Reinhard Kühnl (Hrsg.)
Streit ums Geschichtsbild Die »Historiker-Debatte« Darstellung, Dokumentation, Kritik
Pahl-Rug...
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Reinhard Kühnl (Hrsg.)
Streit ums Geschichtsbild Die »Historiker-Debatte« Darstellung, Dokumentation, Kritik
Pahl-Rugenstein
© 1987 by Pahl-Rugenstein Verlag G m b H , Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Willi H o l z e l / A n d r e a s Tsordanidis T i t e l f o t o : Michael M e y b o r g Satz: Fotosatz Klaußner G m b H , Köln D r u c k : Locher G m b H , Köln C I P - K u r z t i t e l a u f n a h m e der D e u t s c h e n Bibliothek Streit u m s Geschichtsbild : d. »Historiker-Debatte« ; Darst., D o k u m e n t a t i o n , Kritik / Reinhard Kühnl (Hrsg.). - Köln : Pahl-Rugenstein, 1987. (Kleine Bibliothek ; 481 : Politik und Zeitgeschichte) I S B N 3-7609-1188-9 N E : Kühnl, Reinhard [ H r s g . ] ; G T
Inhalt
Verzeichnis der Dokumente
6
Vorwort des Herausgebers
13
Dokumentation Broszat, Brügel, Brumlik, Claussen, Fest, Fülberth, Galinski, Gillessen, Grab, Habermas, Hildebrand, Hillgruber, Hoffmann, Hörster-Philipps, Jäckel, Kocka, Kohl, Lübbe, Meier, H. Mommsen, W. J. Mommsen, Nipperdey, Nolte, Pätzold, Pereis, Pietrow, Reißmüller, Schirrmacher, Stürmer, Ueberschär, Winkler
14
Reinhard Kühnl Ein Kampf um das Geschichtsbild: Voraussetzungen - Verlauf - Bilanz
200
Kurt Gossweiler N u r eine Historikerdebatte?
292
Arno Klönne Historiker-Debatte und »Kulturrevolution von rechts«
317
Verzeichnis der Dokumente
1. Hermann Lübbe Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt FAZ v. 24. Ol. 83
14
2. Andreas Hillgruber Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen J u d e n t u m s . Köln: C o r s o bei Siedler 1986. (S. 1 3 - 7 4 )
19
3. Hans Mommsen Die Last der Vergangenheit wird weitgehend ausgeklammert. FR v. 08. 04. 86
27
4. Michael Stürmer Geschichte in geschichtslosem Land. FAZ v. 25. 04. 86
30
5. Ernst Nolte Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. FAZ v. 06. 06. 86
32
6. Christian Meier Verurteilen und Verstehen. An einem Wendepunkt deutscher Geschichtserinnerung. FAZ v. 28. 06. 86
37
7. Jürgen Habermas Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. DIE ZEIT v. 11. 07. 86
42
8. Frank Schirrmacher Aufklärung? H a b e r m a s und die Geschichte. FAZ v. 11. 07. 86
51
9. Michael Brumlik N e u e r Staatsmythos Ostfront. Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der BRD. taz v. 12. 07. 86
53
10. Klaus Hildebrand Das Zeitalter der Tyrannen. Geschichte und Politik: Die Verwalter der Aufklärung, das Risiko der Wissenschaft und die Geborgenheit der Weltanschauung. FAZ v. 31. 07. 86
56
11. Jürgen Habermas Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein. FAZ v. 11. 08. 86 (Leserbrief)
61
12. Michael Stürmer Eine Anklage, die sich selbst ihre Belege fabriziert. FAZ v. 16. 08. 86 (Leserbrief)
63
13. Günther Gillessen Der Krieg der Diktatoren. Wollte Stalin im Sommer 1941 das Deutsche Reich angreifen? FAZ v. 20. 08. 86
65
14. Joachim C. Fest Die geschuldete Erinnerung. Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen. FAZ v. 29. 08. 86
68
15. Bianka Pietrow Offensive Militärkonzeption. FAZ v. 03. 09. 86 (Leserbrief)
75
16. Eberhard Jäckel Die elende Praxis der Untersteller. Das Einmalige der nationalsozialistischen Verbrechen läßt sich nicht leugnen. DIE ZEIT v. 12.09. 86
76
17. Hans Mommsen Suche nach der »verlorenen Geschichte« ? Bemerkungen z u m historischen Selbstverständnis der Bundesrepublik. M e r k u r 451-52 (Sept./Okt.) 1986. (S. 8 6 4 - 8 7 4 )
80
18. Jürgen Kocka Hitler sollte nicht durch Stalin und Pol Pot verdrängt werden. Ü b e r Versuche deutscher Historiker, die Ungeheuerlichkeit von NS-Verbrechen zu relativieren. F R v. 23. 09. 86
87
19. Georg Fülberth Ein Philosoph blamiert die Historiker. DVZ/die tat v. 26. 09. 86
92
20. Hans Mommsen Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus. Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10/ 1986 (S. 1200-1213)
95
21. Helmut Kohl Selbstbestimmung - wie jedes Volk der Erde. DIE WELT v. 01. 10. 86 (interviewt durch A. Hillgruber)
105
22. Martin Broszat Wo sich die Geister scheiden. Die Beschwörung der Geschichte taugt nicht als nationaler Religionsersatz. DIE ZEIT v. 03. 10. 86
108
23. Christian Meier Gesucht: Ein modus vivendi mit uns selbst. Rheinischer Merkur/Christ und Welt v. 10. 10. 86
111
24. Joachim Hoffmann Stalin wollte den Krieg. FAZ v. 16. 10. 86 (Leserbrief)
116
25. Thomas Nipperdey Unter der Herrschaft des Verdachts. Wissenschaftliche Aussagen dürfen nicht an ihrer politischen Funktion gemessen werden. DIE ZEIT v. 24. 10. 86
120
26. Gerd R. Ueberschär Hitler, nicht Stalin w a r der Aggressor. FAZ v. 31. 10. 86 (Leserbrief)
123
27. Johann Wolfgang Brügel Erstaunliche Behauptungen. FAZ v. 31. 10. 86 (Leserbrief)
125
28. Ernst Nolte Die Sache auf den Kopf gestellt. Gegen den negativen Nationalismus in der Geschichtsbetrachtung. DIE ZEIT v. 31. 10. 86
126
29. Andreas Hillgruber Für die Forschung gibt es kein Frageverbot. Rheinischer Merkur/Christ und Welt v. 31. 10. 86
131
30. Jürgen Habermas Vom öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf. DIE ZEIT v. 07. 11. 86
134
31. Bianka Pietrow Stalins Politik bis 1941. FAZ v. 13. 11. 86 (Leserbrief)
140
32. Johann Georg Reißmüller Verschwiegene Zeitgeschichte. FAZ v. 14. 11. 86
144
33. Heinrich August Winkler Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen. F R v. 14. 11. 86
146
34. Kein Zum FAZ
150
Christian Meier Schlußwort Streit um die NS-Vergangenheit. v. 20. 11. 86
35. Klaus Hildebrand Wer dem A b g r u n d entrinnen will, muß ihn aufs genaueste ausloten. Ist die neue deutsche Geschichtsschreibung revisionistisch? DIE WELT v. 22. 11. 86
156
36. Andreas Hillgruber So schwer nachzuvollziehen? FAZ v. 29. 11. 86 (Leserbrief)
163
37. Wolfgang J. Mommsen Weder leugnen noch vergessen befreit von der Vergangenheit. W. J. M o m m s e n über die Deutschen und ihre Nation. F R v. 01. 12. 86
163
38. Kurt Pätzold Von Verlorenem, G e w o n n e n e m und Erstrebtem oder: Wohin der »neue Revisionismus« steuert. Blätter f ü r deutsche und internationale Politik, Heft 12/ 1986 (S. 1452-1463)
169
39. Ulrike Hörster-Philipps Kernfrage des bundesdeutschen Historikerstreits. DVZ/die tat v. 12. 12. 86
178
40. Joachim Pereis Wer sich verweigerte, ließ das eigene Land im Stich. In der Historiker-Debatte w i r d auch der Widerstand u m bewertet. FR v. 27. 12. 86
182
41. Heinz Galinski Beweiszwang für die Opfer, Freispruch für die Täter. Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/ 1987. (S. 2 0 - 2 4 )
185
42. Detlev Claussen U b e r »nationale Identität«, über Indifferenz derGefühle. Deutschland - ein Phönix aus der Asche? Zum Historikerstreit um die identitätsstiftende Kraft der Geschichte. Streitgespräche und Essays, zusammengestellt von Lothar Fend und Brigitte Granzow, Samstagabend in W D R 3, Westdeutscher R u n d f u n k , 3. H ö r f u n k p r o g r a m m , 3. 1. 1987
186
43. Kurt Pätzold Wo der Weg nach Auschwitz begann. Der deutsche Antisemitismus und der Massenmord an den europäischen Juden. Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/ 1987 (S. 1 6 0 - 1 7 2 )
191
44. Walter Grab Kritische Bemerkungen zur nationalen Apologetik Joachim Fests, Ernst Noltes und Andreas Hillgrubers. 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2/1987 (S. 151 - 1 5 7 )
195
Vorwort des Herausgebers Die »Historiker-Debatte« hat die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit der Bundesrepublik in ungewöhnlichem Maße erregt. Das war kein Zufall. Denn hier wird zwar auch über die Frage gestritten, »wie es wirklich gewesen ist« - damals im Faschismus. Tatsächlich aber geht es auch und wesentlich darum, welche Konsequenzen sich aus der faschistischen Vergangenheit für uns ergeben und welchen Weg dieses Land einschlagen soll. Nicht um die Vergangenheit also geht es primär, sondern um die Zukunft. Eine Koalition aus dem rechten Flügel der Unionsparteien, großen konservativen Zeitungen, insbesondere FAZ, Welt und Rheinischer Merkur, und konservativen Historikern startete einen umfassenden Angriff, mit dem Ziel, das bisherige historisch-politische Selbstverständnis der Bundesrepublik in seinen Grundlagen nach rechts zu verschieben. Der vorliegende Sammelband soll zweierlei leisten: Zum einen soll er die »Historiker-Debatte« selbst dokumentieren, zum anderen die Vorgeschichte, den Verlauf und- die Argumentationslinien dieser Debatte darstellen und kritisch bilanzieren und so ihren historischen, politischen und wissenschaftlichen Stellenwert in der Entwicklung der Bundesrepublik sichtbar machen. Bei der Dokumentation haben wir uns für eine chronologische Ordnung entschieden, da es sich bei zahlreichen Beiträgen um Repliken handelt, die ohne das Vorangegangene nicht zu verstehen sind. Insgesamt hat eine solche Reihenfolge den Vorteil, den Gang der Debatte besser nachvollziehen zu können, als dies bei einer systematischen Aufgliederung nach thematischen Schwerpunkten möglich wäre. Die erste Phase dieser »Historiker-Debatte« scheint zunächst abgeschlossen. Die Auseinandersetzung über den politischen Weg der Bundesrepublik aber wird - angesichts der vielen drängenden Probleme und der stark divergierenden Interessen - sicher nicht nachlassen. Und also wird auch die Auseinandersetzung um das Geschichtsbild weitergehen als einer Legitimationsbasis, mit der politische Entscheidungen begründet werden. Verlauf, Ertrag und Defizite dieser »HistorikerDebatte« aufzuarbeiten, ist also nicht nur von intellektuellem Interesse. Reinhard
Kühnl
13
Dokumentation
1.
Hermann Lübbe
Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart
(. . .) Wenn man auf die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zurückblickt, so wird deutlich, daß die öffentliche Anerkennung der politischen und moralischen Niederlage der nationalsozialistischen Herrschaft zu den zentralen legitimatorischen Elementen dieser Republik gehörte. Dasselbe gilt für den Willen, aus naheliegenden Erfahrungen mit jener Herrschaft und insbesondere auch aus Erfahrungen mit den verfassungsmäßigen Voraussetzungen der sogenannten Machtergreifung institutionelle Konsequenzen zu ziehen. Und schließlich galt der Grundsatz der Wiederanknüpfung an jene moralischen und politischen Traditionen, die in der nationalsozialistischen Kulturrevolution liquidiert worden waren. (. . .) Im öffentlichen Schutz dieser normativen Geltungen im Verhältnis zum Nationalsozialismus vollzog sich die Staatwerdung der zweiten deutschen Demokratie. (. . .) Indessen bleibt richtig: Im Vergleich mit diesen normativen Selbstverständlichkeiten öffentlicher Abgrenzung dem Dritten Reich gegenüber spielen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland historische oder theoretische Bemühungen zur Bewältigung des Nationalsozialismus in der kulturellen und politischen Öffentlichkeit eher eine geringere Rolle. Ein innenpolitisch und näherhin ideologiepolitisch frontenbildender Faktor ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus damals auch nicht gewesen, und insbesondere hat es im Verhältnis der Deutschen zueinander weder bei Kriegsende noch in den Jahren darauf einen lagebeherrschenden Willen zur politischen Abrechnung gegeben. Wie erklärt es sich also, daß in dieser Weise, im Schutz öffentlich 14
wiederhergestellter normativer Normalität, das deutsche Verhältnis zum Nationalsozialismus in temporaler Nähe zu ihm stiller war als in späteren Jahren unserer Nachkriegsgeschichte? Die Antwort scheint mir zu lauten: Diese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland. Es hätte eines solchen Mediums nicht bedurft, wenn die Herrschaft des Nationalsozialismus ihre Wirklichkeit exklusiv in jenen Machthabern gehabt hätte, die in den Prozessen der Alliierten abgeurteilt wurden, kraft Spruchkammerbescheid im Entnazifizierungsverfahren nun als »untragbar« galten oder auch als kleine Schergen im Funktionalismus des Verbrechens tätig gewesen waren. (. . .) Gegen Ideologie und Politik des Nationalsozialismus, in dessen Katastrophe zugleich auch das Reich untergegangen war, mußte der neue deutsche Staat eingerichtet werden. Gegen die Mehrheit des Volkes konnte er schwerlich eingerichtet werden. Meine These, daß die gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Thematisierung individueller oder auch institutioneller Nazi-Vergangenheiten, die die Frühgeschichte der Bundesrepublik kennzeichnet, eine Funktion der Bemühung war, zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen demokratischen Staat zu integrieren. (. . .) (. . .) Zur Verdrängungsthese paßt das (. . .) nicht, aber es paßt, noch einmal, in den Kontext von Vorgängen der politischen Konsolidierung eines Gemeinwesens, das sich für seine eigene Legitimität der Realitäten versichern mußte, aus deren Katastrophe und normativer Uberwindung es hervorgegangen war. Man würde indessen den hier gemeinten Vorgang mißverstehen, wenn man annähme, im Glanz des gelingenden politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus seien die Schatten der Vergangenheit allmählich verblichen und das Verhältnis zu ihr habe sich zu einem Verhältnis historiographischer Unbefangenheit entwickelt. Das Gegenteil ist richtig, und die Schatten der Vergangenheit wurden um so länger, je tiefer das Dritte Reich in den Zeithorizont zurücksank. Dies ist alles andere als ein Paradox. Es liegt dem vielmehr eine elementare Pragmatik menschlicher Vergangenheitsbezogenheiten zugrunde. Solange man aus Gründen, die man sich selbst zurechnen muß, sich vollständig niedergeworfen findet, ist die Vergangenheit, der diese Gründe angehören, mit der Gegenwart ihrer Folgen bruchlos 15
eins. Erhebt man sich aber aus dem Zusammenbruch und gewinnt allmählich Stand und Anerkennung zurück, so beginnt man zugleich, in Differenz zu sich selbst zu existieren, und die Vergangenheit wird zum eigentlichen Moment der Schwäche im wiedergewonnenen Stande. Nicht die zerschmetterte, sondern die in eine neue Zukunft entlassene Identität hat eine diskreditierende Vergangenheit hinter sich, von der sie eingeholt werden könnte, und es ist unvermeidbar, daß sich nun gewisse Unsicherheiten darüber verbreiten, wie man sich, im Reden und Schweigen wann und wem gegenüber, in eine angemessene Beziehung zu ihr setzen könne. (...) Diese Unsicherheiten sind nicht ein Indiz der mißlungenen, sondern gerade umgekehrt der gelingenden Rekonstruktion deutscher Staatlichkeit, und Subjekte dieser Unsicherheiten sind gerade diejenigen, die sich mit dieser Staatlichkeit von Anfang an identifizierten. Die Bereitschaft zu dieser Identifikation nimmt Ende der sechziger Jahre dramatisch ab, und zwar generationenspezifisch. Wieso? Das hat Voraussetzungen, die gar nicht spezifisch deutsch, vielmehr industriegesellschaftsspezifisch, näherhin »westlich«, nämlich charakteristisch für hochentwickelte, politisch liberal verfaßte Gesellschaften sind. Diese sind, erneut, dabei, sich emotional von sich selbst zu distanzieren. So möchte ich den Vorgang kennzeichnen, der auch bei uns Ende der sechziger Jahre die Oberfläche des kulturellen und politischen Lebens durchbrach, und zwar zunächst in Formen einer politischen Jugendbewegung, deren anfängliche spätmarxistische Orientierungen weniger durch ihren Realitätsgehalt als durch ihr Verweigerungspotential faszinierend wirkten. (...) Die entscheidende Frage fürs Verständnis des Verhältnisses dieser Generation zum Nationalsozialismus scheint mir nun diese zu sein: Unter welchen Voraussetzungen hätte sie bereit sein können, die deutsche Nazi-Vergangenheit mit ihren entsprechenden Belastungs- und Verunsicherungsfolgen sich als Teil der eigenen Herkunftsgeschichte überhaupt noch zurechnen zu lassen? Die Antwort lautet: Nur bei einem hohen Grad der Ubereinstimmung mit dem politischen System der Bundesrepublik hätte sie bereit sein können, die Vergangenheit der Väter als eigene Vergangenheit politisch zu übernehmen. Eben diese Übereinstimmung hatte sich aus Gründen, die vom Verhältnis zum Nationalsozialismus prinzipiell unabhängig sind, längst abgeschwächt. Als Konsequenz ergab sich, daß man nun beides zugleich aus der eigenen historisch-politischen Identität abschob: die deutsche Nach16
kriegsgeschichte ebenso wie das Dritte Reich, das ihr vorauslag. Das konnte natürlich am wirkungsvollsten dadurch geschehen, daß man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als eine Geschichte der unvollendeten Überwindung des Nationalsozialismus umschrieb, und genau das ist die Funktion der großen akademisch-publizistischen Faschismusdebatte gewesen, die sich Ende der sechziger Jahre erhob und bis tief in die siebziger Jahre hinein anhielt. (...) Ich skizziere (. . .) in drei Absätzen. Erstens. Die historische Erklärung des Faschismus mit Einschluß des Nationalsozialismus zur politischen Funktion des Kapitalismus erhob diesen zur unabhängigen Größe im faschismus-theortischen Kontext. »Wer . . . vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen« - dieser bekannte Satz Max Horkheimers wurde nun hochzitabel. In seiner Konsequenz vollzog sich eine zunächst theoretische, dann aber auch politisch-moralische Delegitimierung der zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehörenden Versuche, die nationalsozialistische Vergangenheit ins politische Gegenwartsbewußtsein zu heben. (. . .) (...) Zweitens. Der durch die neue oder doch erneuerte Faschismus-Theorie in Gang gesetzte Delegitimierungsprozeß konnte selbstverständlich mühelos, über den für hilflos erklärten altbundesrepublikanischen Antifaschismus hinaus auch auf die Geschichte der Bundesrepublik insgesamt ausgedehnt werden, und so geschah es. Selbstverständlich hat kein ernst zu nehmender Theoretiker jemals behauptet, die Bundesrepublik Deutschland sei ein faschistischer Staat. Aber ein postfaschistischer Staat mit konserviertem Kapitalismus war er eben doch und damit ein Staat, der unverändert dazu herausfordern sollte, ihn in antifaschistischer Absicht zu verändern. Damit wird die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu einer ihrerseits bewältigungsbedürftigen Geschichte erhoben, zu einer »vergessenen Geschichte« und näherhin zu einer Geschichte der »verpaßten Chancen«. (. . .) Drittens. Wenn die unabhängige Größe Kapitalismus sogar in ihrer besonders prekären Spätgestalt fortdauerte, so lag es nahe anzunehmen, daß damit zugleich auch faschistoide Einstellungs- und Verhaltensprädispositionen fortdauern mußten, die es in vorbeugender Absicht aufzuspüren und bloßzustellen galt. In der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland war, wie geschildert, eher das integrative Verhalten zu braunen Biographieanteilen der gewöhnliche Fall. (. . .) 17
Im Kunstlicht der revitalisierten linken Faschismus-Theorien erschien nun aber eben dieser zukunftsbezogene politische Wille der Bürgerschaft, soweit sie ans kapitalistische System sich gebunden zu haben schien, grundsätzlich zweifelhaft. Eine Atmosphäre des intellektuellen Verdachts breitete sich aus. Die NS-Studentenschaftsaktivitäten etablierter Professoren, auch literarische, im Regelfall übrigens längst bekannte Dokumente intellektueller Bewegtheit von damals, wurden nun mit dem Gestus der Entlarvung vorgezeigt. Gesinnungsfronten wurden gebildet, hinter denen man sich unter dem Anspruch versammelte, im Unterschied zu den jeweils Ausgeschlossenen »für jene Traditionen« einzustehen, «gegen die 1933 ein deutsches Regime angetreten ist«. Der Faschismus erschien als aktuelle Wirklichkeit »nebenan«, galt sogar als Nato-spezifisch. Zusammengefaßt heißt das: In der zweiten Hälfte dieser Geschichte haben die politisch desintegrativ wirkenden Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu-relativen Ungunsten der integrativen zugenommen. Das ist der Hintergrund, vor dem erst die Bewegtheit verständlich wird, die im deutschen Publikum die amerikanische Holocaust-Fernsehserie ausgelöst hat. Wäre die politische Alltagskultur in der Bundesrepublik Deutschland in der Tat eine vom Kleinfaschismus »nebenan« durchsetzte Kultur gewesen, so hätte ja die Konfrontation mit den Holocaust-Konsequenzen des Nationalsozialismus in erster Linie Abwehrreaktionen auslösen müssen. Daß die gegenteilige Reaktion die vorherrschende war - das war entsprechend, zumal für die Anhänger des Verdrängungstheorems, die große Überraschung. Man kam ihr bei durch die Erklärung, jene Bewegtheit sei ein Phänomen eruptiver Entbindung kollektiv verdrängter Wirklichkeiten gewesen. Ich halte diese Verdrängungstheorie für eine Pseudotheorie, mit der die Zumutung verbunden ist, die Mehrheit des Volkes sei als Patient in die intellektuelle Obhut emanzipatorisch tätiger Verdrängungsanalytiker zu nehmen. (...) Identität - das ist nun einmal bis in unseren politischen Lebenszusammenhang hinein eine in erster Linie geschichtsbewirkte, vergangenheitsabhängige Größe, und Subjekte, die sich mit ihrer Vergangenheit schwertun, haben nur eine einzige Möglichkeit, ihr gegenüber allmählich freier zu werden. Diese Möglichkeit besteht darin, sich in der Gegenwart so einzurichten, daß, wenn auch diese Gegenwart schließlich Vergangenheit geworden ist, sie dem zustimmungsfähigen Teil der Vergagenheit zuzurechnen sein wird. FAZ, 24. 1. 1983
18
2.
Andreas Hillgruber
Zweierlei Untergang Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums
Die Literatur zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist kaum mehr zu überschauen, wobei es ausgesprochene Schwerpunkte der Forschung gibt, etwa die Kriegsziele Hitlers, die deutsche Politik und Strategie in den Jahren der großen Anfangserfolge 1939 bis 1941 oder wenn man die Gegenseite ins Auge faßt - die Probleme, die zwischen den Hauptmächten der »Anti-Hitler-Koalition« 1941 bis 1945 auftraten. Daneben aber gibt es, aus sehr unterschiedlichen Gründen: solchen politischer Zweckmäßigkeit, ideologischer Scheu oder ganz einfach denen einer schlechten Quellenlage, Felder, auf denen es einen Stillstand gibt oder die Forschung gar nicht in Gang gekommen ist. Dies gilt nicht zuletzt für die Katastrophe des deutschen Ostens im Winter 1944/45, die mit dem Abschluß der letzten Etappe der Geschichte der Großmacht Deutsches Reich, nämlich seiner Zerstörung, zusammenfiel und die doch für die deutsche Nationalgeschichte ebenso bedeutsam ist wie für die europäische Gesamtgeschichte. (S. 13) (...) (. . .) Vor allem kam es zu einer Zersplitterung der Forschung. Auf der einen Seite die durchaus unverächtliche Registrierung der Vorgänge während des Untergangs des deutschen Ostens, auf der anderen Seite die sich gerade in den letzten Jahren sehr entfaltende Widerstandsforschung mit ihrem Schwerpunkt auf den Motiven und Zielen der Männer der Tat des 20. Juli 1944 (die ja im »Führerhauptquartier«, also auch in Ostpreußen, stattfand), schließlich die Erforschung des Mordes an den europäischen Juden, also über die Vernichtungs- und Konzentrationslager (deren größte ebenfalls im Osten lagen). (S. 15 f.) (...) (. . .) Was den Zweiten Weltkrieg angeht, hat sie sich fast ausschließlich auf die Kriegsziele, auf die Politik und Strategie der nationalsozialistischen Führung während der ersten Kriegsjahre konzentriert und sofern die Darstellungen überhaupt darüber hinausreichen - den weiteren Verlauf bis zur Schlußkatastrophe des Jahres 1945 verkürzt. Die 19
Komplexität des Geschehens wurde auf unzulässige Weise ausschließlich - fast monokausal - als sachlogische Konsequenz der hybriden Ziele der Hitlerschen Expansionspolitik und ihrer rassenideologischen Grundlage interpretiert, ohne daß die davon unabhängigen Ziele der östlichen und westlichen Gegenmächte viel untersucht wurden. Dabei war das gegnerische Konzept nicht nur eine Reaktion auf die nationalsozialistische Herausforderung; es entsprach vielmehr lange herkommenden Vorstellungen, die im Kriege nur zum Durchbruch gelangten. Eine Gesamtdarstellung der Geschehnisse im Osten an der Jahreswende 1944/45 wirft aber in Wirklichkeit eine ganze Reihe von grundsätzlichen Fragen auf, die die Politik, die Kriegführung und die »Moral« in Vernichtungskriegen betreffen. Die enorme Schwierigkeit aller historischen Wertung, die weit über die herkömmliche Kompliziertheit geschichtlichen Urteils hinausgeht, wird hier in extremer Weise deutlich. (S. 17) (...) Einen (. . .) neuralgischen Punkt hat vor einigen Jahren Norbert Blüm berührt, als er vor einer konsternierten, sich sogleich polarisierenden Öffentlichkeit die These vortrug, daß die ungeheuerlichen Verbrechen in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Regimes weitergehen konnten, solange die deutschen Fronten hielten. Diese These ließ nur die Schlußfolgerung zu, daß es wünschenswert gewesen wäre, die Fronten, und das hieß auch die deutsche Ostfront - die bis zum Winter 1944/45 die Bevölkerung im Osten des Reiches vor der Überflutung der Heimat durch die Rote Armee schützte - möglichst schnell einstürzen zu lassen, um dem Schrecken in den Konzentrationslagern ein Ende zu setzen. In der Tat ist es ja auch und gerade nach jenem 24. Juli 1944, als das Lager Maidanek bei Lublin so schnell von der Roten Armee besetzt wurde, daß die Beseitigung der Stätten des Grauens den abziehenden SS-Einheiten nicht mehr möglich war (so daß zum ersten Mal die Weltöffentlichkeit von den Verhältnissen in einem solchen Lager erfuhr), der Massenmord an den europäischen Juden im Lager Auschwitz-Birkenau bis Anfang November 1944 fortgeführt worden, als Himmler einen Einstellungsbefehl erließ. Es wurde also bis zu jenem (S. 18) Zeitpunkt - Mitte Oktober 1944 - weitergemordet, zu dem die deutsche Front vor dem Druck der Roten Armee schon ins östliche Ostpreußen zurückgewichen war und der sowjetische Ansturm nur unter größter Anstrengung noch einmal zum Stehen gebracht werden konnte. (S. 19) In dem dabei von den deutschen Truppen zurückgewonnenen Ort 20
Nemmersdorf südlich von Gumbinnen hatte sich den Soldaten ein Bild des Entsetzens von vergewaltigten und ermordeten Frauen und Kindern geboten. »Nemmersdorf« wurde zum Begriff dafür, was die deutsche Bevölkerung zu erwarten hatte, wenn »die Dämme brechen« würden. (. . .) (ebd.) Natürlich gibt es die von Blüm angesprochene strukturelle oder funktionale Problematik, daß das Halten der Fronten die Fortdauer der Verbrechen in den Konzentrationslagern ermöglichte. Wer das Geschehen dieser Wintermonate im deutschen Osten zureichend begreifen will, muß aber auch die subjektive Lagebeurteilung der jeweils Verantwortlichen berücksichtigen und das daraus hervorgehende Handeln oder Nicht-Handeln der führenden Militärs an der Ostfront. Auch der Betrachtende steht vor dem Dilemma der damals Handelnden. Auf der einen Seite die gesinnungsethische Haltung der Männer des 20. Juli, die sich in außenpolitisch längst aussichtsloser Konstellation zum Attentat auf Hitler entschlossen, um der Welt ein Zeichen der Existenz eines »anderen Deutschlands« zu geben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Heeresgruppe Mitte, die bisher das Ostpreußen schützende militärische Bollwerk gewesen war, im Zuge der sowjetischen Sommeroffensive seit dem 22. Juni 1944 zerschlagen war und der Roten Armee der Weg nach Ostpreußen schon fast frei schien. Auf der anderen Seite die verantwortungsethische Position der Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister, aus deren Sicht alles darauf ankam, wenigstens einen schwachen Schleier von Sicherungen an der ostpreußischen Grenze aufzubauen, um das Schlimmste zu verhindern: die drohende Orgie der Rache der Roten Armee an der deutschen Bevölkerung für all das, was in den Jahren 1941 bis 1944 in den von deutschen Truppen besetzten Teilen der Sowjetunion - von welchen deutschen Dienststellen auch immer - an Verbrechen begangen worden war. (S. 20 f.) Es war eine heillose Situation. Wer darauf zurückschaut, steht vor dem Problem der Identifizierung, also einem Schlüsselproblem, dem der Historiker nicht mit allgemeinen Hinweisen auf das Objektivitätsideal ausweichen kann, (. . .). Es ist schnell gesagt, welche Extreme nicht in Betracht kommen. Eine auch nur halbe Identifizierung mit Hitler ist nicht möglich; dessen starre Halte-Befehle mußten die unausweichlich herankommende Katastrophe des deutschen Ostens nur vergrößern, zumal da Hitler (. . .) in sozialdarwinistischer Argumentation die Katastrophe geradezu herbeizuführen entschlossen war, nachdem das deutsche Volk »versagt« und sich »seiner nicht würdig« erwie21
sen habe. Aber auch eine Identifizierung mit den kommenden Siegern - und das hieß ja (S. 23) für den Osten: mit der Sowjetunion, mit der Roten Armee - war undenkbar. Der Begriff »Befreiung« impliziert eine solche Identifizierung mit den Siegern, und natürlich hat er seine volle Berechtigung für die aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen befreiten Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Aber auf das Schicksal der deutschen Nation als Ganzes bezogen, ist er unangebracht. »Befreiung« umschreibt nicht die Realität des Frühjahrs 1945. Wollte man mit dieser Vokabel ernsthaft den Zusammenbruch des Reiches zu erfassen suchen, so setzte dies voraus, daß das Kriegsziel der Alliierten in West und Ost tatsächlich in nichts anderem bestanden hätte als in der Beseitigung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Aber davon kann nicht die Rede sein, auch wenn sicherlich viele Briten und Amerikaner zumindest über die machtpolitischen Ziele ihrer Regierungen hinaus die Beseitigung der Diktatur in Deutschland anstrebten, um die Deutschen aus der Identifizierung mit dieser Diktatur und aus ihrer Verstrickung in sie zu lösen. Schaut der Historiker auf die Winter-Katastrophe 1944/45, so bleibt nur eine Position, auch wenn sie im Einzelfall oft schwer einzulösen ist: er muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren, die die Bevölkerung des (S. 24) deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren und in der allerletzten Phase den Ostdeutschen den Fluchtweg zu Lande oder über See nach Westen freizuhalten suchten. Den Zeitgenossen war verschlossen - auch wenn es von vielen geahnt wurde -, daß über den deutschen Osten zwischen den alliierten Mächten in West und Ost längst entschieden war, bevor der Zusammenbruch der deutschen Ostfront der Roten Armee den Vorstoß ins Zentrum Deutschlands und Europas freigab; will man heute die Ereignisse und ihre Bedeutung begreifen, hat man das damals Ungewußte zu wissen - daß über alles bereits entschieden und daß das Reich bereits verspielt war. (S. 25) (...) Der Versuch, das Geschehen im Osten noch einmal in den Griff zu bekommen, wurde für die deutsche Führung immer fragwürdiger, schließlich so gut wie unmöglich. Die Diskrepanz zwischen den Adhoc-Weisungen Hitlers und den Realitäten an Ort und Stelle wurde immer größer. Das Schicksal der Reste des zerschlagenen deutschen 22
Ostheeres und das Geschick der Bevölkerung in den Ostprovinzen, die - sofern sie nicht in großen Trecks gerade noch rechtzeitig nach Westen ziehen oder über See gerettet werden konnte - nun von der Roten Armee überrollt wurde, verwoben sich jetzt unentwirrbar ineinander. Vergewaltigungen in einem bis dahin kaum vorstellbaren Ausmaß, vieltausendfacher Mord und Massendeportationen, nämlich planmäßig vollzogene Zwangsverschleppungen von zirka 500 000 Deutschen waren darin eingeschlossen. Der Ruf »Die Russen kommen« wurde zum Schreckensfanal im ganzen Osten. Natürlich hatte das mit Rache zu tun, die die Soldaten der Roten Armee jetzt für die von Deutschen 1941 bis 1944 auf sowjetischem Boden begangenen Verbrechen übten; aber das erklärt nur die extremen Ausmaße der Exzesse, nicht das Phänomen der Vergewaltigungen und Morde selber. Denn dieselben Vorgänge gab es ja auch beim Einrükken der Roten Armee in andere Länder. Die Tatsache, daß die gleichen Ausschreitungen nicht nur schon 1939 beim Einmarsch der Roten Armee in Polen, sondern auch 1944 in Rumänien und Ungarn, ja, sogar bei der »Befreiung« des nordöstlichen Teils Jugoslawiens 1944/45 vorkamen, deutet auf einen weiteren Zusammenhang hin: die sowjetischen Kriegsvorstellungen, die in der stalinistischen Epoche offensichtlich allgemein solche barbarischen Züge annahmen. Das ungeheure Geschehen zwischen dem Herbst 1944 und dem Frühjahr 1945 verlangt noch nach Darstellung, einer Behandlung, die den weltgeschichtlichen Vorgang im Auge hat und doch das Einzelschicksal sieht, wo es im Leiden und Tun, im Handeln und Versagen repräsentativ ist. (. . .) (S. 34/35) In diesen Ereignissen, in der jedermann von der Aufgabe beherrscht war, zu retten, was noch zu retten war, steht die Vernichtung ganzer Armeen neben dem Opfermut einzelner, der Verlust von Städten neben der Bewahrung von Flußübergängen, an denen das Schicksal eines Trecks hing. Manche Unbekannte wuchsen damals in der hereinbrechenden Katastrophe über sich hinaus - Führer von Flüchtlingszügen, Geistliche, Ärzte, französische, belgische, auch polnische Kriegsgefangene, die mit den Deutschen nach Westen strebten, nicht zuletzt auch die deutschen Soldaten, die die Ostsee-Brückenköpfe (. . .) so lange wie möglich hielten, um der Bevölkerung die Rettung über See zu ermöglichen, und die dann selbst vielfach aus den ganz schmal gewordenen Brückenköpfen nicht mehr gerettet werden konnten (. . .). (S. 36) Von den Hoheitsträgern der NSDAP bewährten sich manche in der Not von letzter, verzweifelter Verteidigung, von Zusammenbruch und Flucht, andere versagten, zum Teil in erbärmlicher Weise. (. . .) (S. 37) (...) 23
Blickt man nüchtern auf das Verhalten der USA und Großbritanniens während der beiden großen Kriegskonferenzen 1945, so wird deutlich, daß für den Fall einer deutschen Niederlage zu keinem Zeitpunkt des Krieges Aussicht bestand, den größeren Teil der preußischdeutschen Ostprovinzen zu retten. Es gab niemals ein Interesse der Westmächte daran, sich für deren Zugehörigkeit zu Deutschland nach Kriegsende zu engagieren. Das westliche Interesse ging, wie auch die Absprachen über die Zonen-Einteilung des zu besetzenden Deutschlands seit Januar 1944 zeigten, niemals über Nordwest- und Süddeutschland hinaus. (S. 61) Für dieses Desinteresse der Westmächte am Osten des Deutschen Reiches war einerseits das extrem negative, klischeehafte Preußen-Bild der führenden westlichen Staatsmänner ausschlaggebend, die von Preußens tatsächlicher oder schon damals nur noch vermeintlicher Schlüsselstellung im Kaiserreich ausgingen, nicht aber von dem tatsächlichen, ganz andersartigen Bezugsgeflecht zwischen Preußen, dem Deutschen Reich und dem Nationalsozialismus (. . .). (ebd.) Dies aber hieß im Blick auf den Verlauf des Geschehens im deutschen Osten: Jede Stadt, jede Siedlung, jede Landschaft, die die deutschen Truppen beim Zusammenbruch der Ostfront im Winter 1944/45 aufzugeben gezwungen waren, war in einem ganz elementaren Sinne für immer für Deutschland und für seine deutschen Bewohner verloren. Den meisten Ostdeutschen war dies allerdings trotz aller grauenvollen Erlebnisse weder während der Flucht oder Vertreibung noch nach der erst notdürftigen, dann allmählich endgültigen Etablierung im restlichen Deutschland voll bewußt. (S. 62) (...) Ob sich der Begriff des Tragischen auf das Geschehen anwenden läßt, das im Zweiten Weltkrieg gipfelt, mag dahingestellt bleiben; Schuld und Verhängnis, legitimes Verlangen und offenes Unrecht, Willkür und Verstrickung sind hier unauflösbar ineinander gemischt. Aber im Falle des Geschehens im deutschen Osten 1944/45 darf man wohl von tragischen Vorgängen sprechen, die Ausweglosigkeit der Situation für die Soldaten und die Bewohner der Ostgebiete ist evident. (S. 64) Die Reste jenes deutschen Ostheeres, mit dem Hitler 1941 die Sowjetunion hatte vernichten wollen, verteidigten nun sein immer stärker zusammenschrumpfendes Reich, innerhalb dessen Grenzen - was damals gewiß nur ein Teil der Soldaten und der deutschen Bevölkerung wußte oder ahnte - der Massenmord an den Juden bis zum November 1944 fortgesetzt wurde und in dessen Konzentrationslagern bis zum allerletzten Moment unvorstellbare Verbrechen geschahen. Aber in 24
eben dieser Situation rang das deutsche Ostheer doch auch - in bruchstückhafter, nur durch die nationalsozialistische Propaganda halbwahr vermittelter Kenntnis der alliierten Kriegsziele - mit seinem verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches, das nach dem Willen der Alliierten zertrümmert werden sollte, (ebd.) Das deutsche Ostheer bot einen Schutzschirm vor einem jahrhundertealten deutschen Siedlungsraum, vor der Heimat von Millionen der Ostdeutschen, die in einem Kernland des Deutschen Reiches, nämlich im östlichen Preußen, in den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien, Ostbrandenburg und Pommern wohnten. Und das deutsche Ostheer schützte in einem ganz elementaren Sinne die Menschen in eben diesen preußisch-deutschen Ostprovinzen, denen im Falle einer Überflutung ihrer Heimat durch die Rote Armee, wie die haßerfüllte Propagandakampagne in der Sowjetunion zeigte und »Nemmersdorf« im Oktober 1944 und »Metgethen« im Februar 1945 (bei der vorübergehenden Rückeroberung dieses Königsberger Vororts an der Strecke nach Pillau) schon vor Augen geführt hatte, ein grauenvolles Schicksal drohte. Die von der nationalsozialistischen Propaganda seit langem schon so oft beschworene Vorstellung, daß es nur die Alternative zwischen Hitler und Stalin gebe, war jetzt für den deutschen Osten zur Realität geworden. Da es spätestens seit dem Januar 1943 mit der Verkündung der Forderung nach einem »Unconditional Surrender« durch Roosevelt und Churchill, der sich Stalin hintergründig angeschlossen hatte, da er dahinter eigene Ziele verbergen konnte, keinen Ausweg mehr gab, konnte angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses am Ende dieses Ringens nur der Zusammenbruch der deutschen Front im Osten und als Folge dann die Auslöschung des Deutschtums in Ostmitteleuropa stehen. (S. 64/65) (...) Mit der Massenvertreibung der Deutschen aus einem Viertel des Reichsgebietes von 1937 war ein (S. 66) vorläufiger Endpunkt erreicht auf jenem Wege, der mit der Verbreitung der Idee einer völkischen Feld- und Flurbereinigung betreten worden war und in den Nationalitätenkämpfen an der Peripherie Europas während des Ersten Weltkrieges und in dessen Folge in der Türkei zum ersten Mal zu dem Genozid an den Armeniern und zu den Massenvertreibungen der Griechen aus Kleinasien geführt hatte. Die Ausrottungs- und Umsiedlungspraktiken Hitlers und Stalins in ihren jeweiligen »Interessensphären« in der Zeit ihrer Partnerschaft 1939/40 hatten solchen »Bevölkerungsaustausch« fortgesetzt, und in Hitlers »Ostkrieg« hatte der Massenmord dann 25
vom Juni 1941 an ein extremes Ausmaß erreicht; erst sollten die Juden in Polen und im gesamten Osten, dann im ganzen deutsch-beherrschten Kontinentaleuropa ausgelöscht werden. Zuerst in Großbritannien und in seinem Gefolge dann auch in den USA gewann mit immer sicherer werdendem Siege der Gedanke einer Massenumsiedlung in Ostmitteleuropa in völliger Abwendung von ihrer humanitären Tradition immer mehr an Boden, je deutlicher das Ziel einer Zerschlagung jenes Preußen zum eigentlichen Kriegsziel erhoben wurde, das vermeintlich stets der harte Kern des Deutschen Reiches gewesen war. (S. 67) (...) Schon im Kaiserreich hatte der deutschen Führungsschicht eine Sensibilität für die Gefährdungen gefehlt, denen der preußische und deutsche Osten ausgesetzt war; daraus war in der Weimarer Republik Ahnungslosigkeit, im »Dritten Reich« Rücksichtslosigkeit, ja Brutalität geworden. (S. 69) (. . .) Immer wieder gab es in der Politik des Zarenreiches Wechsel und Brüche, einmal ganz unverkennbar ein Hegemonialstreben, das territoriale Expansion nach Westen, zunächst auf Kosten Polens, tendenziell aber auf Kosten Preußens bedeutete, (. . .). (ebd.). (...) In der Tat boten die zwanziger und dreißiger Jahre nicht nur für die Wiederherstellung und Konsolidierung der im Weltkrieg zwar erschütterten, aber nicht zerstörten deutschen Großmachtstellung eine bemerkenswerte Chance; noch immer gab es eine Möglichkeit für eine Führungsrolle des Reiches in Mitteleuropa. Auch für Europa waren diese beiden Jahrzehnte eine letzte Gelegenheit, seine ins Wanken geratene Weltvormachtstellung in einem begrenzteren und gewandelten Maßstab wieder zu stabilisieren. Der machtpolitische Rückzug der USA aus Europa nach 1919, dann ihr in der Weltwirtschaftskrise abnehmendes Gewicht als Wirtschafts- und Finanzmacht, schließlich die Außenseiterrolle, in die das durch die Revolution erschütterte und geschwächte Rußland abgedrängt worden war, eröffneten eine während des großen Krieges kaum mehr für möglich gehaltene Chance für die europäischen Mächte insgesamt. (S. 70/71) (...) (. . .) Mit dem Jahr 1945 wurde das sich seit 1871 in mehreren Schüben vollziehende Zusammenwachsen der Deutschen zu einer Nation innerhalb des als Nationalstaat angelegten Deutschen Reiches durch die Zerstörung eben dieses staatlichen Gehäuses radikal unterbrochen. In Westdeutschland ist es unter enormen sozialen Veränderungen mit Hilfe einer außerordentlich starken Mobilität der Bevölkerung auf der 26
Grundlage der Integration von Millionen von Vertriebenen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland zu einer ganz neuen Formation gekommen. In Mitteldeutschland ist dieser Prozeß unter völlig anderen Rahmenbedingungen verlaufen, aber die sozialen Entwicklungen sind mindestens ebenso tiefgreifend gewesen. So ist es zu einer offenen Frage geworden, ob die Geschichte der Deutschen als der von der Reichsgründung geprägten Nation ausrinnt oder doch noch eine Zukunft hat. (S. 72) (...) Ob über regionale Ansätze im Westen Europas hinaus jemals eine Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte - als Voraussetzung für eine Rekonstruktion ganz Europas oder aber als Konsequenz einer in Gang kommenden Rekonstruktion des ganzen Europa - möglich sein wird, ist vierzig Jahre nach dem Zusammenbruch der europäischen Mitte so offen wie damals, als die Zeitgenossen als Mithandelnde oder Opfer Zeugen der Katastrophe des deutschen Ostens wurden. (S. 74) Corso bei Siedler, Köln 1986 (S.
3.
13-74)
Hans Mommsen
Die Last der Vergangenheit wird weitgehend ausgeklammert Zu den Museumsplänen der Bundesregierung
(...)
Obwohl der Kanzler seinerzeit sein Studium in Heidelberg mit einer historischen Dissertation abgeschlossen hat, geht es ihm bei den beiden Planungen nicht darum, der historischen Forschung die Chance einzuräumen, ihre Arbeit der Öffentlichkeit besser zu präsentieren. Vielmehr erhofft sich die Bundesregierung von beiden Vorhaben eine »Festigung des historischen Selbstverständnisses« der Bürger der Bundesrpublik. Sie tut dies in der Erwartung, daß eine stärkere historische Rückbesinnung die Verbundenheit mit Staat und Verfassung erhöhen 27
und das gesamtdeutsche Nationalbewußtsein beleben werde. »Es geht um die Schaffung einer Stätte der Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis«, erklärte der Kanzler am 27. Februar 1985 in seinem Bericht zur Lage der Nation, »wo nicht zuletzt junge Bürger unseres Landes etwas davon spüren können - und sei es zunächst auch nur unbewußt -, woher wir kommen, wer wir als Deutsche sind, wo wir stehen und wohin wir gehen werden.« Das sind, bezogen auf die Aufgaben eines historischen Museums, anspruchsvolle Worte, die eine mehr oder minder eindeutige historische Standortbestimmung fordern, letztlich ein verbindliches deutsches Geschichtsbild, das auch Aussagen über den zukünftigen Weg der Nation einschließt. In der Tat ist die Stiftung eines neuen historischen Konsenses der geheime Wunsch der Koalitionsparteien. Einerseits geht es darum, die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik historisch zu dokumentieren. Andererseits steht der Gedanke im Hintergrund, (. . .) »die tausend Jahre heiler deutscher Geschichte jenseits des Nationalsozialismus« freizulegen und zur Abstützung eines konservativ gefärbten Patriotismus zu nützen. Nur widerwillig und erst auf das Drängen der Öffentlichkeit hin hat sich der längst eingerichtete Planungsstab für das »Haus der Geschichte« in Bonn dazu bereit erklärt, unter dem Stichwort »Die Last der Vergangenheit« den »Schatten der Katastrophe« (so Bauminister Schneider in der erwähnten Vorlage),1) also die Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, mit zu berücksichtigen, allerdings nur als eines von 23 Schwerpunktthemen. Die Auffassung des Direktors des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Professor Martin Broszat, (. . .) daß die Entstehung der Bundesrepublik und die Herausbildung der deutschen Teilung nur im Kontext mit der Geschichte des Dritten Reiches sinnvoll dargestellt werden könnten, wurde beiseitegeschoben. Welches Gewicht dieser schwierigste Abschnitt der deutschen Geschichte im projektierten Berliner Historischen Museum einnehmen wird, ist noch offen. Unzweifelhaft besitzt die Geschichte die eigentümliche Kraft der Identitätsstiftung, aber sie lehrt auch, daß jeder künstliche Versuch, dies zu forcieren, ins Gegenteil umschlägt. Den Bundeskanzler stört dies nicht. Er scheint sich nicht bewußt zu sein, daß moderne historische Museen vom Methodenfortschritt der historischen Wissenschaften nicht abgekoppelt werden können. Dem Selbstverständnis der internationalen Historiographie entspringt die Einsicht, daß Geschichte nur aus einer kritischen Distanz heraus und gerade nicht als Gegen1) Kabinettsvorlage v o m 15. Juli 1985 (d. Hrsg.)
28
stand emotionaler Identifikation dargestellt werden kann, und dies betrifft auch das Arrangement historischer Ausstellungen. (. . .) (...) Während gewachsene historische Museen mit guten Gründen die Selektion der gezeigten Gegenstände mit den spezifischen Bedingungen einer historisch gewachsenen und damit notwendigerweise fragmentarischen Sammlung begründen, sind künstliche Museen und Dauerausstellungen - so die Bonner wie die Berliner Planung - notwendig darauf verwiesen, mit einer gewissen Systematik vorzugehen und Prioritätensetzungen zu begründen. Hier verbirgt sich der Fallstrick der Berliner Planung, der mich veranlaßt hat, die Befürchtung zu äußern, daß sie zur »größten Investitionsruine der Bonner Wendepolitik« geraten könne. Es ist kein Zufall, daß in Deutschland und ebenso in West- und Südeuropa nationalhistorische Museen, die beanspruchen, die Gesamtheit der Geschichte des Landes widerzuspiegeln, nicht existiert haben und nicht existieren. Derartige Veranstaltungen pflegen nur bei Nationalstaaten oder sozialistischen Ländern anzutreffen zu sein, die teils aus Gründen einer nachgeholten Nationsbildung, teils aus politischem Bedürfnis eine letztlich staatlich verordnete geschichtliche Legitimierung ihres Daseins für unentbehrlich ansahen. Daß die Bundesrepublik in dieser Hinsicht die DDR ein- und zu überholen sucht, spricht nicht gerade für die Solidität des Vorhabens, im 20. Jahrhundert auf die im nationalstaatlichen 19. Jahrhundert entwickelte Konzeption einer Nationalgeschichte zurückzugreifen, und dies angesichts der Spaltung der Nation und ausgerechnet dort, wo sie am meisten fühlbar ist: in WestBerlin gegenüber dem Reichstagsgebäude und in Sichtweite des auf westzonalem Boden gelegenen sowjetischen Ehrenmals. (...) Auch in anderer Hinsicht verbinden sich mit der Errichtung eines »Deutschen Historischen Museums« bestimmte Optionen, die mit fundamentalen politischen Wertentscheidungen zusammenhängen und die nicht mit der Berufung auf die formalen Grundlagen der westdeutschen Verfassungsordnung angetan sind. Deshalb sollte die Bedeutung der legitimatorischen Funktion, die historischen Vorhaben dieser Art zukommt, nicht gering eingeschätzt werden. (...) Jede Form eines gleichsam »verordneten« Geschichtsbilds, das, um nicht anstößig zu sein, den Weg in eine Konturen und Kontroversen verdeckende Geschichtsdarstellung eines juste milieus mit konservativem Vorzeichen geht, wird (. . .) nur dazu beitragen, die Verdrossen29
heit gegenüber der Beschäftigung mit zentralen Hypotheken unserer Geschichte zu vermehren. (. . .) FR, 8. 4. 1986
4.
Michael Stürmer
Geschichte in geschichtslosem Land In einem Land ohne Erinnerung ist alles möglich. Die Meinungsforschung warnt, daß unter allen Industrieländern die Bundesrepublik Deutschland die größte Schwerhörigkeit verzeichne zwischen den Generationen, das geringste Selbstbewußtsein der Menschen, den gründlichsten Wertewandel zwischen ihnen. Wie werden die Deutschen morgen ihr Land, den Westen, sich selbst sehen? Es bleibt anzunehmen, daß die Kontinuität überwiegt. Aber sicher ist es nicht. Landauf, landab registriert man die Wiederentdeckung der Geschichte und findet sie lobenswert. Museen sind in Blüte, Trödelmärkte leben von der Nostalgie nach alten Zeiten. Historische Ausstellungen haben über mangelnden Zuspruch nicht zu klagen, und geschichtliche Literatur, vor zwanzig Jahren peripher, wird wieder geschrieben und gelesen. Es gibt zwei Deutungen dieser Suche nach der verlorenen Zeit. Die einen sehen darin Erneuerung des historischen Bewußtseins, Rückkehr in die kulturelle Überlieferung, Versprechen der Normalität. Die anderen erinnern daran, daß der Blick, der in der Zukunft keinen Halt findet, in der Vergangenheit Richtung sucht und Vergewisserung, wohin die Reise geht. Beides bestimmt die neue Suche nach der alten Geschichte: Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister. Wer aber meint, daß alles dies auf Politik und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet. (. . .) Hitlers Aufstieg kam aus den Krisen und Katastrophen einer säkularisierten, von Aufbruch zu Aufbruch stürzenden Zivilisation, deren Signum Orientierungsverlust und vergebliche Suche nach Sicher30
heit war (. . .). Von 1914 bis 1945 sind die Deutschen den Katarakten der Modernität ausgesetzt gewesen in einem Maße, das alle Überlieferung zerschlug, das Undenkbare denkbar machte und die Barbarei zur Staatsform. Deshalb konnte Hitler triumphieren, deshalb konnte er Preußen und den Patriotismus, den Staat und die bürgerlichen Tugenden erbeuten und verderben. Lange Zeit war die deutsche Diktatur Anfang und Ende der Geschichtsbetrachtung - und wie hätte es anders sein dürfen? Dann öffneten sich, je mehr die Bundesrepublik sich von ihren Anfängen entfernte, zurückliegende Epochen wieder dem Blick. (. . .) Heute ist die Geschichte des Nachkriegssystems Gegenstand politischer und wissenschaftlicher Studien. Das aber hat zur Folge, daß die Leistung Konrad Adenauers deutlicher hervortritt, der alles tat, um den deutschen Sonderweg der moralischen und politischen Trennung vom Westen zu überwinden. Aber zur selben Zeit wird die berüchtigte Stalin-Note von 1952, die ebendies durchkreuzen sollte, als Mythos der verpaßten Einheitschance dargestellt und der russische Tyrann als Nikolaus, von dem die Deutschen nur zu wünschen brauchten, was sie wollten: Einheit, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit dazu - in Wahrheit aber ging es doch nur um Vorformen von Sowjet-Deutschland. Und unter den Gespenstern der Vergangenheit wird man auch des Antifaschismus wieder gewahr: der Legende vom edlen Wollen der Kommunisten, vom Versagen der deutschen Sozialdemokraten und vom Segen der Volksfront. Daß der Partei Kurt Schumachers unlängst, es war der 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation, der Kampf gegen die gesellschaftlichen Grundlagen des Faschismus in der Bundesrepublik als politische Hauptaufgabe von ihren Vordenkern zugewiesen wurde, verrät verborgene Gedanken über die Zukunft. (...) Die Bundesrepublik hat weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung. Sie ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems. Doch es zeigt sich jetzt, daß jede der heute in Deutschland lebenden Generationen unterschiedliche, ja gegensätzliche Bilder von Vergangenheit und Zukunft mit sich trägt. Es erweist sich auch, daß die technokratische Geringschätzung der Geschichte von rechts und ihre progressive Erwürgung von links die politische Kultur des Landes schwer schädigten. Die Suche nach der verlorenen Geschichte ist nicht abstraktes Bildungsstreben: sie ist moralisch legitim und politisch notwendig. Denn es geht um die innere Kontinuität 31
der deutschen Republik und ihre außenpolitische Berechenbarkeit. (...) FAZ, 25. 4. 1986
5.
Ernst Nolte
Vergangenheit, die nicht vergehen will Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte
Mit der »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, kann nur die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen oder Deutschlands gemeint sein. Das Thema impliziert die These, daß normalerweise jede Vergangenheit vergeht und daß es sich bei diesem Nicht-Vergehen um etwas ganz Exzeptionelles handelt. Andererseits kann das normale Vergehen der Vergangenheit nicht als ein Verschwinden gefaßt werden. Das Zeitalter des Ersten Napoleon etwa wird in historischen Arbeiten immer wieder vergegenwärtigt und ebenso die Augusteische Klassik. Aber diese Vergangenheiten haben offenbar das Bedrängende verloren, das sie für die Zeitgenossen hatten. Eben deshalb können sie den Historikern überlassen werden. Die nationalsozialistische Vergangenheit dagegen unterliegt - wie kürzlich noch Hermann Lübbe hervorgehoben hat - anscheinend diesem Hinschwinden, diesem Entkräftigungsvorgang nicht, sondern sie scheint immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist. Schwarz-Weiß-Bilder Dafür gibt es gute Gründe. Je eindeutiger sich die Bundesrepublik Deutschland und die westliche Gesellschaft überhaupt zur »Wohlstandsgesellschaft« entwickeln, um so befremdender wird das Bild des Dritten Reiches mit seiner Ideologie der kriegerischen Opferbereitschaft, der Maxime »Kanonen statt Butter«, der bei Schulfesten im Chor herausgeschmetterten Edda-Zitate wie »Unser Tod wird ein 32
Fest«. Alle Menschen sind heute Gesinnungspazifisten, aber sie können gleichwohl nicht aus sicherer Distanz auf den Bellizismus der Nationalsozialisten blicken, denn sie wissen, daß die beiden Supermächte Jahr für Jahr weitaus mehr für ihre Rüstung ausgeben, als Hitler von 1933 bis 1939 ausgegeben hatte, und so bleibt eine tiefe Unsicherheit, die den Feind lieber im Eindeutigen anklagt als in der Verwirrung der Gegenwart. (. . .) Der Anspruch Hitlers auf »Weltherrschaft« muß sich um so ungeheuerlicher ausnehmen, je unzweideutiger sich herausstellt, daß die Bundesrepublik in der Weltpolitik allenfalls die Rolle eines Staates von mittlerer Größenordnung spielen kann - »Harmlosigkeit« jedoch wird ihr gleichwohl nicht attestiert, und an vielen Stellen ist die Befürchtung noch lebendig, sie könne zwar nicht zur Ursache, aber doch zum Ausgangspunkt eines dritten Weltkriegs werden. Mehr als alles andere trug indessen die Erinnerung an die »Endlösung« zum Nichtvergehen der Vergangenheit bei, denn die Ungeheuerlichkeit der fabrikmäßigen Vernichtung von mehreren Millionen Menschen mußte um so unfaßbarer werden, je mehr die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Gesetzgebung sich der Vorhut unter den humanitären Staaten hinzugesellte. (. . .) Aber war es wirklich nur die Verstocktheit des »pays réel« der Stammtische, die diesem Nichtvergehen der Vergangenheit widerstrebte und einen »Schlußstrich« gezogen wissen wollte, damit die deutsche Vergangenheit sich nicht mehr grundsätzlich von anderen Vergangenheiten unterscheide? Steckt nicht in vielen der Argumente und Fragen ein Kern des Richtigen, die gleichsam eine Mauer gegen das Verlangen nach immer fortgehender »Auseinandersetzung« mit dem Nationalsozialismus aufrichten? Ich führe einige dieser Argumente oder Fragen an, um dann einen Begriff desjenigen »Verfehlens« zu entwickeln, das nach meiner Auffassung das entscheidende ist, und diejenige »Auseinandersetzung« zu umreißen, die von einem »Schlußstrich« ebenso weit entfernt ist wie von der immer wieder beschworenen »Bewältigung«. Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von »Interessen« sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind, etwa die Interessen einer neuen Generation im uralten Kampf gegen »die Väter« oder auch die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins. Die Rede von der »Schuld der Deutschen« übersieht allzu geflissentlich die Ähnlichkeit mit der Rede von der »Schuld der Juden«, die ein 33
Hauptargument der Nationalsozialisten war. Alle Schuldvorwürfe gegen »die Deutschen«, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß den alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen. Die der ¡»Endlösung« gewidmete Aufmerksamkeit lenkt von wichtigen Tatbeständen der nationalsozialistischen Zeit ab wie etwa der Tötung »lebensunwerten Lebens« und der Behandlung der russischen Kriegsgefangenen, vor allem aber von entscheidenden Fragen der Gegenwart - etwa denjenigen des Seinscharakters von »ungeborenem Leben« oder des Vorliegens von »Völkermord« gestern in Vietnam und heute in Afghanistan. (...)
Eine voreilige Äußerung eines Bundestagsabgeordneten zu gewissen Forderungen der Sprecher jüdischer Organisationen oder das Ausgleiten eines Kommunalpolitikers in eine Geschmacklosigkeit werden zu Symptomen von »Antisemitismus« aufgebauscht, als wäre jede Erinnerung an den genuinen und keineswegs schon nationalsozialistischen Antisemitismus der Weimarer Zeit verschwunden, und um die gleiche Zeit läuft im Fernsehen der bewegende Dokumentarfilm »Shoah« eines jüdischen Regisseurs, der es in einigen Passagen wahrscheinlich macht, daß auch die SS-Mannschaften der Todeslager auf ihre Art Opfer sein mochten und daß es andererseits unter den polnischen Opfern des Nationalsozialismus virulenten Antisemitismus gab. Zwar rief der Besuch des amerikanischen Präsidenten auf dem Soldatenfriedhof Bitburg eine sehr emotionale Diskussion hervor, aber die Furcht vor der Anklage der »Aufrechnung« und vor Vergleichen überhaupt ließ die einfache Frage nicht zu, was es bedeutet haben würde, wenn der damalige Bundeskanzler sich 1953 geweigert hätte, den Soldatenfriedhof von Arlington zu besuchen, und zwar mit der Begründung, dort seien auch Männer begraben, die an den Terrorangriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung teilgenommen hätten. (...) (. . .) Kein Deutscher kann Hitler rechtfertigen wollen, und wäre es nur wegen der Vernichtungsbefehle gegen das deutsche Volk vom März 1945. Daß die Deutschen aus der Geschichte Lehren ziehen, wird nicht durch die Historiker und Publizisten garantiert, sondern durch die vollständige Veränderung der Machtverhältnisse und durch die anschaulichen Konsequenzen von zwei großen Niederlagen. Falsche Lehren können sie freilich immer noch ziehen, aber dann nur auf einem Wege, der neuartig und jedenfalls »antifaschistisch« sein dürfte. 34
(. . .) Ich will im folgenden versuchen, anhand einiger Fragen und Schlüsselworte die Perspektive anzudeuten, in der diese Vergangenheit gesehen werden sollte, wenn ihr jene »Gleichbehandlung« widerfahren soll, die ein prinzipielles Postulat der Philosophie und der Geschichtswissenschaft ist, die aber nicht zu Gleichsetzungen führt, sondern gerade zur Herausstellung von Unterschieden. (...) Dann aber muß man fragen: Was konnte Männer, die einen Völkermord, mit dem sie in nahe Berührung kamen, als »asiatisch« empfanden, dazu veranlassen, selbst einen Völkermord von noch grauenvollerer Natur zu initiieren? Es gibt erhellende Schlüsselworte. Eins davon ist das folgende: Als Hitler am 1. Februar 1943 die Nachricht von der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad erhielt, sagte er in der Lagebesprechung gleich voraus, daß einige der gefangenen Offiziere in der sowjetischen Propaganda tätig werden würden: »Sie müssen sich vorstellen, er (ein solcher Offizier) kommt nach Moskau hinein, und stellen Sie sich den >Rattenkäfig< vor. Da unterschreibt er alles. Er wird Geständnisse machen, Aufrufe machen . . .« Die Kommentatoren geben die Erläuterung, mit »Rattenkäfig« sei die Lubjanka gemeint. Ich halte das für falsch. In Georg Orwells »1984« wird beschrieben, wie der Held Winston Smith durch die Geheimpolizei des »Großen Bruders« nach langen Folterungen endlich gezwungen wird, seine Verlobte zu verleugnen und damit auf seine Menschenwürde Verzicht zu tun. Man bringt einen Käfig vor seinen Kopf, in dem eine vor Hunger halb irrsinnig gewordene Ratte sitzt. Der Vernehmungsbeamte droht, den Verschluß zu öffnen, und da bricht Winston Smith zusammen. Diese Geschichte hat Orwell nicht erdichtet, sie findet sich an zahlreichen Stellen der antibolschewistischen Literatur über den russischen Bürgerkrieg, unter anderem bei dem als verläßlich geltenden Sozialisten Melgunow. Sie wird der »chinesischen Tscheka« zugeschrieben. Archipel GULag und Auschwitz Es ist ein auffallender Mangel der Literatur über den Nationalsozialismus, daß sie nicht weiß oder nicht wahrhaben will, in welchem Ausmaß all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der frühen zwanziger Jahre bereits beschrieben war: Massendeportationen und -erschießungen, Folterungen, Todesla35
ger, Ausrottungen ganzer Gruppen nach bloß objektiven Kriterien, öffentliche Forderungen nach Vernichtung von Millionen schuldloser, aber als »feindlich« erachteter Menschen. Es ist wahrscheinlich, daß viele dieser Berichte übertrieben waren. Es ist sicher, daß auch der »weiße Terror« fürchterliche Taten vollbrachte, obwohl er in seinem Rahmen keine Analogie zu der postulierten »Ausrottung der Bourgeoisie« geben konnte. Aber gleichwohl muß die folgende Frage als zulässig, ja unvermeidbar erscheinen: Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische«" Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer »asiatischen« Tat betrachteten? War nicht der »Archipel GULag« ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der »Klassenmord« der Bolschewiki das logische und faktische Prius des »Rassenmords« der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den »Rattenkäfig« nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte? Man braucht das verschollene Büchlein von Melgunow nicht gelesen zu haben, um solche Fragen zu stellen. Aber man scheut sich, sie aufzuwerfen, und auch ich habe mich lange Zeit gescheut, sie zu stellen. Sie gelten als antikommunistische Kampfthesen oder als Produkte des kalten Krieges. Sie passen auch nicht recht zur Fachwissenschaft, die immer engere Fragestellungen wählen muß. Aber sie beruhen auf schlichten Wahrheiten. Wahrheiten willentlich auszusparen, mag moralische Gründe haben, aber es verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft. Die Bedenken wären nur dann berechtigt, wenn man bei diesen Tatbeständen und Fragen stehenbliebe und sie nicht ihrerseits in einen größeren Zusammenhang stellte, nämlich in den Zusammenhang jener qualitativen Brüche in der europäischen Geschichte, die mit der industriellen Revolution beginnen und jeweils eine erregte Suche nach den »Schuldigen« oder doch nach den »Urhebern« einer als verhängnisvoll betrachteten Entwicklung auslösten. Erst in diesem Rahmen würde ganz deutlich werden, daß sich trotz aller Vergleichbarkeit die biologischen Vernichtungsaktionen des Nationalsozialismus qualitativ von der sozialen Vernichtung unterschieden, die der Bolschewismus vornahm. Aber so wenig wie ein Mord, und gar ein Massenmord, durch einen anderen Mord »gerechtfertigt« werden kann, so gründlich führt doch eine Einstellung in die Irre, die nur auf den einen Mord und den einen Massenmord hinblickt und den anderen nicht zur Kenntnis nehmen will, obwohl ein kausaler Nexus wahrscheinlich ist. 36
Wer sich diese Geschichte nicht als Mythologem, sondern in ihren wesentlichen Zusammenhängen vor Augen stellt, der wird zu einer zentralen Folgerung getrieben: Wenn sie in all ihrer Dunkelheit und in all ihren Schrecknissen, aber auch in der verwirrenden Neuartigkeit, die man den Handelnden zugute halten muß, einen Sinn für die Nachfahren gehabt hat, dann muß er im Freiwerden von der Tyrannei des kollektivistischen Denkens bestehen. (. . .) Sofern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gerade von diesem kollektivistischen Denken geprägt ist, sollte endlich ein Schlußstrich gezogen werden. Es ist nicht zu leugnen, daß dann Gedankenlosigkeit und Selbstzufriedenheit um sich greifen könnten. Aber das muß nicht so sein, und Wahrheit darf jedenfalls nicht von Nützlichkeit abhängig gemacht werden. Eine umfassendere Auseinandersetzung, die vor allem im Nachdenken über die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bestehen müßte, würde die Vergangenheit, von der im Thema die Rede ist, zwar ebenso zum »Vergehen« bringen, wie es jeder Vergangenheit zukommt, aber sie würde sie sich gerade dadurch zu eigen machen. FAZ, 6. 6. 1986
6.
Christian Maier
Verurteilen und Verstehen An einem Wendepunkt deutscher Geschichtserinnerung Ein Vortrag, gehalten in Tel Aviv
Unter den drei Staaten, in die das Großdeutsche Reich zerfallen ist, ist es allein die Bundesrepublik, deren Angehörigen die Erschießung und Vergasung von mehr als fünf Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg in größerem Ausmaß zu schaffen macht. Das hat, wie ich vermute, vor allem drei Gründe. Die Bundesrepublik trat die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches an; der Weg, auf dem allein sie wieder einen geachteten Platz unter den Nationen gewinnen konnte, schloß die Wiedergutmachung und manches daran anknüpfende Nachdenken ein; schließlich hat die Negation dessen, was Deutschland zwischen 1933 und 1945 war, die neu entstehende Demokratie mit begründet. Die 37
Verantwortung, die zur Freiheit gehört und wohl gerade bei neugewonnener Freiheit besonders empfunden wird, war ohne eine Verantwortung auch für die Vergangenheit nicht denkbar. So ist die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in die Fundamente der Bundesrepublik tief installiert. (...) (. . .) Wolf Jobst Siedler beobachtete 1964 eine betäubte Empfindungslosigkeit der Deutschen. Es erstaunte ihn die Robustheit, die einerseits nach Auschwitz vom Unrecht an Deutschland zu sprechen wagte und andererseits nach Jalta und Potsdam in der Bundesrepublik ein »unter glücklichen Umständen« wiedergeborenes Weimar fand, wie wenn da nicht auch unendlich viel zu betrauern wäre. Letztlich hat sich daran bis 1986 nichts geändert - außer daß jenes Niemandsland heute offenbar viel stärker empfunden und daß an ihm gearbeitet wird. Aber es wird nicht nur daran gearbeitet, es arbeitet vielmehr auch selbst. Das hat wesentlich mit den Verbrechen gegen die Juden zu tun. Die anderen Völker, so schlimm sie zum Teil unter uns zu leiden hatten, stehen dahinter zurück. Und die weitere Problematik unseres Verhältnisses zu unserer Geschichte, die sich aus der Teilung Deutschlands ergibt, wird wirklich schwierig nur, weil eben in der Bundesrepublik die Jahre von 1933 bis 1945 zwischen uns und unserer Geschichte liegen. (. . .) Die alte Frage ist weiter offen, ob und wie wir anerkennen, was wir zwischen 1933 und 1945 angerichtet haben. Genauer gesagt geht es um die prägnante Bestimmung und das klare Bewußtsein dessen, was da geschah, sowie um das Subjekt, dem dieses Geschehen zuzurechnen ist: Waren wir das, also das deutsche Volk - oder nur unsere Eltern oder Großeltern (die inzwischen tot oder an der Schwelle des Todes sind), das deutsche Bürgertum (oder eher Kleinbürgertum), »der Faschismus«, nur ein paar Verbrecher unter uns (in einer im ganzen »anständig« gebliebenen Nation), oder war es gar nur Hitler? Die Weltgeschichte ist anders geworden Die Frage, was in jenen zwölf Jahren geschah, betrifft nicht diese oder jene Häufung von Unrecht und Verbrechen, wie sie in der Weltgeschichte immer wieder einmal vorgekommen ist, auch nicht nur die Anerkennung des verbrecherischen Charakters des NS-Regimes, sondern das Einzigartige daran. Daß da ein Land, ein Volk, vertreten durch seine Regierung, sich die Entscheidung darüber anmaßt, ob ein 38
ganzes anderes Volk (dessen Mitgliedschaft sie überdies willkürlich festsetzt) auf Erden leben darf oder nicht! Ein Volk nebenbei, das dem deutschen nie feindlich begegnet war, im Gegenteil vielfach geradezu mit Liebe. (. . .) Und dessen Vernichtung dann planmäßig als administrativer Massenmord nach Methoden, die für Ungeziefer indiziert sind, ins Werk gesetzt wurde. Dafür fehlt es an Parallelen. Das war ein völlig neuartiges Verbrechen gegen Rang und Stand der Menschheit. Die Anerkennung dieser Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen ist offenbar ungeheuer schwierig. Vieles kann man sagen, Fakten lassen sich letztlich einkapseln und isolieren. Um das Zugeständnis der Einzigartigkeit aber drückt man sich, wenn es irgend geht, herum. Man flüchtet sich gern in ein Aufrechnen mit Untaten, die wir erlitten. Allein durch die Tatsache, daß diese unermeßlichen Verbrechen möglich waren (und das heißt möglich sind), ist die Weltgeschichte anders geworden. Dadurch, wie überhaupt durch den Zweiten Weltkrieg, haben wir unsere Opfer, haben wir die Welt tief in unsere Geschichte hineingezogen. (. . .) (...) (. . .) Wenn die Totalitarismus-These die Einzigartigkeit der Verbrechen umging, indem sie das nazistische Deutschland mit der stalinistischen Sowjetunion in eins setzte, so tat es die Faschismus-These, indem sie es in der Reihe der anderen faschistischen oder gar kapitalistischen Regime aufgehen ließ, um sich selbst auf die Gegenseite zu stellen. Eine bemerkenswerte Verharmlosung. Insgesamt wird man festhalten können, daß es durchaus viel Trauer, Leiden und Scham im Bewußtsein des von uns zwischen 1933 und 1945 Angerichteten gegeben hat und gibt, daß aber weithin Verdrängung in der Form der Generalisierung oder der Flucht dazu verhalfen, mindestens der Einzigartigkeit der Verbrechen zu entrinnen. (. . .) Die Fortsetzung dieser Verdrängungsgeschichte erleben wir heute. Nur das Vorzeichen ist neu, unter dem sie geschieht: Das ist der Versuch, die Beziehung zur eigenen Geschichte zu normalisieren. Gewiß sollten wir wieder ein bewußteres, geordneteres Verhältnis zu unserer Geschichte haben. Es müßte uns ermöglichen, diese wieder mit den Augen der Identität zu sehen. Das ist aus vielen Gründen wichtig, nicht zuletzt, weil offenbar die Realitätsbeziehung einer Gesellschaft daran hängt. Es gibt, grob geschieden, zwei Quellen für Handlungsmaßstäbe: geschichtliche Erfahrungen oder Vorbild und die Forderungen einer allgemeinen, im Extremfall rigorosen Moral. (. . .) (...)
