicht gerade lückenlos in die Theorie vom Sadisten. »Kann ich mal die Obduktionsprotokolle sehen?« »Sicher – aber wär’s nicht besser, wir gehen’s insgesamt chronologisch durch?«
»Na gut!« sagt Lorff. Die Idee, die gerade in ihm aufkeimte, rutscht wieder weg. Plötzlich aber ist er merkwürdigerweise bester Hoffnung: was gut ist, kommt wieder!
Leni Bertram liegt auf dem Tisch, das erste Opfer – in Form eines mittelschweren Schnellhefters. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als sie starb, und sie wurde am 26. Juni vor zwei Jahren ermordet, gegen Mitternacht, und am nächsten Tag gefunden. An ihrem Hals hatte sie zwei Drosselfurchen, und im Oberkörperbereich wurden zwölf Messerstiche gezählt. Auch in diesem Fall schon die Manipulation an den Brüsten, die Lorff bei Elvira Dunkel gesehen hat. »Die Zahl der Stiche und Drosselungen sind fast der einzige Hinweis«, sagt Trimmel, »daß der Sadist in puncto Brutalität eskaliert…« Lorff sagt nichts, schaut Trimmel aber äußerst nachdenklich an. Das zweite Opfer, Annette Glück, hatte ›nur‹ zehn Messerstiche im Körper, aber drei Drosselfurchen am Hals. Annette war ganze neunzehn Jahre alt, als sie am 24. August vorigen Jahres gewaltsam das Zeitliche segnete – ausgerechnet in der Bartholomäusnacht, die ja seit alters her für gewaltsame Todesfälle prädestiniert ist. Annette war äußerst früh, allerdings auch ›äußerst erfolgreich‹ auf die schiefe Bahn geraten, bevor ihre ›Karriere‹ so schrecklich zu Ende ging. Wie bei Leni gab’s auch bei Annette Glück keinerlei Manipulationen im Genitalbereich; in den folgenden Fällen, um’s vorwegzunehmen, übrigens auch nicht. Das dritte Opfer, Beate Greisberg, achtundzwanzig Jahre alt und jünger aussehend, war im Prinzip ebenso gequält und gedrosselt worden wie ihre Schicksalsgefährtinnen, allerdings wohl am allerschlimmsten: ihr Körper wies vier
Drosselfurchen und mindestens siebzehn Stiche auf, und dazu gab’s auch bei ihr diese Sache mit den Brüsten. »Der Kerl macht jedenfalls von Anfang an immer dasselbe«, sagt Trimmel erbittert, »er ist in dieser Hinsicht pedantisch wie ‘n Buchhalter…« Und das Morddatum im Fall Greisberg ist der 12. September vergangenen Jahres. »Sagt Ihnen das was?« fragt Trimmel. »Fall zwei und drei sind sehr schnell hintereinander passiert…«, überlegt Lorff. »Ja, ja, aber ich mein’ was anderes. Gucken Sie doch mal aus dem Fenster! Heute ist der 7. April – ein Sonntag. Ein Tag, an dem man al$ normaler Mensch gar nicht arbeitet – es sei denn, man ist freischaffender Künstler, Seelendoktor oder Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission.« Lorff tritt an das große Fenster, schlägt den Vorhang etwas zurück und sieht auf den ersten Blick den Mond über dem Eilbekkanal – gelb und rund, Fastnoch-Vollmondmond. »Gestern war Vollmond!« sagt Trimmel bedeutsam. »Ach nee!« Lorff muß die Aktennotiz, die Trimmel ihm über den Tisch schiebt, gar nicht erst lesen: am 26. Juni vor zwei Jahren stand der Vollmond ebenso am Himmel wie am 24. August und am 12. September vergangenen Jahres – effektiv an sämtlichen Mordtagen der Serie! »Das stinkt doch gewaltig, oder?« »Doch, doch…«, sagt Lorff zögernd. »Allerdings, ich kann Ihre… eh, Ihre Begeisterung spontan nicht so ganz teilen. Ich habe nämlich noch nie von einem sadistisch oder wie auch immer geprägten Vollmondmörder gehört, der sich mit solcher Präzision an bestimmte Daten beziehungsweise Rhythmen gehalten hätte!« »Versteh’ ich nicht…«
»Passen Sie mal auf«, sagt Lorff, »erstens kann sich weder unser Sadist, wenn’s einer ist, noch sonst jemand sein Triebleben auf den Tag genau nach dem Kalender einteilen. Zweitens ist das sowieso eine Sache für sich mit den Rundungen am Himmel – denken Sie mal an einen Menschen, der bei Vollmond regelmäßig nicht schlafen kann; der hat seine schlimmste Nacht oft genug einen Tag früher oder später! Wenn Sie einen runden Mond sehen, können Sie normalerweise nie genau sagen, ob tatsächlich exakt an diesem Tag Vollmond ist, oder ob der kalendermäßig nicht schon gestern war. Oder auch erst morgen sein wird…« »Das würde also heißen…« »… daß hier einer zwar tatsächlich auf seinen Kalender schaut, bevor er auf Mordtour geht«, erklärt Lorff, »aber nur aus einem einzigen Grund: um uns zu täuschen! Da können Sie sagen, was Sie wollen: das ist eine ebenso aufschlußreiche wie verfängliche bewußte Irreführung der Strafverfolgungsbehörden!«
In der Sache selbst entwickelt Dr. Lorff – wenn auch, von Trimmel mehr und mehr gedrängt, mit sehr langen Zähnen – in den folgenden Stunden eine erste Hypothese. Sie ist zwangsläufig noch undeutlich und verschwommen, vor allem jedoch auch ungeheuer riskant. Alle Morde sind in Hamburg begangen worden, und mit allem Vorbehalt ist anzunehmen, daß der Täter in der am Fischmarkt gelegentlich etwas sehr kräftig riechenden Hansestadt zu Hause ist. Die Morde sind in einem zwar zwielichtigen, aber auch relativ gut kontrollierten Milieu begangen worden: Es ist, wie Trimmel ja schon festgestellt hat, gar nicht einfach, leichte Damen unter den Augen ihrer stets mißtrauischen schweren
Jungen verschwinden zu lassen und dann buchstäblich abzuschlachten; man kann das, sagt Lorff, kaum neutraler sagen. Auf jeden Fall ist deshalb anzunehmen, daß der Täter sich im Milieu gut bis sehr gut auskennt und vor allem auch über die Zeitabläufe am Fischmarktstrich, die die Kripo nachvollzogen hat, bestens Bescheid weiß. Alle Morde, schließlich, haben in den zweieinhalb Stunden vor Mitternacht ihren Anfang genommen, und sie haben zwischen dem späten Frühling und dem frühen Herbst stattgefunden. Es war immer Vollmond, wie gesagt, und die Nächte waren hell bis sehr hell… »Auch das spricht dafür«, sagt Lorff, »daß der Täter aus dem Milieu kommt oder sich erstaunlich gut auskennt. Denn sofern ich Sie recht verstanden habe, ist er zwar dreist in besonders hellen Nächten, aber auch zu solchen Zeiten gekommen, in denen die Zuhälter am ehesten abgelenkt waren – oder?« »Sicher«, sagt Trimmel, »das haben wir jetzt dreimal festgestellt…« »Wir haben ebenso festgestellt«, sagt Lorff unbeirrt, »daß es in allen Fällen Erkenntnisse hinsichtlich der sich stets gleichbleibenden Tatausführung gibt… Sie hatten da dieses originelle Beispiel vom Buchhalter, der seine Verbrechen vom ersten bis zum vierten Mord mit geradezu mathematischer Präzision und überdies Kongruenz verübt. Das allerdings führt mich automatisch zu der folgenden Frage: Gibt es zwischen den vier vollendeten Mordtaten keinen vom Standpunkt des Täters aus mißglückten Fall – keinen Betriebsunfall, gewissermaßen?« »Nein!« sagt Trimmel. »Aber passiert das nicht den meisten Mehrfachtätern?« »Also, hier beim besten Willen nicht!« »Verdammt komisch!« sagt Lorff. Er gerät mit seiner Hypothese doch noch ins Stocken.