Jede historische Besinnung sollte davon ausgehen, daß kein Versuch 39
gemacht werden kann, zu leugnen oder auch nur in den Hintergrund zu drängen, was geschehen ist. Zum Geschichtsbewußtsein der Deutschen muß immer das Bewußtsein der Beispiellosigkeit der Verbrechen gehören, die wir in jenen zwölf Jahren begangen haben. Schon deswegen, weil es sonst unverständlich bliebe, warum von den Untaten jener Zeit nicht dasselbe gilt, was wir bei den unangenehmen Teilen der Geschichte anderer Völker beobachten, daß sie nämlich irgendwann abgelegt sind, so daß uns dann schon der Takt davon abhält, sie öffentlich daran zu erinnern. Wir werden also zu unserer Geschichte nie wieder ein unbefangenes Verhältnis bekommen. Es nützt nichts, sondern schadet, wenn sich ein Bundeskanzler unter Hinweis auf die »Gnade der späten Geburt« wieder leicht mit der Geschichte tut, von der doch gerade Konservative ein Bewußtsein haben sollten. Die langen Diskussionen um die Frage, wie wir es mit dem 8. Mai 1985 halten wollen, aber auch die Fassbinder-Debatte sowie die um die Strafrechtsänderung (welche wieder dem Gedanken der Aufrechnung Vorschub leistete) haben nur allzu deutlich gezeigt, daß wir aus dem Schatten Hitlers noch lange nicht heraus sind. Und gerade die Geschichte um Bitburg hat deutlich gemacht, daß alles nur schlimmer wird, wenn wir einfach auf eine historische Normalität zusteuern. Die Wahrheit auszuhalten lernen So wenig es Kollektivschuld gibt, so sehr haben wir eine Verantwortung für das, was von uns und in unserem Namen geschah, wenn anders die deutsche Geschichte die unsere sein soll. Weil dem so ist, müssen auch die Jüngeren von uns das Gedächtnis an die Untaten wachhalten. Das sind wir den Opfern schuldig. Tun wir es nicht, beginnt dort eine Schuld für uns. Und wenn wir in irgendeiner Weise die Klarheit der Verurteilung dessen, was da geschehen ist, durch Relativierungen und Ausflüchte verwischen wollten, wäre jeder Versuch, ein neues Verhältnis zu unserer Geschichte zu gewinnen, auf Sand gebaut. (...) (. . .) Wohl muß es uns zugemutet werden, daß wir diese Geschichte tragen. Allein, ohne daß man Unvergleichliches vergleichen wollte, darf doch wohl gesagt werden, daß es auch schwierig ist, zu den Nachfahren der Täter des Holocaust zu gehören. Daher sollte man Verständnis aufbringen für die Nöte, die wir mit unserer jüngeren Geschichte haben. Das aber wird nur geschehen, wenn wir selbst nichts schuldig bleiben. (. . .) 40
Man muß dabei bedenken, daß mit den Jahrzehnten seit 1945 ein tiefer Wandel der zeitlichen Perspektive auf die NS-Verbrechen stattgefunden hat. Es mag sich damit die Rigorisität manches Urteils gemindert haben. Aber zugleich hat das Geschehen jener Jahre die Tendenz, immer größer und unfaßlicher, nämlich immer mehr unter dem Möglichkeits- als unter dem Wirklichkeitsaspekt zu erscheinen. Zunächst, nach dem Krieg, als die Generationen der unmittelbar Beteiligten das öffentliche Leben bestimmten, war man in der ursprünglichen Empörung, in Anklage und Verteidigung, Betroffensein und Verdrängung der Wirklichkeit des Geschehens selbst, also mit der ganzen Entsetzlichkeit und Grausamkeit des Krieges und der Verfolgung noch fast unmittelbar konfrontiert. Es war den Wissenden und zumal den Hassenden klar, wie einzigartig Einsatzkommandos, Konzentrationslager und Vergasung waren. (. . .) Jetzt hingegen, aus dem Abstand von vierzig Jahren, (. . .) jetzt macht uns schon die Möglichkeit des damaligen Krieges, des Schießens, der Bedrohung und raschen Verurteilung von Menschen, macht uns die Möglichkeit von Totalitarismus aufs schwerste zu schaffen. Nicht nur die Untaten selbst, sondern ihr ganzes engeres und weiteres Umfeld erscheinen als kaum begreiflich: das Geheimnis, das sie umgab, die exakte Befolgung der Befehle, der Diensteifer, die offene Unmenschlichkeit, vielfältigste Gewalt und Bereitschaft, sie hinzunehmen. (...) Wir wissen heute - oder könnten doch oder sollten wissen daß die Beteiligung an den Untaten sich sehr weit verzweigte. Hinter den Befehlshabern und Administratoren der Mordmaschinerie sowie den KZ-Schergen standen die Polizisten, die die Opfer sammelten, die Eisenbahner, die sie brachten; vor ihnen stand die ganze Deutsche Wehrmacht, die die Fronten verteidigte, hinter denen die Vernichtungsmaschinen arbeiten konnten: Soldaten, von denen viele auch zu Zeugen der Juden-Erschießungen, der Deportationen wurden, ohne dem zu wehren, ohne daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. »Wenn das wahr ist« (was über Juden-Erschießungen erzählt wurde), sagte ein damals junger Offizier, »dann dürfen wir den Krieg nicht gewinnen.« Aber er kämpfte weiter, wie er es für seine Pflicht hielt, für sein Land, mit seinen Kameraden, die er nicht im Stich lassen wollte. Wie viele wirkten mit, um das weitere Umfeld der Verbrechen aufzubauen, das vielfache weitere Unrecht - etwa die Gefangenen-Erschießungen - und das tatenlose Zusehen geschehen zu lassen? Gewiß ein perfekter Unterdrückungsapparat, aber auch viel Bereitschaft oder wenigstens menschliche Schwächen, die ihm seine Arbeit erleichterten! (. . .) 41
Daß die Deutschen dann im Krieg ihre Aufgaben pünktlich, korrekt und tüchtig erfüllten, tapfer waren, ihr Leben aufs Spiel setzten, wird man ihnen im einzelnen kaum vorhalten können. Wie sollten sie, aufs Ganze gesehen, um des Regimes willen ihr Land im Stich lassen? Sie haben auch darin zumeist nicht anders - vermutlich auch nicht schlechter - gehandelt als ihre Gegner. Nur daß wohl die Zahl derer, die zu offensichtlich unrechten Taten kommandierten oder sich kommandieren ließen, auf deutscher Seite viel größer war als in anderen Armeen. Und daß vom Regime, insbesondere von seiner Rassenlehre her, nicht nur die großen Verbrechen, sondern auch zahlreiche kleinere Unrechtmäßigkeiten und Schikanen nahegelegt wurden, da die ethischen Normen erschüttert oder stark relativiert waren. (. . .) H Z , 28. 6.1986
7.
Jürgen
Habermas
Eine Art Schadensabwicklung Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung
Der Erlanger Historiker Michael Stürmer bevorzugt eine funktionale Deutung des historischen Bewußtseins: »In einem geschichtslosen Land (gewinnt derjenige) die Zukunft, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.« Im Sinne jenes neokonservativen Weltbildes von Joachim Ritter, das in den siebziger Jahren von seinen Schülern aktualisiert worden ist, stellt sich Stürmer Modernisierungsprozesse als eine Art Schadensabwicklung vor. Der einzelne muß für die unvermeidliche Entfremdung, die er als »Sozialmolekül« in der Umgebung einer versachlichten Industriegesellschaft erfährt, mit identitätsstiftendem Sinn kompensiert werden. Stürmer sorgt sich freilich weniger um die Identität des einzelnen als um die Integration des Gemeinwesens. Der Pluralismus der Werte und Interessen treibt, »wenn er keinen gemeinsamen Boden mehr findet . . . früher oder später zum sozialen Bürgerkrieg«. Es bedarf »jener höheren Sinnstiftung, 42
die nach der Religion bisher allein Nation und Patriotismus zu leisten imstande waren«. Eine politisch verantwortungsbewußte Geschichtswissenschaft wird sich dem Ruf nicht versagen, ein Geschichtsbild herzustellen und zu verbreiten, das dem nationalen Konsens förderlich ist. Die Fachhistorie wird ohnehin »vorangetrieben durch kollektive, großenteils unbewußte Bedürfnisse nach innerweltlicher Sinnstiftung: (sie) muß diese aber« - und das empfindet Stürmer durchaus als ein Dilemma - »in wissenschaftlicher Methodik abarbeiten«. Deshalb macht sie sich auf »die Gratwanderung zwischen Sinnstiftung und Entmythologisierung«. Beobachten wir zunächst den Kölner Zeithistoriker Andreas Hillgruber bei seiner Gratwanderung. (. . .) Im ersten Teil seiner Studie beschreibt Hillgruber den Zusammenbruch der deutschen Ostfront während des letzten Kriegsjahres 1944/ 45. Zu Beginn erörtert er das »Problem der Identifizierung«, die Frage nämlich, mit welcher der seinerzeit beteiligten Parteien der Autor sich in seiner Darstellung identifizieren solle. Da er die Situationsdeutung der Männer vom 20. Juli gegenüber der verantwortungsethischen Haltung der Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister vor Ort als bloß »gesinnungsethisch« schon abgetan hat, bleiben drei Positionen. Die Durchhalteperspektive Hitlers lehnt Hillgruber als sozialdarwinistisch ab. Auch eine Identifikation mit den Siegern kommt nicht in Betracht. Diese Befreiungsperspektive sei nur für die Opfer der Konzentrationslager angebracht, nicht für die deutsche Nation im ganzen. Der Historiker hat nur eine Wahl: »Er muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren, die die Bevölkerung des deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren und . . . den Fluchtweg nach Westen freizuhalten suchten.« Man fragt sich verdutzt, warum der Historiker von 1986 nicht eine Retrospektive aus dem Abstand von vierzig Jahren versuchen, also seine eigene Perspektive einnehmen sollte, von der er sich ohnehin nicht lösen kann. Sie bietet zudem den hermeneutischen Vorzug, die selektiven Wahrnehmungen der unmittelbar beteiligten Parteien in Beziehung zu setzen, gegeneinander abzuwägen und aus dem Wissen des Nachgeborenen zu ergänzen. Aus diesem, man möchte fast sagen: »normalen« Blickwinkel will Hillgruber jedoch seine Darstellung nicht schreiben, denn dann kämen unvermeidlich Fragen der »Moral 43
in Vernichtungskriegen« ins Spiel. Die aber sollen ausgeklammert bleiben. Hillgruber erinnert in diesem Zusammenhang an die Äußerung von Norbert Blüm, daß, solange nur die deutsche »Ostfront« hielt, auch die Vernichtungsaktionen in den Lagern weitergehen konnten. Diese Tatsache müßte einen langen Schatten auf jenes »Bild des Entsetzens von vergewaltigten Frauen und ermordeten Kindern« werfen, das sich beispielsweise den deutschen Soldaten nach der Rückeroberung von Nemmersdorf geboten hat. Hillgruber geht es um eine Darstellung des Geschehens aus der Sicht der tapferen Soldaten, der verzweifelten Zivilbevölkerung, auch der »bewährten« Hoheitsträger der NSDAP; er will sich in die Erlebnisse der Kämpfer von damals hineinversetzen, die noch nicht von unseren retrospektiven Kenntnissen eingerahmt und entwertet sind. Diese Absicht erklärt das Prinzip der Zweiteilung der Studie in »Zusammenbruch im Osten« und »Judenvernichtung«, zwei Vorgänge, die Hillgruber gerade nicht, wie der Klappentext ankündigt, »in ihrer düsteren Verflechtung« zeigen will. Nach dieser Operation, die man wohl dem von Stürmer erwähnten Dilemma sinnstiftender Historie zugute halten muß, zögert Hillgruber freilich nicht, das Wissen des nachgeborenen Historikers doch noch in Anspruch zu nehmen, um die im Vorwort eingeführte These zu belegen, daß die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten keineswegs als eine »Antwort« auf die Verbrechen in den Konzentrationslagern zu verstehen sei. Anhand der alliierten Kriegsziele weist er nach, daß »für den Fall einer deutschen Niederlage zu keinem Zeitpunkt des Krieges Aussicht bestand, den größeren Teil der preußisch-deutschen Ostprovinzen zu retten«; dabei erklärt er das Desinteresse der Westmächte mit einem »klischeehaften Preußenbild«. Daß die Machtstruktur des Reiches mit der besonders in Preußen konservierten Gesellschaftsstruktur zu tun haben könnte, kommt Hillgruber nicht in den Sinn. Von sozialwissenschaftlichen Informationen macht er keinen Gebrauch. (. . .). Wie dem auch sei, die Westmächte waren durch ihr illusionär wahrgenommenes Kriegsziel, die Zerschlagung Preußens, verblendet. Zu spät erkannten sie, wie durch den Vormarsch der Russen »ganz Europa der Verlierer der Katastrophe von 1945« wurde. Vor dieser Szene nun kann Hillgruber das »Ringen« des deutschen Ostheeres ins rechte Licht rücken - den »verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches, das nach dem Willen der Alliierten zertrümmert werden sollte. Das deutsche Ostheer bot einen Schutzschirm vor einem jahrhundertealten deutschen Siedlungsraum, vor der Heimat von Millionen, die in einem Kernland des Deutschen Reiches . . . 44
wohnten.« Die dramatische Darstellung schließt dann mit einer Wunschdeutung des 8. Mai 1945: Vierzig Jahre danach sei die Frage einer »Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte . . . so offen wie damals, als die Zeitgenossen als Mithandelnde oder Opfer Zeugen der Katastrophe des deutschen Ostens wurden«. Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand: Heute wenigstens stimmt die Allianz. (. . .) Der in der Rhetorik von Kriegsheftchen beschworenen »Zerschlagung des Deutschen Reiches« (die anscheinend nur an der »Ostfront« stattgefunden hat) steht das nüchtern registrierte »Ende des europäischen Judentums« gegenüber. Die »Zerschlagung« verlangt einen aggressiven Gegner, ein »Ende« stellt sich gleichsam von selber ein. Während dort »die Vernichtung ganzer Armeen neben dem Opfermut einzelner« stand, ist hier von den »stationären Nachfolgeorganisationen« der Einsatzkommandos die Rede. Während dort »manche Unbekannte in der hereinbrechenden Katastrophe über sich hinauswuchsen«, werden hier die Gaskammern als »effektivere Mittel« der Liquidation umschrieben. Dort die nicht-revidierten, unausgedünsteten Klischees eines aus Jugendtagen mitgeführten Jargons, hier die bürokratisch gefrorene Sprache. Der Historiker wechselt nicht nur die Perspektive der Darstellung. Nun geht es um den Nachweis, daß »der Mord an den Juden ausschließlich eine Konsequenz aus der radikalen Rassendoktrin« gewesen sei. (. . .) Hillgruber bezweifelt aber, daß zwischen 1938 und 1941 bereits alle Funktionsträger eine forcierte Auswanderungspolitik als die beste Lösung der Judenfrage angesehen hätten. Immerhin seien bis dahin zwei Drittel der deutschen Juden »ins Ausland gelangt«. Was schließlich, seit 1941, die Endlösung anbetrifft, es war Hitler allein, der sie von Anbeginn ins Auge gefaßt hatte. Hitler wollte die physische Vernichtung aller Juden, »weil nur durch eine solche »rassische Revolution der angestrebten >Weltmacht-Position< seines Reiches Dauerhaftigkeit verliehen werden konnte«. Da dem letzten Wort der konjunktivische Umlaut fehlt, weiß man nicht, ob sich der Historiker auch diesmal die Perspektive des Beteiligten zu eigen macht. (...) Dagegen sei Hitler mit der Idee der »Endlösung« sogar in der engsten Führungsclique, »einschließlich Görings, Himmlers und Heydrichs«, isoliert gewesen. Nachdem Hitler so als der alleinverantwortliche Urheber für Idee und Entschluß identifiziert worden ist, harrt nur noch die Durchführung einer Erklärung (. . .). Freilich wäre das Ziel der mühsamen Revision gefährdet, wenn dieses Phänomen am Ende doch noch einer moralischen Beurteilung aus45
geliefert werden müßte. An dieser Stelle bricht deshalb der narrativ verfahrende Historiker, der von sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen nichts hält, ins Anthropologisch-Allgemeine aus. (. . .) Hillgrubers Bonner Kollege Klaus Hildebrand empfiehlt in der Historischen Zeitschrift (Bd. 242. 1986, 465 f.) eine Arbeit von Ernst Nolte als »wegweisend«, weil sie das Verdienst habe, der Geschichte des »Dritten Reiches« das »scheinbar Einzigartige« zu nehmen und »die Vernichtungskapazität der Weltanschauung und des Regimes« in die gesamttotalitäre Entwicklung historisierend einzuordnen. Nolte, der schon mit dem Buch über den »Faschismus in seiner Epoche« (1963) weithin Anerkennung gefunden hatte, ist in der Tat aus anderem Holz geschnitzt als Hillgruber. In seinem Beitrag »Zwischen Mythos und Revisionismus« begründet er heute die Notwendigkeit einer Revision damit, daß die Geschichte des »Dritten Reiches« weitgehend von den Siegern geschrieben und zu einem »negativen Mythos« gemacht worden sei. (. . .) (. . .) Selbst die Totalitarismustheorie der fünfziger Jahre habe keine veränderte Perspektive angeboten, sondern nur dazu geführt, in das negative Bild eben auch die Sowjetunion einzubeziehen. Ein Konzept, das derart vom Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat lebt, genügt Nolte noch nicht; ihm geht es um die Dialektik wechselseitiger Vernichtungsdrohungen. Lange vor Auschwitz habe Hitler, meint er, gute Gründe gehabt für seine Uberzeugung, daß der Gegner auch ihn habe vernichten wollen. (. . .) Als Beleg gilt ihm die »Kriegserklärung«, die Chaim Weizmann im September 1939 für den jüdischen Weltkongreß abgegeben und die Hitler dazu berechtigt habe, die deutschen Juden als Kriegsgefangene zu behandeln - und zu deportieren. Man hatte schon vor einigen Wochen (. . .) lesen können, daß Nolte dieses abenteuerliche Argument einem jüdischen Gast, seinem Fachkollegen Saul Friedländer aus Tel Aviv, zum Abendessen serviert hatte - jetzt lese ich es schwarz auf weiß. Nolte ist nicht der betulich-konservative Erzähler, der sich mit dem »Identifikationsproblem« herumschlägt. Er löst Stürmers Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft durch forsche Dezision und wählt als Bezugspunkt seiner Darstellung den Terror des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha. Von hier aus rekonstruiert er eine Vorgeschichte, die über den »Gulag«, die Vertreibung der Kulaken durch Stalin und die bolschewistische Revolution zurückreicht bis zu Babeuf, den Frühsozialisten und den englischen Agrarreformern des frühen 19. Jahrhunderts - eine Linie des Aufstandes gegen die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung, getrieben von der illusionären Sehnsucht nach 46
der Wiederherstellung einer überschaubaren, autarken Welt. In diesem Kontext des Schreckens erscheint dann die Judenvernichtung nur als das bedauerliche Ergebnis einer immerhin verständlichen Reaktion auf das, was Hitler als Vernichtungsdrohung empfinden müßte: »Die sogenannte Vernichtung der Juden während des Dritten Reiches war eine Reaktion oder eine verzerrte Kopie, aber nicht ein erstmaliger Vorgang oder ein Original«. (. . .) (. . .) Das alles fügt sich trefflich in heute dominierende Stimmungslagen - und in den Reigen der kalifornischen Weltbilder, die daraus hervorsprießen. Ärgerlicher ist die Entdifferenzierung, die aus dieser Sicht »Marx und Maurras, Engels und Hitlers bei aller Hervorhebung ihrer Gegensätze dennoch zu verwandten Figuren« macht. Erst wenn sich Marxismus und Faschismus gleichermaßen als Versuche zu erkennen geben, eine Antwort zu geben »auf die beängstigenden Realitäten der Moderne« kann auch die wahre Intention des Nationalsozialismus von dessen unseliger Praxis fein säuberlich geschieden werden. (. . .) Nun könnte man die skurrile Hintergrundphilosophie eines bedeutend-exzentrischen Geistes auf sich beruhen lassen, wenn nicht neokonservative Zeithistoriker sich bemüßigt fühlten, sich genau dieser Spielart von Revisionismus zu bedienen. Als Beitrag zu den diesjährigen Römerberggesprächen (. . .) bescherte uns das Feuilleton der FAZ vom 6. Juni 1986 einen militanten Artikel von Ernst Nolte (. . .). Auch Stürmer solidarisierte sich (. . .) mit dem Zeitungsaufsatz, in dem Nolte die Singularität der Judenvernichtung auf »den technischen Vorgang der Vergasung« reduziert und mit einem eher abstrusen Beispiel aus dem russischen Bürgerkrieg seine These belegt, daß der Archipel Gulag »ursprünglicher« sei als Auschwitz. Dem Film »Shoah« von Lanzmann weiß der Autor nur zu entnehmen, »daß auch die SS-Mannschaften der Todeslager auf ihre Art Opfer sein mochten und daß es andererseits unter den polnischen Opfern des Nationalsozialismus virulenten Antisemitismus gab«. Diese unappetitlichen Kostproben zeigen, daß Nolte einen Fassbinder bei weitem in den Schatten stellt. Wenn die FAZ mit Recht gegen die in Frankfurt geplante Aufführung dieses Stücks zu Felde gezogen ist, warum dann dies? Ich kann mir das nur so erklären, daß Nolte nicht nur jenes Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft eleganter umschifft als andere, sondern für ein weiteres Dilemma eine Lösung parat hat. Dieses Dilemma beschreibt Stürmer mit dem Satz: »In der Wirklichkeit des geteilten Deutschlands müssen die Deutschen ihre Identität finden, 47
die im Nationalstaat nicht mehr zu begründen ist, ohne Nation aber auch nicht.« Die Ideologieplaner wollen über eine Wiederbelebung des Nationalbewußtseins Konsens beschaffen, gleichzeitig müssen sie aber die nationalstaatlichen Feindbilder aus dem Bereich der Nato verbannen. Für diese Manipulation bietet Noltes Theorie einen großen Vorzug. Er schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Nazi-Verbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation und erklärt sich aus der »asiatischen« Bedrohung durch einen Feind, der immer noch vor unseren Toren steht. (...) Wenn man sich die Zusammensetzung der Kommissionen ansieht, die die Konzeptionen für die von der Bundesregierung geplanten Museen, das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, ausgearbeitet haben, kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß auch Gedanken des Neuen Revisionismus in die Gestalt von Exponaten, von volkspädagogisch wirksamen Ausstellungsgegenständen umgesetzt werden sollen. (. . .) Wer wollte sich schon gegen ernstgemeinte Bemühungen stemmen, das historische Bewußtsein der Bevölkerung in der Bundesrepublik zu stärken. Es gibt auch gute Gründe für eine historisierende Distanzierung von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. (. . .) Jene komplexen Zusammenhänge zwischen Kriminalität und doppelbödiger Normalität des NS-Alltags, zwischen Zerstörung und vitaler Leistungskraft, zwischen verheerender Systemperspektive und unauffällig-ambivalenter Nahoptik vor Ort könnten eine heilsam objektivierende Vergegenwärtigung durchaus vertragen. Die kurzatmig pädagogisierende Vereinnahmung einer kurzschlüssig moralisierten Vergangenheit von Vätern und Großvätern könnte dann dem distanzierenden Verstehen weichen. Die behutsame Differenzierung zwischen dem Verstehen und dem Verurteilen einer schockierenden Vergangenheit könnte auch die hypnotische Lähmung lösen helfen. Allein, diese Art von Historisierung würde sich eben nicht wie der von Hildebrand und Stürmer empfohlene Revisionismus eines Hillgruber oder Nolte von dem Impuls leiten lassen, die Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln. Ich will niemandem böse Absichten unterstellen. Es gibt ein einfaches Kriterium, an dem sich die Geister scheiden: Die einen gehen davon aus, daß die Arbeit des distanzierenden Verstehens die Kraft einer reflexiven Erinnerung freisetzt und 48
damit den Spielraum für einen autonomen Umgang mit ambivalenten Überlieferungen erweitert; die anderen möchten eine revisionistische Historie in Dienst nehmen für die nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität. (. . .) Wer auf die Wiederbelebung einer in Nationalbewußtsein naturwüchsig verankerten Identität hinauswill, wer sich von funktionalen Imperativen der Berechenbarkeit, der Konsensbeschaffung, der sozialen Integration durch Sinnstiftung leiten läßt, der muß den aufklärenden Effekt der Geschichtsschreibung scheuen und einen breitenwirksamen Pluralismus der Geschichtsdeutungen ablehnen. Man wird Michael Stürmer kaum Unrecht tun, wenn man seine Leitartikel in diesem Sinne versteht (. . .). Stürmer plädiert für ein vereinheitlichtes Geschichtsbild, das anstelle der ins Private abgedrifteten religiösen Glaubensmächte Identität und gesellschaftliche Integration sichern kann. Geschichtsbewußtsein als Religionsersatz - ist die Geschichtsschreibung mit diesem alten Traum des Historismus nicht doch etwas überfordert? Gewiß, die deutschen Historiker können auf eine wahrlich staatstragende Tradition ihrer Zunft zurückblicken. (. . .) Bis in die späten fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts herrschte jene Mentalität, die sich seit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und nach der Niederlage der liberalen Geschichtsschreibung vom Typ Gervinus ausgebildet hatte: »Liberale, aufgeklärte Historiker konnte man fortan fast hundert Jahre lang nur mehr isoliert oder in kleinen Randgruppen finden. Die Mehrheit der Zunft dachte und argumentierte reichsnational, staatsbewußt, machtpolitisch.« Daß sich nach 1945, jedenfalls mit der Generation der nach 1945 ausgebildeten jüngeren Historiker, nicht nur ein anderer Geist, sondern ein Pluralismus von Lesarten und methodischen Ansätzen durchsetzte, ist aber keineswegs nur eine Panne, die sich schlicht reparieren ließe. Vielmehr war die alte Mentalität nur der fachspezifische Ausdruck eines Mandarinenbewußtseins, das die Nazizeit aus guten Gründen nicht überlebt hat: Durch erwiesene Ohnmacht gegen oder gar Komplizenschaft mit dem Naziregime war sie vor aller Augen ihrer Substanzlosigkeit überführt worden. Dieser geschichtlich erzwungene Reflexionsschub hat nicht nur die ideologischen Prämissen der deutschen Geschichtsschreibung berührt; er hat auch das methodische Bewußtsein für die Kontextabhängigkeit jeder Geschichtsschreibung verschärft. Es ist jedoch ein Mißverständnis dieser hermeneutischen Einsicht, wenn die Revisionisten heute davon ausgehen, daß sie die Gegenwart aus Scheinwerfern beliebig rekonstruierter Vorgeschichten anstrahlen und aus diesen Optionen ein besonders geeignetes Geschichtsbild aus49
wählen könnten. Das geschärfte methodische Bewußtsein bedeutet vielmehr das Ende jedes geschlossenen, gar von Regierungshistorikern verordneten Geschichtsbildes. Der unvermeidliche, keineswegs unkontrollierte, sondern durchsichtig gemachte Pluralismus der Lesarten spiegelt nur die Struktur offener Gesellschaften. Er eröffnet erst die Chance, die eigenen identitätsbildenden Überlieferungen in ihren Ambivalenzen deutlich zu machen. Genau dies ist notwendig für eine kritische Aneignung mehrdeutiger Traditionen, das heißt für die Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins, das mit geschlossenen und sekundär naturwüchsigen Geschichtsbildern ebenso unvereinbar ist wie mit jeder Gestalt einer konventionellen, nämlich einhellig und vorreflexiv geteilten Identität. (. . .) Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte. Stabilisiert wird das Ergebnis nicht durch eine deutsch-national eingefärbte Natophilosophie. Jene Öffnung ist ja vollzogen worden durch Überwindung genau der Ideologie der Mitte, die unsere Revisionisten mit ihrem geopolitischen Tamtam von »der alten europäischen Mittellage der Deutschen« (Stürmer) und »der Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte« (Hillgruber) wieder aufwärmen. Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können. Wer uns mit einer Floskel wie »Schuldbesessenheit« (Stürmer und Oppenheimer) die Schamröte über dieses Faktum austreiben will, wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen. DIE ZEIT, 11. 7. 86
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8. Frank S c h i r r m a c h e r *
Aufklärung? Habermas und die Geschichte
Irgendwann in den letzten Jahren müssen führende Teile der deutschen Intelligenz buddhistisch geworden sein. Auf irgendeine Weise sind lutherisches Pathos, sensibler Protest, zornige Debatte zum fernöstlichen »Sichhineinfühlen« geronnen. Die wundersame Verwandlung von Rede- und Streitlust in neblige Gefühlskultur geschah ganz heimlich. Sie ereignete sich an der »Basis«, beim zivilisatorischen Fußvolk und zog träge nach oben. Schon beginnen die kritischen Vordenker der Gesellschaft mehr von »Stimmungen« und »Empfindungen« zu reden, statt Argumente zu bieten. Ein Beispiel dieser stillen Bekehrung liefert ein Artikel des Soziologen Jürgen Habermas, den dieser unter dem Titel »Eine Art Schadensabwicklung« gestern in der »Zeit« veröffentlichte. Habermas rechnet mit den vorgeblich »apologetischen Tendenzen in der deuschen Zeitgeschichtsschreibung« ab. (. . .) Erst im vierten Teil des Artikels [vgl. Dok. 7, S. 48 f.] gibt Habermas das Ziel dieses Angriffs zu erkennen: die »apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« paßten aufs vortrefflichste zu den Plänen der Bundesregierung, ein Deutsches Historisches Museum in Berlin einzurichten. Hieß es bislang bei einigen Gegnern des Konzepts, das Historische Museum werde ein abstraktes Geschichtsbewußtsein »verordnen«, so bereichert Habermas die Debatte um eine neue Pointe: das Museum werde den Nationalsozialismus zu einer Art Betriebsunfall der deutschen Geschichte herunterspielen. Kein Mensch wird Habermas darin widersprechen, daß es ein lineares, teleologisches, zielgerichtetes Geschichtsbewußtsein nicht mehr geben kann. Daß sich bei den Historikern »nicht nur ein anderer Geist, sondern ein Pluralismus von Lesarten und methodischen Ansätzen durchsetzt«, verbindet diese mit allen anderen Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Arbeiten von Nolte und Hillgruber bezeugen diesen Pluralismus (. . .). Habermas kann nicht im Ernst glauben, daß ein Historisches Museum diese Vielfalt rückgängig machen könnte. Identität läßt sich nicht erfinden. (...) 51
(. . .) Die »Revisionisten« benutzten Geschichte als »Religionsersatz«, als Träger der verlorengegangenen nationalen Identität, sie plädierten für ein »vereinheitlichtes Geschichtsbild, das anstelle der ins Private abgedrifteten religiösen Glaubensmächte Identität und gesellschaftliche Integration sichern kann«. Das ist nicht originell, aber es ist äußerst folgenreich, und es trifft in erster Linie die Position von Jürgen Habermas selber. Denn die »Vereinheitlichung« des Geschichtsbildes, die Habermas heraufziehen sieht, ist Reaktion auf die Uniformierung des Geschichtsbildes, die Habermas seit Jahrzehnten betreibt. Der intellektuelle Pluralismus, den er nun gegen die neuen »Revisionisten« ins Feld führt, war in dem monströsen Habermas'schen »Projekt der Moderne«, dort, wo es empirisch wurde, selten zu spüren. (. . .) Habermas' Ausfälle gegen die »Revisionisten« in der Geschichtswissenschaft (. . .) wirken unterdessen wie intellektuelle Machtsicherung, welche die »Stimmung« erst produziert, gegen die sie sich dann vehement zur Wehr setzt. Habermas kann dem angeblichen Mentalitätswandel der Zeithistoriker nichts anderes vorwerfen als die Mutmaßung, sie wollten eine »entmoralisierte Vergangenheit« abschütteln. (. . .) Die Habermas'sche Strategie der sich empirisch gebenden Verdächtigung, des Indizienprozesses, der mit den selbstverfaßten Gesetzen einer diffusen »Moderne« geführt wird, sind selber schon Ausdruck eines zutiefst ahistorischen Bewußtseins. (...) (. . .) Neuzeitliche Identität bedeutet auch Gewalt, Imagination, voraussetzungslose Subjektivität. Für diese Aspekte, für die Metaphysik der Alltagsgeschichte, fehlten Habermas allem Anschein nach die Sprache und die Anschauung. Statt dessen argumentiert der Soziologe buddhistisch: er entlarvt »Stimmungen« empirisch, und er fühlt sich in vorgebliche Mentalitätswechsel hinein. Dieter Henrich hat den Verdacht geäußert, daß Habermas' Theorie das »Denken in gerade den Fragen verweigert«, die für Philosophie die entscheidenden sind. Habermas' emotionales Gefecht gegen die Zeithistoriker legt den Verdacht nahe, daß es auch Geschichte verweigert. FAZ, 11. 7. 1986
* H e r r Schirrmacher legt Wert auf die Feststellung, d a ß die auszugsweise Wiedergabe seines Artikels o h n e seine Z u s t i m m u n g erfolgt ist.
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9.
Michael Brumlik
Neuer Staatsmythos Ostfront Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der BRD
Zu berichten ist vom Niedergang deutscher Geschichtswissenschaft auf das Niveau von Landserheftchen. In der preziösen, viel zu teueren Geschenkreihe des Siedler Verlages, die verschmockt »Corso« getauft wurde, sind zwei überarbeitete, bereits anderswo gehaltene Vorträge und Aufsätze von Hillgruber unter dem Titel »Zweierlei Untergang« erschienen.(. . .) Ein neues Niveau Zumal der erste Aufsatz stellt an Schamlosigkeit und Zynismus alles in den Schatten, was seitens »seriöser« Wissenschaft an pronazistischen Stellungnahmen erschienen ist, während der zweite Aufsatz sich seines Themas eher unlustig und gleichsam gepreßt entledigt. Das Erscheinen von Hillgrubers Buch im Siedler Verlag stellt einen Einschnitt dar, der das Umschwenken deutscher Konservativer zum aggressiven Nationalismus signalisiert. Der Rahmen dieses Umschwenkens ist die Einsicht der Nationalisten in das Paradox ihres Versuchs, in Bitburg und später am Rhein die Versöhnung zwischen Opfern und Henkern zu erzwingen. Es scheint, als seien die Planer des kollektiven Gedenkens in patriotischer bzw. nationalistischer Absicht dieses Paradoxes gewahr geworden, weswegen sie auf den untauglichen Versuch einer Versöhnung mit den ermordeten Juden, Sinti und Slawen verzichten und sich ganz auf die im Kriege und während der Vertreibung umgekommenen Deutschen konzentrieren. (...) (. . .) Die politische Kultur der Verdrängung wird dort am deutlichsten, wo Menschen der verständlichen Versuchung nicht widerstehen können, das unbegreiflich-welthistorisch Einmalige, das die Holocaust genannte Massenvernichtung darstellte, anderen, bekannten und nachvollziehbaren Tötungshandlungen zu assimilieren. 53
Auschwitz das kleinere Übel, um das größere, die sowjetischen Massaker, zu verhindern Indem dies geschieht, wird die Shoah zu einer Art verständlichem Massaker umdefiniert, die um Vermeidung weiterer Massaker willen in Kauf zu nehmen war. Auf diese Art und Weise wird endlich der deutsche Abwehrkampf im Osten zu einem tragischen Ereignis, bei dem die Soldaten das Morden in den KZs schützen mußten, um ihre eigenen Landsleute vor sowjetischen Massakern zu bewahren. (. . .) Vertreten werden derlei Thesen nicht etwa von der Deutschen National- und Soldatenzeitung, die dies schon immer vertrat, sondern von dem Repräsentanten der seriösen Universitätshistorik Andreas Hillgruber (. . .). (...) Zum ersten Mal gibt ein konservativer, renommierter und angesehener Historiker öffentlich zu Protokoll, daß die Ausrottung der Juden und Sinti unter gewissen Umständen, wenn schon nicht gebilligt, so doch legitimerweise billigend in Kauf genommen werden durfte! Über Kohl und Dregger hinaus soll es nun nicht mehr nur darum gehen, auch der Wehrmacht, also der Beschützer der Mörder zu gedenken, sondern auch ihr faktisches Schützen des industriellen Massenmordes ausdrücklich anzuerkennen. Die Rekonstruktion der Nationalgeschichte mündet so - mit eiserner Konsequenz und auf abschüssiger Bahn - darin, die Shoah als eine von zwei etwa gleichbedeutenden Katastrophen anzusehen (. . .). Schon der euphemistische Titel verkündet das Programm: Während das deutsche Reich zerschlagen wird, endet das europäische Judentum - ein Prozeß, dem nicht anzusehen ist, wer ihn verursacht hat. (. . .) Bei Hillgruber ist nur noch von einem theatralisch-tragischen »Untergang« die Rede, aus der Vernichtung wird das Ende, und aus den ermordeten Juden das Judentum. Die tragisierende Abstraktifizierung, die sich im Innern des Buches so nicht durchhalten läßt - hat nur die Funktion, das Grauen hinter Worthülsen verschwinden zu lassen, es abzubuchen, abzuschließen - zu verdrängen. (...)
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Der Antikommunismus als notweniger Bestandteil der Verdrängung der Judenvernichtung
Nur wenn - wahrheitswidrig und gegen alle historischen Erfahrungen, die stalinistische Despotie und die Wut der von den Deutschen unsäglich drangsalierten Völker Osteuropas, die sich nach dem Krieg in Vertreibung, Mißhandlungen und auch Massakern äußerte - mit der kaltblütigen, geplanten, administrativ und industriell betriebenen, nur durch Sieg der Alliierten beendeten Massenvernichtung gleichgesetzt wird - nur wenn also in gewisser Weise unterstellt wird, es habe die Sowjetunion die Deutschen ausrotten wollen, läßt sich der Umstand, daß die kriegführende Nation die Vernichtungslager schützte, rechtfertigen. In dieser Hinsicht ist der Antikommunismus ein geradezu notwendiger Bestandteil von Verdrängung - beide sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Das Denken Heinrich Himmlers als neuer Staatsmythos der BRD (...) Der Verdrängung entgeht nur, wer sich der Realität stellt. In dieser Hinsicht stellt der Antikommunismus eine Herausforderung dar - zumindest was die sogenannte Bewältigung des Nationalsozialismus und die Verdrängung der Shoah angeht. Er entläßt uns mit einer einfachen Frage: Gab oder gibt es in der Sowjetunion Gaskammern? Und wenn nicht - heißt das, daß sie dennoch mit dem Nationalsozialismus vergleichbar ist? Sind also - und darauf kommt es an - die Gaskammern, Eisenbahnbetriebe und Bürokratien der Massenvernichtung in moralischer und politischer Hinsicht zufälliges Beiwerk eines beliebigen Totalitarismus oder nicht doch Ausdruck, nein Wesen eines weltgeschichtlich einmaligen Verbrechens, dessen Dimensionen sich unserem moralischen Fassungsvermögen je und je wieder entziehen, so daß wir stets versucht sind, es in vertraute und bekannte Kategorien zurückzuholen? Hillgrubers Versuch jedenfalls, die Massenvernichtung gegen die Ostfront aufzuwiegen, stellt nichts anderes dar, als das Programm Himmlers aus den letzten Kriegsmonaten. (Sonderfrieden im Westen / Weiter »kämpfen« und Morden im Osten). Sollte also das Denken Heinrich Himmlers der neue Staatsmythos der Bundesrepublik werden? tax, 12. 7. 1986
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10.
Klaus Hildebrand
Das Zeitalter der Tyrannen Geschichte und Politik: Die Verwalter der Aufklärung, das Risiko der Wissenschaft und die Geborgenheit der Weltanschauung / Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas
Jürgen Habermas' am 11. Juli 1986 in der »Zeit« unter dem Titel »Eine Art Schadensabwicklung« erschienerer Artikel über die angeblich »apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« ist ein trübes Gebräu aus Politik und Wissenschaft, aus Weltanschauung und Geschichtsbetrachtung, aus Vorurteilen und Tatsachen. Daß die Hamburger Wochenzeitung seiner sogenannten »Kampfansage« sogleich toposartig die »beste aufklärerische Tradition« testiert, ändert nichts daran, daß hier unter dem Rubrum der Aufklärung Gegenaufklärung betrieben wird. (. . .) Auch der obligatorische Hinweis auf die Wertbehaftetheit aller Wissenschaft hilft da kaum weiter und wird fadenscheinig, wenn man sich auf Kosten der Wahrheitssuche ins Politisieren begibt. Wer einen ins Gewand des Philosphischen gehüllten Artikel verfaßt, der mit dem Eigentlichen der Wissenschaft, sich über Verlangen und Widerwillen hinwegzusetzen und um Objektivität bemüht zu sein, nichts mehr zu tun hat, erweist der Politik einen schlechten Dienst und verleugnet die Wissenschaft allemal. Falsche Zitate Das Anliegen dieser Entgegnung ist es nicht, sich mit den weltanschaulichen und politischen Urteilen auseinanderzusetzen, die in Habermas' Artikel dominieren. Verzichtet wird auch darauf, fehlerhafte Zitate seiner Abhandlung im einzelnen nachzuweisen. Mit Schmunzeln übergangen werden ridiküle Einschätzungen des Autors (zum Beispiel: Jürgen Kocka als Liberaler), und der Auseinandersetzung nicht wert erscheinen die wütenden Rundumschläge gegen Michael Stürmers Anschauungen über Geschichte und Politik. Eine den Sinn eines Textes nahezu verfälschende Zitation muß jedoch erwähnt werden, da sie für die tendenziöse Machart des Artikels typisch ist. Dem Kölner Historiker Andreas Hillgruber wird unterstellt, er habe 56
»Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums« (»Zweierlei Untergang«, Corso bei Siedler, Berlin 1986) unter anderem »aus der Sicht der tapferen Soldaten, der verzweifelten Zivilbevölkerung, auch der »bewährten« Hoheitsträger der NSDAP« darstellen wollen. Postume Mohrenwäsche also für Hitlers »Goldfasanen« durch einen renommierten Vertreter der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft - so suggeriert es der »Aufklärer« Habermas seinem Leser. Ein Blick in Hillgrubers Studie belehrt einen jedoch umgehend des Besseren. Denn dessen Ausführungen bemühen sich um ebenjene Differenzierungen, die Jürgen Habermas fremd bleiben müssen, da seine aus Vergröberungen zusammengefügte »Kampfansage« ansonsten in sich zusammenfiele. Hillgruber jedenfalls schreibt: »Von den Hoheitsträgern der NSDAP bewährten sich manche in der Not von letzter, verzweifelter Verteidigung, von Zusammenbruch und Flucht, andere versagten, zum Teil in erbärmlicher Weise« - und auf weiteren sechzehn Zeilen wird diese Feststellung über das Versagen der anderen sodann beispielhaft illustriert. Da dies aber das von Habermas gezeichnete Schwarzweißgemälde über Fortschritt und Reaktion in der deutschen Historiographie so offensichtlich stört, übergeht er es geflissentlich und schiebt Hillgruber eine Würdigung der »bewährten Hoheitsträger« der NSDAP unter. Der Sachverhalt spricht für sich und wird dazu noch durch den schnoddrigen Vorwurf abgerundet, Hillgrubers Abhandlung erinnere in ihrem ersten Teil an die »Rhetorik von Kriegsheftchen«. Man male sich die Reaktionen der »kritischen« Sozialwissenschaftler aus, wenn ihren Arbeiten der Jargon eines einst modischen und inzwischen arg in die Jahre gekommenen Halbstarken-Marxismus bescheinigt würde. (...) Demgemäß soll Andreas Hillgruber in der bereits erwähnten Studie über »Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums« den Versuch unternommen haben, die »deutsche Katastrophe« (Friedrich Meinecke) sozusagen aufzuteilen und die Darstellung über die Vernichtung des europäischen Judentums abzusondern von einer Glorifizierung des Endkampfes der deutschen Soldaten im Osten während der Jahre 1944/45. Die Suggestion ist irreführend. Vom zweiten Teil des »Corso«-Bandes ganz abgesehen, in dem Hillgruber die Positionen der Forschung und seine Deutung der nationalsozialistischen Rassenpolitik in extenso darlegt, durchzieht das stets beim Namen genannte - Bewußtsein von dieser moralischen Untat sein Buch (vergleiche beispielsweise die Seiten 45 und 64). 57
Nicht zuletzt vor einem solchen Hintergrund wird ja überhaupt Hillgrubers Beurteilung der deutschen und europäischen Geschichte dieser Jahre als einer Tragödie verständlich, war doch in ihr das.historische Geschehen nunmehr reduziert auf die propagandistisch von den Nationalsozialisten bereits von Anfang an fälschlich beschworene, jetzt aber zur Wirklichkeit gewordene Alternative der Deutschen, sich zwischen den ErzÜbeln des Jahrhunderts, zwischen Hitler und Stalin, zwischen einer Vernichtung im Zeichen der Rasse oder der Klasse eingepfercht zu sehen. Dabei geht es Hillgruber nicht, wie die »Kampfansage« durchgehend nahelegt, darum, das böse Tun der Russen aufzurechnen gegen das der Deutschen. Aber das ist Habermas entgangen, vielleicht aus Mangel an Sachkenntnis, vielleicht auch aus Unvertrautheit mit dem Gang historischer Forschung. (. . .) Geschichte als Utopie Der Kölner Historiker gelangt vor allem an Hand der in den letzten Jahren zugänglich gewordenen britischen Akten zu der Einsicht, daß weitausgreifende Kriegsziele mit großen, ja erschreckenden territorialen und bevölkerungspolitischen Verschiebungen nicht nur von Seiten des Hitler in vielem ebenbürtigen und gleichenden Stalin, sondern auch von Seiten der britischen Führung lange vor dem Bekanntwerden der nationalsozialistischen Untat des Genozids und nicht als Reaktion darauf entworfen wurden. Daß in dieser Beziehung nach den Hintergründen, Motiven und Zielen noch ausgiebig geforscht werden muß, liegt auf der Hand. Immer wieder tauchte auf englischer Seite in solchem Kontext die Abneigung gegenüber Preußen auf, dessen Geschichte und Existenz für Hitlers gewalttätige Politik als verursachend und verantwortlich angesehen wurden. (. . .) Was er (= Habermas) sodann freilich in anderem Zusammenhang über die Ausschreitungen der Roten Armee als sozialwissenschaftliche Interpretation anzudeuten versucht, bleibt eher dunkel (. . .). Zu unterscheiden ist doch zwischen spontanen Ausschreitungen und punktuellen Kriegsverbrechen einerseits sowie langfristigen Kriegszielprogrammen und planmäßigem Völkermord andererseits. Letztere verfolgten und verwirklichten Hitlers Deutschland im Zeichen der Rassen- und Stalins Sowjetunion im Zeichen der Klassenherrschaft. Daß Hillgruber zudem in Würdigung des gesinnungsethischen Widerstandes und in Erwähnung der »Haltebefehle« Hitlers das Schicksal 58
und die Empfindungen der 1944/45 im Osten kämpfenden deutschen Soldaten untersucht, die für Hitler gegen Stalin fochten, erscheint ganz im Gegensatz zu Habermas' Verdächtigungen über eine angebliche Verherrlichung und falsche Rechtfertigung solchen Tuns nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von Hillgruber präsentierten Forschungslage legitim und notwendig. Die Tragödie dieser Soldaten, deren Kampf gegen die Rote Armee unsägliches Leid verhinderte und doch gleichzeitig die Existenz des nationalsozialistischen Unrechtsregimes verlängerte, tritt in diesem Band Seite um Seite deutlicher hervor. (...) Hillgruber formuliert das Urteil, wonach, »auf das Schicksal der deutschen Nation als Ganzes bezogen«, es nicht angebracht ist, das Kriegsende vom Mai 1945 allein als Befreiung zu beurteilen: »Befreiung umschreibt nicht die Realität des Frühjahres 1945.« Auf diesem Feld weiterzuarbeiten und zu differenzierenden Ergebnissen zu gelangen ist eine Aufgabe, die Habermas nicht in das ihm vertraut gewordene Geschichtsbild paßt. Daran aber möchte er ungeachtet neuer Quellen, neuer Erkenntnisse und neuer Fragen, die nun einmal den Fortgang der Wissenschaft konstituieren, beharrlich festhalten. Damit aber würden Geschichte und Geschichtsschreibung in einen Endzustand überführt, der einer Utopie gliche und dem wie jeder Utopie in vielerlei Hinsicht gefährliche, sogar totalitäre Züge anhafteten. Geschichte als erklärte Feindin der Dauer ist das Gegenteil von Utopie, recht verstandene Geschichtsschreibung ist somit stets Abwehr des Totalitären. Selbst einschlägige wissenschaftliche Fragen, die immer ein gewisses Maß an Behauptungen enthalten, erscheinen Habermas unsympathisch und verdächtig. Wer solche Sperren im Dienste des ein für allemal Etablierten aufrichtet, behindert die Forschung und huldigt dem Dogma. Insofern bringen Habermas' platte Politisierungen gegenüber den von Ernst Nolte, unabhängig von politischen Gezeiten und Wenden, seit vielen Jahren vorgelegten Fragen und Thesen zum Problem der Singularität und Vergleichbarkeit des nationalsozialistischen Völkermordes in der Weltgeschichte nichts Weiterführendes. Habermas stemmt sich gegen die drohende Einsicht, daß historische Tatsachen möglicherweise stärker sein könnten, als eine unkritische Philosophie. (. . .) Da es aber keine liberalen oder reaktionären Forschungsergebnisse gibt, ist nicht einzusehen, warum wir mit den Füßen im Zement irgendeines Geschichtsbildes stehen und uns Frageverbote auferlegen sollen, die es untersagen, nach Parallelen zwischen der Vernichtungsqualität des Kommunismus und des Nationalsozialismus zu fragen be59
ziehungsweise den Vorbildern und Spuren des »Judenmords« in der Geschichte nachzugehen. (...) Die lange Zeit mit viel Berechtigung und in weit verbreiteter Form als singulär angesehene rassenpolitische Untat des »Dritten Reiches« erklärt - beziehungsweise dient zur Erklärung für - die Deutschland treffenden und ebenfalls nicht selten als unvergleichbar gekennzeichneten Kriegsfolgen. Mit voranschreitender Forschung sehen wir nun allerdings, daß Hitlers Reich nicht allein zu dem Zweck besiegt wurde, um die Deutschen zu befreien, zu zähmen und zu erziehen. Die Eigenständigkeit der sowjetischen Kriegsziele, teilweise aber auch die der Briten und Amerikaner, ging weit darüber hinaus. Die Bösen und die Guten Vom deutschen Vorgehen unabhängig, hat vor allem Stalin seine weitgespannten außenpolitischen Ziele verfolgt und - von den Vereinigten Staaten von Amerika toleriert - die Nachkriegsentwicklung maßgeblich zu seinem Nutzen gestaltet. Daß die ehemaligen Alliierten jedoch so handelten und ihre ideologischen Differenzen angesichts der als einzigartig eingeschätzten »braunen« Vergangenheit der Deutschen immer wieder zurückstellten, hat auch entscheidend damit zu tun, daß Hitlers Politik zuvor mit allen Maßstäben des Praktischen und Prinzipiellen jäh gebrochen hatte. (. . .) Nicht zuletzt der Vergleich mit der Vernichtungsqualität des sowjetischen Kommunismus und die Erkenntnis über die antagonistische Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus führen aber zu der Einsicht, daß (. . .) in den einmal zur Herrschaft gekommenen Ideen eine nötigende Gewalt liegt, die das in der Rassen- und Klassendiktatur hervorgetretene Phänomen solch »unvermuteter Gemeinheit der Menschennatur« (Wilhelm Röpke) mitzuerklären imstande ist. Totalitarismus, Völkermord und Massenvertreibung gehören zur Signatur des 20. Jahrhunderts, wenn sie auch, Gott sei Dank, nicht seine Norm und auch nicht seine Normalität beschreiben. Solche Feststellung redet keineswegs einer Verharmlosung der nationalsozialistischen Vergangenheit das Wort, im Gegenteil. Selbst der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, der die scheinbare Absurdität menschlicher Existenz so grausam zu versinnbildlichen vermag, braucht nicht als Schicksal blind hingenommen zu werden. Davon befreit nicht zuletzt die erkennende und darstellende Arbeit des Historikers. Seine Suche nach Wahrhaftigkeit wirkt der Herrschaft des Terrors entgegen, so wie sein wissenschaftliches Tun, sogar in der Gewißheit 60
des Scheiterns, individuellen und allgemeinen Sinn stiftet (. . .). Erfolgreiche Therapie setzt die umfassende Diagnose voraus. (. . .) Ebendavor aber scheint Habermas ebenso Angst zu empfinden wie vor einem umfassenden Offenbarwerden der Schrecken eines Jahrhunderts, das schon recht früh als »Zeitalter der Tyrannen« (Elie Halevy) und ihrer Untaten bezeichnet worden ist. Der Raum dieser Schrecken ist eben nicht auf Deutschland begrenzt geblieben. (. . .) Die deutsche Welt zerfällt wieder einmal, charakteristisch für das Land der Reformation, in Böse und Gute, in Schwarz und Weiß, in, wenn die Einfalt es will, sogenannte »Regierungshistoriker« und Jürgen Habermas. Auf seine »Kampfansage« trifft die Sentenz des Boethius zu, daß er besser geschwiegen hätte - philosophus mansisses! FAZ, 31. 7. 1986
11.
Jürgen Habermas
Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein Zu Klaus Hildebrand »Das Zeitalter der Tyrannen« (F.A.Z. vom 31. Juli): Bezeichnenderweise schlüpft Klaus Hildebrand unter die Fittiche der F.A.Z. und antwortet auf meinen Artikel nicht dort, wo er erschienen ist und gelesen werden konnte - in der »Zeit« (11. Juli). Um die Substanz seiner »Entgegnung« würdigen zu können, müßten sich die Leser der F.A.Z. andernorts über deren Gegenstand informiert haben. Die schiefe Situation wird auch nicht dadurch besser, daß Hildebrand sich getroffen fühlt und diffus reagiert. Durch die Milchglasscheibe einer trüb-ungekonnten Polemik verschwimmen die Konturen dessen, worum der Streit geht. 1. Zunächst geht es um den angeblichen »Verlust des Geschichtsbewußtseins« und um die Bildungsaufgabe der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit. Nach Michael Stürmers Auffassung soll diese durch einen identifikatorischen Zugriff auf die Nationalgeschichte »deutsche Identität« herstellen helfen. Eine narrativ verfahrende, geopolitisch ernüchterte und an der nationalen Frage orientierte Geschichtsschreibung soll unter dem Stichwort »Identitätssuche« beherzt Aufgaben »innerweltlicher Sinnstiftung« anpacken. Demgegenüber 61
hatte ich den Zweifel angemeldet, ob nicht die Geschichtsschreibung mit diesem Programm - Geschichtsbewußtsein als Religionsersatz etwas überfordert sei. 2. Sodann geht es um die methodische Frage, in welchem Sinn die NS-Periode auch im öffentlichen Bewußtsein »historisiert« werden kann - und soll. Ein distanzierendes Verstehen fördert allemal eine kritische Einstellung zu ambivalenten Uberlieferungen. Eine derart problematisierende Vergegenständlichung würde aber der aus neokonservativer Sicht erwünschten Identifikation zuwiderlaufen. Deshalb werden die verharmlosenden Varianten eines in der NS-Zeitgeschichtsschreibung aufgekommenen Revisionismus wichtig für eine andere Art der »Historisierung« - von der Einfühlung über die Relativierung zur Überbrückung unterbrochener Kontinuitäten. In diesem Zusammenhang gehe ich auf die merkwürdige Überlegung ein, die Andreas Hillgruber seiner Darstellung des Geschehens an der Ostfront im Jahre 1944/45 voranstellt (Zweierlei Untergang, Berlin 1986). Er will sich nicht mit Hitler, nicht mit den Widerständlern, nicht mit den Insassen der Konzentrationslager identifizieren, sondern »mit dem konkreten Schicksal der Bevölkerung im Osten«. Das wäre vielleicht ein legitimer Blickwinkel für die Memoiren eines Veteranen - aber nicht für einen aus dem Abstand von vier Jahrzehnten schreibenden Historiker. Unter jenen Akteuren, mit deren Schicksal Hillgruber sich nach eigenem Bekunden identifiziert, finden sich neben Soldaten und Zivilisten auch die »bewährten« Hoheitsträger der NSDAP - die Anführungszeichen, die ich für diesen einen zitierten Ausdruck verwendet habe, schließen doch nicht aus, daß Hillgruber für die nicht so bewährten Goldfasane herbe Worte findet. 3. Schließlich geht es um Beispiele für apologetische Tendenzen. Ich bin davon überzeugt, daß Hillgruber vor den Naziverbrechen den gleichen Abscheu empfindet wie die meisten von uns - und er sagt es auch. Sein Büchlein wirkt gleichwohl apologetisch. Das beginnt beim Untertitel: Ein deutscher Leser müßte schon eine gehörige Portion sprachlicher Insensibilität mitbringen, um sich nicht beeindrucken zu lassen von der Gegenüberstellung einer aggressiven »Zerschlagung des Deutschen Reiches« durch äußere Feinde und einem sich gleichsam automatisch einstellenden »Ende des europäischen Judentums«. Dieser erste Eindruck bestätigt sich vor allem durch die Kompilation der beiden in Darstellungsstil und erklärter Parteinahme so ungleichen Teile. Und die These des letzten Teils fügt sich nahtlos in das bekannte Muster: »Je größer die Rolle Hitlers und seines Herrschaftssystems, um so entschuldbarer die deutsche Gesellschaft.« (K. E. Jeismann) 62
Von anderem Kaliber ist das zweite Beispiel, ein Aufsatz über »Mythos und Revisionismus«, in dem sich Ernst Nolte auch mit der »sogenannten« Judenvernichtung beschäftigt (in: H. W. Koch (Hg.), Aspects of the Third Reich, London 1985). Chaim Weizmanns Erklärung Anfang September 1939, die Juden der ganzen Welt würden an Englands Seite kämpfen, habe - so meint Nolte unter anderem — Hitler dazu »berechtigt«, die deutschen Juden als Kriegsgefangene zu behandeln und zu internieren. Von allen anderen Einwänden abgesehen: Ich kann die Unterstellung des Weltjudentums als eines völkerrechtlichen Subjekts von üblichen antisemitischen Projektionen nicht unterscheiden. Und wär's wenigstens bei Deportationen geblieben. Das alles hindert Klaus Hildebrand nicht daran, in der »Historischen Zeitschrift« (Bd. 242, 1986) Noltes »wegweisenden Aufsatz« zu empfehlen, weil er »gerade das scheinbar Einzigartige aus der Geschichte des »Dritten Reiches« vor den Hintergrund der europäischen und globalen Entwicklung zu projizieren . . . versucht«. Daß Nolte die Singularität der NSVerbrechen leugnet, hat es Hildebrand angetan. Auf diese drei Komplexe geht Hildebrand nicht ernsthaft ein. Seine Ausführungen illustrieren allenfalls, wie sehr er noch in den suggestiven Feindbildern eines »Bundes Freiheit der Wissenschaft« befangen ist. Man fragt sich übrigens, mit welchen Maßstäben Hildebrand eigentlich hantiert, wenn er meine Einschätzung seines liberalen Kollegen Kocka als liberal nur für eine »ridiküle Fehleinschätzung« halten kann. [Leserbrief] FAZ, 11. 8. 1986
12.
Michael Stürmer
Eine Anklage, die sich selbst ihre Belege fabriziert Zum Leserbrief »Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein« von Professor Jürgen Habermas (F.A.Z. Nr. 183): Habermas kann entweder ernstgenommen werden, oder er kann fortfahren, schludrige Recherche und geklitterte Zitate zu verbinden, um Historiker auf seine 63
Proskriptionsliste zu setzen. Beides zusammen kann er nicht. Im einzelnen zu seinen Behauptungen: 1. Nationale Frage? Er verwechselt das mit der deutschen Frage, die ich nicht erfunden habe und die in der Tat heute vielfach gestellt wird. Das hat mit Geopolitik nichts zu tun, wohl aber mit dem wirtschaftlichen, geistigen und strategischen Bedingungsgefüge Europas in der Geschichte und Gegenwart. Meine Antwort liegt nicht in der sozialistischen Nostalgie des Jürgen Habermas, sondern in Bestätigung und Entwicklung der atlantisch-europäischen Bindungen unseres Landes. 2. Identitätsstiftung? Was immer Identität sein mag, es befindet sich offenbar jedermann auf der Suche nach derselben. Inwieweit die Historie als Wissenschaft dazu beizutragen hat, ist umstritten. Identitätsstiftung sollte sie anderen überlassen. Jürgen Habermas hat dies lange genug, und glücklicherweise vergeblich, unternommen. 3. Innerweltliche Sinnstiftung? Ob die Historie dazu berufen sei, hatte ich unlängst gefragt (»Dissonanzen des Fortschritts«, Piper Verlag 1986) und dem Leser die Antwort nicht vorenthalten: die Historie müsse »von allem Anfang der Legende, dem Mythos, der parteiischen Verkürzung entgegentreten. Das bleibt ihr Dilemma: sie wird vorangetrieben durch kollektive, großenteils unbewußte Bedürfnisse nach innerweltlicher Sinnstiftung, muß diese aber in wissenschaftlicher Methodik abarbeiten.« Was ist nach alledem von einer Anklage zu halten, die sich selbst ihre Belege fabriziert? Dem Vorwurf, sagen wir, phantasievoller Erfindung wird Habermas sich nicht entziehen können. Er hat die Aufklärung gepachtet und läßt den Zweck die Mittel heiligen. Schade um einen Mann, der einmal etwas zu sagen hatte. [Leserbrief] FAZ, 16. 8. 1986
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13.
Günther Gillessen
Der Krieg der Diktatoren Wollte Stalin im Sommer 1941 das Deutsche Reich angreifen?
Wer wollte wen im Jahre 1941 überfallen, Hitler Stalin oder Stalin Hitler? Die alte Kontroverse der Historiker über die Bedeutung des sowjetischen Aufmarschs vor Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ist in jüngster Zeit wieder aufgelebt. Die Hypothese, Stalin hätte Hitler wenig später angegriffen, wenn er nicht von diesem angegriffen worden wäre, hat in einer in den Spalten von »RUSI« , der Vierteljahresschrift des »Royal United Services Institute« in London geführten Kontroverse (Hefte Juni 1985, März und Juni 1986) Plausibilität gewonnen. Die neue Auseinandersetzung wurde eröffnet von einem ehemaligen Mitglied des sowjetischen Generalstabs, Victor Suvorov (. . .). Er teilt Einzelheiten des sowjetischen Aufmarschs im Frühjahr und Frühsommer 1941 mit und behauptet, zwischen August 1939 (dem Monat des Nichtangriffspaktes, mit dem Stalin Hitler den Weg für den Überfall auf Polen und in den Krieg mit den Westmächten freigab) und April 1941 (dem Monat des deutschen Überfalls auf Jugoslawien und Griechenland) habe die Sowjetunion elf »Armeen« in der westlichen Grenzregion aufgestellt; drei weitere Armeen und fünf Luftlandekorps seien im Mai hinzugekommen, und wenn Hitler nicht im Juni angegriffen hätte, hätten ihm Ende Juli sogar 23 Armeen und weitere 20 selbständige Armeekorps gegenüber gestanden - der größte Aufmarsch eines einzelnen Landes in der ganzen Weltgeschichte, und dies alles noch ohne allgemeine »Mobilmachung«. Vor 1939 hätten in der westlichen Grenzzone der Sowjetunion überhaupt keine »Armeen« existiert, sondern lediglich Divisionen und Armeekorps. (. . .) Zum Nachweis einer Angriffsplanung bedarf es weiterer Kennzeichen. Suvorov berichtet, Stalin habe die sowjetischen Feldbefestigungen der sogenannten »Stalin-Linie« hinter der ehemaligen polnisch-sowjetischen Grenze abbauen, Minenfelder sprengen, Tausende von Kilometern Stacheldrahtverhau beseitigen, Kader für Partisanengruppen auflösen und den Sprengstoff aus Brückenkammern, Bahnhöfen und Fabrikanlagen für vorbereitete Zerstörung entfernen lassen. Eine auf Verteidigung angelegte Strategie würde jedenfalls Wert darauf 65
gelegt haben, sich solche in der Tiefe des rückwärtigen Gebietes vorbereiteten Angriffshindernisse zu erhalten. Vor allem aber seien die in Grenznähe aufmarschierten Großverbände der »Ersten Strategischen Staffel« nach Struktur, Dislozierung und Einsatzbereitschaft eindeutig als offensiv anzusehen. Suvorov weist dabei besonders auf die vorne aufgestellten Luftlandedivisionen und Artillerieverbände hin. Im Frühsommer 1941 seien dann auch die Verbände der »Zweiten Strategischen Staffel« aus den inneren Militärbezirken der Sowjetunion, auch von jenseits des Urals, unter dem Vorwand von Manövern (vor der Ernte?) nach Westen in Marsch gesetzt worden. Suvorovs Mitteilungen über den sowjetischen Aufmarsch werden in einer 1983 erschienenen Darstellung der sowjetischen Armee am Vorabend des deutschen Angriffs aus der Feder von Joachim Hoffmann im vierten Band der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, im Detail bestätigt und sogar übertroffen. Hoffmann weist besonders auf die exponierte Aufstellung mechanisierter sowjetischer Verbände in den Grenzvorsprüngen von Lemberg und Bialystok hin sowie auf die weit nach vorne verlegten Fliegerverbände und die vorne eingerichteten Depots für Brennstoff, Munition und Gerät (. . .). Hoffmann hält auf Grund der Aufmarschstruktur eine Angriffsabsicht Stalins mindestens in der Form einer Planung »für alle Fälle«, etwa im Jahr 1942, für nahezu erwiesen. Suvorov unterscheidet sich davon nur darin, daß er sagt: schon 1941. Der Aufmarsch sei so gewaltig gewesen und die Truppen hätten so provisorisch, unter freiem Himmel, kampieren und in den Wäldern versteckt werden müssen, das gesamte Eisenbahntransportwesen der Sowjetunion sei durch die gewaltigen Militärtransporte seit dem Frühjahr bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit vollständig beansprucht worden, daß er es für ausgeschlossen hält, daß man diese Truppen vor Einbruch des Winters wieder in geeignete Quartiere hätte zurückbringen können. (. . .) Suvorovs Schlußfolgerung: Eine so hohe Angriffsbereitschaft so vieler Truppen auf engem Raum lasse sich nicht monatelang aufrechterhalten. Der Angriff sei alsbald zu erwarten gewesen. Mitte Juni hätten 114 Divisionen nahe zur Grenze aufgeschlossen; weitere 69 Divisionen der Zweiten Strategischen Staffel waren auf dem Weg nach vorn, als der deutsche Angriff hereinbrach. Der israelische Militärhistoriker Gabriel Gorodetsky und einige britische und amerikanische Offiziere haben Suvorovs Ansicht widersprochen. Gorodetsky argumentiert, Stalin habe vorsichtig abgewartet. Im Einklang mit der Grundlinie der sowjetischen Diplomatie seit 66
Rapallo habe er versucht, Konflikte in Westeuropa auszunutzen. Er habe auf einen wechselseitigen Verschleiß der Westmächte und Deutschlands in einem Krieg warten wollen (. . .) und von da an sei es seine Absicht gewesen, Zeit zu gewinnen, selbst stärker zu werden, aber sich nicht von England in den Krieg hineinziehen zu lassen. Auch habe er gefürchtet, England und Deutschland könnten sich überraschend einigen und dann gemeinsam gegen die Sowjetunion wenden. (. . .) Gorodetsky beruft sich auf sowjetische Äußerungen gegenüber britischen und amerikanischen Diplomaten, um zu belegen, daß Moskau den Warnungen vor Deutschland widersprach oder zum Ausdruck brachte, daß man ihnen nicht glauben dürfe. Suvorov stimmte in einer Replik Gorodetsky darin zu, daß Stalin sich zunächst aus dem Krieg habe heraushalten wollen, bis Deutschland und England ihre Kräfte erschöpft hätten. Danach habe er eingreifen wollen, als die letzte Macht, die die Entscheidungen in Europa in ihrem Interesse treffe. Stalin habe wohl zu Beginn des Krieges erwartet, daß dieser Zeitpunkt im Jahre 1942 kommen werde, später aber die Planung auf 1941 vorgezogen. (. . .) Wie aber sind die sowjetischen Versicherungen des Frühjahrs und Frühsommers 1941 von der Gültigkeit und Dauerhaftigkeit des Paktes mit Hitler und besonders die Tass-Erklärung vom 13. Juni 1941 zu deuten, in der die Moskauer Führung die »Gerüchte« über einen bevorstehenden Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion als Propadanda von Mächten darstellte, die der Sowjetunion feindlich gesonnen seien und den Krieg ausweiten wollten? Und warum hatten sowjetische Truppen Anweisung, es ja nicht zu Grenzzwischenfällen mit deutschen Truppen kommen zu lassen, auf Verletzungen des sowjetischen Gebietes durch deutsche Soldaten oder deutsche Aufklärungsflugzeuge nicht zu reagieren und überhaupt keine Stellung direkt an der Grenze zu beziehen? (. . .) Suvorov betrachtet sie als Täuschungsmanöver. (. . .) Suvorov meint, die historische Forschung solle aufhören, die damaligen sowjetischen Täuschungsversuche für eine wahre Erklärung der sowjetischen Motive zu halten. Er betrachtet sie als planmäßige Desinformationspolitik, dazu bestimmt, die eigene Angriffsabsicht zu tarnen und Hitlers Aufmerksamkeit einzuschläfern. (. . .) Das merkwürdige sowjetische Verhalten gerade in den letzten Wochen vor dem deutschen Angriff, die auffällige Betonung eines guten Verhältnisses zu Deutschland, die peinlich genaue Fortsetzung der Wirtschaftslieferungen an Hitler, die seltsame Mißachtung so vieler, verschiedener Warnungen vor einem Angriff Hitlers - und der mas67
sive Aufmarsch ohne Vorbereitung für eine Verteidigung in der Tiefe -, das paßt jedenfalls nicht zusammen. Die Ansicht, daß im Sommer 1941 zwei Aggressoren aufeinanderstießen, hat jedenfalls durch die Arbeiten von Joachim Hoffmann und Suvorov neue Nahrung erhalten. Es gibt keine Grundlage, einem der beiden Diktatoren oder beiden gegenseitig das entlastende Motiv eines Präventivangriffs zuzugestehen. (. . .) Wäre Stalins Strategie tatsächlich defensiv gewesen, hätte es für ihn im übrigen einfachere Mittel gegeben. Er hätte nur zu unterlassen brauchen, den Nichtangriffspakt vom August 1939 abzuschließen - das hätte genügt, um Hitlers Aggressivität in Grenzen zu halten. Hitlers Überfall gab Stalin die Möglichkeit, den Krieg, ohne Rücksicht auf seine komplizierte Vorgeschichte, als Krieg der Verteidigung Rußlands, als großen vaterländischen Krieg, dazustellen. Spätere sowjetische Führungen suchten die schweren Verluste an Leben und Zerstörungen an Gut, die er brachte, in eine besondere Friedensschuld der Deutschen gegenüber der Sowjetunion umzumünzen und außenpolitisch-propagandistisch zu operationalisieren. Die Fortsetzung fiele nicht mehr so leicht, wenn sich mehr Klarheit über die Vorgänge der Jahre 1940/41 gewinnen ließe. FAZ, 20. 8. 1986
14. Joachim Fest
Die geschuldete Erinnerung Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen
Ein amerikanischer Zeithistoriker hat unlängst den unfreien Stil der akademischen Debatte in der Bundesrepublik beklagt. (. . .) Entweder dränge man mit formelhaften Captationen und Schuldbeteuerungen, die so inhaltsleer wie unglaubwürdig seien, auf die Seite der kompakten Moralität, oder alles ende in moralischer Denunziation. (. . .) Richtig ist (. . .), daß die Öffentlichkeit, allen Ermunterungen 68
von politischer Seite zum Trotz, aus dem Schatten, den Hitler und die unter ihm verübten Verbrechen geworfen haben, noch lange nicht heraus ist, und unvermeidlicherweise fällt er nach wie vor über alle ernsthafteren Versuche historischer Erörterung und Analyse. Zur wissenschaftlichen Integrität des Historikers zählt auch das Bewußtsein, daß seine Tätigkeit nicht im Leeren stattfindet, sondern vor einer Öffentlichkeit mit vielfältig unberechenbaren Verstärker- und Schwundeffekten. Er kann diese Wirkungen nicht ignorieren und muß dennoch versuchen, in Frage und Antwort weiterzukommen. Wie schwierig das sein kann, hat Christian Meier unlängst in einem Beitrag für diese Zeitung auf bewegende Weise gezeigt. Es verlangt Verantwortungsbewußtsein und innere Unabhängigkeit. Was es nicht verlangt, sind die Rituale einer falschen Unterwürfigkeit. Diese Rituale werden von einem Konformismus dekretiert, der jede Position, die sich die Freiheit des Fragens bewahrt, unter moralischen Verdacht stellt. Spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre wurde es üblich, jede historische Wahrnehmung, die nicht der damals herrschend werdenden Vorstellung folgte, der heimlichen Komplizenschaft mit dem »Faschismus« zu zeihen. (. . .) Für diese elende Praxis gibt es seit kurzem eine neue Variante. Sie stammt von Jürgen Habermas. In einem Artikel in der »Zeit«, der verschiedene historische Publikationen jüngeren Datums zu einer neokonservativen Tendenz bündelt, stellte er einige renommierte Historiker der Bundesrepublik unter Nato-Verdacht. Aus Schriften und Artikeln (. . .) las er allen Ernstes die Strategie heraus, »über eine Wiederbelebung des (deutschen) Nationalbewußtseins. . . die nationalstaatlichen Feindbilder aus dem Bereich der Nato (zu) verbannen« und neue Feindbilder im Osten an deren Stelle zu setzen. Vor allem ein Artikel von Ernst Nolte (F.A.Z. vom 6. Juni 1986) diente als Beweisstück. Darin leugne Nolte, so Habermas, die Singularität der Naziverbrechen dadurch, das er sie »als Antworten auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich« mache; und Auschwitz vermindere er auf »das Format einer technischen Innovation«. Nun leugnet Nolte die Singularität der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen überhaupt nicht. Ausdrücklich vermerkt er, daß sie sich »trotz aller Vergleichbarkeit . . . qualitativ von der sozialen Vernichtung unterscheiden, die der Bolschewismus vornahm«; dennoch, fährt er fort, dürfe man nicht allein auf den einen Massenmord sehen und den anderen ignorieren, zumal ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden Untaten wahrscheinlich ist. Man fragt sich, wie dieser 69
zentrale Gedanke, auf den die ganze Beweisführung Noltes zuläuft, von Habermas übersehen werden konnte. Falls es sich nicht um eine Form akademischer Legasthenie handelt, bleibt nur die Annahme, daß hier ein ideologisches Vorurteil sich die Dinge erst zurechtrückt, um sie dann attackieren zu können. Für die zweite Annahme spricht, daß Habermas seine These mit gestückelten Zitaten belegt, daß er den angegriffenen Autoren Äußerungen Dritter oder eigene Flüchtigkeiten unterschiebt und die Dinge mit einer Unbekümmertheit verdreht, für die es seit langem kein Beispiel gibt. (. . .) Nicht so sehr um diesen Versuch eines wissenschaftlichen und womöglich persönlichen Rufmords geht es hier. (. . .) Es geht vor allem um die These von der Singularität der Naziverbrechen. (. . .) Zunächst wird behauptet, daß Ungeheuerliche, Nie-Dagewesene an der sogenannten Endlösung sei, daß deren Betreiber nicht nach Schuld oder Unschuld fragten, sondern die rassische Zugehörigkeit zur ausschließlichen Ursache der Entscheidung über Leben oder Tod machten. Aber Ende 1918 erklärte einer der ersten Chefs der Tscheka, der Lette Martyn Latsis, in einer Rede vor Kommissaren, daß im Zuge der bolschewistischen Revolution nicht mehr die Frage der Schuld, sondern die soziale Zugehörigkeit Strafe und Liquidation nach sich ziehe (. . .). Stand aber, wenn es sich so verhält, die gleiche Auffassung nicht hinter den »Schuldsprüchen« des Reichssicherheitshauptamtes, nur daß hier nicht ein soziales, sondern ein biologisches Sein als todeswürdig angesehen wurde? Im einen wie im anderen Falle gab es keine Möglichkeit der Rechtfertigung oder des Unschuldbeweises, weil es um Schuld oder Unschuld gar nicht ging, sondern um bloße Zugehörigkeiten. Hier zu einer Klasse, dort zu einer Rasse. Zur Begründung der Singularität von Auschwitz und allem, wofür es steht, wird ferner die administrative und mechanische Form angeführt, in der das Massenmorden vollzogen wurde. (. . .) Aber kann man glauben, daß das Ausrottungswerk Stalins auf wesentlich andere, weniger administrative Weise vollbracht wurde? Habermas wirft Andreas Hillgruber ein beschönigendes Vokabular vor, weil er in einem Buchtitel von der »Zerschlagung« des Reiches einerseits und vom »Ende« des europäischen Judentums andererseits spricht. Aber was er selber in schwerlich überbietbarer Verharmlosung »die Vertreibung der Kulaken durch Stalin« nennt, bedeutete in Wirklichkeit den Tod für Millionen. (. . .) Gewiß bedeuten die Gaskammern, mit deren Hilfe die Exekutoren der Judenvernichtung zu Werke gingen, eine besonders abscheuerregende Form des Massenmords, und mit Recht sind sie zu 70
einem Symbol für die technizistische Barbarei des Hitlerregimes geworden. Aber läßt sich wirklich sagen, daß jene Massenliquidierungen durch Genickschuß, wie sie während des Roten Terrors über Jahre hin üblich waren, etwas qualitativ anderes sind? Ist nicht, bei allen Unterschieden, das Vergleichbare doch stärker? (. . .) Sind nicht, aufs Ganze gesehen, die Vorgänge hier wie dort in den entscheidenden Merkmalen vergleichbar? Beide Male geht es um mechanische, mit technischen Mitteln massenhaft »reproduzierbare« und gleichsam abstrakte Tötungspraktiken, auf adminisitrativem Wege geplant und von Exekutoren vollstreckt, die im Dienste einer vorgeblich größeren Sache ungerührt ihre Aufgabe verrichteten. (. . .) Das dritte Argument schließlich, mit dem die Singularität der NSVerbrechen begründet wird, stützt sich auf die Behauptung, daß es um vieles erschreckender sei, wenn solche Rückfälle ins Entmenschte sich in einem alten Kulturvolk ereigneten. In der Tat ist dieser Bruch nur schwer oder gar nicht überbrückbar. (. . .) (Die) Fassungslosigkeit vieler angesichts des Geschehenen hat gerade damit zu tun, daß Deutsche das Massenmorden erdacht, geplant und ausgeführt haben; daß es sich vor dem Hintergrund einer jahrhundertelang gewachsenen deutsch-jüdischen Symbiose ereignete, die zu den großen Kulturleistungen der Geschichte zählt. (. . .) Aber sollte es wirklich zulässig sein, damit vor alle Welt hinzutreten, auch wenn es immer wieder geschieht? Denn strenggenommen setzt dieses Argument die alte Nazi-Unterscheidung fort, wonach es höhere Völker gibt und Völker auf primitiverer Stufe, die nicht einmal vom Tötungsverbot wissen. Wer empfindlicher ist, wird den Hochmut erkennen, der darin steckt, die alte Herrenvolkgesinnung, wenn auch verborgen unter einer Demutsgeste. Die These von der Singularität der NS-Verbrechen wird zuletzt auch durch die Überlegung in Frage gestellt, daß Hitler selber immer wieder die Praktiken der revolutionären Gegner von links als Lehre und Vorbild bezeichnet hat. Doch kopierte er sie nicht nur. Durchweg entschlossen, sich radikaler zu zeigen als sein erbittertster Widersacher, überbot er sie zugleich auch. Das läßt sich insbesondere zu Beginn auf allen Ebenen nachweisen und blieb nicht etwa auf die Auftrittsformen und Rituale beschränkt, durch die sich die NSDAP als Partei neuen Typs darstellte. Weit wesentlicher war der bürgerkriegsähnliche Zuschnitt, den Hitler der politischen Auseinandersetzung gab, bereit, wie er versicherte, »jedem Terror des Marxismus noch einen zehnfach größeren entgegenzusetzen«. Man muß nicht der Auffassung sein, daß Hitlers Vernichtungswille ganz überwiegend von der Vernichtungsdrohung der russischen Revo71
lution inspiriert war; er kam, dem Ursprung nach, doch eher aus den frühen Ängsten und Überwältigungsphantasien des Deutsch-Österreiches. Aber daß er ganz und gar unbeeinflußt davon blieb, läßt sich schwerlich denken, und jedenfalls ist die Resonanz, die seine lange Zeit einsamen Wahnideen fanden, ohne die panischen Empfindungen, die sich von Rußland her ausbreiteten und München im Frühjahr 1919 immerhin gestreift hatten, nicht zu begreifen. Die Berichte über das Deportieren, Morden und Austilgen ganzer Bevölkerungsgruppen waren sicherlich übertrieben. Doch enthielten sie einen zutreffenden Kern, der durch das Pathos der nahenden Weltrevolution zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewann. In aller Verzerrung gaben sie Hitlers Ausrottungskomplexen einen realen Hintergrund. Und daß unter denen, die der schon bald in Chaos und Schrecken auslaufenden Münchner Räterepublik vorgestanden hatten, nicht wenige Juden gewesen waren, verschaffte überdies seinen antisemitischen Obsessionen eine scheinbare und jedenfalls agitatorisch nutzbare Bestätigung. Er ebenso wie die verängstigten Massen mochten glauben, daß eine Rettung, wenn überhaupt, nur durch den Entschluß möglich sei, in der Gegenwehr genauso zu verfahren, wenn auch »zehnmal« terroristischer. Es kann nicht unzulässig sein, diese Überlegung vorzutragen und einen Zusammenhang herzustellen zwischen den Greuelmeldungen von Osten und Hitlers Bereitschaft zum Exzeß. (. . .) Gegen diese gedankliche Verknüpfung meldet sich ein verbreiteter Einwand. Er verweist auf den grundsätzlichen, kaum ausmeßbaren Unterschied der Ideologien. Der Kommunismus, so wird behauptet oder stillschweigend vorausgesetzt, reiche selbst in der sowjetrussischen Ausprägung, sofern man sich der Ursprünge erinnert, auf einen großen humanitären Ideenbestand zurück. Ein unverbrauchbarer Rest davon bleibe ihm immer erhalten. (. . .) Demgegenüber entstamme der Nationalsozialismus dem inferioren Gedankenmüll völkischer Sektierer, wie er um die Jahrhundertwende in Traktaten und Groschenheften unter die Leute kam. Der Hinweis ist nicht ohne Gewicht. Und wenn in den vehementen Kampfansagen der einen wie der anderen Seite das Wort »Vernichtung« auftaucht, kann auch nicht außer acht bleiben, daß die radikale Linke darunter zumeist nicht die physische, sondern offenbar die gesellschaftliche oder historische Ausschaltung des Gegners im Auge hatte. Aber der parareligiöse Anspruch, mit dem sie ihre Parolen auflud, die manichäische Unversöhnlichkeit, mit der sie die Welt wieder schroff in Gut und Böse, die Menschen in Gerechte und Verworfene unterteilte, verwischte zwangsläufig die Grenzen, die noch dem ge72
schworenen Feind das Recht zu leben gewährleisteten, und die Erinnerung an die Religionskriege und den Fanatismus, den sie entbunden hatten, lag noch nicht weit genug zurück, um sicherzugehen, daß solche Postulate nicht wortwörtlich genommen und die »gesellschaftliche Vernichtung« in die buchstäblich physische umschlüge. In allem Reden gibt es einen Automatismus, der aus den Worten die Taten hervorgehen läßt und dem Gedanken die Unschuld nimmt, auf die er sich gern rechtfertigend beruft. (. . .) (. . .) Und welchen Unterschied macht es auf Seiten der Täter, ob sie sich durch eine korrumpierte Menschheitsidee oder durch eine von allem Anfang an verderbte »Weltanschauung« gerechtfertigt glaubten? Läuft es auf mehr hinaus, als daß die einen mit allenfalls gutem, die anderen mit nicht so gutem Gewissen dem Mordgeschäft folgten? (. . .) Viel eher geht es darum, Zweifel an der monumentalen Einfalt und Einseitigkeit der vielfach herrschenden Vorstellung über die vorbildlose Besonderheit der NS-Verbrechen zu wecken. Die These steht, nimmt man alles zusammen, auf schwachem Grund, und überraschend ist weniger, daß sie, wie Habermas unter Hinweis auf Nolte fälschlich behauptet, in Frage gestellt wird. Weit erstaunlicher mutet an, daß dies auf ernsthafte Weise bisher gerade nicht geschehen ist. Denn es bedeutet zugleich auch, daß die ungezählten anderen Opfer, vor allem wenn auch gewiß nicht nur - die des Kommunismus, nicht mehr in der Erinnerung sind. (. . .) Das gilt insbesondere für die Millionen Toten dieses Jahrhunderts, angefangen von den Armeniern bis hin zu den Opfern des Archipels GULag oder den Kambodschanern, die vor unser aller Augen ermordet wurden oder werden - und doch aus dem Gedächtnis der Welt gefallen sind. Wer diese These in Frage stellt, daß die nationalsozialistischen Massenverbrechen einzigartigen Charakter hatten, muß sich überdies mit dem Einwand auseinandersetzen, daß der Hinweis auf die gleichartigen Verbrechen anderer den Vorwurf, dem man selber gegenübersteht, verringere. Immer sei das »Tu quoque!« nichts anderes als ein Versuch, aus den Untaten überall in der Welt Entlastung für die eigenen zu ziehen. In einer umfassenden Aufrechnung würde dabei der Genozid gleichsam der historischen Normalität zugeschlagen, in die jede Nation mit einem Verbrechensanteil verstrickt sei, am Ende, eher spät sogar, eben auch die Deutschen. (...) Zur Auseinandersetzung über die Frage der Unvergleichbarkeit der 73
NS-Verbrechen ist aber auch zu sagen, daß Schuld schlechterdings nicht aufrechenbar ist. Kein fremdes Vergehen verkleinert das eigene, und kein Mörder hat sich je mit dem Hinweis auf den anderen exkulpieren können. Das sind Einsichten von so schlichtem Charakter, daß man sich scheut, daran zu erinnern. Und dennoch steht die Sorge, sie könnten außer Kraft geraten und alle historisch zurechenbare Schuld sich in einem allgemeinen Kompensationswirrwarr verflüchtigen, hinter vielen, auch ernst zu nehmenden Überlegungen zur Singularitätsthese. Jenseits allen Lärms und Bezichtigungsgeschreis im Vordergrund ist die derzeitige Auseinandersetzung womöglich von ganz anderen Gegensätzen beherrscht. Jürgen Habermas, tief gefangen in den Geisterkämpfen von gestern und vorgestern, sieht die Grenze, die die Widersacher trennt, noch immer zwischen konservativen und fortschrittlichen, deutschnationalen und liberalen Historikern. Er sieht Strategien der moralischen Relativierung, die dem Ziel eines entlasteten Geschichtsbildes dienen und damit auf ihre Weise zu jener schimärischen »Wende« beitragen sollen, deren Helfer er überall am Werke sieht, Nolte und Hildebrand und Stürmer und Hillgruber - alle über einen Leisten. Es läuft auf die platteste Verschwörungstheorie hinaus, die hier, wie übrigens immer, nichts anderes als ein Ausdruck unbegriffener Verhältnisse ist. (. . .) Fragen ließe sich beispielsweise, ob nicht eine andere Unterscheidung vorzuziehen wäre: auf der einen Seite die pessimistische Sicht auf die Dinge, die in der Geschichte nicht viel anderes wahrzunehmen vermag als den mörderischen Prozeß, der immer war, beherrscht von Haß, Angst und Ausrottung, sinnlos und ohne Ziel, aber aufgrund der technischen Mittel der Gegenwart mit einer nie gekannten Leidenschaftslosigkeit und zugleich unendlich viel opferreicher ablaufend als je in der Vergangenheit. Unter diesem Blick schrumpft Auschwitz dann in der Tat auf den Rang einer »technischen Innovation«. Und den Pessimisten gegenüber stehen diejenigen, die aus den moralischen Katastrophen des Jahrhunderts die Hoffnungen von einst über die »Perfektibilität« des Menschen sowie seine Erziehbarkeit hinübergerettet haben und im Holocaust die eine und singuläre Abirrung sehen, nach der es zum Besseren weitergehen wird. Am Horizont, in irgendeiner Zukunft, erhebt sich hier, ramponiert zwar, aber nicht aufgegeben, das Bild vom »neuen Menschen«. Für die andere Seite dagegen bleibt der Mensch immer der alte, mit dem Bösen als Teil der »condition humaine«, und keine Utopie kam je dagegen an. Die einen halten sich für überzeugt, daß Hitler ein schrecklicher Fehltritt im Geschichtsprozeß 74
war, der nie vergessen werden darf, die anderen beugen sich der Einsicht, daß der Genozid, den er ins Werk setzte, nicht der erste war und auch nicht der letzte; daß man den Opfern hier wie dort Erinnerung schulde und damit leben müsse. (. . .) Habermas hält sich und seiner Generation zugute, die Bundesrepublik vorbehaltlos gegenüber der politischen Kultur des Westens geöffnet zu haben, und macht sich zum Anwalt der »Pluralität der Lesarten«. Das kann und soll zwar (. . .) den Streit nicht ausschließen, aber doch die persönliche Verunglimpfung. (. . .) Einmal mehr zeigt sich hier, daß die Siegelbewahrer der neuen Aufklärung, wenn Umstände und Interessen es nahelegen, zugleich die »Mandarine« der Mythen sind. Denn Hitler und der Nationalsozialismus sind noch immer, aller jahrelangen Gedankenmühe zum Trotz, mehr Mythos als Geschichte, und die öffentliche Erörterung zielt nach wie vor mehr auf Beschwörung als auf Erkenntnis. (. . .) FAZ, 29. 8. 1986
15.