Aber da hilft ihm Trimmel, besorgt um den Erfolg. »Der Mann, den wir suchen, eskaliert nicht. Sein Vorgehen ändert sich von Fall zu Fall so gut wie gar nicht. Seine Beharrlichkeit und Ausdauer bei seiner Suche nach neuen Opfern sind gespenstisch, aber dabei geht er trotzdem kein Risiko ein. Er wird nie überrascht, soweit wir wissen, und nie haut ihm ein Opfer ab… Das war’s wohl, worauf Sie hinauswollten – daß der Kerl nur zuschlägt, wenn wirklich alles klar ist, daß er also in erster Linie ‘ne unendliche Geduld haben muß?« »Richtig!« gibt Lorff zu. »Das stört mich!« Er überfliegt die Sektionsprotokolle. Die Tatsache bleibt haften, daß die Kollegen Obduzenten in den drei bisher untersuchten Fällen übereinstimmend zum selben Ergebnis gekommen sind. Die vierte Obduktion, die vermutlich gerade in diesen Stunden stattfindet, wird ein ebenfalls identisches Resultat haben: Der Täter hat zuerst sein Drosselwerkzeug angewendet, eine Art Schlinge vermutlich, wie sich immer deutlicher zeigt, und erst anschließend das Messer benutzt – da laufen die gerichtsmedizinischen Erkenntnisse tatsächlich haargenau mit den Feststellungen und Folgerungen der Kripo zusammen. Trimmel sieht ihm über die Schulter. »Die Möglichkeit eines Irrtums gibt’s da kaum. Der Mann fängt die Mädchen ein wie mit einem Lasso, allerdings aus allernächster Nähe, und führt sie dann in der Schlinge regelrecht zur Hinrichtung…« Lorff nickt – der Gedanke war ihm auch schon gekommen. »Wobei es gar nicht so einfach sein dürfte, eine derart narrensichere Schlinge zu konstruieren. Sie muß sich ja wirklich blitzschnell zuziehen und blitzschnell die Halsadern verschließen, ohne daß es auch nur zum Versuch einer Gegenwehr bei den Opfern kommen kann… Ist Ihnen so was schon mal bei Ihrer Arbeit untergekommen, wenigstens was Ähnliches?«
»Nie! Ich kann zwar noch mal nachsehen…« »Nein, nein, ich kenn’ auch aus meiner Literatur keinen derartigen Fall; ein derart funktionales Mordwerkzeug wird meines Wissens nirgends beschrieben. Man müßte folgern, daß der Täter handwerklich ziemlich geschickt ist…« »Als Schlachter!« nickt Trimmel. »Das zumindest…« »Ja, aber auch als Seemann, Cowboy oder Seilmacher! Und nun wollen wir mal gucken, was wir ihm sonst noch anhängen können…« Lorff zieht die dünnen Handakten zu sich hinüber. »Von einem extravaganten Auto ist wohl nie die Rede gewesen?« »Nee, nee, das würd’ da aber womöglich auch kaum auffallen«, sagt Trimmel, »da gurken dauernd diese ZuhälterFerraris rum, und die Typen scheiden ja wohl als Täter aus. Sonst hat nie jemand von ‘nem Superschlitten geredet…« »Na gut – springen wir mal ins Wasser! Im Zusammenhang mit Ihren übrigen vorhandenen oder nicht vorhandenen Indizien wäre dann wohl anzunehmen, daß der Mann ein stinknormales Auto fährt, weder ein zu großes noch ein zu kleines. Zu kleine Wagen nämlich, könnte ich mir vorstellen, würden am Fischmarkt möglicherweise sogar noch mehr auffallen als die zu großen – hab’ ich recht?« »Sicher«, sagt Trimmel, »‘ne Isetta wär’ da soundso ‘n bißchen unpraktisch.« »Also fährt Ihr Täter vermutlich weder VW Käfer noch Lamborghini«, folgert Lorff, »wahrscheinlich nicht mal ‘n größeren Mercedes. Eher Mittelklasse, Ford bis Opel, in einer ganz normalen Farbe – nicht rot und grün gestreift und nicht lila, eher dunkelblau oder grau… So und jetzt wollen wir uns mal die Opfer näher angucken!« Es sind dann allerdings gar nicht so sehr die Tatort- und Autopsiefotos in Trimmels Lichtbildmappe, für die sich Dr. Lorff interessiert, sondern weitaus mehr die Bilder der toten
Mädchen zu Lebzeiten; in zwei Fällen – bei Annette Glück und Beate Greisberg – Nacktfotos haarscharf an der Grenze zur Pornographie. Vordergründig hübsch sind sie allesamt, sieht der Psychiater – die Damen Glück und Greisberg, Leni Bertram und Elvira Dunkel sind jedoch erkennbar viel zu grell bemalt. Viel zu aufgedonnert… grober, harter, ordinärer Sex wird dargestellt, und nur angedeutet wird nichts. Aufschlußreich für Lorff aber ist vor allem die Tatsache, daß die Opfer sich vom Typ her verblüffend ähnlich sehen – wenn nicht wie Schwestern, so doch mindestens wie Cousinen! »Das sagt mit Sicherheit einiges über den Täter aus«, sagt Lorff. »Wir waren uns ja einig, daß er vermutlich in dem Milieu wohnt, in dem er tötet, und vielleicht können wir inzwischen auch annehmen, daß er aus eben diesem Milieu stammt beziehungsweise in ihm aufgewachsen ist. Es ist vermutlich kein Zufall, daß er Dirnen tötet und keine, na – Schornsteinfegerinnen, und es ist außerdem doch wohl auch sehr auffällig, daß er sich eindeutig einen bestimmten Typ von Prostituierten als Opfer aussucht…« »Könnte er nicht unter Umständen als junger Mensch mit einem ähnlichen Typ ein Schlüsselerlebnis gehabt haben?« fragt Trimmel. Lorff nickt, wenn auch noch recht widerstrebend. »Bei aller gebotenen Vorsicht könnte ich mir tatsächlich vorstellen, daß eine bestimmte, in der frühen Kindheit erlebte Charakterprägung das mörderische Potential des Mannes sowohl aktiviert hat als auch immer wieder aktiviert. In dieser Hinsicht wären die Opfer tatsächlich Schlüsselfiguren – unbewußt, in einem früheren traumatischen Erlebniszusammenhang…« Trimmel überlegt: »Kann da nicht auch die Größe der Opfer eine Rolle spielen?«
»Durchaus!« Lorff sieht nochmals die Fotomappe durch; die Mädchen, nackt oder nicht, waren nicht nur nicht groß, sondern ausgesprochen zierlich. Trimmel prüft’s im Detail. »Keine war größer als einszweiundsechzig!« Dann blättert Lorff selbst durch die Akte, in der er sich inzwischen erstaunlich gut auskennt, und findet das, was er sucht: immerhin zwei von den drei Aussagen der Fischmarktdirnen, in denen von dem blonden, hübschen, langhaarigen Jungen die Rede ist. Er strich da nur so rum, heißt es übereinstimmend, wir haben ihn nicht weiter beachtet, und später war er verschwunden. War da nicht ein bißchen mehr in Erfahrung zu bringen? Petersen, sieht Trimmel, hat die eine Vernehmung gemacht, Krombach die andere. »Nee«, sagt er, »dann war da echt nicht mehr drin…« Lorff lehnt sich wieder zurück. »Zum allerletzten Mal, Herr Trimmel: nichts, was ich Ihnen hier sagte, kann in irgendeiner Weise verbindlich oder auch bloß mehr als ein Denkanstoß sein…« »Ja, ja, sicher!« Es klingt ungeduldig. »…trotzdem ist und bleibt es auch so unverantwortlich, was ich gesagt habe, und es wäre mindestens ebenso riskant, wenn ich Ihnen auf Ihr Drängen hin einen uns völlig unbekannten Mann zu beschreiben versuchte…« »Wie sieht er aus?« fragt Trimmel unbarmherzig. »Bei Berücksichtigung des übereinstimmenden Opfertyps«, sagt Lorff unglücklich, »der primären Mordwaffe, der Schlinge, und des mutmaßlichen Tatablaufs könnte es sich um einen Mann handeln, der seinerseits nicht viel größer ist als einsfünfundsechzig. Ein ausgesprochen asthenischer Typ; schmaler Körper, graziler Muskel- und Knochenbau – bei seelisch Gestörten übrigens der häufigere Typ. Vermutlich ist
der Mensch nicht viel über Dreißig. Und bei aller Zartheit müßte er durchtrainiert sein – so in etwa die schlanke, zierlichstraffe Figur eines Tänzers…« Er sieht regelrecht depressiv aus, nachdem er es von sich gegeben hat. »Ich nehm’s wirklich nur als Denkanstoß!« versichert Trimmel, gerade noch im rechten Moment. »Ja, ich bitte Sie ernstlich darum, in Ihrem höchsteigenen Interesse!« Lorff steht auf; es geht auf Mitternacht, und sie sind beide ziemlich erschöpft. Von einer neuen Verabredung ist nicht die Rede, als Trimmel sich verabschiedet. »Schönen Dank, Doktor!« sagt er, bereits im Treppenhaus. »Manches, was wir besprochen haben«, sagt Lorff hinter ihm her, »hat ja wohl mehr mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand zu tun gehabt als mit Psychologie. Von meiner Disziplin gar nicht zu reden…« »Also, ich fand’s nützlich!« Dann ist er weg, und Lorff riegelt sich ein und sucht sich einen mittleren Stapel Bücher aus der Bibliothek zusammen, so müde er ist, darunter die ›Bibel‹ seines Standes, die Allgemeine Psychopathologie von Karl Jaspers. Es ist nicht gerade ein Standardwerk über die Phänomenologie des Sadismus – Lorff hätte da eine Menge anderer Arbeiten zur Verfügung. Es ist allerdings ein überaus geeignetes Werk für einen Menschen, der unvermittelt das dringende Bedürfnis hat, sich vor sich selber zu rechtfertigen. Bis zum dritten Dirnenmord einschließlich hatten die Hamburger Zeitungen von Fall zu Fall zwar große, aber relativ unverfängliche Berichte veröffentlicht und die Kripo – man tut einander ungern was – einigermaßen schonend behandelt. Jetzt allerdings, nach der Auffindung von Elvira Dunkel, ist in den Schlagzeilen und Spalten der Journaille plötzlich der Teufel los: DAS PHANTOM VOM FISCHMARKT wird geboren,
zwei ›bessere‹ Zeitungen beschränken sich – vielleicht, weil’s da nicht ganz so stinkt – auf DAS PHANTOM VON OEVELGONNE, und alle Gazetten zusammen machen Trimmel und seiner Mordkommission Tag für Tag und in ganzen Serien die Hölle heiß. »Immer bei der vierten«, sagt Trimmel grimmig. »Als ob es ‘ne magische Zahl war’…« Und bei alledem können sie ja auch nicht mehr als arbeiten. Trimmels Truppe ist verstärkt worden, zwölf Mann für den Anfang, von denen dann erfahrungsgemäß klammheimlich einer nach dem anderen wieder abgezogen wird, und niemand läßt nachmittags um 16.30 Uhr den Griffel fallen. Darauf, daß der Psychiater es schon machen wird, verläßt sich niemand – Trimmel selbst am allerwenigsten. Hellmann und Krombach, das weiß er, halten in diesem Fall überhaupt nichts von derartigen ›Seelenspielchen‹. Und Petersen gegenüber hält er sich deshalb zurück, weil er inzwischen selbst nicht mehr allzu viel von seinem ›Dialog‹ mit Lorff, in dem es ruhig geworden ist, erwartet; das geht am Ende sogar so weit, daß Petersen, der durchaus einen Sinn für abseitige Spuren und Fahndungsmittel hat, reichlich enttäuscht ist und sich ein paarmal wieder heftig – wie lange nicht – mit Trimmel in die Wolle kriegt. Aber alle tun, wie gesagt, ihr möglichstes. Das ebenso bescheidene wie gelegentlich durch Drogen vernebelte Leben der Dirne Elvira Dunkel wird ausgeleuchtet und rekonstruiert bis in die letzten Winkel und Einzelheiten; am Ende gibt es kaum noch eine ›Bezugsperson‹, die nicht ermittelt und vernommen worden wäre, einschließlich einer Anzahl mehr oder weniger regelmäßiger, aber auch zufälliger Freier. Manchmal gelingt es Trimmel trotz des derzeit gespannten Verhältnisses zur Presse doch noch, aus der Berichterstattung ein Fahndungsinstrument zu machen und da suchen zu lassen,
wo die Mordkommission nichts mehr findet. Wer hat am 14. August dieses Jahres – oder einem anderen ganz bestimmten Tag – die folgende für die Kriminalpolizei wichtige Beobachtung machen können… So steht’s dann nach manchen Pressekonferenzen in den Zeitungen, und gleich danach gehen Dutzende von Hinweisen bei der Kripo ein. Die Bevölkerung, läßt sich erkennen, arbeitet so eifrig mit, wie es das bei ›Nuttenmorden‹ noch nie gegeben hat. Vor allem aber wird, abgeschirmt von jeder Öffentlichkeit, der polizeiliche Fahndungsapparat strapaziert wie nur in den wenigen ganz großen Fällen der letzten Jahre und Jahrzehnte: Auf Hamburger, schließlich auf Bundesebene werden mit Hilfe der lokalen und zentralen Computer Personengruppen überprüft, die irgendwann mal durch sadistische und andere sexuelle Neigungen auffällig geworden sind, und sei es auch nur als Tierquäler. Die ›Freigänger‹ psychiatrischer Anstalten werden besonders sorgfältig unter die Lupe genommen, Vertrauensleute (das darf nie rauskommen!) in GastarbeiterGhettos geschickt und zahllose ›Wanderungsbewegungen‹ von Personen ohne festen Wohnsitz verfolgt. Die KTU, die Krimmaltechnik, macht für jedes potentielle Indiz Überstunden. Von Tag zu Tag indessen stellt sich deutlicher heraus, daß es an Material mit möglichem direkten Tatbezug tatsächlich immer noch nicht mehr gibt als ein einziges langes, blondes Haar, ein Haar auch noch ohne Wurzel. Zentnerweise wird Papier im Polizeipräsidium Berliner Tor und beim St.-Pauli-Kriminalbereich Budapester Straße ausgewertet; nach menschlichem Ermessen wird nichts, aber auch gar nichts übersehen, was je im Zusammenhang mit Dirnen und Luden passiert ist, und sei es auch nur die eingedellte Stoßstange am Auto eines Zuhälters, sofern sie aktenkundig geworden ist. Leni Bertram, Annette Glück, Beate Greisberg und Elvira Dunkel kannten sich höchstens vom
Sehen; das wird definitiv deutlich. Beate war erst an der Meile Fischmarkt heimisch geworden, als Leni bereits tot war. Jeden Morgen dieselbe Situation. Die zwischen Fischmarkt und Oevelgönne sowie den Quer-, Neben- und Parallelstraßen eingesetzten zusätzlichen Zivilstreifen melden keine besonderen Vorkommnisse. Der Kollege Hellmann ist Kontaktmann dieser Fischmarkt-St.-Pauli-Gruppe innerhalb der Kommission, der rein zahlenmäßig mit Abstand größten Abteilung; zweimal reist er, um verschüttete Spuren auszugraben, bis Köln und Frankfurt. Einmal wird ihm von einem betrunkenen Verdächtigen im Frankfurter Bahnhofsviertel die Faust aufs Auge gesetzt, wobei der Kontrahent allerdings eine komplizierte Kieferfraktur davonträgt; insofern hat der Mann erstens zwar rein physisch die größte Mühe, anderen Kripobeamten zu erklären, daß er nicht der Hamburger Dirnenmörder ist, zweitens allerdings auch das große Glück im Unglück, daß letztlich niemand an seine Täterschaft glaubt.
So geht’s auf den nächsten Vollmond zu, und Trimmel bekommt mehr und mehr ein komisches Gefühl in der Magengrube, wenn er zufällig mal abends oder nachts auf der Straße ist und zusehen kann, wie sich der nach links geöffnete Mondbogen von Tag zu Tag füllt. Dabei ist seine Angst zumindest in einer Hinsicht reichlich überzogen: Gott sei Dank sind in der sündigen Hansestadt ja bei weitem nicht bei jedem Vollmond der letzten Jahre klein geratene Fischmarkthuren stranguliert, verschleppt und erstochen worden. Überraschend, immerhin, meldet sich Lorff einen Tag vor dem Routineereignis am Himmel. »Sie stehen ja häufiger in den Gazetten als Rudi Carrell! Gibt’s was Neues?«
»Nichts!« knurrt Trimmel. »Buchstäblich nix… sagen Sie’s bloß nicht weiter!« »Versprochen!« meint Lorff. »Aber im Grund sind keine Nachrichten hier doch die besten Nachrichten – vielleicht ist der Mann ja ausgewandert?« »Das glauben Sie!« höhnt Trimmel. »Der lauert doch nur darauf, daß wir schlappmachen, und dann ist er wieder voll da, wie Ziethen aus dem Busch!« »Ja, sicher – Sie haben ja recht«, sagt Lorff ernst. »Wie wär’s denn… wollen wir nicht mal wieder ‘n Whisky zusammen trinken? Morgen ab acht?« Der Vollmond geht am nächsten Abend um 16.12 Uhr auf; die ersten Stunden hindurch ist er jedoch so farblos, daß man sie sich schenken kann. Trimmel hinterlegt gegen 20.30 Uhr in der Einsatzzentrale Lorffs Telefonnummer und läßt sich von einem Funkwagen in die Eilenau fahren: keine Minute, trotz und alledem, will er in dieser Nacht, über die ihm Lorff offenbar netterweise hinweghelfen möchte, nicht erreichbar sein. »Wie sieht’s eigentlich momentan am Fischmarkt aus?« fragt Lorff nach dem ersten Schluck. »Das Geschäft soll stark nachgelassen haben?« »Inzwischen läuft’s wieder«, sagt Trimmel, »lange wird da ja nie getrauert. Soll auch wieder Nachwuchs geben, ’ne Menge neuer Gesichter…« »Aber es wimmelt wohl noch von Polizei?« »Das schon… ich nehm’ ja auch an, daß das der eigentliche Grund für die vorübergehende Flaute war – gar nicht mal die Angst vor dem Mörder! Inzwischen haben sich aber anscheinend alle dran gewöhnt, daß sie praktisch unter Polizeischutz – na ja, arbeiten…« In Lorffs Räumen riecht es stark nach Farbe: seine Wohnung wird neu gestrichen, und sie sitzen, in all ihrer Nervosität
geschwätzig wie am Stammtisch, Stunden um Stunden in dem Raum mit der Couch für die Narkoanalyse. Ein etwas steriles Zimmer mit einer Sitzgruppe… »Man hat dadurch Gelegenheit, sich über Eck zu setzen«, sagt Lorff, »mal nicht hinter dem Patienten oder ihm gegenüber…. Aber was red’ ich – was interessiert Sie das, solange Sie nicht selbst verarztet werden?« »Beruhigend ist es allemal«, sagt Trimmel. »Schaden kann’s nie, wenn man weiß, wohin man mal geraten kann…« »Depressiv?« »Mäßig«, gibt er zu. »Demnächst werd’ ich sicher Hühnerdiebe fangen oder die Standorte von Landfahrern ermitteln… für Mörder bin ich nicht mehr gut genug…« »Nun kommen Sie doch noch mit solchen Klischees!« sagt der Psychiater tadelnd. »Ich hab’ schließlich auch mal bei der Behörde gearbeitet, so schnell wird da keiner wegen Unfähigkeit entlassen! Beziehungsweise versetzt…« »Kommse«, sagt Trimmel kopfschüttelnd, »reden wir was anderes! Was macht unser Typ? Neue Ideen?« Lorff zieht die Nase kraus. »Also, da fragen Sie mich was Leichteres! Ich denk’ zwar öfter an die Geschichte, als mir guttut, aber weitergekommen bin ich trotzdem noch nicht…« »Ich hab’ mich mittlerweile überall umgehört«, sagt Trimmel hartnäckig, »es hat effektiv in der ganzen Kriminalgeschichte noch nie ‘ne Schlinge gegeben wie hier! Der Kerl muß die tatsächlich selber gemacht haben – da hatten Sie echt von Anfang an genau die richtigen Papiere! ‘ne Schlinge, die auf Kommando ›einrastet‹ – irre!« Lorff starrt ihn an. »Sagen Sie das noch mal…« »Einrastet!« sagt Trimmel. »Wieso?« »Ja – wieso kann ‘ne Schlinge einrasten?« fragt Lorff zurück. »Ehrlich, Herr Trimmel, vielleicht ist das eines Tages rein technisch die Hauptfrage…«
Zwei Uhr morgens inzwischen; die größte Gefahr ist offenbar gebannt. »Ich nehm noch ‘n allerletzten«, erklärt Trimmel, »dann kratz ich die Kurve…« »Überstehen Sie denn jetzt die Nacht?« fragt Lorff. »Seelisch, sozusagen?« »Lachen Sie nur!« sagt Trimmel, sehr viel friedlicher als noch vor wenigen Stunden und wieder fast elegant: »Solange Sie sich in bezug auf meine Grenzsituationen strikt an Ihre ärztliche Schweigepflicht halten…« Lorff lacht stärker. »Ich hab’ ja schon immer eine Schwäche für Menschen gehabt, die mir auf dem Weg zur eigenen Erkenntnis helfen konnten…« »Haben Sie’s nötig?« fragt Trimmel. »Jeder hat’s nötig«, sagt er ernsthaft, »und von daher waren die… na ja, die paar Abenteuer, die wir zusammen erlebt haben, im Endeffekt ziemlich wichtig für mich. Immer dasselbe: anfangs machen Sie regelmäßig große Sprüche und ‘n Getöse wie ‘n Lastwagen, wenn Sie verstehen, was ich meine; immer, wenn Sie bei mir aufgekreuzt sind oder angerufen haben. Aber wie ‘n leerer Lastwagen, darauf kommt’s an – leere Lastwagen machen immer mehr Lärm als beladene! Und sobald ich Ihnen dann zu ‘ner Ladung verholfen hatte, sind Sie regelmäßig friedlich wieder davongezogen, und ich…« Er stockt. Trimmel, das Glas in der Hand, wartet geduldig. »Na gut – warum soll ich’s nicht mal aussprechen? Ich hatte anschließend ebenso regelmäßig das Gefühl, endlich mal was Vernünftiges zur Weiterentwicklung der Menschheit beigetragen zu haben! Das ist Ihr riesiges Plus!« »Wissen Sie eigentlich«, fragt Trimmel, »daß Sie mir auch den Fall Leonhard Weise verdanken – diesen Architekten, der für seine Freundin immer diese komischen Heiligenfiguren geklaut hatte?«
»Ach wo!« sagt Lorff. »Das ergab sich für mich ganz zufällig aus einer persönlichen Bekanntschaft…« »Sicher… aber den eigentlichen Gutachterauftrag, den hab’ ich Ihnen zugeschanzt!« »So, so«, sagt Lorff, »und warum?« »Aus purem Egoismus – ich hatte gehofft, Sie würden hinter die wahre Motivation kommen…« Lorff schaut ihn nachdenklich an. »Und nun wollen Sie wissen, ob Herr Weise oder Frau Weise seine meschuggene Freundin umgebracht hat?« »Ich weiß es doch«, behauptet Trimmel, »was Sie mir geben könnten, wär’ höchstens die Bestätigung…« »Sie hat!« sagt Lorff nach einer Weile. »Das hat mir zwar weder Frau Weise noch sonst einer gesagt, da muß ich mich also gar nicht mal auf meine Schweigepflicht zurückziehen. Aber das Mädchen ist damals an einem Donnerstag verschwunden – das reicht doch!« »Was heißt das?« »Donnerstags«, erklärt Lorff, »verüben die wenigsten Frauen Selbstmord… aber donnerstags häufen sich die meisten von Frauen begangenen Morde!« »So einfach ist das?« fragt Trimmel perplex. »Ja – so einfach!« bestätigt Lorff. Er spürt selber, daß er einiges getrunken hat – einiges mehr als Trimmel. »Und jetzt« – er schaut auf die Uhr – »ist es zehn vor drei, und wenn Sie jetzt gehen, ist der Mond untergegangen, ehe Sie zu Hause sind!« »Monduntergang ist zwar erst kurz nach halb sechs«, murrt Trimmel, »aber bitte – warum soll sich nicht auch mal der Kalender täuschen?« Als er anschließend seiner Wege geht, ist der Druck auf seine Seele zum ersten Mal seit vier Wochen effektiv nicht mehr ganz so schlimm.