Bianka Pietrow
Offensive Militärkonzeption Es ist allerdings bedauerlich und bedenklich, wenn längst begrabene Legenden von der F.A.Z. wieder ans Tageslicht befördert werden, zum Zweck der derzeit vielbeschworenen Identitätsfindung der Deutschen. Diesmal nahm Günther Gillessen den Faden auf (»Der Krieg der Diktatoren«, F.A.Z. vom 20. August). Daß politische Wunschvorstellungen hier die selektive Wahrnehmung von Geschichtsschreibung bestimmen, ist klar. Der Emigrant Viktor Suvorov hat es vielleicht nötig, mit Halbwahrheiten Publicity zu machen. Doch er beschreibt kein neues Blatt. Selbst ein Blick in das von Joachim Hoffmann ausgebreitete Quellenmaterial kann zeigen, daß eine Angriffsabsicht der Sowjetunion für 1941 oder 1942 nicht nachweisbar ist, weil eine offensive Militärkonzeption nicht identisch ist mit einer tatsächlich praktizierten Aggressionspolitik. So scheint es wohl politisch opportun zu sein, zu übersehen, was man nicht wahrhaben will: zum Beispiel die Tatsache, daß der Aufmarsch der (sich in einer großangelegten Reorganisation) 75
befindlichen Roten Armee im Frühjahr 1941 als Reaktion auf den Aufmarsch der deutschen Wehrmacht erfolgte; daß Forschungen wie die des britischen Historikers John Erickson durchaus Antworten auf die von Gillessen aufgeworfenen, scheinbar widersprüchlichen Fragestellungen zur sowjetischen Rüstungs- und Verteidigungspolitik gegeben haben und nicht zuletzt, daß die Deutschen im Osten einen rassistischen Vernichtungskrieg führten, von dem keine Schuld der anderen sie wird entlasten können. Die F.A.Z sollte sich zu schade sein, Thesen wie der Suvorovs Plausibilität abzugewinnen, wo doch gerade diese Zeitung selbst schon Differenziertes zur Thematik des deutsch-sowjetischen Krieges und seiner Vorgeschichte veröffentlicht hat. [Leserbrief] FAZ, 3. 9. 1986
16.
Eberhard Jäckel
Die elende Praxis der Untersteller Das Einmalige der nationalsozialistischen Verbrechen läßt sich nicht leugnen
Es gibt Diskussionen, die ihren Reiz dadurch erhalten, daß nicht klar ausgesprochen wird, was gemeint ist. Statt Fragen zu stellen und Antworten zu geben, um sie alsdann zu überprüfen, werden Aussagen in Frageform vorgetragen, um anzudeuten, was nicht belegt werden kann oder soll, und wer bei dem Spiel ertappt wird, erwidert mit Empörung und unschuldiger Miene, man werde ja noch fragen dürfen. In Wahrheit aber war die Frage gar keine Frage gewesen, sondern eine verdeckte Aussage, und der scheinbare Fragesteller hatte sich nur der Mühe entzogen, sie zu begründen, und die Überzeugungsarbeit einigen verklausulierten Andeutungen überlassen. Ein solches Verwirrspiel wird derzeit bei uns aufgeführt. Es begann mit dem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1986, in dem Ernst Nolte dafür plädierte, nicht immer »nur auf einen Mord«, nämlich den nationalsozialistischen, hinzublik76
ken, ohne auch den anderen, nämlich den bolschewistischen, zur Kenntnis zu nehmen. (. . .) Wer eine solche Einstellung eingenommen haben sollte, verriet Nolte nicht. Er unterstellte, daß es jemand getan hatte. (. . .) Anstatt aber diese einfache Einsicht mit ein paar einfachen Worten noch einsichtiger zu machen, deutete Nolte in einem weiteren Nebensatz an, zwischen den beiden Morden sei »ein kausaler Nexus wahrscheinlich«. Das war, zumal aus dem Munde eines angesehenen Historikers, aufregend, und man konnte erwarten, daß Nolte seine These begründet und die Diskussion sich darauf zugespitzt hätte. Nichts von dem aber trat ein. Statt dessen antwortete Jürgen Habermas in der ZEIT vom 11. Juli, indem er Nolte und einigen anderen deutschen Historikern apologetische Tendenzen vorwarf. Der Verdacht lag angesichts von Noltes Argumentation, von der noch die Rede sein wird, in der Tat nahe, und Habermas belegte ihn auch, indem er die Wortwahl einiger Historiker mit guten Gründen beanstandete. Zur Sache indessen und zu Noltes These sagte er nichts. Das tat auch Klaus Hildebrand nicht, der (. . .) Habermas entgegnete und dabei vor allem seinen Kollegen Andreas Hillgruber in Schutz nahm, dem Habermas auch nach meinem Empfinden Unrecht getan hatte. Über Nolte aber sagte er wenig mehr, als daß nicht einzusehen sei, warum wir »uns Frageverbote auferlegen« sollten. Wer uns solche Verbote auferlegen will, verriet er nicht. Er führte das Spiel fort, indem er unterstellte, daß es jemand getan hatte. So ging es mit ein paar Leserbriefen und Artikeln weiter, bis Joachim Fest in die Diskussion eingriff (. . .). Zunächst nannte er die Ausführungen von Habermas »eine neue Variante« der »elenden Praxis«, die spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre üblich geworden sei, nämlich nicht die Ergebnisse von Historikern zu erörtern, sondern deren Motive. Daß dies seit dem ominösen Datum üblich geworden sein soll, begründete Fest nicht und hätte es auch nicht begründen können. Denn es ist unbestreitbar, daß seit jeher sowohl die Ergebnisse als auch die Motive der Historiker erörtert werden. (. . .) Man nennt die Überprüfung Ideologiekritik, und sie ist ebenso legitim wie die fachliche. Fest hingegen nennt sie eine »elende Praxis« und schiebt sie nebenbei durch eine chronologische Insinuation auch noch den Linken in die Schuhe. Doch während man schon befürchten mußte, die Diskussion gerate abermals ins Abseits, kam Fest verdienstvollerweise zur Sache. Freilich griff er ein Thema auf, das bisher nicht diskutiert worden war. Er sagte, Nolte leugne »die Singularität der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen überhaupt nicht«. Das hatte dieser aus77
drücklich in der Tat nicht getan. Nur Habermas hatte den Begriff einmal verwendet. Doch auch das gehört zum Spiel: Man greift auf, was nicht gesagt wurde, weil man ahnt, was gemeint war, und spricht von einer Kontroverse, wo noch gar keine stattgefunden hat. Darauf führte Fest seinerseits drei Argumente an, die angeblich gegen die Singularität sprechen, und schloß sich dann Nolte an, (. . .). Damit trieb Fest das Spiel auf einen neuen Höhepunkt. Er sagt nicht, es gebe einen kausalen Zusammenhang. Er sagt nur, es könne nicht unzulässig sein, ihn herzustellen. Und wenn die Bemerkung Ungehaltenheit auslöst, fragt er nicht, ob das vielleicht damit zu erklären sei, daß sie dem Quellenbefund widerspreche. Nein, er wendet die von ihm selbst gerade noch gegeißelte »elende Praxis« an und fragt nach den Motiven. Nun scheint es an der Zeit, das Spiel abzubrechen. Ich will es jedenfalls nicht weiterspielen. Ich will auch nicht nach den Motiven der Beteiligten fragen, obwohl man das dürfte und könnte. Ich will von der Sache reden, und dann lassen sich aus dem künstlichen Nebel der Verklausulierungen und Latinismen wie Prius und Nexus, logisch, faktisch und kausal in einfacher Sprache zwei Behauptungen herauslösen. Die erste, die zwar, wie Fest zu Recht feststellt, nicht Nolte, wohl aber er selbst aufstellt, lautet: Der nationalsozialistische Mord an den Juden war nicht einzigartig. Und die zweite, die Nolte für wahrscheinlich und Fest für nicht unzulässig hält: Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Mord und dem der Bolschewisten. Was die erste Behauptung angeht, zitiert Fest drei Argumente, die, so sagt er, angeführt würden, um die These von der Einzigartigkeit des Mordes an den Juden zu begründen, und bestreitet sie mit Gegenargumenten. (. . .). Fest sagt nicht, wer die von ihm zitierten Argumente angeführt hat. Ich kann keines von ihnen stichhaltig finden. (. . .) Ich behaupte dagegen (und nicht erst hier), daß der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte. Dieser Befund ist so offensichtlich und so bekannt, daß es sehr erstaunen muß, wie er der Aufmerksamkeit von Fest entgehen konnte. (Auch die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges waren, nach allem, was wir wissen, eher von Morden begleitete Deportationen als geplanter Völkermord. 78
(...)
(. . .) Im übrigen ist die Frage nach der Einzigartigkeit am Ende so entscheidend nicht. Was eigentlich würde sich dann ändern, wenn der nationalsozialistische Mord nicht einzigartig gewesen wäre? Soll die Bundesrepublik dann etwa keine Wiedergutmachungszahlungen mehr leisten, der Bundeskanzler sich nicht mehr in Yad Vashem verneigen oder der Bürger sich besser fühlen? Es ist doch nicht so, als ob diese Gesellschaft gramgebeugt darniederliege und Trost brauchte. (. . .) Niemand bestreitet doch, daß es in der Geschichte seit jeher Verfolgungen, Vertreibungen und Morde gegeben hat, und wer bestreitet denn, daß alle diese Vorgänge historisch untersucht werden können und sollen? Man möge uns doch Namen nennen, statt Andeutungen zu verbreiten. Unstreitig aber müßte eigentlich ferner sein, daß der von unserem Lande ausgegangene Völkermord bei uns ein besonderes Interesse beanspruchen darf und nicht durch unklar angedeutete Parallelen relativiert werden sollte. Viel wichtiger und aufregender ist die zweite Behauptung, die Nolte für wahrscheinlich erklärt, und die Fest aufgreift, nämlich die von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den bolschewistischen und den nationalsozialistischen Morden. Freilich ist ein rationaler Diskurs darüber außerordentlich schwierig. Die Geschichtswissenschaft kennt keine schwierigere Aufgabe als die Vermittlung von historischen Ursachen. Sie existieren ja nicht irgendwo, wo man sie suchen und finden könnte. Überdies werden darunter zwei verschiedene Dinge begriffen, nämlich einerseits Motive, die jemanden zu einer Handlung veranlassen, und andererseits Bedingungen, ohne die ein Vorgang nicht gedacht werden kann. (. . .) (...)
Post hoc, ergo propter hoc. Auf diesen zweifelhaftesten aller logischen Schlüsse scheint die These vom »kausalen Nexus« hinauszulaufen, es sei denn, es gelinge der Nachweis, daß Hitlers Entschluß, die Juden zu töten, von (. . .) Ängsten bestimmt war. In der Tat argumentieren Nolte und Fest so. Doch sind ihre Argumente nicht nur nicht überzeugend. Sie lassen sich sogar verhältnismäßig sicher widerlegen. Hitler hat nämlich viele Male gesagt, warum er die Juden zu entfernen und zu töten wünschte. Seine Erklärung ist ein kompliziertes und in sich schlüssiges Gedankengebäude, das man in allen Einzelheiten rekonstruieren kann. Ein Rattenkäfig, die Morde der Bolschewisten oder eine besondere Angst vor ihnen kommen darin nicht vor. Im Gegenteil war Hitler immer der Ansicht, Sowjetrußland sei, gerade weil es von Juden beherrscht werde, ein wehrloser Koloß auf tönernen Füßen. (. . .) 79
Dagegen verstand er es vorzüglich, die antibolschewistischen Ängste der Bourgeoisie für seine Zwecke zu mobilisieren. In der Öffentlichkeit sprach er gern von den asiatischen Horden, die Europa bedrohten, und stellte seine Lebensraumeroberung ja auch fälschlich als Präventivkrieg hin. Nur darf man diese taktischen Äußerungen nicht mit seinen wahren Motiven verwechseln. Diese Verwechslung scheint der These vom »kausalen Nexus« zugrunde zu liegen. Was man uns suggerieren will, ist die These von einem Präventivmord. Aber sie ist so falsch wie die vom Präventivkrieg, die, obwohl hundertmal widerlegt, auch immer wieder aus Hitlers Arsenal hervorgeholt wird. DIE ZEIT, 12. 9. 1986
17.
Hans Mommsen
Suche nach der »verlorenen Geschichte« ? Bemerkungen zum historischen Selbstverständnis der Bundesrepublik
Jüngsthin hat Michael Stürmer (. . .) das Trauma der sich konsolidierenden konservativen Rechten beredt zum Ausdruck gebracht, das in der Einsicht besteht, sich nicht länger auf ein hinreichend verbindliches nationales Geschichtsbild abstützen zu können. Er befürchtet von der »verlorenen Erinnerung« einen Mangel an Kontinuität und außenpolitischer Berechenbarkeit der Bundesrepublik. (. . .) Hingegen stellt sich die Frage, ob die hierzulande beinahe zum Stereotyp geratene Klage vom Verlust der historischen »Identität« berechtigt und ob sie nicht eine Widerspiegelung der von konservativer Seite bestrittenen Tatsache ist, daß sich in der Bundesrepublik ein neues politisches Selbstverständnis entfaltet hat, das von einem grundlegenden historischen Paradigmenwechsel begleitet ist. (S. 864) (...) . . . (Die) Debatte über das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik (bricht) zu einem Zeitpunkt (auf), der eher durch politische Stagnation als durch rasche Veränderung gekennzeichnet ist. Sie ist indessen der Ausdruck einer schleichenden Legitimitätskrise des politi80
sehen Systems der Bundesrepublik, die aus der Phase eines ungebrochenen und unhinterfragten Wirtschaftswachstums herausgetreten ist und aus den unbestreitbaren Wiederaufbauleistungen der frühen Nachkriegszeit keinen Vertrauensbonus mehr ableiten kann. Die sich verschärfende politische Polarisierung, die nicht zuletzt zentrale sozialpolitische Fragen betrifft, erfaßt in zunehmendem Umfang das Politikverständnis selbst, und es ist nicht verwunderlich, daß damit auch die geschichtliche Überlieferung zum Gegenstand grundsätzlicher Kontroversen wird, (ebd.) (...) Für das Selbstverständnis der überwiegend auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Bundesrepublik blieb bis zum Ende der sechziger Jahre kennzeichnend, daß der historischen Legitimitätsfrage zunächst untergeordnetes Gewicht beigelegt wurde. (. . .) Größere Bedeutung erhielt die Legitimationsdebatte jedoch erst seit der Proklamation der Politik der »Wende«. Es erwies sich rasch, daß die Wiederanknüpfung an Auffassungen der fünfziger Jahre keine hinreichende Resonanz in der öffentlichen Meinung besaß. Nachdem die Schonfrist beendet war, die der Regierung Kohl/Genscher erlaubte, sich auf Kosten des in den letzten Amtsjahren Bundeskanzler Helmut Schmidts innerlich zerstrittenen sozialliberalen Kabinetts zu profilieren, trat der Mangel eines integrativen politischen Konzepts offen zutage, das der »Wende«-Politik den Makel bloßer Restauration nahm. (. . .) Zwar fehlte es nicht an Anstrengungen rechtsstehender oder zur Rechten übertretender Intellektueller, dieses ideologische Vakuum zu füllen, und sie scheuten nicht vor Anleihen bei den amerikanischen Neokonservativen zurück. Aber letztlich vermochten diese von einer betont konservativen Kulturpolitik begleiteten Bemühungen keine langfristige Perspektive zu zeichnen (. . .). (S. 867 f.) Exakt in dieser Konstellation verschärfte sich der bis dahin eher schwelende Streit um die Konturen des westdeutschen Geschichtsbilds. Während dieser sich zuvor im wesentlichen in der Klage über die angeblich weit verbreitete Geschichtsverdrossenheit der westdeutschen Bevölkerung niederschlug, füllte er sich nunmehr inhaltlich auf. Im Mittelpunkt stand die Bewertung der Geschichte des Dritten Reiches (. . .). Die Ungeschicklichkeiten der Bundesregierung anläßlich des Besuchs von Präsident Reagan in Bitburg machten überraschend klar, daß die Belastungen des Zweiten Weltkrieges nach wie vor traumatische Bedeutung besaßen. Sie störten die Dramaturgie des BitburgSpektakels, das unter der Fiktion der endgültigen Versöhnung zwischen Bundesgenossen den Kreuzzugsgedanken der Alliierten gegen 81
die Hitler-Diktatur durch den Kreuzzugsgedanken gegen die kommunistische Weltherrschaft ersetzen sollte. Folgerichtig wurde in den offiziellen Reden der Zweite Weltkrieg in die Reihe der Normalkriege zurückgedrängt und erschien das Dritte Reich als eine tragische, aber angesichts der Bedrohung durch die bolschewistische Aggression begreifliche Verstrickung. (S. 868) (...) (. . .) (Die) bis dahin in der Politischen Bildung und den Geschichtslehrbüchern tonangebende Sicht der nationalsozialistischen Periode (besaß) keine hinreichende Verbindlichkeit mehr. Letztere war von der problematischen Annahme der inneren programmatischen Konsequenz der Herrschaftsideologie Hitlers geprägt, die mit dem ursprünglich gerade nicht personalistisch gewendeten Totalitarismus-Theorem kombiniert worden war. (. . .) (ebd.) Die Bewertung des Dritten Reiches als in sich kontingentes, mit der Weimarer Republik nur bedingt in Verbindung stehendes Geschehen spiegelte sich auch in der von konservativen Historikern vollzogenen Gleichsetzung der Oktoberrevolution mit der in Übernahme des nationalsozialistischen Vokabulars als »revolutionäre« Erhebung apostrophierten Machteroberung. Tendenziell wurde die Geschichte des Dritten Reiches zum schicksalhaften Verhängnis stilisiert, aus dem es kein Entrinnen gab, von dem aber auch konkrete politische Impulse auf die Gegenwart nicht ausgehen. Ebenso reagierte man auf Judenverfolgung und Holocaust primär mit moralischer Betroffenheit und beließ die damit verknüpften, von der westdeutschen Forschung nur unzulänglich aufgearbeiteten Vorgänge auf der Ebene einer bloß traumatischen Erfahrung. Bundeskanzler Kohl faßte die darin sichtbar werdende politische Folgenlosigkeit der nationalsozialistischen Erfahrung in die Formel von der »Gnade der späten Geburt«. (S. 869) (. . .) In der internationalen wie in der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung hat sich eine weit offenere Sicht des Dritten Reiches seit längerem durchgesetzt, die sich vor allem von der ursprünglich vorherrschenden dualistischen Interpretation freimachte, welche dem Terrorzentrum des SS-Staates die Traditionen des »anderen Deutschland« gegenüberstellte und sich im übrigen einem ideologiegeschichtlichen Determinismus verschrieb. Bezeichnenderweise waren es gerade außenpolitische Forschungen, insbesondere die grundlegenden Arbeiten Andreas Hillgrubers, die den Blick für die Kontinuitäten der deutschen Politik vom Spätwilhelminismus bis zur Kapitulation öffneten. Zugleich trat immer deutlicher hervor, daß die Verfügbarkeit weiter Teile der überwiegend konservativ orientierten Funktionseliten für die 82
Politik der NS-Regimes weniger auf ideologischer Indoktrination als vielmehr auf den dann von diesem nur unzureichend eingelösten Versprechen beruhte, die im Zuge der vorschreitenden gesellschaftlichen Nivellierung eingetretenen Statuseinbußen wieder rückgängig zu machen. (ebd.) Es ist kennzeichnend, daß diese von der konkreten Forschung längst aufgegriffene Linie in der Bundesrepublik weniger mit fachwissenschaftlichen als mit ordnungspolitischen Argumenten bekämpft wird. Die hochemotionalisierte Debatte über die Frage, ob es eines förmlichen Befehls Hitlers zur Implementierung der Genozidpolitik bedurfte, beleuchtet diese bis an die Schwelle des Agnostizismus reichende Tendenz zur Verweigerung unbequemer, weil nicht einfach ideologisch kompensierbarer Tatsachen. (S. 870) (...)
Folgerichtig tendieren konservative Fachvertreter dazu, an die Stelle der Ausklammerung des Dritten Reiches aus der geschichtlichen Kontinuität dessen geschichtliche Relativierung treten zu lassen. Mit der Forderung, den Nationalsozialismus in größere geschichtliche Zusammenhänge einzuordnen, stimmt Ernst Nolte mit stärker progressiv eingestellten Historikern überein, ebenso in der Warnung vor »volkspädagogisch« motivierten Tabus. Wenn er indessen den Genozid als bloße psychologische Gegenreaktion auf den als »asiatische Tat« hingestellten »weißen Terror« Lenins begreift und in die Tradition der »Tyrannei kollektivistischen Denkens« einreiht, die er mit der »entschiedenen Hinwendung zu allen Regeln einer freiheitlichen Ordnung« beantwortet sehen will 3 , bewegt er sich jedoch in ein Feld, in dem alle irgendwie gegen den Bolschewismus gerichteten Handlungen als solche gerechtfertigt erscheinen und jede konkrete politische Verantwortung hinter epochenspezifisch bedingten Dispositionen verschwindet, (ebd.) Mag man diese Argumentation als inakzeptable ideengeschichtliche Konstruktion ohne eigentliche politische Absicht begreifen, die ihm wegen seiner relativen Rechtfertigung der Deportation der Juden und der Betrachtung von Auschwitz als bloßem Auswuchs einer anomalen politischen Konstellation schon vor Jahren den Vorwurf eines »gewöhnlichen deutschen Nationalisten« (Felix Gilbert) eintrug, so gilt dies nicht für die Schützenhilfe, die er von Seiten konservativer Fachvertreter in dieser Frage erhält. Klaus Hildebrand ist Nolte in dieser Sehweise ausdrücklich zur Seite getreten, indem er die vorher zäh behauptete Singularität des Nationalsozialismus (diese zu mißachten war bekanntlich der Standardvorwurf gegen die Verfechter der vergleichen83
den Faschismus-Theorie) preisgab. 4 Ähnlich plädierte Michael Stürmer, der sich hierbei auf Franz Oppenheimer als unverdächtigen Zeugen bezog, welcher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Deutschen dazu aufrief, sich endlich vom traumatischen Ballast dieses Teils ihrer Vergangenheit zu lösen, gegen das Festhalten an der »kollektiven deutschen >Schuldbesessenheit«<5. (S. 870 f.) (. . .) Die Washingtoner Ermahnungen, endlich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, wie bei anderen Nationen auch, ins Reine zu bringen, lassen aufhorchen. Sie berühren sich mit der Besorgnis des von Burt ausdrücklich angeführten Michael Stürmer, daß ohne eine Konsolidierung des deutschen Geschichtsbilds die außenpolitische Bindung der Bundesrepublik an den Westen in Frage gestellt sei. Sie stehen zugleich im Zusammenhang mit seiner Klage über die angebliche »Geschichtslosigkeit« der Bundesrepublik und seiner Forderung, das verlorene Terrain aufzufüllen. Nur durch die vermittels der Historiographie bewirkte kollektive Sinnstiftung könne der gefährdete innenpolitische Konsensus langfristig gesichert werden. Die Alternative sei, betont Stürmer, daß der Konflikt zwischen gegensätzlichen Interessen und Werthaltungen, »wenn er keinen gemeinsamen Boden mehr finde«, notwendigerweise »früher oder später zum sozialen Bürgerkrieg« führen müsse 6 . Damit wird der instrumentale Charakter der von den Regierungsparteien geforderten Restituierung »der tausend Jahre heiler Geschichte jenseits des Nationalsozialismus« (so eine CDU-Äußerung von 1978 zur Reform des Geschichtsunterrichts) offen aufgedeckt. (S. 871) Man wird der westdeutschen Geschichtswissenschaft als ganzer schwerlich unterstellen können, sich dieser politisch motivierten Tendenz zu verschreiben. Dazu ist sie trotz starker konservativer Prägung zu apolitisch eingestellt. Wohl aber kommt sie einer breiten Strömung innerhalb des Faches entgegen, die dem Trend zur Sozial- und Regionalgeschichte und der Alltagsforschung skeptisch gegenübersteht und zur klassischen Politik- und Ideengeschichte zurücktendiert. Es ist schwer abzuschätzen, inwieweit die vor allem von Stürmer und Hildebrand verfochtene neorevisionistische Tendenz Zustimmung finden wird. Jedenfalls dürfte deren technokratische Instrumentalisierung auch bei konservativ eingestellten Fachvertretern auf Ablehnung stoßen, wenngleich bei ihnen, wie im Falle Hillgrubers, eine gewisse Affinität zu einer stärkeren Betonung nationaler Faktoren anzutreffen ist. Dessen historiographische Zuordnung von Vertreibung und Holocaust unterstützt indirekt die von den erstgenannten offensiv beschrit84
tene Ebene der Relativierung der Verbrechen des Dritten Reiches und läßt mit der Forderung »einer Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte« revisionistische Mißverständnisse zu 7 . (S. 871 f.) Das in der Bundesrepublik unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit anzutreffende Mißtrauen gegen jedweden staatlich verordneten Gemeinschaftskult, gegen Appelle an die nationale Opferbereitschaft, gegen nationales Pathos und nationale Embleme wurzelt in der politischen Ernüchterung, die unweigerlich der Bilanzierung der Erfahrungen im Dritten Reich ensprang. Wer immer darin einen Mangel vaterländischer Gesinnung erblicken will, sollte sich darüber klar sein, daß es gleichwohl nicht an einer bemerkenswerten Bereitschaft zu demokratischer Partizipation fehlt, obwohl diese vielfach außerhalb der personell verfilzten Bahnen der großen Parteien tätig wird. (. . .) (S. 872) Es ist daher absurd, durch die historische Relativierung des Nationalsozialismus ältere obrigkeitsstaatliche Einstellungen wieder hoffähig machen zu wollen und die an den Fehlentwicklungen der Zwischenkriegszeit, die ja keineswegs die deutsche Nation allein betreffen, abgelesenen Handlungskonsequenzen als Irrweg hinzustellen. Die pazifistische Grundströmung, die sich jüngst in der allgemeinen Kritik an dem libyschen Kommandounternehmen der Vereinigten Staaten geltend machte, mag zwar der Regierung unbequem sein, ist aber die notwendige Konsequenz aus den Erfahrungen zweier Weltkriege, denen aus heutiger Perspektive jede innere Rechtfertigung mangelt. (. . .) (S. 873) Die weitgehende Zurückdrängung nationalistischer Ressentiments, die zu einer Normalisierung des Verhältnisses zu den Nachbarvölkern geführt hat und selbst die Ausländerfeindschaft eng begrenzt, wird von konservativer Seite als potentielle Gefahr politischer Stabilität und als angeblicher »Identitätsverlust« qualifiziert. Indessen sind es nicht primär nationale Gefühle, sondern interessenpolitische Motive, die Neokonservative wie Michael Stürmer zu erwägen geben, daß mit dem Verlust der religiösen Bindungen allein »von Nation und Patriotismus« (Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage) klassenübergreifende Konsensstiftung ausgehen könne. Die Hilflosigkeit des Neorevisionismus wird an diesem Punkt deutlich. Denn beide Größen sind nur um den Preis, die Kontrolle darüber zu verlieren, manipulierbar, wie die Geschichte der Weimarer Republik eindrücklich zeigt. Zudem ist die Ausfüllung des von neorevisionistischer Seite erhobenen nationalen Anspruchs notwendig diffus und politisch irreal. Kennzeichnend für dieses Dilemma ist, daß die angestrebte Konsoli85
dierung des Nationalgefühls auf dem Umweg über die Stärkung des Geschichtsbewußtseins vorgenommen werden soll. Dies ist der tiefere Sinn der Pläne der Bundesregierung, in Bonn und Berlin historische Museen einzurichten. (. . .) (ebd.) Der Plan für ein historisches Mammutmuseum in West-Berlin ( . . . ) (S. 874) stellt (. . .) letztlich ein künstliches Fossil des nationalstaatlichen 19. Jahrhunderts dar und soll das verwirklichen, was der deutschen Einheitsbewegung seit den Freiheitskriegen mißlang: die Stiftung eines repräsentativen nationalen Geschichtsbilds. (. . .) (ebd.) Die Zuflucht zum Museum, zur abgeschlossenen Präsentation der nationalen Überlieferung, ist in doppelter Weise für die Absichten der Bundesregierung und der ihr nahestehenden beratenden Fachhistoriker kennzeichnend. Nicht Problematisierung durch Forschung, sondern Bilanzierung ist gefragt. Zugleich geht es darum, die Geschichte der Zwischenkriegszeit auszudünnen. In Bonn fungiert sie als schmal geratener Vorspann, in Berlin umfaßt sie weniger als ein Zehntel der Ausstellungsfläche. Beide Vorhaben zielen auf Flucht in vergangene Normalität. In beiden Fällen soll ein historisch gegründetes Wertbewußtsein vermittelt werden, das die Bundesrepublik wieder in die Lage versetzt, sich den Wegen nationaler Machtpolitik zu nähern, zwar nicht, wie seit den Tagen Bismarcks, als stärkste Führungsmacht in Europa, wohl aber als »Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems« (Michael Stürmer). Dazu bedarf es in der Tat eines neuen Geschichtsbilds, das das Menetekel der nationalsozialistischen Epoche in den Wind schlägt und die Erfahrungen des Holocaust und des Unternehmens Barbarossa unter dem Stichwort der »Normalisierung« vergessen machen will. (. . .) (ebd.) MERKUR,
Sept./Okt.
1986
(S.
864-874)
3 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: FAZ vom 6. Juni 1986; außerdem Between Myth and Revisionism. The Third Reich in the Perspective of the 1980s. In: H a n s W. Koch (Hrsg.), Aspects of the Third Reich. L o n d o n : Macmillan 1985. 4 Siehe die Besprechung von Noltes Beitrag in der Historischen Zeitschrift, N r . 242, 1986. 5 Siehe den Leserbrief Stürmers in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Juni 1986. 6 Michael Stürmer, Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen. München: Hanser 1983. 7 Siehe Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums. Berlin: Siedler 1986: » O b über regionale Ansätze im Westen Europas hinaus jemals eine Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte - als Voraussetzung f ü r eine Rekonstruktion ganz Europas oder aber als Konsequenz einer in Gang kommenden Rekonstruktion des ganzen Europa - möglich sein wird*, sei auch heute offen. Habermas' Kritik Eine Art Schadensahwicklung in: Die Zeit vom 11. Juli 1986 schießt bezüglich Hillgruber über das Ziel hinaus.
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18.
Jürgen Kocka
Hitler sollte nicht durch Stalin und Pol Pot verdrängt werden Über Versuche deutscher Historiker, die Ungeheuerlichkeit von NSVerbrechen zu relativieren
(. . .) Prominente Historiker schreiben Leitartikel in vielgelesenen Zeitungen. Kontroversen um historische Themen stehen im Zentrum grundsätzlicher intellektueller Auseinandersetzungen von Sozialwissenschaftlern (wie Habermas), Journalisten (wie Fest) und Historikern (wie Nolte). (. . .) Die Gründe des Interesses an Geschichte haben sich verschoben. Nicht so sehr Aufklärung, Kritik von Selbstverständlichkeiten und Beiträge zur Emanzipation erwartet die öffentliche Diskussion von der Beschäftigung mit der Geschichte, vielmehr: Hilfen zur Identitätsfindung oder gar Beiträge zur Sinnstiftung. »Zustimmungsfähige Vergangenheit« ist gewünscht, Geschichte als Tradition zur Stärkung der kollektiven Identität und Konsensbildung. Die Suche nach zustimmungsfähiger Vergangenheit und die Pflege indentitätsfördernder Erinnerung treten in sehr verschiedenen Formen auf. (. . .) Der Ort des Nationalsozialismus Da gibt es den Versuch, die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zwar nicht zu leugnen, aber doch zu relativieren und ihren Ort in der Geschichte neu zu definieren. Zwar ist es wenig verwunderlich und an sich nicht zu kritisieren, daß man auch an jenen dunkelsten Abschnitt unserer Geschichte aus dem zeitlichen Abstand eines halben Jahrhunderts andere Fragen richtet als unmittelbar nach ihrem Ende. (. . .) Aber wenn Hermann Lübbe die Verdrängung jener Vergangenheit und den Verzicht auf grundsätzliche Auseinandersetzung um die Verantwortung für sie nach 1945 als Bedingungen einer Versöhnung lobt, die die Bundesrepublik zu ihrem Überleben und ihrer Stabilität brauchte, dann muß man nicht den wahren Kern dieser These leugnen, um doch dagegenzuhalten, daß diese Verdrängungsstrategie gleichzei87
tig tiefgreifende politisch-moralische »Kosten« hatte und mit ihr neue Glaubwürdigkeitsdefizite eingehandelt wurden, ohne die die Schärfe der Protestbewegungen der späten 60er/frühen 70er Jahre nicht verstanden werden kann und die dieses Gemeinwesen bis heute belasten. (...) Die Relativierung der nationalsozialistischen Periode hat Ernst Nolte in seinem kontrovers diskutierten Aufsatz »Vergangenheit, die nicht gehen will« (FAZ vom 6. 6. 1986) ein ganzes Stück weiter getrieben ( . . . ) : a) Zum einen will er »die sogenannte Vernichtung der Juden während des Dritten Reiches« ihrer scheinbaren Einzigartigkeit entkleiden: andere Völkermorde seien ihr vorausgegangen (türkische Armenienverfolgung, stalinistischer Massenterror) und gefolgt (Pol Pot z. B.). Gegen historische Vergleiche ist nun nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Sie sind auch nicht neu. Mit dem Begriff des Totalitarismus hat man unleugbare Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus herausgearbeitet, so ihre gemeinsame Feindschaft gegenüber dem liberal-demokratischen Verfassungsstaat, ihre ähnlichen Unterdrückungsformen und eben auch in der Tat die Massenvernichtungen. Dies anzuerkennen, bedeutet keine Verharmlosung der »deutschen Katastrophe«, bedeutet auch keine Diskreditierung des Faschismusbegriffs, der die ebenfalls unleugbaren tiefen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus herauszuarbeiten erlaubt: wichtige Unterschiede der Ideologie und der jeweiligen Zukunftsvorstellungen, der sozialen Ursachen und Folgen, des Ortes und Stellenwertes im historischen Entwicklungsprozeß. Auch auf die gesamteuropäische Dimension der nationalsozialistischen Judenvernichtung im Unterschied zur innersowjetischen Dimension der stalinistischen Kulakenvernichtung hat man zu Recht verwiesen. Und es bleibt ein qualitativer Unterschied zwischen der bürokratisierten, leidenschaftslosen, perfekten Systematik des Massenmords im durchindustrialisierten, vergleichsweise hochorganisierten Reiche Hitlers und der brutalen Mischung von Bürgerkriegsexzessen, Massen»Liquidierungen«, Sklavenarbeit und Verhungernlassen im rückständigen Reiche Stalins. (. . .) Aber zugleich empfiehlt sich der Vergleich mit den Gesellschaften der westlichen Welt, mit denen wir uns sonst traditionell gern vergleichen, die uns nach Entwicklungsstand, Gesellschaftsstruktur und politischen Ansprüchen verwandter, ähnlicher sind und die nicht faschistisch bzw. totalitär pervertierten. Die sich in diesem Vergleichsfeld 88
ergebende Singularität der deutschen Entwicklung sollte durch Vergleich mit Stalin und Pol Pot nicht verdrängt werden; sie bleibt wichtig, bedrohend und beschämend. Warum sprechen Nolte und Joachim Fest, der ihn gegen die Kritik Habermas' erstaunlich radikal verteidigt (FAZ, 29. 8. 1986), davon so wenig? Was sind die Absichten und die Funktionen dieser Selektion? Zweifellos ist es bei der Suche nach Ursachen, Charakter und Folgen des deutschen Nationalsozialismus ertragreicher, angemessener und gerechter, Weimar-Deutschland und Hitler-Deutschland mit dem zeitgenössischen Frankreich oder England zu vergleichen als mit dem Kambodscha Pol Pots oder mit Idi Amins Uganda. Das hat nichts mit »Hochmut« und »Herrenvolkgesinnung« zu tun, wie Fest unterstellt, sondern mit dem zivilisationsgeschichtlichen Wissen über den Zusammenhang von ökonomischem Entwicklungsstand und Möglichkeiten gesellschaftlich-politischer Organisation wie auch mit dem Ernstnehmen unserer europäischen Tradition, aus der Aufklärung, Menschenrechte und Verfassungsstaat nicht weggedacht werden können. Wie könnte man es rechtfertigen, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht auf diesem Hintergrund einmal erreichter, nunmehr tief verletzter Ansprüche einzuordnen? (. . .) b) Zum anderen legt Nolte nahe, die »asiatische« Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten als doch nicht ganz unverständliche Reaktion auf die vorgängige Vernichtungsdrohung zu verstehen, als deren potentielle oder wirkliche Opfer sich Hitler und die Nationalsozialisten angeblich nicht ganz zu Unrecht sahen. (. . .) Und an anderer Stelle verweist er auf die vorgängige »Kriegserklärung«, die seitens des jüdischen Weltkongresses 1939 gegen Deutschland abgegeben worden sei. Diese Bemerkungen Noltes, die Fest verteidigt, haben nun nichts mehr mit nüchterner historischer Motivations- und Kausalanalyse zu tun. Die wirklichen Ursachen des Antisemitismus in Deutschland sind weder in Rußland noch beim jüdischen Weltkongreß zu finden. Und wie kann man im Lichte der Tatsachen die nationalsozialistische Judenvernichtung als ein auch nur irgendwie konsequentes, wenn auch antizipierendes Abwehrmittel gegen drohende Vernichtung aus der Sowjetunion deuten, mit der man bis 1941 paktiert und die man dann angreift? Hier würde die nüchterne geschichtswissenschaftliche Frage nach realhistorischen Zusammenhängen, nach Ursachen und Folgen, nach wirklichen Motiven und deren Bedingungen ausreichen, um sich und die Leser vor abstrus-spekulativen Deutungen zu schützen. Nolte unterläßt solche Fragen. Wenn »zustimmungsfähige« Vergangenheit 89
nur durch intellektuelle Bocksprünge dieser Art zu gewinnen ist, dann sollten wir darauf verzichten. (...) Mittellage Schließlich soll auf einen ( . . . ) - nationalgeschichtlichen - Versuch eingegangen werden, die Frage der Identität zu beantworten. Er ist politisch ambivalent, intellektuell anregend, aber letztlich unbefriedigend. Ich meine die zeitgemäß modifizierte Wiederaufnahme der alten These vom deutschen Sonderweg in der Mitte Europas. (. . .) Sie [die Historiker im Kaiserreich; d. Hrsg.] begründeten und rechtfertigten damit, daß Deutschland in seiner außenpolitisch exponierten Mittellage - und mit seinen spezifischen Traditionen - sich kaum Parlamentarisierung leisten könne, sondern militärisch-bürokratisch geprägter Obrigkeitsstaat bleiben, also insofern (im Vergleich zu Westeuropa) einen »Sonderweg« gehen müsse. Kluge Historiker wie Otto Hintze gaben diese Sichtweise nach 1918 auf. (. . .) Dann bedienten sich Michael Stürmer und Hagen Schulze in ihren bei Siedler veröffentlichten, gewichtigen Büchern über »Das ruhelose Reich. Deutschland 1866—1918« und »Weimar« der neuen geohistorischen Hypothese, und seitdem macht diese Sicht eine gewisse Karriere, bis hinein in die früheren Reden des gegenwärtigen Bundespräsidenten v. Weizsäcker. Die Sicht paßt eigentlich gut zum Wunsch nach Äquidistanz gegenüber Osten und Westen (einem Wunsch, der von Stürmer, Schulze und v. Weizsäcker allerdings nicht vertreten, sondern abgelehnt wird). Diese Sicht ließe sich gut zur Begründung neuer deutscher Sonderwege benützen, wer weiß, auf welchen Gebieten. Darin steckt ihre politische Brisanz. (. . .) Dahinter steckt die Uberzeugung, daß das europäische Gleichgewicht eine schwache Mitte voraussetzte und insofern die staatsrechtliche Vielgliedrigkeit des Alten Reiches und des Deutschen Bundes im Grunde die angemessenere Lösung gewesen sei. Die Gründung des Deutschen Reiches im »Herzen Europas« habe dann 1871 eine tiefgreifende Gleichgewichtsstörung bedeutet. Diese sei nur vorübergehend den europäischen Mächten durch die maßvolle Außenpolitik Bismarcks akzeptabel gemacht worden, die aber nur gelingen konnte, solange sie mit einer, die innere Dynamik des Kaiserreichs in Schranken haltenden obrigkeitsstaatlichen Verfassungs- und Repressionspolitik verbunden war. (. . .) (. . .) Während aus liberale(r) Sicht die Obrigkeitsstaatlich-vorparla90
mentarische Struktur des Kaiserreichs als konfliktverschärfende Belastung und langfristig wirkendes Hindernis liberaler Demokratisierung in Deutschland begriffen wurde, erscheint der vorparlamentarisch-obrigkeitsstaatliche Charakter des Reichs bei Stürmer und Schulze als berechtigte Konsequenz der geographischen Mittellage und als Garant des Friedens, der nur leider auf Dauer den Kräften der Bewegung nicht gewachsen war. Während die verhinderte Parlamentarisierung und die fortdauernde Dominanz traditionaler Eliten aus Adel, Militär und Bürokratie zumeist als Strukturdefizite des Kaiserreichs angesehen wurden, hätten nach Stürmer und Schulze eine frühere Parlamentarisierung und gründlichere Demokratisierung die Politik des Reiches nur noch maßloser gemacht; ihrer Meinung nach litt das Reich eher unter einem Zuviel an Demokratisierung, Mobilisierung und Dynamik, weniger an seiner obrigkeitsstaatlichen Starre. Eine besondere Gefahr stellte dieses Reich nicht deswegen dar, weil es etwa expansiver und aggressiver war als seine westlichen Nachbarn, sondern weil die an sich »normale« Expansivität dieses Reiches nicht mit seiner geographischen Lage vereinbar war. Aber diese Sichtweise kann nicht überzeugen. Mit ihr kann man nicht erklären, warum und mit welcher Notwendigkeit dieses Reich in der Mitte seine innere Dynamik entwickelte und schließlich nach außen lenkte. Und sie übersieht, daß es gerade die obrigkeitsstaatlichvorparlamentarische Unbeweglichkeit der Reichsverfassung war, die die auf Partizipation dringenden sozialen und politischen Kräfte ins Abseits drängte und so irrational-destruktive Strömungen hervorbringen half, die dann destabilisierend wirkten, nach innen und außen. Grundsätzlicher noch: Die Geographie als solche erklärt wenig. Auch die Schweiz und Polen liegen »in der Mitte«, und doch haben sie eine ganz andere Geschichte. Mit der geographischen Lage Deutschlands sind im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedliche Verfassungsstrukturen und Bündniskonstellationen vereinbar gewesen. Die Definition der Mitte ist selbst ein historisches Phänomen und ändert sich mit der Zeit. ( . . . ) Kritik als Identität Weder durch relativierende Einebnung der nationalsozialistischen Periode und anderer dunkler Punkte unserer Vergangenheit, noch durch die liebevolle Zeichnung alltagshistorischer Miniaturen, noch durch einen neuen kurzschlüssigen Geographismus sollten die Historiker auf 91
die Zumutung reagieren, Identität zu stiften. Ihre Aufgabe ist die Beschreibung, Erklärung und Darstellung vergangener Wirklichkeit mit wissenschaftlichen Mitteln unter den sich wandelnden und nie einheitlichen, zukunftsorientierten Problemstellungen der Gegenwart. Indem sie die Gegenwart in ein möglichst aufgeklärtes - und das heißt, zutreffendes, umfassendes, gemeinsames und kritisches - Verhältnis zu ihrer Vergangenheit zu setzen helfen, erfüllen sie wichtige gesellschaftliche Bedürfnisse und tragen in einem grundsätzlichen und vermittelten Sinn zur Identitätsfindung bei, vorausgesetzt, man benutzt einen Begriff von Identität, der Selbst-Distanzierung und Reflexion ebenso einschließt wie ständigen Wandel und immer erneute Kritik. FR, 23. 9. 1986
19.
Georg Fülberth
Ein Philosoph blamiert die Historiker Zum dritten Mal in hundert Jahren planen deutsche Monopolunternehmen den extragroßen Rüstungseinstieg. Es begann in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem Schlachtflottenprogramm, an dem sich Krupp eine goldene Nase verdiente. Dann kam, Mitte der dreißiger Jahre, Hitlers Aufrüstungsprogramm. Nunmehr stehen SDI, EUREKA und EVI ins Haus. In wenigen Jahren schon wird der Automobilbau nur noch eine relativ kleine Größe bei Daimler-Benz/AEG/MTU/Dornier sein. Eines allerdings ist neu: bei Kaiser Wilhelm und Hitler waren die deutschen Monopole unter sich. Wenn der Westen aber nun seine Rüstungsanstrengungen poolt, dann geraten die Unsrigen unter internationale Konkurrenz. Hier zählt harte Ware und hartes Geld. Herrscht bei beidem Parität, können moralische Werte auch ein wenig mitspielen, und da haben die deutschen Firmen eine weiche Stelle: Just in dem Moment, da sie ins ganz große Rüstungsgeschäft mit neuen Dimensionen einsteigen wollen, werden ihnen Sünden aus der Vergangenheit vorgehalten, zum Beispiel die Sklavenarbeit in der NS-Zeit. Rein rechtlich müßten sie unter anderen Bedingungen die Forderungen der Geschädigten wohl kaum fürchten. Doch das Aufsehen, wenn Klagen abgewiesen würden, wäre jetzt geschäftsschädigend. (. . .) 92
Sehr gut weiß der Leitende Angestellte von Mannesmann und Boehringer, der inzwischen für die Villa Hammerschmidt freigestellt wurde, was not tut. Am achten Mai 1985 gab er eine Schuld zu, die ohnehin nicht mehr zu verschweigen war. Namen und Adressen der Sklavenbeschäftiger nannte er noch nicht, aber immerhin: er bemühte sich, die Nachkriegszeit endgültig abzuschließen, denn es gilt längst schon wieder vorwärts zu schreiten. Und wenn dröhnend eine Selbstverständlichkeit einbekannt wird, dann besteht noch eine kleine Chance, daß eine andere Sache offiziell verschwiegen bleibt: Die Frage, wer Hitler an die Macht gebracht hat, ist längst beantwortet, aber von Wissenschaftlern, die ausgegrenzt bleiben, damit in staatstragenden Reden des Tabu nicht verletzt werde. Um Schuld und Antifaschismus geht es da allemal nicht, sondern um das Abwerfen von Ballast. Die Bundesrepublik soll ihre eigene Legitimität bekommen, die in keiner Weise mehr mit Hitler in Verbindung gebracht werden kann. Für die Geschichtswissenschaft wird sie damit endgültig zu einem separaten Gegenstand, dessen Erforschung reichen Ertrag und hohe Erbauung in Aussicht stellt. (. . .) (...) Irgendwann mag sich da allerdings die »nationale Frage« stellen. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht noch 1973 behauptet, die BRD sei »als Staat identisch mit dem Staat >Deutsches Reich<, - in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings >teilidentisch<, so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.« Der Erlanger Historiker Michael Stürmer, welcher dem Bundeskanzler Kohl das geschichtliche Denken abnimmt, schlägt dagegen eine Differenzierung zwischen Nationalstaaten und Nation vor: Diese sei zu haben, wenn man jenen aufgebe. Damit findet er Gefallen bei den »Genscheristen« in der Union, welche (. . .) für eine »politische Bindungswirkung« der Ostverträge eintreten. Die Stahlhelmer rund um Dregger halten sich da lieber an den Kölner Historiker Andreas Hillgruber. (. . .) In einem Buch »Zweierlei Untergang« sieht er redliche Landräte und tapfere Soldaten als vorbildliche Figuren, welche 1944/45 deutsche Menschen, Frauen und Kinder zumal, vor der Roten Armee zu retten versuchten. In der »Frankfurter Allgemeinen« definierte sein Westberliner Kollege Ernst Nolte Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion als eine Art Vorbeugemaßregel gegen eine vom Osten ausgehende »asiatische Tat« (. . .). Sind die Geschichtsbilder von (. . .) Stürmer einerseits, Hillgruber und Nolte andererseits überhaupt miteinander zu vereinbaren? Offensichtlich in einem Punkt: Nolte und Hillgruber reduzieren für eine be93
stimmte Phase des zweiten Weltkrieges den deutschen Faschismus auf eine angebliche Verteidigung gegen bolschewistisch-asiatische Barbarei. Und just dies ist auch die Legitimationsideologie der Bundesrepublik von ihrer Gründung an: Sie versteht sich als antikommunistischer Grenzstaat, der eine wichtige Defensivfunktion innerhalb der NATO habe, allerdings - bei (. . .) Stürmer - zugleich Macht und Recht zu selbstbewußtem Agieren besitzt. (. . .) (...) Habermas kritisiert ausschließlich eine Faschismusapologie, die Hitlers Krieg fürs nationale Selbstbewußtsein nicht völlig aufgeben will. (. . .) (Er) bezieht Stürmer voll in seine Kritik ein. In den besten ideologiekritischen Traditionen der Frankfurter Schule analysiert er Begriffe, Denkfiguren und Sprache und stößt insbesondere bei Hillgruber auf die Rambomentalität von Landserheftchen. Aber auch Stürmers Revitalisierung des Nationbegriffes hält er für gefährlich. (. . .) (...) Die Kameradschaft sich konservativ nennender Zeithistoriker in der Bundesrepublik geht seit einiger Zeit mit dem Archivfund hausieren, daß auch Großbritannien im zweiten Weltkrieg weitreichende eigene Kriegsziele verfolgt habe. Diese Information behandelt Habermas nur en passant. Sie ist ja nun auch wirklich nicht sensationell. Eine ähnliche Konstellation bestand durchgehend im imperialistischen ersten Weltkrieg, und sie wiederholt sich im zweiten Weltkrieg dort, wo er - bis zum Angriff Hitlers auf die UdSSR - ebenfalls ein zwischen imperialistischen Mächten ausgetragener Konflikt gewesen ist. Daß die Westmächte auch in der Anti-Hitler-Koalition nicht aufhörten, imperialistisch zu sein, ist ja nun auch kein Wunder. Habermas, der hier zu Recht fordert, die Geschichtswissenschaft müsse von sozialwissenschaftlichen Informationen Gebrauch machen, begnügt sich mit dem Hinweis auf die »besonders in Preußen konservierte(n) Gesellschaftsstruktur«. In der Auseinandersetzung mit sich als »konservativ« verstehenden, Friedrich II. und Hindenburg verehrenden Deutschnationalen liegt dies nahe, doch eine solche Verkürzung der Argumentation läßt ihnen noch unnötig viel Spielraum. Dies alles mindert nicht Habermas' Verdienst, in das Treiben eines Ideologenpulks hineingeleuchtet zu haben, der durch die Wende gewaltige Bestätigung erfahren hat. Erstaunlich ist eher, daß solche Kritik von einem Philosophen vorgebracht werden mußte und nicht viel eher schon in massiver Form von Vertretern der sozialliberalen Richtung der BRD-Geschichtsschreibung kam. (. . .) DVZ/die tat, 26. 9. 1986
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20.
Hans Mommsen
Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus Die Schlachtordnung konservativen Denkens in der Bundesrepublik hat sich verändert. Jahrzehntelang bestand man darauf, den Nationalsozialismus als singulären Einbruch in die Kontinuität der deutschen Geschichte zu deuten. Deutschland als das erste vom Nationalsozialismus besetzte Land - diese Wendung spiegelt die schon nach 1945 einsetzende, sich zunehmend verfestigende Tendenz, die Katastrophe des Dritten Reiches und dessen verbrecherische Politik vornehmlich auf das Wirken Adolf Hitlers zurückzuführen und letztenendes als Hitlerismus zu deuten. Anhänger der vergleichenden Theorie des Faschismus wurden barsch zurückgewiesen, es sei mit der Einmaligkeit des Nationalsozialismus nicht vereinbar, ihn unter den Begriff des Faschismus zu subsumieren, ja dies laufe auf eine »Verharmlosung« des revolutionären Charakters des NS-Herrschaftssystems hinaus. Allerdings hinderte dies konservative Autoren nicht, die seit den Stalinschen Säuberungen ins westliche Denken fest eingeprägte Gleichung von Nationalsozialismus und Bolschewismus als zentrales Erklärungsmuster herauszustellen und mit der Theorie der »totalitären Diktatur« zu garnieren. Seit einiger Zeit liest man es anders. Plötzlich wird nicht nur die »Singularität« des Nationalsozialismus, sondern auch seiner Verbrechen geleugnet. Die Debatte entzündet sich an der Bewertung des »Holocaust«. Ernst Nolte ging hierin schon Vorjahren voran, indem er hervorhob, daß die Liquidierung von Millionen europäischer Juden kein Unikum der Weltgeschichte darstelle, sondern in universalgeschichtlicher Perspektive »relativiert« werden müsse. Damals fielen ihm anerkannte Historiker wie Peter Gay und Felix Gilbert in die Zügel. Die deutsche Öffentlichkeit schwieg. Es war ohnehin ein verdrängtes Randproblem für sie. Jetzt hat Nolte diese These erneut vorgetragen, (. . .) in einem ursprünglich für die Römerberggespräche bestimmten Beitrag in der FAZ. Anders als zuvor rief Kritik daran prominente Verteidiger auf den Plan, unter ihnen Joachim C. Fest (S. 1200) und Klaus Hildebrand. Charakteristisch richtet sich die Polemik gegen Jürgen Habermas, der in der »Zeit« den Bemühungen entgegentrat, ein ganz im Sinne Helmut Kohls equilibriertes deutsches 95
Geschichtsbild zu präsentieren und dem deutschen Volk zu neuem »Nationalstolz« zu verhelfen (sie finden darin die ausdrückliche Unterstützung des U.S.-Botschafters in Bonn, Richard Burt). Hildebrands Einlassungen mag man beiseite schieben; Habermas »Wirklichkeitsverlust und Manichäismus« vorzuwerfen und subjektive Aufrichtigkeit abzusprechen, zeugt von dem Selbstbewußtsein einer selbst ernannten Historikerelite, die sich anschickt, die Umrisse des vonnöten scheinenden neuen Geschichtsbilds abzustecken. Ernsthafter ist die Antikritik von Joachim C. Fest in der FAZ, auch wenn sie auf weite Strecken zu einer Verteidigung Ernst Noltes gerät und nicht zögert, Habermas den Versuch des »persönlichen Rufmords« und Flüchtigkeit und Unbekümmertheit des Umgangs mit den kritisierten Texten zu unterstellen. Die Empfindlichkeit, mit der auch Fest auf den Vorwurf reagiert, es handele sich keineswegs um isolierte Diskussionsbeiträge ernstzunehmender Wissenschaftler, sondern um die »Büchse der Pandora«, die die auf weite Strecken von einer zeitgeschichtlichen Enttabuisierung begleitete Wendepolitik geöffnet hat und der hinter die Fortschritte der westdeutschen politischen Kultur zurückfallende Geschichtsdeutungen entspringen, gibt zu denken. Seine Behauptung, Habermas verrenne sich in eine »platteste Verschwörungstheorie«, die, so Fest, »nichts anderes als ein Ausdruck unbegriffener Verhältnisse ist«, übersieht nicht nur, daß die FAZ sich zunehmend zur Plattform für Vertreter der Revision des »Geschichtsbilds« gemacht hat. Sie abstrahiert zugleich von dem Tatbestand, daß derartige Bestrebungen keineswegs isoliert sind. Dies überrascht um so mehr, als Michael Stürmer, Leitartikler dieses Blattes, ein solches Programm wiederholt verkündet hat, und das unter dem Slogan, daß der, der der Herr der Geschichte ist, auch die Zukunft für sich habe. Es mag sein, daß Joachim C. Fest nichts mit dem im Sinne hat, was damit intendiert ist: daß die Fixierung des Geschichtsbilds auch die Funktion hat, politische Macht zu konsolidieren. Der Bundeskanzler, der eben dieser Rekonsolidierung eines nationalen Geschichtsbilds in Form eines »Deutschen Historischen Museums«, das er als »nationale Aufgabe von europäischem Rang« herausstellte, seine volle politische Unterstützung verlieh, und mit ihm führende Repräsentanten der CDU/CSU griffen jedenfalls Stürmers entsprechende Anregungen exakt in diesem Sinne auf. Allerdings hat Fest damit recht (und Habermas hat dies nie behauptet), daß von einer Verschwörung keine Rede sein kann. Dazu ist das Wohlwollen, mit dem derartige Bestrebungen in der deutschen Bildungsschicht rechnen können, viel zu groß. Was stattfindet, ist viel96
mehr die Freisetzung bis dahin zurückgehaltener, weil politisch fragwürdig erscheinender Denkschritte: die Gleichstellung von »Holocaust« und Vertreibung, die Hinterfragung der Zweckmäßigkeit des Attentats vom 20. Juli 1944 angesichts der herandrängenden »Roten Armee«, die Abschiebung der deutschen Verantwortung für (S. 1201) den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz auf die britische AppeasementPolitik und deren pazifistische Träger, schließlich die Auffassung, daß Weimar primär wegen der Fesseln des Friedensvertrages, des »Diktats« von Versailles gescheitert war, daß das fehlende Nationalbewußtsein der Deutschen auch eine Folge der Reeducation sei, daß es schließlich vor allem die Kommunisten gewesen seien, die das republikanische System (zusammen mit den Nationalsozialisten) untergraben hätten. (. . .) Dieser Revisionismus neokonservativen Zuschnitts ist als solcher nicht neu. Er blühte in den konservativen Nischen der westdeutschen Gesellschaft seit langem und spiegelt sich in einem verbreiteten Schrifttum, ob es nun von der Siemens-Stiftung oder von Ministerpräsident Filbingers Studienzentrum Weikersheim e. V. oder aus anderen steuerbegünstigten Quellen finanziert ist. (. . .) Was sich gegenwärtig vollzieht, ist keine Verschwörung: vielmehr finden seit langem aufgestaute und in marginaler Literatur sichtbar hervortretende nationale Ressentiments und eine zu neuen Ufern drängende Geschichtsschreibung sich in einer unheiligen Allianz wieder zusammen. Daß Joachim C. Fest, einer der hervorragendsten Historiographen für die NS-Zeit, mit derlei Tendenzen nichts im Sinn hat, ist evident, ebenso wie die letztlich ressentimenthafte und von internalisiertem Antibolschewismus geprägte Sprache der amerikanischen Neokonservativen kaum in sein Vokabular paßt. Aber es wäre gut, etwas mehr Bedachtsamkeit auf diese sich subkutan abzeichnende Tendenz zu verwenden, als den Außenseiter Habermas der intellektuellen Unredlichkeit und als »Mandarin der Mythen« zu bezichtigen. Das gilt um so mehr, als Fest damit die Tendenz einiger »herrschender« Historiker übernimmt, offene Gegner in die Ecke des Abseitigen zu drängen. In Hildebrands FAZ-Entgegnung geschieht dies indirekt: Habermas wird nachgesagt, die deutsche Welt in »Regierungshistoriker« und Habermas zu trennen. Implizit beansprucht der Bonner Historiker mit diesem Vorwurf, die gesamte deutsche Historie zu vertreten. Dazu paßt, Habermas als Nichthistoriker mangelnden Sachverstands zu bezichtigen. Diese Technik hat Methode: grundsätzliche Polemik, zumal wenn sie sich außerhalb der Fachzeitschriften (wo denn sonst?) abspielt, wird als »Unkollegialität«, der Gegner als hoffnungsloser Außenseiter, als »Manichäer« apostrophiert. (. . .) (S. 1202/1204) 97
Im Kontext der gegenwärtigen Debatte wird man vor solchen »Haltet den Dieb«-Parolen warnen müssen. Gerade deshalb ist zu bedauern, daß Joachim C. Fest die methodisch schwierige Frage der Singularität der NS-Verbrechen davon nicht abtrennt. Denn die Vereinnahmung der Position Noltes durch Historiker wie Hildebrand und Stürmer, denen es um unmittelbare politische Schlußfolgerungen zu tun ist, (. . .) hat diese Frage von vornherein auf eine schiefe Ebene gerückt. Der von Karl Dietrich Bracher in Bezug auf den Nationalsozialismus hervorgehobene Begriff der »Singularität« ist für den Historiker zunächst eine Trivialität, da geschichtliche Vorgänge schwerlich identische Strukturen und verursachende Bedingungsrahmen aufweisen. »Unvergleichbarkeit« in diesem Sinne gibt es methodologisch nicht, vielmehr muß sich jeder Vergleich an seiner erkenntnistheoretischen Fruchtbarkeit legitimieren, während es ein Kriterium, diesen a limine für illegitim zu halten, nicht gibt. Es ist daher ebenso gerechtfertigt, den Nationalsozialismus als spezifische Form des Faschismus zu deuten als ihn mit kommunistischen Regimen in Beziehung zu setzen. Die Frage ist vielmehr, ob aus einem solchen Vergleich richtige oder irreführende Schlußfolgerungen gezogen werden. Bezüglich der »Genozid«-Politik ist ein solches Vorgehen begreiflicherweise besonders kontrovers. (. . .) Mit Recht kann darauf verwiesen werden, daß die Mordaktionen gegen Juden der irrealen Vorstellung vom »Weltfeind« entsprachen, der gegenüber interessenpolitischen Motiven, so sehr sie im ursprünglichen Antisemitismus und auch der Judenverfolgung vor 1938 mitschwangen, völlig untergeordnete Bedeutung beizumessen ist. Unter der Perspektive, daß Massenmord aus rassischen oder ethnischen Gründen keineswegs auf den »Holocaust« beschränkt war und heute ist, rückt die Genozidpolitik demgegenüber in den Horizont der in der bisherigen Geschichte extremsten Form zynischer und systematischer Vernichtung von mißliebigen Völkern oder Minderheiten. (. . .) Von dieser Überlegung her wird es wichtig, die Mechanismen aufzudecken, die es unter den Bedingungen einer weitgehenden, aber keineswegs vollständigen ideologischen Indoktrination ermöglicht haben, die Liquidationsträume der völkischen Antisemiten in die politische Realität umzusetzen. (. . .) (S. 1204) Gleichwohl gibt es eine Singularität des »Holocaust« in einem relativen Sinne. Fest spricht dies indirekt an, wenn er den »Hochmut« der »alten Herrenvolkgesinnung« in dem Argument erkennt, daß Verbrechen dieser Größenordnung einem alten »Kulturvolk« stärker anzurechnen seien, als das für »Völker auf primitiverer Stufe« gelte. Gewiß 98
findet sich das Entsetzen darüber, daß die Nation des »deutschen Idealismus« auf die Stufe einer nicht mehr zu überbietenden zynischen Menschenverachtung und -Vernichtung herabgesunken war, gerade bei den Opfern (. . .). Gerade jenen, die der Regenerierung der deutschen Identität aus der Bewußtmachung von »tausend Jahren heiler Geschichte jenseits des Nationalsozialismus« das Wort reden, sollte ein Argument freilich fremd sein, das darauf hinausläuft, das, terroristische Diktatur und propagandistische Indoktrination vorausgesetzt, früher erreichte Stufen der politischen und moralischen Kultur nicht für die Bewertung der Ermordung der europäischen Juden in Anschlag zu bringen sind. Die Akte schreiender Ungerechtigkeit resignierend hinzunehmen und deren gesellschaftliche Voraussetzungen zu verdrängen, indem man sich auf gleichartige Vorgänge anderswo beruft und sie der bolschewistischen Weltbedrohung als Auslöser in die Schuhe zu schieben, erinnert an eben die Denkhaltungen, die den Genozid implementierbar gemacht haben. Als Historiker, der sich gerade mit der Beantwortung der Frage der Reaktion der Bevölkerung (keineswegs nur der deutschen) auf den »Holocaust« herumquält, ist das Erschreckende an der von Fest fortgeführten Debatte, daß Hitlers »Vernichtungswille« als maßgebliche Endursache des Geschehens genügt. (. . .) Wenn aber (. . .) der Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus zur Diskussion gestellt wird, der, wie erörtert, ein durchaus vermittelter, im wesentlichen sozialpsychologischer gewesen ist, dann muß zunächst einmal festgestellt werden, daß nicht die Oktoberrevolution selbst, auch nicht die Übernahme einzelner Machttechniken, sondern die Hyperreaktion der politischen Eliten dafür maßgebend waren, daß die politische Kultur von Weimar durch eine geradezu selbstverständliche Akzeptanz von Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen geprägt worden ist, und diese Gewalt kam, um an Joseph Wirth zu erinnern, überwiegend von rechts. Der hybride Antibolschewismus, auf dessen Welle Hitler an die Macht kam, trug in erheblichem Umfang dazu bei, selbst moralanaloge Hemmungen bei denen auszuschalten, die den SS-Schergen Hilfsdienste leisteten, darunter eben auch und nicht zuletzt der deutschen Wehrmacht. (S. 1206/1208) Im Licht dieser alle Denkenden immer wieder in ihren Bann schlagenden Fragen erscheint die Einengung der Diskussion auf die Frage, die Ernst Nolte aufgebracht hat, inwieweit es Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Massenmord und dem Archipel Gulag gab, aufgesetzt und unaufrichtig. In das zeitgenössische Bewußtsein übersetzt, liefe dies darauf hinaus, Katyn Auschwitz gegenüberzustel99
len, aber mit gleichsam umgekehrter Blickrichtung gegenüber jenen mutigen Oppositionellen, die diese Gleichung auf die Mauerwände schrieben. Wenn man auf die Meinung der Volksopposition im Dritten Reich irgendetwas gibt, dann sollte man deren Reaktion auf die Goebbelssche Katyn-Propaganda nicht vergessen, die darin bestand, dem Regime angesichts der Judenmorde die Berechtigung abzusprechen, die bolschewistischen Morde zu durchsichtigen Zwecken hochzuspielen. (. . .) (S. 1208) Die psychologischen und institutionellen Mechanismen, die die Nicht-Reaktion der Bevölkerung erklären, müssen Gegenstand sorgfältiger Erforschung sein, schon unter dem Gesichtspunkt, das Mögliche zu tun, um die Wiederkehr von Vergleichbarem zu verhindern, auch wenn die Größenordnung der systematischen Ausrottung des europäischen Judentums, insbesondere die nahezu lückenlose und perfekte Durchführung, einzigartig dasteht. (. . .) Alle Vergleiche mit dem Stalinismus helfen in dieser Beziehung überhaupt nicht weiter, da die Bedingungen verschieden waren und immerhin erklärliche feindselige Gefühle eine Rolle spielten, während der abstrakte »Antisemitismus ohne Juden« im Dritten Reich einen Sonderfall darstellt, (ebd.) Von alledem ist bei Fests Verteidigung der Argumente Ernst Noltes gerade nicht die Rede. Zwar nimmt er insoweit die von Martin Broszat und von mir unterbreiteten Argumente auf, als er einräumt, daß Hitler selbst gleichsam zum Gefangenen eines von ihm eingeleiteten komplexen Handlungszusammenhanges wurde. Aber er baut diese Überlegung in seine Argumentation ein, die einen »kausalen Zusammenhang« zwischen den bolschewistischen Verbrechen und dem »Holocaust« als wahrscheinlich hinstellt. Letzteres ist bekanntlich die Position Noltes, der Hitlers radikalen Antisemitismus als fehlgeleitete Gegenreaktion auf die »asiatische Tat« des Bolschewismus deutet. Kausalität in diesem Sinne ist indessen ohnehin nicht zu behaupten, allenfalls ließe sich auf historisch notwendige psychologische Handlungsbedingungen verweisen. Die Stipulierung einer kausalen Verbindung zwischen Archipel Gulag und Auschwitz ist jedoch nicht nur methodisch unhaltbar, sondern auch in ihrem Prämissen und Schlußfolgerungen absurd, ohnehin unhaltbar. Geht man aber einmal auf diese Hypothese ein, gelangt man zu folgender Feststellung: Der hybride Antibolschewismus, als dessen »Opfer« Hitler aus solcher Sicht erscheint (er ging bekanntlich den stalinistischen Maßnahmen gegen die Kulaken voraus, und es ist schwer zu sehen, daß er sich aus der Gewaltsamkeit des russischen Bürgerkriegs erst ableitete), zwang Hitler subjektiv dazu, die gleichen Methoden anzuwenden (also die Methoden, die er den 100
Juden als solchen anlastete); er erlag also der Selbsttäuschung, den Bolschewismus für eine jüdische Erfindung zu halten. Subjektiv also, würde sich folgern lassen, war Hitlers Antisemitismus begreiflich, wenngleich seine Methoden aus anderen Gründen nicht gerechtfertigt. Es ist besser, solche Konstrukte nicht weiter zu denken . . . Daß sich der Antibolschewismus der deutschen Rechten, aber auch der bürgerlichen Mitte, schon 1918 der Gleichsetzung von Bolschewismus und Judentum bediente und daß beispielsweise der Alldeutsche Verband schon im Ersten Weltkriege fest entschlossen war, den Antisemitismus zur antisozialistischen Massenmobilisierung zu benützen, genügt hinreichend, um zu erklären, warum Hitler in der unmittelbaren Nachkriegszeit im bürgerkriegsgeschüttelten München den völkischen Antisemitismus mit seiner typisch antibolschewistischen Ausrichtung aufnahm. Er war in dieser Beziehung alles andere als ein Sonderfall. Noltes personenbezogene ideengeschichtliche Herleitung wirkt gegenüber diesen unabweislichen Bedingungsfaktoren selbst für die Erklärung des Hitlerschen Antisemitismus eigentümlich konstruiert. Daß der Faschismus, und so der Nationalsozialismus, aber auch die völkische Bewegung, nur als Reaktion auf die Oktoberrevolution, als Nutznießer der durch letztere entfesselten hybriden antikommunistischen Ressentiments, die tief in die SPD hineinreichten, breitere Akzeptanz erreichen konnten, ist unbestritten, obwohl es schließlich anderer bedingender Faktoren bedurfte, um die NSDAP zur Massenbewegung zu machen. (S. 1209) (. . .) Die Frontstellung zwischen der politischen Rechten in Deutschland und den Bolschewiki war längst in äußerster Schärfe entbrannt, bevor der Stalinismus politische Methoden anwandte, die zum Tode von Millionen Menschen führten. Die Denkfigur der Ausrottung der Juden war seit langem geläufig, und dies nicht nur bei Hitler und seinen engeren Satrapen, die vielfach aus dem vom Alldeutschen Verband ins Leben gerufenen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund zur NSDAP stießen. Daß Hitler - und so müßte man Noltes Konstrukt, für das er biographische Nachweise nicht beizubringen vermag, umkehren - den Schritt vom verbalen Antisemitismus zur praktischen Implementierung getan hat, wäre danach erst in Kenntnis und in Reaktion auf die Untaten der Stalinisten geschehen. Als Hitler-Biograph distanziert sich Fest behutsam von derartiger Einseitigkeit, indem er auf die »Überwältigungsphantasien des Deutsch-Österreichers« Hitler verweist. Nicht ganz konsequent räumt er gleichwohl ein, daß die Berichte über die terroristischen Methoden der Bolschewiki Hitlers »Ausrottungskomplexen« einen »realen Hintergrund« verschafft hätten. 101
Im Grunde ist die von Nolte aufgeworfene Fragestellung in ihrer ideengeschichtlichen Einseitigkeit wenig hilfreich, um das Geschehene sowohl zu erklären wie zu würdigen. Denn der antisemitisch garnierte Antibolschewismus insbesondere der herrschenden Eliten und keineswegs nur der Nationalsozialisten bewirkte, daß Hitlers Programm des rassischen Vernichtungskriegs auf keinerlei ernsthaften Widerstand stieß, daß sich die Wehrmachtsführung vielmehr bereitwillig zum Komplizen der Ausrottungspolitik machte, indem sie den Komplex der »verbrecherischen Befehle« selbst formulierte und deren Implementierung, wenngleich mit gewissen Vorbehalten um der Manneszucht willen und bei isolierten Protesten, keineswegs nur passiv unterstützte. Darüber einen engeren »kausalen Nexus« im Gehirn Hitlers zu konstruieren, heißt faktisch doch, von der maßgeblichen Mitverantwortung der militärischen Führung und der bürokratischen Eliten abzulenken. Hitlers fanatischer Kampf gegen die angebliche »Verschwörung des Weltjudentums« war zudem ein ideologisches Konstrukt, daß keineswegs der Blutzufuhr durch konkrete historische Geschehnisse, wie der stalinistischen Verbrechen, bedurfte. Ebenso ist der Prozeß, der bewirkte, daß Hitler, bei zunehmender Realitätsflucht, (. . .), alle Hemmungen bei der Verfolgung tatsächlicher und angeblicher Gegner fallen ließ, nicht mit der Wahrnehmung von Lenins »asiatischen Methoden« zu erklären, ganz abgesehen davon, daß Hitler ideologisch weit mehr im völkisch-antisemitischen Denken der Vorkriegszeit wurzelte, als es die meisten Biographen beschreiben. Der komplexe Prozeß, der über die soziale Entrechtung, die forcierte Auswanderung und die Ghettoisierung schließlich 1941 zur systematischen Liquidation hintrieb, ist nicht einfach ideologisch zu erklären, wie auch Fest einräumt, sondern hängt mit der selbstentfesselten Dynamik zusammen, die die totale Ausgrenzung der Juden aus dem Lebensbereich (S. 1210) ihrer Mitbürger, zusammen mit der Siedlungspolitik Himmlers, notwendig entfaltete. (S. 1211) (. . .) Die spezifische Form der Politik, d. h. deren Reduzierung auf machtpolitische Mobilisierung und Gewaltanwendung, die faschistische Bewegungen kennzeichnet, ist schwerlich mit dem kommunistischen Politikverständnis, trotz allerlei äußerer Affinitäten, desgleichen der Ähnlichkeit des Stalinkultes mit dem Hitlerkult, über einen Kamm zu scheren. Die innere Grenzenlosigkeit, die insbesondere für den Nationalsozialismus kennzeichnend war und die keinerlei Kompromisse zuließ (und daher notwendig in die Judenvernichtung trieb), ist in dieser Form für kommunistische Herrschaftssysteme, so tyrannisch sie 102
zeitweise entgegentraten, nicht typisch. Dies erklärt auch, warum das Dritte Reich mit innerer Folgerichtigkeit der Selbstzerstörung anheimfiel, während die kommunistischen Regime das Verhältnis zwischen Ressourcen und machtpolitischen Ambitionen in der Regel beachteten. Die Analogie zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus ist vielmehr geeignet, bloß äußerliche Gemeinsamkeiten für die konstitutiven zu halten. Fests streckenweise polemisch geratene Entgegnung erweckt den Eindruck, als ginge es darum, die Verbrechen des Stalinismus zu rechtfertigen, diejenigen des Nationalsozialismus als ewige moralische Menetekel stehen zu lassen. Nun sind erstere nie bestritten worden, es drängt sich allerdings die Frage auf, ob es angemessen ist, den heutigen Kommunismus am moralischen Maßstab der Geschehnisse der 20er und 30er Jahre zu messen und damit pauschal zu verurteilen. Verhängnisvoll aber ist es, diese Überlegung mit der Nolteschen Konstruktion zu verbinden, daß Hitler die Idee des »Holocaust« dem bolschewistischen Schrifttum entlehnt und gleichsam aus einer psychopathologischen Zwangslage heraus gehandelt habe, ohne daß mindestens die Frage aufgeworfen wird, welche sozialpsychologischen, interessenpolitischen und institutionellen Faktoren es erst ermöglicht haben, daß Hitler sich zum Vollstrecker der Ressentiments nicht bloß der »Massen«, sondern nicht zuletzt der herrschenden Eliten machen und diese ihn in dieser Rolle geradezu anbeten konnten. Die FAZ hat sich, indem sie Noltes geplanten Beitrag zu den Römerberggesprächen in polemischer Absicht veröffentlichte, nun freilich selbst zum Werkzeug derjenigen gemacht, die ein Interesse daran haben, diese auf den ersten Blick esotorisch anmutende Ableitung des Holocaust aus der instinktiven Furcht vor den »asiatischen Horden« (dieses in Deutschland noch immer sentimentsbeladene Sydrom ist bekanntlich ein Produkt des völkischen Rassismus) an eine Debatte anzuketten, die durch das Vorprellen Michael Stürmers primär politischen Charakter gewann. Es ist wohl bezeichnend, daß Fest den von letzterem so gern strapazierten Begriff der »conditio humana« anführt, um (ebd.) denjenigen, die aus der nationalsozialistischen Erfahrung die Verpflichtung ziehen, die gesellschaftlichen Grundlagen, die zur Ermöglichung des »Holocaust« beitrugen, zu verändern, als realitätsferne »Optimisten« zu klassifizieren, während realistische Denker sich mit der Einsicht begnügen, »daß der Genozid, den er (Hitler) ins Werk setzte, nicht der erste war und auch nicht der letzte«, als ob nach der Erfahrung des nachgerade unbegreiflichen Grauens zur weltgeschichtlichen Tagesordnung übergegangen werden könne. (S. 1212) (...) 103
Die Emotion überdies findet sich durchaus auf Seiten derjenigen, die Fest davon ausnehmen will. Die Polemik Hildebrands läßt deutlich spüren, daß er die Konsequenzen wenig bedacht hat, die darin lagen, die Konstrukte Noltes zum Werkstück eines neudeutschen Konservativismus zu machen, dem viel daran gelegen ist, die nationalsozialistische Erfahrung zu relativieren und zu einer angeblichen historischen »Normallage« zurückzufinden, die für jeden, der die Epoche des Dritten Reiches in ihren politischen und moralischen Folgen würdigt, nicht ohne Gewaltsamkeit herbeigezwungen werden kann. Der Geist der Intoleranz, der sich breitmacht, spiegelt sich in den Vorwürfen gegen Habermas, er habe, indem er scharf in der Sache argumentierte, persönlich verunglimpft. Jetzt plötzlich ist der Vorwurf des »Revisionismus« beleidigend; als er gegen die strukturalistischen Interpreten des Nationalsozialismus, in bewußt polemischer Absicht und in Analogie zu der Position David Hoggans, gemünzt wurde, gab es solche Empfindlichkeiten bei der FAZ nicht. In der Tat geht es den selbsternannten Ideologen der »Wende« wie Michael Stürmer und Klaus Hildebrand darum, Kontrahenten auszugrenzen, weil sie hinter sich die Mehrheit der zu konservativen Positionen neigenden, im übrigen tagespolitisch indifferenten Fachkollegen wittern, die Auseinandersetzungen dieser Art als störend empfinden. Hinsichtlich der historiographischen Behandlung des Nationalsozialismus spricht Joachim C. Fest nicht grundlos von Ritualen einer »falschen Unterwürfigkeit«. Das Wort von den »volkspädagogisch« unerwünschten Erkenntnissen stammt freilich nicht aus dem Lager derjenigen, die mit Habermas' grundsätzlicher Warnung vor einem zu nationalem Wohlverhalten drängenden historischen Neorevisionismus sympathisieren. (. . .) Zu diesen Ritualen gehört (. . .) auch die weitgehende Verdrängung der fatalen Mitverantwortung der deutschen Gesellschaft dafür, daß es möglich war, den »Holocaust« binnen anderthalb Jahren zur Wirklichkeit werden zu lassen. (S. 1212 f.) Über die historische Dimension des »Holocaust« zu schreiben und den Eindruck entstehen zu lassen, als sei mit Hitlers Bolschewismusbild die Entscheidung darüber gefallen und der Rest terroristisch gehandhabter Zwang, reflektiert eine Konstellation, in der auf die erste, von Hermann Lübbe beschriebene Verdrängung der nationalsozialistischen Erfahrung, die sich des Schlagworts der durch Hitler bedingten Einmaligkeit bediente, eine weitere Verdrängungsperiode folgt, die nach den Ansätzen zur wirklichen Aufarbeitung dieses schwersten Kapitels der deutschen, sicherlich auch der europäischen Geschichte seit den ausgehenden 60er Jahren die Wirklichkeit der Judenverfolgung in 104
universalistischen Betrachtungen über »Totalitarismus, Völkermord und Massenvertreibung als Signatur des 20. Jahrhundets« (Hildebrand) verschwinden läßt und die »Scham« über das Geschehene mit dem Hinweis darauf verdeckt, daß jedes Volk nun einmal seinen Hitler gehabt habe und zur Tagesordnung zurückkehren müsse. Obwohl der Antibolschewismus und der Antisemitismus stets als Dioskuren auftraten, sieht diese Form der »Vergangenheitsbewältigung« ihre Bestätigung darin, in der Sowjetunion die Wurzel allen Übels aufgesucht zu haben. Wenn es eine Lehre aus der nationalsozialistischen Katastrophe gibt, dann ist es diejenige, sich von allen Ansätzen »kollektiver« Feindbilder freizumachen. (S. 1213) Blätter für deutsche und internationale Politik,
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Heft
10/1986 (S.
1200-1213)
Helmut Kohl
Selbstbestimmung - wie jedes Volk der Erde Hillgruber: Vor welchen großen historischen Aufgaben sehen Sie die Bundesrepublik Deutschland in den nächsten zwei Jahrzehnten, also über das Jahr 2000 hinaus ? Kohl: (. . .) Niemand kann davon ausgehen, daß die Amerikaner ihre militärische Präsenz weitere 40 Jahre im heutigen Umfang aufrechterhalten werden. Um unsere Antwort zu ermöglichen, müssen wir den wirtschaftlichen Einigungsprozeß in Europa (. . .) durch die politische Integration ergänzen. Das Kernstück dabei ist die deutschfranzösische Zusammenarbeit und Freundschaft. Die Westbindung der Bundesrepublik ist ein Teil unserer Staatsräson ( . . . ) . Mit anderen Worten umschreibt er [der vorige Satz] die Maxime Adenauers, wonach das Prinzip Freiheit vor dem Prinzip Einheit steht. (...) Das Grundgesetz verpflichtet uns, an der Einheit der Nation festzuhalten. Ich glaube, es gehört, vielleicht kann man schon sagen, es gehörte, zu den großen Torheiten des Zeitgeistes, daß man glaubte, dieses Thema zu den Akten legen zu können. Da für uns Krieg und Gewalt kein Mittel der Politik sind, können wir die Einheit der Nation nur mit friedlichen Mitteln erreichen, nur mit Zustimmung der Nachbarn. 105
Es wäre ziemlich unrealistisch zu sagen, dies könnte heute oder morgen gelingen, aber ich glaube daran, daß die Chance für die Einheit der Deutschen unter einem europäischen Dach besteht. Es geht um die Selbstbestimmung der Deutschen, deshalb sage ich, daß Freiheit wichtiger ist als Grenzen. (...) Hillgruber: Hier sind wir an einem wichtigen Punkt. Sie sprachen vom Selbstbestimmungsrecht. Wenn es einmal gewährt oder errungen wird, taucht die Frage a u f , wo das der Fall sein wird - das ist der Inhalt der deutsch-polnischen Frage. Sicher verlieren die Grenzen an Bedeutung, wenn Freiheit herrscht. Aber die Polen fragen nach den Grenzen. Würde man Schwierigkeiten überwinden, wenn man klar sagen würde, Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen dort, wo sie leben, zwischen Oder-Neiße und Aachen, und Selbstbestimmungsrecht für die Polen, wo sie heute leben, zwischen Bug und Oder-Neiße. ? Kohl: Ich bin da optimistischer. Wenn der Satz Wirklichkeit wird, daß Freiheit wichtiger ist als Grenzen, das heißt, die Polen ebenso in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung leben können wie die Deutschen — und das kann nur unter einem europäischen Dach sein dann werden sich damit auch die Probleme verändern. Wir wissen, daß wir als Folge des von Hitler angezettelten Krieges ein Drittel unseres Reichsgebietes im Osten verloren haben. Uber 12 Millionen Menschen wurden dafür bestraft, daß sie Deutsche waren, obwohl sie am Weltkrieg nicht mehr und nicht weniger Schuld hatten, als die Menschen im Gebiet der heutigen Bundesrepublik. (. . .) (. . .) Hillgruber: In der letzten Zeit wurde das Stichwort »Mitteleuropa« ins Gespräch gebracht. Man versteht darunter die Rekonstruktion der europäischen Mitte, die durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges zerstört worden ist. Betrachten Sie es als eine besondere Aufgabe, dieses Mitteleuropa zu rekonstruieren, oder würden Sie das unter der Leitvorstellung einer gesamteuropäischen Lösung für problematisch ansehen ? Kohl: Ich betrachte die Konstruktion vom Gesamteuropa als unsere Hauptaufgabe. Ich finde es beispielsweise gedankenlos, das Europa der EG mit Europa im eigentlichen Sinne gleichzusetzen. Zu Europa, wie ich es verstehe, gehören die Schweiz und Österreich, gehören Polen, die Tschechoslowakei, gehören Krakau, Weimar und Dresden, um nur einige Länder und Städte zu nennen. Da wir als Deutsche in der Mitte leben, müssen wir schon aus Gründen der Statik darauf achten, daß beispielsweise auch die iberische Halbinsel und die skandinavischen Länder ihr Gewicht in Europa entfalten. Bei dieser Entwicklung Euro106
pas und angesichts unserer Lage in der Mitte des weiten Europa haben die Deutschen eine wichtige Funktion. Wenn Sie in Leningrad durch die Erimitage gehen und die Bilder betrachten, dann sind sie mitten in Europa. Hillgruber: »Mitteleuropa« darf allerdings nicht zu einem Schlagwort oder einer Projektion werden, die in einen Gegensatz zu Westeuropa gerät . . . Kohl: Das ist eine ganz andere Sache. Sie meinen damit diejenigen, die jetzt geographische Begriffe dieser Art einführen, in Wirklichkeit aber nicht an Geographie, sondern an Äquidistanz - an gleichen Abstand von Ost und West denken. Das ist ein politischer Roßtäuschertrick, mit dem sich manche Leute entweder aus der westlichen Gemeinschaft herausschleichen oder aus Feigheit vor den Unbillen der Geschichte in eine vermeintliche »Nische der Geschichte« retten wollen. Aber für Europa gibt es keine Neutralität. Das ist eine absurde Idee, wenn Sie die Geopolitik betrachten. Hillgruber: Bei ihrem Besuch in Israel sprachen Sie von der »Gnade der späten Geburt«. Sie haben das auf sich bezogen. Das Wort wurde da und dort so gedeutet, als wollten Sie sich per Generation, rein durch Lebensalter von der Vergangenheit distanzieren. (...) Kohl: Das ändert überhaupt nichts an meinem Bekenntnis, daß wir als Deutsche aller Generationen zu allen Kapiteln der Geschichte zu stehen haben. Gnade der späten Geburt bedeutet kein Aussteigen aus Verantwortung für unsere Geschichte. Was gehört zur deutschen Geschichte? Für mich gehören dazu auch Auschwitz und Bergen-Belsen, das Entsetzliche, das dort geschehen ist. Die Rache, die im deutschen Namen in Polen und anderswo geübt wurde, die Rache, die Deutsche dann durch Polen erfahren haben. Zur Geschichte gehören für mich auch die Weiße Rose, die Geschwister Scholl und die Männer und Frauen des 20. Juli 1944. DIE WELT, 1. 10. 1986
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Martin Broszat
Wo sich die Geister scheiden Die Beschwörung der Geschichte taugt nicht als nationaler Religionsersatz
(. . .) Bestand eine der schwächsten Stellen der Attacke des Frankfurter Philosophen darin, daß er politisch so agile Hochschullehrer wie Michael Stürmer und Klaus Hildebrand mit dem behäbigen Andreas Hillgruber und dem großen Eigenbrötler der Zeitgeschichte, Ernst Nolte, in einen Topf warf, so scheint sich diese, laut Joachim Fest, »platteste Verschwörungstheorie« inzwischen partiell zu bestätigen. (. . .) Zum jüngsten Streit: Hypersensibilität hat Habermas in einem Fall zur Uberreaktion getrieben. Der Kölner Historiker Andreas Hillgruber verdient den Vorwurf der Verharmlosung des Nationalsozialismus gewiß nicht. Dies muß gesagt werden, auch wenn die von dem Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler für ein neues Bändchen der Corso-Reihe schnell zusammengeleimten Hillgruber-Vorträge über zwei ganz heterogene Themen (den Zusammenbruch der deutschen Ostfront und den nationalsozialistischen Judenmord) in dieser Verbindung, die Habermas zur Zielscheibe diente, kein Meisterwerk darstellen. Die im Titel (»Zweierlei Untergang«) angekündigte Erklärung der Interdependenz beider Vorgänge blieb aus. Durch diese irreführende Verknüpfung zu einem großen Thema geriet der ursprüngliche Ansatz Hillgrubers, sein Verständnis auch für die »Verantwortungsethik« der deutschen Soldaten, Zivilisten und Parteifunktionäre, die gegen Ende des Krieges im Osten die Überflutung durch die Rote Armee zum Schutze der deutschen Bevölkerung wenigstens verzögern wollten, ins Abseits einer zumindest verquer, wenn nicht apologetisch wirkenden Perspektive. Für das Skandalon, das Habermas daraus gemacht hat, reicht der Stoff aber nicht aus. Spitzfindige Apologetik Um so fassungsloser macht, was Ernst Nolte, nicht zum ersten Mal, in jüngster Zeit zur historischen Einordnung und Relativierung des nationalsozialistischen Genozids formuliert hat. Auch wenn man weitherzig konzediert, daß dem Wissenschaftler eine nicht durch Empfind108
lichkeiten beengte Freiheit experimentellen Fragens selbst auf diesem Themengebiet einzuräumen ist, bleibt doch das Kriterium gewissenhafter Argumentation als A und O der Beurteilung ihrer Wissenschaftlichkeit. Daß Ernst Nolte solche Grenzen in hochmütiger Verachtung empirisch-historischer Vorgehensweisen immer wieder überschreitet, bringt manche Argumentation des renommierten Gelehrten in die fatale Nähe querulatorischer Spitzfindigkeit. Sie mag alle diejenigen, mich eingeschlossen, besonders erschrecken, die Ernst Noltes Denken vielerlei Anregung verdanken. Das vielleicht Anstößigste hat Nolte bisher nur in einem 1985 in London erschienenen Sammelband (W. Koch, Aspects of the Third Reich) veröffentlicht. Hitler, so schreibt er hier, hatte schon lange bevor eine Nachricht über Auschwitz zur Kenntnis der Welt gelangte, gute Gründe, davon überzeugt zu sein, daß seine Gegner ihn vernichten wollten. In diesem Zusammenhang stellt Nolte die Anfang September 1939 abgegebene Erklärung des damaligen Leiters der Jewish Agency, Chaim Weizmann, die Juden auf der ganzen Welt würden auf der Seite Englands gegen Hitler kämpfen; er folgert daraus, dies könnte die These rechtfertigen, Hitler sei berechtigt gewesen, die Juden als Kriegsgefangene zu behandeln und zu internieren. Ernst Nolte macht sich damit die These von der »Kriegserklärung der Judenheit an Deutschland« zu eigen, die seit Jahren stereotypes Propagandagut rechtsradikaler Broschürenliteratur in der Bundesrepublik ist. Daß der Weltkongreß der Zionisten, in dessen Namen und Auftrag Weizmann im September 1939 nur sprechen konnte, kein Völkerrechtssubjekt war und deshalb die von Weizmann übermittelte Botschaft des Kongresses niemals die völkerrechtliche Bedeutung und Qualität einer »Kriegserklärung« haben konnte, mag ein rechtsradikaler Publizist mit mangelnder Schulbildung übersehen, der Universitätsprofessor Ernst Nolte darf es nicht. Hier ist ein Punkt objektiver Apologie erreicht, der unabhängig von der Motivation des Verfassers und auch unabhängig davon, daß jedermann weiß, daß er kein vorsätzlicher Apologet ist, eine Bagatellisierung nicht mehr erlaubt, erst recht nicht eine Hinaufstilisierung, wie sie Joachim Fest unter wohlweislicher Verschweigung solcher Fehlleistungen seines Autors versucht. Solche Argumente dürfen nicht hingenommen, gar salonfähig gemacht werden - gerade, weil sie von einem so angesehenen Gelehrten stammen. (...)
Wenn nicht neokonservative »Ideologieplanung«, wie Habermas interpretiert, so spricht aus (. . .) kulturpessimistischer Kassandrarheto109
rik doch zumindest ein gravierender Mangel an gedanklicher Nüchternheit und Präzision, verbrämt oder begründet in einer prätentiösen Sprache, die Tiefsinn und Bedeutung mehr suggeriert als enthält. Der Leser vor allem der jüngsten Artikel Stürmers steht vor einem Denken und Reden, das zwischen rationaler Bejahung des demokratischen Pluralismus und der universalistischen Prinzipien des westlichen Verfassungs- und Rechtsstaates einerseits und der Beschwörung vormoderner gemeinschaftsstiftender Eliten, Konventionen, Kulturen und Geschichtsüberlieferungen andererseits mit priesterlicher Gebärde, aber vergeblich, zu vermitteln sucht. Geschichte ist in diesem Dunstkreis weit mehr als die schlichte Erlebnis- und Leidensgeschichte des Menschen; sie hat zugleich die Funktion eines Religionsersatzes und muß von Staats wegen um des demokratischen Konsenses willen forciert werden, zumal wenn die Auseinandersetzungen mit den tyrannischen Systemen des Totalitarismus und ihren Geschichtsmythen erfolgreich bestanden werden sollen. Überforderte Historie Unbestreitbar wird bei Stürmer der Historie eine Leitfunktion gesellschaftlicher und staatlicher Integration zugemutet, die sie weit überfordert. (. . .) Wenn Stürmer von dem »aufrechten Gang« redet, der den Deutschen wieder ermöglicht werden solle, meint er im Grunde ( . . . ) Habermas hat es treffend formuliert: Den Deutschen soll die Schamröte ausgetrieben werden. Hier scheiden sich die Geister. Wer den Bürgern der Bundesrepublik den selbstkritischen Umgang mit ihrer älteren und jüngeren Geschichte wegschwatzen will, raubt ihnen eines der besten Elemente politischer Gesittung, das seit den späten fünfziger Jahren allmählich in diesem Staatswesen entwickelt worden ist. Am verräterischsten ist dabei die fundamentale Verkennung, als sei die durch die Not erworbene moralische Sensibilität gegenüber der eigenen Geschichte ein kultureller und politischer Nachteil verglichen mit anderen Nationen, und als gelte es, deren aus historischen Gründen oft robusteres oder naiveres und politisch meist schädliches historisches Selbstbewußtsein zu kopieren. In solchen Perversionen patriotischen Geschichtsverlangens droht der einzige Gewinn verspielt zu werden, der der Erfahrung der Hitlerzeit zu danken ist. (. . .) Zum erstenmal in der deutschen Geschichte 110
haben sie [die Westdeutschen; d. Hrsg.] die politische Realität bejaht nicht in einem großartigen nationalen Sonderbewußtsein, sondern in schlichtem zivilisatorischem Wohlgefühl. Die Klage darüber, daß dies nicht genügend tragfähig sei und durch nationale Geschichte kompensiert werden müsse, hat, so scheint mir, mit der Realität des Empfindens der jüngeren Generation in der Bundesrepublik wenig zu tun, es reflektiert weit mehr den KulturträgerEhrgeiz politisch ambitionierter Eliten in unserem Land, die bei ihrer angemaßten ordnungspolitischen Führungsrolle glauben, ohne nationalpädagogisches Wächteramt nicht auskommen zu können. DIE ZEIT, 3. 10. 1986
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Christian Meier
Gesucht: Ein modus vivendi mit uns selbst Zum Thema »Raum« gehört auch ein durch jüngere Publikationen aktuell gewordenes Problem, das der Mittellage Deutschlands zwischen den europäischen Großmächten im Kaiserreich und an der Nahtstelle zwischen Ost und West heute. Im Bismarckreich sind so viele Weichen gestellt worden, daß seine Deutung für das Verständnis unserer Geschichte zentral ist und vermutlich im engen Zusammenhang mit gegenwärtigen Parteinahmen steht. Denn es ist damit auch das Problem der Verantwortung für die weitere Entwicklung aufgeworfen: Wurde Bismarcks Innenpolitik mit ihrer Beschränkung der politischen Verantwortung und des Einflusses für Bürgertum und Proletariat bedingt durch die richtige Erkenntnis der räumlichen Situation des Reiches? Indem man befürchten mußte, daß zumal vom Bürgertum eine Dynamik nach außen ausginge, die Deutschland sich nicht leisten konnte? Oder ließ die räumliche Situation doch wesentlich mehr Freiheit? Und vor allem: Hätte man nicht die Dynamik des Bürgertums einfangen können, indem man es stärker in die parlamentarische Verantwortung hineingenommen hätte? So daß die verhängnisvolle Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert so nicht stattgefunden hätte? Daß etwa wären die Ausgangsfragen. Es stellen sich damit die Pro111
bleme unserer nationalen Identität und zugleich all jene, die im Moment die bundesrepublikanische Öffentlichkeit beschäftigen und die Historiker in die Gazetten bringen. Es ist noch nicht abzusehen, was der Streit um unser Verhältnis zur Vergangenheit, speziell zu den Jahren zwischen 1933 und 1945 bedeutet. Ist er nur eine Auseinandersetzung zwischen Philosophen, Publizisten und Historikern anläßlich verschiedener Publikationen, insbesondere des Aufsatzes von Jürgen Habermas in der ZEIT vom 11. Juli? (Vgl. den Leitartikel im »Rheinischen Merkur/Christ und Welt« Nr. 39/1986. Anm. d. Red.) Eine Auseinandersetzung vielleicht, die unter uns Historikern irgendwann einmal fällig gewesen wäre? Ein Streit zwischen Rechten und Linken in einer Situation, da sich in der Bundesrepublik wieder ein Geschichtsbewußtsein regen zu wollen scheint? Denn das hätte alle mal politische Konsequenzen; schließlich wird heute auch Geschichtspolitik getrieben. Oder vollzieht sich in diesem Streit ein viel tieferer elementarerer Vorgang, das Ende der Nachkriegszeit etwa, die Lösung eines Banns, unter dem wir in den letzten Jahrzehnten gestanden, das explosive Aufbrechen einer Eisdecke, auf der wir gelebt haben? Im letzten Jahr, als es darum ging, ob und wie man des 8. Mai gedenken sollte, waren die 40 Jahre seit 1945 manch einem nicht rund genug dazu. Vielleicht aber stellen sie doch die Frist dar, nach der eine nachhaltige Veränderung in der Geschichtserinnerung sich aufdrängen mußte. Möglicherweise steht die neue Zuwendung zur Geschichte auch in einem weiteren Zusammenhang, denn eine solche Zuwendung findet zugleich in der DDR statt, übrigens auch in der Türkei. (. . .) Ich wüßte kein Beispiel aus der Geschichte dafür, daß ein Volk die Erinnerung an seine Geschichte derart schmerzlich erfahren hätte wie wir in den letzten Jahrzehnten; es sei denn, daß es sie als göttliche Strafe nahm: Aber dann mußte es auch eine fühlbare Strafe sein; uns aber geht es trotz des im Krieg Verlorenen sehr gut. Die deutschen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 waren, meine ich, in dem Sinne singulär, daß sie qualitativ deutlich über die vergleichbaren anderer Völker (etwa der stalinistischen Sowjetunion) hinausgingen. Aber selbst wenn sie es nicht gewesen wären, so war und ist doch singulär die Weise, in der das hierzulande und außerhalb bewußt war und ist. (. . .) Und je weiter wir uns von dem Geschehen entfernen, um so mehr tut sich eine Schere auf: Mit jedem Tag wächst die Zahl derer, die mit den Untaten jener Zeit nichts mehr zu tun haben - und nicht einsehen, warum sie einem gezeichneten Volk angehören sollen. Und es wächst zugleich auch das Erschreckende, Grauenerregende der Verbre112
chen selbst, je mehr diese unter dem Möglichkeitsaspekt - statt unter dem der miterfahrenen Wirklichkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheinen müssen. (. . .) (. . .) (Hier) bleibt, meine ich, ein Punkt großer Verletzlichkeit und eine Wunde die schwärt, die stört, die uns in Anspruch nimmt und manches von uns absorbiert, obwohl sie uns am »aufrechten Gang« nicht hindert. Insofern ist es kein Wunder, wenn viele die Untaten jener Zeit endlich auf sich beruhen lassen, mindestens relativieren wollen. Und es kann ebensowenig erstaunen, daß das so leichthin nicht abgeht. Wenn derart etwas, was getragen hat, aufgewühlt wird, muß sich einiges regen. (. . .) Doch sei es um die Deutung der heutigen Situation und ihrer tieferen Hintergründe bestellt, wie ihm wolle, der Streit, in den wir jetzt öffentlich geraten, ist nicht mehr zu stoppen. Wir müssen uns ihm stellen. (. . .) Doch kann ein solcher Streit nicht nur wissenschaftlich, sondern er muß zugleich politisch sein. Das ergibt sich unvermeidlich sowohl aus seinem Gegenstand wie aus seiner Bedeutung für die politische Situation des Landes wie schließlich aus der Weise, wie etwa die Medien uns in Anspruch nehmen und naturgemäß gegeneinander vergröbern, anspitzen, anstacheln werden. Diesen in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Streit müssen wir bestehen. (. . .) (. . .) Bei allem Respekt, den wir uns schulden: Nicht jedes harte Wort, nicht jedes Mißverständnis kann schon beleidigend sein. Andererseits: Wenn der eine dem anderen Sinnstiftung durch Wissenschaft vorwirft und der andere den einen als Groß-Richter und Groß-Propheten tituliert, geben sie einander wohl nicht viel nach. Soweit historische Arbeiten in die Kritik miteinbezogen werden, ist festzustellen, daß der Historiker nicht einfach dem Wunschdenken folgt. Es kann zwar vorkommen, ist aber doch in der Regel nicht so, daß beliebige Ziele je nach erkenntnisleitenden Interessen gewählt werden. Es sollte vielmehr zum Alltag des Historikers gehören, daß er auch seine Fragen in Frage stellt. Oft geht es gerade darum, Unbequemes anzuerkennen und zu verstehen. ( . . . ) Eine solche Herausforderung stellen auch weite Teile der deutschen Geschichte dar. Entsprechend folgt keineswegs jede Feststellung, nicht jeder Versuch zu verstehen, einer politischen Absicht. Man kann Historiker nicht politisch danach sortieren, ob sie meinen, daß Hitler den Befehl zur 113
Judenvernichtung gegeben hat. Es ist nicht einzusehen, warum diejenigen, die es meinen, dies aus konservativer Gesinnung tun sollen. Wieso werden denn die »Machteliten« des Dritten Reiches, die einen solchen in höchstem Maße verbrecherischen Befehl angenommen und ausgeführt hätten, durch dessen Existenz schon exkulpiert? (. . .) Andererseits gibt es natürlich bestimmte politische Erkenntnisinteressen und Absichten, bei allem Bemühen um Objektivität. Historiker schreiben nicht sine ira et studio. Ihre Fragen und Ansätze sind oft auch von gegenwärtigen Tendenzen mitbestimmt und keineswegs immer bewußt. Sie nehmen teil an den Worten und Vorstellungen ihrer Zeit, bewußt und unbewußt - um es zu wiederholen -; ihre Fragen werden von ihrer Lebenswelt sowohl freigesetzt, vielleicht gar befördert, wie auch gelähmt oder erstickt. (. . .) So mag es sein Recht haben, politische Tendenzen in historischer Arbeit wahrzunehmen, aber es kann ebenso sehr in die Irre gehen. Man muß daher in diesem Punkt äußerste Vorsicht walten lassen. Wie schnell sonst unerträgliche Anschuldigungen entstehen, hat unser Kollege Andreas Hillgruber erfahren. Im »Vorwärts«, im »Spiegel« und in der »Tageszeitung«. Und Jürgen Habermas hat dem leider Vorschub geleistet. Es ist wirklich widersinnig, Andreas Hillgruber die Absicht zu unterstellen, er wolle den Nationalsozialismus verharmlosen. Trotz aller methodischen Fragwürdigkeiten, von denen er - oder sein Verleger - seine Darstellung besser freigehalten hätte. (. . .) Es geht aber auch nicht an, die Sorgen, die sich Habermas angesichts verschiedener Tendenzen auch in der neueren Historiographie macht, einfach unter Hinweis auf zu kurze Zitate oder eine falsche Verteilung zwischen Zitat und Referat vom Tisch zu wischen. Mir scheint es sich da, soweit Fehler in der Wiedergabe von Meinungen vorliegen, eher um Mißverständnisse zu handeln, die zum Teil aus verdachtsbestimmtem Lesen resultieren, zum Teil übrigens auch nahegelegt werden. (. . .) Es ist festzuhalten, daß es bei uns keine Frageverbote geben darf und gibt. Der Vergleich zwischen den Untaten Deutschlands unter Hitler und denen der Sowjetunion unter Stalin ist keineswegs illegitim, im Gegenteil, er ist erhellend und nützlich. Es besteht durchaus Anlaß, der totalitären Züge beider Regime, gerade auch in Voraussetzungen und Ausführung ihrer Verbrechen zu gedenken - und auch andere Massenmorde in die Betrachtung einzubeziehen. Wer es anderen ankreidet, (. . .) daß sie die harmlose Formulierung vom »Ende des Judentums« gebrauchen, sollte seinerseits nicht nur von der »Vertreibung der Kulaken durch Stalin« sprechen! Allein, wir sollten uns davor hüten, die Frage nach der Singularität 114
der deutschen Verbrechen in einer Weise zu stellen, daß damit offenkundig neuen Relativierungs- und Ablenkungsversuchen Vorschub geleistet wird. Um es genau zu sagen: es wird gegen Ernst Nolte kein Frageverbot verhängt, kein Tabu errichtet, sondern seine Weise, diese Fragen aufzuwerfen, zurückgewiesen. Weil man einer so elementaren Wahrheit nichts abdingen soll, weil die deutsche Geschichtswissenschaft nicht wieder in simple nationale Apologetik verfallen soll und weil es wichtig für ein Land ist, daß in den empfindlichsten, auch ethisch empfindlichsten, Zonen seiner Geschichte nicht geschummelt wird, sondern die Wahrheit, so bitter sie ist, gilt. Wenn Mommsens Formel von der »Pflicht politischer Pädagogik« einen Sinn hat, so hat sie ihn selten so wie hier. (. . .) Es ist früher verschiedentlich darüber gestritten worden, ob es nicht vielleicht nur ein, zwei oder drei Millionen Juden waren, die wir umgebracht haben. In solch unseliges Fahrwasser darf unser Streit nicht geraten. (. . .) Wir sollten auch nicht meinen, es mache keinen Unterschied, ob wir es waren, die millionenfachen Mord begingen, oder etwa die Türken oder die Sowjetrussen. Ist man denn, wenn man behauptet, daß in Deutschland andere zivilisatorische und ethische Voraussetzungen in einer langen Geschichte erwachsen sind, als etwa in Rußland, der Türkei und Indochina schon ein Verfechter der Ideologie vom Herrenvolk? Daraus erwachsen doch noch lange keine Vorrechte ( außer in gewissen Fortschrittsideologien des vorigen Jahrhunderts), wohl aber Pflichten. Wenn millionenfacher Mord zweifellos zur Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts gehört, so gehört dazu doch auch, daß er etwa in West-, Nord- und Südeuropa und in Amerika nicht geschehen ist. Sollten wir uns nicht eher an deren Maßstäben messen? (...) Gleichgültig, wie man die gegenwärtige Situation, wie man Ort und Bedeutung unseres Streits auffaßt, sein eigentliches Thema ist die Frage, welche Konsequenz wir aus dieser Geschichte zu ziehen und wie wir mit ihr umzugehen haben. Dafür sind nicht nur, aber im wesentlichen Sinne auch wir Historiker zuständig. Da geht es einerseits darum, ob gewisse Symptome einer neuen Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Nationalsozialismus, die man vielerorts beobachten kann, sich auch in Sprache, Methode, Identifikationen und Argumentationen von Historikern finden lassen. Andererseits und vor allem ist da aber die Frage, ob der Verfassungspatriotismus die einzige Form nationaler Identität sein kann, die uns bleibt. Michael Stürmer meint es anders, und es ließen sich durchaus 115
Gründe dafür vorbringen. Dann bliebe die nächste Frage zu stellen, ob eine an die ganze deutsche Geschichte anknüpfende nationale Identität, wie Habermas meint, nur die konventionelle - oder ob sie nicht vielmehr eine neue sein kann und muß. Sie mag dann an das Alte anknüpfen, vielleicht in manchem so, wie auch andere Völker es an ihre vordemokratische Vergangenheit tun; in durchaus demokratischer, also zu kritischer Verarbeitung vieler Spannungen befähigter, Identität. Denn die deutsche Geschichte kann ja nicht insgesamt sub specie des Nationalsozialismus betrachtet werden. Vielleicht ist nationale Identität geradezu erforderlich, wenn wir uns unserer Geschichte als der eigenen voll aussetzen wollen. Vielleicht können wir nur auf diesem Weg mit ihr leben und trotzdem ein historisches Bewußtsein zu haben lernen. (...) Es scheint mir nur wichtig, daß die Fragen, die der Streit dieses Sommers aufgeworfen hat, in der Hauptsache diskutiert werden. Nur dann wird die Debatte den Nutzen haben, den sie haben kann. Ich weiß nicht, was für einen Sinn es hat, polemisch von versuchter »Entsorgung der Vergangenheit« zu sprechen. Ich fühle mich da an die Redensart erinnert, die so gern den Totengräber mit dem Mörder verwechselt. Ich finde Totengräber und Entsorgung nützlich, wenn das Schlimme, das Gefährliche einmal geschehen ist. Aber es gibt daneben den ungeduldigen Versuch der Normalisierung unseres geschichtlichen Bewußtseins. Diese eben ist es, die so schnell nicht eintreten wird. Rheinischer Merkur/Christ und Welt,
24.
Joachim
10.
10.
1986
Hoffmann
Stalin wollte den Krieg Der Aufsatz von Günther Gillessen über die in »RUSI« (Journal of the Royal United Services Institute for Defence Studies, London) geführte Kontroverse um die Absichten Stalins zur Zeit der Vorbereitung des Unternehmens »Barbarossa« (F.A.Z. Nr. 191), hat Dr. Leonid Luks und Dr. Bianka Pietrow zu Entgegnungen veranlaßt (F.A.Z. Nr. 203), die eine Replik unumgänglich machen. Dr. Pietrow führt sogar meinen 116
Beitrag in dem vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Sammelband »Der Angriff auf die Sowjetunion« an, den sie offenbar aber nicht gelesen hat. So möchte ich bemerken, daß ich Viktor Suvorov in »RUSI«, Heft Juni 1986, voll zugestimmt und nur vorgeschlagen habe, von 1942 anstatt von 1941 als möglichem Angriffstermin Stalins zu sprechen. Bei einer Auseinandersetzung um die Intentionen Stalins sind notwendigerweise folgende Tatsachen zu berücksichtigen: 1. Stalin wünschte 1939 das Entstehen eines Krieges unter den »kapitalistischen« Mächten in Europa, zu denen er bekanntlich auch Deutschland rechnete. Diesem Ziel diente der Abschluß des sogenannten »Hitler-Stalin-Paktes«, der sich zusammensetzte aus dem Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 mit dem Geheimen Zusatzprotokoll, das die Aufteilung Europas stipulierte, aus dem Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 mit weiteren inhaltsschweren Geheimen Zusatzprotokollen, aus der Abmachung zwischen Wehrmacht und Roter Armee vom 20. September 1939, in der die Rote Armee sich unter anderem verpflichtete, die »nötigen Kräfte zur Vernichtung polnischer Truppenteile und Banden« auf dem Rückzugsweg der deutschen Truppen zur Verfügung zu stellen, aus den beiden großen Wirtschaftsabkommen vom 11. Februar 1940 und 10. Januar 1941, die das Reich instand setzen sollten, den Krieg gegen die Westmächte fortzuführen, sowie aus weiteren wichtigen Abkommen. Stalin war sich vollauf darüber im klaren, daß der Abschluß des Paktes vom 23. August 1939 einen europäischen Krieg zur Folge haben würde, »weil Hitler sich dann im Osten sicher fühlt«. »Der Abschluß unserer Vereinbarung mit Deutschland war diktiert von der Notwendigkeit eines Krieges in Europa«, kabelte das Volkskommissariat des Auswärtigen dem Sowjetbotschafter in Japan am 12. Juli 1940. Stalin hat sich an der Aggression gegen Polen im übrigen aktiv beteiligt. »Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939«, so urteilte schon der italienische Historiker und Sozialist André Rossi, »war ein Angriffspakt gegen Polen . . . Das Geheimabkommen bewies . . . auf juristischer Ebene, daß dieses Verbrechen zu zweit begangen wurde, nämlich von Deutschland und Rußland.« 2. Stalin wünschte 1941 das Entstehen eines Krieges in Ostasien zwischen Japan und den Vereinigten Staaten sowie Großbritannien. Diesem Ziel diente der Abschluß des japanisch-sowjetischen Neutralitätspaktes vom April 1941, der die Ambitionen Japans nach Süden ablenkte und Japan unfehlbar in einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten bringen mußte. »Wir stimmen allen Verträgen zu, die einen Zusammenprall Japans mit den Vereinigten Staaten hervorrufen«, kabelte das 117
Volkskommissariat des Auswärtigen den Sowjetbotschaftern in Japan und China am 14. Juni und ähnlich am 12. Juli 1940 über einen »japanisch-amerikanischen Krieg, den wir entstehen zu sehen wünschen«. 3. Stalin hat 1939 unprovozierte Angriffskriege gegen Polen und Finnland geführt, im Jahre 1940 unter dem Einsatz militärischer Machtmittel die unabhängigen Republiken Estland, Lettland und Litauen ausgelöscht und Rumänien unter Kriegsandrohung zur Abtretung von Bessarabien, der Nordbukowina und eines Teiles der Moldau gezwungen. Die Sowjetunion vermochte auf diesem Wege ein Territorium in der Ausdehnung des Deutschen Reiches nach dem Stande von 1919 gewaltsam an sich zu bringen und ihre strategische Ausgangsbasis für Aktionen nach Westen bedeutend zu verbessern. 4. Obwohl Stalin infolge des unerwarteten deutschen Sieges in Frankreich 1940 der »damals stärksten Militärmacht des Kontinents« nunmehr allein gegenüberstand, er angeblich auch »in Panik« geriet und »versuchte, Hitler so wenig wie möglich zu provozieren«, entsandte er doch im November 1940 den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare mit geradezu exorbitanten Forderungen nach Berlin. Molotow verlangte nichts Geringeres als die Anerkennung des »sowjetischen Interesses« an Finnland, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und Griechenland, also ganz Osteuropas, und beanspruchte für die Sowjetunion überdies beherrschende Positionen an den Meerengen des Schwarzen Meeres und der Ostsee (Ernst Topitsch, Stalins Krieg. Die sowjetische Langzeitstrategie gegen den Westen als rationale Machtpolitik). Eines weiteren Beweises für die Absichten der sowjetischen Politik bedarf es nach dem Molotow-Besuch wohl nicht mehr. 5. Die Truppen der Roten Armee haben in den sowjetischen Annexionsgebieten umgehend mit einem Offensivaufmarsch begonnen, und dies zu einer Zeit, da die deutsche Ostgrenze noch so gut wie ungedeckt war. Nicht nur die Massierung starker mechanisierter und gepanzerter Verbände in den exponierten Grenzvorsprüngen um Bialystok und Lemberg verrieten offensive Absichten. In diesem Bild fügen sich auch alle anderen Maßnahmen ein, das Vorschieben der Armeen und Korps der 1. Strategischen Staffel der Landtruppen und der Verbände der Luftstreitkräfte unmittelbar an die westliche Staatsgrenze und das Aufschließen der Großverbände der 2. Strategischen Staffel nach Westen, das Vorschieben der Versorgungsdepots, Betriebsstofflager und Mobilmachungsvorräte an die neue Staatsgrenze, der Ausbau von Straßen, Brücken und Truppenunterkünften in dieser Region, zugleich der Verzicht auf den Ausbau rückwärtiger Kommandozentralen, die Desarmierung der Befestigungen an der alten Staatsgrenze und dergleichen 118
mehr. Alle diese Maßnahmen lassen zweifelsfrei erkennen, daß es Stalin eben gerade nicht um die Vorbereitung zu einem Verteidigungskrieg zu tun war. 6. Zugleich hatte er eine »geradezu unvorstellbare Rüstung« geschaffen und mit 24.000 Panzern, über 23.000 Frontflugzeugen, 148.000 Geschützen und Granatwerfern schon 1941 die absolute, eine mehrfache Überlegenheit an Waffen über die Wehrmacht gewonnen. Der Ausstoß moderner Waffen steigerte sich in immer schnellerem Tempo. Zwar war die Phase der Reorganisation und der Einschulung des Personals auf die neue Kriegstechnik 1941 nicht abgeschlossen, aber unter dem Volkskommissar für Verteidigung, Marschall Timoschenko, wurden fieberhafte Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Der hier genannten historischen Tatsachen sind unbestreitbar und lassen eine beliebige Ausdeutung der Absichten Stalins nicht mehr zu. Dies ist der allgemeine und historische Hintergrund, vor dem die Rede Stalins zu den Absolventen der sowjetischen Militärakademien am 5. Mai 1941 beurteilt werden muß, deren Inhalt eindeutig verifiziert ist. Sowohl der britische Korrespondent in Moskau, Alexander Werth (»Russia at War«), als auch der deutsche Botschaftsrat Gustav Hilger (»Wir und der Kreml«) geben den Sinn der Rede übereinstimmend wieder. Die Deutschen waren von der programmatischen Rede Stalins indessen schon im Kriege durch die Aussagen kriegsgefangener sowjetischer Generale und Stabsoffiziere, die an der Veranstaltung im Kreml teilgenommen hatten, genau unterrichtet (vgl. mein Buch »Die Geschichte der Wlassow-Armee«), Stalin hatte demnach auf einen Toast des Chefs der Militärakademie »Frunse«, Generalleutnant Chosin, auf die Friedenspolitik der Sowjetunion scharf ablehnend reagiert. Sie sei überholt, und man werde mit ihr keinen Fußbreit Boden mehr gewinnen. Mit den Defensivlosungen müsse jetzt Schluß gemacht werden. Ein Krieg mit Deutschland sei 1942 fast unvermeidlich. Je nach der internationalen Situation müsse die Sowjetunion einen deutschen Angriff abwarten oder selber zum Angriff übergehen. Die Ära der Friedenspolitik der Sowjetunion sei jedenfalls beendet, und eine Ausdehnung mit Waffengewalt nach Westen sei nunmehr notwendig. Die Sowjetunion werde 1942 gerüstet sein, und sie habe alle Siegesaussichten. Wenn, wie auch hieraus hervorgeht, die Kriegsvorbereitungen 1941 noch nicht abgeschlossen waren, so stellt sich die Frage, ob 1942 der Zeitpunkt für die Sowjetunion gekommen wäre. Vieles spricht dafür und nicht zuletzt die Selbstüberhebung der Roten Armee, die sich als »die offensivste aller Armeen« bezeichnete und nur eine Doktrin 119
kannte: einen jeden Gegner »auf seinem eigenen Territorium zu zerschmettern«. Diese Einschätzung hatte in der Zeit des Personenkultes um Stalin die Bedeutung eines Gesetzes und unterlag keiner theoretischen Erörterung. Somit ist der Gedanke naheliegend, daß Deutschland, sobald es nur in die unausweichlichen Schwierigkeiten geriete, von Stalin ebenso angegriffen worden wäre wie 1945 Japan ungeachtet des Neutralitätspaktes. Von der Offensivaufstellung der Roten Armee und den militärischen Maßnahmen auf sowjetischer Seite ging jedenfalls schon 1941 eine ernste strategische Bedrohung aus. Die sowjetische Politik und die ihr zugrunde liegenden Motive lassen eine unveränderte Aggressivität erkennen, auch wenn Stalin seit dem 6. Mai 1941 aus taktischen Gründen zu bremsen suchte, um Zeit für die Herstellung der Kriegsbereitschaft zu gewinnen. In dienstlichem Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes habe ich die sowjetischen Veröffentlichungen zu dem Thema und ungezählte erbeutete sowjetische Akten jahrelang eingehend studiert. Zieht man die Verhältnisse auf sowjetischer Seite in Betracht, so drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß im Sommer 1941 der eine Aggressor, Hitler, die letzte Gelegenheit hatte, dem anderen Aggressor zuvorzukommen. [Leserbrief] FAZ, 16. 10. 1986
25.
Thomas Nipperdey
Unter der Herrschaft des Verdachts Wissenschaftliche Aussagen dürfen nicht an ihrer politischen Funktion gemessen werden
Jürgen Habermas bildet aus recht unterschiedlichen Historikern eine Gruppe der »Revisionisten«, rechnet sie ohne Umschweife einem ideologiepolitischen Programm zu, das Michael Stürmer formuliert haben soll. Habermas fragt nach Motiven, sozialmoralischen Folgen, politischen Funktionen der historischen Aussagen. Und weil er natürlich 120
kein bloßer Politikbeobachter sein will, werden diese Aussagen moralisch gewertet. Moralisch integre Kollegen werden in die allerdings fatale Nachbarschaft von NS-Apologeten gerückt. Nicht Vergleich und Differenzierung seien das Ziel, sondern Entlastung von der Vergangenheit, ja Nato- und Wendehistorie. Die eigene politische Tendenz wird mit der Wahrheit gleichgesetzt, und nebenbei wird dann aus der »Vernichtung« der Kulaken ihre »Vertreibung«. Das ist das alte Lied, die Interpretation des Nationalsozialismus wird als Waffe im politischen Kampf benutzt. Aber das ist mehr: Es ist die Herrschaft des »Verdachtes« (Hegel), der selbstgewissen Tugend und eines Wahrheitsmonopols, die Unterscheidung der Guten von den Bösen. Darum darf man schon von Unterstellung, Frageverboten sprechen (. . .). Die Moral der Wissenschaft fordert, die Argumente der Gesprächsteilnehmer unabhängig von Herkunft, Motiven, Folgen zu prüfen. Man muß die Ebene der Argumente von der des Kontextes trennen (. . .). Ich wende mich also dagegen, wissenschaftliche Aussagen und ihre Erkenntnisleistung an ihrer behaupteten politischen »Funktion« zu messen. (. . .) Es geht (. . .) beispielsweise um den Gegensatz »apologetischer« und »kritischer« Geschichtswissenschaft. Daß es apologetische Geschichtsdarstellung gibt, ist trivial; in Frage steht die Wissenschaft. Die sogenannten »Historisten«, die die Vergangenheit verstehen wollen und an deren eigenen Maßstäben messen, gelten ihren Gegnern als apologetisch oder affirmativ - auch Habermas verweist auf solche Traditionen (. . .). Dagegen steht eine Wissenschaftsrichtung, die sich kritisch nennt, nicht, weil sie wie jede Wissenschaft der kritischen Methode anhinge, sondern weil sie die Vergangenheit ihrer Kritik unterwirft. Die Vergangenheit wird entlarvt, mit dem allgewaltigen Prinzip der Emanzipation politisiert und moralisiert, ja hypermoralisiert: Nur so entsteht freie Bahn für das Zukunftsmonopol der Utopien. (. . .) Die moralisierte Vergangenheit zerstört zuletzt die wirkliche Geschichte. Wir müssen den Nationalsozialismus »historisieren«. ( . . . ) . (. . .) Jenseits von Apologie und Kritik, von konservativen und progressiven Parteilichkeiten gibt es die objektive Geschichte, der wir trotz aller Endlichkeit im Bemühen der - transnationalen - Kommunität der Forscher näherkommen. (. . .) Dazu tragen auch kritisch-emanzipatorische oder apologetisch gestimmte oder identitäts-engagierte Wissenschaftler bei. In dieser Lage ist es das Gebot pluralistischer Wissenschaftsmoral, die Koexistenz und den offenen Wettbewerb auch solcher Großrich121
tungen anzuerkennen. Im jetzt anstehenden Fall heißt das, man muß dem Monopolanspruch der kritischen Historie mit ihren Verdammungsurteilen entgegentreten. Die Sache der Aufklärung heute ist es, Objektivität und Pluralität zu verteidigen und im Rückgriff auf ihr skeptisches Erbe der Militanz, der Selbstgewißheit der kompakten Moralität, dem ausgrenzenden Konsenszwang zu widerstehen (. . .). Der Umgang mit Geschichte hat Bedeutung für das Leben, er hat mit unserer Identität zu tun, das ist nichts Neues. Meine Identität ist auch immer ein Stück gemeinsamer Identität. Warum wir so sind, wie wir sind, und die anderen anders, das können wir nur historisch verstehen; denn Identität ist immer auch Erbe und da es schwerfällt, unser So-sein und Anders-sein anzuerkennen, ist das eine Leistung der Geschichte. (. . .) Während Emanzipation ein universalisierendes Projekt ist, das auf Einheit hinausläuft, ist Identität und auch nationale Identität das Programm der Pluralisierung und der Vielheit, notwendiger Gegenhalt angesichts der Schwierigkeiten mit der egalisierenden Moderne. Geschichte vergewissert aus unserer Identität und stabilisiert sie, davon lebt auch die Politik. Nationale Identität gibt es vor und neben der Wissenschaft; Wissenschaft klärt Erinnerung auf und entmächtigt Traditionen; (. . .). Daß es politische Ansprüche auf Erinnerung gibt, ist nicht eine machiavellistische Idee von Stürmer, sondern eine einfache Wahrheit. (. . .) Verordnete Regierungshistorie kann es bei uns nicht geben, das ist genauso absurd wie der Anspruch, nur Historie gegen die gegenwärtige Regierung, bei uns oder in den USA, sei wahre Historie. Aber hier gibt es ein doppeltes Mißverständnis des Pluralismusarguments. Entgegen auch der Selbstinterpretation mancher Historiker besteht die Geschichte keineswegs nur aus einer Pluralität von Perspektiven. Es gibt einen Grund wissenschaftlich gesicherter Bestände, es gibt starke und schwächere Perspektiven, objektivere und weniger objektive Darstellungen. (. . .) (. . .) Die schönen Prägungen von Habermas von der reflexiven Erinnerung im autonomen Umgang mit ambivalenter Überlieferung sind zustimmungsfähig, nur daß sein Gegenmodell, die nationalgeschichtliche Aufmöbelung konventioneller Identität nicht existiert, das ist Feindbildphantasie. (. . .) Ich halte die von Habermas eröffnete Debatte für ein Unglück. Die wissenschaftlichen Streitgebiete sind hoch sensibel, das moralpolitische Engagement ist stark, die schwierigen Unterscheidungen und Grenzziehungen gehen im Getümmel unter, die deutsche Neigung zu letzter Grundsätzlichkeit triumphiert. Gräben werden aufgerissen, die 122
Historikerzunft wie die Öffentlichkeit werden polarisiert. (. . .) Darum brauchen wir die Tugenden der Historie: Nüchternheit und Distanz, brauchen den Pluralismus jenseits des moralisierenden Verdachts und der politischen Parteinahmen. (. . .) DIE ZEIT, 24. 10. 1986
26.
Gerd R. Ueberschär
Hitler, nicht Stalin war der Aggressor Günther Gillessens Artikel »Der Krieg der Diktatoren« (F.A.Z. Nr. 191) und die anschließende Diskussion (F.A.Z. Nr. 203) haben zum Abdruck eines außergewöhnlich langen Leserbriefes von Dr. Joachim Hoffmann (F.A.Z. Nr. 240) geführt, der einer Korrektur bedarf. Außergewöhnlich nicht in der Sache, sondern weil darin von der historischen Forschung schon lange beantwortete Fragen und Behauptungen neu aufgeworfen werden. Die Neuauflage der Ansicht, Stalin habe im Sommer 1941 das Deutsche Reich angreifen wollen, die unweigerlich in die Nähe zur alten Nazi-These vom »Präventivkrieg« gerät, stützt sich vorrangig auf bedenkliche Aussagen ehemaliger WlassowLeute und Emigranten. Der zweifelhafte Wert solcher »Kollaborationsquellen« ist jedem Historiker bekannt. Die politischen Thesen von Dr. Hoffmann sind in der Forschung singulär. Schon früher abgelehnt, sind sie gleichwohl im Zusammenhang mit den unbewiesenen Vermutungen und umstrittenen Spekulationen von Ernst Topisch (Stalins Krieg) erneut diskutiert und widerlegt worden (siehe den Sammelband »Unternehmen Barbarossa«. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente. Herausgegeben von Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette. Paderborn 1984); die überzeugende Zurückweisung der Präventivkriegs-Vorstellungen aufgrund der neuesten Forschungen wurden denn auch in der (F.A.Z. Nr. 62 vom 14. März 1985) positiv vorgestellt. Es überrascht deshalb auch nicht, daß Kollegen und Mitautoren von Dr. Hoffmann, die sich ebenfalls in dienstlichem Auftrag bei der Darstellung des vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebe123
nen Serienwerks »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, mit dieser Gesamtproblematik befaßt haben, zu ganz anderen Ergebnissen als Dr. Hoffmann gekommen sind. Die Präventivkriegsthese wurde von der NS-Führung instrumental zur Schuldabwälzung und als Propagandatrick eingesetzt. Deutsche Heerführer und militärische Dienststellen haben nach Beginn des Krieges 1941 konstatiert, daß die Rote Armee keinesfalls angreifen wollte und auch nicht zum Angriff bereit war. Die Behauptungen von Dr. Hoffmann vernachlässigen ein grundlegendes Axiom: nämlich Hitlers Absicht und unumstößliches Ziel, Lebensraum im Osten durch einen rücksichtslosen rassenideologischen Vernichtungskrieg erobern zu wollen. Um diesen Krieg durchzuführen, schreckte der deutsche Diktator auch nicht vor einem völkerrechtswidrigen Bruch des Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion vom 23. 8. 1939 zurück. Hitlers Entschluß zum Krieg im Osten ist völlig unabhängig von den politischen und militärischen Aktionen Stalins, die dieser aufgrund der gemeinsamen Absprachen in Osteuropa 1939 — 1941 vornahm, zu betrachten. Sie lösten bei den Nazis keine Bedrohungsfurcht aus. Hitler hat den Ostkrieg nicht wegen politischer Reibereien mit Stalin begonnen, sondern folgerichtig entsprechend seiner seit den zwanziger Jahren feststehenden programmatischen Ziele und Eroberungsvorstellungen. Es läßt sich nun einmal nicht daran rütteln, daß Hitler 1941 der Aggressor war und nicht Stalin. Man muß diese historische Tatsache auch nicht zu »einer besonderen Friedensschuld der Deutschen gegenüber der Sowjetunion ummünzen«, wie Günther Gillessen formulierte; der vertragswidrige Überfall auf die Sowjetunion erinnert uns aber nachhaltig an einen besonderen Friedensauftrag der Deutschen gegenüber allen von den Nazis Überfallenen und unterjochten Völkern. Dr. Gerd R. Ueberschär, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg. [Leserbrief] FAZ, 31. 10. 1986
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27.
Johann
Wolfgang Brügel
Erstaunliche Behauptungen Zu Dr. Hoffmanns Darlegungen vom 16. Oktober (»Stalin wollte den Krieg«): Ich bin mit der Materie einigermaßen vertraut, schließlich war ich es, der als erster - in der von mir herausgegebenen Dokumentensammlung »Stalin und Hitler. Pakt gegen Europa«, Wien 1973 - die von Dr. Hoffmann erwähnte Abmachung zwischen Roter Armee und Wehrmacht vom 20. September 1939 veröffentlicht hat. Aber ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, wie der Wissenschaftliche Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg einige seiner erstaunlichen Behauptungen belegen könnte, die er einfach für »unbestreitbar« erklärt, mit der Hinzufügung, sie ließen »eine beliebige Ausdeutung der Absichten Stalins nicht mehr zu«. Man wüßte doch gerne, woher er Kenntnis von so undiplomatisch und ungewöhnlich formulierten Moskauer telegraphischen Weisungen an den Botschafter in Tokio hat, die »Vereinbarung mit Deuschland« sei »von der Notwendigkeit eines Krieges in Europa diktiert« gewesen und Moskau stimme »allen Verträgen (?) zu, die einen Zusammenprall Japans mit den Vereinigten Staaten hervorrufen«. Man wüßte ferner gerne, wie Dr. Hoffmann seine Theorien mit der unbestreitbar am 28. September 1939 ausgegebenen »Erklärung der Deutschen Reichsregierung und der Regierung der UdSSR« vereinbart, der zufolge sie »übereinstimmend der Auffassung Ausdruck (geben), daß es dem wahren Interesse aller Völker entsprechen würde, dem gegenwärtig zwischen Deutschland einerseits und England und Frankreich andererseits bestehenden Kriegszustand ein Ende zu setzen.« Die Sache mit Molotows »geradezu exorbitanten Forderungen« habe ich in »Stalin und Hitler« mit den Worten kommentiert: »Hitler verweist Molotow auf die asiatische Taube am Dach . . . aber Molotow ist nur an dem europäischen Spatzen in der Hand interessiert.« Da sich Dr. Hoffmann auf Gustav Hilger beruft, sei auf das von Hilger konzipierte Telegramm des Moskauer Botschafters Schulenburg vom 7. Mai 1941 hingewiesen, in dem es heißt, die Entstehung und Erhaltung der »deutsch-sowjetischen freundschaftlichen Beziehungen« sei von Stalin »zielbewußt betrieben (worden) . . . Ich bin überzeugt, daß Stalin seine neue Stellung (als Regierungschef) dazu benützen wird, um in eigener Person an der Aufrechterhaltung und 125
Weiterentwicklung der guten sowjetischen Beziehungen zu Deutschland tätig zu werden.« Ganz im gleichen Sinne berichteten Hilger/ Schulenburg nach Berlin am 12., 19. und 24. Mai 1941. Vielleicht sollte man zum Abschluß anführen, was Stalins Tochter zur Sache zu sagen hatte (Swetlana Allilujewa, Only one Year, London 1969, S. 369): »Stalin hatte nicht vermutet oder gar vorausgesehen, daß der Pakt aus dem Jahr 1939, den er als Resultat seiner eigenen großen Schlauheit angesehen hat, von einem Feind gebrochen werden würde, der noch schlauer als er selbst war. Das war der wahre Grund seiner tiefen Depression bei Beginn des Krieges - daß er sich politisch so ungeheuer verrechnet hatte. Selbst nachdem der Krieg zu Ende war, pflegte er zu wiederholen: >Zusammen mit den Deutschen wären wir unbesiegbar gewesen<.« Dr. Johann Wolfgang Brügel, London. [Leserbrief] FAZ, 31. 10. 1986
28.
Ernst Nolte
Die Sache auf den Kopf gestellt Gegen den negativen Nationalismus in der Geschichtsbetrachtung
Wer ein Buch kritisiert, muß in der Regel einige Hauptpunkte herausgreifen und andere vernachlässigen; wer sich mit einem Artikel auseinandersetzt, sollte gewillt und imstande sein, die Fragestellung zu charakterisieren, den ganzen Gedankengang zu umreißen und die Ergebnisse richtig wiederzugeben, bevor er sein Urteil fällt. Unter Umständen mag auch ein Blick auf den Autor angebracht sein. Ich meine, daß Jürgen Habermas und Eberhard Jäckel in ihren polemischen Artikeln diesen Postulaten nicht gerecht geworden sind. Ich habe mir das Thema »Die Vergangenheit, die nicht vergehen will« nicht selbst gewählt. Aber als ich aufgefordert wurde, mich bei den Römerberggesprächen darüber zu äußern, hat es mich so sehr fas126
ziniert wie kaum je ein Thema zuvor. Die scheinbar geringfügige Abänderung eines bekannten Buchtitels suggeriert eine ganz ungewöhnliche Situation: Eine Vergangenheit, die sich gegen ihr eigenes Wesen sperrt, Vergangenheit und eben nicht Gegenwart zu sein, eine Vergangenheit, die sich nicht damit begnügt, daß die Menschen sich ihrer erinnern, sie erforschen, sie rühmen oder beklagen, sondern die »wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt« ist. Natürlich kann es derartiges im genauen Wortsinn nicht geben, sondern es handelt sich um eine Art Metapher, aber um eine erhellende Metapher, durch die das Verhältnis der bundesdeutschen Gegenwart zur nationalsozialistischen Vergangenheit gekennzeichnet werden kann. Ich habe diese Gegenwart dann dadurch beschrieben, daß ich zwei gegensätzliche Argumentationsreihen nebeneinandergestellt habe, von denen die eine heute überall noch nationalsozialistische Merkmale wahrnimmt, während die andere eben diese Denktendenz aus bestimmten Interessen ableitet oder als Ablenkung von wirklich aktuellen Fragen betrachtet. (...) Was mich am stärksten frappierte, war indessen die Vermutung, daß man den Beweggründen von Hitlers verwerflichsten Handlungen durch die Formel von der Vergangenheit, die nicht vergehen will, auf die Spur kommen könnte. Deshalb wurde mir jener Satz so wichtig, den Hitler in der Lagebesprechung vom 1. Februar 1943 gesagt hatte, um seine Befürchtung zu begründen, daß die in Stalingrad gefangenen Generäle demnächst im Moskauer Rundfunk sprechen würden, nämlich: »Stellen Sie sich den Rattenkäfig vor.« Wenn ich behauptete, Hitler habe damit nicht, wie der Herausgeber kommentierte, »die Lubjanka« gemeint, so wollte ich gewiß nicht sagen, Hitler habe in Wahrheit die Butyrka oder das NKWD-Gefängnis von Tscheljabinsk im Auge gehabt. Er meinte ein Verfahren in der Lubjanka, ein Verfahren von namenloser Grauenhaftigkeit, (. . .). (. . .) Doch selbst dann, wenn der »Rattenkäfig« auf eine bloße Greuelmeldung zurückging, war die Empfindung, welche so vielen Zeitgenossen um 1920 im Hinblick auf die Russische Revolution gemeinsam war, in der Sache gut begründet, nämlich die Empfindung, daß sich hier etwas Neues, noch nie Dagewesenes vollzog. Für die Anhänger handelte es sich um die größte aller Hoffnungen, für die Gegner um ein Schrecknis ohne Vorgang. (. . .) (. . .) Das Entsetzen vor dem »Rattenkäfig« war also nur eine her127
vorstechende Ausdrucksform einer allgemeinen und genuinen Erfahrung der ersten Nachkriegszeit. Ich glaube, daß hier die tiefste Wurzel des Extremsten von Hitlers Handlungsimpulsen zu suchen ist. Es verstand sich für mich aber andererseits von selbst, daß die Schuldzuschreibung, die Hitler vornahm, nämlich die Anklage gegen »die Juden«, zwar diese Erfahrung voraussetzt, daß sie aber gleichwohl ihrerseits einen Überschritt in eine neue Dimension bedeutet: den Überschritt von der sozialen zur biologischen Schuldzuschreibung. Der Archipel Gulag ist schon deshalb »ursprünglicher« als Auschwitz, weil er dem Urheber von Auschwitz vor Augen stand und nicht Auschwitz den Urhebern des Archipel Gulag. Aber es gibt gleichwohl einen qualitativen Unterschied zwischen ihnen. Es ist unzulässig, den Unterschied zu übersehen, aber es ist noch unzulässiger, den Zusammenhang nicht wahrhaben zu wollen. Daher ist Auschwitz nicht eine direkte Antwort auf den Archipel Gulag, sondern eine durch eine Interpretation vermittelte Antwort. Daß diese Interpretation falsch war, habe ich nicht eigens gesagt, weil ich es für überflüssig hielt. Nur ein Narr könnte heute die Rede vom »jüdischen Bolschewismus« wieder aufgreifen, denn die tiefe Feindschaft zwischen den beiden Phänomenen sticht seit langem ins Auge; (. . .). Man mag diese Unterscheidung von Erfahrung und Interpretation in Zweifel ziehen und darauf hinweisen, daß schon der junge Hitler ein Antisemit gewesen sei. Aber gerade bei dem jungen Hitler sind die Erfahrung, nämlich das Erschrecken vor den riesigen Massenumzügen der Sozialdemokraten, und der »Schlüssel«, mit dem er diese Erfahrung verarbeitete, die angebliche Einsicht in die Urheberschaft der Juden, sehr deutlich zu unterscheiden, und dieses Verhältnis hat sich, wie ich meine, nach dem Kriege in ihm auf einer viel intensiveren Erfahrungsgrundlage wiederholt. (. . .) Die durch das Nichtvergehen der Vergangenheit gekennzeichnete Situation der Bundesrepublik kann zu einem qualitativ neuen, bisher noch nicht realisierten Zustand führen, in dem die nationalsozialistische Vergangenheit zum negativen Mythos vom absoluten Bösen wird, der relevante Revisionen verhindert und damit wissenschaftsfeindlich wird, während er zugleich die politische Konsequenz in sich schließt, daß diejenigen am meisten Recht hatten, die am entschiedensten gegen das »absolute Böse« kämpften. (. . .) Der Überschritt in die neue Dimension, die für die Gegenwart bloß eine Möglichkeit ist, liegt bei Hitler klar am Tage, und die extremste Konsequenz hieß Auschwitz, aber die zugrunde liegende Erfahrung war eine genuine, von zahlreichen Menschen geteilte Erfahrung, und 128
sie bezog sich auf die frühesten Erscheinungsformen des Archipel Gulag. Wenn wir beides in den Blick fassen, wird der Unterschied nicht übersehen, aber es tritt auch der Zusammenhang wieder hervor, und damit wird die Möglichkeit geschaffen, eine Befreiung von der »Tyrannei des kollektivistischen Denkens« zu erreichen, die einen so beträchtlichen Teil der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus immer noch prägt. (. . .) (Ich habe) eine Äußerung Chaim Weizmanns erwähnt und die These David Irvings wiedergegeben, diese der englischen Regierung von dem Chef der »Jewish Agency« gegebene Versicherung, die Juden in aller Welt würden an der Seite Englands kämpfen, sei als eine Art Kriegserklärung anzusehen. Die einfachste Fairneß sollte denjenigen, die daran Anstoß nehmen, jedoch gebieten, mindestens darauf hinzuweisen, daß die Erwähnung auf distanzierende Weise im Rahmen selbstkritischer Bemerkungen erfolgt, die auf das Postulat hinauslaufen, unbestreitbare Tatsachen in der »etablierten« Literatur nicht schon deshalb unerwähnt und unerörtert zu lassen, weil sie in der rechtsradikalen Literatur eine übertreibende oder verkürzende Interpretation erfahren. (...) Im übrigen aber liegt der Hinweis auf die Weizmann-Äußerung, obwohl eine bloße Nebenbemerkung, ebenfalls im Rahmen meiner Hauptfrage, der Frage nach dem Überschritt in eine neue, nicht aus Vorhandenem ableitbare Dimension. Wenn man zugibt, daß die Erklärung zwar nicht im völkerrechtlich-exakten Sinne, wohl aber als Vorwegnahme einer künftigen Realität einer Kriegserklärung gleichkam, dann läßt sich Internierung als eine Gegenmaßnahme begreifen, dann müßten aber auch die Regeln der Haager Landkriegsordnung in Geltung treten. Die Frage ist der Erörterung wert, ob Weizmann sich vielleicht von der entsprechenden Intention leiten ließ, und die Folgerungen liegen auf der Hand, die hinsichtlich der Einstellung der deutschen Bevölkerung und der Judenräte zu ziehen wären. (. . .) (Aber) es ist schlechterdings infam, in Erwägungen, die 1939 und 1940 auch in jüdischen Organen angestellt wurden, eine auch nur tendenzielle Rechtfertigung der »Endlösung« zu erblicken. Was soll ich nun zu der polemischen Kritik von Jürgen Habermas und Eberhard Jäckel sagen? Ich äußere mich nicht zu dem häßlichen Neologismus »Untersteller« oder zu dem Terminus »Nato-Philosophie«, der mir aus früheren Jahrgängen der Ostberliner Zeitschrift für Geschichtswissenschaft nur allzu gut erinnerlich ist. Wenn Jäckel seine eigene Definition der Singularität der »Endlösung« gibt, so meine ich, 129
daß sie bloß auseinanderlegt, was mit dem Begriff des »Rassenmordes« kürzer zum Ausdruck gebracht ist. Wenn er allerdings etwa sagen will, daß der deutsche Staat durch den Mund seines verantwortlichen Führers mit unzweideutigen Worten öffentlich den Entschluß verkündet habe, auch die jüdischen Frauen, Kinder und Säuglinge umzubringen, so hat er mit einem kurzen Satz all dasjenige anschaulich gemacht, was als verbreitetes intellektuelles Klima nicht »belegt« zu werden braucht, sondern »unterstellt» werden darf. (. . .) (Ich) bin über die Kaltherzigkeit verwundert, mit der Eberhard Jäckel feststellt, nicht jeder einzelne Bourgeois sei getötet worden. Über Habermas' »Vertreibung der Kulaken« braucht nichts mehr gesagt zu werden. Die Kritik, welche die beiden Herren an meinem Artikel üben, wird nur dann immerhin psychologisch verständlich, wenn sie angenommen haben, ich hätte Auschwitz für eine unvermittelte und gerechtfertigte Antwort auf den Archipel Gulag erklärt, also für eine Antwort auf der gleichen Ebene. Das hätte aber die Wiederaufnahme des Begriffs »jüdischer Bolschewismus« vorausgesetzt, und ich hielt es nicht für erforderlich, eine solche Vermutung ausdrücklich zurückzuweisen. ( . . . ) Ich bin in der Tat der Meinung, daß nicht nur die Deutschen eine »schwierige Vergangenheit« haben und daß die schwierige Vergangenheit nicht bloß eine deutsche ist. Die bloße Umkehrung des Nationalismus ist der geschichtlichen Realität des 20. Jahrhunderts nicht angemessen. Neue Wege des Nachdenkens wären auf vielen Seiten, aber besonders auf Seiten der Deutschen und der Russen erforderlich, wenn die Koexistenz mehr als eine bloß ökonomische darstellen und im intellektuellen Bereich von dem Partikularismus wegkommen soll, der vor allem die Schuld gegnerischer Völker, Klassen oder Rassen nachzuweisen sucht und daher gerade die fundamentale Schuld der kollektivistischen Schuldzuschreibung nicht in den Blick bekommt. Es gibt hoffnungsvolle Ansätze dazu bei sowjetischen Dissidenten und hier und da sogar in der offiziellen Literatur. Jürgen Habermas würde in einem solchen Gespräch ein gewichtiges Wort mitzureden haben, aber er müßte zunächst noch lernen, auch dann hinzuhören, wenn er seine Vor-Urteile herausgefordert fühlt. DIE ZEIT, 31. 10. 1986
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29.