Zum erstenmal seit vier Wochen hat auch Dr. Lorff am nächsten Vormittag wieder eine Sternstunde; manchmal muß es doch wohl an den Auswirkungen der Rauschdroge Alkohol liegen, daß man mit einem Mal doch noch den Wald erkennt, den man vorher vor lauter Bäumen nicht gesehen hat. »Hören Sie«, sagt er, als er Trimmel erwischt, »ich sehe da jetzt über unseren Fischmarktwürger doch etwas klarer…« »So plötzlich?« »Ja, ja…« Er fragt vorsichtshalber: »Heute nacht ist ja wohl nichts mehr passiert?« »Kalte Füße bei unseren Leuten«, sagt Trimmel; das Thermometer ist in den frühen Morgenstunden überraschend noch mal in die Nähe des Gefrierpunkts gesunken. »Das Phantom hat sich nicht blicken lassen…« »Schön!« sagt Lorff entschlossen. »Dann kommen Sie gleich heute abend noch mal zu mir… ich glaube, ich muß uns ‘n gewaltigen Zahn ziehen!« Diesmal erscheint Trimmel schon um sechs, denn er platzt fast vor Neugier, und ein bißchen ängstlich ist er auch. Wieder hat er hinterlassen, wo er zu erreichen ist, und Petersen hat er ausnahmsweise sogar die halbe Wahrheit gesagt: »Entweder, der spinnt, oder er ist jetzt endlich doch noch über was gestolpert!« Dann allerdings gibt ihm Lorff an diesem Abend nach Vollmond eine regelrechte Ohrfeige, kaum, daß die Tür ins Schloß gefallen ist. »Ich werde Ihnen beklagenswerterweise die einzige Täterhypothese wegnehmen müssen, die uns überhaupt jemals eingefallen ist!« Erst mal sagt Trimmel nichts, und als er sich auf die Psychiatercouch setzt, läßt er sich vorsichtshalber nur auf der Kante nieder, mit dem halben Hintern. »Wieder Whisky?« fragt Lorff. »Lieber Bier…«
Also zwei Bier, entscheidet Lorff. »Das einzige, was uns von unserer bisherigen Hypothese noch bleibt«, sagt er, noch während er die Haschen öffnet, »ist dieser zierliche hübsche Junge mit der Tänzerfigur…« »Aber?« »… aber sonst«, sagt Lorff, »will uns der nicht nur über seine Identität im unklaren lassen, sondern tatsächlich auch über seinen Charakter täuschen. Sogar verdammt phantasievoll… aber da hat er sich jetzt endgültig in den Finger geschnitten!« Er faselt und käut wieder, denkt Trimmel; ausnahmsweise kommt er mal nicht auf das Nächstliegende, daß nämlich Lorff lediglich versucht, ihm die Sache schonend beizubringen. »Sie erinnern sich«, sagt Lorff, »daß ich diese Vollmondarie, die wir gestern ja sogar noch gemeinsam gesungen haben, gleich zu Anfang ziemlich spontan als Täuschungsmanöver eingestuft hatte?« »Bleiben Sie Mensch!« sagt Trimmel kopfschüttelnd. »Wollen Sie noch deutlicher hören, daß ich mich noch nie so für Astronomie interessiert hab’ wie die letzten Wochen? Ich sag’s Ihnen freiwillig – bis gestern hab’ ich noch nie Angst vor dem Mond gehabt! Und nun schlottern mir die Knie, als ob ich… was gucken Sie denn auf einmal so?« »Ich bin sicher«, sagt Lorff mit Nachdruck, »daß ich den Täter überführt habe!« »Nämlich?« »Er ist kein Sadist!« sagt Lorff, noch dramatischer. »Das ist doch nicht Ihr Ernst…« »…doch, doch! Mir hat da ja von Anfang an einiges nicht gefallen; ich seh’ da beim besten Willen keinen Sadisten – das ist viel eher ‘n Mensch, der sich gewissermaßen ohne Sex seinen Spaß macht!« »Aber die – die Brüste!« wendet Trimmel ein. »Diese vielen Stiche und Schnitte?«
»Ja, und?« fragt Lorff. »Was ist denn mit dem übrigen Körperbereich? Unten herum zum Beispiel… wundern Sie sich denn nicht, daß er da nichts angestellt hat? Diese Manipulationen am Oberkörper gehören effektiv zu seinen Täuschungsmanövern, behaupte ich, und selbst dazu hat er sich noch eines Messers bedient… es gibt nicht den kleinsten Hinweis etwa auf eine Bißwunde, wie sie bei einem Sadisten auffällig und zu erwarten gewesen wäre!« Wieder schüttelt Trimmel den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das ausreicht, um eine solche…« »Das gewiß nicht!« unterbricht Lorff. »Aber erheblich aufschlußreicher und wichtiger sind diese zwei bis vier voneinander abzugrenzenden Drosselfurchen am Hals der Mädchen; auch mit Ihrem Einrasten haben Sie mich ja gestern nacht mit der Nase darauf gestoßen! Der Begriff einrasten erinnert mich automatisch an etwas, das gut und glatt funktioniert, reibungslos und hintereinander. Erst die Schlinge, dann das Messer – etepetete, muß ich sagen, denken Sie an Ihr eigenes apartes Beispiel vom Buchhalter! Wenn das ein Sadist im Triebsturm gewesen ist, wie das so oft heißt… nie und nimmer, Herr Trimmel!« »Sondern?« Lorff zuckt die Achseln. »Ein hochgradig Abnormer auf jeden Fall. Er hat die Mädchen nach dem ersten Überfall mehrfach kommen lassen, kommen in Gänsefüßchen, im Sinne von zu sich kommen lassen, hat sie vermutlich auch noch die Treppen rauf- und runterstolpern lassen – das haben Ihre Leute ja alles selbst rekonstruiert! Und warum tut er das? Er hat sich daran geweidet, würd’ ich sagen, rumgespielt in aller Unschuld wie die Katze mit der Maus. Und total ohne Sex, eben wie die Katze; also, ich tippe auf eine Persönlichkeit mit sehr stark hysterischen Zügen!«
Trimmel sitzt plötzlich da wie erschlagen. »Ich erinnere mich an ein Psychiatrieseminar beim Kommissarlehrgang«, sagt er schließlich, »hab’ ich da richtig zugehört, daß Hysterie als eine der großen klassischen Neurosen gilt?« »Im Prinzip ja…« Lorff lächelt beinahe unmerklich, dazu auch noch hinter der vorgehaltenen Hand. Trimmel jedoch sieht’s trotzdem, und es ärgert ihn. »Darf ich dann mal direkt fragen: kann eine Neurose derart… na ja, gefährlich sein, daß sie einen Menschen zum Mord treibt? Quasi zum Massenmord?« Das Lächeln verschwindet. »Grundsätzlich kann eine schwere Neurose im äußeren Sinne gefährlicher sein als jede Psychose, jede sogenannte echte Geisteskrankheit. Sie werden mir sicher folgen können… Eine schwere Zwangsneurose kann ohne weiteres dazu führen, daß jemand total nicht in der Lage ist, von seinem Stuhl aufzustehen…« Neurotisch oder nicht: Trimmel erhebt sich vorsichtshalber drei Zentimeter über die Sitzfläche der Couch. »Im übrigen«, fährt Lorff fort, »hatte ich mir gerade hier zunächst überlegt, ob wir’s nicht auch mit einem Psychopathen zu tun haben könnten, der stark hysterische Züge besitzt. Einem hysterischen Psychopathen wären derartige Taten eher zuzutrauen als einem sozusagen hysterischen Neurotiker, in gerade noch zulässiger Simplifizierung gesagt… ich hab’s aber wieder verworfen. Ich würde mich auf den Neurotiker festlegen – nach dem, was wir wissen!« »Was wissen wir denn?« fragt Trimmel. »Daß der Hysteriker grundsätzlich wahnsinnig geltungsbedürftig ist«, sagt Lorff, »immer ungeheuer gepflegt auftritt, aber gleichzeitig kalt ist wie ein Molch. Er fällt durch total übersteigerte, überzogene Gefühle auf; seine Gefühlsäußerungen können tatsächlich bis zu zyklothymen Scheinphänomenen führen, manisch-depressiv, wenn Ihnen
das mehr sagt – und vor allem spielt er immer, spielt ganz dick unterstrichen, ohne sich je mit seiner Rolle zu identifizieren!« »Und so einer mordet?« will Trimmel wissen. »So einer mordet!« erklärt Lorff. »Das heißt – wenn er sich dazu herabläßt, hat er natürlich eine ungeheure Distanz zu seinen Opfern. Er hat nicht mal das Mitgefühl, das sogar noch ein Sadist haben dürfte – die Bremerin Gesche Gottfried gilt da als Paradefall, die hat Anfang des vorigen Jahrhunderts halbe Familien vergiftet, mindestens fünfzehn Leute, hat dann geschauspielert, die aufopfernde Pflegerin gespielt, wofür sie viel Beifall bekam, und sich zugleich an den Qualen ihrer Opfer geweidet! Man soll’s kaum glauben, aber schon damals haben meine verehrten Kollegen ihre Eitelkeit vor Gericht beobachtet und beschrieben – ja, und dann der Clou: dreißigtausend Menschen applaudierten schließlich dem öffentlichen Schauspiel ihrer Enthauptung; der Premierenerfolg also! Unser Typ dagegen könnte vor allem deshalb in die Kriminalgeschichte eingehen, weil er als erster Hysteriker gewaltsam arbeitet – mit dem Messer und dieser Schlinge…« Endlich holt er Luft. »Also noch mal«, sagt Trimmel, »Hysteriker sind Schauspieler, wenn ich Sie richtig verstanden habe… sind Schauspieler auch Hysteriker?« »In begrenztem Rahmen unbedingt«, antwortet Lorff verblüfft, »ich sehe, ich habe mich anscheinend doch halbwegs verständlich ausgedrückt…« »…das ja…« »… ich komm’ gleich auch noch mal darauf zurück, aber zunächst sollten wir mal festhalten, daß ein Hysteriker präzise so mordet, wie ein Kind eine Puppe zu schlachten pflegt. Ganz ernsthaft – und ganz offensichtlich ohne jede erkennbare Befriedigung!« »Es gibt keinen Mord ohne Befriedigung!«
»Aber er hat sie ja!« behauptet Lorff. »Nur eben nicht sexuell! Alles, was einen starken Reiz von außen ausübt, zieht den Hysteriker an und befriedigt ihn… Subjektiv natürlich, aber ist das keine Befriedigung?« Er steht auf und nimmt seinen Jaspers vom Schreibtisch. »Das Buch liegt hier schon länger; ich hab’ der Sache schon seit einiger Zeit nicht getraut, jetzt kann ich’s ja sagen! Jedenfalls ist das alles weder von mir noch besonders neu…« Er blättert zielsicher, sieht Trimmel. »Will man den Typus«, liest er vor, »den hysterischen Typus schärfer fassen, kommt man immer wieder auf einen Grundzug… immer mehr zu erleben, als überhaupt Erlebnisfähigkeit vorhanden ist, sozusagen im eigenen Theater zu leben… sehen Sie, da haben Sie Ihre Schauspielerei! Ein Schauspiel löst das andere ab… hier jetzt, im vollen Wortlaut: Die hysterische Persönlichkeit überläßt sich erst gar nicht dem normalen Geschehen!« Dann, endlich, beendet er seine Vorlesung, klappt das Buch zu, trägt’s zurück und sagt nur noch trostvoll und ganz beiläufig: »Irgendwo steht da auch noch, daß sogar der erfahrenste Psychiater immer wieder auf Hysterien im sozusagen klinischen Sinn reinfällt…« Trimmel aber hilft es nicht mehr – ihm hat’s vorübergehend doch noch völlig die Sprache verschlagen. »Ich muß Ihnen sicher nicht erklären«, fragt Lorff mitfühlend, »daß die echte Hysterie mit dem landläufigen Begriff hysterisch wenig zu tun hat?« Da macht er den Mund wieder auf. »Nein!« »Ich meine, für Sie ist es ja doch wohl sehr viel auf einmal und kommt auch etwas plötzlich…« Und da fängt Trimmel sich endgültig wieder. »Psychiater dürfen drauf reinfallen«, klagt er, »aber ich als Laie muß nicht nur ‘n x-beliebigen Hysteriker festnageln, sondern sogar noch ‘n hysterischen Mörder fangen…«
Lorff behauptet: »Das ist jetzt leichter als vorher!« »Da bin ich aber gespannt!« sagt er klagend. »Herr Trimmel«, sagt Lorff, und er bemüht sich jetzt wirklich um jedes Wort, »wenn wir davon ausgehen, daß die Psychoanalyse in den Hysterien immer noch Neurosen sieht, die durch verdrängte Konflikte entstanden sind – hätten wir’s dann nicht tatsächlich einfacher?« »Das kapier’ ich nicht!« sagt er ehrlich. »Aber Sie waren doch derjenige, der an unserem allerersten Abend in dieser Sache das Wort Schlüsselerlebnis aufs Trapez brachte!« erinnert Lorff. »Ich?« staunt er. Lorff nickt. »Doch, doch – damit waren Sie den Ereignissen weiter voraus, als wir ahnen konnten… Verdrängte Konflikte, zwangsläufig simpel formuliert, gehen immer auf irgendwelche Schlüsselerlebnisse zurück! Wenn’s dem Analytiker von Fall zu Fall gelingt, die zu finden, hat er den Krieg so gut wie gewonnen beziehungsweise seinen therapeutischen Erfolg direkt vor Augen! Verdrängte Konflikte und damit Schlüsselerlebnisse sind bei Hysterikern aber grundsätzlich leichter zu entdecken als bei Sadisten… Dämmert’s Ihnen jetzt?« »Nein!« knurrt er stur. »Meine Güte«, fragt Lorff, »wie unwissenschaftlich muß ich denn noch werden, damit Sie dahinterkommen?« »Es tut mir leid…« »…ja, ja, ja! Erstens, ich kann nicht zaubern, das hab’ ich Ihnen hier und anderweitig schon hundertmal gesagt. Zweitens, ich hab’ versucht, Ihnen klarzumachen, warum wir einen Hysteriker suchen sollten, und das zumindest haben Sie begriffen. Drittens aber – ab sofort gibt es im Gegensatz zu früher eindeutig eine reelle Chance, einen Menschen zu
suchen, der eine Anzahl scharf umrissener Merkmale besitzt! Eine reelle und zugleich reale Chance!« Trimmel steht auf, schüttelt sich wie eine nasse Katze und setzt sich wieder hin. »Weshalb«, fragt Lorff, »holt sich unser Mann Prostituierte anstelle von Beamtenwitwen?« Da endlich kapiert er. »…oder Schornsteinfegerinnen!« sagt er. »Das war’s doch?« »Gott sei Dank!« sagt Lorff daraufhin, und es kommt wirklich aus Herzensgrund. »Ja, warum macht er denn das?« fragt Trimmel. »Vielleicht, weil seine Mutter früher einmal auf ‘n Strich gegangen ist?« »Gott sei Dank!« wiederholt Lorff. »Wenngleich Sie’s damit wohl etwas sehr schwarzweiß zeichnen…« Aber Trimmel denkt schon weiter, nachdem er den Anfang des Fadens gefunden hat. »Das Schlüsselerlebnis muß im Milieu liegen… Ist ja wirklich alles viel einleuchtender! Vielleicht war er ‘n Heimkind?« Lorff greift erst wieder ein, als er stockt. »Ich bin inzwischen beinahe sicher, daß hinter der Objektwahl des Täters die Mutter steckt!« »Er tötet die Mädchen, die aussehen wie seine Mutter. Oder die dasselbe tun wie seine Mutter – stimmt’s?« »Ja, so in etwa!« sagt Lorff und macht sich von seinem Gewissen völlig frei. »Dann wär’s ja fast ‘ne Art Ersatzopfertötung«, sagt Trimmel ergriffen, »die Nutten sterben, weil seine Mutter ihn mal in ‘n Heim gesteckt hat…« »Ja. Irgendwo in der Richtung müssen Sie suchen!« bestätigt Lorff. Er geht an den Kühlschrank, den er für besonders eilige Fälle in die Bücherwand eingebaut hat, und nimmt zwei neue Bierflaschen heraus. Aus den Augenwinkeln sieht er, daß Trimmel strahlt wie ein Knabe am Heiligen Abend – und in
der kurzen Zeit, in der er dann einschenkt, verwandelt sich der manchmal so verkniffene Polizist sogar in eine regelrechte Frohnatur. »Streiten Sie’s nie wieder ab, Doktor«, strahlt er, »Sie können doch zaubern!« Lorff schüttelt den Kopf. »Im Grund haben wir nach wie vor nur psychologisiert. Selbst wenn wir zufällig richtig liegen, haben wir immer noch mehr Glück als Verstand gehabt!«
Petersen ist schon da, als Trimmel am nächsten Morgen im Büro aufkreuzt; er ist auch jetzt noch der einzige, der derzeit für diesen Ermittlungsbereich Interesse aufbringt, und er fragt halb neugierig, halb gespannt: »Hatten Sie eine angenehme Nacht?« »War wieder ‘n bißchen spät«, sagt Trimmel, »aber sag mal schnell, wieviel Leute gehören offiziell noch zur Kommission?« »Sechs«, sagt Petersen aus dem Stehgreif. »Na ja«, überlegt er, »wenn wir die behalten… damit kann man ja einiges anfangen…« »Ja, was denn?« drängt Petersen. »Überprüfungen«, sagt Trimmel. »Heimkinder, Schauspieler, Astheniker, Milieugeschädigte…« »Chef«, sagt Petersen hinterhältig, »sollten wir nicht mal einfach alle männlichen Hamburger fragen, ob sie was gegen Nutten haben?« Trimmel steckt’s ein, schüttelt nur beiläufig den Kopf und setzt sich mit einem Stapel Papier an den Schreibtisch. »Wir können Lorff nicht länger in der Luft hängenlassen«, erklärt er, »der muß irgend ‘ne amtliche Funktion kriegen und außerdem Geld, nachdem er damals bei der Hypnose so mies
bezahlt worden ist. Und dazu kann ihm ja am ehesten die Staatsanwaltschaft verhelfen…« »Soll ich ‘ne Sekretärin holen?« fragt Petersen. »Nee, das machen wir selber!« befiehlt Trimmel. Er hat das dumme Gefühl, jeder Mensch außer Petersen würde ihn, heimlich oder auch nicht, glatt auslachen. Erst mal macht er sich ein Gedächtnisprotokoll über alles, was er in den Sitzungen mit Lorff besprochen hat: Punkt für Punkt zählt er auf, in zweistündiger Arbeit, und selbst Petersen, bei alledem eher Mitläufer als uneingeschränkter Parteigänger der Wissenschaft, ist hinterher stark beeindruckt, was da alles zur Sprache gekommen ist. Dann jedoch, als die Psychologie fixiert wird, überfordert’s auch ihn und kommt ihm doch mehr wie Astrologie vor: Ist das wirklich noch Trimmel, der ihm zur Ausarbeitung und Vorlage bei der Staatsanwaltschaft die Ansicht diktiert, die Mutter dieses Jack the Ripper vom Fischmarkt könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit eine ganz bestimmte Art von Hamburger Deern gewesen sein? »Als Prostituierte könnte sie ihr möglicherweise ungeliebtes Kind in ein Heim gegeben haben«, diktiert Trimmel unbeirrt; »es ist auch nicht auszuschließen, daß sie es zeitweise bei der Arbeit dabei gehabt hat, Arbeit in Gänsefüßchen. Auf jeden Fall könnte sie ihm auf diese Art ein frühtraumatisches Erlebnis vermittelt haben, aus dem sich das spätere mörderische Potential entwickelt haben könnte…« »Stammt das alles von Lorff?« fragt Petersen. Trimmel nickt. »Schreib weiter, unterbrich mich nicht dauernd… Zu Zwecken weiterer Ermittlungen sowie aus gegebener Veranlassung wurde durch die Kriminalpolizei der Privatdozent Doktor Lorff, Walter, Facharzt für Psychiatrie, gebeten, eine… eine wissenschaftliche Äußerung über das bisherige Ermittlungsergebnis abzugeben. Dabei stellte es sich
als wahrscheinlich heraus, daß der wahrscheinlich abnorme Täter durch eine latente hysterische Charakter – beziehungsweise Persönlichkeitsstruktur geprägt wird. Diese könnte sich nach außen hin unter anderem durch geschickte Tarnung oder – schreib das mal ruhig! – oder sogar durch ungewöhnliche schauspielerische Fähigkeiten manifestieren, die von dem Täter nicht zwangsläufig beruflich genutzt werden müssen. Nach dieser hier wiedergegebenen psychiatrischmedizinischen Beschreibung des unbekannten Täters…« Er stockt. »Gibt’s das denn überhaupt?« fragt Petersen prompt. »…könnte sich«, fährt Trimmel fort, »diese Persönlichkeit äußerlich durch überschießende Herzlichkeit auszeichnen, abgesetzt durch gelegentliche tiefe Traurigkeiten und Depressionen… Und jetzt halt wirklich mal die Klappe und konzentrier dich: Eigentlicher Hintergrund dieser Persönlichkeitsstruktur hysterischer Prägung aber müßte in allen Phasen eine fast unmenschlich anmutende Gefühlskälte sein… Punkt. Diese von berufener Seite vorgetragene Schilderung trifft natürlich nur dann zu, wenn es sich nicht um einen primär sadistischen Täter handelt, sondern tatsächlich um einen Hysteriker…« »Allmählich schreib ich das mit drei Ypsilon!« sagt Petersen in der Pause, immer noch vorlaut. »Haben Sie das denn wenigstens selbst kapiert?« »Weiter!« sagt Trimmel. »Für den Fortgang der Ermittlungen erscheint es unbedingt geboten, Herrn Doktor Lorff mit einem Begutachtungs… nee, Beratungsauftrag zur Verfügung der Kriminalpolizei auszustatten… Das wär’s; schreib’s mal gleich ins reine…« »Dauert aber ‘ne Weile«, sagt Petersen. »Es muß heute noch raus!« kommandiert Trimmel.
»Sehr wohl, Chef«, sagt Petersen, und er wäre unter Umständen sicher noch entschiedener, wenn er sich klar darüber wäre, ob das große Werk als besonders nützlich oder besonders überflüssig angesehen werden muß.