Andreas Hillgruber
Für die Forschung gibt es kein Frageverbot Herr Professor Hillgruber, es ist in den letzten Monaten eine Debatte, zunächst unter Historikern, unter anderen Fachwissenschaftlern und dann in der breiten Öffentlichkeit über die Art und Weise, wie wir unsere Geschichte betrachten, entstanden. Sind Sie als Historiker froh, daß eine solche Debatte in Gang gekommen ist, oder gibt es auch so etwas wie ein Erschrecken über das, was da ausgelöst wurde und jetzt debattiert wird und über die Art und Weise, wie debattiert wird? (. . .) Habermas führt mit der Unterstellung, sie würden »apologetische Tendenzen« vertreten, massive Attacken gegen vier westdeutsche Historiker ganz unterschiedlichen Zuschnitts, mit ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Fragestellungen und Themen. Seine Attacken sind nicht wissenschaftlich fundiert, sondern politisch motiviert. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß er das Ganze mit dem Plan der Regierung Kohl verbindet, in Berlin ein »Deutsches Historisches Museum« und in Bonn ein »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« zu errichten. Damit haben die wissenschaftlichen Arbeiten der attackierten Historiker nichts zu tun. In jedem Fall ist durch Habermas ein Durcheinander von historischen, politischen und publizistischen Problemen hervorgerufen worden, das noch dadurch verschlimmert wird, daß er mit verfälschenden Zitaten und Zitatmanipulationen arbeitet, um seine Unterstellungen wirkungsvoller präsentieren zu können. Ich habe in einem Aufsatz, der im Dezember-Heft 1986 der Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« erscheinen wird, diese Manipulationen, Zitat für Zitat vergleichend, im einzelnen nachgewiesen. Es ist ein einzigartiger wissenschaftlicher Skandal! (. . .) Indem er nun »Alarm schlägt«, wird in der Öffentlichkeit der Eindruck hervorgerufen, als wenn durch einige der von ihm attackierten Arbeiten der genannten Historiker etwas ganz Neuartiges publiziert worden sei. Tatsächlich hat zum Beispiel Nolte wesentliche Gedanken, die er jetzt zugespitzt formuliert hat, schon in seinem großen Werk über den »Faschismus in seiner Epoche« zum Ausdruck gebracht. Auch das, was Habermas an meinem bei Siedler erschienen Band so aufregt, ist im Kern, nicht in den Details, in meinen größten Darstellungen schon enthalten. 131
(...)
Welche Ansätze gab es denn, die Faktenlage oder die Geschichtsschreibung der NS-Zeit zu r e v i d i e r e n ? (. . .) Dazu möchte ich sagen, daß im Grunde schon seit Mitte der sechziger Jahre tiefgreifende Revisionen verschiedenster Art stattgefunden haben, die das klischeehafte »Bild«, das offenbar Habermas als Nicht-Historiker besitzt, längst ad absurdum geführt haben. Die ursprünglich vorherrschende Hitler-Zentrik wurde zum Beispiel abgelöst durch Strukturanalysen. Die Rolle des Alltags in der Geschichte des Dritten Reiches wurde untersucht, wenn man etwa an das große »Bayernprojekt« des Instituts für Zeitgeschichte in München denkt. Die Widerstandsforschung wurde viel differenzierter, die ursprüngliche Konzentration auf den 20. Juli 1944 und die konservativen Kräfte im Widerstand wurde abgelöst durch eine Erforschung des ganzen breiten Spektrums des Widerstandes. Kurzum, Revisionen sind eigentlich permanent erfolgt, allerdings ohne daß die Öffentlichkeit in genügendem Maße davon Kenntnis genommen hat. (. . .) Die Frage geht ja darum, ob das »Dritte Reich« eine historische Epoche ist, wie andere auch. Ist es eigentlich, ob singulär oder nicht-singulär, was die moralische Bewertung und die Einschätzung des Regimes angeht, von Belang, ob man zu dem einen oder anderen Ergebnis kommt? Moralisch ist das Dritte Reich gekennzeichnet durch zahllose Verbrechen, vor allem durch den Massenmord an den Juden. Ich wüßte keinen ernsthaften Historiker, der das in Frage stellt. Zur gegenwärtigen Diskussion über die »Singularität« ist folgendes zu konstatieren: »Singulär« ist in der Geschichte alles, jede Gestalt, jede Epoche, jedes Ereignis. Aber jedes Ereignis, jeder Vorgang, jede Persönlichkeit muß sich auch vergleichen lassen, das ist ein wesentliches Element der Geschichtswissenschaft. Singularität und Vergleich schließen sich nicht aus. Der Massenmord an den Juden ist, wenn man als Vergleichsmaßstab die »westliche Welt« nimmt, singulär, denn etwas Vergleichbares hat es zum Beispiel selbst im italienischen Faschismus nicht gegeben. Bezieht man das bolschewistische Rußland mit in den Vergleich ein, dann wird man sagen können, daß der Massenmord an den Kulaken Anfang der 30er Jahre, der Massenmord an den Führungskadern der Roten Armee 1937/38, der Massenmord an den polnischen Offizieren, den polnischen Adligen, die im September 1939 in sowjetische Hand fielen, qualitativ nicht anders zu bewerten ist, als der Massenmord im Dritten Reich. Hier wie dort war es einfach eine bestimmte Kennzeich132
nung der Menschen (aufgrund des Rassenwahns oder der KlassenIdeologie), die ihre Ermordung verursachte. Im Fall des Dritten Reichs können dank der Quellenlage die Massenverbrechen von den Historikern weitestgehend belegt und dargestellt werden. Das bolschewistische Rußland zeichnet sich hingegen bis heute durch seine Geheimhaltungspraxis aus, so daß zahlenmäßige Vergleiche, die allerdings nicht ausschlaggebend für die moralische Wertung sind, schwierig bleiben. Haben Sie Verständnis dafür, wenn genau solche Vergleiche - wie sie Nolte ja auch gezogen hat - zwischen dem NS-Regime und dem Stalinismus gerade im Ausland sehr kritisch betrachtet werdenf Muß man sich den Vorwurf der Exkulpation, der mit solcher Art wissenschaftlicher Arbeit betrieben wird, gefallen lassen ? Meine Antwort ist da sehr entschieden: Entweder treiben wir Geschichtswissenschaft, und dies ist Sache einer internationalen Gemeinschaft von Forschern, in der es nicht auf die Nationalität ankommt, oder wir müssen auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit verzichten. Dies wäre allerdings ein Rückfall in schlimme Zeiten. Die westdeutsche Geschichtswissenschaft ist wie jede Geschichtswissenschaft, die diesen Namen verdient, frei in ihren Fragestellungen. Die Antworten müssen allerdings selbstverständlich wissenschaftlich zu verantworten sein. Das heißt, Sie würden sagen, es gibt keine Frageverbote für die Wissenschaft? Ganz richtig. Nun ist aber der Vorwurf, der bei Leuten wie Habermas oder auch anderen durchschimmert, der, daß die Ergebnisse der Fachwissenschaft dazu genutzt werden, über eine veränderte Beschreibung der NS-Vergangenheit auch unsere heutige deutsche Wirklichkeit verändert zu betrachten. Ich bin da eigentlich der falsche Ansprechpartner. Ich bin mit meinem Buch, das sich ausschließlich mit dem Dritten Reich beziehungsweise dem Untergang im Osten 1944/45 befaßt, in eine Diskussion hineingezogen worden, die vorrangig um die Museumspläne der Bundesregierung geht. Sie sind nicht mein Thema. (...) Nun tauchen ja auch die B e g r i f f e »Mittellage« und »nationale Identität der Deutschen« in dieser ganzen Debatte wieder auf. Welchen Grund gibt es eigentlich dafür, daß man von Seiten der Wissenschaft oder der Publizistik an einer stabilen Lage hier in Mitteleuropa wieder rührt? Uns ging es doch in dieser Mittellage eigentlich gut in den letzten vierzig Jahren ? 133
(. . .) Man muß zwei Dinge unterscheiden: Einmal das alte Thema »Mitteleuropa«, das jetzt von ganz verschiedenen Seiten aufgegriffen wurde, nicht nur von der politischen »Rechten«, sondern auch in der »Mitte« und von »links« von der Mitte stehenden Kräften. Es handelt sich dabei um eine Zeitvorstellung, die die besonderen traditionellen, durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges abgerissenen Verbindungen in Zentraleuropa anknüpft und sie wiederzubeleben sucht. Es geht darum, unter anderem das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR, das Verhältnis zu Polen, zur Tschechoslowakei, zu Ungarn in der Weise neuzugestalten, daß diese »mitteleuropäischen« Verbindungen wieder zum Tragen kommen. (. . .) Etwas ganz anderes ist mit dem Schlagwort »Mitteleuropa« verbunden, wenn man an die alte Mitteleuropa-Konzeption anknüpfen will, die in Deutschland vor und im Ersten Weltkrieg eine Rolle gespielt hat. Es ist der Gedanke der Zusammenfassung eines erweiterten »Mitteleuropa« unter deutscher Führung, zugeschnitten auf die deutschen Interessen. Ein solcher Ansatz ist als Konzeption infolge des Ausgangs des Zweiten Weltkriegs historisch erledigt. Eine solche Vorstellung jetzt wieder entwickeln zu wollen, hieße, die Mächte in Ost und West gegen die Deutschen zusammenführen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand dies ernsthaft anstrebt. ( . . . ) Mit einem Wort: Das Bemühen, die Verbindungen, die in Mitteleuropa 1945 - durch den Ausgang des Krieges, dann infolge des Kalten Krieges - zerrissen sind, wieder anzuknüpfen, halte ich für eine sinnvolle politische Aufgabe, gerade auch für die Bundesdeutschen. Rheinischer Merkur/Christ und
30.
Jürgen
Welt, 31.
10.
1986
Habermas
Vom öffentlichen Gebrauch der Historie Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf
Wer Ernst Noltes besonnenen Beitrag in der letzten Nummer der ZEIT gelesen und die emotionale Diskussion in der Frankfurter Allge134
meinen Zeitung nicht verfolgt hat, muß den Eindruck gewinnen, daß hier um historische Details gestritten wird. In Wirklichkeit geht es um jene politische Umsetzung des in der Zeitgeschichtsschreibung aufgekommenen Revisionismus, die von Politikern der Wenderegierung ungeduldig angemahnt wird. Deshalb rückt Hans Mommsen die Kontroverse in den Zusammenhang einer »Umschichtung des historisch-politischen Denkens«; mit seinem Aufsatz im September/Oktoberheft des Merkur hat er den bisher ausführlichsten und substantiellsten Beitrag geliefert. Im Zentrum steht die Frage, auf welche Weise die NS-Periode im öffentlichen Bewußtsein historisch verarbeitet wird. Der größer werdende Abstand macht eine »Historisierung« nötig - so oder so. Heute wachsen schon die Enkel derer heran, die am Ende des Zweiten Weltkrieges zu jung waren, um persönlich Schuld auf sich laden zu können. Dem entspricht freilich kein distanziertes Erinnern. Die Zeitgeschichte bleibt auf die Periode von 1933 bis 1945 fixiert. Sie tritt nicht aus dem Horizont der eigenen Lebensgeschichte heraus; sie bleibt verknäuelt mit Empfindlichkeiten und Reaktionen, die gewiß nach Jahrgängen und politischen Einstellungen über ein breites Spektrum streuen, aber immer denselben Ausgangspunkt haben: die Bilder von jener Rampe. Dieses traumatische Nicht-Vergehen-Wollen eines in unsere nationale Geschichte eingebrannten moralischen Imperfekts ist erst in den 80er Jahren breiten wirksam ins Bewußtsein getreten: beim 50. Jahrestag des 30. Januar 1933, bei den vierzigsten Jahrestagen des 20. Juli 1944 und des 8. Mai 1945. Und doch brechen Sperren auf, die noch bis gestern gehalten hatten. (...) Im Frankfurter Prozeß gegen zwei an der »Aktion Gnadentod« handgreiflich beteiligte Ärzte begründete der Verteidiger seinen Befangenheitsantrag gegen einen Göttinger Psychiater mit dem Argument, der Sachverständige habe einen jüdischen Großvater und sei möglicherweise von Emotionen belastet. In derselben Woche äußerte Alfred Dregger im Bundestag eine ähnliche Besorgnis: »Besorgt machen uns Geschichtslosigkeit und Rücksichtslosigkeit der eigenen Nation gegenüber. Ohne einen elementaren Patriotismus, der anderen Völkern selbstverständlich ist, wird auch unser Volk nicht überleben können. Wer die sogenannte >Vergangenheitsbewältigung<, die gewiß notwendig war, mißbraucht, um unser Volk zukunftsunfähig zu machen, muß auf unseren Widerspruch stoßen.« Der Anwalt führt ein rassistisches Argument in einen Strafprozeß ein, der Fraktionsvorsitzende fordert die forsche Relativierung der belasteten NS-Vergangenheit. Ist das zufällige Zusammentreffen beider Äußerungen so zufällig? Oder verbreitet 135
sich in dieser Republik allmählich ein geistiges Klima, in dem das einfach zusammenpaßt? Da gibt es die spektakuläre Forderung des bekannten Mäzens, die Kunst der Nazizeit nicht länger unter »Zensur« zu stellen. Da zieht der Bundeskanzler mit seinem historischen Feinsinn Parallelen zwischen Gorbatschow und Goebbels. Im Szenario von Bitburg waren schon drei Momente zur Geltung gekommen: Die Aura des Soldatenfriedhofs sollte nationales Sentiment und dadurch »Geschichtsbewußtsein« wecken; das Nebeneinander der Leichenhügel im KZ und der SS-Gräber auf dem Ehrenfriedhof, morgens Bergen-Belsen und nachmittags Bitburg, bestritt implizit den NS-Verbrechern ihre Singularität; und der Händedruck der Veteranengeneräle in Gegenwart des amerikanischen Präsidenten war schließlich eine Bestätigung dafür, daß wir im Kampf gegen den Bolschewismus immer schon auf der richtigen Seite gestanden haben. Inzwischen haben wir quälende, eher schwärende denn klärende Diskussionen erlebt: über die geplanten historischen Museen, über die Inszenierung des Fassbinder-Stücks, über ein nationales Mahnmal, das so überflüssig ist wie ein Kropf. Dennoch beklagt sich Ernst Nolte darüber, daß Bitburg die Schleusen noch nicht weit genug geöffnet, die Dynamik der Aufrechnung noch nicht ausreichend enthemmt hat: »Die Furcht vor der Anklage der »Aufrechnung* und vor Vergleichen überhaupt ließ die einfache Frage nicht zu, was es bedeutet haben würde, wenn der damalige Bundeskanzler sich 1953 geweigert hätte, den Soldatenfriedhof von Arlington zu besuchen, und zwar mit der Begründung, dort seien auch Männer begraben, die an den Terrorangriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung teilgenommen hätten.« (FAZ, 6. Juni 1986) Wer die Präsuppositionen dieses merkwürdig konstruierten Beispiels durchdenkt, wird die Unbefangenheit bewundern, mit der ein international renommierter deutscher Historiker Auschwitz gegen Dresden aufrechnet. Diese Vermischung des noch Sagbaren mit dem Unsäglichen reagiert wohl auf ein Bedürfnis, das sich mit wachsendem historischen Abstand verstärkt. (. . .) (...) Manch einer führt freilich die »geschuldete Erinnerung« nur noch im Titel, während der Text die öffentlichen Manifestationen eines entsprechenden Gefühls als Rituale falscher Unterwerfung und als Gesten geheuchelter Demut denunziert. Mich wundert, daß diese Herrschaften - wenn denn schon christlich geredet werden soll - nicht einmal zwischen Demut und Buße unterscheiden können. Der aktuelle Streit geht jedoch nicht um die geschuldete Erinnerung, 136
sondern um die eher narzißtische Frage, wie wir uns - um unserer selbst willen - zu den eigenen Traditionen stellen sollen. Wenn das nicht ohne Illusion gelingt, wird auch das Eingedenken der Opfer zur Farce. Im offiziell bekundeten Selbstverständnis der Bundesrepublik gab es bisher eine klare und einfache Antwort. (. . .) Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen. Wir können einen nationalen Lebenszusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einem durch die moralische Katastrophe belehrten, ja argwöhnischen Blick standhalten. Sonst können wir uns selbst nicht achten und von anderen nicht Achtung erwarten. Diese Prämisse hat bisher das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik getragen. Der Konsens wird heute von rechts aufgekündigt. Man fürchtet nämlich eine Konsequenz: Eine kritisch sichtende Traditionsaneignung fördert in der Tat nicht das naive Vertrauen in die Sittlichkeit bloß eingewöhnter Verhältnisse; sie verhilft nicht zur Identifikation mit ungeprüften Vorbildern. Martin Broszat sieht hier mit Recht den Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Die NS-Periode wird sich umso weniger als Sperriegel querlegen, je gelassener wir sie als den Filter betrachten, durch den die kulturelle Substanz, soweit diese mit Willen und Bewußtsein übernommen wird, hindurch muß. Gegen diese Kontinuität im Selbstverständnis der Bundesrepublik stemmen sich heute Dregger und seine Gesinnungsgenossen. (. . .) Zunächst spielen Situationsdeutungen neokonservativer Herkunft eine Rolle. Nach dieser Lesart verstellt die moralisierende Abwehr der jüngsten Vorvergangenheit den freien Blick auf die tausendjährige Geschichte vor 1933. Ohne Erinnerung an diese unter »Denkverbot« geratene nationale Geschichte könne sich ein positives Selbstbild nicht herstellen. Ohne kollektive Identität schwänden die Kräfte der sozialen Integration. Der beklagte »Geschichtsverlust« soll gar zur Legitimationsschwäche des politischen Systems beitragen, nach innen den Frieden, nach außen die Berechenbarkeit gefährden. Damit wird dann die kompensatorische »Sinnstiftung« begründet, mit der die Geschichtsschreibung die vom Modernisierungsprozeß Entwurzelten bedienen soll. Der identifikatorische Zugriff auf die nationale Geschichte verlangt aber eine Relativierung des Stellenwerts der negativ besetzten NS-Zeit; für diesen Zweck genügt es nicht mehr, die Periode auszuklammern, sie muß in ihrer belastenden Bedeutung eingeebnet werden. (...) 137
Vierzig Jahre danach ist also der Streit, (. . .) in anderer Form wieder aufgebrochen. Kann man die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches antreten, kann man die Traditionen der deutschen Kultur fortsetzen, ohne die historische Haftung für die Lebensform zu übernehmen, in der Auschwitz möglich war? Kann man für den Entstehungszusammenhang solcher Verbrechen, mit dem die eigene Existenz geschichtlich verwoben ist, auf eine andere Weise haften als durch die solidarische Erinnerung an das nicht Wiedergutzumachende, anders als durch eine reflexive, prüfende Einstellung gegenüber den eigenen, identitätsstiftenden Traditionen? Läßt sich nicht allgemein sagen: Je weniger Gemeinsamkeit ein kollektiver Lebenszusammenhang im Innern gewährt hat, je mehr er sich nach außen durch Usurpation und Zerstörung fremden Lebens erhalten hat, um so größer ist die Versöhnungslast, die der Trauerarbeit und der selbstkritischen Prüfung der nachfolgenden Generationen auferlegt ist? Und verbietet es nicht gerade dieser Satz, die Unvertretbarkeit der uns zugemuteten Haftung durch einebnende Vergleiche herunterzuspielen? Das ist die Frage der Singularität der Naziverbrechen. Wie muß es im Kopf eines Historikers aussehen, der behauptet, ich hätte diese Frage »erfunden«? (...) Aus Vergleichen werden Aufrechnungen Im Fach haben sich, wenn ich das aus der Entfernung richtig sehe, hauptsächlich drei Positionen herausgebildet; sie beschreiben die NSZeit aus der Sicht der Totalitarismustheorie oder auf die Person und Weltanschauung Hitlers zentriert oder mit dem Blick auf die Strukturen des Herrschafts- und des Gesellschaftssystems. (. . .) Aber selbst die Betrachtung, die auf die Person Hitlers und seinen Rassenwahn fixiert ist, kommt doch im Sinne eines verharmlosenden, insbesondere die konservativen Eliten entlastenden Revisionismus erst dann zur Wirkung, wenn sie in einer entsprechenden Perspective und mit einem bestimmten Zungenschlag präsentiert wird. Dasselbe gilt für den Vergleich der NS-Verbrechen mit den bolschewistischen Vernichtungsaktionen, sogar für die abstruse These, der Archipel Gulag sei »ursprünglicher« als Auschwitz. Erst wenn eine Tageszeitung einen entsprechenden Artikel veröffentlicht, kann die Frage der Singularität der Naziverbrechen für uns, die wir uns aus der Perspektive von Beteiligten Traditionen aneignen, die Bedeutung annehmen, die sie im gegebenen Kontext so brisant macht. In der Öffentlichkeit, für die politische Bildung, für die Museen und den Geschichtsunterricht stellt sich die Frage der 138
apologetischen Herstellung von Geschichtsbildern als unmittelbar politische Frage. Sollen wir mit Hilfe historischer Vergleiche makabre Aufrechnungen vornehmen, um uns aus der Haftung für die Risikogemeinschaft der Deutschen herauszustehlen? Joachim Fest beklagt sich (in der FAZ vom 29. August) über die Empfindungslosigkeit, »mit der man sich an irgendwelchen Professorenschreibtischen daran (macht), die Opfer zu selektieren.« Dieser schlimmste Satz aus einem schlimmen Artikel kann nur auf Fest selbst zurückfallen. Warum verleiht er jener Art von Aufrechnungen, die bisher nur in rechtsradikalen Kreisen zirkulierten, in aller Öffentlichkeit einen offiziellen Anstrich? Das hat mit Frageverboten für die Wissenschaft weiß Gott nichts zu tun. Hätte der Disput, der nun durch die Entgegnungen von Eberhard Jäckel, Jürgen Kocka (in der Frankfurter Rundschau vom 23. September) und Hans Mommsen (in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Oktober 1986) in Gang gekommen ist, in einer Fachzeitschrift stattgefunden, hätte ich keinen Anstoß daran nehmen können ich hätte die Debatte gar nicht zu Gesicht bekommen. Eine Sünde ist, wie Nipperdey sich mokiert, die bloße Publikation des Nolte-Artikels durch die FAZ gewiß nicht, wohl aber markiert sie einen Einschnitt in der politischen Kultur und im Selbstverständnis der Bundesrepublik. Als ein solches Signal wird dieser Artikel auch im Ausland wahrgenommen. Dieser Einschnitt wird nicht dadurch entschärft, daß Fest die moralische Bedeutung von Auschwitz für uns abhängig macht von Vorlieben für eher pessimistische oder eher optimistische Geschichtsdeutungen. ( . . . ) In den ersten Wochen sind meine Kontrahenten einer inhaltlichen Debatte mit dem Versuch ausgewichen, mich wissenschaftlich unglaubwürdig zu machen. Ich brauche auf diese abenteuerlichen Beschuldigungen an dieser Stelle nicht zurückzukommen, da sich die Diskussion inzwischen den Sachen zugewendet hat. Um die Leser der ZEIT mit einer Ablenkungstechnik bekannt zu machen, die man eher von Politikern im Handgemenge als von Wissenschaftlern und Publizisten am Schreibtisch erwartet, nenne ich nur ein Beispiel. Joachim Fest behauptet, daß ich Nolte in der Hauptsache eine völlig falsche These unterschiebe: Nolte leugne »die Singularität der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen überhaupt nicht.« Tatsächlich hatte dieser geschrieben, daß jene Massenverbrechen weit irrationaler gewesen seien als ihre sowjetrussischen Vorbilder: »Alles dies«, so faßte er die Gründe zusammen, »konstituiert ihre Einzigartigkeit«, um dann fortzufahren: »aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die sogenannte Judenvernichtung während des Dritten Rei139
ches eine Reaktion war oder eine verzerrte Kopie, aber nicht ein erster Akt oder ein Original.« Der wohlwollende Kollege Klaus Hildebrand lobt denn auch in der »Historischen Zeitschrift« eben diesen Aufsatz als wegweisend, weil er »das scheinbar Einzigartige aus der Geschichte des »Dritten Reiches* . . . zu erklären versucht«. Ich konnte mir diese Lesart, die alle gegenteiligen Versicherungen als salvatorische Klauseln versteht, um so eher zu eigen machen, als Nolte inzwischen in der FAZ jenen Satz geschrieben hatte, der die Kontroverse überhaupt erst ins Rollen gebracht hat: Nolte hatte die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen auf den »technischen Vorgang der Vergasung« reduziert. In Frageform läßt Fest es nicht einmal bei diesem Unterschied bewenden. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die Gaskammern fragt er: »Läßt sich wirklich sagen, daß jene Massenliquidierungen durch Genickschuß, wie sie während des Roten Terrors über Jahre hin üblich waren, etwas qualitativ anderes sind? Ist nicht, bei allen Unterschieden, das Vergleichbare doch stärker?« Ich akzeptiere den Hinweis, daß nicht »Vertreibung«, sondern »Vernichtung« der Kulaken die zutreffende Beschreibung dieses barbarischen Vorgangs ist; denn Aufklärung ist ein Unternehmen auf Gegenseitigkeit. Aber die in der breiten Öffentlichkeit vorgeführten Aufrechnungen von Nolte und Fest dienen nicht der Aufklärung. Sie berühren die politische Moral eines Gemeinwesens, das - nach einer Befreiung durch alliierte Truppen ohne eigenes Zutun - im Geiste des okzidentalen Verständnisses von Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung errichtet worden ist. DIE ZEIT, 7. 11. 1986
31.
Bianka Pietrow
Stalins Politik bis 1941 Zu Joachim Hoffmanns Leserbrief »Stalin wollte den Krieg« (F.A.Z. vom 16. Oktober): Die historische Forschung hat deutlich gemacht, daß der Aufmarsch der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion allein noch keinen Aufschluß über Hitlers Außen- und Kriegszielpoli140
tik geben kann. Es ist nicht einzusehen, warum man im Fall der Sowjetunion von solcher methodischen Überlegung abweichen sollte. Dagegen schließt Dr. Joachim Hoffmann von der Dislokation der sowjetischen Streitkräfte, zum Beispiel in Grenzvorsprüngen, von ausgewählten Aussagen kriegsgefangener sowjetischer Offiziere direkt auf konkrete Angriffsabsichten der Sowjetunion gegen Deutschland. Dem ist grundsätzlich entgegenzuhalten, daß sich die sowjetische Außenpolitik ebensowenig im Schlepptau der Militärpolitik befand wie die deutsche. Das Gegenteil ist richtig, und daraus erklären sich auch die schweren Niederlagen der Roten Armee in der ersten Phase des deutsch-sowjetischen Krieges. Dieser scheinbar überlegene Gegner Deutschlands brauchte Jahre, um die Invasoren zurückzuschlagen. Nach Dr. Hoffmann belegen Quellen die Angriffspläne der Sowjetunion. Er zitiert die Stalin-Rede vom 5. Mai 1941, deren Inhalt »eindeutig verifiziert« sei. Doch wird dem Leser vorenthalten, daß es mindestens vier verschiedene Versionen aus zweiter Hand gibt: zwei sprechen von einer friedfertigen, defensiven Linie der Stalinschen Politik, zwei von einer künftig aggressiven. Botschaftsrat Hilger, den Dr. Hoffmann zitiert, ist es nach eigenen Angaben nie gelungen, eine authentische Erklärung für den Widerspruch zwischen den beiden Versionen zu finden. Wählen wir statt dessen das Interview des profilierten sowjetischen Historikers Alexander Nekritsch, den seine StalinismusKritik zur Emigration zwang, mit dem ehemaligen Leiter des militärischen Nachrichtendienstes und späteren Marschalls F. I. Golikov (eines sicherlich interessanteren Zeitzeugen als Viktor Suvorov) aus, der die Stalin-Rede selbst mit angehört hatte: Demnach war für Stalin schon vor 1939 der Hauptfeind England, und der fürchtete nichts mehr als einen Zusammenstoß zwischen Deutschland und der Sowjetunion, aus dem England würde Profit ziehen können. Aus diesem Grund habe er auch die britischen Warnungen vor einem deutschen Überfall nicht ernst genommen. Stalin habe nach Golikov diesen Standpunkt bis zum 22. Juni 1941 nicht geändert. Wo also liegt der Schlüssel zum Verständnis der Stalinschen Politik? Politisches Denken der Sowjetführung, ihre Außen- und Deutschlandsowie ihre Militärpolitik müssen zusammen gesehen werden. Das Ergebnis kann ich hier nur pointiert zusammenfassen: Seit Beginn der Stalinschen Industrialisierung baute man in der Sowjetunion eine moderne Streitmacht auf und entwickelte aufgrund der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg eine offensive Verteidigungskonzeption, um einen Stellungskrieg auf eigenem Territorium zu vermeiden. Die Großen Säuberungen machten diesem eindrucksvollen Modernisierungs141
prozeß ein vorläufiges Ende. Sie bedeuteten nicht nur einen enormen Verlust an hohen und höchsten Offizieren, sondern auch an Militärtheoretikern und Konstrukteuren, was unter anderem zur Folge hatte, daß das von Marschall Tuchatschewskij favorisierte Konzept einer Verteidigung gegen einen deutschen Überraschungsangriff verworfen wurde. Fortan glaubte man, auf die strategische Verteidigung verzichten zu können. Während Hitler 1939 und 1940 mit seinen Siegen die Welt in Atem hielt, versagte die riesige Sowjetarmee blamabel im Winterkrieg gegen Finnland. Man beschloß eine grundlegende Reorganisation und Neuausrüstung der sowjetischen Streitkräfte nach Vorbild der deutschen Wehrmacht, doch nun unter Führung zum Teil völlig unfähiger Männer. Diese Reformen bedeuteten zunächst einmal eine weitere Schwächung der Kampfkraft der Streitkräfte, und es war angesichts gravierender sowjetischer Wirtschaftsprobleme auch nicht zu erwarten, daß sie wie geplant im Sommer 1942 abgeschlossen sein würden. Im Sommer 1941 fehlte es vor allem an Munition, Funkgeräten, Transportmitteln; über 75 Prozent der Kommandeure übten ihr Amt erst ein Jahr oder kürzer aus. Nur unter der Voraussetzung, daß die deutsch-sowjetische Partnerschaft Bestand haben würde, konnte eine solche Reorganisation überhaupt sinnvoll sein. Wie kam Stalin dazu, auf die Einhaltung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages zu setzen? Folgende Punkte sind zu beachten: 1. Schon im Frühjahr 1939 ging Stalin davon aus, daß die militärischen Konflikte der letzten Jahre Anzeichen für den Beginn eines neuen weltweiten Krieges seien. Es stellte sich damit die Frage, wie sich die Sowjetunion (im Inneren erschüttert durch die Folgen der sozialökonomischen Umwälzungen und die Säuberungen, die Millionen Menschen das Leben gekostet hatten) schützen könne. Neue, diplomatiegeschichtliche Arbeiten wie die von Reinhold Weber und Heinrich Bartel haben gezeigt, daß Stalin recht hatte, wenn er nach dem Münchener Abkommen argwöhnte, mit Großbritannien und Frankreich nicht zu einem wirksamen Abkommen gegen die deutsche Aggression zu kommen. Stalin war zunächst nicht Herr der Lage, sondern von Kriegsfurcht und Einkreisungsängsten verfolgt. 2. Ungeachtet des Nationalsozialismus in Deutschland war Stalin stets ein Befürworter guter Beziehungen zu Deutschland gewesen. Neben sicherheitspolitischen und Wirtschaftsinteressen teilte er 1939 den Wunsch Hitlers, die Versailler Friedensordnung zu liquidieren. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Initiative zur Aufteilung der Einflußsphären »von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer« von Deutschland ausging. 142
3. Stalin hatte konkrete Vorstellungen von einer Partnerschaft mit Deutschland. Er trachtete danach, sich mit Deutschland die Herrschaft in Mitteleuropa zu teilen. Da er wußte, daß er der Wehrmacht bei ihrer Kriegführung den Rücken deckte, fühlte er sich nicht als kleiner Bittsteller, sondern forderte für sein Imperium Machtzuwachs mit Hitlers Einverständnis. 4. Die Analyse der sowjetischen Außenpolitik 1939 bis 1941 zeigt, daß der Hauptfeind für die Sowjetunion das britische Empire als Garant der Nachkriegsordnung war. Selbst das Foreign Office hat dies eingesehen, als alle seine Versuche fehlschlugen, die Sowjetunion für eine Zusammenarbeit gegen Deutschland zu gewinnen. 5. Vor diesem Hintergrund ist der Besuch des sowjetischen Außenministers Molotow in Berlin im November 1940 zu interpretieren. Man darf nicht vergessen: es war Ribbentrop, der einlud, um einen Vier-Mächte-Pakt vorzubereiten, einen Kontinentalblock zur Zerschlagung der angelsächsischen Herrschaft. Während Hitler pathetisch von der Abgrenzung der Interessen nach säkularen Maßstäben sprach, demonstrierte Molotow kühles Machtkalkül: an erster Stelle der sowjetischen Vorbedingungen stand die Stabilisierung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses. Zweitens machte Molotow klar, daß sich die Sowjetunion bei der Absteckung von Fernzielen nicht von Europa weg in Richtung des Indischen Ozeans drängen lassen würde. 6. Als Deutschland schließlich ein Land nach dem anderen im Osten Europas trotz heftigster sowjetischer Proteste für den DreiMächte-Pakt gewann, ja Jugoslawien eroberte, als gewaltige Truppenbewegungen der Wehrmacht zu beobachten waren, parierte die Sowjetunion mit einem Truppenaufmarsch. Daneben versuchte sie auf außenund handelspolitischem Gebiet alles nur Erdenkliche, um Hitler zu neuen Verhandlungen über eine Konsolidierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu bewegen. Wie auch neuerdings der enge Vertraute Stalins, Anastas Mikojan, in seinen Memoiren bestätigt, hielt Stalin den deutschen Aufmarsch bis zuletzt für ein Erpressungsmanöver, um die Sowjetunion im Krieg stärker an das Dritte Reich zu binden. Als Bismarck-Kenner war er der festen Uberzeugung, Deutschland werde keinen Zwei-Fronten-Krieg wagen. Aus Kriegsfurcht heraus bedeutete Stalin Deutschland, daß man auf Forderungen warte, das heißt, verhandeln wolle. Aus Kriegsfurcht schließlich wurde die Rote Armee zu spät mobil gemacht, ja noch die ersten Direktiven an die sowjetischen Truppen spiegeln Stalins Beschwichtigungshaltung wider. Die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges zeigt: Die Fi143
xierung auf die Präventivkriegsthese leistet einer verkürzten Darstellung der sowjetischen Politik ebenso wie einer Verharmlosung nationalsozialistischer Kriegsziele Vorschub. Dr. Bianka Pietrow, Tübingen [Leserbrief] FAZ, 13.11. 1986
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Johann
Georg
Reißmüller
Verschwiegene Zeitgeschichte Manche Merkwürdigkeit geht wie unbemerkt unter. In der Debatte um die Unvergleichbarkeit oder Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen mit den kommunistischen hatte Jürgen Habermas von der »Vertreibung« der Kulaken durch Stalin gesprochen. Dafür von Joachim Fest gerügt, schrieb Habermas, er akzeptiere den Hinweis, daß nicht »Vertreibung«, sondern »Vernichtung« den barbarischen Vorgang zutreffend beschreibe. Es ist zu begrüßen, daß Habermas diese Lehre annimmt. Aber muß es nicht erstaunen, daß er ihrer erst bedufte? Die Massentötung von Kulaken, von Großbauern im Sowjetreich zu Beginn der dreißiger Jahre war eines der entsetzlichsten unter den vielen Massenverbrechen der Bolschewiki. Als es bekannt wurde, ging ein Schaudern durch die zivilisierte Welt. An Möglichkeiten, sich halbwegs ein Bild von dem monströsen Ereignis zu machen, fehlte es damals nicht, fehlt es erst recht nicht in unserer Zeit. Wer es genauer wissen will, braucht nur eine Stalin-Biographie zur Hand zu nehmen. Wie ist es da möglich, daß im Jahre 1986 ein deutscher Professor und Publizist, der oft und auch jetzt wieder an Auseinandersetzungen über die jüngste Geschichte und unser Verhältnis zu ihr teilnimmt, das Schicksal der Kulaken mit dem Wort »Vertreibung« beschreibt? Der Fall steht nicht vereinzelt da. Es gibt im westlichen Deutschland eine Neigung, ja eine Entschlossenheit, die Massen-Bluttaten der sowjetischen Obrigkeit aus dem Stoff der Zeitgeschichte auszusondern und wegzulegen, als käme ihnen nur eine mindere Wirklichkeit zu. 144
Ganz ausgeblendet sind aus dem Geschichtsbild die Verbrechen der Lenin-Zeit. Jeden Herbst erinnern in der Sowjetunion Bürgerrechtler an das Dekret, mit dem die Sowjetobrigkeit im Okboter 1918 die Errichtung von Konzentrationslagern für »Feinde« anordnete; im Westen nimmt das niemand auf. Man möchte nicht Lenin befleckt sehen, hat man sich doch die Version zurechtgelegt, daß die Sowjetmacht so recht erst unter Stalin blutige Hände bekommen habe. Aber auch den Terror in der Herrscherzeit des russischen Despoten aus Georgien will man lieber nicht genau in den Blick nehmen. Uber die Kirchenverfolgung in Rußland in den zwanziger und dreißiger Jahren redet bei uns kaum jemand. Die grausame Bauernvernichtung, sofern sie überhaupt wahrgenommen wird, gilt nicht so sehr als Mordaktion denn als - freilich verfehlte - gesellschaftspolitische Maßnahme. Es ist eine Groteske, daß von den Terrorwellen der Stalinschen Sowjetunion am ehesten noch diejenigen Inhalt des Wissens und Gegenstand moralisch-politischen Urteilens sind, deren Opfer vorher Terrorgehilfen Stalins gewesen waren: die Moskauer Scheinprozesse der Jahre 1936 bis 1938 gegen hohe sowjetische Funktionäre; und dann nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1949 bis 1952, die jenen nachgebildeten Verfahren in Sofia, Budapest, Prag, gegen soeben erst abgesetzte Parteiführer. Gewiß, die Russen Bucharin und Jagoda, der Tscheche Slansky, der Ungar Rajk, der Bulgare Kostow - alle hatten die ihnen zur Last gelegten Taten nicht begangen, was ihre Herren über Leben und Tod auch wußten; sie verloren ihr Leben in der Tötungsmaschinerie des Sowjetsystems. Aber sie alle hatten vorher dieses System selber erbarmungslos an maßgeblicher Stelle mitbetrieben. Verdienen solche Gestalten wirklich unser Gedenken mehr als die zahllosen Mitglieder von Adelsfamilien, als Grundbesitzer, Fabrikanten, Kaufleute, bürgerliche und sozialdemokratische Politiker, Priester, Gläubige, Widersprechende, die vom Stalinismus »liquidiert« wurden, weil sie ihm als wegzuräumender Menschen-Schutt galten, oder auch nur, damit zur Sicherung der leninistisch-stalinistischen Herrschaft lähmende Furcht im Lande sich ausbreite? Etwas ist nicht in Ordnung mit dem zeitgeschichtlichen Bewußtsein, mit dem Verhältnis zur Zeitgeschichte und mit der Moral im Urteil über die Zeitgeschichte. Die sowjetkommunistischen Massenverbrechen, die sich tief ins Bild einer Epoche eingeprägt haben, werden so mächtig verdrängt, daß sie allenfalls wie Irrläufer ins Wissen und gar erst in die öffentliche Erörterung geraten. Wie läßt sich das alles erklären? Einer der wichtigsten Gründe liegt 145
sicherlich in der beständig erhobenen Forderung, es dürfe nicht »aufgerechnet« werden. Das ist eine falsche Parole. Aufrechnen - das hieße in unserem zeitgeschichtlichen Zusammenhang, die sowjetkommunistischen und die nationalsozialistischen Verbrechen so nebeneinanderzustellen, daß die einen die anderen und die anderen die einen austilgten, als wären beide nie geschehen. An eine solche Rechenoperation, die absurd wäre, denkt niemand. Und weder die noch lebenden Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen noch die überlebenden Opfer der sowjetkommunistischen Verbrechen ließen sich derartiges Wegrechnen gefallen; beide würden sich dagegen wehren. Aber der mit moralistischer Attitüde erhobene Appell tut seine schädliche Wirkung. Mancher in Deutschland scheut davor zurück, sich mit den Verbrechen des Leninschen und Stalinschen Staates zu beschäftigen, darüber öffentlich zu sprechen, sie beim Namen zu nennen, darüber mehr Unterrichtung in den Schulen zu verlangen, weil er den Vorwurf des »Aufrechnens« befürchtet. Sich von solcher Furcht zu befreien ist notwendig, um der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit willen. FAZ, 14. 11. 1986
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Heinrich August Winkler
Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen
Seit einiger Zeit gibt es keinen Zweifel mehr: Das Jahrhundertende wirft seinen langen Schatten voraus. Mitte der achtziger Jahre sind wir schon ganz in das fin de siècle eingetreten. Am runden Tisch des Bonner Kabinetts, in der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen und an den Schreibtischen einiger deutscher Historiker sitzt ein steinerner Gast: Die »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Man würde ihn gern los, aber er weicht nicht, sondern fragt immer wieder: Warum ist das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die Ermordung der europäischen Juden, gerade von Euch verübt worden, Ihr Deutschen? 146
Vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges scheint es einigen führenden Vertretern von Politik und Geistesleben an der Zeit, endlich aus dem Schatten Hitlers herauszutreten. (. . .) Das gemeinsame Auftreten des amerikanischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg anläßlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes war als Fanal gedacht: Der Zweite Weltkrieg wurde unter der Hand zum europäischen Normalkrieg umstilisiert. So wie sich das Amerika Ronald Reagans trotz My Lai nicht sein gutes Gewissen rauben läßt, so sollte das Deutschland Helmut Kohls fortan trotz Auschwitz wieder ungebrochen nationalen Stolz empfinden dürfen. (. . .) Das Gespenst von Bitburg führt ein zähes Leben. Dafür sorgt schon, unter anderem, die FAZ. Für das Ereignis von Bitburg hatte die »Zeitung für Deutschland« ungleich viel mehr Sympathie und folglich auch Raum als für die Rede, die der Bundespräsident am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag hielt. Viele Artikel der Frankfurter Allgemeinen, die seitdem erschienen sind, lesen sich wie indirekte Antworten auf Richard von Weizsäcker. (. . .) (...) Die Bühnenkulissen waren also bereits aufgestellt, als am 6. Juni 1986 Ernst Nolte, Professor der neueren Geschichte an der Freien Universität Berlin und ein angesehener Faschismusforscher, auftrat. Wer bei der Lektüre der FAZ bis zum Feuilleton vordrang, konnte dort unter der Überschrift »Vergangenheit, die nicht vergehen will« etwas lesen, was bislang noch kein deutscher Historiker bemerkt hatte: Auschwitz war nur die Kopie eines russischen Originals, des stalinistischen Archipel GULag. Aus Angst vor dem asiatischen Vernichtungswillen der Bolschewiki hatte Hitler selbst eine »asiatische Tat« begangen. Die Judenvernichtung also eine Art von Putativnotwehr? Genau darauf läuft Noltes Spekulation hinaus. In vorsichtigeren Wendungen hatte Nolte den gleichen Gedanken auch schon früher geäußert. In einem Aufsatz, der 1985 auf englisch, in dem von H. W. Koch herausgegebenen Band »Aspects of theThird Reich«, erschienen war, gab er überdies zu bedenken, ob Hitler nicht berechtigt gewesen sein könnte, die deutschen Juden nach Kriegsausbruch als Kriegsgefangene zu internieren. (Das »Recht« hierzu hätte ihm, Nolte zufolge, der Präsident der Jewish Agency, Chaim Weizmann, gegeben, als er Anfang September 1939 dem britischen Premierminister Neville Chamberlain in einem offenen Brief versicherte, die Juden stünden in diesem Krieg auf der Seite Englands und der westlichen Demokratien.) (. . .) Soviel einfühlendes Verstehen ist Hitler noch von keinem deutschen Historiker zuteil geworden. 147
Nolte ist nicht der einzige Geschichtsforscher, der jetzt, wo das Jahrhundert sich dem Ende zuneigt, für eine historische Relativierung des »Dritten Reiches« und seiner Verbrechen eintritt. Andreas Hillgruber und Michael Stürmer, die in diesem Zusammenhang oft genannt werden (auch von Jürgen Habermas in seinem Artikel in der ZEIT vom 11. Juli 1986), sind zwar nicht grundlos ins Gerede gekommen: Stürmer, weil er seine eher konservative Sicht der Vergangenheit gern zum deutschen Geschichtsbild erheben würde; Hillgruber vor allem wegen seiner ausgeprägten Sympathien für jene preußischen Junker und Militärs, von denen er doch weiß, daß Hitler ohne sie weder an die Macht gekommen noch an der Macht geblieben wäre. Aber beide Historiker sind keine »Relativierer« á la Nolte, und sie verdienen es nicht, mit ihm in einen Topf geworfen zu werden. Anders liegt der Fall des Bonner Historikers Klaus Hildebrand, aus dessen Feder eine geradezu überschwengliche Besprechung von Noltes englischem Aufsatz stammt (Historische Zeitschrift, Band 242, Heft 2, April 1986). Schon 1983 hatte sich Hildebrand aus Anlaß der 50. Wiederkehr der »Machtergreifung« vehement gegen die These gewandt, es habe vor 1933 einen »deutschen Sonderweg« gegeben - eine Abweichung Deutschlands von der »normalen« Entwicklung des Westens hin zur liberalen Demokratie. Als »Sonderweg« läßt er nur, und zwar im wesentlichen dank des »Sonderfalles Hitler«, die Jahre 1933 bis 1945 gelten. (. . .) Gegen Hildebrands Behauptung, es habe vor 1933 keinen »deutschen Sonderweg« gegeben, ließe sich viel sagen - aber kaum etwas, was nicht schon irgendwann von irgendwem gesagt worden wäre. In unserem Zusammenhang aufschlußreicher ist der Hinweis auf Stalin und Pol Pot, deren Verbrechen auch Nolte mit denen Hitlers in Beziehung setzt. Was ist der Sinn dieses Vergleichs? Deutschland ist kulturell ein Land des Westens; es hatte teil an der europäischen Aufklärung und eine lange Tradition des Rechtsstaates. Das gilt nicht für Rußland und erst recht nicht für Kambodscha. Die Untaten Stalins und der Roten Khmer werden dadurch nicht im mindesten entschuldigt. Aber Hitler und seine Helfer müssen wir an unseren eigenen, den westlichen Normen messen. Vor diesem historischen Hintergrund ist der vom deutschen Staat befohlene systematische Völkermord an den Juden, aber auch an den Sinti und Roma das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, ja der Weltgeschichte.
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Ein Ausverkauf westlicher Werte Joachim Fest hat in der FAZ vom 29. August gemeint, wer so argumentiere, der setze auf hochmütige Weise die »alte Nazi-Unterscheidung fort, wonach es höhere Völker gibt und Völker auf primitiverer Stufe, die nicht einmal vom Tötungsverbot wissen«. Es ist schon verblüffend, zu welchen Kapriolen jemand fähig ist, der sich im Rechtfertigungszwang fühlt. Fest dispensiert Deutschland von den sittlichen Werten, die es selbst mit hervorgebracht hat, und er befreit den Historiker von seiner vornehmsten Aufgabe: historisch angemessen zu werten. Weder Nolte noch Hildebrand noch Fest wollen einem zynischen Nihilismus das Wort reden, aber was sie zustande bringen, ist, horribile dictu, ein Ausverkauf westlicher Werte. (. . .) Wer Stalin und Pol Pot heranzieht, um Hitler zu »relativieren«, der betreibt keine Geschichtswissenschaft, sondern Geschichtspolitik. Er instrumentalisiert Geschichte für politische Zwecke (. . .). Und will Fest etwa ernsthaft behaupten, es gehe seiner Zeitung bei ihrem Feldzug gegen deutsche »Schuldbesessenheit« nicht um Politik, sondern nur um die historische Wahrheit und um nichts als die Wahrheit? Die fortlaufende Lektüre der FAZ macht deutlich, wo die tieferen Gründe der nationalapologetischen Welle zu suchen sind. Seit geraumer Zeit schallt uns aus ihren Spalten, lauter als jemals seit den fünfziger Jahren, der Ruf nach der Wiedervereinigung Deutschlands entgegen. Es ist nicht wichtig, ob die Zeitung dieses Ziel für erreichbar hält. Wichtig ist, daß seine Beschwörung nationales Selbstgefühl heben hilft. Um heute die Wiederherstellung des Deutschen Reiches fordern zu können, muß die Geschichte in der Tat umgeschrieben werden. Das Regime, das die staatliche Einheit Deutschlands verspielt hat, darf nicht länger als das erscheinen, was es war: das menschenfeindlichste der Geschichte. Deswegen werden seine Untaten mit denen anderer Staaten, gleich welcher kulturellen Entwicklungsstufe, verrechnet. Am Ende steht dann die Einsicht, zu der man an deutschen Stammtischen schon vor über drei Jahrzehnten angelangt war: daß alle Geschichte eine Geschichte von Verbrechen und an der deutschen Geschichte wenig ist, was negativ aus dem Rahmen fällt. (. . .) Die Deutschen können (. . .) im Rückblick auch an das denken, was sie der Welt im Verlauf einer langen Geschichte geschenkt haben. Politische Leistungen werden freilich kaum darunter sein. Die Bildung eines deutschen Nationalstaates war, wie die Dinge im 19. Jahrhundert lagen, unvermeidbar. Aber das Reich von 1871 ist an den Deutschen selbst gescheitert. Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Ent149
stehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues Deutsches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer. (...) Das Gespenst von Bitburg will uns daran hindern, aus der Geschichte zu lernen. Es erfüllt uns mit Neid auf die wirkliche oder vermeintliche Normalität der anderen. Es gaukelt uns einen Anspruch vor, den wir nur hätten, wenn wir in der Vergangenheit andere als wir selbst gewesen wären. Es versucht uns auf einen Pfad zu locken, der schon einmal in die Katastrophe geführt hat. Es ist höchste Zeit, das Gespenst zu vertreiben. FR, 14. 11. 1986
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Christian Meier
Kein Schlußwort Zum Streit um die NS-Vergangenheit
Der »Historikerstreit«, der in den letzten Wochen zumal in dieser Zeitung und in der »Zeit« ausgetragen wurde, scheint beendet zu sein. Ernst Nolte, dessen Artikel (F.A.Z. vom 6. 6. 1986) der wichtigste Stein des Anstoßes gewesen war, hat nachgetragen, was er als selbstverständlich vorausgesetzt habe, und seine Position entschärft. Jürgen Habermas, der den Streit im Juli eröffnet hatte, hat für die »Zeit« das letzte Wort gesprochen. Wie immer die Dinge somit stehen: man sollte eine Bilanz ziehen. (...) Negativer Mythos Blickt man zurück, so scheint sich, zumal nach Noltes letztem Artikel, zu ergeben, daß das Problem der Singularität nicht mehr strittig ist. 150
Eberhard Jäckel hat es am klarsten formuliert: »Ich behaupte . . . , daß der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte.« Auch wenn die Ankündigung des »Führers« keineswegs so ausgesprochen war, wird man das im Kern wohl kaum bestreiten können. Man sollte hinzufügen, daß mit der industriellen Austilgung nicht nur ein neuer Modus, nicht nur ein neuer Punkt auf der Skala der Möglichkeiten des Tötens erreicht, sondern ein qualitativer Sprung getan ist. Nolte schreibt dazu, in Jäckels Worten sei nur auseinandergelegt, was er mit dem Begriff des »Rassenmordes« kürzer zum Ausdruck gebracht habe. Sein ursprünglicher Artikel hatte mehr dahin tendiert, die millionenfachen Morde der Deutschen in einer Reihe mit denen der stalinistischen Sowjetunion und anderer zu sehen. Er hatte zudem einen Kausalzusammenhang zwischen dem Archipel GULag und Auschwitz konstruiert. Diese Behauptungen nimmt er jetzt nicht zurück, aber er modifiziert sie doch so weit, daß im Ganzen nur mehr Einzelheiten der Motivstruktur Hitlers sowie der historischen Einordnung des Holocaust strittig bleiben. (. . .) Noltes Hoffnung, durch Hinweis auf die verschiedenen anderen millionenfachen Morde das Bedrängende an unserer NS-Vergangenheit abarbeiten zu können, wird gewiß nicht in Erfüllung gehen. Will man, wofür vieles spricht, die nationalsozialistische Vergangenheit daran hindern, negativer Mythos vom absolut Bösen zu werden oder zu bleiben, so wird man andere Wege gehen müssen. Dazu ist das Bewußtsein von den Untaten zu tief in die Grundlagen der Bundesrepublik eingebrannt. Gewiß ist eine Historisierung dieser schockierenden Vergangenheit, eine Lösung der »hypnotischen Lähmung«, die von ihr ausgeht, zu wünschen. Doch wird sie nicht darin bestehen können, daß man an dem, was im Ganzen geschehen ist, deutelt. Das hieße die Flucht ergreifen. Auch wenn solche Morde fraglos und leider zum Signum des 20. Jahrhunderts gehören, so sind sie doch in den westlichen Ländern nicht verübt worden. Und man sollte, so möchte ich gegen Fest behaupten, nicht meinen, es mache keinen Unterschied, ob wir oder etwa die Türken respektive die Sowjetrussen so etwas in Werk setzten. Ist man denn, wenn man findet, daß in Deutschland in einer langen Geschichte andere zivilisatorische und ethische Voraussetzungen erwach151
sen sind, (. . .) schon ein Verfechter der Ideologie vom Herrenvolk? (. . .) Fests Einwand kann sich, recht besehen, wohl nur darauf beziehen, daß sich in manchen Selbstanklagen ein gleichsam umgestülptes Bewußtsein deutscher Besonderheit aufdringlich äußert. Das hat mit der Gegenwart, nicht mit der Vergangenheit zu tun. Andererseits kann man sagen, daß das Problem der Singularität unter bestimmten Gesichtspunkten nicht so wichtig ist. Selbst wenn die deutschen Verbrechen nicht einzigartig gewesen wären, was wäre für uns und unsere Stellung in der Welt damit gewonnen? (. . .) So richtig es ist, daß man auch über die anderen Morde unserer Zeit, im großen wie im kleinen, zu sprechen hat, und so sehr man Fest zustimmen kann, wenn er vermutet, daß moralische Irritation heute gern politischen Absichten folgt, so läßt man dabei das Problem der deutschen Vergangenheit besser heraus, weil es sonst zu schnell ans Aufrechnen geht. Vergleichbarkeit? Unter wieder anderen Gesichtspunkten aber ist die Antwort auf die Frage nach der Singularität äußerst wichtig. Weil nämlich nur dann, wenn man sie - wie ich denke: wahrheitsgemäß - bejaht, voll verständlich wird, warum wir uns diese Vergangenheit immer wieder vorhalten lassen müssen. Freilich gibt es hier ein Knäuel von Gründen. Die NSVerbrechen sind bis ins einzelne hinein bekannt, die stalinistischen oder diejenigen Pol Pots dagegen nur sehr pauschal. Bei uns ist die Ablehnung dieser Verbrechen in die Fundamente der Republik eingegangen, bei den anderen Nachfolgestaaten des Großdeutschen Reiches hingegen nicht. Wir sind weder eine Großmacht, die sich dergleichen nicht sagen zu lassen braucht, noch arm, so daß es nicht auch Interessen gäbe, uns daran zu erinnern. Das alles spielt gewiß mit und läßt die historische Wahrheit - sowie die Offenheit dafür - und die politische Realität in die gleiche Richtung wirken. Aber eben weil dem so ist, gibt es davor so leicht kein Entkommen. Und dann ist es, um es einmal taktisch zu nehmen, viel besser, wir wissen und sagen, wie es ist, als daß wir es uns immer wieder sagen lassen müssen. ( . . . ) Jeder Versuch, sich aus dieser Vergangenheit davonzustehlen oder sie unnütz zu - noch dazu falschen - politischen Vergleichen heranzuziehen, macht die Dinge nur schlimmer. Die Geschichte der letzten Jahre und Wochen ist ja leider an Beispielen dafür nicht arm. Es ging und geht beim Thema des »Historikerstreits« weniger um 152
die Vergangenheit als um Gegenwart und Zukunft. Denn dahin zielt doch die Frage, wie wir auf die Dauer mit dem tief in uns verankerten (respektive nicht gar so tief zu verdrängenden) Bewußtsein von dieser Vergangenheit leben wollen. ( . . . ) Damit steht zugleich das, was unsere bundesrepublikanische Identität ist und sein kann, zur Debatte. Vermutlich ist es kein Zufall, daß diese Fragen sich vierzig Jahre nach Kriegsende neu stellen. Es ist der Zeitpunkt, da die Jüngsten, die am NS-Regime noch aktiv beteiligt sein konnten, ins Großelternalter einrücken. Insofern hat der »Historikerstreit« vermutlich Fragen aufgenommen, deren Beantwortung sich in der Allgemeinheit wandelt. Vielleicht vollzieht sich hier sogar ein sehr tiefer, elementarer Vorgang, dem Aufbrechen einer Eisdecke vergleichbar. Dazu freilich erhält man keine Aufschlüsse, wenn man gewisse Tendenzen in den Schriften einzelner Historiker aufzuspüren sucht, auch und gerade wenn es sich - wie hinzuzufügen ist - insgesamt um prominente Angehörige der Zunft handelt. Was Hillgruber dazu bewogen haben mag, sich nachträglich mit den Verteidigern der Front in Ostpreußen zu »identifizieren«, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Meines Erachtens wollte er vor allem Verständnis für deren Situation, Respekt für die Opfer, die sie brachten, wecken. Und seine Arbeit hätte durch ein perspektivenreicheres, distanzierteres Verfahren und gelegentlichen Gebrauch des Konjunktivs gewiß gewonnen. Doch wie immer dem sein mag und was immer die Präsentation seines Bändchens sonst an Schwächen enthält, eine Verharmlosung des Nationalsozialismus kann man ihm nicht vorwerfen. Insofern sind Habermas' Sorgen gewiß unbegründet. (. . .) Die Erkenntnis etwa, daß die deutsche Gesellschaft um so entschuldbarer sei, je höher die Rolle Hitlers und seiner Herrschaft veranschlagt werde, sollte weder dazu führen, gegenwärtige Meinungen über diese Gesellschaft zum leitenden Gesichtspunkt der Interpretation des Nationalsozialismus zu machen, noch dazu, dies anderen einfach zu unterstellen. (. . .) (. . .) Es besteht überhaupt kein Anlaß, zu bezweifeln, daß die Verurteilung der Untaten jener Zeit, der Abscheu gegenüber dem NS-Regime unter den deutschen Historikern vermindert sei. Ich wüßte von keinem, der die »Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abschütteln« wollte. Man sollte diese Gemeinsamkeit nicht in Zweifel ziehen. Es ist in dieser Hinsicht kein Grundkonsens aufgekündigt worden.
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Geschichtsfehler Allerdings läßt sich eine neue, konservative Haltung gegenüber der Geschichte beobachten, vor allem bei Michael Stürmer. (. . .) (Wenn) es erlaubt ist, sich an das bei ihm zu halten, was über verbreitete Meinungen hinausragt und daher am ehesten Beachtung heischt, so ist doch unverkennbar, daß er die Geschichte politisch instrumentalisieren möchte. Anders ist jedenfalls das unmittelbare Nebeneinander nicht zu verstehen, in dem er die Gefahren beschwört, die Deutschland aus seiner Mittellage erwachsen, und zugleich dazu auffordert, Geschichte anders und besser zu betreiben und zur Geltung zu bringen als bisher. Das ist nicht parteipolitisch zu verstehen und geschieht gewiß nicht im Auftrag der Regierung (der ja auch die Möglichkeit, ein Geschichtsbild zu »verordnen«, glücklicherweise abgeht). Stürmer will im Gegenteil einen breiten historischen Konsens herstellen, von dem er meint, daß das Gemeinwesen ihn dringend nötig habe. Er soll in der Wiedergewinnung der ganzen deutschen Geschichte gründen. Stürmer könnte sich mit breiteren Tendenzen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Ubereinstimmung befinden. Und in deren Konsequenz mag auch das Bedürfnis einer neuen historischen Einordnung der NS-Zeit liegen; genauso wie eine gewisse Fahrlässigkeit im Umgang mit ihr, welch letztere allerdings nicht Stürmers Sache ist. An Stürmers Adresse wendet sich Habermas, was immer von seinen Argumenten zu halten ist, also zu Recht. Wohl wäre es besser gewesen, wenn er ihn genauer gelesen hätte. Denn Stürmer verficht keineswegs eine Mitteleuropa-Ideologie, sondern exakt das Gegenteil davon. Und man kann seine Hinweise auf die Machtgeographie beileibe nicht als »geopolitisches Tamtam« abtun. Er will auch - im Gegensatz zu Hildebrand und Hagen Schulze - Geschichte nicht als »Sinnstiftung«, obgleich sie zur Identität beitragen soll und obwohl die »Gratwanderung zwischen Entmythologisierung und Sinnstiftung«, von der er spricht, gewiß nicht immer gelingt. Aber Stürmer will die Geschichte in Dienst nehmen. »Daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«, hat er geschrieben. Wenn das eine Warnung sein soll, so ergibt sich daraus doch wohl zugleich eine Aufforderung. ( . . . ) Dagegen beruft sich Habermas auf den Pluralismus unserer Gesellschaft, der bewahrt bleiben müsse. Es sei uns höchstens ein Verfassungspatriotismus erlaubt. ( . . . ) Dürfen wir also seit 1945 nur noch einen Verfassungspatriotismus haben - oder kann, ja soll nationale Identität uns etwas bedeuten ? Dür154
fen wir nur an die »besseren Traditionen« unserer Geschichte anknüpfen - oder müssen wir es an deren Ganzes? Das müßte diskutiert werden. Ich finde es nicht leicht, mich einer dieser Seiten zuzuschlagen. Wohl kann Stürmers Versuch nicht illegitim sein. (. . .) Aber ein gewisses »gemeinsames Grundverständnis«' der deutschen Geschichte (Richard von Weizsäcker) wird sich nur erreichen lassen, wenn man dabei keine - oder höchstens ganz extreme - Positionen ausgrenzt. Das setzt eine sehr offene Debatte, sehr viel Auseinandersetzung und vor allem - Liberalität voraus. Das kann nur von der Mitte her geschehen. (. . .) Man wird auch nicht mit Inbesitznahmen oder Eigentumsansprüchen auf die Geschichte weiterkommen. Die gibt es nicht einmal in der DDR, auch wenn dort ebenfalls ein neuer Zugang zur deutschen Geschichte gesucht wird. Kurz, hier geht es um Dinge, die vielleicht allmählich erwachsen, die man befördern kann, die sich aber nicht erfordern lassen. Überwundene Nation? Andererseits kann ich nicht finden, daß es bei uns auf die Dauer mit einem bloßen Verfassungspatriotismus getan sei. Ganz abgesehen davon, daß allmählich eine nationale, vor allem bundesrepublikanische Identität bei uns heranwächst. Bei aller Sympathie für postnationale Identität - kann die ausreichen, da wir weiter unter Nationen leben? Auch Habermas' intellektuell anspruchsvolles Konzept der postkonventionellen Identität hat wenig Aussicht auf Verwirklichung. Schließlich ist mit einem »negativen Nationalismus« - ganz abgesehen davon, daß er umschlagen kann - gerade der Aufgabe nicht zu dienen, um die es hier primär geht: daß wir uns der Geschichte von 1933 bis 1945 als der eigenen stellen, uns also ihr ganz aussetzen. (...) (. . .) (Warum) knüpft Habermas den Gedanken, daß auch Jüngere für unsere Vergangenheit haften müssen, nicht daran, daß sie in einem Staat leben, der Deutschland heißt, und daß sie Deutsche sind, sondern vielmehr an bestimmte »Lebensformen« oder »Entstehungszusammenhänge, in denen Ausschwitz möglich war«, die offensichtlich auch heute noch potentiell vorhanden sein sollen? Wie wenn das schon bewiesen wäre! Damit jedenfalls wird Auschwitz in einer Weise in unsere Gegenwart hineingeholt und zur Sache bestimmter kontinuierlicher gesellschaftlicher Strukturen und Mentalitäten gemacht, auch parteilich vereinnahmt, die ich wenigstens gerne besser begründet sähe, 155
bevor ich mich davon überzeugen ließe. Zumal nach nahezu vierzig Jahren gelungener Demokratie. Denn wenn wir uns in vieler Hinsicht weiter als Deutsche verhalten, ist es dann wirklich dieses Verhalten und nicht doch die Tatsache„4aß wir Deutsche sind, was uns hoffen läßt? (. . .) Die Bilanz, die ich hier zu ziehen versuchte, kann also nur eine Zwischenbilanz sein. Nachdem der Historikerstreit im wesentlichen beendet ist, stellt sich das Problem, wie wir mit dieser Vergangenheit zu leben und welche Konsequenzen wir daraus zu ziehen haben, in größerer Klarheit. In vieler Hinsicht müßte die Diskussion jetzt überhaupt erst beginnen. Und sie dürfte nicht nur zwischen Historikern geführt werden - wie es ja überhaupt auffällig ist, daß die Gesellschaft diesen Streit, zu dem man kaum Kenntnisse benötigte, die nicht ein normaler Zeitungsleser hätte, den Historikern überließ. (...) Joachim Fest hat gefragt, welches eigentlich die Parteiungen in diesem Streit sind. Das wird sich herausstellen. Aber man sollte wünschen, daß in ihm vor allem die Mitte stark ist, die bisher in der Geschichte der Bundesrepublik noch immer zu vernünftigen Lösungen, Erkenntnissen und Maximen in der Lage war. (. . .) FAZ, 20. 11. 1986
35.
Klaus Hildebrand
Wer dem Abgrund entrinnen will, muß ihn aufs genaueste ausloten Ist die neue deutsche Geschichtsschreibung revisionistisch?
Die Frage danach, ob der Vorwurf des Revisionismus auf die neue Geschichtsschreibung zum Dritten Reich zutreffe, ist so eindeutig gestellt, daß sie eine klare Antwort verlangt. (. . .) • Ohne Unterlaß den überlieferten Kenntnisstand zu revidieren gehört zum Beruf des Wissenschaftlers. Insofern kann ihm kein Vorwurf gemacht werden, wenn er seine Pflicht tut. Ob Weltanschauungen und 156
Interessen es wollen oder nicht: Die Suche nach der Wahrheit geht weiter, mal von der öffentlichen Diskussion getragen und beflügelt, mal angefeindet und behindert. Denn die Erde dreht sich, auch wenn Autoritäten es verboten haben. • So schreitet auch die Erforschung über die Geschichte des Dritten Reiches beständig und differenzierend voran, mit alles in allem ertragreichen Resultaten. Insgesamt bewegen sie sich, von ganz unterschiedlichen Motiven der daran Beteiligten bestimmt, zu einer Historisierung des Dritten Reiches. Die Antwort auf unsere Frage: »Trifft der Vorwurf des Revisionismus auf die neue Geschichtsschreibung zum Dritten Reich zu?« lautet jedoch ohne Einschränkung »Nein«, wenn mit dem Begriff des Revisionismus Apologie und Rechtfertigung des Dritten Reiches unterstellt wird. (. . .) Die moralische Frage nach der Schuld oder Unschuld des Dritten Reiches ist entschieden, und kein ernst zu nehmender Vertreter der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat dem widersprochen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich ist dagegen selbstverständlich noch längst nicht abgeschlossen - wie könnte sie es auch sein, wenn man bedenkt, daß Geschichtswissenschaft schon im allgemeinen Zusammenhang der fortschreitenden Zeit dem Perspektivenwechsel unterliegt und daß im speziellen Falle dieses widrigen Untersuchungsgegenstandes noch allzu viele Probleme ungeklärt sind. Insofern ist die Geschichtswissenschaft dabei, vor dem Hintergrund neu verfügbarer Quellen, neu auftauchender Fragen und neu ins Blickfeld rückender Darstellungsfelder den Forschungsstand im Detail fortwährend zu differenzieren und den Rahmen ihrer Beurteilung charakteristisch zu erweitern. (...) Im Rahmen der freien Forschung, insbesondere auch innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, entstand zunächst ein Bild vom Dritten Reich, das die totalitäre Diktatur mit ihrem diabolischen, das heißt die Menschen verwirrenden und einfangenden Zwangsmechanismus zeichnete und den rassistisch geprägten Weltherrschaftsanspruch Hitlers betonte. (. . .) Für solch einen Befund mögen auf deutscher Seite die Werke von Karl Dietrich Bracher und Andreas Hillgruber als repräsentativ gelten. Bosheit, verkehrte Fronten, aber alte Sachverhalte Sieht man von den fortlaufenden Bemühungen einer rechtsradikalen 157
Mohrenwäsche des Dritten Reiches ab, die die Geschichte der Bundesrepublik marginal begleiten, so kam ein erster aufsehenerregender Anlauf zur Revision des bis dahin gültigen Bildes über die Zeit des Nationalsozialismus zu Beginn der sechziger Jahre aus den angelsächsischen Ländern. Zum einen war es der Amerikaner David L. Hoggan, der 1961 in seinem Buch »Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkrieges« Hitler im Hinblick auf die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zu entlasten und den englischen Außenminister Lord Halifax zum Kriegstreiber hochzustilisieren versuchte. Von anderen Motiven gespeist wurde A. J. P. Taylors Versuch, in seinem im gleichen Jahr erschienenen Werk über »Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges« Hitler als einen Politiker darzustellen, der in die kriegerische Auseinandersetzung gestolpert sei, ohne sie wirklich gewollt zu haben. (. . .) In solcher Perspektive tritt Hitler uns als »normaler« Revisionspolitiker entgegen, wird mit Gustav Stresemann auf eine Stufe gestellt und unterscheidet sich kaum von Bethmann Hollweg und Bismarck. Taylors tiefes Mißtrauen gegenüber der Existenz des kleindeutschen Nationalstaates hat ihm bei dieser Verzeichnung der Verhältnisse mit die Hand geführt und ihm den Unterschied zwischen Bismarck, Bethmann Hollweg, Stresemann und Hitler zu erkennen verwehrt. (...) Damit haben wir den aktuellen Stand der Debatte erreicht, der im Grund um alte Sachverhalte kreist und durch eine verkehrte Frontstellung charakterisiert ist. Denn Hans Mommsen und Martin Broszat, der eine mit seiner These vom »schwachen Diktator« Hitler und der andere mit seinem Befund über das autoritäre Chaos des Dritten Reiches Revisionisten par excellence, fechten in einer Linie mit Jürgen Habermas, der seinerseits den vermeintlich revisionistischen und apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung nachspürt. In diesem Rahmen attackiert er Ernst Nolte, der den lange Zeit in der weltanschaulichen Versenkung verschwundenen »Faschismus«-Begriff wissenschaftlich wieder eingeführt, und greift Andreas Hillgruber an, der die Planmäßigkeit der Außen- und Rassenpolitik Hitlers nachhaltig betont hat. Was ist geschehen? Nun, im Rahmen des Ganges einer wissenschaftlichen Erörterung nichts Außergewöhnliches - wenn man von der Tatsache absieht, daß Erkenntnisse, die im Grunde bereits Jahre und Jahrzehnte vorliegen, auf eine bestimmte Art und Weise in die Öffentlichkeit gelangt und in einer gewissen Konstellation aufgenommen worden sind. Denn was Nolte in seinem inkriminierten Zeitungsartikel über 158
»Vergangenheit, die nicht vergehen will« geschrieben hat, findet sich im Grundsatz bereits in seinem vor 23 Jahren veröffentlichten Werk »Der Faschismus in seiner Epoche«, die These nämlich, daß der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus als Gegenbewegungen zum russischen Bolschewismus entstanden und zu verstehen sind. Auch seine Überlegung, die Vernichtungsqualität des Nationalsozialismus mit der des Bolschewismus zu vergleichen, ist alles andere als neu, sondern in früheren Arbeiten durchaus enthalten, ja bereits entfaltet. Und was Hillgrubers in seinem inkriminierten corso-Band »Zweierlei Untergang« vorgetragenes Resultat angeht, wonach die Kriegsziele der Alliierten nicht ausschließlich als eine Reaktion auf die deutsche Bevölkerungs-, Umsiedlungs- und Rassenpolitik geplant wurden, sondern - als Folge in dem von Hitler ausgelösten Krieg - auch eigenständig hervorgetreten sind, durchzieht seine Arbeiten von dem 1965 veröffentlichten ausführlichen »Nachwort« versehene Neuauflage dieses Werkes vom Jahre 1982, über seine im gleichen Jahr erschienene Darstellung »Der Zweite Weltkrieg« bis zu seiner 1985 in gedruckter Form vorgelegten Düsseldorfer Akademierede »Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte«. Was ihm darüber hinaus im Hinblick auf den zweiten Teil des corsoBandes, der sich mit der Vernichtung des europäischen Judentums beschäftigt, von Habermas unterstellt wird, ist hanebüchen und basiert nicht zuletzt auf eindeutig die Sache verfälschenden Zitaten. Beispiel: Hans Mommsen hat einmal behauptet, zwischen dem Ende des Jahres 1938 und dem Anfang des Jahres 1941 hätten »alle Funktionsträger« des Dritten Reiches im Hinblick auf die Judenfrage eine »Auswanderungs«-Politik befürwortet, noch nicht aber den physischen Mord verfolgt. Hillgruber hat sich von dieser These, sie teilweise anerkennend, sie teilweise ergänzend, klar abgesetzt und dagegen festgestellt, Hitler habe über die Auswanderung und Austreibung der Juden hinaus damals bereits eine viel weiterreichende, auf die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« gerichtete Politik ins Auge gefaßt, die der Diktator vor dem Reichstag am 30. Januar 1939 sogar beim Namen genannt habe. Habermas macht daraus: »Hillgruber bezweifelt aber, daß zwischen 1938 und 1941 bereits alle Funktionsträger eine forcierte Auswanderungspolitik als die beste Lösung der Judenfrage angesehen hätten. Immerhin seien bis dahin zwei Drittel der deutschen Juden >ins Ausland gelangt<«. Letzteres ist zwar zutreffend, hat aber mit den sich an die These von 159
Hans Mommsen anschließenden Ausführungen Hillgrubers nichts zu tun, stellen sie doch das Gegenteil von dem fest, was Habermas, den Kölner Historiker angeblich rezipierend, behauptet. Derlei entstellende Zitation beschreibt nun keineswegs eine läßliche Ausnahme, sondern die durchgehend benutzte Methode, der Habermas sich im Umgang mit dem von ihm leider nicht untersuchten, sondern vielmehr heimgesuchten Text seiner Kontrahenten befleißigt. Daß der Vorsitzende des deutschen Historiker-Verbandes, der Althistoriker Christian Meier, ein solches Vorgehen zu entschuldigen versucht, ist mir unverständlich und schlägt ein neues Blatt in der »chronique scandaleuse« dieser Debatte auf: »Es geht aber auch nicht an, die Sorgen, die sich Habermas angesichts verschiedener Tendenzen auch in der neueren Historiographie macht, einfach unter Hinweis auf zu kurze Zitate oder eine falsche Verteilung zwischen Zitat und Referat vom Tisch zu wischen.« Der »Kampfansage« von Jürgen Habermas Verständnis entgegenzubringen, mag den, der dies tut, ehren oder auch nicht; seine Textbehandlung rechtfertigen zu wollen, widerspricht allem, was in der historischen Wissenschaft und im lebensweltlichen Bereich üblich ist. Jeder Studierende, der Literatur im »Habermas-Verfahren« traktierte, fiele durchs Examen! (. . .) Es geht im Kern um die Frage, ob der Nationalsozialismus in eine historische Perspektive zu rücken ist, inwieweit er sich als Phänomen singulär ausnimmt oder vergleichbar erscheint. Dabei meint »vergleichbar« im Grunde: mehr oder minder ablehnenswert bzw. mehr oder minder akzeptabel. Wer ist, horribile dictu, akzeptabler oder ablehnenswerter: Hitler oder Stalin? Auf diese Alternative ließe sich ein gut Teil der Diskussion zuspitzen. Daß sich beide Diktatoren im »Zeitalter der Tyrannen« in nichts nachstanden, beschreibt den Kern der Theorie vom Totalitarismus, die von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die unruhigen sechziger Jahre hinein, wissenschaftlich und politisch dominierte. (. . .) (...) Um nicht mißverstanden zu werden, sei in vier Thesen erläutert, was in bezug auf Singularität und Vergleichbarkeit des Nationalsozialismus maßgeblich ist: • Der Nationalsozialismus ist so singulär, wie jedes historische Phänomen aufgrund seiner sich im Unauffindbaren verlierenden Ursachenketten erkenntnistheoretisch als einzigartig anzusehen ist. • Der nationalsozialistische Judenmord steht in der deutschen ebenso wie in der europäischen Geschichte einschließlich der soge160
nannten »Epoche des Faschismus« singulär da. Daher entbehrt auch ein allgemeiner, Hitlers Deutschland, Mussolinis Italien sowie andere Regimes und Bewegungen von ähnlicher Provenienz umfassender »Faschismus«-Begriff der notwendigen Tragfähigkeit, da nicht zuletzt die Vernichtungsqualität des Nationalsozialismus keine Korrespondenz im italienischen Faschismus oder anderen vergleichbaren Phänomenen der Zeit findet. • Eben im Hinblick auf die in Hitlers Rassenpolitik zutage tretende Vernichtungsintensität und das damit verbundene Vernichtungsausmaß erscheint der Nationalsozialismus vergleichbar mit der im Zeichen des Klassenkampfes gleichermaßen mordenden Sowjetunion Stalins. Gewiß gibt es Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen »roter« und »brauner« Gewaltherrschaft, die im einzelnen jeweils sorgfältig zu bestimmen sind. Eine »Meinung« aber, wonach »die deutschen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 . . . in dem Sinne singulär« gewesen seien, »daß sie qualitativ deutlich über die vergleichbaren anderer Völker (etwa der stalinistischen Sowjetunion) hinausgingen«, ist eben nur eine »Meinung«, und im Falle des Althistorikers Christian Meier nicht einmal die eines Fachmannes. Was ich sagen will, ist dies: Auf diesem Feld springen die weißen Flecken unserer Kenntnis herausfordernd ins Auge. Freilich wissen wir durchaus schon so viel, daß sogar das Gegenteil zu der vorgetragenen »Meinung« zutreffend sein könnte. In antagonistischer Art und Weise aufeinander bezogen und miteinander verwandt, trafen sich die Regime Hitlers und Stalins im Ausmaß und in der Intensität ihrer Venichtungspolitik. • In universaler Perspektive bleibt der nationalsozialistische Judenmord singulär und steht doch in einer historischen Reihe, wenn man Vorläufer und Nachfolger dieses Genozids betrachtet: etwa den Mord an den Armeniern im ersten Weltkrieg; die »Liquidierung« von Millionen russischer Großbauern, der Kulaken, während der Zwischenkriegsära des 20. Jahrhunderts sowie die Ausrottung verschiedener Völker innerhalb und außerhalb der Sowjetunion im Zeichen des stalinistischen Vernichtungskrieges zwischen 1939/41 und 1945 oder das Schreckensregiment des kambodschanischen Steinzeitkommunismus in der Gegenwart. (...) Doch davon ganz abgesehen: Eine millionenfache Vernichtung jeweils ganz unterschiedlicher Großgruppen in der Sowjetunion und im Dritten Reich, Völkermord, gleich in welchem Regime, ist gleichermaßen ablehnenswert. Was die Geschichte des Dritten Reiches in diesem Zusammenhang freilich lehrt, liegt in der schrecklichen Einsicht in die 161
Tatsache begriffen, erkennen zu müssen, wie brüchig die Zivilisation und Barbarei voneinander trennende Decke unserer kollektiven und individuellen Existenz letztlich sein kann. (...) Warum aber kam es nun angesichts solcher Sachlage zu der an sich ganz unverständlichen Aufregung? Wendet sie sich gegen jene Historisierung, von der der Publizist Hermann Rudolph mit Recht festgestellt hat, daß sie nicht aufzuhalten sei und die übrigens auch Jürgen Habermas, im ausdrücklichen Hinblick auf die Position von Martin Broszat offenbar zu befürworten scheint? Warum operiert er dann aber mit dem Totschlagargument von der Apologetik des Nationalsozialismus? (. . .) Es beginnt der politische Kampf. ( . . . ) Denn letztlich scheint es Jürgen Habermas darum zu gehen, eine intellektuelle Vormachtstellung zu behaupten, die auf Differenzierung keinen Wert legt, sondern grob an einem Geschichtsbild festhält, das den langen Schatten des Dritten Reiches als uniforme Folie für die Handhabung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft benutzt. Der drohende Verlust an öffentlicher Resonanz scheint Jürgen Habermas zur Attacke gegen das, was wissenschaftlich längst feststeht bzw. erörtert wird, gereizt zu haben. Es scheint also, daß es ihm nicht in erster Linie um Wahrheit, sondern um Einfluß geht. Daß in solschem Fall laut die bedrohte Aufklärung beschworen wird, gehört zum Ritual der verfolgenden Unschuld. Ob sein Vorgehen, öffentlichen Einfluß über das für einen Gelehrten verbindliche Suchen nach Wahrheit zu stellen, eher mit Philosophie oder mit ihrem klassischen gegenteil, der Sophistik, zu tun hat, drängt sich als Frage am Rande auf. Vielleicht spiegelt sich in Jürgen Habermas' Attacke aber auch ein Erschrecken darüber, wie begrenzt und ambivalent die menschliche Machbarkeit der Dinge sich im Gegensatz zum optimistischen Glauben der »Achtundsechziger« ausnimmt, wenn es zu erkennen gilt, daß Totalitarismus, Völkermord und Massenvertreibung, in Hitlers Diktatur einzigartig verkörpert, darüber hinaus zur Erscheinungsform des 20. Jahrhunderts überhaupt gehören. (. . .) (...) Angesicht dieser Feststellung bleibt der Historiographie noch viel zu tun, um die Geschichte des Dritten Reiches im deutschen, europäischen und universalen Zusammenhang zu erforschen und darzustellen. Die von Habermas ohne zureichenden Grund vom Zaun gebrochene Debatte ist nicht dazu geeignet, diesen notwendigen Vorrang zu befördern. Sie wirft der Wissenschaft statt dessen weltanschauliches Uralt-Gestein in den Weg. DIE WELT, 22. 11. 1986
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36.