Lorffs Mitarbeit wird dann durch die Justiz prompt genehmigt, und als er selbst auch mal davon erfährt, ärgert er sich – unter anderem über den doch wieder beschämenden Stundenlohn zunächst schwarz. Trimmel allerdings hört sich seinen Zorn geduldig an und läßt ihn vorerst völlig in Ruhe, und so regt er sich wieder ab: zwei Wochen später hat er seine neue amtliche Funktion fast schon verdrängt. In dieser Zeit und in der Woche darauf jedoch leisten die amtierenden sechs Vollmitglieder der Sonderkommission Fischmarkt neuerlich eine Knochenarbeit im Laufen und Sitzen. In erster Linie stöbern sie acht Jahrgänge alte Akten bei der Behörde für Jugend durch und suchen – sturheil! – nach Heimkindern, deren Mütter im weiteren St.-Pauli-Umkreis Prostituierte waren. Etwa zur Halbzeit der Aktion gibt Trimmel eine Anordnung, die sich nicht gerade erleichternd auswirkt: »Mit der Nutte, das nehmt mal nicht ganz so wörtlich!« Dabei haben sie natürlich schon von sich aus all die Typen unter den Tisch fallen lassen, die schon im zarten Alter von sechzehn oder achtzehn Jahren ein Meter achtzig groß oder sogar noch größer waren; die Suche würde sonst wahrhaftig uferlos, und irgendwie muß man der Wissenschaft einfach auch mal vertrauen, wenn man sich schon mit ihr einläßt. Die Beschreibung des Phantoms – kleinwüchsig, zierlich, durchtrainiert – wird in den anderen Ermittlungsbereichen ebenfalls als Maßstab genommen, etwa bei der Behörde für
Gesundheit, wo nach auffällig gewordenen ManischDepressiven gesucht wird. Und auch in den Theatern, Schauspielagenturen und Besetzungsbüros für Film- und Fernsehproduktionen werden die Großen, Dicken und Nichttrainierten sorgsam aussortiert. Zwischendurch ruft Lorff wenigstens mal an. »Sind Sie weitergekommen?« »Sechs kleinwüchsige Dirnensöhne haben wir ausgegraben«, berichtet Trimmel. »Drei davon sind Zuhälter, einer ist Dieb, einer Boxer, und einer hat’s sogar weiter gebracht – er ist Kneipier in Wandsbek. Drei Manisch-Depressive, die zunächst in Frage kamen, scheiden aus, weil sie zu den kritischen Zeiten stationär in Behandlung waren. Und all die Tänzer und Schauspieler, die wir uns angesehen haben… irgendeine Beziehung zu Sankt Pauli haben sie komischerweise alle, sobald man sie antippt, auch wenn sie schwul sind…« »Ich habe Ihnen nie was Konkretes versprochen, Herr Trimmel!« erinnert Lorff. »Aber ich bitte Sie«, sagt Trimmel heuchlerisch, »wenn ich an die zweihundertachtundvierzig Sittenstrolche denk’, die wir vorher überholt haben, die siebenhundertzwei Strichmiezen mit Freiern und Zuhältern, da fällt das doch kaum ins Gewicht… aber mal zu Ihnen, Doktor – sind wenigstens Sie noch auf Ihrem Hysterikerdampfer?« Diesmal zögert Lorff, wenngleich nur zwei oder drei Sekunden. »Es würde mir schrecklich leid tun, wenn ich mich geirrt hätte… Doch, ja, ich stehe dazu!«
Es herrscht Kaiserwetter in diesem Sommer, der dem Kalender nach noch gar kein Sommer ist – auch die Nächte sind klar, selten durch eine weiße Wolke getrübt, geschweige denn eine graue, und den bereits wieder ziemlich dicken Mond kann man
einfach nicht ignorieren. Vollmond ist am 31. Mai, einem Sonnabend, und am 30. Mai richtet Petersen eine vor lauter Harmlosigkeit verdächtige Frage an Trimmel: »Gehen Sie morgen abend wieder in die Eilenau?« »Spar dir deine Sprüche«, murrt Trimmel. »Morgen abend geh’ ich nicht in die Eilenau!« »Wohin gehen Sie denn sonst?« Und dann spricht, im ersten Moment zumindest, effektiv der reine Ärger aus Trimmel, als er antwortet: »Morgen abend geh’ ich auf ‘n Fischmarkt!« Von dort sind mittlerweile, bis auf die sozusagen normalen Kontrollen, auch die Zivilstreifen abgezogen worden; wenn die Mordkommission sich da also tummeln will, hat sie freie Bahn. Und sie tummelt sich, wenigstens ihr harter Kern – Petersen, Laumen, Krombach und neuerdings Hellmann. Sie können Trimmel schließlich nicht mit den Nutten allein lassen, und so lassen sie von sich aus, wenn auch zähneknirschend, ihre freie Zeit sausen und gehen auf den Strich. Petersen hat zwei unauffällige Funkwagen organisiert, einen dunkelgrünen Opel und einen schwarzen Passat. Er selbst setzt sich in den Opel, mit Trimmel als Beifahrer, und Krombach und Hellmann fahren den zweiten Wagen. Laumen hat sich halbhohe Stiefel angezogen und mischt sich zu Fuß unter das lüsterne Volk, wobei er, wenn er ein echter Freier wäre, kaum eine Chance hätte – es sei denn bei den direkten Nachfolgerinnen von Leni Bertram, Annette Glück, Beate Greisberg und Elvira Dunkel, die ja autark sind und ihre Kunden mit aufs Zimmer nehmen. Um 21.01 Uhr biegt der grüne Opel von der St.-PauliHafenstraße links ab zum Fischmarkt. Petersen hat beide Beine von den Pedalen genommen und läßt ihn auf der leicht abschüssigen Straße einfach rollen.
Zwei Minuten später rollt der Passat gemächlich die Pepermühlenbek und die Schlachterbuden entlang. Laumen lungert um 21.06 Uhr am Kühlhaus herum – am Anfang der Großen Elbstraße in Richtung Oevelgönne. Krombach biegt am Ende der Schlachterbuden links ab… er fährt so langsam, daß sogar sein zweiter Gang leise klingelt, und er stoppt in der Höhe der Treppe zum Pinnasberg, westlich des Hauptzollamts. Eine Fregatte von Mädchen segelt von der anderen Straßenseite sacht herüber, scheinbar völlig ohne Absicht, wirft ebenso absichtslos eine glühende Zigarettenkippe über den Wagen und bückt sich nach ihrem Schnürsenkel beziehungsweise der Schuhschnalle; ein im milden Mondlicht aufreizend weiß schimmernder knapper Slip spannt sich über das dem Wagen zugewendete üppige Hinterteil der Dame, und als sie sich wieder aufrichtet, macht sie dennoch ein Gesicht voller Unschuld. Krombach kurbelt die Scheibe herunter. »Hast du eine Zigarette?« fragt das Strichmädchen. »Wir sind zu zweit…«, sagt Krombach. »Und?« »Wir sind Freunde…« Wieder bückt sie sich, diesmal zum Auto hin. Als sie hochkommt, hat sie sich entschlossen und stiefelt ohne ein weiteres Wort wieder davon. Trimmel im anderen Wagen hat die Szene beobachtet. »Meinst du nicht«, fragt er Petersen, »daß wir die falsche Schlachtordnung haben?« »Was heißt Schlachtordnung?« fragt Petersen. Er ruft Hellmann über Funk. »Warum habt ihr die verjagt?« »Die stand nicht auf Gruppensex«, sagt Hellmann. Krombach fährt weiter, erst mal in Richtung Landungsbrücken, aus dem Revier heraus. Trimmel sagt: »Ich steig’ mal aus!«
Laumen, immer noch im Kühlhausschatten, hat inzwischen ohne sein Zutun so dicht an einem Peugeot stehen müssen, in dem ein ›Geschäft‹ abgewickelt wurde, daß er sich sofort nach der Abfahrt des Wagens eine Zigarette anzündet und den Rauch tief inhaliert. Petersen ruft nochmals Hellmann. »Wohin wollt ihr? Wo seid ihr überhaupt?« »Wir drehen gerade«, sagt Hellmann. »Fahren dann mal hoch Richtung Pinnasberg!« »Paßt auf Trimmel auf, der läuft da zu Fuß rum!« Hellmann kichert. »Meinst du, wir mangeln ihn über?« Laumen ruft; diese neuen Walkie-Talkies sind endlich funktionsfähig. »Hörst du mich, Petersen?« »Schrei nicht so!« sagt Petersen. »Ich glaub’, von uns nimmt hier keiner ‘n Stück Brot«, sagt Laumen. »Also ich schlag’ vor, ihr mit euren Flitzern verteilt euch mal vorsichtig auf die Große Elbstraße. Irgendwo dahinten an der Hafenmühle oder am Seemannsheim. Macht die Scheinwerfer aus…« »Und du?« »Ich bleib’ hier!« »Ja, wieso?« fragt Hellmann, der sich vom Pinnasberg eingeschaltet hat. Laumen: »Glaubst du, da dreht jemand ‘n Ding, wenn ihr dauernd zuguckt?« Also, sie fahren auf die Große Elbstraße. Petersen steigt aus und entdeckt Trimmel in der Nähe der Wasserschutzpolizei, jenseits der Fischhalle. »Einsteigen!« sagt er. »Warum?« »Hat Laumen angeordnet…« »Gib mal her…« Trimmel nimmt sich Petersens WalkieTalkie und fragt Laumen: »Was soll das?«
»Ich kann jetzt nicht sprechen…«, sagt Laumen – so leise, daß man’s kaum versteht. »Der macht doch bloß ‘ne Schau!« knurrt Trimmel. Immerhin, er geht mit Petersen zurück zum Opel. Laumen meldet sich erst wieder, als Krombach und Hellmann bereits in einem Lagerhaus-Schlagschatten auf der Lauer liegen und Trimmel und Petersen das Pissoir am Zugang zu den Altonaer Landungsbrücken passieren. »So, jetzt geht’s wieder… ich wollt’ vorher ‘ner Dame das Geschäft nicht versauen… Also, ich meine folgendes: Da unten am Fischmarkt selber passiert bestimmt nichts; wenn schon, dann passiert’s hier westlich von mir. Diese Elbstraße, diese ganze Strecke vom Fischmarkt bis Oevelgönne, ist viel zu lang, das wird einem erst klar, wenn man nachts da mal länger rumsteht. Über die ganze Strecke kannste da eben doch keinen mit ‘ner Schlinge am Hals langtreiben, sondern höchstens im Auto transportieren, so weit es geht. Auf der andern Seite, am Fischmarkt selber kannste bestimmt keinen einfangen und ins Auto laden – das kann erst da passieren, wo ich jetzt steh…« »Alles Fickfack!« sagt Trimmel. Und trotzdem passiert’s, etwa vierzig Minuten später. Nur Laumen hört den Schrei, der so spitz ist wie eine Nadel und auch so dünn. Vierzig oder fünfzig Meter von ihm entfernt ist gerade ein Auto weggefahren, das zehn Minuten vorher gekommen war; da muß also der Freier allein weggefahren und die Nutte dageblieben sein… Laumen sprintet los, aus seinem Schatten heraus quer über eine Mondlichtung zum nächsten Schatten… Jetzt hört er auch das: Da keucht jemand; irgendwas poltert, eine Autotür knallt zu, und fast im selben Moment gehen die Scheinwerfer an. Reifen quietschen, weil sie beim Anfahren durchdrehen…
Laumen bleibt stehen, und der Wagen rast an ihm vorbei auf die Elbstraße in Richtung Westen und Oevelgönne. »Simca oder Fiat!« schreit Laumen in sein Gerät. »Das isser, der hat ‘ne… Meeensch, paß auf!« Dann dreht er sich auf dem Absatz rum und rast los, als ob er den Fiat oder Simca noch einholen könnte.