Andreas Hillgruber
So schwer nachzuvollziehen? Christian Meier (»Kein Schlußwort - Zum Streit um die NS-Vergangenheit« in der F.A.Z. vom 20. November) schreibt: »Was Hillgruber dazu bewogen haben mag, sich nachträglich mit den Verteidigern der Front in Ostpreußen zu >identifizieren<, wird wohl sein Geheimnis bleiben.« Ist es wirklich für einen deutschen Historiker (selbst wenn er wie Meier Althistoriker ist) so schwer nachzuvollziehen, daß sich der Autor eines Aufsatzes über den Zusammenbruch im Osten 1944/45 mit den Anstrengungen identifiziert, die deutsche Bevölkerung nicht nur in Ostpreußen, sondern auch in Schlesien, Ostbrandenburg und Pommern (der Heimat Meiers) vor dem zu schützen, was ihr drohte, und so viele Menschen wie möglich zu retten? Für mich sind Meiers Äußerungen (und die mancher Historiker-Kollegen) zu dieser Frage eine Bestätigung für die - nationalgeschichtlich schwerwiegende, resignierende - Feststellung von Alfred Heuß, es gehöre »die schwache Sensibilität über die wohl gravierendste Kriegsfolge« (das heißt die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und ihr Verlust) »zu den merkwürdigsten Phänomenen des derzeitigen Deutschlands. Es ist, wie wenn vielleicht ein Franzose an den Verlust von Indochina denkt.« [Leserbrief] FAZ, 29. 11. 1986
37.
Wolfgang J. Mommsen
Weder Leugnen noch Vergessen befreit von der Vergangenheit Über die Deutschen und ihre Nation / Die »Harmonisierung« des Geschichtsbildes gefährdet die Freiheit
Gerade eben hat Ernst Nolte die (. . .) Tendenzen der neohistorischen Richtung der Historiographie der Bundesrepublik, die sich gegen die 163
revisionistischen Positionen der vorangegangenen Jahrzehnte wenden, wohl unbeabsichtigt auf den Begriff gebracht, wenn er einer Stellungnahme in Die Zeit den Untertitel gibt: »Gegen den negativen Nationalismus in der Geschichtsbetrachtung«. Diese Reaktion gegenüber der Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte, insoweit als sich diese vorwiegend kritisch mit der deutschen Nationalgeschichte befaßte, ist teilweise auf politische Motivationen zurückzuführen. In der Tat hat sich Ernst Nolte seit einigen Jahren zunehmend besorgt darüber gezeigt, daß eine radikale kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit zugleich kritische Potentiale freisetzen könnte, die sich gegen die gesellschaftliche Ordnung in der Bundesrepublik selbst richten könnten. So hat sich Nolte in den letzten Jahren von dem Gebrauch eines umfassenden Faschismusbegriffs distanziert, wie er ihn anfänglich selbst in Umlauf gebracht hatte, weil sich die Neue Linke seit Ende der 60er Jahre des Faschismusbegriffs für eine neomarxistische Kritik westlicher Gesellschaften bedient hatte. Man wird gewißlich auch darin nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß Noltes neuerliche Bestrebungen, die nationalsozialistische Politik der Judenvernichtung in vergleichender universalhistorischer Perspektive zu sehen und dergestalt ihre Singularität zu reduzieren, dem gleichen Bedürfnis entspringen, einer einseitigen politischen Ausbeutung des Holocaust entgegenzuwirken. Freilich ist es nicht der Versuch, die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mit anderen Fällen von Genozid in Vergleich zu setzen, etwa der Ausrottung der armenischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei während des Ersten Weltkriegs oder mehr noch des sog. »Archipel Gulag«, also der Vernichtungspolitik der Bolschewiki gegenüber bestimmten Sozialgruppen oder des »great purge« der 30er Jahre, sondern als direkte Reaktion auf eine angebliche oder wirkliche Gefahr »asiatischer« Vernichtungspolitik des Bolschewismus zu interpretieren, die rechtens allerorten Protest geweckt hat. Es ist dies eine Erklärungsstrategie, die, wie immer ungewollt, von all denen als Rechtfertigung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen angesehen werden wird, die selbst noch im Ausstrahlungsbereich der extrem antisowjetischen Propaganda des Nationalsozialismus stehen. In einer eben erschienenen Replik auf diese Proteste hat Ernst Nolte diese Argumentation insoweit zurückgenommen, als nunmehr nur von einer rein psychologisch in Hitlers Vorstellungen, nicht in der historischen Wirklichkeit bestehenden Kausalität zwischen dem »Archipel Gulag« und der Politik der Judenvernichtung die Rede ist. Doch vermag diese Klarstellung nicht wirklich zu befriedigen. Gerade weil der 164
Nationalsozialismus sich gegenüber der deutschen Gesellschaft wahrheitswidrig als Retter vor dem Bolschewismus zu stilisieren vermocht hat, ist es unangebracht, die nationalsozialistische Gewaltpolitik durch Hinweis auf vergleichbare Vorgänge im Herrschaftsbereich des Bolschewismus zu rechtfertigen oder auch nur in ihrer Immoralität herabzumindern. In den gleichen Zusammenhang gehören die jüngsthin wieder aufgelebten Bemühungen, die Fehlentwicklungen der jüngeren deutschen Geschichte, gemessen am Vorbild der westeuropäischen Völker sowie der Vereinigten Staaten, aus der sogenannten deutschen Mittellage in Europa herzuleiten. Es ist dies ein Erklärungsmodell, das neorankeanischen Ursprungs ist und eindeutig eine antiliberale Tendenz besitzt; bekanntlich wurde die relative Rückständigkeit der deutschen Verfassungsverhältnisse im 19. Jahrhundert von zahlreichen Historikern insbesondere der neorankeanischen Schule mit dem Hinweis gerechtfertigt, daß die potentielle Bedrohung des Reiches durch rivalisierende Großmächte dieses dazu gezwungen habe, sich als autoritär geführter Machtstaat zu organisieren. Schon Max Weber hat demgegenüber auf die Überlegenheit parlamentarisch regierter Großstaaten in Kriegssituationen verwiesen, und die Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts haben dies vollauf bestätigt. In den gleichen Argumentationszusammenhang gehört, das Klaus Hildebrand jüngst die These wieder aufgenommen hat, wonach der Erste Weltkrieg primär auf den Zusammenbruch des sogenannten balance of power zurückgeführt werden müsse, und nicht so sehr auf die aggressiven Tendenzen, wie sie sich in der Epoche des Hochimperialismus, insbesondere im Deutschen Reich, aber auch in anderen europäischen Großstaaten, und nicht zuletzt auch bei den Mächten zweiten Ranges ausgebildet hatten. Von der herausragenden Verantwortlichkeit der deutschen Politik für die Auslösung des Ersten Weltkrieges ist denn auch nicht eigentlich mehr die Rede. Frontlinie der Kritik Über die relative Berechtigung solcher Argumentationen - sie alle enthalten, wie die meisten historischen Interpretationen, naturgemäß ein Körnchen Wahrheit, ohne deswegen schon richtig zu sein - kann man verschiedener Meinung sein. Über ihre Stoßrichtung in der gegenwärtigen geistigen Situation kann freilich kaum ein Zweifel bestehen; sie zielen darauf ab, die Frontlinie der Kritik an der jüngeren deutschen Vergangenheit gleichsam so weit zurückzunehmen, daß dem allgemei165
nen Publikum wieder eine unbefangene, oder doch wenigstens unbefangenere Identifikation mit der eigenen nationalen Vergangenheit ermöglicht werden soll. Damit soll keineswegs unterstellt werden, daß dies immer und in jedem Falle mit einer bewußten politischen Zielsetzung geschehe. Obschon dies, wie sich am Beispiel der Argumentation Michael Stürmers zugunsten der Begründung eines neuen, wenn nicht geschlossenen, so doch konsensfähigen deutschen Geschichtsbildes zeigen läßt (wir haben darauf schon hingewiesen), streckenweise unzweifelhaft der Fall ist. (. . .) Es fragt sich freilich, ob man gut daran tut, diese Tendenz in einem neokonservativen Sinn ausbeuten zu sollen, wie dies jüngsthin insbesondere Michael Stürmer gefordert hat, wenn er schrieb, daß »in einem geschichtslosen Lande« derjenige die Zukunft gewinne, »der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.« Allein, uns scheint, daß uns die Geschichte, und namentlich die eigene Nationalgeschichte, nicht in so beliebiger Weise zur Verfügung steht, wie es solche Äußerungen voraussetzen. Vielmehr stehen den Bestrebungen, wieder zu einem harmonischen deutschen Geschichtsbild zurückzufinden - unter partieller Ausblendung solcher Ereignisse und Ereignisketten, denen wir uns als Nation zu schämen haben -, unüberwindliche Hindernisse im Weg, die zu überspringen nur unter Verletzung des Grundsatzes intellektueller Aufrichtigkeit möglich wäre. (. . .) (...) Dies hat seit geraumer Zeit Stimmen laut werden lassen, man möge doch endlich einen Schlußstrich unter diese Dinge ziehen und nicht immerfort dazu angehalten werden, sich damit zu beschäftigen. Im politischen Felde hat der Versöhnungsakt von Bitburg ein solcher Schlußstrich sein sollen: Doch hat sich sogleich herausgestellt, daß es im Sinne intellektueller Redlichkeit einen solchen nicht geben kann, und daß uns jedenfalls andere Völker diesen nicht abnehmen würden. (. . .) (. . .) Es bleibt eine Tatsache, daß wir der Last der Vergangenheit durch persönliches Vergessen oder vermittelt persönlicher Nichtbetroffenheit kraft später Geburt nicht entgehen können. Ebenso ergibt es sich, daß sich diese Last auch nicht durch historische Neuinterpretationen wird wesentlich vermindern lassen. Andreas Hillgruber hat jüngst den Versuch unternommen, dem deutschen Ostfeldzug, oder genauer den verzweifelten Abwehrkampf des deutschen Ostheeres seit dem Sommer 1944, eine relative historische Rechtfertigung zuteil werden zu lassen, zum einen, weil es darum gegangen sei, 166
zu verhindern, daß die deutsche Zivilbevölkerung in die Hände der Roten Armee fiele, vor allem aber, weil die Verteidigung deutscher Städte im Osten mit der Verteidigung der westlichen Zivilisation überhaupt zusammengefallen sei. Bittere Wahrheiten Angesichts der alliierten Kriegsziele, die unabhängig von Stalins letzten Plänen die Zerschlagung Preußens und die Zerstörung der Abwehrposition eines starken preußisch geführten mitteleuropäischen Staates, der allein ein Bollwerk gegen den Bolschewismus hätte abgeben können, sei die Fortführung des Ostfeldzuges nicht nur aus der Sicht der Betroffenen, sondern, was wichtiger ist, auch aus heutiger Sicht gerechtfertigt gewesen, auch um den Preis des Weiterlaufens der gigantischen Mordmaschine des Holocaust, solange die Fronten noch einigermaßen hielten. Dieser Versuch kann, aus der Sicht eines demokratisch verfaßten, an westlichen politischen und moralischen Maßstäben orientierten Gemeinwesens, als äußerst problematisch bezeichnet werden. Wir kommen um die bittere Wahrheit nicht herum, daß die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland nicht nur im Interesse der von Hitler mit Krieg überzogenen Völker und der von seinen Schergen zur Vernichtung oder Unterdrückung oder Ausbeutung ausgesonderten Bevölkerungsgruppen lag, sondern der Deutschen selbst. Demgemäß sind zumindest Teile des gigantischen Geschehens des Zweiten Weltkrieges, soweit wir unmittelbar betroffen sind, schlechthin sinnlos, ja mehr noch selbstzerstörerisch gewesen. Dieser bitteren Wahrheit können wir letztenendes auch durch die - vielfach problematische - Zuweisung partieller Mitverantwortung an andere Partner dieses Geschehens nicht entgehen. (. . .) Dies bedingt aber, daß wir deutsche Geschichte nur in kritischer Weise, nicht in einem unkritisch-affirmativen Bewußtsein betreiben können. Erstes Gebot wird dabei sein müssen, die Geschichte der deutschen Nation in europäischem, ja in weltgeschichtlichem Zusammenhang zu sehen, statt, wie dies in der Vergangenheit so vielfach geschehen ist, in erster Linie in der Entgegensetzung zu anderen Völkern. In einer (. . .) langfristigen Perspektive erscheint es als eine offene Frage, ob das von Bismarck begründete Deutsche Reich wirklich den unabdingbaren Maßstab politischer Organisation der Deutschen abzu167
geben vermag, oder ob nicht gleichsam die Existenz einer Mehrzahl deutscher Staaten in der Mitte Europas der europäischen Normallage - wenn es eine solche in der Geschichte überhaupt gibt - viel mehr entspricht. In mancher Hinsicht scheint es, als ob mit der Entstehung zweier deutscher Staaten auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches und dem Wiedererstehen eines selbständigen Österreich die deutsche Geschichte in die Ära vor 1867 zurückgekehrt ist, m. a. W. der Existenz mehrerer Staaten deutscher Nation in der Mitte Europas. (...)
Darüber hinaus sollten wir uns eines weiteren Umstands bewußt sein. Mit der entschlossenen Westorientierung der deutschen Politik und des politisch-gesellschaftlichen Bewußtsein in den 50er und den 60er Jahren, die die Begründung der Bundesrepublik und ihre staatliche Konsolidierung begleitete, optierten die Deutschen zugleich für eine Neuorientierung auch ihres historisch-politischen Bewußtseins, nämlich einer bewußten Abwendung von Teilen der deutschen historischen Tradition, nicht im Sinne einer Verdrängung, sondern der Option für politische Vorbilder, wie sie uns in Westeuropa und namentlich die Vereinigten Staaten vor Augen standen. Es geschah dies nicht, um die Last der Geschichte von unseren Schultern abzuschütteln. Vielmehr entschlossen sie sich, im Wissen um diese historische Belastung, künftighin einen neuen, konstruktiven Weg zu gehen, der uns nicht erneut mit unseren westlichen oder östlichen Nachbarn in unlösbare Konflikte hineinführen würde. Wir haben allen Grund, an diesem Kurs festzuhalten. (. . .) (...) Statt dem heute vorherrschenden Bedürfnis nach einer Harmonisierung unseres Geschichtsbildes nachzugeben, sollten wir uns der Pluralität der politischen, kulturellen und religiösen Gestaltung auf deutschem Boden bewußt bleiben. Dem entspricht, daß die deutsche Geschichte auch heute von einer Vielfalt unterschiedlicher politischer Gesichtspunkte ausgedeutet wird und daran sollte man nicht rühren. Vielmehr würde der Verlust des Prinzips der freien Konkurrenz unterschiedlicher Geschichtsbilder einer wesentlichen Einbuße von Freiheit gleichkommen, und die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik, die durch die Wiederbelebung eines sozusagen »deutscheren« Geschichtsbilds gestärkt werden soll, wirklich in Gefahr bringen. FR, 1. 12. 1986
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Kurt Pätzold
Von Verlorenem, Gewonnenem und Erstrebtem oder: Wohin der »neue Revisonismus« steuert (...)
Wer das Jahr 1945 als das der Befreiung auch des deutschen Volkes von der faschistischen Herrschaft begreift, zieht aus dieser Erkenntnis andere Schlußfolgerungen als derjenige, der sich das seinerzeitige Geschehen als eine nationale oder gar europäische Katastrophe einreden läßt. (. . .) (S. 1453) Mit zeitlichem Abstand zur Rede Richard von Weizsäckers wurde im Frühjahr 1986 ein neuer Anlauf genommen, der sich auf das gleiche alte Ziel richtete. Die vorgetragenen Kernthesen sind nicht völlig neu. Andreas Hillgruber hat sie in einem Büchlein (Siedler-Verlag, Berlin 1986) dargetan, in dem nicht mehr und nicht weniger erstrebt wird als die .Neubewertung der Rolle des 1871 gegründeten Deutschen Reiches und - noch weiter zurückgreifend - auch der des preußischen Staates und der in ihm herrschenden feudalen Junkerkaste, (ebd.) Dieses Deutsche Reich habe in den siebeneinhalb Jahrzehnten seiner Existenz in Mitteleuropa als eine Art Ordnungs- und Verbindungsmacht gewirkt und für »das übrige Europa« eine Vermittlerrolle »zwischen Baltischem und Schwarzem Meer gespielt«. Als geographisch-politische Basis dieses Vermittlertums hätte insbesondere der deutsche Osten, namentlich heute zur Volksrepublik Polen und der UdSSR gehörende Gebiete, gedient. (. S 1454) Die Argumente für diese Konstruktion sind noch nachzuliefern. Aus den tatsächlichen Geschichtsprozessen dürften sie nicht zu gewinnen sein. Die Behauptung aber steht klar vor uns: Europa wäre heil und in Ordnung geblieben, wenn das Deutsche Reich 1945 überdauert hätte und Ostpreußen, Pommern und die anderen preußischen Provinzen in seinem Osten ihm belassen worden wären. So aber sei 1945 ganz Europa »der Verlierer der Katastrophe« gewesen. Demnach begannen die Katastrophen in der europäischen Geschichte nicht 1938, als Österreich einem politisch-militärischen Handstreich zum Opfer fiel, sie setzten sich nicht 1938/39 fort, als die Tschechoslowakische Republik in zwei Etappen liquidiert wurde, sie ereigneten sich nicht zwischen 1939 und 1941, als es den deutschen Faschisten und deren Verbündeten gelang, neun europäische Staaten von der Landkarte dieses Kontinents 169
zu tilgen und ihre »Generalgouvernements«, »Reichskommissariate« und »Militärbezirke« zu errichten, sie vollzogen sich auch nicht, als Großbritanniens Städte im Schutt zu versinken drohten, sie geschahen nicht, als die Naziwehrmacht die UdSSR überfiel. Nein und abermals nein, die Katastrophe Europas datiere von 1945, als »mit dem Reich . . . zugleich die ordnende Mitte Europas zerstört« worden sei, und sie rühre aus Urteilen, Entscheidungen und Handlungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs her, nicht aus den Plänen und den zu ihrer Verwirklichung vollbrachten Untaten des faschistischen deutschen Imperialismus, (ebd.) (...)
(. . .) Seitdem die Rote Armee 1944 die Grenze des Deutschen Reiches in Ostpreußen überschritt, so die Behauptung Hillgrubers, habe der Krieg im Osten einen Verteidigungscharakter angenommen. Von da an seien die Befehle der Nazigenerale und die der staatlich-beamteten Nazibonzen im Osten darauf gerichtet gewesen, »die drohende Orgie der Rache der Roten Armee an der deutschen Bevölkerung« zu verhindern. (S. 1455) In Wahrheit taten besagte Militärs in den feldgrauen und schwarzen Röcken und die uniform- oder zivilgekleideten regionalen oder lokalen Nazigrößen, indem sie die Verteidigung auch des letzten Steinhaufens, Waldstreifens oder Gebüsches verlangten, exakt das, was ihnen aus dem Führerbunker tagaus und tagein befohlen wurde - soweit ihnen die Kriegshandlungen der Roten Armee dazu noch die Möglichkeit ließen. In der Sicht des »neuen Revisionismus« erscheinen diese Durchhalte- und Endsiegstrategien nicht in der Rolle der verlängerten Arme und ausführenden Organe der faschistischen Macht, sondern als »Verantwortungsethiker«, die, geleitet von dem einzigen Gedanken an das Wohl und Wehe der deutschen Zivilbevölkerung, nun einen an deren Interessen orientierten Mittelweg zwischen Führerbefehlen und eigener Kriegspolitik gesucht, gefunden und beschritten haben. Während das faschistische System in Wahrheit als ein Ganzes weiterfunktionierte, längst nicht mehr so perfekt wie 1939 oder 1941, aber als ein Ganzes, zerhackstückt diese Geschichtsbetrachtung es, um mit den einzelnen Teilstücken beliebig hantieren zu können. Hitler - jenes Geschichtssubjekt, von dem gerade auch die Verfechter des »neuen Revisionismus« stets mit soviel Vorliebe handeln - verschwindet ebenso wie der nach wie vor die Kriegsproduktion ankurbelnde Speer, der nicht nur durch Worte zum »Endsieg« treibende Goebbels und mit ihnen die ganze zentrale Macht, stehen sie doch einer Sicht im Wege, die den einzelnen militärischen Kommandeur, den einzelnen Landrat, 170
den Bürgermeister eines Krähwinkels zu zentralen Handlungsfiguren erhebt. Warum? Damit sich der Bundesbürger auf dem Wege über die Erkenntnis von deren vorgeblich ganz autonomer »verantwortungsehtischer« Tat mit dem ganzen Krieg zumindest in dieser Endphase »identifizieren« kann, (ebd.) Objektiv falsch, ist diese Betrachtungsweise auch subjektiv und moralisch hohl. Waren diese militärischen und zivilen Machthaber des Faschismus, in deren Haut Hillgruber gekrochen ist und in deren Inneres er auch seine Leser nachlocken möchte, nicht eben noch diejenigen, die auf sowjetischem Territorium und in so vielen anderen Staaten Europas an Verbrechen beteiligt oder doch in sie verstrickt gewesen waren? Hatten die Landräte und Bürgermeister nicht ihre Rolle im Ausbeutungsprozeß der Kriegsgefangenen und Zwangsverschleppten gespielt? Hatten sie nicht geholfen, deutsche Antifaschisten und Kriegsgegner an die Gestapo und die Justiz auszuliefern? Waren sie nicht freiwillig die Statthalter der faschistischen Macht auf den mittleren und unteren Stufen? Diesen und keinen anderen Platz nahmen sie bis in die letzten Monate und Wochen des Krieges ein, soweit ihnen dazu Zeit und Gelegenheit gelassen wurde. (S. 1456) Der »differenzierenden« Geschichtsbetrachtung entgeht auch, daß im Sommer 1944 und von da an immer deutsche Arbeiter, Bauern und Mittelständler den Krieg einfach satt hatten, sein Ende und mit ihm die Rückkehr zum Leben und zu friedlicher Arbeit wünschten. Das ist ebenso erinnerungswürdig wie die komplementäre Tatsache, daß dieses Wünschen für sich genommen nichts bewirken konnte, zumal der Druck der Machthaber oben und ihrer Werkzeuge unten auf den »gemeinen Mann« ideologisch, psychisch und offen terroristisch noch stärker wurde. Die Identifizierung mit den Befehlshabern des »Ostheeres«, die stete Verwendung eben dieses Begriffs ist schwerlich funktionslos, und mit den »Landräten« und »Bürgermeistern« - begrifflich milde Kennzeichnungen für die Autoritäten des Nazistaates und der Nazipartei -, schließt die Parteinahme für die deutschen Soldaten aus, die im letzten Kriegsjahr in immer größerer Zahl Opfer der wütenden Wehrmachtsjustiz und der kurzen Prozesse wurden, die man ihnen wegen angeblichen Verrats an »Führer, Volk und Vaterland« machte. Nicht zu reden von den deutschen Antifaschisten . . . (ebd.) (...). Wie sehr sich in der faschistischen Führung die Meinungen über das Kommende auch auffächerten, gemeinsam war und blieb den Durchhaltestrategen die Absicht, vom eigenen Machtbereich als Faustpfand gedachter politischer Winkelzüge so viel wie möglich zu erhalten und 171
jeden Quadratkilometer eigenen Gebiets zu behaupten. Wo man sich zurückziehen mußte, sollten dem Gegner weitgehend menschenentleerte und - namentlich im Osten - verwüstete Gebiete überlassen bleiben, die seine Kriegshandlungen maximal erschwerten. In diese Generalpläne gehört die Deportation der deutschen Bevölkerung aus den östlichsten Gebieten in Richtung Reichsinneres. Diese Praxis läßt sich in der Geschichte von Kriegen übrigens sehr weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Dem militärischen Gegner Menschen nicht zu überlassen, die ihm freiwillig oder erzwungen, direkt oder indirekt zu Hilfskräften werden konnten, und statt dessen die eigene demographische Potenz zu erhalten, mit deren Sinken doch stets jedwede Erfolgsaussicht schwand - dieser Grundsatz war auch keine faschistische Erfindung. Die Deportation der deutschen Bevölkerung aus den östlichen Provinzen sollte unmittelbar der eigenen Wehrmacht freien Kampfraum schaffen, den eigenen Offizieren und Soldaten zudem die Gewißheit geben, daß ihre persönlichen Angehörigen in Sicherheit seien und also fanatischer Dumpfheit und Stumpfheit des Weitermachens ungehindertes Betätigungsfeld öffnen. (S. 1457) Das tief verlogene Schreckbild vom Bolschewismus, in Deutschland seit 1917 propagiert, war die ideologische Stütze dieser Vertreibungspolitik an der eigenen Bevölkerung. Doch sie reichte mitunter allein nicht aus, um im Winter 1944/45 die Menschen in die Eiseskälte auf unsichere Wege zu treiben. Wer in der Gewißheit, daß er früher oder später doch in einem von den alliierten Truppen besetzten Gebiet würde leben und die Folgen faschistischer Politik würde mittragen müssen, bleiben wollte, wo er eben war, dem wurden auf faschistiche Manier Beine gemacht - durch eben jene Bürgermeister, Ortsgruppen, Blockund Zellenleiter der Nazipartei, die noch immer funktionierenden Instrumente der Reichszentrale. Wo die Militärbefehlshaber aber entschieden hatten, »Festungen« zu verteidigen, da hörte - wie im Falle der schlesischen Stadt Breslau der Vertreibungsdruck an einem bestimmten Punkte plötzlich auf, denn es wurden Frauen und Kinder gebraucht, um Barrikaden zu bauen, Menschen mit der Fähigkeit, die Elektrizitäts-, Wasser- und Gasversorgung aufrechtzuerhalten, Arbeiter, die (ebd.) nur wenige Kilometer hinter der Front Kriegsgerät reparieren konnten. Es regierte der Pragmatismus der Kriegsverlängerer, die das deutsche Volk in immer tieferes Elend stürzten. (S. 1458) Wie Hillgruber Befehlshabern der Naziwehrmacht die Gloriole der Verteidiger der Frauen und Mütter reicht - das tat auch schon die Nazipropaganda jener Tage -, wie er »jedermann von der Aufgabe be172
herrscht« sieht, »zu retten, was noch zu retten war«, so entwirft er von der Roten Armee das Bild einer Rächerhorde. Der Ruf »Die Russen kommen« sei »zum Schreckensfanal im ganzen Osten« geworden. Wahr ist, daß nicht nur im Osten des einstigen Reichsgebiets die übergroße Mehrheit der Deutschen das Herannahen der Alliierten auch fürchtete. Sie fürchteten die »Russen« mehr als die Franzosen, und diese wieder mehr als die Amerikaner. Jeder deutsche Zivilist, von den Soldaten auf dem Territorium der UdSSR schon nicht zu reden, hatte in den faschistischen Wochenschauen jahrelang mit eigenen Augen sehen können, was seit dem 22. Juni 1941 in diesem Lande an Verwüstungen angerichtet worden war. Es war noch gezeigt worden, wie die Abziehenden Fabrikschornsteine auf Fabrikschornsteine, Wässerturm auf Wasserturm sprengten. So unvollständig Wissen und Vorstellung dieser Mehrheit noch darüber war, was im Osten verbrochen worden war, so besaß sie doch eine Ahnung davon, daß ihr wenig Lebensmöglichkeit bleiben würde, wenn die Rote Armee nach dem Grundsatz »Auge um Auge . . . « verfahren würde, (ebd.) (...)
Hillgruber entwirft indessen nicht nur ein Gesamtbild der Roten Armee, das die einfache Tatsache verstellen möchte, daß sie sich in ihrer Gesamtheit gerade nicht an die biblische Devise hielt, sondern nach dem Grundsatz handelte, daß »Hitler«, aber nicht das deutsche Volk zu vernichten sei. Er dichtet der UdSSR für einen nicht benannten Zeitpunkt »in der stalinistischen Epoche« generelle »Kriegsvorstellungen« an, die »barbarische Züge« besessen hätten. Ohne die Spur eines Beweises, ohne den Verweis auf einen einzigen Beleg aus der sowjetischen Militärdoktrin der 30er und 40er Jahre, ohne eine Zitatstelle aus einem Befehl oder einer Weisung des Oberkomanndos der Roten Armee aus den Kriegsjahren selbst werden Behauptungen aufgestellt, die einzig zeigen, daß dieser »neue Revisionismus« mit seinen Verwandten (ebd.) und Vorläufern auch gemein hat, daß er das Geschichtshandwerk herunterwirtschaftet. (S. 1459) Die neurevisionistische Sicht auf das letzte Kriegsjahr bekennt sich unumwunden zur Fortsetzung des vom Standpunkt der deutschen Volksinteressen immer sinnloseren Widerstands bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone. Erwägungen in Kreisen faschistischer Militärs, »dem Schrecken des Krieges ein Ende« zu bereiten, werden zurückgewiesen. Nur der »etappenweise Rückzug«, der teils erzwungen, teils halbfreiwillig erfolgt wäre - was auch eine beschönigende Darstellung des wirklich Geschehenen bietet-, sei das richtige und vertretbare Konzept gewesen, denn es habe »die Ausmaße der Katastrophe« ver-
kleinen. Darin drückt sich nicht nur eine Absage an die Militärs und Zivilisten aus, die innerhalb der vielschichtigen »Bewegung des 20. Juli 1944« die patriotische Strömung bildeten, den Krieg beenden wollten und einen Frieden mit und nach allen Seiten erstrebten. Man fragt sich, wo in dieser Gedankenwelt eigentlich die Hunderttausende deutscher Soldaten figurieren, die auf diesen »etappenweisen Rückzügen« ihr Leben verloren oder ihre Gesundheit einbüßten? Wo sind in diese Betrachtung die Opfer des Luftkriegs eingeordnet, die in den deutschen Groß- und Mittelstädten bis in die letzten Kriegswochen hinein umkamen? Sie bleiben außerhalb der anempfohlenen »Identifikation«. (. . .) (ebd.) 1945 kehrte der Krieg, der von Deutschland ausgegangen war, den der deutsche Imperialismus nur in der Gewißheit der wie immer beschaffenen Gefolgstreue der Mehrheit der Deutschen hatte entfesseln können, nach Deutschland zurück. Die Gefolgschaft - und das heißt hier in sehr unterschiedlichem Grade auch: Mittäterschaft - hatte ihren Preis. Von niemandem war darauf eindringlicher hingewiesen, davor leidenschaftlicher gewarnt worden, als von den deutschen Kommunisten. Davon überzeuge man sich an Reden (ebd.) und Aufzeichnungen Wilhelm Piecks bis in das letzte Kriegsjahr hinein. Dieser Preis war von den Deutschen selbst noch zu begrenzen, wenn sie in beachtlicher Zahl und mit durchschlagender Wirkung einen Beitrag zur Zerschlagung des Naziregimes hätten leisten können und wollen. Das ist eine bittere geschichtliche Wahrheit. Sie erinnert nicht nur an Versäumtes. Ihr kann eine aktuelle mobilisierende Wirkung abgewonnen werden . . . (S. 1460) Die Entdeckung hingegen, daß die Kämpfe an der Ostfront 1944/45 nicht mehr - wie gerade auch neurevisionistische Historiker verkürzend und wesentliche Zusammenhänge vernachlässigend gewöhnlich formulieren - »Hitlers Krieg« zugehörten, sondern einem frei erfundenen Krieg in nationalem deutschem Interesse zuzuordnen seien, gipfelt in der These: »Aber in eben dieser Situation (seit der Krieg auf deutschem Boden geführt wurde; d. Verf.) rang das deutsche Ostheer doch auch . . . mit seinem verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches«. Hier ist an Vokabular alles versammelt, was an das Zeitgenössische erinnert: das »Ringen« und der »Abwehrkampf« und die »Großmacht«. Doch wichtiger ist, daß sich nach spaltenlangen Erörterungen, die in gestanzten Wiederholungen stets nur von der Rettung vor der »Überflutung« durch die Rote Armee gehandelt hatten, nun doch ausdrückt, warum Hunterttausende deutscher Soldaten und Zivilisten 174
1944/45 wirklich umkamen, verkrüppelt oder sonst um ihre Gesundheit gebracht, warum weitere Hunderttausende zu Witwen und Waisen gemacht wurden: weil der deutsche Imperialismus, der bei dem Griff nach der Weltmacht ein zweites Mal gescheitert war, wenigstens eine gemessen an den ursprünglichen Zielen sehr begrenzte - eigenständige »Großmachtstellung« behaupten wollte. Wie schon gesagt: Finanzkapital, Großargrarier, Militaristen wollten so billig wie möglich aus dem Kriege aussteigen - mindestens oberhalb der Großmachtschwelle, geographisch von der Maas bis an die Memel. Der »neue Revisionismus« will diese damals unerreichbaren Dimensionen offenbar bewußthalten. (. . .) (ebd.) So kann auch kein Irrtum darüber aufkommen, daß dieser »neue Revisionismus« eng mit einer bestimmten Politik verbunden ist. Diese Verbindung wird in dem Gespräch greifbar, das Hillgruber als den Fragenden und Helmut Kohl als den Antwortenden zusammenführte und das wiederum die »Welt« (vom 1. 10. 1986) abdruckte. Nicht anders als der Geschichtslehrer sah auch der Bundeskanzler mit dem Blick auf das Kriegsende viele Helden des deutschen Volkes »in der Zeit der Luftangriffe und der Bunker, als die Todesnachrichten von der Front kamen«. Damit waren nicht die Helden gemeint, die uns beispielsweise in Peter Weiss' Roman »Ästhetik des Widerstands« begegnen, jene, die nächtens in dem von »Christbäumen«, Scheinwerfern, Mündungsfeuern und Bränden erleuchteten Berlin antifaschistischen Widerstand leisten. Nicht von jenen wenigen, die im Schatten von Fallbeil und Galgen widerstanden (ebd.), ist die Rede, sondern von jener Mehrheit, die lange Instrument der faschistischen Diktatur war, es auch in der Endphase des Regimes blieb, nun aber zunehmend zugleich deren Opfer wurde. Mit Bezug auf diesen Teil des deutschen Volkes, namentlich die deutschen Frauen, heißt es, daß »damals wirklich unzählige Heldinnen unterwegs gewesen« seien, es habe eine phänomenale Pflichterfüllung geherrscht. Da findet es sich wieder, jenes »differenzierende«, in Wahrheit zerhackstückte Geschichtsbild, das deutsche Mütter jenseits des imperialistischen Krieges sich verhalten läßt, einzig besorgt um ihre Kinder und deren Uberleben. Doch die arbeitenden Mütter mußten nach Luftangriffen und nach Todesnachrichten an ihre Arbeitsplätze in der Rüstungsproduktion oder zu anderer für kriegswichtig erklärter Tätigkeit, und sie taten das auch. Für wen? Für wessen Profite? Um welcher Ziele willen? »Differenzierung« fragt danach nicht. Und wie Hillgruber der Kampfkommandant, der seine »Leute« an einem Brükkenkopf »verheizt«, ein Deutscher ist, mit dem man sich 1986 identifizieren soll, so ist es seinem Gesprächspartner die »Generation der 175
Mütter«, die nicht darauf verfallen sei, »zum Psychiater zu gehen«. Dieser Geschichtsbetrachtung liegt die Idee meilenfern, daß auch der Gang zum Arzt von Hunderttausenden ausgebeuteter und geplagter deutscher Frauen eine denkbare, kriegsverkürzende und damit Leben rettende Form passiven Widerstands hätte sein können. Sie hat sich als Massenerscheinung nicht zugetragen. Das Lob aber für den unterlassenen Weg zum »Psychiater« läuft auf nichts anderes als auf die Parteinahme für das Aus- und Durchhalten hinaus . . . (S. 1461) Ubereinstimmung ergab sich während des erwähnten Gesprächs auch im Hinblick auf den Versuch, den sozialen Charakter des Krieges vollständig unkenntlich zu machen. Die Formel »Hitlers Krieg« scheint dafür allein nicht mehr zu genügen. Mit Staunen und mit Entsetzen liest man die Formulierung, die auf die Frage, was denn zur deutschen Geschichte gehöre, u. a. antwortet: »Die Rache, die im deutschen Namen in Polen und anderswo geübt wurde.« Als der deutsche Imperialismus, den Zweiten Weltkrieg entfesselnd, am 1. September 1939 in Polen einfiel, da hätten seine Soldaten irgendetwas, was den Namen »Rache« verdiente, verübt? Wofür sollte das geschehen sein? Für das Diktat von Versailles? Für die 1918 erfolgte polnische Staatsgründung, die - wie gut oder wie schlecht ihr Resultat - doch eine Basis schuf, auf der das slawische Volk seine sozialen Interessen gegen die herrschende kapitalistisch-großagrarische Reaktion noch verfechten und durchsetzen mußte? Und was kann unter »Rache«, die »anderswo« geübt wurde, verstanden werden? Im Hinblick auf die Tschechen, die Dänen und Norweger, die Niederländer, Belgier und Luxemburger, die Franzosen, Griechen und Jugoslawen, die Völker der UdSSR? (ebd.) Wenn Worte schon keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, denn die Wirklichkeit war der mit barbarischen Mitteln unternommene Versuch zur »Neuordnung Europas« gemäß den Herrschaftsund Profitinteressen des (ebd.) deutschen Finanzkapitals, so haben sie doch einen Zweck. Diese revidierte Sicht auf den Zweiten Weltkrieg ist darauf aus, die realen Triebkräfte und Ursachen des Krieges tief zu verbergen. Sie liefert statt dessen ein verschwommenes Bild eines Geschehens von Rache und Gegenrache, das - im harmlosesten Fall - ein Gefühl des In-die-Geschichte-Geworfenseins erzeugen und in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden einzig Ohnmachtsbewußtsein verbreiten kann. (S. 1462) (. . .) Die Formel von der »Rekonstruktion der europäischen Mitte« gehört - wie in der Diskussion schon bemerkt worden ist - zum »geopo176
litischen Tamtam«, dessen Spur sich in Deutschland im Wirken der Unfriedfertigen zurückverfolgen läßt. Vieles deutet darauf hin, daß ihr realer Gehalt sich auf die alte Absicht reduziert, die kapitalistischen Zu- und Mißstände in Europa wieder bis vor die Grenzen der UdSSR herzustellen. Da scheint sich auch die Erörterung einzuordnen, was zu Europa gehöre. Die Antwort aus dem in Rede stehenden Gespräch sei vollständig zitiert: »Zu Europa, wie ich es verstehe, gehören die Schweiz und Österreich, gehören Polen, die Tschechoslowakei, gehören Krakau, Weimar und Dresden, um nur einige Länder und Städte zu nennen. Da wir als Deutsche in der Mitte leben, müssen wir schon aus Gründen der Statik darauf achten, daß beispielsweise auch die iberische Halbinsel und die skandinavischen Länder ihr Gewicht in Europa entfalten . . . Wenn Sie in Leningrad durch die Erimitage gehen und die Bilder betrachten, dann sind Sie mitten in Europa.« Diesem Europaverständnis, dies sei zunächst festgestellt, gebricht es an Fähigkeit, bei der Aufzählung der Staaten in der Mitte Europas die Deutsche Demokratische Republik mitzunennen, statt dessen werden in quasi sprachlicher Variation »einige Städte« aufgezählt. Zu fragen aber ist vor allem: wo ist ein Besucher Leningrads, der sich nicht in der Erimitage aufhält und die dort ausgestellten Bilder betrachtet, sondern der - sagen wir - seinen Blick auf den Panzerkreuzer »Aurora« richtet? Befindet sich der auch »mitten in Europa« oder wird der an eine »asiatische Tat« erinnert? Kurzum: das Jonglieren mit den geopolitisch ausgedeuteten Begriffen »Mitteleuropa« und »Europa« nicht anders als die Verwendung von Begriffen aus der Technik (»Statik«), mit der die wirklichen geschichtlichen und aktuellen Zustände nicht eingefangen werden können, lenken von Realitäten ab, mit denen sich nicht abfinden kann, wer Deutschlands »Großmachtstellung« nachtrauert. (. . .) (ebd.) Blätter für
deutsche
und
internationale
Politik,
Heft
12/1986
(S.
1452-1463)
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39.
Ulrike Hörster-Philipps
Kernfrage des bundesdeutschen Historikerstreits Während Ärzte und Naturwissenschaftler sich weltweit mit den Folgen eines Atomkrieges befassen und sich und ihre Wissenschaft der Nuklear- und Weltraumrüstung verweigern, während sich Pädagogen und Sportler, Psychologen und Künstler auf Fachtagungen und Veranstaltungen ihrer persönlichen und fachspezifischen Verantwortung für die Friedenssicherung und die nukleare Abrüstung stellen, ist unter bundesdeutschen Historikern ein anachronistisch anmutender Streit um die Frage ausgebrochen, wie die Verbrechen des deutschen Faschismus zu erklären und wo die Ursachen für den zweiten Weltkrieg zu suchen sind. Unpolitisch, wie sich die rechtskonservative Spezies der Profession gemeinhin zu geben pflegt, leugnet sie auch hier die politische Funktion und die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns (. . .). Die Thesen, die in dieser Debatte vorgetragen werden, sind trotz aller vordergründigen Dementis ebenso politisch wie zweckbestimmt. Neu sind sie indes nicht. Was da im schillernden Gewände einer identität- und sinnstiftenden Interpretation der jüngsten deutschen Geschichte einherkommt, ist seit Jahren, manches seit Jahrzehnten, bekannt; seine Wurzeln reichen teilweise bis in die Nazizeit selbst zurück. Aber es handelt sich um weit mehr als um eine saisonbedingte Neuauflage abgegriffener Thesen im Zeichen der Bonner Wende. Die Historikerdebatte trägt in ihrer Gesamtanlage, in ihren inhaltlichen Akzentsetzungen und in ihrer - gewollten oder zufälligen - Inszenierung über mehr als ein halbes Jahr hinweg qualitativ neue Züge, bereitet den Weg für neue Dimensionen der politischen Diskussion. Von der Friedensbewegung bislang nahezu unbeachtet, fordert diese keineswegs »historische« Debatte genaueste Beobachtung, setzt sie sich doch aus weltanschaulichen Bausteinen zusammen, die weit über tagespolitische Erfordernisse der Hochrüstungs- und Wendepolitik hinausreichen und Weichenstellungen für die Zukunft vornehmen. Es handelt sich keineswegs um einen Meinungsstreit unter Fachwissenschaftlern, sondern um eine hochpolitische Diskussion um politischideologische Grundfragen nicht nur der Vergangenheitsbewältigung, sondern der Zukunftsgestaltung. Derjenige, der die Zweckbestimmtheit historischer Deutung insbe178
sondere der jüngsten deutschen Geschichte am offensten zugibt und am präzisesten benennt, ist der Erlanger Historiker und Kohl-Berater Michael Stürmer. Noch bevor die Debatte mit einem von Ernst Nolte verfaßten, aber nicht gehaltenen Vortrag in der FAZ am 6. Juni sozusagen offiziell eingeläutet wurde, formulierte er im gleichen Organ, daß »die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«. Und, seinem eigenen Anspruch nach politischer Orientierung nachkommend, skizzierte er auch gleich den Rahmen, innerhalb dessen die Gegenwartsbewältigung und die Zukunftsgewinnung stattzufinden habe: »Die Bundesrepublik hat weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung. Sie ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems.« (FAZ, 25. 4. 86) (. . .) Das tatsächliche Problem ist - aus der Sicht der Rechtskonservativen - ein völlig anderes, diametral entgegengesetztes. Es soll nicht die beklagte »Geschichtslosigkeit« (zu der ja in der Tat gerade diese Kräfte jahrzehntelang durch Totschweigen und Ausblenden der NSVergangenheit beigetragen haben) getilgt werden, sondern im Gegenteil, die Relikte einer von Antifaschismus und unmittelbarer Kriegserfahrung geprägten oder eines durch die fortschrittlichen Inhalte der Bildungsreform vermittelten Geschichtsbewußtseins, das stets nach den gesellschaftlichen Ursachen von Faschismus und Krieg fragt. Nicht die »Suche nach der verlorenen Geschichte« (Stürmer), sondern die Dienstbarmachung der Geschichte für zeitgemäße Kapitalund Großmachtinteressen, die »Umschichtung des historisch-politiischen Denkens« (Hans Mommsen in: Merkur 451/452, 1986) ist Angelpunkt und Ziel der Historikerdebatte. (. . .) Die Debatte wäre - wissenschaftlich unhaltbar und moralisch unvertretbar - längst im Sande verlaufen, stünde nicht an ihrer Wiege eben jene politische Zweckbestimmtheit, die ihre Verfecher so eloquent verleugnen. Schon immer hatte die Rehabilitierung des Faschismus und seiner Verbrechen eine ganz besondere Bedeutung, rührte sie doch an Grundfragen der gesellschaftlichen Wurzeln von Unterdrückung, Terror und Krieg. Jahrzehntelang haben Historiker, Publizisten und Politiker des rechtskonservativen Lagers nichs unversucht gelassen, um die Geschichte der Entstehung der Herrschaftsausübung und der Folgen des deutschen Faschismus mittels verschiedener Interpretationsvaraianten zu entstellen und historisch-politische Lehren zu verhindern: Der Faschismus wurde durch personalisierende Betrachtungsweise seiner gesellschaftlichen Ursprünge entkleidet, durch relativierende Ver179
gleiche der Naziverbrechen mit anderen Verbrechen oder gar mit den Kriegsfolgen wie »Flucht und Vertreibung« verharmlost, ins Irrationale abgedrängt oder einfach totgeschwiegen. Der jüngste Historikerstreit enthält all diese Bestandteile, aber er beschränkt sich nicht mehr darauf. Der Zusammenhang von Faschismus, Imperialismus und Krieg wird nicht nur gänzlich aufgelöst, sondern ins Gegenteil verkehrt. Der deutsche Faschismus und die schlimmsten seiner Verbrechen, der planmäßige, industrialisierte Massenmord und die Entfesselung des zweiten Weltkrieges werden aus einem dem Faschismus völlig entgegengesetzten sozialen System abgeleitet, die Sowjetunion und das sozialistische Gesellschaftssystem werden als eigentliche Ursache für Krieg und Genozid angeprangert. Es bleibt nur eine politische Konsequenz, die von den sich wertfrei gerierenden Historikern schon deshalb nicht gezogen zu werden braucht, weil sie sich unmittelbar aufdrängt: Der Sowjetunion und dem sozialistischen Lager muß unser aller Argwohn gelten, sie war Herd und Ausgangspunkt der grausamsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, beutegierig und aggressionsbereit und trotz aller Friedensbeteuerungen und Verträge stets bereit zum Krieg, ja zum Erstschlag. Das ist die Bewährungsstunde der Bundesrepublik im »Verteidigungsbogen des atlantischen Systems«. Nur die Wehrhaftigkeit gegen den potentiellen Gegner bietet aus diesem Blickwinkel die Garantie für die eigene, bundesdeutsche Sicherheit, nur die Aufrüstung Schutz vor möglichen Erstschlägen des Gegners. Nicht Kooperation im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich und die Entwicklung vertrauensvoller zwischenstaatlicher Beziehungen, nicht Verhandlungen und die konstruktive Ausgestaltung des KSZE-Prozesses, nicht Rüstungsbegrenzung, Abrüstung oder gar rüstungsfreie Zonen, sondern die Erlangung militärischer Stärke und Überlegenheit ist die Quintessenz eines solchen Denkens. Die Vergleiche, die Bundeskanzler Helmut Kohl über Gorbatschow und Goebbels anstellte und seine nachfolgenden verbalen Angriffe auf die DDR sind nicht zufällig, sondern Bestandteile einer solchen Politik der Konfrontation, diesmal nicht im pseudowissenschaftlichen, sondern im tagespolitischen Gewand. (. . .) Belege dafür sind auch die umfangreichen und äußerst langfristig angelegten Versuche, mittels Museen, Häusern für Geschichte und Mahnmalen den Gedanken der Aussöhnung mit den Nazitätern - politisch realisiert in Bitburg zum 8. Mai 1985 - voranzutreiben und anstelle der kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen 180
Geschichte eine emotionalisierte Suche nach der »deutschen Identität« zu setzen, die in ihrer Suche nach vergangener Größe eher die Gewähr der Nutzbarmachung für aktuelle und perspektivische Großmachtansprüche bietet. Daß dieses »neue« Geschichtsbild mit einer solchen publizistischen Intensität vorgetragen wird, hat spezifische Gründe. (. . .) Festgefahrene ideologische Fronten brechen auf, und während die USA-Regierung starr an der Rüstungspolitik festhält, entwickeln sich Hoffnung und Vertrauen breiter Kreise in den westlichen Ländern in die Friedens- und Abrüstungsbereitschaft der Sowjetunion. Die Friedensbewegung ist weltweit zu einer politik- und geschichtsbeeinflussenden Kraft angewachsen. Neues Denken beginnt Platz zu greifen bis in die Kreise derjenigen hinein, die in den letzten Jahrzehnten zu den gesellschaftlichen Bastionen des Großmachtstrebens und der Abschreckungsdoktrinen aller Art in den hochgerüsteten westlichen Staaten zählten (. . .). Gegen all dies, was sich politisch neu entwickelt, was sich an neuen Sicht- und Denkweisen herausbildet, sollen Pflöcke gesetzt werden. Die Historikerdebatte ist ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Pflock in dieser langfristig angelegten ideologischen Strategie. (...) Längerfristig, so darf man vermuten, haben die Initiatoren des Historikerstreits bereits den 40. Jahrestag der Bundesrepublik 1989 im Auge. 1987 stehen zwei Jahrestage bevor, die eine Verlängerung der Diskussion geradezu herausfordern. Es sind dies der 65. Jahrestag der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages zwischen der Weimarer Republik und der jungen Sowjetunion im April 1922 und der 70. Jahrestag der Sozialistischen Oktoberrevolution - beides Jahrestage, die die Grundfrage des Verhältnisses zum andersgearteten Gesellschaftssystem des Sozialismus aufwerfen. Damit ist ein Problem tangiert, das sich im Historikerstreit als zentral erwiesen hat: die Frage nach Koexistenz oder Konfrontation. (...) DVZ/die tat, 12. 12. 1986
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40.
Joachim Pereis
Wer sich verweigerte, ließ das eigene Land im Stich In der Historiker-Debatte wird auch der Widerstand umbewertet
Der von Jürgen Habermas entfachte Streit um die historische Bewertung der Vernichtung der europäischen Juden durch den NS-Staat (die Zeit v. 11. 7. 1986) hat zu einer erhellenden Polarisierung geführt: Diejenigen Historiker und Publizisten (vor allem Ernst Nolte und Joachim Fest, FAZ v. 6. 6. 1986, FAZ v. 29. 8. 1986), die die Einzigartigkeit des Verwaltungsmassenmordes an den Juden in Abrede stellten, indem sie den Holocaust mit anderen - vor allem stalinistischen - Formen der Massenvernichtung im 20. Jahrhundert verglichen, sind in der Auseinandersetzung in die Defensive gedrängt worden. Es wurde deutlich, daß durch die Technik eines derartigen Vergleichs der Tod der Juden in den Menschenschlachthäusern des Nationalsozialismus zum Element eines allgemeinen historischen Vorgangs verkehrt wurde, aus dem die Besonderheiten der deutschen Geschichte fast vollständig entwichen: Die Rolle der deutschen Täter - der ideologischen, der administrativen und der exekutierenden - konnte in den Schatten treten. Dieser Versuch, die Behandlung des NS-Systems dadurch zu verändern, daß schmerzende Fragen durch entlastende Deutungen ersetzt wurden, ist (. . .) vorerst gestoppt worden. (...) Daß die relativierende Neubewertung der Vernichtung der Juden durch das NS-Regime sich in der öffentlichen Meinung bisher nicht durchsetzte, sagt allerdings nichts über die Tiefenwirkungen der Thesen von Nolte und Fest in der nichtöffentlichen Meinung aus. Ihr kommt eine - verbreitete Abwehrmechanismen verstärkende - Sichtweise entgegen, die den Anteil unzähliger Deutscher an der Diskriminierung, Aussonderung, »Evakuierung« und planmäßigen Tötung der Juden im allgemeinen Schrecken der Weltgeschichte untergehen läßt. Die aktuelle Diskussion steht im Zusammenhang einer gezielten Veränderung des antinazistischen Koordinatensystems, in dem die NSHerrschaft bisher bewertet wurde (vgl. M. Buckmiller, Vorgänge, H. 6/1986). Die Umprägung dieses Koordinatensystems bezeichnet den eigentlichen Kernpunkt der Debatte, deren Ausgang völlig offen ist. Auf der einen Seite wird die Blickrichtung des Widerstands gegen das 182
Dritte Reich - auch in der Gestalt der Verschwörer des 20. Juli 1944 für die historische Analyse der NS-Herrschaft für ungeeignet erklärt. Auf der anderen Seite werden, in direktem Zusammenhang damit, die Positionen der gegen das nationalistische System kämpfenden Alliierten ebenfalls als Hindernis für die geschichtliche Einordnung der zerbrechenden NS-Herrschaft angesehen. Diese Tendenz zeigt sich bei Andreas Hillgruber, Ernst Nolte, aber auch bei Christian Meier. (. . .) Hillgruber optiert - im Jahre 1986! - für die sogenannte verantwortungsethische Haltung jener Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister im Osten und verwirft damit die politische Alternative der von Konservativen, Christen und Sozialdemokraten getragenen Verschwörergruppe des 20. Juli. Indem Hillgruber die Haltung der Männer des 20. Juli zu einer bloß gesinnungsethischen erklärt, bewertet er ihr Unternehmen implizit als politisch unverantwortlich (. . .). Hillgruber vergißt, indem er den Verschwörern des 20. Juli die Intention einer bloß individuell ethischen Selbstrettung unterstellt, daß ihre Haltung aus einer spezifischen Verbindung gesinnungsethischen und verantwortungsethischen Handelns resultierte: der Aufstand des Gewissens zielte gegen das System der Rechtslosigkeit und sollte zugleich dazu dienen, den Krieg zu beenden. Ernst Nolte problematisiert die Bewertung des Dritten Reiches aus der Perspektive des Widerstands aus anderen Gründen. (. . .) Die Interessen, ja die Betroffenheit der Verfolgten des Dritten Reiches werden für die geschichtliche Einschätzung des NS-Systems als gleichsam illegitim abgewehrt, während Nolte sich umgekehrt sehr genau in Hitlers Psyche versenkt, um den Holocaust aus deren Obsessionen zu erklären (ebd.). Christian Meier hat schließlich in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der die nationalsozialistischen Massenverbrechen nicht im geringsten beschönigte, sondern sie mit großer Betroffenheit ins Bewußtsein rückte, doch die Perspektive des Widerstands gegen Hitler als eine leere Handlungsalternative gegenüber der vorherrschenden Mitläufermentalität qualifiziert. (...) (. . .) »Wie sollten sie, aufs Ganze gesehen, um des Regimes willen ihr Land im Stich lassen?« (FAZ v. 28. 6. 1986). In dieser Frage wird unversehens das NS-Regime mit unserem Land einfach identifiziert mit der Folge, daß ein Nichtmitmachen in der Wehrmacht Hitlers und hierfür gibt es eindrucksvolle Beispiele einzelner Sozialisten und Christen - dazu führt, daß das eigene Land im Stich gelassen wird. Meier erwägt die Alternative des Widerstands, aber so, daß sie als Haltung einer politischen Un-Möglichkeit erscheint: 183
Daß die - wie immer in sich differenzierte - Haltung der Gegner des Nationalsozialismus als Bezugssystem für die Analyse des Dritten Reiches in Zweifel gezogen wird, hängt damit zusammen, daß das herrschende Selbstverständnis der Bundesrepublik, um dessen Stabilisierung es bestimmten konservativen Historikern zu tun ist, davon lebt, daß die Inkorporation des weit überwiegenden Teils der militärischen, administrativen und judikativen Trägerschichten des Dritten Reiches in den demokratischen Verfassungsstaat der frühen Bundesrepublik nicht kritisch hinterfragt wird. Nur wenn die Rolle dieser Trägerschichten in der Zeit des Dritten Reiches in einem prinzipiell unproblematischen Licht erscheint und die deutsche und alliierte Gegnerschaft gegen das NS-System als politische Alternative verworfen wird, kann der Geburtsfehler der frühen Bundesrepublik, eine rechtsstaatliche Demokratie mit Funktionseliten totalitärer Herrschaft aufzubauen, im Dunkel bleiben. Die Bundesrepublik hat sich durch wesentlich zwei gegensätzliche Legitimationsprinzipien konstituiert, die es unmöglich machen, daß sich eine ungebrochene politische Identität der Bonner Republik ausbilden konnte. Die Bundesrepulik definiert sich durch die Negation der NS-Herrschaft. Ihren klarsten Ausdruck findet dies in den Grundrechten unserer Verfassung, die eine Staatsgewalt der Willkür unmöglich machen sollen. Die Bundesrepublik definiert sich aber auch seit langer Zeit durch die weitgehende Legitimation der NS-Herrschaft als prinzipiell legaler Ordnung; Gustav Radbruchs auf die Kernprinzipien nationalsozialistischer Herrschaft gezielter Begriff des »gesetzlichen Unrechts« hatte für die Rechtsprechung der 50er, 60er und 70er Jahre kaum praktische Bedeutung. Um ein Beispiel zu geben: Auf der einen Seite werden jährlich von offizieller Seite Gedenkfeiern für die Männer des 20. Juli veranstaltet, auf der anderen Seite wird von demselben Staat, in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1956, der Widerstand von Dietrich Bonhoeffer und Hans v. Dohnanyi und anderen als Hochverrat qualifiziert, der ihre Anfang April 1945 durch ein SSStandgericht im KZ-Sachsenhausen und im KZ-Flossenbürg verfügte Ermordung als prinzipiell rechtmäßig erscheinen läßt (vgl. G. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin 1983, S. 89 ff.). So gilt: Erst in der Auseinandersetzung mit der Erblast des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik kann sich so etwas wie eine demokratische Identität in unserem Lande ausbilden. FR, 27. 12. 1986
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Heinz Galinski
Beweiszwang für die Opfer, Freispruch für die Täter (...) Es gehört zu meinem Leben, mich erinnern zu müssen, und es gehört zum Leben unserer jüdischen Gemeinschaft, sich auch weit in die Vergangenheit erinnern zu müssen. Wir erinnern uns an einen anderen deutschen Gelehrtenstreit, an den sogenannten Berliner Antisemitismusstreit. Es war auch damals ein von seinen Zeitgenossen hoch angesehener Historiker, Heinrich Treitschke, der das Wort ergriffen hatte. Er prägte den Satz »Juden sind unser Unglück«. Die Einstellung, die dieser Satz repräsentierte, war nicht neu. Neu war, daß durch diesen Satz aus seinem Mund der Antisemitismus aus der Gosse emporgetaucht war und in den Salon des Mittelstands Eingang gefunden hatte. Treitschke und der Berliner Antisemitismusstreit haben den Antisemitismus salonfähig gemacht. Es ist auch damals der Anspruch der Wissenschaftlichkeit, zumal der eines Historikers, erhoben worden. Wir kennen die Folgen. Und wir müssen den Anfängen wehren. (S. 21) Ich kann kein Verständnis dafür aufbringen, wenn der Genozid zu einer Art Betriebsunfall in dem durchaus ehrenwerten und vom Standpunkt der Ost-West-Auseinandersetzung verständlichen Bemühen der Nazis um die »Rettung des Abendlandes« gemacht wird. Ich kann nicht davon absehen, daß sich hier innerhalb der deutschen Vergangenheitsbewältigung ein weiterer Schritt der Einengung im Schuldbewußtsein vollzieht. Die herkömmliche Version sah noch die ganze Nazi-Zeit insgesamt als den »Betriebsunfall« an, und die »Endlösung« als eine Entgleisung innerhalb dieses Unfalls. Jetzt soll also die NaziZeit - außenpolitisch zumindest - zur Epoche einer genialen Vorahnung hochstilisiert werden und das Dritte Reich als Vorreiter und Weichensteller einer künftigen NATO-Position gelten, während die Ermordungen den frei gewordenen Platz des »Betriebsunfalls« einnehmen sollen. Entgleisungen gibt es keine mehr. Was würde der nächste Schritt dieser seltsamen »Gratwanderung« sein, wenn wir diesen zulassen? (ebd.) (...) Unser politisches und soziales Klima, in dem es zu derart umstrittenen Diskussionen kommen kann, ist auch durch das überwiegend wirtschaftlich orientierte Denken der Deutschen beeinflußt. Das 185
Großmachtstreben, das der durch den Historiker Treitschke inspirierte Alldeutsche Verband während des Ersten Weltkrieges und davor in Begriffen der Kolonial- und Flottenpolitik verbreitet hatte, wurde heute in Begriffe der wirtschaftlichen Kraft und der D-Mark-Überheblichkeit übersetzt. Der Stolz auf Wirtschaftswunder und Wiederaufbauleistung läßt trotz so mancher ungelöster sozialer Probleme keinen Raum für ein geschichtsorientiertes Bewußtsein zu, für Bekenntnis zur Schuld an den begangenen Untaten. (S. 22 f.) (. . .) Wir müssen der Geschichtslosigkeit, der Flucht in die Verantwortungslosigkeit, eine eindeutige, entschiedene Absage erteilen. Wir sollten die Worte des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der ein Bekenntnis der Deutschen zu den Folgen ihrer Vergangenheit fordert, ernst nehmen, und sie auch »in Haftung nehmen«. Wir geben den Weg zu einer schrankenlosen Geschichtsdiskussion nicht frei. Vergangenheitsbewältigung darf kein Problem der Historiker werden, sie muß eine moralische und persönliche Angelegenheit eines jeden einzelnen Erben dieser Vergangenheit bleiben. Noch entscheidender als die Frage, wer in einer solchen Diskussion Recht behält, ob Fest oder Habermas, Nolte oder Mommsen, Hillgruber, Stürmer oder sonstwer, ist dabei das Problem, ob das deutsche Volk sich eine solche Diskussion leisten kann oder will, und welchen Schaden diese anrichtet. Ich kann nur davor warnen, sie fortzusetzen. (S. 24) Blätter für deutsche
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und internationale
Politik,
Heft
1/1987.
(S.
20- 24)
Detlev Claussen
Über »Nationale Identität« Das Schlagwort »nationale Identität« verdeckt den Inhalt, um den es wirklich geht - Nationalismus. Der Nationalismus gehörte zur ideologischen Grundausstattung der europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. In Deutschland allerdings ist er spezifisch ausgeprägt worden: nicht allein im Denken, sondern in realen Taten. Der Nationalsozialismus sprengte aber die Grenzen seiner Entstehungsbedingungen - die Grenzen des alten Europa. (S. 11) (. . .) Der Nationalso186
zialismus war ideologisch und real eine übernationale Angelegenheit ein politischer Körper, dessen Kopf und Rückgrad das Deutsche Reich bildeten. Er war ein Produkt des ausgewachsenen deutschen Nationalismus und zugleich mehr als das: er wollte eine Neuordnung Europas als Vorstufe zur Neuordnung der Welt, (ebd.) Die Welt von heute wird in den Kategorien von gestern begriffen bösartig gesagt: Im Deutschland von 1986 ist »Nationale Identität« der schamhafte Ausdruck für »Volksgemeinschaft«. Das Wort »nationale Identität« soll eine kollektive Befindlichkeit rehabilitieren, die zurecht in Mißkredit geraten war. Deswegen muß der Status quo ante wiederhergestellt werden, eben die Welt, bevor der deutsche Nationalismus seine angebliche Unschuld im Nationalsozialismus verlor. Am sperrigsten auf dem Weg in diese Scheinwelt positiver Gefühle erweist sich das, was im Universum der Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor, Treblinka geschah. Es gibt brutale Versuche, das Geschehen zu verleugnen, die sogenannte »Auschwitz-Lüge«. Dieses Verleugnen gibt es nicht nur in Deutschland. (S. 12) (. . .). Die Rehabilitation nationalistischer Schemata ist ebensowenig spezifisch deutsch wie es der Nationalismus gewesen ist; spezifisch deutsch ist die Ausprägung der realen Taten, die Verleugnung dieser Taten danach und die Selbststilisierung zum Opfer. Ernst Nolte, der mit seinen Thesen den sogenannten Historikerstreit auslöste, führt diese Methode der Verleugnung von Wirklichkeit vor: nicht absolutes Leugnen, sondern Relativierung. Auschwitz wird zur »asiatischen Tat« stilisiert, also verlagert: Was haben wir schon mit Asien zu tun? Allerdings, so geht die nationalistische Logik weiter: Aus Asien werden wir bedroht! Tatsächlich steht bei Nolte, daß Auschwitz offensichtlich aus Angst vor dem Archipel Gulag geschah. Die Verwechslung von Raum und Zeit bei einem Historiker muß schon erschüttern, noch mehr aber entsetzt, wie bruchlos an die nationalsozialistische Ideologie angeknüpft wird. Deutschland ist nach 1917 weder von der Sowjetunion bedroht worden, noch bestand die Gefahr, daß wehrlose Menschen in den zwanziger Jahren von asiatisch aussehenden Rotarmisten umgebracht würden. Hitler begann schon während des russischen Bürgerkrieges (ebd.), als der weiße Terror mit rotem Terror beantwortet wurde, seine Ideologie von Deutschland als Opfer zu entwickeln. Das deutsche Volkstum, wie er es nannte, stand in Gefahr, von außen zerstückelt siehe Versailler Vertrag - und von innen zersetzt zu werden - siehe Judentum und Bolschewismus. Wer »Mein Kampf« von Adolf Hitler gelesen hat, erkennt die Grundfigur der Hitlerschen Propaganda wieder: Die nationale Identität des deutschen Volkes ist bedroht; aus die187
sem Grund müssen wir rücksichtslos durchgreifen - nach innen und nach außen. (S. 13) (. . .) (. . .) Im Unterschied zu den anderen Faschismen griff der deutsche Nationalsozialismus real zur Weltmacht, und dieser Griff war untrennbar mit der Massenvernichtung großer Teile der slawischen Völker und zugleich mit der massenmörderischen Auslöschung der europäischen Juden verbunden. Deutsche griffen zur Weltmacht - um dies zu verschleiern, benutzte die nationalsozialistische Propaganda die nationalistische Ideologie des Opfers: Seine Bedroher - der Erbfeind Frankreich, das perfide Albion und hauptsächlich der jüdische Bolschewismus, der von der jüdisch-plutokratischen Wallstreet finanziert werde, müssen zerschlagen und vernichtet werden, (ebd.) (. . .) Nationalismus, auch wenn man ihn nationale Identität nennt, bedeutet immer eine falsche Identifikation des sich ohnmächtig fühlenden Einzelnen mit einem Kollektiv, zu dem der Einzelne scheinbar von Natur, nämlich von Geburt, gehört. (S. 14) (. . .) (. . .) In der Geschichte der europäischen Nationalstaaten, also in den letzten zweihundert Jahren, hat es eine Wunderwaffe gegeben, nationale Identifikation herzustellen: den modernen Antisemitismus. Wer nationale Identität will, muß Exklusion wollen, Ausschluß von anderen; potentiell wird mit dem Gerede von nationaler Identität der Antisemitismus aus seinem offiziellen Schattendasein auf die Tagesordnung des politischen Alltags gesetzt: Fellner, Korschenbroich, Waldheim . . . Jürgen Habermas hat sehr treffend diesen Vorgang, der von Fachhistorikern eingeleitet wurde, als Entsorgung der Vergangenheit bezeichnet. Aber es handelt sich nicht um eine akademische Fachfrage, sondern um eine politische Machtfrage, wie Geschichte interpretiert wird, (ebd.) (. . .) Hinter dem Geschwätz von nationaler Identität aber verbirgt sich etwas ganz anderes als Habermas will: Die hohle Phrase nationaler Identität beutet die Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit in einer bedrohlichen Welt aus, die nur durch kritisches Denken zu erkennen und durch praktisch-politisches Handeln vielleicht zu verändern ist. Die Parole von nationaler Identität spielt die Sicherheit falscher Gefühle gegen die Unsicherheit einer widerspruchsvollen Wahrnehmung der Wirklichkeit aus. (S. 15) Über Indifferenz der Gefühle Wenn man einmal in Ruhe über das Verhältnis der Deutschen nach dem Kriege zu den Verbrechen nachdenkt, die während des Dritten Reiches 188
begangen wurden, muß es einen schaudern. Wesentlich für dieses Verhältnis ist nämlich die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Das mangelnde (S. 21) Mitleid mit den Opfern schlägt in Selbstmitleid um. Schon 1950 hat Hannah Arendt die Umdeutung der Wirklichkeit im Nachkriegsdeutschland beschrieben. Ich möchte aus ihrem Aufsatz zitieren, um zu zeigen, wie wenig neu die Argumentationen sind, die von Fachhistorikern als tabubrechend angepriesen werden. Es stimmt allerdings, die intellektuelle Lücke zwischen dem Stammtisch, der keine Tabus akzeptiert, und der Fachwissenschaft ist von Historikern wie Nolte beeindruckend geschlossen worden. Hannah Arendt also schrieb schon 1950 über einen »Besuch in Deutschland«: »Aus der Wirklichkeit der Todesfabriken wird eine bloße Möglichkeit: die Deutschen hätten nur das getan, wozu andere auch fähig seien (was natürlich mit vielen Beispielen illustriert wird) oder wozu andere künftig auch in der Lage wären; deshalb wird jeder, der dieses Thema anschneidet, ipso facto der Selbstgerechtigkeit verdächtigt.« (S. 22) (. . .) Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Opfer zeitigt eine scheinbar unvoreingenommene Offenheit gegenüber dem angeblich erfahrenen eigenen Leid. Man mogelt sich selbst unter die Opfer. Zweifellos haben Deutsche während des Krieges und nach dem Kriege manches erlitten; aber darum geht es zunächst nicht. Diese Vorstellung der leidenden Deutschen ist selbst schon ideologisch, weil längst vor dem Kriege viele Deutsche Schlimmstes erlitten: in den Konzentrationslagern, Zuchthäusern, Gestapokellern. Die nationale falsche Identifikation geht großzügig über die ersten wirklichen Opfer des Nationalsozialismus seit 1933 hinweg; es waren ja nur Rote, Juden, Homosexuelle und Berufsverbrecher, Zigeuner usw. - eben keine richtigen Deutschen. Man hat sie vergessen und man muß sie vergessen, um zur Nationalkonstruktion zu kommen: Wir, die Deutschen, haben um unsere Existenz gekämpft, die anderen auch - also sind wir alle gleich: die Engländer, Amerikaner, Russen und die Deutschen. (S. 22) (. . .) (. . .) Die Millionen Flüchtlinge sind jetzt die wahren Opfer, die Identifikation verdienen. Dann kommen in dieser Logik die Vertreibungsverbrechen, die sogenannten. Es hat Züge von Rache real gegeben, aber das Großartige an den übrigen europäischen Völkern (ebd.) (. . .) besteht doch eigentlich darin, wie wenig Racheaktionen es gegeben hat. Geleugnet wird im falschen Kollektivbewußtsein, daß es Gründe für Rache gab: Taten, von Deutschen begangen, unerhört in diesem Ausmaß, Taten an fremden Völkern. (S. 23) (. . .) Diese Rache blieb im Großen und Ganzen aus. Aber ein Dreg189
ger appelliert an die Gefühle von Volksgemeinschaft, wenn er offen von den Siegermächten spricht, die Deutschland ihre Geschichtsbetrachtung aufzwingen. Er spricht heute von Schicksalsgemeinschaft, er meint die Deutschen, diese Reden sind Symptom für die Wiederkehr des Nationalismus, der mit der Gleichmacherei von Täter und Opfer beginnt und mit dem angeblich gesunden Selbstbehauptungswillen der zum Opfer umstilisierten ehemaligen Täternation endet. Der Gedanke, den die nationalsozialistischen Verbrechen an der Menschheit aufzwingen, ist schwer zu ertragen: die Einzelnen verschiedener Nationen werden ungefragt in Schuldzusammenhänge verstrickt, aus denen man sich nur mit äußerster intellektueller und praktischer Anstrengung befreien kann. Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft empfinden Überlebensschuld gegenüber ihren ermordeten Angehörigen und Freunden, Emigranten fallen vor dem Ghettodenkmal in Warschau auf die Knie - Menschen, die gelitten und gekämpft haben, werfen sich vor, nicht genug getan zu haben. Diejenigen, die sich mit der deutschen Schicksalsgemeinschaft identifizieren, empfinden keinen Schuld. Die Indifferenz der Gefühle bringt den psychischen Kriegsgewinn der neuen Unbefangenheit. (S. 23) (. . .) Die Verbrechen der Nationalsozialisten erfordern die äußerste Anstrengung des Intellekts, weil es um nichts Geringeres heute geht, als das Unbegreifliche zu begreifen. Die Medien lösen mit den Massenmord-Unterhaltungsserien nur trivial Geschichte in Familiengeschichte auf, wie die neudeutschen Fachhistoriker, die Geschichte in Nationalgeschichte auflösen, ihren eigenen Erkenntnisgegenstand nämlich die Geschichte - ruinieren. Auschwitz kann man nicht mit Gefühlen erreichen, es sei denn, man verharmlost es zum Schicksal. Heute kann man nur die gesellschaftlichen Bedingungen erkennen, die zu Auschwitz geführt haben, (. . .). (S. 24). Deutschland, - ein Phönix aus der Asche? Zum Historikerstreit um die identitätsstiftende Kraft der Geschichte. Streitgespräche und Essays, zusammengestellt von Lothar Fend und Brigitte Granzow, Samstagabend in WDR 3, Westdeutscher Rundfunk, 3. Hörfunkprogramm, 3. 1. 1987.
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Kurt Pätzold
Wo der Weg nach Auschwitz begann Der deutsche Antisemitismus und der Massenmord an den europäischen Juden
(...) Faschismus - eine Reaktion auf die Oktoberrevolution? Die Frage nach der geschichtlichen Beziehung zwischen der Oktoberrevolution in Rußland und dem Aufkommen faschistischer Bewegungen in Europa ist seit langem Gegenstand materialistischer Historiographie. In ihr ist unumstritten, daß der Faschismus insgesamt eine Antwort auf den geschichtlichen Sieg der russischen Arbeiterklasse darstellte, doch keineswegs auf dieses Ereignis allein. (. . .) Die Herrschenden in Deutschland hatten 1918 für einen sehr kurzen, aber ihr Denken und ihre Physiognomie prägenden Moment am Rande des geschichtlichen Abgrunds gestanden. Sie wurden in ihn nicht hinabgestürzt. Von da an aber hat sich in ihren Reihen ein permanentes Verlangen nach Sicherungen gegen die Revolution herausgebildet - ein Verlangen, das in der Wahl seiner Mittel schon im Anfangsstadium der hier nur skizzierten Entwicklung durch irgendwelche moralische Hemmungen nicht begrenzt war. Nicht durch die Novemberrevolution, die sich unblutig durchsetzte, kam die Blutspur in die Geschichte der Klassenauseinandersetzungen in Deutschland, sondern durch jene, die sie niederkämpften - nicht in erster Linie mit dem Stimmzettel, aber mit den schließlich formierten verläßlichen konterrevolutionären Militärformationen. (S. 163 f.) Es mag ein Zufall sein: das Wort »Novemberrevolution« fiel in der Debatte, soweit ich sie verfolgen konnte, bisher nicht. In der Auseinandersetzung mit Noltes These vom »Klassenmord der Bolschewiki« blieb wohl auch unerwähnt, daß die Oktoberrevolution von ihren inneren und äußeren Gegnern doch in der Wiege erwürgt werden sollte und die deutsche Konterrevolution und der deutsche Militarismus daran durch die Tat beteiligt waren. Dies vermerken, heißt nicht nur geschichtliche Erinnerung zu betreiben. Der Gedanke, doch noch zu vollbringen, was weder im Bürgerkrieg noch durch die Interventionen 191
erreicht werden konnte, springt doch bis in die Gegenwart um. Er nährte sich durch den Tagtraum von der Gewinnbarkeit eines Krieges gegen die Sowjetmacht - 1941 wie 1918, 1987 wie 1941. (S. 164) Der deutsche Faschismus und namentlich seine »nationalsozialistische« Spielart war Fleisch vom Fleische der bourgeoisen Konterrevolution, Reaktion auf die allgemeine Krise des Kapitalismus, die in Deutschland durch die Kriegsniederlage noch verschärft wurde. Hitler und die Clique um ihn, die eine gemeinsame politische Karriere versuchten, traten den Rettungsuchenden mit ihrem Angebot zur Stabilisierung der eben notdürftig wiederhergestellten Herrschaft gegenüber. Sie traten mit einer einprägsamen Formel hervor, die zuerst werbende Parole, später ständig wiederholtes beschwörendes Versprechen war: es dürfe - dann hieß es: es werde - in der deutschen Geschichte nie wieder einen 9. November 1918 geben. (. . .) (ebd.) (...) Der Antisemitismus in der faschistischen Diktatur Als vorwiegend politisches Herrschaftsinstrument funktionierte der Antisemitismus auch in der faschistischen Diktatur. Er diente zur Verdunkelung der wahren Ziele des Regimes. Er täuschte der engsten Gefolgschaft für eine gewisse Zeit eine »nationalsozialistische Revolution« vor. Er half bei der Dämpfung der Klassengegensätze, erschienen die »arischen« Kapitalisten doch in seiner Propaganda als im Kern volksverbunden, sozial, arbeitsam und schöpferisch. Er diente als psychisches Druckmittel gegen jene, die dem Regime skeptisch oder auch nur abwartend gegenüberstanden, denn er verlangte, sie sollten in sich nach dem »weißen Juden« suchen und ihn bekämpfen. Er verband sich, etwa in der abscheulichen Aufhetzung gegen die sogenannte Rassenschande, sogar mit dem Anspruch, saubere menschliche Beziehungen herzustellen. (S. 166 f.) (...) Erst aus dem Weltkriegs- und dem ihm zugrundeliegenden maßlosen Expansionsinteresse des deutschen Imperialismus erhielt auch der faschistische Antisemitismus jene auf ein ungeheuerliches Verbrechen an Millionen Menschen hinweisende Schärfe und Zuspitzung. Dieses Interesse erheischte nicht nur Verschleierung eigener Absicht und das war die zweite Seite derselben Medaille - zugleich Rechtfertigung, sondern brauchte auch Menschen von neuem Typus, die in den Feldund Besatzungsarmeen zweck- und zielgemäß funktionierten. Der Antisemitismus der Vorkriegsjahre bildete eine Art Vorschule für jenen 192
Herrenmenschen, dessen Untaten ein Ausmaß annahmen, daß sich die Zeitgenossen weigerten, auch Meldungen aus verläßlichen Quellen, die davon berichteten, für wahr zu nehmen. An den jüdischen Deutschen und vordem schon an Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Antifaschisten wurde Brutalität - hat man die Täter im Blick - exerziert. (S. 167) Die Singularität des Judenmords Kriegsvorbereitung und Judenverfolgung, Krieg und Judenvernichtung bilden, im weitesten Umfang genommen, die zentralen Begriffsund Beziehungspaare, auf die eine Untersuchung der Frage stößt: Wo der Weg nach Auschwitz begann und was seine Grundrichtung bestimmte. Von da aus eröffnet sich auch ein Zugang zu der erneut in die Diskussion geratenen Frage nach der Singularität des Mords an den Juden Europas. (. . .) (S. 168) (...) Ihre Kennzeichen sind erstens die beispiellos barbarische Rolle der imperialistischen Staatsmacht, zweitens das Ausmaß des Verbrechens, vor allem die Zahl seiner Opfer, und drittens das beispiellose Instrumentarium, das zur Verwirklichung der Untat eingesetzt wurde. Von alldem war in den Beiträgen zur Diskussion schon die Rede. Fragend bliebe dem dritten Aspekt anzufügen, ob die gebräuchliche Kennzeichnung der Mittel als »fabrikmäßige Tötung« oder »industrieller Massenmord« nicht noch einmal bedacht werden sollte. Zweifel sind da anzumelden, wenn unter Fabrik eine Produktionsstätte mit wesentlich oder vorwiegend maschinengestützter Fertigung und unter Industrie - abweichend vom ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes - ein Produktionssystem verstanden wird, das durch die Anwendung von Maschinensystemen charakterisiert wird. Wenig davon ist im Verfahren des faschistischen Massenmords anzutreffen. Ist diese Begriffsbildung nicht nur entstanden, weil damit die Massenhaftigkeit eines sich wieder und wieder vollziehenden Vorgangs ausgedrückt werden sollte? Doch ist die massenweise Wiederholung einer Handlung schon für die Manufaktur kennzeichnend. Wurde dieses Massenmorden der Faschisten nicht im weitesten Umfang ohne Maschinen verrichtet? Die Anmerkung zielt nicht allein auf den Terminus, sondern gegen eine sich an ihm bildende oder durch ihn begünstigte unzureichende Vorstellung. Die Mörder waren, von jenen an den Schreibtischen einmal abgesehen, den Opfern viel näher, als es der Begriff »industriemäßige Vernichtung« ausdrückt. Manu facere: die Täter trieben die Opfer mit Geweh193
ren, Knüppeln und Peitschen an die Plätze ihrer Ermordung, von Hand wurden die Gaskammern verschlossen, von Hand auch die todbringenden Kristalle in die Todeszellen geworfen. Ja, andere Menschen wurden durch Maschinenwaffen vernichtet, durch Abgase aus Antriebsmaschinen umgebracht. Und dennoch: »industrieller« Massenmord? Dem Begriff haftet ein Element unbeabsichtigter Verschleierung an. (S. 169 f.) Zu den drei Aspekten, durch die die Singularität des Massenmordes an den europäischen Juden gekennzeichnet wird, gehört als weiterer der Platz, den das Verbrechen im Gesamtplan und in der Gesamtpolitik seiner Urheber besetzt. Er ist unverwechselbar und Bestandteil der auf weltbeherrschende Macht gerichteten Politik des deutschen Imperialismus. Sein Krieg war nicht nur Bedingung des Verbrechens, er bildete nicht nur dessen »Rahmen«. Das Wesen der unauflöslichen Beziehungen zwischen diesem Verbrechen und diesem Krieg ergab sich aus seinen Zielen. (S. 170) Klar zur Wende? Die knappe Erörterung der Methode wissenschaftlicher und widerwissenschaftlicher Vergleiche in Geschichtswissenschaft und Politik hat uns erneut zu der Frage geführt: Wohin steuern also die neuen Revisionisten? Ernst Nolte hat eine der ihn umtreibenden Sorgen so beschrieben: es könnte sich in der Bundesrepublik eine Geschichtsauffassung verbreiten, wonach »diejenigen am meisten recht hatten, die am entschiedensten gegen das >absolute Böse< kämpften«, und dies wiederum besäße politische Konsequenzen.1 Es ist also die Orientierung am antifaschistischen Widerstandskampf und seinen aufrechtesten Teilnehmern, die ein Teil der schon älteren Generation bewahrt und die von Jüngeren, von deren Wirken in diesem Artikel eingangs die Rede war, aufgenommen wurde und erweitert worden ist, wodurch auf konservativer Seite Unruhe entstand. Dort wird man von der Befürchtung geplagt, es seien in der Bundesrepublik inzwischen Generationen herangewachsen, von denen ein zu großer Teil weder vom Antikommunismus und Antisowjetismus des deutschen Faschismus noch von jenem der Zeit des Kalten Krieges genügend geformt wurde. Das ist gemeint, wenn einer der hartnäckigsten Verfechter einer neuen ideologischen Aufpulverung der Gesellschaft in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« schreibt: »Etwas ist nicht in Ordnung mit dem zeitgeschichtlichen Bewußtsein, mit dem Verhältnis zur Zeitgeschichte und mit der Moral im Urteil über die Zeitgeschichte.« 2 Daran schließt dieser Her194
ausgeber-Kollege Joachim Fests die an jene Lehrer, Eltern und Schüler, welche die gewünschte Grundhaltung schon besitzen, gerichtete Forderung, sie mögen in den Schulen mehr antisowjetische Unterrichtung der Kinder und Jugendlichen verlangen. (S. 172) Also klar zur Wende? Ich hoffe auf diejenigen, die sich diesem Kurs widersetzen. Denn wer sollte in dem Lande, aus dem diese Einmischung in eine Debatte geschrieben wurde, ein Interesse daran haben, daß Schülern in unserem Nachbarlande eingetrichtert wird, jenseits der Ostgrenze ihres Staates begänne das »Reich des Bösen von Anfang an«, (ebd.) Anmerkungen 1 Ernst Nolte, Die Sache auf den Kopf gestellt, »Die Zeit«, 31. 10. 1986. 2 Johann Georg Reißmüller, Verschwiegene Zeitgeschichte, FAZ, 14. 11. 1986.
Blätter für
44.
deutsche
und
internationale
Politik,
Heft
2/1987
(S.
160-172)
Walter Grab
Kritische Bemerkungen zur nationalen Apologetik Joachim Fests, Ernst Noltes und Andreas Hillgrubers (...)
Die politische Absicht, die Nazis zu verharmlosen und sich sogar mit ihrem Kampf gegen die Rote Armee zu identifizieren, wurde am Vorabend und bei den Feiern des 40. Jahrestags des Kriegsendes deutlich. Am 20. April 1985 (zufälligerweise Hitlers Geburtstag) behauptete Joachim Fest in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der 8. Mai 1945 habe nicht nur für die Deutschen, sondern für den Westen insgesamt eine »verheerende Niederlage, fast eine Katastrophe« bedeutet. Der Händedruck amerikanischer und deutscher Veteranengeneräle auf dem Bitburger Soldatenfriedhof sollte nicht nur die Vasallentreue der Bundesrepublik bezeugen, sondern auch symbolisieren, daß das deutsche Heer schon zur Nazizeit gegen den richtigen Feind, die Sowjetunion, gekämpft habe; Reagans Besuch der Leichenhügel im KZ Bergen-Belsen und der SS-Gräber in Bitburg sollte demonstrieren, daß 195
alle Toten »gleichermaßen Opfer« gewesen seien, und mithin den Naziverbrechen ihren einzigartigen Charakter abstreiten. (. . .) (...) Die Verharmlosung der Naziverbrechen und die Wiederbelebung des deutschen Nationalbewußtseins unter dem alten und wohlbekannten Zeichen des Feindbildes im Osten wird in zahlreichen Essays und Abhandlungen maßgebender Historiker deutlich. Ernst Nolte, der schon 1963 in seinem Buch »Der Faschismus in seiner Epoche« die Ansicht vertrat, das NS-Regime sei eine Reaktion auf die kommunistische Revolution in Rußland gewesen, behauptete in seinem Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will« in der FAZ am 6. Juni 1986, die nazistischen Vernichtungslager hätten lediglich die Ausrottungspraktiken in den stalinistischen Gulags nachgeahmt, könnten also als Reaktion auf die (angeblich bis heute fortdauernden) bolschewistischen Bedrohungen gelten; nur die Vergasungen, also wie Nolte meint eine Art »technische Innovation«, hätten die Todeslager der Nazis von ihren stalinistischen Vorbildern unterschieden. Mit dergleichen Behauptungen - die auf eine Apologie der Nazis hinauslaufen - will Nolte nach eigener Aussage verhindern, daß »die nationalsozialistische Vergangenheit zum negativen Mythos vom absolut Bösen wird« (DIE ZEIT, 31. Oktober 1986). Damit im Einklang steht seine (erstmals in einem englischen Aufsatz 1983 erhobene) Behauptung, Hitlers Judenpolitik sei gleichsam als Notwehrmaßnahme anzusehen. Denn die Erklärung Chaim Weizmanns, des Vorsitzenden der Jewish Agency, vom September 1939, daß die Juden in dem soeben begonnenen Krieg an Englands Seite kämpfen würden, kam laut Nolte »zwar nicht im völkerrechtlich-exakten Sinne, wohl aber als Vorwegnahme einer künftigen Realität einer Kriegserklärung gleich« (DIE ZEIT, 31. Oktober 1986). Die Internierung der deutschen Juden durch die Nazis lasse sich daher »als eine Gegenmaßnahme begreifen«. Nolte verliert kein Wort darüber, daß die deutschen Juden seit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 und dem Pogrom vom November 1938 der elementarsten Menschenrechte beraubt und wirtschaftlich vernichtet waren; vielmehr verhöhnt er die jüdischen Naziopfer, indem er sie Geiseln oder kriegsgefangenen Soldaten gleichsetzt und heuchlerisch meint, die Nazis hätten ihnen gegenüber »die Regeln der Haager Landkriegsordnung« beachten müssen (ebd.). Noltes Unterstellung, Weizmanns »Kriegserklärung« sei vielleicht von der »Intention« geleitet gewesen, die deutschen Juden von Hitler internieren zu lassen, ist schlechterdings infam. Derartige ungeheuerliche Thesen sollen Verständnis für die Motive 196
und Aktionen der Nazis wecken. Wer einen Zusammenhang zwischen der politischen Wende in der Bundesrepublik und der ideologischen Offensive konservativer Historiker erblickt, wird von Joachim Fest in seinem Aufsatz »Die geschuldete Erinnerung« (FAZ, 29. August 1986) der »plattesten Verschwörungstheorie« beschuldigt. Ebenso wie Nolte erhebt Fest »Zweifel an der vorbildlosen Besonderheit der NS-Verbrechen« und meint, die in den »Mordfabriken der Stalin-Ära« üblichen »Massenliquidationen durch Genickschuß« hätten ebensolche Berge von Koffern, Schuhen und Brillen der Opfer hinterlassen wie die Todeslager der Nazis. Der politische Zweck dieser (der Totalitarismustheorie verpflichteten) Analogie ist klar: Der von den Nazi-Untaten geschändete deutsche Namen soll von Schuld freigesprochen und die Verantwortung auf die Schultern der »asiatischen« und »barbarischen« Bolschewiken gewälzt werden. Alle Exkulpationen der Nazis sind jedoch unhaltbar; niemals, auch unter Stalin nicht, betrieb die Sowjetunion eine Politik der systematischen und mit Präzision durchgeführten Ausrottung von in- und ausländischen Bürgern, einschließlich der Alten, Frauen, Kinder und Säuglinge; nur unter der Naziherrschaft wurde (unter Beihilfe von Chemiekonzernen) die Vernichtung von Menschenleben industriell betrieben; nur in Nazideutschland wurden die Haare der Opfer zur Erzeugung von Hausschuhen und U-BootDichtungen verwendet, ihre Kleidungsstücke und andere Habe der »Winterhilfe« übergeben, das Gold der falschen Zähne der Ermordeten ausgebrochen und zur Verwertung an die Staatsbank weitergeleitet, Menschenasche als Düngemittel für Gemüseanbau benutzt. Der vom Rassenwahnwitz der Nazis diktierte, bürokratisch organisierte Völkermord in den Hochleistungs-Mordfabriken von Auschwitz, Treblinka, Majdanek und anderen Lagern ist ohne Beispiel und Vorbild in der Menschheitsgeschichte; alle Versuche, die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« durch die Nazis mit Stalins Untaten zu vergleichen, erregen den Verdacht, es gehe den konservativen Ideologen gar nicht um historische Wahrheit, sondern vielmehr um politischen Kampf gegen den alt-neuen Feind, die Sowjetunion. Dieser Verdacht wird bei der Lektüre von Andreas Hillgrubers Abhandlung »Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte« (in seinem Bändchen: Zweierlei Untergang, Siedler Verlag, Berlin 1986) erhärtet. In der gegenwärtigen Kontroverse distanzieren sich zwar einige Historiker von Ernst Nolte, den sie als Außenseiter ansehen, nehmen jedoch Hillgruber in Schutz und verwahren sich dagegen, ihn in einem Atem mit Nolte zu nennen. Hillgruber selbst nimmt aller197
dings für Joachim Fest (der, wie oben gezeigt, Noltes Thesen übernahm und variierte) Partei und bezeichnet dessen Artikel »Die geschuldete Erinnerung« als einen »bedeutsamen Beitrag zur Rückkehr zu einem wissenschaftlichen >Diskurs<« (in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 12/1986, S. 734). Auch er erblickt keinen Unterschied zwischen den »Vernichtungspraktiken«, die in Nazideutschland und in der stalinistischen Sowjetunion angewandt wurden (ebd., S. 735). In seinem Aufsatz über den Zusammenbruch des deutschen Ostheeres behauptet Hillgruber, daß »die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Zerschlagung des Deutschen Reiches . . . lange erwogenen Zielen der gegnerischen Großmächte« entsprachen, »die im Krieg nur zum Durchbruch gelangten« (S. 9 und 17). Mit der Insinuation, Stalin sei der potentielle Angreifer gewesen und Hitler habe nur präventiv gehandelt, wird Noltes These von der angeblichen Notwehr, in der sich Hitler angesichts der »Kriegserklärung« Weizmanns befand, auf den Krieg gegen die Sowjetunion übertragen. Hillgrubers Aufsatz zeigt ausgesprochene Sympathie für die Junker und Militärs, die den Nazis mit zur Macht verhalfen und willige Erfüllungsgehilfen bei der Eroberung von »deutschem Lebensraum« im Osten waren. Dem Historiker, der 1986 die Erlebnisperspektive der Nazitruppen und der deutschen Zivilbevölkerung in den Ostgebieten einnimmt, gilt der militärische Rückzug des Heeres, das »um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches« rang, als »Katastrophe« (S. 23 und 38). Er behauptet unumwunden: »Der Historiker muß sich (!) mit den verzweifelten Anstrengungen des deutschen Ostheeres . . . identifizieren, die die Bevölkerung vor den Racheorgien der Roten Armee . . . zu bewahren . . . suchte« (S. 24), denn den preußisch-deutschen Ostprovinzen habe »im Falle einer Überflutung ihrer Heimat durch die Rote Armee . . . ein grauenhaftes Schicksal« gedroht. Er lehnt es ausdrücklich ab, den Kampf der Völker der Sowjetunion, die zwanzig Millionen Menschen opferten, um die Menschheit (inklusive dem deutschen Volk) vom nazistischen Verbrecherregime zu erlösen, als Befreiung zu bezeichnen (S. 22) und behauptet stattdessen, die »sowjetischen Kriegsvorstellungen« hätten »in der stalinistischen Epoche offensichtlich allgemein . . . barbarische Züge« angenommen (S. 34 f.). Diese moralisierende Abwertung der vermeintlich unzivilisierten Sowjetvölker kommt den Anwürfen der Nazipropaganda, die die Völker der Sowjetunion als »östliche Untermenschen« bezeichnete, bedenklich nahe. (. . .) Hillgruber lehnt den versuchten Staatsstreich Stauffenbergs und 198
Becks ab, weil die Beseitigung der Naziherrschaft angeblich nur »ein heilloses Durcheinander in der deutschen Führung« zur Folge gehabt hätte (S. 22); ebenso negiert er eine schnelle Kapitulation des Ostheeres, weil dies »die Ausmaße der Katastrophe« vergrößert hätte (S. 38). Seine Rechtfertigung des Abwehrkampfs in der letzten Kriegsphase kann daher nur bedeuten, daß er die Nazis als Verteidiger der »westlichen Zivilisation« gegen die »asiatische Barbarei« ansieht, - obwohl er sehr wohl weiß, daß mit der Verlängerung des längst verlorenen Kriegs nicht nur der Vernichtungsfeldzug gegen Juden, Sinti, Roma fortgesetzt, sondern auch unzählige Deutsche getötet wurden. Bekanntlich sind in der letzten Kriegsphase, vom Herbst 1944 bis zum Mai 1945, an der Front und unter der Zivilbevölkerung mehr Opfer gefallen als in allen Kriegsjahren zuvor. Hillgrubers ständige Hinweise auf die Massenvergewaltigungen, Morde und Zwangsverschleppungen durch die Sowjetarmee dienen dem Zweck, durch Schuldverlagerung auf den politischen Gegner die Selbstverantwortung des deutschen Volkes zu leugnen oder zu verringern. Natürlich kennt Hillgruber die historischen Fakten und Zusammenhänge viel zu genau, als daß man annehmen könnte, er habe durch unvorsichtige oder irrige Formulierungen einen Fehlgriff getan. Ihm geht es - ebenso wie Ernst Nolte, Joachim Fest und den anderen Ideologen der gegenwärtigen Wende - weniger um historische Erkenntnis oder Wahrheit, sondern vielmehr darum, das erschütterte Nationalbewußtsein zu stärken und die Richtung anzugeben, auf der sich die Politik der Bundesrepublik Deutschland künftig bewegen solle. Dies scheint jedoch nur möglich, wenn die Verbrechen des Dritten Reiches relativiert und damit bagatellisiert werden und die Nazidiktatur als geordnete Staatsführung erscheint. (...) 1999.
Zeitschrift für Sozialgeschichte des
20.
und 21. Jahrhunderts,
Heft
2/1987 (S.
151-157)
199
Reinhard
Kühnl
Ein Kampf um das Geschichtsbild Voraussetzungen - Verlauf - Bilanz
A. Die Ausgangslage 1. Die Schwierigkeiten der Bundesrepublik im Umgang mit dem Faschismus a) Probleme bei der politischen Bewältigung b) Probleme bei der wissenschaftlichen Bewältigung c) Frühe Rehabilitierungsversuche und die Polarisierung der Auseinandersetzung in den 70er Jahren 2. Die neue Qualität der Regierung der » Wende« B. Die Debatte: Verlauf und Struktur 1. Offensive mit wissenschaftlichem Beistand a) Identifikation mit der kämpfenden Ostfromt (Hillgruber) b) Stalins drohender Aggressionskrieg 1941 (Gillessen, Hoffmann) c) Auschwitz als »asiatische Tat« (Nolte) 2. Die Argumente der Kritiker a) Kritik an Hillgrubers Thesen b) Stalins angeblich drohender Aggressionskrieg 1941 (Gillessen, Hoffmann) c) Die neue Auschwitzlegende (Nolte, Fest) d) Die Frage nach der politischen Funktion 3. Die Antwort der Konservativen 4. Ansätze zur Eingrenzung und Beendigung der Debatte C. Schlußfolgerungen und Bilanz 1. Die Vorgeschichte 2. Die Debatte 3. Die Maßstäbe der Kritik 4. Kampf ums Geschichtsbild und aktuelle
200
Politik
A. Die Ausgangslage
Erstaunliches hat sich ereignet. Fachwissenschaftler tragen eine Kontroverse über die faschistische Vergangenheit unseres Landes in aller Öffentlichkeit aus. In Tages- und Wochenzeitungen, in Rundfunk und Fernsehen nehmen sie Stellung - und die Resonanz in der politischen wie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ist groß. Dergleichen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bislang noch nicht gegeben. Auch wenn man nicht annimmt, daß die Geschichtswissenschaft damit zu einer Sache der Massen geworden ist, so ist eines doch unverkennbar: Alle Beteiligten gehen offenbar davon aus, daß der Streit von allgemeinem Interesse ist, daß es darauf ankommt, auf die Öffentlichkeit einzuwirken, kurzum: daß es sich um ein Politikum handelt. Gestritten wird darüber, was es mit dem deutschen Faschismus eigentlich auf sich hat, wie seine Realität beschaffen war, vor allem aber: wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollen. Das ist ja nun aber wirklich keine neue Frage. Warum also wird darüber gerade jetzt öffentlich gestritten? Was ist das qualitativ Neue dieser Faschismusdebatte? Und wie erklärt sich ihre große Publizität? Diese Fragen sind offenbar nur dann zu klären, wenn man sich wenigstens in aller Kürze vergegenwärtigt, unter welchen Voraussetzungen und auf welcher Basis diese Debatte stattfindet, wie sich der politische und wissenschaftliche Umgang mit dem Faschismus in der Bundesrepublik entwickelt hat, bevor die Forderung konservativer Historiker (und Politiker) nach einer Neubestimmung des Geschichtsbildes aufkam.
1) Die Schwierigkeiten Faschismus
der
Bundesrepublik
im
Umgang
mit
dem
a) Probleme bei der politischen Bewältigung Über die Frage, was der Faschismus sei und welche Folgerungen sich aus den historischen Erfahrungen ergeben, existierte nach der Zerschlagung dieses Systems 1945 zunächst ein relativ breiter Konsens von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten - mindestens in den Grundfragen. Dieser antifaschistische Konsens fand seinen Ausdruck in den frühen Programmen der Parteien, in den Länderverfassungen der Jahre 1946/47 sowie in der gemeinsam mit den Alliierten in Angriff genommenen Entnazifizierung und Bestrafung der Kriegsverbrecher. 201
Politisch besonders bedeutsam waren die Forderungen nach umfassender Demokratisierung des Staates und des gesamten öffentlichen Lebens, nach Gewährleistung weitreichender politischer und sozialer Grundrechte - bis hin zum Widerstandsrecht der Bürger gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt - und nach Sozialisierungsmaßnahmen zur demokratischen Kontrolle wirtschaftlicher Macht. 1 Diesen Forderungen lagen, wie leicht erkennbar, bestimmte Auffassungen über die Ursachen und Nutznießer des Faschismus zugrunde. Auch im Grundgesetz von 1949 konnten sie, wenn auch in bereits abgeschwächter Form, noch verankert werden: als Faschismusverbot (Art. 139), als Friedensgebot (Art. 26), als Sozialisierungsmöglichkeit (Art. 15) usw.2 Dieser antifaschistische Konsens wurde zerstört in dem Maße, in dem die USA zur Politik der Konfrontation gegen die Sowjetunion übergingen, die ehemaligen Führungsschichten des Faschismus nun als Bundesgenossen ansahen und in großem Maßstab wieder in ihre Machtpositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einsetzten. Zugleich wurden alle, die kommunistischer Sympathien verdächtig waren, ausgegrenzt. Bereits 1950 wurden durch Beschluß der Bundesregierung die Mitglieder der KPD, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und vieler anderer Organisationen vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen. Das waren aber nun gerade diejenigen Kräfte, die auch vom Faschismus ausgegrenzt und verfolgt worden waren und die im Kampf gegen den Faschismus die größten Opfer gebracht hatten. Und oft genug standen seit Beginn der fünfziger Jahre die gleichen Personen wieder als »Staatsfeinde« vor Gericht, die vom Faschismus als »Staatsfeinde« verfolgt worden waren - und oft genug waren es wieder die gleichen Geheimdienstbeamten, die ihnen nachspürten, und die gleichen Richter, die sie verurteilten wie in der Zeit vor 1945. Schon wegen der ungeheuren Verbrechen, die der Faschismus begangen hatte und die im Bewußtsein der Völker tief eingegraben waren, konnte der Antifaschismus allerdings nicht gänzlich fallengelassen werden. Die offiziellen Distanzierungen vom Faschismus erhielten jedoch von nun an jenes Element von Unaufrichtigkeit und Doppelbödigkeit, das bis heute für derlei Bekundungen charakteristisch ist und das natürlich für die politische Kultur in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb.3 Immerhin gehörte es weiterhin zum offiziellen Selbstverständnis der Bundesrepublik, daß »Lehren« aus den Erfahrungen mit dem Faschismus zu ziehen seien. Als solche aber galten jetzt nur noch politisch-institutionelle und ideologische Momente: die parlamenta202
risch-demokratische Staatsform, die Rechtsstaatlichkeit, die Ablehnung der Rassenideologie und vor allem die Versöhnung mit den Juden und ihrem Staat Israel. Der politischen Ausgrenzung der Kommunisten und Sozialisten entsprach die methodologische Ausgrenzung der sozialen und ökonomischen Ursachen aus der Faschismusanalyse. Und der Restauration der alten Führungsschichten entsprach methodologisch der Verzicht auf die Frage nach der Rolle von Kapital, hoher Beamtenschaft und Militär im faschistischen System. Dieser »reduzierte« antifaschistische Konsens hatte seine Hauptstoßrichtung freilich schon gar nicht mehr gegen den Faschismus, sondern im Zeichen der Totalitarismusthese - gegen Kommunismus und Sozialismus: weil, wie Rainer Barzel (CDU) 1965 im Bundestag so anschaulich sagte, »Hitler tot ist, Ulbricht (aber) lebt«. Der vorgeblich aus den Erfahrungen der Weimarer Republik gewonnene Grundsatz »keine Freiheit für die Feinde der Freiheit«, also die sogenannte »streitbare Demokratie«, traf denn auch so gut wie ausschließlich die Linken. (Dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei [SRP] 1952 folgten keine wirksamen realen Maßnahmen - ganz im Gegensatz zum Verbot der KPD 1956.) Doch selbst dieser reduzierte antifaschistische Konsens wurde von den herrschenden Kräften nach Möglichkeit noch weiter zerrüttet. Die vollständige Einstellung der Entnazifizierung, die Übernahme von etwa 150 000 Beamten und Angestellten, die wegen ihrer Tätigkeit im Faschismus zunächst entlassen worden waren, durch das sogenannte 131er Gesetz von 1951, der Aufbau der Vertriebenenverbände im wesentlichen unter der Führung ehemaliger Funktionsträger der NSDAP und die Duldung neofaschistischer Organisationen und Presseorgane waren schon symptomatisch genug. Da aber im Zeichen der Nato und der »Politik der Stärke«, die nach Adenauer auf die Befreiung »des gesamten versklavten Osteuropa« zielte 4 , der außenpolitische Feind wieder der gleiche war wie beim Krieg gegen die Sowjetunion vor 1945, ergab sich ein starkes Bedürfnis, diesen Krieg und die Kräfte, die ihn geführt hatten, also Wehrmacht und Waffen-SS, zu rehabilitieren obgleich die Waffen-SS vom internationalen Militärtribunal in Nürnberg als »verbrecherische Organisation« verurteilt worden war. So wurde die Bundeswehr unter der Führung ehemaliger Hitlergenerale aufgebaut; so wurden die Waffen-SS und ebenso die Gestapo durch Einbeziehung in das 131er Gesetz öffentlich rehabilitiert. So wurden SS-Traditionsverbände nicht nur zugelassen, sondern bei ihren Treffen in der Regel von Vertretern der lokalen Behörden, der Bundeswehr und der CDU begrüßt und gewürdigt; und so feierte Strauß die 203
Schlacht von Stalingrad als »sinngebendes Opfer« und »legitime Kalkulation« 5 und wies die These von der »Hauptschuld Deutschlands an den Weltkriegen« entschieden zurück. 6 Und Strauß variierte auch bereits in den sechziger Jahren immer wieder das Thema, die Bundesrepublik habe angesichts ihrer Leistungen ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr zu hören. Weiter konnte die regierende Rechte angesichts der internationalen Konstellation damals noch nicht gehen. Diese Kräfte, die - aus ihrer Sicht völlig zu recht - darauf bestanden, daß es sich bei dem 8. Mai 1945 um eine »Niederlage« und nicht um eine »Befreiung« gehandelt habe, hatten es trotz der herrschenden Hysterie des Kalten Krieges zunächst nicht leicht, ihre Machtstellung zu restaurieren. Allzu groß war das Mißtrauen der Nachbarstaaten auch im Westen, die unter der faschistischen Besatzung gelitten hatten. Um die staatliche Souveränität, die ökonomische Entfaltungsfreiheit und eine neue Militärmacht zu erlangen, waren bestimmte Konzessionen unumgänglich. Das hatten die herrschenden Klassen schon nach der Niederlage von 1918 erfahren - und erfolgreich bewältigt. 6a Jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, gehörten die Distanzierung vom Faschismus und seinen Verbrechen und die Anerkennung einer gewissen Schuld (die sich z. B. in den finanziellen Leistungen an den Staat Israel ausdrückte) zu den Vorbedingungen eines neuen machtpolitischen Aufstiegs. Sie bildeten den Preis für das Eintrittsbillet in den Kreis der »freien Nationen« und der »westlichen Wertegemeinschaft«. Das war es, was die »Unbelehrbaren« von der extremen Rechten nicht begreifen wollten. Schon der Sinn für politische Realitäten zwang die regierende Rechte, ihnen gegenüber gewissermaßen auf Distanz zu gehen. Sie konnte allerdings zugleich dafür sorgen, daß der Neofaschismus ungehindert sehr viel weiterreichende Positionen formulieren und so Bewußtseinsformen tradieren und neu schaffen konnte, die der Festigung rechter Ideologie insgesamt dienlich waren. Dieser Neofaschismus propagierte seit Beginn der fünfziger Jahre: die Vorwürfe gegenüber dem Deutschen Reich wegen der Planung und Führung eines Angriffskrieges und wegen all der Kriegsverbrechen und Massenmorde seien in den wesentlichen Punkten unhaltbar und erlogen und nur zu dem Zweck in die Welt gesetzt worden, um die Deutschen in geistiger und politischer Knechtschaft zu halten. Wer sie akzeptierte, mache sich also zum Handlanger des Feindes und verrate die nationalen Interessen. Diesen Positionen gegenüber konnte sich die regierende Rechte in 204
der Tat noch als »gemäßigt«, eben als »Mitte« darstellen - wobei allerdings die Übergänge, wie sie etwa von der Deutschland-Stiftung, den Vertriebenenverbänden und dem rechten Flügel der Unionsparteien repräsentiert wurden, durchaus fließend waren. 7 Wie man sieht, hatte also die etablierte Rechte schon Wesentliches geleistet in Hinsicht auf Rehabilitierung der Wehrmacht, der WaffenSS, des faschistischen Krieges gegen die Sowjetunion und des Faschismus insgesamt, als - nach einer zwölfjährigen Periode sozialdemokratisch geführter Regierungen - im Oktober 1982 die Rechte wieder die Regierungsmacht übernahm. Nun aber waren objektiv ganz andere Voraussetzungen gegeben als in den 50er Jahren: Die Bundesrepublik kommt nicht mehr als Bittsteller zu den anderen Staaten Westeuropas, sondern sie ist ökonomisch und militärisch (wieder) die stärkste Macht in diesem Raum; nur die Atomwaffen fehlen noch zur vollständigen Absicherung ihrer Position als Führungsmacht. Von dieser Position aus empfinden es beträchtliche Teile der herrschenden Klassen nicht mehr als zumutbar und auch nicht mehr als notwendig, eine »Büßerhaltung« einzunehmen. Sie verlangen, »aus dem Schatten Hitlers herauszutreten« und endlich »den aufrechten Gang« (F. J. Strauß) zu praktizieren. Daß das nicht ohne grundlegende Revision des bisher herrschenden Geschichtsbildes geht, liegt auf der Hand. b) Probleme bei der wissenschaftlichen Bewältigung Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus ist natürlich eingebettet in die allgemeinen politischen und geistigen Strömungen der Zeit, aber nicht einfach identisch mit der herrschenden Politik. Die relative Eigenständigkeit hängt mit Besonderheiten der wissenschaftlichen Arbeit und dem daraus resultierenden Selbstverständnis der Wissenschaftler zusammen: die Arbeitsweise insbesondere des Hochschulwissenschaftlers ermöglicht ihm eine verhältnismäßig starke Ausprägung seiner Individualität in seiner Forschung und Lehre. Und als Werkzeug hat er das gesamte Gedankenmaterial seiner Disziplin und seiner Zeit zur Verfügung, das er in relativer Autonomie aneignen, interpretieren und weiterdenken kann. In der Regel fügen sich zwar auch Wissenschaftler in ihrer großen Mehrheit ein in die herrschenden politisch-ideologischen Strömungen ihrer Zeit und akzeptieren die Normen darüber, was als legitim und schicklich gilt, zumal auf diese Weise Karriere und öffentliche Anerkennung am besten abzusichern sind. Aber die Besonderheiten wissenschaftlichen Ar205
beitens können auch das Bedürfnis fördern, nach originellen oder gar alternativen Lösungen geistiger Fragen zu suchen. Dieses Bedürfnis kann sich in bloßer Skurrilität erschöpfen. Es kann aber auch bewirken, daß herrschende Ideologien weitergedacht, reaktionäre Interessen und Bedürfnisse antizipiert werden: So war die Herausarbeitung der jungkonservativen und präfaschistischen Ideologie von rechten Intellektuellen bereits geleistet, lagen alle Elemente der faschistischen Ideologie bereits vor, als 1930 die politische Transformation in die Diktatur begann. Diese relative Autonomie kann aber auch dazu führen, daß demokratische Alternativen formuliert werden. Solche Möglichkeiten ergeben sich besonders dann, wenn das Ethos von Wissenschaft Wahrheitsfindung zum Nutzen der Menschen - ernstgenommen wird und wenn zugleich reale politische Kräfte in den Blick kommen, die eine Chance auf Durchsetzung dieser moralischen Postulate eröffnen. Die Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften der Bundesrepublik liefert für alle diese Varianten anschauliche Beispiele. Die Grenzen in der Frage, was in der Geschichtswissenschaft als legitim und schicklich galt, waren allerdings in der Bundesrepublik zur Zeit des Kalten Krieges ziemlich eng gezogen. Vor allem war die strikte Abgrenzung gegenüber linken Ideen eine absolute Notwendigkeit. Diese Grenzen waren jedoch durchaus in Ubereinstimmung mit den Traditionen und dem Weltbild der Historiker selbst. Seit dem Kaiserreich war es die Geschichtswissenschaft gewesen, die das Weltbild der gebildeten Schichten maßgeblich bestimmt, die als ideologische Leitwissenschaft fungiert hatte: Die Historiker legitimierten die Ausgrenzung der Arbeiterbewegung, die sozialen Privilegien des Bürgertums und des Adels ebenso wie den Militarismus und den Eroberungskrieg des Kaiserreiches. Und sie trugen nach 1918 — da die Revolution nicht stark genug gewesen war, die Hochschulen zu demokratisieren wesentlich dazu bei, daß ein konservativ-reaktionär-militaristisches Klima, das dann den Sieg des Faschismus ermöglichte, auch an den Hochschulen gedeihen und hier sogar besonders stark werden konnte. Im Bereich der Geschichtswissenschaft mußte der Faschismus also keine »Säuberungen« vornehmen; hier war man »sauber« geblieben von demokratischem und sozialistischem Denken. Und die Historiker standen denn auch in der Folge dem Faschismus zum allergrößten Teil treu und oft begeistert zur Seite, und viele traten auch der NSDAP als Mitglieder bei. Die theoretischen Grundlagen, auf denen die deutschen Historiker ihre Apologie des nationalen Machtstaats aufbauten, hatten Leopold von Ranke und dann seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Hi206
storismus entwickelt. 73 Danach ist der Staat das bestimmende Subjekt des Geschichtsprozesses, auf dessen Handeln sich also der Historiker zu konzentrieren hat. Sein Wesen ist Macht und Machtentfaltung und äußert sich demzufolge vor allem in der Außenpolitik und im Krieg. Da das Streben nach Macht die eigentliche Aufgabe des Staates ist, kann er dabei kein Unrecht auf sich laden, wenn er seinen Daseinszweck verfolgt. Aber der Staat ist nicht nur Machtstaat, sondern zugleich Repräsentant der Sittlichkeit, ist den Individuen und ihren Interessen übergeordnet, ist Selbstzweck. Daß dieses Denken dem Obrigkeitsstaat entspringt und gegen die Prinzipien der Aufklärung, der Volkssouveränität und der Demokratie gerichtet ist, liegt auf der Hand - und ebenso, daß sich damit jede Form staatlicher Gewaltpolitik nach innen und nach außen rechtfertigen läßt. Daß die konservativen Historiker in der gegenwärtigen Auseinandersetzung auf die Kategorien des Historismus zurückgreifen, ist kein Zufall. Aus einem zweiten Grund erwies sich der Historismus als gut brauchbar für die Darstellung des Faschismus: Eines seiner Prinzipien lautet, daß alle geschichtlichen Ereignisse und Persönlichkeiten einmalig und einzigartig seien. Aus dieser These von der Singularität ließ sich erstens ableiten, daß Hitler und der Faschismus einzigartig in der deutschen Geschichte in dem Sinne waren, daß nach Kontinuitäten mit den vorangegangenen Etappen nicht gefragt zu werden brauchte. Zweitens konnte man daraus ableiten, daß mit dem Untergang des faschistischen Systems und dem Tode Hitlers das Problem definitiv erledigt sei, und drittens folgte aus dem Historismus ohnehin, daß es einen zusammenhängenden Geschichtsprozeß gar nicht gibt, sondern nur eine Fülle von einzelnen Geschichten, deren Sinn nicht erkennbar sei: »Es läßt sich wissenschaftlich nichts aussagen über das Woher und Wohin der Geschichte«, schrieb Karl Dietrich Erdmann, Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands (1962 — 1967) und Vorsitzender des Deutschen Bildungsrats (1966 —1970).8 Natürlich begriffen diese Historiker nach 1945 - ebenso wie die Führungsschichten in den anderen Bereichen -, daß nun eine Distanzierung vom Faschismus erforderlich war, wenn man die eigene Position wieder festigen und auch international aus der Isolation herauskommen wollte. So befinden sich die Darstellungen der Fachhistorie über den Faschismus in dieser Zeit8a im großen und ganzen auf der Linie des offiziellen Selbstverständnisses der Bundesrepublik: Die Totalitarismusthese beherrscht das Feld, Rassismus, Antisemitismus und Konzentrationslager werden verurteilt - ebenso wie der 1939 begon207
nene Aggressionskrieg des Deutschen Reiches. Die gesellschaftlichen Interessen aber, denen diese Politik entsprungen war, die Kräfte, die sie getragen und durchgeführt hatten, blieben außerhalb des Blickfeldes. Die Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung, die Versklavung von Millionen ausländischer Arbeitskräfte und deren Verschleiß durch die deutsche Wirtschaft wurden überhaupt nicht erwähnt. Von »Machtergreifung« war die R e d e - u n d dieser Begriff aus dem faschistischen Propagandaarsenal ließ im Dunkeln, wer der NSDAP die Macht übertragen hatte. Und ebenso war von »Hitlers Gewaltherrschaft« die Rede als Produkt eines Einzelnen. Wenn die Führungsschichten aus Großwirtschaft, Militär, hoher Bürokratie und Kirche überhaupt vorkamen, dann entweder als Opfer der »totalitären Diktatur«, die alle gleichermaßen unterjocht habe, oder als Träger des Widerstands, als Repräsentanten des »besseren Deutschland«, die damit zugleich die moralische Qualifikation erworben hatten, im neuen Staat Führungsaufgaben zu übernehmen. Die Verantwortung für den Sieg des Faschismus und den Erfolg seiner Politik wurde statt dessen, soweit es ging, dem neuen (und alten) Staatsfeind, den Kommunisten, in die Schuhe geschoben: von der angeblich gemeinsamen Erdrosselung der Weimarer Republik durch Nationalsozialisten und Kommunisten bis zum angeblich sozialistischen oder gar proletarischen Charakter der faschistischen Bewegung 9 , vom Unterschlagen des Arbeiterwiderstands bis zum angeblich gemeinsamen Anzetteln des Zweiten Weltkrieges durch die beiden »totalitären Diktatoren« im »Hitler-Stalin-Pakt«. In diesem Geschichtsbild waren zweifellos Elemente der geschichtlichen Wirklichkeit enthalten. Eingestanden wurden vor allem diejenigen Tatsachen, die dem Selbstverständnis der westlichen Bundesgenossen entsprachen und sozusagen als Eintrittsbillet in die Gemeinschaft des Westens fungierten: Konzentrationslager und Aggressionskrieg gegen Polen sowie Rassismus, Antisemitismus und Führerdiktatur. Diese Elemente faschistischer Herrschaft wurden beschrieben - aber ernsthaft analysiert, d. h. in ihren Kausalzusammenhängen sichtbar gemacht, wurden sie nicht. Das Geschichtsverständnis des Historismus blieb das bestimmende. So ergab sich insgesamt ein Bild, daß ein Begreifen des Faschismus seiner Erfolgsbedingungen, seiner Interessenbasis und seiner tragenden Kräfte - nicht ermöglichte. Als einziges relevantes Subjekt der Handlung wurde der Führer Adolf Hitler präsentiert - als der große Einzeltäter. Die politischen und sozialen Kräfte erschienen im Verhältnis zur geschichtlichen Realität genau umgekehrt: Die Täter - aus den Führungsschichten - wurden als Opfer dargestellt, während die Opfer, 208
die Kommunisten und Sozialisten, als Täter erschienen. Da der Widerstand der Arbeiterbewegung unterschlagen und der 20. Juli als »der Widerstand« ausgegeben wurde, konnten Militär und hohe Beamtenschaft zugleich als moralisch saubere, tendenziell antifaschistische Kräfte erscheinen. Diese in der Geschichtswissenschaft vorherrschende Darstellung des Faschismus spiegelte also sehr deutlich die Machtverhältisse der Bundesrepublik in der Periode des Kalten Krieges, die im Bereich der Ideologie, des offiziellen Selbstverständnisses der Bundesrepublik, herrschten. Und da die Darstellungen der Geschichtswissenschaft eine überzeugende Erklärung dessen, was in Deutschland vor 1945 geschehen war, nicht boten, konnten sie auch keine Barriere dagegen bilden, daß allerlei aus der faschistischen Tradition stammende Legenden weiterwucherten. In manchen Fällen wurde der Legendenbildung geradezu Auftrieb gegeben, eben weil die eigenen Darstellungen nach dem allgemeinen Empfinden der Bevölkerung der Wirklichkeit nicht gerecht wurden. Als besonders problematisch erweist sich heute jene Variante der damals gängigen Darstellungen, die als den eigentlich Schuldigen das deutsche Volk bezeichnete. Diese zunächst aus den USA kommende und oft mit der Vorstellung von einem deutschen Nationalcharakter verbundene Kollektivschuldthese paßte deshalb recht gut in die herrschenden ideologischen Bedürfnisse der Bundesrepublik, weil damit erstens der Schuldverdacht von den Führungsschichten genommen wurde, die im Nürnberger Tribunal noch auf der Anklagebank gesessen hatten, und weil damit zweitens ein generelles Mißtrauen gegen das Handeln von Volksmassen, gegen »zuviel Demokratie« verbunden war, also die Stärkung der Staatsgewalt auf Kosten der Bürgerrechte begründet werden konnte. Die ideologische Folge aber war, daß damit die neofaschistische Agitation einen glaubwürdigen Anknüpfungspunkt erhielt: Das deutsche Volk müsse sich dagegen wehren, daß ihm ständig Schuldbewußtsein und Schuldbekenntnisse abverlangt werden. War die Kollektivschuldthese schon damals problematisch, weil sie nicht zwischen den wirklich Verantwortlichen und den Mitläufern und Verführten und nicht einmal zwischen Faschisten und Antifaschisten unterschied, so verlor sie mit dem Heranwachsen einer neuen Generation noch mehr an Realitätsgehalt. Gerade darauf aber baut der neue Nationalismus nun seine Argumentation auf: Unser Volk habe - wie jedes andere - ein gutes Recht, seine nationale Identität zu entwickeln und zu bekennen. Mit den ständigen Schuldbekenntnissen müsse es ein Ende haben. Hier sieht man, wie eine reaktionären Bedürfnissen dienende und die ge209
schichtliche Wahrheit über den Faschismus verschleiernde (wenn auch oft moralisch integren Motiven entspringende) Darstellung ihrerseits den Boden bereitet hat für noch weiter rechts angesiedelte Ideologien. Ein wirkliches Begreifen der Entstehung des Faschismus und der Triebkräfte seiner Politik war mit den von der Geschichtswissenschaft entwickelten Darstellungen also weitgehend blockiert - zumal man sich, wie schon seit dem Kaiserreich, einig war, daß linke Positionen in der Fachwissenschaft nichts zu suchen hatten. Dennoch konnten Elemente der geschichtlichen Realität wahrgenommen und beschrieben werden. Wie oben dargelegt, war die Politik der Bundesrepublik in dieser Zeit durch eine starke Diskrepanz gekennzeichnet: Einerseits wurden die Führungsschichten aus der Zeit des Faschismus wieder in ihre Machtpositionen eingesetzt und der neofaschistischen Propaganda freie Entfaltung eingeräumt; andererseits wurde in dem offiziell bekundeten Selbstverständnis der Bundesrepublik die Distanzierung vom Faschismus beibehalten. Die Parole lautete: Gegen jeden Totalitarismus (Extremismus, Radikalismus), komme er nun von rechts oder von links. 1962 erhob die Kultusministerkonferenz durch ihre »Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht« diese Totalitarismusthese faktisch in den Rang einer offiziell verbindlichen Staatsideologie, und 1972 bestätigte der »Radikalenerlaß« diese ideologische Position. Da nun die Geschichtswissenschaft der Universitäten auch als ein Sektor der Ideologieproduktion betrachtet werden kann, und zwar als ein solcher, der auch im Ausland wahrgenommen und mit dem betreffenden Staat in hohem Maße identifiziert wird, konnten sich hier Darstellungen entwickeln, die durchaus innerhalb der Grenzen dieser Ideologie verblieben, aber dennoch bestimmte Aspekte der faschistischen Wirklichkeit widerspiegelten. Vor allem was die Existenz der Konzentrationslager und die Entfesselung des Angriffskrieges 1939 betrifft, hielt die Wissenschaft an der geschichtlichen Wahrheit fest und grenzte sich deutlich von der neofaschistischen Apologetik ab. Als der US-Historiker David Hoggan und der Engländer Taylor das Deutsche Reich von der Verantwortung für den Krieg zu entlasten versuchten, fanden sie keine Unterstützung bei den Fachwissenschaftlern in der Bundesrepublik. In den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, dem Fachorgan, wurde ihnen präzis nachgewiesen, daß ihre Darstellungen unhaltbar waren. 10 Und auch im Jahre 1978, als ein Universitätshistoriker, Hellmut Diwald aus Erlangen, Auschwitz zu relativieren und zu verharmlosen unternahm 103 und sich damit neofaschistischen Positionen näherte, fand er zwar bereits einen renommierten Verlag, erhielt 210
jedoch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit keine nennenswerte Resonanz - während die neofaschistische Presse ihre Propaganda lange Zeit daraus nährte. Die Historiker, die in der Regel nach 1945 im Amt geblieben waren, hatten also gegenüber dem, was sie vor 1945 gelehrt hatten, doch beträchtliche Modifikationen vorgenommen. Soweit es sich dabei um Konzessionen an die neuen ideologischen Notwendigkeiten - und nicht um ein wirkliches Umdenken - handelte, fielen diese den Historikern jedoch um so leichter, als sie im übrigen ihr nationalkonservatives Geschichtsbild weitgehend beibehalten konnten. Der Faschismus wurde aus der Kontinuität der deutschen Geschichte herausgebrochen und als eine fremde, irgendwie von außen induzierte Macht interpretiert: Sei es als Resultat des Vertrages von Versailles oder eines Übermaßes an Demokratie, das unter dem Druck der Westmächte und dem Druck »der Straße« in Deutschland eingeführt worden war, sei es als Resultat des Wirkens einer singulären Führerpersönlichkeit. Die Legende von der im übrigen angeblich heil gebliebenen deutschen Geschichte wurde erst erschüttert, als Fritz Fischer und seine Schüler zu Beginn der 60er Jahre nachwiesen, daß das Deutsche Reich auch den Ersten Weltkrieg von langer Hand geplant, bewußt ausgelöst und mit dem Ziel der Unterwerfung halb Europas geführt hatte, und in den folgenden Jahren auch aufzeigten, daß es dann die gleichen Führungsschichten gewesen waren, die die Weimarer Demokratie ruiniert und das Bündnis mit der NSDAP geschlossen hatten, um einen neuen Krieg in Szene zu setzen.11 Damit war die Grundlage des nationalkonservativen Geschichtsbildes angegriffen, und die tonangebenden Historiker der Bundesrepublik fielen denn auch wie eine Meute über Fischer her und behandelten ihn so, als ob er ein Fälscher und ein Landesverräter sei. In der folgenden Diskussion, die sich alsbald international ausweitete, konnte die Fischerschule jedoch ihre Position festigen, und damit war die absolute Vorherrschaft des nationalkonservativen Geschichtsbildes gebrochen. Das blieb auch für die Faschismusdiskussion nicht ohne Folgen.
c) Frühe Rehabilitierungsversuche und die Polarisierung der Auseinandersetzung in den 70er Jahren Im Unterschied zu den wissenschaftlichen Publikationen über den Faschismus, die - wie gezeigt - selbst in der Periode des Kalten Krieges besonders in Hinsicht auf Terror und Krieg einige Elemente der faschi211
stischen Realität eingestanden und dargestellt hatten, setzte in weiten Bereichen der Publizistik bereits ein Revisionismus ein, der die Grenzen zum Neofaschismus oftmals schon verschwimmen ließ11* - auch dies durchaus in Übereinstimmung mit einer starken Strömung in der herrschenden Politik. Das Gedankenmaterial, mit dem hier gearbeitet werden konnte, lag bereits in großem Umfang vor. Ich wage sogar zu behaupten, daß seither und bis zur gegenwärtigen Variante des Revisionismus grundsätzlich neue Ideen und Argumentationsmuster nicht dazugekommen, sondern die schon vorliegenden nur neu arrangiert und neu akzentuiert worden sind - jetzt natürlich im Dienste neuer politischer Ziele und Konstellationen. Die Verfahrensweise dieses Revisionismus von rechts war ja immer (und ist auch heute) durch die Kombination von drei Elementen gekennzeichnet: erstens die Verbrechen des Faschismus zu verharmlosen und in den Bereich des Normalen zu rücken; zweitens einen Teil dieser Verbrechen zu legitimieren, indem man sie als Dienst für eine gute Sache, als harte, aber unumgängliche Notwendigkeit darstellt; und drittens schließlich den nicht entschuldbaren Teil dieser Verbrechen in seiner kausalen Struktur so zu verdunkeln, daß er schließlich anderen, am besten dem Sozialismus und dem Kommunismus angelastet werden konnte. Das Gedankenmaterial für diesen Umgang mit den faschistischen Verbrechen war zu einem beträchtlichen Teil bereits vom Faschismus selbst produziert worden: Die Methode der Verharmlosung fand ihren Ausdruck im offiziellen Sprachgebrauch (von der »Sonderbehandlung« bis zur »Endlösung«). Die Methode der Legitimation kennzeichnet die gesamte Politik des Faschismus: die Terrormaschinerie wurde 1933 etabliert »zur Rettung von Volk und Staat«, und der Krieg wurde geführt zur »Rettung Deutschlands« - und seit 1943 auch bereits zur »Rettung Europas« vor dem Bolschewismus. 12 Daß für Terror, Krieg und Massenmord andere verantwortlich waren, versteht sich von selbst: die Kommunisten sollen 1933 den Reichstag angezündet und die Juden sollen 1939 zum Krieg getrieben und Deutschland auch tatsächlich den Krieg erklärt haben: Am 30. Januar 1939 erklärte Hitler im Reichstag: »Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung Europas und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.« 13 Und der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war natürlich ein Präventivkrieg, der im letzten Moment einer unmittelbar 212
bevorstehenden sowjetischen Aggression zuvorkam - so wie auch der Überfall auf Polen 1939 schon als Verteidigungskrieg deklariert worden war, bei dem nach Hitlers Worten im Reichstag nur »zurückgeschossen« wurde. Diese vom faschistischen System bereits entwickelten Argumentationsmuster wurden 1945/46 von den als Kriegsverbrecher angeklagten Politikern, Militärs und Wirtschaftsführern zu ihrer Verteidigung aufgenommen und weitergeführt und seit dem Beginn der fünfziger Jahre in einer Flut von Memoiren und neofaschistischen Broschüren, Landserheften und Zeitungen übers Land ergossen - und so mancher der ehemaligen Aktivisten und Mitläufer konnte darin sein eigenes Bedürfnis wiederfinden, nicht die deutsche Regierung und die Nationalsozialisten, sondern andere für die Verbrechen verantwortlich erklärt zu sehen. Während also die regierenden Kräfte in ihrem offiziell deklarierten Selbstverständnis sich vom Faschismus distanzierten und aus der Tradition des bürgerlichen Widerstandes, besonders des 20. Juli, zu legitimieren suchten und auch die etablierte Wissenschaft Teilbereiche der faschistischen Verbrechen eingestand und darstellte, war in weiten Bereichen des politischen und publizistischen Alltags die Verharmlosung der faschistischen Verbrechen und die partielle Rehabilitierung des Faschismus bereits in vollem Gange. Der Zusammenbruch der Politik des Kalten Krieges führte vorübergehend zu einem beträchtlichen Aufschwung einer neofaschistischen Partei: Die NPD erlangte 1966 bis 1968 in den Landtagswahlen zwischen 5 und 10% der Stimmen, und das noch weit größere Potential, das diese Partei zwar nicht für sich mobilisieren konnte, das aber nachweislich vorhanden war14, machte deutlich, daß in der Tat, wie Brecht es formuliert hatte, »der Schoß noch fruchtbar« war, dem der Faschismus einst entsprungen war. Doch Entspannungspolitik und sozialliberale Reformhoffnungen gaben dann den linken Kräften einen so starken Auftrieb, daß nicht nur der organisierte Neofaschismus wieder zurückgeworfen, sondern die Rechte insgesamt geschwächt und für zwölf Jahre von der Regierungsmacht verdrängt werden konnte. Gewisse demokratisierende Strukturveränderungen an den Hochschulen, die Ausweitung des sozialen Zugangs zu den Hochschulen in die unteren Schichten hinein und eine allgemeine Liberalisierung der politischen und wissenschaftlichen Diskussionen festigten dann antifaschistische Denkformen besonders in der jungen Generation. Die konservativen Denkmustern weithin verhaftete Geschichtswissenschaft verlor wesentlich an Ansehen gegenüber der »jungen« Poli213
tikwissenschaft, die nach 1945 von den USA stark gefördert worden war und sich nun als »Demokratiewissenschaft« darstellte143, und vor allem gegenüber der Soziologie, die sich als Emanzipationswissenschaft par excellence präsentierte. Unter dem Einfluß dieser Entwicklungen konnte sich auch innerhalb der Geschichtswissenschaft auf dem linken Flügel eine sozialliberale Tendenz bilden, die sich gegenüber der bisher herrschenden, auf die Haupt- und Staatsaktionen und auf Personen- und Ideengeschichte konzentrierten Lehre den sozialund strukturgeschichtlichen Dimensionen des historischen Prozesses zuwandte. Diskussionen über das »Theoriedefizit« in der Geschichtswissenschaft brachen auf, und Befürchtungen wurden laut, daß diese Wissenschaft gänzlich ins Abseits gedrängt werden könnte, wenn sie sich nicht modernisiere. Für die Faschismusdiskussion hieß das, daß sich auch die etablierte Geschichtswissenschaft in einem gewissen Maße gegenüber neuen Fragen öffnen mußte, vor allem der Frage nach dem sozialen Charakter des Faschismus. Die ideologische Hegemonie des Konservatismus war auch in den Wissenschaft - wie in der Intelligenz generell - ins Wanken gekommen. Die Rechte mußte neue Strategien entwickeln, um diesen Tendenzen zu begegnen. Das tat sie sehr energisch. Die Rechte begriff, daß sie mit dem dürftigen intellektuellen Instrumentarium, das im Klima des Kalten Krieges ausgereicht hatte, nun nicht mehr auskam. Sie begann mit dem Aufbau einer wissenschaftlichen und ideologischen Infrastruktur zur Fundierung ihrer Politik: Zeitschriften, Verlage, Publikationsreihen, Akademien und Tagungen wurden geschaffen oder in Dienst genommen, um erstens eine wissenschaftliche Politikberatung zu gewährleisten und zweitens eine neokonservative Ideologie zu schaffen, die auch für die quantitativ enorm angewachsene Schicht der Intelligenz attraktiv sein konnte. Die Enttäuschung über die Preisgabe der Reformpolitik durch die sozialdemokratisch geführte Regierung, die Wirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit und der Zerstörung von Zukunftshoffnungen vieler junger Menschen und die offensichtliche Unfähigkeit der Regierenden, mit dieser Krise fertig zu werden, desorientierten das Reformpotential und schufen den Boden, auf dem das Ideologieangebot der Rechten attraktiv erscheinen konnte. Die Offensive rechter Historiker gehört in diesen Zusammenhang. Bereits Mitte der 70er Jahre setzte auch in der Faschismusfrage eine deutliche Polarisierung der Kräfte ein: Am 10. Mai 1975 demonstrierten in Frankfurt anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus 40 000 Menschen; das war die größte Demonstration, die 214
Frankfurt seit Kriegsende erlebt hatte. Am 22. April 1978 folgte in Köln eine internationale antifaschistische Manifestation mit 30 000 Menschen aus 17 europäischen Ländern, die in den Massenmedien eine große Resonanz erzielte. »Aktionsbündnisse mit zum Teil qualitativ neuer Breite bis in die Bundestagsparteien und in die Kirchen hinein trugen die Veranstaltungen«, die im gleichen Jahr anläßlich des 40. Jahrestages der Reichspogromnacht im November stattfanden.15 Im Mai 1978 warnte der DGB in zwei Beschlüssen seines 11. Bundeskongresses vor Verharmlosung von Faschismus und Neofaschismus und rief zur konsequenteren Bekämpfung und zur intensiveren Darstellung im Schulunterricht auf. Insgesamt veränderten sich in dieser Zeit Einstellungen zu Faschismus und Antifaschismus deutlich. So nahm die Zahl derjenigen, die meinen, daß die »Arbeit damals im Widerstand einen Menschen auszeichnet«, beachtlich zu: Mitte der 80er Jahre waren es 60% der Bürger der Bundesrepublik, 70% der 16—29jährigen (so eine Allensbachumfrage). Die Mobilisierungsfähigkeit der demokratischen Kräfte trat besonders deutlich ans Licht, als die Unionsparteien 1979 F. J. Strauß als Kanzlerkandidaten nominierten und als Reaktion darauf zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine relativ breite Volksbewegung gegen den Kanzlerkandidaten der Rechten entstand. Die nun gesteigerte Bereitschaft de? Bevölkerung, sich aktiv politisch zu engagieren, weitete sich in den folgenden Jahren dann in einem kaum für möglich gehaltenen Maße aus, als die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik anstand. Die Massenmobilisierung, die die Friedensbewegung erzielte, und die Durchbrechung des traditionellen Parteienmonopols durch die Grünen auch auf Bundesebene signalisierten, daß die Demokratisierung der Bundesrepublik eine neue Stufe zu erreichen im Begriff war. In diesem veränderten politischen Klima wurden nun auch in der fachwissenschaftlichen Forschung solche Themen kritisch angepackt, die man bisher nur apologetisch behandelt oder gänzlich gemieden hatte: insbesondere die Rolle des Kapitals bei der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung der faschistischen Diktatur und die Rolle der Wehrmacht bei der Konzipierung und Realisierung der faschistischen Politik - einschließlich der Massenmorde. Auch der Widerstand der Arbeiterbewegung - sogar der kommunistische - war nun nicht mehr gänzlich aus dem Blick zu verbannen.153 Zwar repräsentierten diese Arbeiten nur eine kleine Minderheit innerhalb der Historikerzunft, sie konnten aber nicht mehr als bloße politische Polemik abgetan werden. 215
In den 70er Jahren versuchte jedoch auch die Rechte, wieder in die Offensive zu gelangen. Mit großem Geld- und Propagandaaufwand wurde eine Kampagne gestartet, die als »Hitlerwelle« bekanntgeworden ist. Eine Flut von Broschüren, Zeitungsartikeln, Illustriertenserien, Filmen und Fernsehsendungen wurden übers Land geschwemmt, deren gemeinsame Aussage darin bestand, daß Hitler und sein System doch auch ihre positiven Seiten hatten - gerade in Hinsicht auf die Schaffung von Vollbeschäftigung und die Erzeugung eines Enthusiasmus fürs Ganze -, die es für die Lösung der heutigen Probleme sehr wohl zu bedenken gelte.16 »Die Welt« drückte das so aus: »Enthält die Korrektur des Hitlerbildes wirklich nur wissenschaftlichen Wert und Beruhigung für die Nerven, oder bildet sich. . . nicht vielleicht eine neue geschichtsmäßige Energie? Also: Wird man Hitler vielleicht noch wegen anderer Dinge als der Autobahn schätzen lernen?. . . Aber gerade darin erweist sich die epochale Bedeutung Hitlers, der die gründlichste, die deutsche Spielart des Faschismus beigesteuert hat. Heute, da die liberalen Versionen der Lebensregelungen fast ausgereizt sind, da die Frage nach der Ordnung sich oft herrisch stellt,. . . wächst das Interesse an jedem wichtigen Gegenstand der deutschen Vergangenheit, auch an Hitler.« 17 Zwei dieser Publikationen traten mit wissenschaftlichem Anspruch auf: Der Journalist J. C. Fest hatte eine Hitlerbiographie verfaßt, die mit einem enormen Aufwand zum Bestseller hochgejubelt, dann verfilmt und als pädagogisch wertvoll auch den Schulen anempfohlen wurde. Kurz darauf wurde Fest zum Mitherausgeber der FAZ berufen. Es folgte der Journalist Sebastian Haffner mit seinem Hitlerbuch, das ebenfalls mit großem Werbeaufwand auf den Markt geworfen und von staatlichen Instanzen in hohen Zahlen aus Steuermitteln angekauft und der politischen Bildung zugeführt wurde. 18 Hier erwies sich in der Tat schon zweierlei: Bereits die sozialliberale Regierung förderte die Propagierung eines Geschichtsbildes, das von dem bisher offiziell bekundeten Selbstverständnis der Bundesrepublik nach rechts abrückte. Und renommierte Historiker und Politikwissenschaftler beklatschten diese Bücher in ihren Rezensionen auch in der Presse als wissenschaftliche Meisterleistungen. Tatsächlich waren hier wesentliche Elemente dessen schon formuliert, was jetzt von den rechtskonservativen Historikern zu einem neuen Geschichtsbild verdichtet wurde: Fest entwickelte bereits das Argument, daß der Fehler Hitlers darin gelegen habe, daß er für den Krieg gegen die Sowjetunion nicht alle Kräfte Europas mobilisiert, sondern auch gegen den Westen Krieg geführt habe. Er votierte also 216
für eine Neubewertung des Krieges und für den Antibolschewismus als entscheidenden Maßstab auch für die Beurteilung der Politik Hitlers. Und Haffner legte dar, daß Hitler »eine Leistungskanone größten Kalibers« gewesen sei und durch sein »Wirtschaftswunder« die Arbeitslosigkeit beseitigt habe. Und was den Krieg betreffe, so sei dieser doch, solange es eine Vielzahl souveräner Staaten gäbe, eine ganz natürliche Sache, die keinesfalls kriminalisiert werden dürfe. Auch die Kriegsverbrecher seien besser »als Begleiterscheinungen einer unvermeidlichen Ausnahmesituation zu behandeln, in der gute Bürger und Familienväter sich ans Töten gewöhnten«. 183 In der positiven Bewertung der Bücher von Fest und Haffner durch die Fachwissenschaft und in verschiedenen Publikationen rechtskonservativer Historiker (z. B. von Hildebrand und Hillgruber) kündigte sich ein Trend nach rechts auch in der etablierten Geschichtswissenschaft an, der zwar von der Linken scharf kritisiert, von der liberalen Öffentlichkeit aber noch nicht so recht wahrgenommen wurde. Ernst Nolte konnte sogar schon seine These zu Auschwitz in der FAZ (24. Juli 1980) publizieren, ohne daß sich Protest regte.