Petersen hat sofort den Motor gestartet und sieht den Wagen kommen. Er fährt los, ist eine Weile auf gleicher Höhe, zieht mit seinem frisierten Motor leicht an ihm vorbei und drängt ihn gegen den Schuppen auf der linken Seite. Der andere macht eine Vollbremsung, dreht mit seinem Heck zuerst fast auf der Stelle, rast stadteinwärts zurück… er ist hundert Meter weiter, als Petersen endlich wieder so weit ist, daß er ihn verfolgen kann. Trimmel in Petersens Wagen hat plötzlich tatsächlich eine Pistole in der Hand, kurbelt die Scheibe runter, hängt sich raus in den Fahrtwind und gebärdet sich wie ein Sheriff in Oklahoma.
Krombach am Steuer des schwarzen Passat geht aufs Ganze und fährt dem anderen so knapp vor den Bug, daß der nur noch das Steuer rumreißen kann, ins Schleudern gerät und plötzlich mit der Schnauze wieder nach Westen zeigt. Und von dort kommt Petersen, und nun sitzt er in der Falle: Er kann hier nicht mal in die Elbe fahren. Flitzen jedoch – flitzen kann er immer noch. Ein Mensch springt heraus, und wenn er nach links flitzt, gerät er zwischen die Polizisten und die Elbe und kann am besten sofort die Hände hochnehmen. Er aber flitzt nach rechts… bergauf, Richtung Altona.
»Bleib stehen!« schreit Krombach. Hellmann schießt gezielt hinter dem Menschen her, aber das erste wie das zweite Mal daneben. Der Schnellste ist Petersen, und der hat leider die falsche Richtung gewählt… Die Gestalt ist entkommen. Als Laumen keuchend bei Trimmel eintrifft, hat der gerade einem Mädchen in dem stehengelassenen Wagen eine Halsfessel abgenommen, das heißt, mit seinem Taschenmesser zerschnitten; anders war’s nicht möglich, denn das Ding war total eingerastet. Das Mädchen liegt mit verrutschten Kleidern anscheinend bewußtlos auf den Vordersitzen, aber es lebt. Der Wagen ist tatsächlich ein Fiat, ein uralter, mausgrauer 124er. »Sieh dir das an!« sagt Trimmel. Laumen nimmt die durchgeschnittene Halsfessel in die Hand, vorsichtig, mit ganz spitzen Fingern: eine Schlinge aus einem zentimeterbreiten stabilen Nylonstreifen, insgesamt ziemlich lang, vorn sechzig oder siebzig Zentimeter lang mit zahllosen Widerhaken versehen, die man durch eine Öse steckt. Die vergrößerte Ausgabe eines Schnellverschlusses, den man zur Zeit in Kaufhäusern als Verpackungshilfe bekommt… durch die Öse gesteckt, zugezogen, rastet ein, sitzt… »Läßt sich jederzeit strammer machen«, sagt Laumen entgeistert, »ganz einfach…« Er keucht noch von seinem vergeblichen Zwischenspurt. »Schreckliches Ding!« sagt Trimmel, das Ohr an der Brust des Mädchens. »…aber nicht lockern!« keucht Laumen. Endlich, immerhin, stellt auch er sich vor, wie der Mörder seine Opfer in der Schlinge zur Hinrichtung treibt und ihnen nur das Nötigste an Atem läßt.
Das überfallene Mädchen atmet flach, aber wieder regelmäßig. Trimmel richtet sich auf. »Muß er auch nicht können. Muß nur drauf achten, daß Adern und Kehlkopf frei sind. Das Ding in sich ist ja elastisch… außer an Adern und Kehlkopf kann’s ja ruhig spannen…« »Also praktisch am Kehlkopf den Daumen durchstecken… Dazwischenhauen?« »Ja, praktisch…«, sagt Trimmel. »So ‘n bestialisches Ding hab’ ich noch nie gesehen!«
Nach und nach jagen alle erreichbaren Hamburger Streifenwagen im Raum Altona – St. Pauli einen zierlichen Mann in einer vermutlich dunkelbraunen Wildlederjacke – einen vierfachen, fast fünffachen Mörder. Im Hafenkrankenhaus stehen Trimmel und Petersen neben dem Mädchen, das nur zufällig noch lebt, aber schon im Notarztwagen wieder zu sich gekommen ist. »Können Sie diesen Schlingenmann näher beschreiben?« fragt Trimmel. Nichts kann sie beschreiben. Und reden kann sie nur krächzend und mit größter Mühe; immerhin, in Gegenwart des Arztes flüstert sie unter dem Schock wie ein Buch. »Ich bin da aus dem Auto von meinem Freier ausgestiegen, als ich fertig war, der wollte mich noch zurückfahren, aber ich sag nö, so schön war er nämlich nicht, also ich steig’ aus, und er fährt weg, und auf einmal spür’ ich was am Hals und bin fast sofort weggetreten…« Blitzartig, denkt Trimmel. Das Klischee paßt. Sie heißt Grete Schuh, und eine Schwester hat ihr die goldenen Haare auf die Kissen gelegt; wenn man hier im Halbdunkel nicht zu genau hinsieht, wirkt sie wie ein Engel von Botticelli.
»Er hat keinen Ton gesagt?« fragt Petersen. »Nö – kein Wort!« flüstert Grete Schuh. »Ich hätt’ noch als Leiche geglaubt, mich hätt’ der Blitz erschlagen!« Eine gewisse Lori Wismar, wohnhaft an der Rutschbahn in Harvestehude, Fischmarkt, nicht allzu weit von St. Pauli, meldet telefonisch den Diebstahl ihres grauen Fiat 124. Rascher Nummernvergleich: Es ist der Tatwagen! Lori Wismar ist sehr aufgeregt; sie braucht den Wagen dringend. »Sie kriegen ihn bald wieder!« sagt die Polizei in der Sedanstraße am Telefon beruhigend. »Aber kommen Sie erst mal her und erstatten Anzeige! Und bringen Sie Ihre Papiere mit!«
Das Geschäft mit der käuflichen Liebe im Fischmarktrevier ist in dieser Nacht Knall auf Fall entschlafen, sobald die Sache sich rumgesprochen hatte, und tun ein Uhr früh wird die Ringfahndung abgeblasen – ohne jedes Ergebnis; nicht mal eine Fußspur konnte sichergestellt werden. In der Zwischenzeit hat Trimmel Zeit gefunden, Dr. Lorff anzurufen; der war natürlich noch wach und sitzt jetzt neben ihm im Präsidium. »War ja gut«, meint Trimmel, »daß ich vor dem Vollmond immer noch Manschetten hatte!« Lorff nickt. »Ich hätte nie gedacht, daß der die Täuschung derart auf den Punkt treibt… daß er’s tatsächlich noch mal bei Vollmond versucht!« »Sind Sie sich da immer noch sicher?« fragt Trimmel. »Mehr denn je!« sagt er mit Nachdruck. Trimmel sagt, momentan unter vier Augen: »Sie müßten nicht mit Gewalt so stur sein – vom Mond abgesehen gibt’s jede Menge Punkte, wo Sie recht hatten…«
»Ich bin doch nicht rechthaberisch!« sagt Lorff kopfschüttelnd, »ich bitte Sie! Im Augenblick bin ich allerdings…« Er stockt, denn die Tür ist aufgegangen, und Petersen ist ins Zimmer gekommen. Sowie hinter ihm ein Mann, den er noch nicht kennt und der ihm als Hellmann vorgestellt wird. »In einem Punkt hatten Sie ja zweihundertprozentig recht«, sagt Petersen, »mit dem unauffälligen Auto… selbst wenn wir davon ausgehen, daß er diesen Fiat geklaut hat…« »Eben«, sagt Trimmel, »wahrscheinlich hat er ja immer solche alten Gurken geklaut! Wir werden mal alle Autodiebstähle überprüfen, die sich an den Mordtagen ereignet haben – vielleicht bringt das auch noch was!« »Außerdem diese… diese Tänzerfigur«, sagt Petersen, »ich hab’ den Mann ja laufen sehen im Mondlicht – und klein war er auch, das kann ich schwören… Alles genau so, wie Sie’s beschrieben hatten!« »Ja, ja, lange blonde Haare…«, sagt Hellmann, »darauf hab’ ich gezielt, als ich auf ihn geschossen hab’ – ‘n Stück tiefer natürlich, aber…« Er hört mitten im Satz auf und hat plötzlich einen seltsam leeren Blick. »Na ja«, sagt Trimmel, »auch wenn er uns im Moment ja noch durch die Lappen gegangen ist, wir haben jedenfalls viel mehr in der Hand als vorher!« »Ganz klein ist er…«, sagt Hellmann selbstvergessen. Seinen Stuhl hat er näher an die Wand gerückt, seine linke Hand in der Tasche vergraben, die rechte um ein zusammengerolltes Blatt Papier gekrallt, die Beine gegrätscht und weit von sich gestreckt. Er fixiert dabei unverwandt den Psychiater – sein Blick allerdings scheint mittlerweile direkt aus dem Jenseits zu kommen. »Was hast du da eigentlich für’n Formular?« will Trimmel wissen.
Hellmann hört’s zunächst gar nicht. »He«, sagt Trimmel. Da erschrickt er sich, zieht die Beine an und sagt: »Formular… Ach so, nur ‘ne Kopie von der Autodiebstahlsanzeige! Das… das Mädchen, dem der Fiat gehört, heißt Lori Wismar… Ich war dabei, als sie der auf der Revierwache in der Sedanstraße ‘n paar Routinefragen gestellt und die Fingerabdrücke abgenommen haben…« »Wieso werden der denn die Fingerabdrücke abgenommen?« erkundigt sich Lorff. »Ja, wieso nicht?« fragt Hellmann zurück. »Ihre Abdrücke sind ja sowieso in dem Auto«, erklärt Trimmel, »und wenn da jetzt nach Täterabdrücken gesucht wird, müssen ihre ja ausscheiden.« Er wendet sich an Hellmann. »Ist es denn tatsächlich ihr Auto?« »Doch, doch, ihre Zulassung hab’ ich selbst in der Hand gehabt!« Dann starrt Hellmann wieder Lorff an, und man könnte meinen, er habe keinen anderen Halt mehr auf dieser Welt. Es ist nach vier Uhr morgens mittlerweile und schon ziemlich hell; er bleibt einfach sitzen, als die anderen für zwei, drei Stunden nach Hause gehen. »Traust du dich nicht?« fragt Trimmel. Hellmann zuckt die Achseln. »Bis ich hin und wieder zurück bin – da bleib ich besser gleich hier!«
Das Altonaer Bezirksjugendamt in der Mörkenstraße, hinter dem alten israelitischen Friedhof, öffnet um acht, und der Kriminalbeamte Hans Hellmann ist schon um zehn vor acht da. Er hat – spät, aber nicht zu spät – Trimmels Lorff-Bericht an die Staatsanwaltschaft gelesen, und dann hat er sich mit einem Taxi herbringen lassen, weil er sich sogar zu groggy zum
Fahren fühlt; jetzt allerdings wundert er sich, daß hier anscheinend gar nichts passiert. Effektiv erst um fünf nach acht dämmert’s ihm… heute ist Sonntag! Da lacht er laut und albern vor sich hin, und eine ältere Frau auf dem Weg zur Kirche schlägt ein Kreuz sowie einen Bogen bis zum anderen Trottoir. Hellmann war oft hier draußen, und er kennt die Sachbearbeiter und weiß überdies, für welche Sachgebiete und Buchstaben sie im einzelnen zuständig sind. Er geht zur nächsten Telefonzelle, klingelt den Mann, den er braucht, aus dem Bett, und vor allem macht er’s ganz dringend: Erst brummt der Mann, dann ist er Feuer und Flamme und sagt zu, daß er in gut zwanzig Minuten da ist. Als er kommt, sitzt Hans Hellmann wie ein Penner auf dem Bordstein und schnarcht. Der eine Beamte muß den anderen Beamten erst wachrütteln und sagt dabei mitfühlend: »Ihr habt ja manchmal auch ‘n Scheißjob!« Hellmann gähnt herzzerreißend. »Heute nacht hab’ ich sogar geschossen…« »Tot?« fragt der Mann verschreckt. »Leider nicht«, sagt Hellmann brutal. »Los jetzt!« Auf dem Weg zum Aktenraum fragt der Mann vom Jugendamt mit immer größerer Spannung: »Wo genau suchen wir denn heute?« Er schließt den Raum auf und deutet einladend auf seine mit Ordnern vollgestopften Regale. »Eine einzige Akte«, meint Hellmann. Und weil er hier längst Bescheid weiß, sucht er sie sich selbst.
Das Kind, steht in dieser Akte, hat wahr und wahrhaftig eine Dirne zur Mutter, und es ist in der Unterkunft der Mutter in der Kastanienallee geboren worden – mit Hebammenhilfe, denn
für einen Krankenwagen war es zu spät. Die Mutter hat in den folgenden Jahren schwer und hart am Hans-Albers-Platz angeschafft und immer alles für ihr Kind pünktlich bezahlt, wenn was fällig war – bloß besucht hat sie es selten, und das wurde damals schon vom Jugendamt erheblich bedauert. Die Mutter hat das Kind nämlich früh in ein Heim gegeben – und sie hatte auch schon sehr zeitig die Genehmigung zur Adoption erteilt, die dann allerdings dreimal mißglückt ist, aus welchen Gründen immer. In einem Umschlag in der Akte steckt noch ein Schwarzweißfoto, mindestens zehn Jahre alt, aber unverkennbar. Ein bißchen stumpf die Nase, ein bißchen breit der Mund, sonst ein geradezu klassisches Profil, hier im Halbprofil gezeigt. Das herangewachsene Kind hat seltsam glänzende dunkle Augen zum kurzgeschnittenen dunklen Haar; das sieht man selbst auf dem amtlichen Bild. Eine Art Steckbrief, ausgestellt zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind aus der Obhut des Jugendamtes entlassen wurde: normale bis gute schulische Leistungen, unauffällige körperliche Entwicklung, eine anstellig und glatt beendete Lehre in einem Büro, Ziel: Bürokaufmann… und die Größe, neben anderen Daten: 1,64 Meter! Ganz zum Schluß der Akte noch eine handschriftliche Notiz von einer Frau – ein Mann hätte das nie so schreiben können, denkt Hellmann. Dienstlich wurde in Erfahrung gebracht, daß unser Schützling den schauspielerischen Beruf ergriffen und angeblich sogar schon ein Engagement hat. »Es stimmt alles!« murmelt Hellmann fassungslos. »Gespenstisch…« Und tatsächlich sturheil und schwarzweiß. Um elf etwa verläßt er das Amt, geht bis zur Reeperbahn zu Fuß und heuert wieder ein Taxi an. »Rutschbahn!« sagt er.
Es geht zu Ende. In der Rutschbahn ist niemand zu Hause, und Hellmann gerät bloß deshalb nicht in Panik, weil er es sich körperlich derzeit gar nicht leisten kann. Er erkundigt sich bei den Nachbarn, hat sein Taxi Gott sei Dank warten lassen und fährt weiter zum Werner-Krauss-Theater. Da gerät er durch den Bühneneingang in eine Probe. Leise und so unauffällig wie möglich setzt er sich außen in einer der vorderen Reihen neben einen Mann, der ihn, deutlich erkennbar, mit gerunzelter Stirn ansieht, aber nichts sagt. »Ach, weißt du, ich bin es leid, mich von meiner Unschuld noch lange tyrannisieren zu lassen!« sagt das Mädchen auf der Bühne; langes, blondes Haar fällt über die Schultern auf ein raffiniert ausgeschnittenes Neglige. Der Partner, ein dunkellockiger Jüngling mit nacktem Oberkörper, sagt seinen Part selbst für Hellmanns Kunstverständnis noch etwas hölzern auf: »Ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet ich da die Werkzeuge des Schicksals besitzen soll…« »Stop!« schreit ein Mann in der ersten Reihe, offensichtlich der Regisseur. »Mensch, ihr bumst doch gleich… da muß doch Geilheit über die Rampe kommen!« Das Mädchen mault: »Der macht mich aber nicht geil! Können wir nicht mal Pause machen?« »Zehn Minuten!« sagt der Regisseur wütend, und die Lichter im Saal gehen an. Die Schauspieler verschwinden. »Bringen Sie mich sofort zur Garderobe!« sagt Hellmann zu dem Mann neben ihm. »Hier, Polizei…« Der Mann guckt entsetzt auf die Marke, nickt und geht voran. »Dort…«, sagt er und haut ab um die nächste Ecke – zum Regisseur vermutlich oder gleich zur Intendanz. Hellmann tritt ein, ohne anzuklopfen. Das Mädchen schwitzt und hat noch weniger an als auf der Bühne, nämlich nur noch
ein Nachthemd; es zieht sich die blonde Perücke vom Kopf, und ihre Blicke treffen sich im Spiegel. »Was wollen Sie?« fragt das Mädchen. »Lori Wismar…«, sagt Hans Hellmann. »Kennen Sie mich denn nicht mehr? Gestern abend…« Sie dreht sich um und erhebt sich zu ihrer ganzen Größe von einsvierundsechzig. Sie ist ziemlich flach um die Brust, schmal wie eine Tänzerin – sie fährt sich nervös durch ihr kurzes, dunkles Naturhaar, das sie auch gestern abend trug. »Ah ja, richtig…« »Sie sind eine irre Schauspielerin!« sagt Hellmann; trotzdem, es klingt nicht gerade wie von einem Fan. »So?« sagt sie. »Haben Sie sich die Probe angesehen? Nicht gerade das reifste Stück, aber…« »Die Probe«, sagt Hellmann, »hab’ ich leider bloß noch ein paar Minuten mitgekriegt…« »Ach so!« sagt sie, jäh ernüchtert. »Sie, hauen Sie ab! Privatvorstellungen können Sie bei mir gar nicht bezahlen!« Hellmann schüttelt den Kopf. »Ich meine die Vorstellung in der Sedanstraße, bei der Polizei… Sie haben mich fast überzeugt…« »Wovon reden Sie eigentlich?« fragt sie lauernd. »Daß Sie da die schauspielerische Chuzpe besitzen und Ihr Auto als gestohlen melden…« »Was soll das?« Er deutet auf die Perücke. »Wir haben mal irgendwo ‘n langes blondes Haar ohne Wurzel gefunden, und keiner ist auf die Idee gekommen, daß es von ‘ner Perücke stammen könnte… Wetten, daß Sie die abends öfter mal mitnehmen?« »Junge «, sagt sie ordinär, »zisch ab! Oder willst du vielleicht doch…« Sie schaut an sich herunter, überlegt, anscheinend, ob’s was bringt, wenn sie das Nachthemd auszieht, läßt’s dann aber sein – mit einer hoffnungslosen Geste.
»Ihr kurzes dunkles Haar«, sagt Hellmann, »das ist doch geradezu ideal für jemand, der öfter ‘ne Perücke tragen muß… Na ja. Ziehn Sie sich an und kommen Sie mit. Wegen Ihrer Fischmarktgeschichten… fast wär’n Sie ja wieder durchgekommen mit Ihren Tricks. Ihren Fiat als geklaut melden, wirklich, sag’ ich Ihnen, echt nicht zu fassen… wenn ich nicht auf der Wache gewesen wär’ und mein Kumpel mich nicht noch mal daran erinnert hätt’, daß es ‘n zierlicher kleiner Täter gewesen wär’…« Die Tür fliegt auf, und der Regisseur steht im Rahmen; ein schmales Handtuch, ein Bündel Wut. »Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?« schreit er los. »Kriminalpolizei!« sagt Hellmann. »Ja und?« Er kommt näher. »Ist das n’ Grund?« Hellmann muß ihn abschütteln – und dann flitzt Lori Wismar plötzlich wie ein Schatten an ihm vorbei und nach draußen. Er stößt den Regisseur rücksichtslos zur Seite und rennt hinterher… kurz vor dem Ausgang hat er sie erreicht, und dann kreischt und spuckt sie und wehrt sich und zerkratzt ihm mit wenigen Strichen total das Gesicht. »Hör auf!« schreit Hellmann. »Hör auf, du Biest!« Plötzlich gehorcht sie. Sackt zusammen, ehe er sie greifen kann, liegt in ihrem zerrissenen Nachthemd auf dem Terrazzo und schluchzt hysterisch – eine reife Leistung, in dem Theater, in dem sie spielt… Die Theaterleute, die zunächst helfen wollten, stehen verstört zusammen. Hellmann, über dem Mädchen, fischt einen Zettel aus der Jacke, kritzelt die Privatnummer Trimmels und die Dienstdurchwahl auch noch hin und winkt dem Menschen, der ihn zur Garderobe gebracht hat. »Rufen Sie da an! Der Mann soll sofort herkommen!« Der Mensch verschwindet. Selbst der Regisseur hält die Klappe.
Und Lori Wismar wird ganz still. Sie hat sich so zusammengekrümmt, daß Hellmann für einen Moment schaudernd wegsehen muß. So, wie sie da liegt, sieht Lori Wismar auf entsetzliche Weise aus wie ihr letztes Opfer Elvira Dunkel.