2)
Die neue Qualität der Regierung der » W e n d e «
Der Boden war also in mannigfacher Hinsicht bereitet, als im Sommer 1986 die konservativen Historiker auf den Plan traten. Allerdings hatten auch die Gegenkräfte, wie oben dargestellt, seit dem Ende der 60er Jahre ein beträchtliches Maß an Handlungsfähigkeit erworben, so daß mit starker Gegenwehr zu rechnen war. Ideologisch hatte die Offensive von rechts bereits in der Zeit vor dem Machtantritt der Regierung Kohl eingesetzt. Schon seit geraumer Zeit war von einem neuen nationalen Selbstbewußtsein gesäuselt und gedröhnt worden - als ein gutes Recht, das den Deutschen wie jeder anderen Nation zukomme, und als ein Ausweg aus den vielfältigen Gefährdungen unserer Zeit. Dieses Selbstbewußtsein sei begründet angesichts der imposanten wirtschaftlichen und technologischen Leistungen, die die Bundesrepublik wieder in eine Spitzenposition im internationalen Wettbewerb gebracht habe. Europa erwarte geradezu, »daß die Bundesrepublik eine starke Führungsrolle in der internationalen Politik übernehme«. 18b Ein neues nationales Selbstwertgefühl sei aber auch sehr notwendig, um die erforderliche Leistungsbereitschaft für den internationalen Konkurrenzkampf und für die Wahrnehmung einer europäischen Führungsrolle zu erzeugen. Dazu gehöre auch die 217
erforderliche Wehrbereitschaft, denn: »Wer als regionaler Ordnungsfaktor auftreten will. . ., kann sich nicht auf die Rolle einer wirtschafts- und exportstarken Zivilmacht beschränken.« 18c Ebenso werde nationales Selbstbewußtsein und Durchhaltevermögen gebraucht, um die nationale Frage offenzuhalten und die »Spaltung Deutschlands« schließlich zu überwinden. Seit 1982 galt die so verstandene nationale Identität als ein wesentliches Merkmal der »geistig- moralischen Wende«, in deren Zeichen die Regierung Kohl angetreten war. (Die Argumentationsmuster und die Ziele dieses neuen Nationalismus sowie die Bedürfnisse, die er sich zunutze machen kann, habe ich in meinem Buch »Nation, Nationalismus, nationale Frage« [Köln 1986] im einzelnen dargestellt.) Von Anfang an wurde dabei beklagt, daß es für die volle Entfaltung des ökonomischen und militärischen Machtpotentials der Bundesrepublik ein schweres Hindernis gebe: die Erinnerung an den Faschismus und seine riesigen Verbrechen, die sich in der Tat den Völkern der Welt tief eingebrannt und auch das Denken der Bevölkerung der Bundesrepublik selbst in einem beachtlichen Maße beeinflußt hatte. Die Forderung mußte also lauten, daß die Bundesrepublik sich endlich lösen müsse »aus dem Bann der Jahre 1933 bis 1945« (Michael Stürmer) und »heraustreten« müsse »aus dem Schatten Hitlers« (F. J. Strauß). So verkündeten es konservative Historiker und Politikwissenschaftler, und so verkündeten es auch führende Politiker der Rechten.19 Damit war nicht nur das ideologische Angebot eines neuen Selbstwertgefühls für alle verbunden, die sich verunsichert fühlten und nach Identität suchten, sondern auch das Versprechen, die drängenden sozialen Probleme zu lösen durch erhöhte Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit des »nationalen Ganzen«. Um die Belastungen zu relativieren, die aus dem Faschismus und seinen Verbrechen herrührten, wurden andere Perioden der deutschen Geschichte als Möglichkeiten zu positiver Identifikation präsentiert: So wurde die Stauferausstellung groß aufgezogen, die einen doppelten Vorzug hatte: Die Periode war hinreichend weit weg sowohl vom Faschismus wie von aktueller Politik und war doch gekennzeichnet dadurch, daß das Deutsche Reich damals die Vorherrschaft über Europa besaß. (Schon von der Politikwissenschaft des Faschismus war der Hegemonieanspruch über Europa vom Staufer Friedrich II abgeleitet worden 19a .) Es folgte die Wittelsbacherausstellung in München, die der Förderung des bayerischen Staatsbewußtseins und Machtanspruchs diente. Den Höhepunkt bildete die Preußenwelle, die publizistisch ganz groß inszeniert wurde - noch bevor sich Wissenschaftler zu Wort 218
meldeten - und die nun schon sehr direkt die konservativ-preußischen »Tugenden« glorifizierte, die einst der Faschismus für seine Politik so gut hatte nutzbar machen können und die nun der Neokonservatismus der Bundesrepublik als ideologisches Angebot zur Lösung unserer Probleme erneut propagierte: Dienst fürs Ganze, Leistungs- und Opferbereitschaft, Vaterland, Familie und vor allem: militärische Stärke.19b Museen zur Deutschen Geschichte in Bonn und West-Berlin und eine Nationale Gedenkstätte für feierliche Anlässe in Bonn wurden geplant, um das richtige, nämlich nationalkonservative Geschichtsbild dauerhaft wirksam zu machen. Der Erlanger Historiker, Kanzlerberater und FAZ-Leitartikler Michael Stürmer formulierte den Grundgedanken für das neue Geschichtsverständnis so: 20 »Geschichte verspricht Wegweiser zur Identität«. »Wenn es uns nicht gelingt. . . uns auf einen elementaren Lehrplan der Kultur zu einigen, damit Kontinuität und Konsens im Land fortzuarbeiten und Maß und Mitte des Patriotismus wieder zu finden, dann könnte es sein, daß die Bundesrepublik Deutschland den besten Teil ihrer Geschichte hinter sich hat.« Dabei kommt es auf den politischen Effekt an - und nicht etwa auf die geschichtliche Wahrheit: »Die Zukunft wird nur der gewinnen, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.« Die Bundesrepublik aber brauche »jene höhere Sinnstiftung, die nach der Religion bisher allein Nation und Patriotismus zu leisten imstande waren«. Geschichte als Religionsersatz, um nationale Identität und politischen Konsens zu schaffen - das ist ein Programm, das in der Tat der ideologischen Offensive der regierenden Kräfte zugrunde lag. Und der Historiker hat eine primär politische, sogar quasi-militärische Aufgabe: er hat das Kampffeld zu besetzen und mit seinen - politisch definierten - Inhalten zu füllen. Die Richtlinien, die die Bundestagsfraktion der CDU/CSU für das »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« im November 1986 beschloß21, versuchten auch gar nicht mehr, den Anschein zu erwecken, als sei die geschichtliche Wahrheit die oberste Richtschnur. Als maßgeblich wird vielmehr dekretiert: Die staatliche und nationale Einheit Deutschlands bis zu einer friedensvertraglichen Regelung habe als Mittelpunkt der »gestalterischen Konzeption« zu fungieren. »Die ordnungspolitische Idee einer freien Wirtschaft in sozialer Verantwortung« sei als maßgeblich gestaltendes Element der Geschichte der Bundesrepublik in besonderer Weise herauszustellen. Auf Vertreibung, Menschenrechtsverletzungen an den Vertriebenen und auf deren Rechtslage sei besonders hinzuweisen. »Der Beitrag der Bundeswehr. . . zur gleichgewichtigen Sicherung der Freiheit und des Friedens 219
ist darzustellen.« Sie sei zu präsentieren als Antwort des freien Teils Deutschlands auf die »totalitäre Macht der Sowjetunion«. Aus der Indienstnahme der Geschichte durch politische Interessen wird hier also überhaupt kein Hehl mehr gemacht. Ein qualitativ neuer Schritt in der Frage der »Vergangenheitsbewältigung« war unternommen worden bei einem mit großer Publizität ausgestatteten Kongreß, der anläßlich des 50. Jahrestages der Berufung Hitlers zum Reichskanzler ins Reichstagsgebäude nach West-Berlin einberufen worden war. Der in Zürich lehrende Philosophieprofessor Hermann Lübbe, der als Kultusminister von Nordrhein-Westfalen einst zurückgetreten war, weil ein Gesetz zur Demokratisierung der Hochschulen beschlossen worden war, hatte dort ein Hauptreferat gehalten, das von den großbürgerlichen Zeitungen groß herausgebracht wurde. 22 Hier hatte er »das kommunikative Beschweigen der NS-Vergangenheit als Bürgerpflicht« (Haug) begründet: Das Schweigen über den Faschismus sei als Voraussetzung für die politische Konsolidierung und die Versöhnung nach innen in der Bundesrepublik notwendig gewesen; »diese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland.« Damit war aber auch schon klar gemacht, wer den inneren Frieden und die für eine aktive Politik notwendige Lösung »aus dem Bann der Jahre 1933 — 1945« bedrohte, wer der ideologische Gegner ist, der dem nationalen Wiederaufstieg im Wege steht: Dies ist der Antifaschismus, der seine Aufgabe ja genau darin sieht, das Bewußtsein über den Faschismus und seine Verbrechen wachzuhalten - nicht um bei den Deutschen insgesamt oder gar bei der jungen Generation Schuldbewußtsein und Bußfertigkeit zu erzeugen, wie die Rechte polemisch behauptet, sondern um dafür zu sorgen, daß deutsche Politik künftig anders gestaltet wird und daß sich dergleichen nicht wiederholen kann. In der Tat wurde nun der »Antifaschismus«, die »Antifa-Mentalität«, wie Franz Josef Strauß zu sagen pflegt, sowohl von den Theoretikern des neuen Nationalismus wie auch von der regierenden Rechten und ihrer Presse mit wachsender Schärfe als Feind deklariert - natürlich mit der Begründung, es handele sich um eine kommunistisch gesteuerte Angelegenheit. Zugleich war damit die Aufgabe gestellt, die Revision des Geschichtsbildes nun real in Angriff zu nehmen und insbesondere das mit der Vorstellung von Blut und Terror, Krieg und Massenmord verbundene Bild des Faschismus in helleren Farben zu pinseln. Hier sind wir nun direkt beim Ausgangspunkt der »Historiker-De220
batte« angelangt. Dies nämlich war die Lage, als der 8. Mai 1985, der 40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, herannahte und alle politischen Kräfte genötigt waren, dazu in irgendeiner Weise Stellung zu nehmen. Schon bei der Diskussion über den nationalen Gedanken als neuem Identitätsangebot hatte sich gezeigt, daß innerhalb der die Regierung tragenden Kräfte beträchtliche Differenzen bestanden. Diese mußten natürlich in einer Frage, die politisch noch so viel brisanter war, noch deutlicher hervortreten. Denn jetzt ging es nicht mehr nur um die Rehabilitierung einer ideologischen Komponente des Faschismus, des Nationalismus, sondern um eine Gesamtbewertung des Faschismus. So ist es nicht verwunderlich, daß die regierenden Kräfte zunächst einmal versuchten, dem Zwang zu entkommen, eine klare Stellungnahme abgeben zu müssen, und danach trachteten, der Lübbe-Linie zu folgen: »Lieber nicht davon reden.« Denn: »Grund zum feiern hat nur die Sowjetunion.« Und auch »die Nutznießer wären die Sowjets«, da durch solche Feiern ein »massiver psychologischer Keil zwischen zwei der Hauptalliierten der westlichen Seite« getrieben, die Bundesrepublik also isoliert werde. 24 Diese Kräfte votierten deshalb dafür, entweder überhaupt keine offizielle Gedenkveranstaltung abzuhalten oder eine auf Erbauung zielende: »Am angemessensten wären Gebetsstunden in Kirchen, ohne Politikerreden. . .« 25 »Am besten ist stilles Gedenken an die Opfer von Gewaltherrschaft - wo immer sie ums Leben kamen und weiterhin kommen.« 26 Das CSU-Organ Bayernkurier ging einen Schritt weiter: Den 40. Jahrestag zu feiern, wäre »blasphemisch und würdelos«, wäre eine »nationale Selbsterniedrigung«, »nützliches Idiotentum im Sinne Lenins«. Auch der Bayernkurier votierte für einen Gottesdienst im Kölner Dom als angemessenem Rahmen für »Trauer, Besinnung und Gebet« (2. Februar 1985). In der Tat fand dann eine gemeinsame Messe der beiden christlichen Kirchen im Kölner Dom statt, bei der Kardinal Höffner jenen Kräften seinen Segen erteilte, die »Schluß der Debatte« verlangten: »Wir sollten vergangene Schuld und gegenseitig (!) zugefügtes Unrecht nicht immer wieder selbstquälerisch hervorholen. . .« In der Tat: auch über das Unrecht, das die Häftlinge der SS und die Zwangsarbeiter den deutschen Kapitalisten angetan haben, sollte nun endlich geschwiegen werden dürfen - im Namen der christlichen Nächstenliebe! Angesichts der internationalen Diskussion sowie einer starken Politisierung der antifaschistischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik selbst, die auch Teile der Gewerkschaften ergriff, ließ sich die Position der Enthaltsamkeit jedoch nicht durchhalten. 221
In der Folge trat der Riß innerhalb der regierenden Kräfte offen zutage. Bundeskanzler Kohl schlug dem US-Präsidenten Reagan vor, bei seinem Besuch in der Bundesrepublik gemeinsam den Soldatenfriedhof in Bitburg aufzusuchen, Reagan aber hatte auf Druck jüdischer Bevölkerungsgruppen in den USA bereits zusagen müssen, ein Konzentrationslager zu besuchen. So verneigten sich beide zuerst vor den Opfern des faschistischen Terrors im Konzentrationslager BergenBelsen und am gleichen Tage vor den Gräbern der Wehrmacht und der Waffen-SS in Bitburg. Man konnte zwar nun einerseits mit Unschuldsmiene sagen, man stehe eben zur »gesamten deutschen Geschichte«, aber in Wahrheit war Bergen-Belsen eben doch eine Niederlage. Die FAZ hatte bereits am 18. April die Sowjetunion als Subjekt und Nutznießer auch dieser Handlung ausgemacht: »Gerade ist ihr gelungen, gegen Präsident Reagan so starken Druck aus Teilen der Öffentlichkeit in Europa und den Vereinigten Staaten zu entfesseln, daß er - entgegen seiner wohlbegründeten ursprünglichen Absicht - . . . ein ehemaliges Konzentrationslager besuchen muß.« Andererseits aber waren nun doch Wehrmacht und Waffen-SS sowohl durch die Bundesregierung wie durch die Führungsmacht der NATO öffentlich rehabilitiert. Und damit war eine Position fixiert, die Alfred Dregger und der Stahlhelmflügel bereits vorher gefordert hatten: es wurde eine direkte Linie gezogen vom Kampf der faschistischen Wehrmacht gegen die Sowjetunion in der Schlußphase des Krieges und der heutigen Notwendigkeit der Verteidigung gegen den gleichen Feind. Behauptet wurde also eine Identität beider Frontlinien. Jene Beurteilung des 8. Mai, die zwar von der extremen Rechten schon immer vertreten, aber in der Vergangenheit innerhalb der etablierten Rechten nur von einzelnen Stimmen unterstützt worden war, wurde nun von einer starken Fraktion der regierenden Rechten übernommen und offensiv vorgetragen. Beim 8. Mai 1945 habe es sich keineswegs um »Befreiung« gehandelt, sondern eher um »eine verheerende Niederlage, fast eine Katastrophe« für Deutschland - wenn nicht gar für Europa.263 F. J. Strauß sagte in seiner Gedenkrede am 28. April vor dem Bayrischen Landtag: »Es ist an der Zeit, daß Europa 1945 nicht als eine Niederlage Deutschlands, sondern als seine eigene Niederlage ansieht und daß es unter seinen Völkern die Schuld am größten Verbrechen, das es jemals gegen seine eigene Zivilisation beging, gleichmäßig verteilt.« Daß Strauß für diese Aussage einen Leserbrief aus der »Welt« als Zitat bemühte, drückt wohl aus, daß er für diese Bewertung nicht direkt haftbar gemacht werden wollte. Aber auch er selbst sah in der 222
Frage der Verantwortung für die Kriege kein besonders deutsches Schuldproblem, sondern eher eine Folge der »Mittellage in Europa« mindestens in Hinsicht auf den Ersten Weltkrieg -, und vor allem sah er die Einbettung in eine gesamteuropäische Kriegsschuld. Zweierlei war in diesem Thesen nun behauptet: Erstens daß das faschistische System - alles in allem gesehen - die Interessen Deutschlands und sogar die Interessen Europas vertreten und - im Unterschied zu den Westmächten - schon damals den richtigen Feind bekämpft habe, nämlich den im Osten. Wer also hatte da wem Belehrungen zu erteilen? Und zweitens, daß die Verbrechen des Faschismus Normalität beanspruchen können und sich einordnen in die anderen Verbrechen anderer Völker und Staaten: Der Bayernkurier weist deshalb nachdrücklich hin auf »den anderen Teil der Wahrheit«: auf die Bombardierungen deutscher Städte, die »Barbareien« der Roten Armee und das »Nachkriegsverbrechen« der Vertreibung (2. Februar und 30. März 1985). Die Schlußfolgerungen lagen auf der Hand: Der bayrische Justizminister Lang befand, daß die Debatten um Auschwitz dem Ansehen der Bundesrepublik schaden, und Strauß verlangte, daß nun endlich ein Schlußstrich gezogen werde, denn »kein Volk kann auf Dauer mit einer kriminalisierten Geschichte leben« (Bayernkurier vom 23. Februar und 4. Mai 1985). Nicht nach rückwärts sei der Blick zu richten, sondern nach vorn: auf die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, damit das »politisch geeinte« Europa »mit einer Stimme sprechen« könne und »im Orchester der Weltmächte nicht mehr in zweiter Linie« stehe (Bayernkurier vom 9. Februar und 4. Mai 1985). Damit waren also bereits alle zentralen Thesen formuliert, die ein Jahr später von konservativen Historikern aufgegriffen und mit der Weihe wissenschaftlicher Erkenntnis versehen wurden. Oder anders gesagt: Es waren bereits alle wesentlichen ideologischen Aussagen formuliert, für die dann wissenschaftlicher Beistand gesucht - und gefunden - wurde. Dieser Kurs aber erwies sich zunächst nicht als durchsetzbar. Schon innerhalb der regierenden Kräfte war er offenbar nicht voll konsensfähig. Der Widerspruch wurde am klarsten und wirkungsvollsten artikuliert vom Bundespräsidenten Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai im Bundestag. Schon der schlichte Satz »der 8. Mai war ein Tag der Befreiung« stellte eine klare Absage an den rechten Flügel dar. Und gegen die Aufrechnungsideologie gerichtet hieß es da: »Wir dürfen nicht in dem Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang. . . Wir dürfen den 223
8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.« Und dann zählte der Bundespräsident die Opfer auf, und diejenigen, die Widerstand geleistet hatten - und es kamen darin die »unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen« vor und die »erschossenen Geiseln«; und bei den Kräften des Widerstands nannte er ausdrücklich den »Widerstand in der Arbeiterschaft und bei den Gewerkschaften«, den »Widerstand der Kommunisten« und den »Widerstand in allen von uns besetzten Staaten«. Sicherlich, dies war keine kritische Faschismusanalyse. Weizsäcker schloß an die bügerlich-liberalen Geschichtsbilder an und teilte deren Schwächen: er stellte den Begriff »Gewaltherrschaft« in den Mittelpunkt, der den sozialen Charakter mehr verdunkelt denn erhellt, sprach diffus von den »unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung«, stellte Hitler als die bestimmende Kraft dar, schwieg über die herrschende Klasse, das Kapital, das Militär und die staatliche Bürokratie, stellte den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag als Kriegsursache dar und wählte in der Frage der »Einheit der Nation« Formulierungen, die sehr unterschiedlich interpretierbar waren. Und doch hatte er damit schon eine Position bezogen, die für den rechten Flügel der regierenden Kräfte einen Affront darstellte und innerhalb seiner eigenen Partei denn auch harschen Widerspruch, aber kaum Unterstützung fand. (Statt dessen beriefen sich in der Folge Sozialdemokraten, Gewerkschafter und antifaschistische Organisationen auf diese Rede.) Auch die großbürgerliche Presse - mit Ausnahme der »Zeit« - war, wie bereits dargestellt, schon seit längerem klar auf die Dreggerlinie gegangen. Dies ist nicht verwunderlich für die Springerzeitung Die Welt und den Bayernkurier und auch kaum verwunderlich für den Rheinischen Merkur, gilt aber auch für die FAZ, die sich selbst immer noch - als »liberal« deklariert. Der Rheinische Merkur nannte Weizsäcker einen »Präsidenten der Unpolitischen« und stellte seinem Satz von der »Erlösung« durch »Erinnerung« entgegen: »Erlösung durch freiheitliches Handeln«. Besonders schlimm fand er, daß Weizsäcker die Kommunisten in die Kräfte des Widerstands einbezogen habe: Das sei gleichbedeutend mit der Preisgabe der Totalitarismusvorstellung und mache den Präsidenten unglaubwürdig (16. Juni 1985). Schärfer und präziser formulierte Alfred Dregger: ». . .beklagenswert . . . sind Geschichtslosigkeit und daraus erwachsende Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Nation. . . . ohne einen elementaren Patriotismus, wie er für andere Völker selbstverständlich ist, wird auch unser Volk nicht überleben können. Wer die Vergangenheitsbewälti224
gung, die gewiß notwendig war, dazu mißbraucht, unser Volk zukunftsunfähig zu machen, dem muß widersprochen werden. Niemand sollte sich in Ost und West einbilden, daß die Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze auf Dauer gespalten werden können.« 26b Auch die FAZ konnte sich mit der Interpretation des Bundespräsidenten nicht abfinden. Sie suchte und fand einen Konservativen, der ausdrücklich als Gegenpol zu Weizsäcker präsentiert wurde und dessen Autorität ausschließlich darin bestand, daß er als Amerikaner und als Jude vorgestellt werden konnte. 27 Ansonsten konnte die FAZ über ihn nur vermelden, daß er ein »Sammler wissenschaftlicher Literatur« sei. Eine wirkliche wissenschaftliche Autorität hatte die FAZ offenbar noch nicht auftreiben können. Dieser Autor berief sich nun auf die Macht des »Teufels«, der »will, daß die ermordeten Opfer der Vergangenheit uns die ermordeten Sklaven eines Reiches vergessen lassen, das in unserer Gegenwart andauert«. Er warnte vor den »Verführungen einer kollektiven Schuldbesessenheit« (so der Untertitel), paßte sich also auch sprachlich der neofaschistischen Propaganda an und forderte auf, nunmehr den aktuellen Feind ins Auge zu fassen. So wird man also sagen können, daß die Rechte ihre Offensive mit Bitburg für alle erkennbar verstärkt hatte, daß sie damit eine Polarisierung der Kräfte in Gang gesetzt hatte, daß sie aber nicht durchgekommen war und daß jene oben beschriebenen antifaschistischen Positionen gehalten hatten. Dies also war die Ausgangslage für die nächste Etappe der Offensive, die die konservative Rechte im Sommer 1986 startete. Als Plattform fungierten erneut die großbürgerlichen Zeitungen, und den allgemeinen ideologischen Rückhalt bildete das, was die führenden Politiker der regierenden Rechten mit wachsender Schärfe äußerten. Doch wurden die Forderungen nach Revision des Geschichtsbildes nun präsentiert als Resultat wissenschaftlicher Forschungen und ausgestattet mit dem Renommee anerkannter Historiker. Die Position der Rechten in den vergangenen Auseinandersetzungen war nämlich durch die Unsicherheit gekennzeichnet gewesen, wie weit man denn in der Rehabilitierung des Faschismus gehen und wie konkret man sich denn auf die prekären Fragen - Aggressionskrieg, Auschwitz usw. - einlassen könne, zumal nun die Autorität des Bundespräsidenten konterkariert werden mußte. Der Bedarf nach wissenschaftlichem Beistand war also offensichtlich geworden. Er konnte befriedigt werden.
225
B.
Die Debatte: Verlauf und Struktur
Ich muß mich im folgenden notgedrungen auf die drei Hauptlinien beschränken, auf die sich der Konflikt inhaltlich konzentrierte: die Bewertung des »Abwehrkampfes« gegen die Sowjetunion an der Ostfront 1944/45, die Beurteilung des Kriegsbeginns gegen die Sowjetunion 1941 und das Auschwitzproblem. Daß die Offensive in diesen drei Problemfeldern gestartet wurde, dürfte nicht einer konzertierten Aktion der beteiligten Historiker entsprungen sein, sondern der Tatsache, daß über sie gerade Publikationen renommierter konservativer Historiker vorlagen - zum Teil sogar schon seit längerer Zeit. In ihrem Zusammenwirken aber ergeben sie durchaus einen umfassenden Versuch zur Revision des Geschichtsbildes über den deutschen Faschismus. Sie können zugleich gelesen werden als Konkretisierungen dessen, was Michael Stürmer als Aufgabe von Geschichtswissenschaft und was Dregger, Strauß und Kohl als politische Notwendigkeit formuliert hatten. Aufgezeigt werden sollen also die Grundzüge des neuen Geschichtsbildes. Gegenübergestellt wird dann im nächsten Kapitel die Kritik der Historiker (und Publizisten), die sich dagegen zur Wehr setzten. Die Antwort der konservativen Historiker auf diese Kritik ist so symptomatisch, daß sie - im Anschluß daran - eine gesonderte Betrachtung verdient. Die Darstellung erfolgt also nicht streng chronologisch, sondern eher systematisch. Im Zentrum steht die Frage, welche Positionen sich mit welchen Argumenten gegenüberstehen. Tatsächlich wurden diese Positionen manchmal erst im Verlaufe der Debatte in einem Hin und Her der Argumente, herausgearbeitet.
1)
Offensive
mit
wissenschaftlichem
Beistand
a) Identifikation mit der kämpfenden Ostfront (Hillgruber) Im April 1986 druckte die »Welt« in mehreren Fortsetzungen einen Beitrag des Kölner Historikers Andreas Hillgruber, der auch als Buch beim Siedler-Verlag, dem Hauptproduzenten konservativer Ideologie auf dem Buchmarkt, erschien.273 Hillgruber hatte sich bei der Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einen angesehenen Namen gemacht. Als Gutachter nahezu aller wesentlichen Institutionen, die Forschungsmittel zu vergeben haben, gehört er zu den einfluß226
reichsten Historikern der Bundesrepublik. In den letzten Jahren hatte er sich in wachsendem Maße auch politisch engagiert, hatte häufiger in der »Welt« publiziert, war gemeinsam mit F. J. Strauß im Fernsehen aufgetreten und hatte dort Strauß die Stichworte, d. h. die Möglichkeit geliefert, sein Verständnis von Geschichte zu präsentieren und mit der Aura von Wissenschaftlichkeit zu umgeben. Im Herbst 1986 interviewte er dann Bundeskanzler Kohl für die »Welt« (1. Oktober 1986) und ließ diesen die phänomenale Pflichterfüllung rühmen, die in den letzten Kriegsjahren gerade die deutschen Frauen gezeigt hätten, die der Kanzler »Heldinnen« nannte - wobei nach den Nutznießern und den Opfern dieser Pflichterfüllung nicht näher gefragt wurde. Zwischen Hillgruber und Kohl ergaben sich dabei keinerlei Meinungsverschiedenheiten. Im April 1986 also veröffentlichte Hillgruber in dieser Zeitung seine Beiträge über die »Zerschlagung des Deutschen Reiches« und über das »Ende des europäischen Judentums«. Daß dies alles mit Politik überhaupt nichts zu tun habe, sondern rein fachwissenschaftlichen Charakter trage, wie es von Hillgruber selbst und von anderen konservativen Historikern seither dargestellt wird, ist also schon angesichts dieser Umstände eine sehr fragwürdige Behauptung. Hillgruber entwickelt hier die folgende Argumentationslinie: Das Deutsche Reich habe seit seiner Gründung 1871 in Mitteleuropa als Ordnungsmacht gewirkt und »für das übrige Europa« zudem eine »Vermittlerrolle zwischen Baltikum und Schwarzem Meer« wahrgenommen. Statt aber Preußen und das Deutsche Reich - hier schließt Hillgruber direkt an die Preußenwelle an - in dieser Funktion zu begreifen, hätten die Westmächte im Zweiten Weltkrieg ein »extrem negatives, klischeehaftes Preußenbild«, die Vorstellung »vom >aggressiven< preußischen >Militarismus<« entwickelt und die Zerschlagung Preußens beschlossen - lange bevor ihnen Hitlers Holocaust bekannt gewesen sei. So brach also 1945 »die ordnende Mitte Europas« zusammen. Hillgrubers Schlußfolgerung fungiert in der »Welt« (15. April) als Überschrift des gesamten zweiten Teils: »Diesen Krieg hat ganz Europa verloren.« Im Unterschied zu den Westmächten hat danach also das Deutsche Reich bis 1945 die Interessen Europas vertreten und den richtigen Feind im Visier gehabt. Da das Deutsche Reich also auch in seiner faschistischen Gestalt die Interesen Europas gegen die Gefahr aus dem Osten verteidigt hat, ist es nur konsequent, daß sich Hillgruber mit dem »Abwehrkampf« des »Ostheeres« identifiziert - so wie die Soldaten des Ostheeres selbst in dieser »tragisch-ausweglosen Situation«, diesem »hoffnungslosen Rin227
gen zur Identifikation mit dem Hitlerreich gezwungen waren«. 28 Die Tatsache, daß es SS-Freiwillige aus anderen europäischen Ländern gab, veranlaßt ihn sogar, von einer »europäischen Konzeption der SS« zu sprechen. Mit diesen Thesen ist nun offensichtlich das faschistische System trotz seiner Verbrechen, die Hillgruber keineswegs verschweigt - für verteidigenswert erklärt. Hillgruber identifiziert sich damit implizit auch mit der faschistischen Parole »Kampf bis zum letzten Mann«, die in der Tat noch Millionen Menschen das Leben kostete und noch viele deutsche Städte in Trümmer legte. Seine Begründung lautet: »Das deutsche Ostheer bot einen Schutzschirm vor einem jahrhundertealten deutschen Siedlungsraum, vor der Heimat von Millionen Ostdeutschen. . . Und das deutsche Ostheer schützte in einem ganz elementaren Sinne die Menschen in eben diesen preußisch-deutschen Ostprovinzen, denen im Falle einer Überflutung ihrer Heimat durch die Rote Armee. . . ein grauenhaftes Schicksal drohte.« Aber das »deutsche Ostheer« leistete noch mehr: »In eben dieser Situation rang das deutsche Ostheer doch auch mit seinem verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches.« Das ist politisch natürlich der Kern der Sache, und diese Sache, die »Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung« ist - Faschismus hin oder her - ein Wert, für den nach Hillgruber zu kämpfen, zu sterben und zu töten sich lohnt. Für die Gegenwart ergibt sich daraus, wie Hillgruber in einem späteren Interview erläuterte 29 , das Ziel, die Politik mit der DDR und den osteuropäischen Staaten »in der Weise neu zu gestalten, daß diese >mitteleuropäischen< Verbindungen wieder zum Tragen kommen«. Das bedeutet zunächst die Warnung vor der Reduktion auf ein bundesrepublikanisches Nationalbewußtsein 291 , vor der Preisgabe der Einheit Deutschlands. Doch die Ansprüche reichen weiter: Eben diese Verbindungen, wie sie damals die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Osteuropa kennzeichneten, will Hillgruber wieder »zum Tragen« bringen. Diese Formulierung ist so entlarvend, daß es dann auch nicht viel nützt, wenn Hillgruber erklärt, daß die alte Konzeption eines Mitteleuropa unter deutscher Führung »infolge des Ausgangs des Zweiten Weltkrieges historisch erledigt« sei. Kohl definiert nämlich in dem Gespräch mit Hillgruber »die Konstruktion von Gesamteuropa als unsere Hauptaufgabe«, und er gibt auch an, was in diesem Zusammenhang unter Europa zu verstehen ist: »Zu Europa, wie ich es verstehe, gehören . . . Polen, die Tschechoslowakei . . . Weimar und Dresden . . . Leningrad.« Die Formel »Schlesien bleibt unsere Zukunft«, 228
auf die sich die Bundesregierung bereits 1985 festgelegt hatte, wurde nun dahingehend präzisiert, daß für alle Polen »eine freiheitliche Gesellschaftsordnung« geschaffen werden müsse - aber natürlich nicht nur für die Polen, sondern für »Gesamteuropa«. Bei dieser Bewertung des »Abwehrkampfes« der Ostfront im Dienste Europas ergeben sich allerdings einige weitere Fragen: War es denn nicht eigentlich ein Aggressions- und Eroberungskrieg, den das Deutsche Reich da begonnen und geführt hat? Standen Terror und Massenmord nicht im Dienst der Versklavung dieser Völker? Aus dem Munde Kohls erfährt der erstaunte Leser hingegen, daß es sich um »Rache« handelte, die »in deutschem Namen in Polen und anderswo geübt wurde«. Danach müssen es wohl die anderen gewesen sein, die angefangen haben; und dann sind sie ja wohl auch selber schuld. Die allgemeinen Schlußfolgerungen, die sich aus diesem Geschichtsbild ergeben, liegen auf der Hand: Wenn es um die Verteidigung gegen die Gefahr aus dem Osten geht, so muß man mancherlei in Kauf nehmen, wenn es sein muß eben auch faschistischen Terror - denn das Foltern und Morden hielt ja in der Tat bis zum letzten Tag an, und Hillgruber verheimlicht das auch nicht. Und zweitens ergibt sich: Da der Faschismus nicht nur die Interessen Deutschlands, sondern die Europas vertreten hat, ist er in einem noch höheren Sinne legitimiert; der heutige Kampf gegen die Sowjetunion kann also durchaus als die Fortsetzung des faschistischen Krieges begriffen werden. So hatte es Alfred Dregger in seinem Brief an die US-Senatoren bereits vorgetragen. Und so sieht es auch Michael Stürmer: Mit ihrem Übergang zur Politik der Konfrontation 1946 traten die USA »ohne es zu wissen . . . in die Erbschaft des Deutschen Reiches ein«. (FAZ v. 6. September 1986). Die Westmächte hätten also allen Anlaß, ihren damaligen Kampf gegen Deutschland als Fehler einzugestehen und daraus für heute zu lernen, daß sie die Machtansprüche der Bundesrepublik als die Sache Europas, als ihre eigene Sache zu begreifen haben. Wie man sieht, weisen diese Thesen nur wenig Originelles auf. Sie gehören zu den ideologischen Grundbeständen der rechtskonservativen Presse und der Stahlhelmfraktion in den Unionsparteien, sie wurden von Alfred Dregger mehrfach vorgetragen - und sie werden natürlich auch von der neofaschistischen Presse seit Jahrzehnten verfochten. Das Neue besteht hauptsächlich darin, daß sie nun mit dem Renommee eines anerkannten Historikers versehen und mit einigen zusätzlichen Reflexionen über die »Tragik« dieses »Abwehrkampfes« ausgestattet wurden. In diesem Geschichtsbild ist auch für eine positive Bewertung des 229
antifaschistischen Widerstands kein Raum mehr. Die Widerstandskämpfer werden entweder zu Komplizen des Bolschewismus oder zu Traumtänzern, zu bloßen »Gesinnungsethikern« wie die Männer des 20. Juli - gegenüber den »Verantwortungsethikern«, die bei Hillgruber von den Funktionären des faschistischen Staates repräsentiert werden. Hätte der Putsch gesiegt, so hätte dies nämlich die Sowjetunion »zu noch schnellerer Kriegsentscheidung genutzt«, der Krieg wäre also rascher zuende gewesen - für Hillgruber offensichtlich eine schreckliche Vorstellung. Mit dieser Bewertung des Widerstandes ist der Boden dessen, was bisher als das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik gegolten hatte, gänzlich verlassen. Das also war die erste Stufe der rechten Offensive mit wissenschaftlichem Beistand. Die Hauptaussage bestand darin, daß mindestens der Faschismus der letzten Kriegsjahre verteidigenswert gewesen war und für die heutige Problemlage ein zwar nicht widerspruchsfreier, aber letzten Endes doch positives Vorbild darstellen kann. Ihre wissenschaftliche und politische Schwäche bestand darin, daß sie die letzte Phase des Krieges ziemlich willkürlich ablöste vom Gesamtcharakter des faschistischen Krieges. War denn das Regime, das 1944/45 den »Abwehrkampf« führte, nicht dasselbe, das 1939/41 einen Aggressionskrieg begonnen hatte - mit dem Ziel, die Völker bis zum Ural dauerhaft zu versklaven und »-zig Millionen«, wie es in den Planungen heißt, zu ermorden? Waren die Jahre 1944/45 dann nicht die letzte Phase eines Mörderregimes, das von den Völkern Europas nun endlich zerschlagen wurde? Diesen Fragen hat sich Hillgruber nicht gestellt. b) Stalins drohender Aggressionskrieg 1941 (Gillessen, Hoffmann) Diese Defizite waren nur zu beheben, wenn es gelang nachzuweisen, daß der Krieg gegen die Sowjetunion von Anfang an kein Aggressionskrieg war, sondern eine Verteidigungsmaßnahme. Sollte es wirklich jemanden geben, der - angesichts des überwältigenden Beweismaterials, das hier vorliegt - diese abenteuerliche These vertreten und doch in der Öffentlichkeit als seriös akzeptiert würde? Sicherlich: die Hitlerregierung selbst hatte dies natürlich in ihrer Propaganda behauptet, und der Neofaschismus hatte es aufgegriffen. Aber nie hatte ein seriöser Wissenschaftler dergleichen ernstgenommen. Die CSU hatte einen solchen Vorstoß bereits unternommen - gestützt auf das Buch des Grazer Sozialphilosophen Ernst Topitsch. Sie hatte dieses Buch »Stalins Krieg« in einer eigens dafür angesetzten Pressekonferenz in Bonn groß herausgebracht und als geschichtswis230
senschaftliche Wende gefeiert. In diesem Buch versuchte Topitsch nachzuweisen, daß bei der Entfesselung des Krieges 1939 in Wahrheit Stalin der Drahtzieher gewesen war, der - mittels des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages, des »Hitler-Stalin-Paktes« - Hitler für seine Zwecke instrumentalisiert hatte. Die politische Resonanz auf diesen Vorstoß blieb allerdings gering, und auch die Fachwissenschaft sah keinen Anlaß, sich mit diesen Thesen ernsthaft zu befassen, denn: Sie standen offensichtlich in überhaupt keinem Bezug zum Stand der Forschung; die politische Funktionalisierung durch die CSU war auch allzu offensichtlich; und schließlich welches Gewicht für die Geschichtswissenschaft hatte schon Ernst Topitsch? Nun aber, im Sommer 1986, wagte die FAZ einen neuen Vorstoß, freilich in einer Weise, die Rückzugsmöglichkeiten offen ließ: Sie brachte (am 20. August) einen großen Bericht ihres Redakteurs Günther Gillessen über eine Kontroverse in einer englischen Zeitschrift 30 zu der Frage, ob es sich beim Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion 1941 tatsächlich um einen Aggressionskrieg gehandelt habe. Sein Urteil lautete: »Die Hypothese, Stalin hätte Hitler wenig später angegriffen, wenn er nicht von diesem angegriffen worden wäre«, habe nunmehr »an Plausibilität gewonnen«. Es war demnach kein purer Aggressionskrieg des Deutschen Reiches, sondern es war eher so, »daß im Sommer 1941 zwei Aggressoren aufeinanderstießen«. Der scheinbare Aggressionskrieg des Deutschen Reiches wäre demnach in Wirklichkeit ein Präventivkrieg gewesen, der einer kurz bevorstehenden Aggression gerade noch zuvorgekommen ist. Gillessen verheimlicht auch nicht, was daraus für heute erfolgt. Hier spricht nun die Stimme der Herrschenden mit kaum verhüllter Brutalität: Die Geschundenen und Versklavten und die Nachkommen der millionenfach Ermordeten sollten bloß nicht frech werden und etwa irgendwelche Ansprüche anmelden - und seien es auch nur moralische! Aus dem Verhalten der großen Konzerne, die Millionen von Zwangsarbeitern um Leben und Gesundheit brachten, ist diese Haltung wohl bekannt. Gillessen formuliert sie so: »Spätere sowjetische Führungen suchten die schweren Verluste an Leben und Zerstörungen an Gut. . . in eine besondere Friedensschuld der Deutschen gegen die Sowjetunion umzumünzen und außenpolitisch-propagandistisch zu operationalisieren.« In der Tat: Wir, die Bundesrepublik, sollen gegenüber der Sowjetunion zu einer Friedenspolitik verpflichtet sein? Dieser Gedanke erschient dem FAZ-Redakteur geradezu unverschämt. Die bei Gillessen noch vorsichtig formulierte These vom Präventivkrieg wurde in gleicher Ausführlichkeit, aber in wesentlich schärferer 231
Form zwei Monate später von Dr. Joachim Hoffmann, dem wissenschaftlichen Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Freiburg, dargelegt: Die Rote Armee habe »mit einem Offensivaufmarsch begonnen«, so daß »im Sommer 1941 der eine Aggressor, Hitler, die letzte Gelegenheit hatte, dem anderen Aggressor zuvorzukommen«. Das Totalitarismusschema wird also formal beibehalten - doch die Priorität ist klar. Diesen Artikel brachte die FAZ (am 16. Oktober 1986) trotz seiner Länge in Form eines Leserbriefs - vermutlich deshalb, weil sie nicht gänzlich mit ihm identifiziert werden wollte, weil die wissenschaftliche Beweisführung allzu windig erschien und weil Dr. Hoffmann, der nicht einmal über einen Professorentitel verfügt, nicht das gleiche Renommee beanspruchen kann wie Nolte oder Hillgruber. Fragt man sich, welche »Botschaft« diese Interpretation für die heutige Lage enthält, so muß man wohl schlußfolgern: Gegenüber dem Bolschewismus, mit dessen Aggressionsbereitschaft grundsätzlich immer gerechnet werden muß, ist dann, wenn konkrete Symptome einer Aggressionsvorbereitung vorliegen, ein Präventivschlag gerechtfertigt oder mindestens begreiflich. c) Auschwitz als »asiatische Tat« (Nolte) Aggressionskrieg und Massenmord - das verbindet sich seit über vierzig Jahren mit dem deutschen Faschismus. Die Sache mit dem Aggressionskrieg wäre - ginge es nach diesen Thesen der Rechten - einigermaßen ausgestanden. Konnte man es wagen, noch weiter zu gehen? Sollte es möglich sein, sogar für Auschwitz eine Ausrede zu finden? Gerade in dieser Frage war der Neofaschismus bis zum Ende der 70er Jahre total isoliert gewesen. War es denkbar, daß sich auch diese seit Jahrzehnten erforschten und in der seriösen Wissenschaft bis dahin gänzlich unumstrittenen Tatbestände aus der Welt schaffen, daß sich alle diese Verbrechen soweit relativieren ließen, daß sie als normal erschienen, daß sich womöglich sogar die Kommunisten und die Sowjetunion als die letzten Endes dafür Verantwortlichen dingfest machen und daß sich für dieses abenteuerliche Unterfangen wissenschaftlich renommierte Namen gewinnen ließen? Das kaum Glaubliche geschah - und es kam für den Beobachter durchaus nicht gänzlich unerwartet. Anfang Juni 1986 fand die FAZ den gesuchten wissenschaftlichen Beistand in Gestalt einer Rede des West-Berliner Historikers Ernst Nolte. Nolte hatte sich bei der vergleichenden Faschismusforschung internationales Ansehen erworben und 232
hatte dann den Ost-West-Konflikt zu seinem Thema gemacht. Er hatte sich zwar in der Hochschulpolitik auf der Rechten stark engagiert und den Bund Freiheit der Wissenschaft mitbegründet, von den »politischen Niederungen« im Sinne von Tagespolitik jedoch bislang ferngehalten; wissenschaftlich und politisch war er eher ein Einzelgänger geblieben. Im Verlaufe von zwei Jahrzehnten hatte Nolte seine These herausgearbeitet, die schon in seiner Habilitationsschrift von 1963 angelegt ist, dort aber nur als ein Moment innerhalb einer komplexen Argumentation fungiert hatte. In der Folge hatte diese These in seinem Geschichtsbild aber eine abolut beherrschende Stellung gewonnen. Diese These lautet: Der Faschismus sei eine extreme, aber doch begreifliche Reaktion auf die russische Oktoberrevolution und die kommunistische Gefahr.31 In dieser These ist durchaus ein Element von Wahrheit enthalten: Der Faschismus stellt in der Tat in einer gewissen Hinsicht eine radikale Antwort auf die »Gefahr von links« dar, nämlich die Antwort der herrschenden Klassen: Die inneren Widersprüche des Kapitalismus hatten die Arbeiterbewegung erzeugt, die nach einer Veränderung der Eigentumsverfassung drängte; die Massaker des Ersten Weltkrieges hatten große Bevölkerungsmassen mobilisiert für den Kampf gegen die Gesellschaftsordnung, die diese Massaker hervorgebracht hatte; die revolutionäre Welle, die 1917/18 durch Europa ging, hatte die akute Bedrohung dieser Eigentumsordnung den Herrschenden drastisch vor Augen geführt. Die große Wirtschaftskrise und der Versuch ihrer offensiven Überwindung hatten besonders im besiegten Deutschland zur Zusammenfassung aller Kräfte für einen Eroberungskrieg geführt. Auf diese Gefahren und Probleme antworteten die Herrschenden in der Tat in einigen Ländern durch Errichtung einer Herrschaftsform, die den schrankenlosen Terror zur Methode erhob. Bei Nolte (und Fest) aber wird dieser in der Tat vorhandene Kausalzusammenhang verfälscht zu der These, der Faschismus stelle eine Antwort auf die von der Linken begangenen Verbrechen dar - und sei dadurch gewissermaßen legitimiert. Mit dieser Logik können in der Tat alle Gewalttaten der Herrschenden gegenüber der Bevölkerung legitimiert werden von der Kreuzigung tausender aufständischer Sklaven im alten Rom bis zu den Massakern der Feudalherren gegenüber den Bauern: immer handelte es sich um »Reaktionen« auf »Bedrohungen«. Bereits 1980 hatte Nolte in seinem Aufsatz »Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches« die Grundzüge jener Interpretation entwikkelt, die sechs Jahre später die liberale Öffentlichkeit so erregt hat. 233
Und bereits damals hatte die FAZ (am 24. Juli 1980) diesen Aufsatz groß herausgebracht, so daß man sich sehr wohl fragen kann, warum eine kritische Reaktion nicht erfolgte. Der Drang der Rechten nach Revision des Geschichtsbildes war also durchaus schon am Werk, die Sensibilität der liberalen Öffentlichkeit für die Gefahren dieser ideologischen Offensive war aber offenbar noch nicht entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt standen die am Marxismus orientierten Kritiker konservativer Faschismusinterpretationen mit ihren Warnungen noch ziemlich isoliert. Nolte übertrug in diesem Aufsatz bereits seine These von der »russischen Revolution« als der »wichtigsten Vorbedingung« des Faschismus auf das Auschwitzproblem und führte aus: »Auschwitz resultierte nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer »Völkermords sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der russischen Revolution.« Das bedeutet, »daß die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war«. Deshalb müsse das Dritte Reich »aus der Isolation heraus genommen werden« und »in den Zusammenhang der durch die industrielle Revolution ausgelösten Umbrüche, Krisen, Ängste, Diagnosen und Therapien hineingestellt werden«. In einem Vortrag im Studienzentrum Weikersheim, einem der ideologischen Zentren des Neokonservatismus, fügte er 1983 hinzu, daß weder der Antisemitismus noch der Antikommunismus des deutschen Faschismus »historisch grundlos und moralisch unberechtigt« oder »Ausgeburt kranker Hirne« gewesen sei. Lediglich eine »falsche Verknüpfung« dieser Elemente und ihre Verbindung mit der Rassenidee habe zu den bekannten negativen Folgen geführt.313 Diese Thesen zu Auschwitz wiederholte Nolte nun im Sommer 1986: Er definierte Auschwitz erneut als eine Reaktion auf den asiatischen Bolschewismus, als eine »asiatische Tat« womit gesagt war, daß sie weder eine genuin deutsche noch eine genuin faschistische Tat war. Die Art und Weise, wie Nolte zu diesem Ergebnis kommt, ist kaum wiederzugeben, weil sie mehr der Assoziationskette eines surrealistischen Dichters als der Argumentation eines seriösen Historikers gleicht: Nolte versteht seine Thesen als Fortführung der Schriften von Lübbe, Fest und Haffner und als Präzisierung der Totalitarismustheorie. Er will »anhand einiger Fragen und Schlüsselworte die Perspektive andeuten, in der diese Vergangenheit gesehen werden sollte, wenn ihr jene >Gleichbehandlung< widerfahren soll, die ein prinzipielles Postulat der Philosophie und der Geschichtswissenschaft ist«. 32 Er sagt dann, 234
daß Hitler am 1. Februar 1943, als er von der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad Nachricht erhielt, eine »Rattenkäfig« erwähnt habe, mit dem nun deutsche Offiziere in Moskau zu rechnen hätten. Solche und ähnliche Foltermethoden seien sowohl in Georg Orwells »1984« wie in der »antibolschewistischen Literatur über den russischen Bürgerkrieg« beschrieben. Daraus folgert Nolte, daß »die Literatur über den Nationalsozialismus nicht weiß oder nicht wahrhaben will, in welchem Ausmaß all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in der umfangreichen Literatur der frühen 20er Jahre bereits beschrieben war: Massendeportation und -erschiessungen, Folterungen, Todeslager, Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen nach bloß objektiven Kriterien. . .«. Damit ist Auschwitz in den Bereich des Normalen gerückt. Aber Nolte geht noch weiter: »Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische« Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Ofper einer »asiatischen« Tat betrachteten? War nicht der »Archipel GULag< ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der >Klassenmord< der Bolschewiki das logische und faktische Prius des »Rassenmords« der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den »Rattenkäfig« nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?« Der Verantwortliche für Auschwitz war nach Nolte also letzten Endes der Bolschewismus. Und der These vom Präventivkrieg war damit die These vom Präventivmord beigesellt - ein Massenmord aus Angst, als Verteidigungsmaßnahme. Damit war nun nicht nur Auschwitz allein auf die Person Hitlers und dessen Entscheidung wiederum auf einige angstvolle Erlebnisse seiner früheren Jahre zurückgeführt - ohne Rücksicht auf die komplexen Entstehungsbedingungen der faschistischen Ideologie und die komplexen Wirkungsbedingungen faschistischer Politik -, sondern es war in der Tat alles auf den Kopf gestellt, was bisher durch die seriöse Wissenschaft zu Auschwitz geforscht und ermittelt worden war. Sei es nun, daß den für die Frankfurter Römerberggespräche Verantwortlichen diese These doch etwas zu heiß war, sei es wegen eines Mißverständnisses: Nolte konnte seine Rede dort nicht halten. Die FAZ aber ergriff die Gelegenheit beim Schöpfe, deklarierte das Ganze als einen Akt der Verteidigung geistiger Freiheit (»eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte«) und druckte auch die Rede am 6. Juni 1986 ab. 235
Gegenüber der sich allmählich formierenden Kritik liberaler Wissenschaftler, insbesondere der von Jürgen Habermas, ergriff dann knapp drei Monate später (am 29. August) einer der Herausgeber der FAZ, J. C. Fest, selbst das Wort, um klarzumachen, daß es sich nicht um die vereinzelte Stimme eines eigenwilligen wissenschaftlichen Individuums handelte, sondern um eine umfassende ideologische Offensive. Fest unterstreicht noch einmal mit allem Nachdruck, daß Hitler selbst immer wieder »die Praktiken der revolutionären Gegner von links als Lehre und Vorbild bezeichnet hat«, zählt noch einmal die Verbrechen des Bolschewismus auf, bekennt sich zu der »Einsicht, daß der Genozid (Hitlers) . . . nicht der erste war und auch nicht der letzte« und verlangte, daß »die Rituale einer flachen Unterwürfigkeit« der Deutschen endlich aufhören müßten. Diese Auschwitzinterpretation ist nun freilich ein dreistes Stück, bei dem die Initiatoren auch 1986 weder bei der politischen noch bei der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, weder in der Bundesrepublik noch im westlichen Ausland (vom östlichen ganz zu schweigen) mit Verständnis oder gar mit Zustimmung rechnen konnten. Es handelte sich wohl mehr um einen neuen Versuchsballon, der erkunden sollte, wie heftig und wie breit jetzt der Widerstand wohl sei. Ein zweiter Beitrag von Ernst Nolte zum gleichen Thema war denn auch nicht neu herausgebracht, sondern nur ganz kurz erwähnt worden. Hier hatte Nolte den schon von Hitler selbst formulierten Gedanken wiederaufgenommen, daß die Juden ja im September 1939 durch den Mund des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann ihrerseits dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hätten, so daß ihre Behandlung als Kriegsgegner, ihre Internierung, als eine Kriegshandlung gerechtfertigt sei.32a Überraschenderweise erhielt Nolte sogar für diese These Beifall, allerdings nicht in der FAZ, sondern im Fachorgan der Historiker, der angesehenen Historischen Zeitschrift (HZ). Hier nannte Klaus Hildebrand, Professor für Geschichtswissenschaft in Bonn und Mitglied im Beirat zur Planung des Bonner Museums, Noltes Arbeit »wegweisend«, weil sie der Geschichte des Dritten Reiches das »scheinbar Einzigartige« nehme und »die Vernichtungskapazität der Weltanschauung und des Regimes« in die Gesamtentwicklung des Totalitarismus historisierend einordne. 33 Die FAZ allerdings druckte diesen Beitrag nicht. Das ist verständlich. Die eine These, die die Schuld an Auschwitz mindestens teilweise dem Bolschewismus zuschob, war eben für die politische Offensive sehr brauchbar, die andere, die sie den Juden selbst zuschob, aber sehr viel weniger. Denn die Distanzierung vom Antise236
mitismus war ja seit 1945 eben jenes Alibi gewesen, das ermöglicht hatte, alle anderen Dimensionen der faschistischen Politik, soweit es eben ging, im Dunkeln zu lassen. Auch an diesem Vorgang wird sehr deutlich, wer die Ziele und die Richtung dieser Offensive von rechts bestimmte und daß dies keineswegs die konservativen Historiker selbst waren. Auch wenn die einzelnen Elemente dieser Offensive zunächst durch die beteiligten Historiker nicht miteinander abgestimmt gewesen sein sollten, so ergaben sich doch im Resultat ein Ganzes: in ihrer Summe liefen diese Thesen darauf hinaus, das bisherige Geschichtsbild von Grund auf zu revidieren und den deutschen Faschismus als gewissermaßen normale Erscheinung in einem »Zeitalter der Tyrannen« darzustellen: »Totalitarismus, Völkermord und Massenvertreibung gehören zur Signatur des 20. Jahrhunderts«. 32b Mit der »Historisierung» aber geht die Legitimierung Hand in Hand: Der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion erscheint als vertretbar, wenn nicht gar notwendig und jedenfalls im Interesse Europas liegend, und die Verbrechen des Faschismus - bis hin zu Auschwitz - erscheinen einerseits vergleichbar mit denen der Sowjetunion und andererseits als im Kampf gegen diesen Feind begreiflich, wenn nicht gar durch diesen Feind letzten Endes selbst verursacht. Und die Schlußfolgerungen, die teils offen formuliert, teils implizit nahegelegt wurden, lauteten: Deutschland habe - im Unterschied zu den Westmächten - in der Hauptfrage schon immer das richtige Feindbild gehabt und den richtigen Krieg geführt. Zu Schuldbewußtsein und Büßerhaltung der Deutschen bestehe kein Grund: die Bundesrepublik habe keinen Anlaß, sich ständig vorzunehmen, »das Gegenteil des Hitlerreiches sein zu müssen« (FAZ v. 8. Januar 1987); sie habe ein Recht darauf, entsprechend ihren Leistungen und ihrem Potential gewürdigt und in der Rolle einer Führungsmacht in den internationalen Beziehungen anerkannt zu werden.
2)
Die Argumente der Kritiker
Im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte waren Quellen und Dokumente in großem Umfang erschlossen und auf ihrer Basis bestimmte Resultate erarbeitet worden, die in der seriösen Wissenschaft als gesichert galten. Dazu gehörten, wie schon erwähnt, die langfristige Planung des Eroberungskrieges durch den deutschen Faschismus und dessen Terror- und Vernichtungsmaschinerie besonders in Hinsicht auf die Konzentrationslager und den Massenmord an den europäischen Juden. 237
Natürlich gab es Kontroversen darüber, welches Gewicht den einzelnen Kausalfaktoren zukam, ob die Führerpersönlichkeit Adolf Hitler dabei eine entscheidende Rolle spielte, wieweit sozialökonomische Interessen im Spiel waren usw. Aber daß sowohl der Aggressionskrieg sowie auch die Terror- und Vernichtungsmaschinerie aus der Beschaffenheit des faschistischen Systems selbst, aus dessen inneren Triebkräften, abgeleitet werden mußten und daß beides verbrecherischen Charakter hatte, war allgemein akzeptiert. In diesem begrenzten Sinne konnte durchaus von einem »Konsens« gesprochen werden. Zwar hatte es immer einen rechten Flügel gegeben, der z. B. - ausgehend von der Totalitarismusthese - der Sowjetunion eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch 1939 zugesprochen hatte, aber doch mehr in dem Sinne, daß die Sowjetunion durch den »Hitler-Stalin-Pakt« es dem Deutschen Reich ermöglicht habe, den geplanten Eroberungskrieg zu beginnen. Was die Konzentrations- und Vernichtungslager betraf, so war die Verantwortlichkeit des deutschen Faschismus unumstritten. Der Neofaschismus stand mit seinen Thesen über den Krieg und über Auschwitz außerhalb und isoliert. Die Leichtfertigkeit, mit der konservative Historiker seit dem Beginn der 80er Jahre über Quellenlage und Forschungsstand hinweggegangen waren und seriöse wissenschaftliche Argumente durch abenteuerliche Spekulationen ersetzt hatten, machte die Fachkollegen offenbar ziemlich fassungslos. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie überhaupt wahrzunehmen bereit waren, was sich da vollzog, und bis sie sich artikulierten 33a , und ihre Reaktionen schwankten zwischen dem Protest »so geht das aber wirklich nicht« und dem kopfschüttelnden »das kann doch eigentlich nicht wahr sein«, »das kann doch nicht so gemeint sein«. Der erste, der deutlich und ausführlich Einspruch erhob, war denn auch gar kein Fachhistoriker, sondern der Philosoph Jürgen Habermas. Dann aber folgte eine ganze Reihe von liberalen Historikern, die ihre Kritik artikulierten. Ihr Forum wurde die Wochenzeitung »Die Zeit«, die aber auch den mit Hillgruber und Nolte Sympathisierenden das Wort gab, sowie die Frankfurter Rundschau, in der solche Historiker antworten konnten, die sozial- und strukturgeschichtliche Positionen und damit den linken Flügel der etablierten Geschichtswissenschaft repräsentieren und politisch meist der Sozialdemokratie verbunden sind. In ihren Leserbriefspalten ließ auch die FAZ eine begrenzte Kritik an den Positionen der rechten Historiker zu. Auch viele andere Tages- und Wochenzeitungen sowie eine Reihe von Zeitschriften (wie der Spiegel, Konkret, Merkur) griffen diese Kontroverse auf. In linken 238
Zeitschriften kamen auch marxistische und am Marxismus orientierte Positionen zu Wort, z. B. im Argument, in der Deutschen Volkszeitung und in Links. Eine wichtige Rolle spielten die »Blätter für deutsche und internationale Politik« als Forum konsequenter Kritik an den rechtskonservativen Thesen und ihrer politischen Funktion, die von einem breiten Spektrum demokratischer Positionen aus entfaltet wurde. Auf der Seite der konservativen Historiker nahmen weiterhin Die Welt, die FAZ, der Bayernkurier und der Rheinische Merkur (Christ und Welt) eine führende Rolle ein; hier publizierten die Historiker - nachhaltig unterstützt von den Redakteuren dieser Zeitungen ihre Repliken auf die Kritik. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Kritik liberaler Historiker und (links-)liberaler Publizistik. Deren Argumente werden zunächst nur referiert. Eine kritische Prüfung ihrer Reichweite und Tragfähigkeit erfolgt im Schlußkapitel in dem Abschnitt »Die Maßstäbe der Kritik«. Die am Marxismus orientierte Kritik wird nur am Rande einbezogen, weil sie in Gestalt mehrerer Beiträge im vorliegenden Sammelband präsent ist. a) Kritik an Hillgrubers Thesen Am 11. Juli 1986 publizierte der Frankfurter Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas in der »Zeit« seinen Artikel »Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«. Er legte den Zusammenhang dar zwischen den Thesen von Dregger, Stürmer, Hillgruber und Nolte, zwischen den »Ideologieplanern« und den Museumskonzepten der Bundesregierung und warnte vor dem »Neuen Revisionismus«. Bei Hillgruber diagnostizierte Habermas die »Rhetorik von Kriegsheftchen«, die »unausgedünsteten Klischees eines aus Jugendtagen mitgeführten Jargons«. »Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand: Heute wenigstens stimmt die Allianz«; seine »Wunschdeutung« formulierte Hillgruber in dem Satz von der »Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte«. In einem Leserbrief, den Habermas in der FAZ (11. August 1986) veröffentlichte, heißt es: »Er will sich nicht mit Hitler, nicht mit den Widerständlern, nicht mit den Insassen der Konzentrationslager identifizieren, sondern >mit dem konkreten Schicksal der Bevölkerung im Osten«. Das wäre vielleicht ein legitimer Blickwinkel für die Memoiren eines Veteranen - aber nicht für einen im Abstand von vier Jahrzehnten schreibenden Historiker.« »Apologetische Tendenzen« seien auch darin enthalten, daß Hillgruber schon im Titel der »aggres239
siven »Zerschlagung des Deutschen Reiches< durch äußere Feinde« ein »sich gleichsam automatisch einstellendes »Ende des europäischen Judentums<« gegenüberstelle. Und da er den Mord an den Juden ausschließlich auf Hitler zurückführe, seien alle gesellschaftlichen Ursachen im Dunkeln belassen. Wolfgang J. Mommsen, der langjährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London (seit 1984 wieder Professor in Düsseldorf), hält Hillgruber entgegen, »daß die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands nicht nur im Interesse der von Hitler mit Krieg überzogenen Völker und der von seinen Schergen zur Vernichtung oder Unterdrückung oder Ausbeutung ausgesonderten Bevölke-, rungsgruppen lag, sondern der Deutschen selbst«. 34 Damit war präzis der Punkt benannt, an dem sich die Geister scheiden. Ansonsten blieb Hillgruber von der Kritik ziemlich unbehelligt. Die Überzeugung, daß ein angesehener Historiker wie Hillgruber das alles eigentlich so nicht gemeint haben könne, wie er es tatsächlich geschrieben hatte, bestimmte offenbar weithin die Reaktion der Fachkollegen. Hans Mommsen stellt fest: Hillgruber »unterstützt indirekt die . . . Relativierung der Verbrechen des Dritten Reiches«, und fügt vorsichtig hinzu, er lasse mit seinem Mitteleuropakonzept »revisionistische Mißverständnisse zu«. 35 Und Martin Broszat, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, schreibt sogar: »Hillgruber verdient den Vorwurf der Verharmlosung des Nationalsozialismus gewiß nicht«, obwohl er durch die übereilte Verbindung zweier Beiträge über Ostfront und Judenmord zu dem Buch »Zweierlei Untergang« »ins Abseits einer zumindest verquer, wenn nicht apologetisch wirkenden Perspektive« geraten sei.36 In der Tat wurden die Thesen Hillgrubers von fachhistorischer Seite nur durch Kurt Pätzold von der HumboldtUniversität Berlin einer genaueren Kritik unterzogen. 37 Wesentlich schärfer wurde die Kritik in der politischen Publizistik formuliert. Der Spiegel (36/1986, S. 66 ff.) spricht von »patriotischer Klitterei«; »sinnstiftend (eine neokonservative Historikervokabel) erklärt der Kölner Geschichtslehrer den »verzweifelten Abwehrkampf um die Bewahrung der Eigenständigkeit der Großmachtstellung des Deutschen Reiches« zu patriotischer Notwehr«. Und Augstein (41/ 1986, S. 62) zitiert den Klappentext von Hillgrubers Buch: »Hillgrubers aufsehenerregende Artikel wenden sich gegen die landläufige Meinung, wonach die Zerschlagung des Deutschen Reiches eine Antwort auf die Untaten des NS-Regimes gewesen sei« - und sagt dann: »Wer so denkt und spricht, ist ein konstitutioneller Nazi, einer, wie es ihn auch ohne Hitler geben würde.« Otto Köhler ordnet in seinem Artikel 240
»Kohl befiehlt, wir folgen« in Konkret (10/1986, S. 36 ff.) Hillgruber ein in die »große bundesdeutsche Geschichtswäsche« und meint dann zu der Identifikation mit dem deutschen Ostheer: »Bei solcher Identifikation . . . hatten die KZler - warum sind sie's auch geworden - nun mal Pech.« Michael Brumlik (Pädagogikprofessor in Heidelberg) nennt Hillgrubers Buch in der taz (12. Juli 1986) sogar »einen Einschnitt, der das Umdenken deutscher Konservativer zum aggressiven Nationalismus signalisiert«. Hillgruber stelle »an Schamlosigkeit und Zynismus alles in den Schatten, was seitens >seriöser< Wissenschaft an pronazistischen Stellungnahmen erschienen ist . . . Zum ersten Mal gibt ein konservativer renommierter und angesehener Historiker öffentlich zu Protokoll, daß die Ausrottung der Juden und Sinti unter gewissen Umständen, wenn schon nicht gebilligt, so doch legitimerweise billigenswert in Kauf genommen werden durfte. Über Kohl und Dregger hinaus soll es nun nicht mehr nur darum gehen, auch der Wehrmacht, also der Beschützer der Morde zu gedenken, sondern auch ihr faktisches Schützen des industriellen Massenmords ausdrücklich anzuerkennen . . . Hillgrubers Versuch, die Massenvernichtung gegen die Ostfront aufzuwiegen, stellt nichts anderes dar als das Programm Himmlers aus den letzten Kriegsmonaten (Sonderfrieden im Westen, Weiterkämpfen und -morden im Osten)«. Die Einordnung der Thesen Hillgrubers in den politischen Zusammenhang des neuen Nationalismus dürfte in der Tat realistisch sein. Das meint übrigens auch der Rheinische Merkur, der diese These groß herausbrachte und Hillgruber bestätigte, daß bei ihm »ein nationaler politischer Wille spürbar« sei (10. Oktober 1986). b) Stalins angeblich drohender Aggressionskrieg 1941 (Gillessen, Hoffmann) Die Thesen des FAZ-Redakteurs Gillessen und des wissenschaftlichen Direktors des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Freiburg, Hoffmann, wurden von den Professoren der Geschichtswissenschaft in der Presse nicht aufgegriffen, wohl aber von jüngeren Historikern. Die Auseinandersetzung fand im wesentlichen in den Leserbriefspalten der FAZ statt und erbrachte eine sehr überzeugende Widerlegung dieser Thesen. Insbesondere die Beiträge von Dr. Bianca Pietrow vom Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen (FAZ v. 3. September und 13. November 1986) sowie der Beitrag von Dr. Gerd R. Ueberschär (FAZ v. 31. Oktober 1986), der am gleichen Militärgeschichtlichen Forschungsamt arbeitet wie Dr. Hoff241
mann, wiesen präzis nach, daß diese Thesen gänzlich unhaltbar sind. Bianca Pietrow nahm zunächst nur knapp gegen den Bericht von Gillessen Stellung und nannte es »bedauerlich und bedenklich, wenn längst begrabene Legenden von der FAZ wieder ans Tageslicht befördert werden, zum Zweck der derzeit viel beschworenen Identitätsfindung der Deutschen . . . Daß politische Wunschvorstellungen hier die selektive Wahrnehmung von Geschichtsschreibung bestimmen, ist klar«. Als die FAZ dann die Thesen von Hoffmann publiziert hatte, unterzog Bianca Pietrow die Quellenbasis und Interpretationsmethode einer genaueren Kritik. Ihr Ergebnis: »Die Fixierung auf die Präventivkriegsthese leistet einer verkürzten Darstellung der sowjetischen Politik ebenso wie einer Verharmlosung nationalsozialistischer Kriegsziele Vorschub.« Noch schärfer geht R. Ueberschär mit den Thesen von Hoffmann ins Gericht. »Die Präventivkriegsthese wurde von der NS-Führung instrumental zur Schuldabwälzung und als Propagandatrick eingesetzt.« Obwohl längst widerlegt, habe es eine »Neuauflage« gegeben, doch auch diese habe bereits eine »überzeugende Zurückweisung . . . aufgrund der neuesten Forschung« erfahren. 38 »Hitlers Entschluß zum Krieg im Osten ist völlig unabhängig von den politischen und militärischen Aktionen Stalins . . . Es läßt sich nun einmal nicht daran rütteln, daß Hitler 1941 der Aggressor war und nicht Stalin.« Aus diesen Ereignissen ergebe sich allerdings - so Ueberschärs entschiedene Gegenthese zu Gillessen - ein »besonderer Friedensauftrag der Deutschen gegenüber allen von den Nazis Überfallenen und unterjochten Völkern«. Auch andere Leserbriefe jüngerer Wissenschaftler arbeiteten die politische Stoßrichtung der Thesen von Gillessen und Hoffmann heraus: Diese Thesen suggerierten »Parallelen zu heute . . ., um die unveränderte Aggressivität der Sowjetunion zu beweisen, gegen die sich schon Hitler wehren mußte«. Es gehe offenbar darum, »einen militanten Antikommunismus wiederzubeleben und das Deutsche Reich selbst in seinen schrecklichsten Dimensionen zu rehabilitieren«; es handle sich »auch um Störmanöver gegen die Ostpolitik der Bundesregierung, insbesondere den Kurs von Außenminister Genscher«. 39 Otto Köhler formulierte in Konkret (10/1986, S. 40) die impliziten Konsequenzen dieser Thesen so: »Und so bleibt uns auch die Möglichkeit erhalten, doch mal wieder nachzusehen, ob sich hinter der sowjetischen Grenze ein Aufmarsch vollzieht.« Die Bemühungen der Rechten, den Aggressionskrieg gegen die Sowjetunion zu einem Präventivkrieg umzuinterpretieren, dürften damit 242
wissenschaftlich gescheitert sein - was natürlich nicht heißen muß, daß sie nicht politisch weiter propagiert werden. Die Tatsache, daß die Geschichtsprofessoren (mit Ausnahme von Jäckel) diese Thesen in ihre Kritik kaum einbezogen haben, mag damit zusammenhängen, daß diese nicht von renommierten Vertretern des Faches publiziert worden waren. Es mag aber bei einigen auch die Ansicht im Spiele gewesen sein, daß man der These von der Aggressionsbereitschaft der Sowjetunion nicht unbedingt entgegentreten müsse. c) Die neue Auschwitzlegende (Nolte, Fest) Im Zentrum der »Historiker-Debatte« stand - neben den Thesen Stürmers über die politische Funktion der Geschichtswissenschaft - die zunächst von Nolte formulierte und dann von Fest nachdrücklich unterstützte neue Auschwitzlegende. Als erster erhob der Freiburger Historiker H.-A. Winkler Einspruch: »Es ist bestürzend zu sehen, zu welch absurden Behauptungen sich ein bedeutender Historiker versteigen kann: Wenn Ernst Nolte . . . Auschwitz in einem tieferen Sinn zur Antwort auf den Archipel GULag macht, hat das mit Geschichtswissenschaft nichts, mit dem Räsonnement deutscher Stammtische hingegen viel zu tun . . . Für seine gewaltsame Konstruktion liefert Nolte auch nicht den Schatten eines Belegs . . . Ist Nolte etwa ein postumer Anhänger Hitlers oder ein Antisemit? Nichts von alledem. Den Berliner Historiker treibt, bewußt oder unbewußt, >nur< ein nationalapologetisches Bedürfnis. Der Nationalsozialismus muß »historisiert« und damit relativiert werden, also seiner Einzigartigkeit weithin verlustig gehen. Jedes Volk habe seine Hitlerzeit, hieß es schon 1974 in Noltes Buch »Deutschland und der Kalte Krieg«. . .« In der Tat hatte Nolte seine These also schon seit Jahren herausgearbeitet, und keiner der Fachkollegen hatte sich ernstlich daran gestört. Erst ihre Zuspitzung bis zur Absurdität, ihre politische Instrumentalisierung durch die FAZ und ihre offensichtliche Einordnung in den neuen Nationalismus alarmierte die Fachkollegen. Habermas40 führte die Kritik Winklers weiter, diskutierte Noltes These, daß bisher die Geschichte des Deutschen Reiches von den Siegern geschrieben worden sei, untersucht seine philosophische Begrifflichkeit, die dazu führt, daß »Marx und Maurras, Engels und Hitler bei alle Hervorhebung ihrer Gegensätze dennoch zu verwandten Figuren« werden (so Nolte selbst), prüft das »eher abstruse Beispiel aus dem Russischen Bürgerkrieg«, mit dem er »seine These belegt, daß der Archipel GULag »ursprünglicher« sei als Auschwitz« und »sein aben243
teuerliches Argument« von der »Kriegserklärung« der Juden an das Deutsche Reich 1939 und charakterisiert das Ganze als »skurrile Hintergrundphilosophie eines bedeutend-exzentrischen Geistes«, die sich einfüge in »den Reigen kalifornischer Weltbilder« und deren sich »neokonservative Zeithistoriker« bedienen. Für die »Ideologieplaner . . . bietet Noltes These einen großen Vorzug: Er schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Naziverbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation und erklärt sich aus der »asiatischen« Bedrohung durch einen Feind, der immer noch vor unseren Toren steht«. Diese Thesen aber, so Habermas in seinem zweiten Artikel (»Die Zeit« v. 7. November 1986) seien politisch bedeutsam dadurch geworden, daß sie von der FAZ publiziert und durch einen eigenen Artikel von Fest unterstützt worden seien. »Warum verleiht er jener Art von Aufrechnungen, die bisher nur in rechtsradikalen Kreisen zirkulierten, in aller Öffentlichkeit einen offiziellen Anstrich?« Quellenbasis und Interpretationsmethode von Nolte und Fest wurden dann nach allen Regeln des Historikerhandwerks von dem Stuttgarter Zeithistoriker Eberhard Jäckel zerlegt (Zeit v. 12. September 1986). Das Ergebnis war vernichtend: Jäckel nennt den ganzen Gedankengang eine »abstruse Assoziationskette«; die Argumente für die These vom Kausalnexus zwischen bolschewistischen Verbrechen und Faschismus seien »nicht nur nicht überzeugend. Sie lassen sich sogar verhältnismäßig sicher widerlegen. Hitler hat nämlich viele Male gesagt, warum er die Juden entfernen und zu töten wünschte . . . Ein Rattenkäfig, die Morde der Bolschewisten oder eine besondere Angst vor ihnen kommt darin nicht vor.« Aber »in der Öffentlichkeit sprach er gerne von den asiatischen Horden, die Europa bedrohten, und stellte seine Lebensraumeroberung ja auch fälschlich als Präventivkrieg hin . . . Was man uns suggerieren will, ist die These von einem Präventivmord. Aber sie ist so falsch wie die vom Präventivkrieg, die, obwohl hundertmal widerlegt, auch immer wieder aus Hitlers Arsenal hervorgeholt wird.« Gegenüber der Kausalfrage sei die von Nolte und Fest so betonte Frage nach der Einzigartigkeit »so entscheidend nicht«. Dennoch will Jäckel festgehalten wissen: Der Mord an den Juden war »einzigartig«, und zwar deswegen, »weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, 244
der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte«. Durch diese Analysen war die wissenschaftliche Unhaltbarkeit klar erwiesen, die Herkunft der Argumente von Noltes Thesen offengelegt und auch die politische Funktion der neuen Auschwitzlegende in den Umrissen schon gekennzeichnet. Zum gleichen Urteil kommt der Bielefelder Historiker Jürgen Kocka (FR v. 29. September 1986): die Thesen von Nolte und Fest »haben nichts mehr mit nüchterner historischer Motivations- und Kausalanalyse zu tun«, die allerdings nötig seien, um »sich und die Leser vor abstrus-spekulativen Deutungen zu schützen«. Es handle sich mehr um »intellektuelle Bocksprünge«. Und Hans Mommsen schreibt, Nolte bewege sich »in einem Feld, in dem alle irgendwie gegen den Bolschewismus gerichteten Handlungen als solche gerechtfertigt erscheinen. . ,«41 Durch die FAZ-Publikation seien diese Thesen dann an eine Debatte angekettet worden, »die durch das Vorprellen Michael Stürmers primär politischen Charakter gewann«; damit seien »die Konstrukte Noltes zu einem Werkstück eines neudeutschen Konservatismus« gemacht worden. 42 Selbst Martin Broszat, der Hillgruber gegen Habermas noch in Schutz nahm, schrieb: »Um so fassungsloser macht, was Ernst Nolte, nicht zum erstenmal, in jüngster Zeit zur historischen Einordnung und Relativierung des nationalsozialistischen Genozids formuliert hat.« »Das Kriterium gewissenhafter Argumentation« bliebe »als A und O der Beurteilung ihrer Wissenschaftlichkeit«. Nolte aber überschreite »solche Grenzen in hochmütiger Verachtung empirisch-historischer Vorgehensweise immer wieder«. Jetzt mache er sich »die These von der »Kriegserklärung der Judenheit an Deutschland« zu eigen, die seit Jahren stereotypes Propagandagut rechtsradikaler Boschürenliteratur« sei. »Hier ist ein Punkt objektiver Apologie erreicht, der . . . eine Bagatellisierung nicht mehr erlaubt.« Broszat appelliert an Klaus Hildebrand einzugestehen, daß er diese These Noltes »entweder insgeheim mißbilligt oder einfach überlesen hat«, als er in der Historischen Zeitschrift Noltes Beitrag überschwenglich lobte. (Die Zeit v. 3. Oktober 1986) Weniger differenziert und nicht immer ganz präzis, aber in der Tonlage um so schärfer formulierte die kritische Publizistik. Der Spiegel (36/1986, S. 66) schrieb über Noltes These vom Kausalnexus zwischen dem Archipel GULag und Auschwitz: »Er treibt die aberwitzige Analogie bis zur perfiden Apologie.« Und in Konkret (10/1986, S. 36 ff.) nennt Otto Köhler Nolte einen »Faschismusforscher, der so sehr in 245
seinen Forschungsgegenstand versunken ist, daß er mehr und mehr Mühe hat, sich von ihm zu unterscheiden«. Sein Beitrag in der FAZ nun stelle die »große Opposition dar«, »mit der Adolf Hitler als ein asiatisch-bolschewistischer Fremdkörper aus der deutschen Geschichte herausgeschnitten wurde«. Und mit der These von der jüdischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich, »die von der »Deutschen Nationalzeitung« in München seit Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gebracht wird«, übernahm »erstmals ein bisher ernstgenommener Historiker« diese Propaganda. (Genaugenommen ist allerdings in der Argumentation Noltes nicht Adolf Hitler der »Fremdkörper«; sondern der asiatische Bolschewismus nötigt ihm eine Tat auf, die ihm und den Deutschen eigentlich wesensfremd ist.) d) Die Frage nach der politischen Funktion Daß es Zusammenhänge gab zwischen »Ideologieplanern« (Habermas), Historikern und Publizisten der großbürgerlichen Presse, also zwischen den Thesen von Stürmer, Hillgruber, Hoffmann, Hildebrand, Nolte und Fest, wie auch Zusammenhänge zwischen diesen Offensiven von Historikern und politisch-ideologischen Prozessen in der Bundesrepublik, war unschwer zu erkennen. Wie aber waren diese Zusammenhänge beschaffen? Handelte es sich um eine konzertierte Aktion der beteiligten Historiker und des regierenden Konservatismus oder lediglich um zufälliges Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Impulse und Interessen? Und wie waren die politischen Strategien und Zielsetzungen genauer zu bestimmen, in die sich die Thesen der Historiker einfügten - oder einfügen ließen? Die Grundlinien einer kritischen Gesamtinterpretation hatte Jürgen Habermas in der »Zeit« (11. Juli 1986) entwickelt: »Die Ideologieplaner wollen über eine Wiederbelebung des Nationalbewußtseins Konsens beschaffen, gleichzeitig müssen sie aber die nationalstaatlichen Feindbilder aus dem Bereich der NATO verbannen.« Gegen Historisierung des Nationalsozialismus sei grundsätzlich nichts einzuwenden. Doch die »Art von Historisierung«, wie sie Hildebrand und Stürmer in Gestalt des »Revisionismus eines Hillgruber oder Nolte« empfehlen, sei von dem »Impuls« geleitet, »die Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln«: Diese Historisierung möchte »die revisionistische Historie in Dienst nehmen für eine nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität«. Wer sich aber »von den funktionalen Imperativen der Berechenbarkeit, der Konsensbeschaffung, der sozialen Integration durch Sinnstiftung lei246
ten läßt, der muß den aufklärenden Effekt der Geschichtsschreibung scheuen und einen breitenwirksamen Pluralismus der Geschichtsdeutungen ablehnen«. Habermas zitiert Stürmer, der »jene höhere Sinnstiftung« fordere, »die nach der Religion bisher allein Nation und Patriotismus zu leisten imstande waren« (so Stürmer). Stürmer verlange also »Geschichtsbewußtsein als Religionsersatz«. Eben diese Haltung - »reichsnational, staatsbewußt und machtpolitisch« - gegenüber dem Deutschen Reich habe die große Mehrheit der deutschen Historiker später zur »Ohnmacht oder gar Komplizenschaft mit dem Naziregime« geführt. Habermas votiert dagegen für einen »Pluralismus der Lesarten« entsprechend der »Struktur offener Gesellschaften« - und gegen »jedes geschlossene, gar von Regierungshistorikern verordnete Geschichtsbild«. »Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit«. Dieses Ergebnis aber werde »nicht durch eine deutschnational eingefärbte Natophilosophie« stabilisiert. (H. A. Winkler nimmt dieses Motiv auf und nennt die Thesen von Nolte, Hildebrand und Fest einen »Ausverkauf westlicher Werte, FR v. 14. November 1986). »Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus«. In seinem zweiten Beitrag (Die Zeit v. 7. November 1986) »Vom öffentlichen Gebrauch der Historie« bestimmt er den Zusammenhang zwischen konservativer Historie und Politik so: »In Wirklichkeit geht es um jene politische Umsetzung des in der Zeitgeschichtsschreibung aufgekommenen Revisionismus, der von den Politikern der Wenderegierung ungeduldig angemahnt wird«. Bisher habe es im »offiziell bekundeten Selbstverständnis der Bundesrepublik« einen klaren Konsens gegeben, den er so beschreibt: »Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen. . .«. Habermas verweist dann auf Bitburg, auf Äußerungen von »Dregger und seinen Gesinnungsgenossen« und stellt fest: »Der Konsens wird heute von rechts aufgekündigt.« Die Publikation eines Artikels wie dem von Nolte in der FAZ »markiert einen Einschnitt in der politischen Kultur und dem Selbstverständnis der Bundesrepublik«. Hans Mommsen42a faßt den politischen Kontext und die scheinbar nur methodologischen Differenzen innerhalb der Geschichtswissenschaft genauer ins Auge. Für ihn ist es offenkundig, daß ein Zusammenhang existiert zwischen den geschichtswissenschaftlichen Beiträgen konservativer Historiker, den politischen Aktualisierungen durch andere Fachkollegen, der Publikationsstrategie solcher Medien wie der 247
FAZ und des Ullsteinverlages und dem Bemühen um ein »deutsches Geschichtsbild«, wie es von Bundeskanzler Kohl repräsentiert, aber vom US-Botschafter in Bonn, Richard Burt, durchaus unterstützt werde. Nach seiner Ansicht handelt es sich um eine »Vereinnahmung der Position Noltes«, der seine Thesen schon seit Jahren vertrete, »durch Historiker wie Hildebrand und Stürmer, denen es um unmittelbare politische Schlußfolgerungen zu tun ist«. Die FAZ habe »sich zunehmend zur Plattform für Vertreter der Revision des »Geschichtsbildes«« gemacht, deren Programm »Michael Stürmer, Leitartikler dieses Blattes. . . wiederholt verkündet hat. . . Der Bundeskanzler, der eben dieser Rekonsolidierung eines nationalen Geschichtsbildes in Form eines »Deutschen Historischen Museums«. . . seine volle politische Unterstützung verlieh, und mit ihm führende Repräsentanten der CDU/ CSU griffen . . . Stürmers . . . Anregungen . . . in diesem Sinne auf«. »Dieser Revisionismus neokonservativen Zuschnitts als solcher ist nicht neu. Er blühte in den konservativen Nischen der westdeutschen Gesellschaft seit langem« und kann auch die »Nähe« mancher seiner Publikationen »zu postfaschistischen Positionen nicht verleugnen«. Nun aber »finden seit langem aufgestaute und in marginaler Literatur sichtbar hervortretende Ressentiments und eine zu neuen Ufern drängende Geschichtsschreibung sich in einer unheiligen Allianz wieder zusammen« (J. C. Fest allerdings, meint Mommsen, habe »mit derlei Tendenzen nichts im Sinne« - eine überraschende Diagnose). Dem Inhalt nach gehe es darum, die »gesellschaftlichen Voraussetzungen zu verdrängen«, die den Faschismus und seine Verbrechen möglich gemacht haben, »indem man sich auf gleichartige Vorgänge anderswo beruft und sie der bolschewistischen Weltbedrohung in die Schuhe« schiebt; das erinnere übrigens auch an jene »Denkhaltungen, die den Genozid implementierbar gemacht haben«. Methodologisch bewerkstellige man das dadurch, daß man sich mit »Hitlers »Vernichtungswillen« als maßgeblicher Endursache des Geschehens« begnüge. Bei Bedarf wechsle man allerdings die theoretischen Prämissen auch sehr rasch: eben von denjenigen, die - wie etwa Klaus Hildebrand bis vor kurzem noch die »Singularität« Hitlers und des Nationalsozialismus behauptet haben, um das Dritte Reich »als singulären Einbruch in die Kontinuität der deutschen Geschichte zu deuten« und die vergleichende Faschismustheorie als »Verharmlosung« zu denunzieren, werde nun der Nationalsozialismus mitsamt seinen Verbrechen »in universalgeschichtlicher Perspektive »relativiert««. Die »Gleichung von Nationalsozialismus und Bolschewismus als zentrales Erklärungsmuster« sei freilich - ob logisch passend oder nicht - immer herangezogen 248
worden, auch von denen, die sonst nur vom »Hitlerismus« sprachen. Die Theorie der »totalitären Diktatur« und des den Deutschen aufgezwungenen »Willkürregimes« enthielt nämlich auch »eine indirekte Exkulpierung der vorwiegend konservativ eingestellten Führungselite, deren maßgebliche Mitverantwortung für die Entstehung und Stabilisierung der nationalsozialistischen Diktatur . . .«. Durch Lübbe sei dann die »Verdrängung der verbrecherischen Politik der Dritten Reiches« als »Mittel der psychologischen Selbstbehauptung« gerechtfertigt worden. 43 Eine theoretisch-methodologische Stringenz hat es also, das weist Mommsen überzeugend nach, in diesen konservativ orientierten Darstellungen über den deutschen Faschismus nie gegeben wohl aber eine stringente politische Tendenz. In seinem Beitrag im Merkur arbeitet Hans Mommsen noch einige andere Aspekte der politischen Funktion heraus. Im Zuge der Politik der »Wende« werde nach einem »historisch gegründeten Wertbewußtsein« gesucht, »das die Bundesrepublik wieder in die Lage versetzt, sich den Wegen nationaler Machtpolitik zu nähern . . . Dazu bedarf es in der Tat eines neuen Geschichtsbildes, das die Menetekel der nationalsozialistischen Epoche in den Wind schlägt und die Erfahrungen des Holocaust und des Unternehmens Barbarossa unter dem Stichwort der »Normalisierung« vergessen machen will«. »Inwieweit die vor allem von Stürmer und Hildebrand verfochtetene neorevisionistische Tendenz« in der Fachwissenschaft »Zustimmung finden wird«, hält Mommsen für »schwer abzuschätzen«. Trotz einer »breiten Strömung«, die zur »klassischen Politik- und Ideengeschichte zurücktendiert«, sei zu erwarten, daß die »technokratische Instrumentalisierung« der Geschichtswissenschaft »auch bei konservativ eingestellten Fachvertretern auf Ablehnung stoßen« werde. Den Zusammenhang zwischen der angeblich offenen deutschen Frage und der Revision des Geschichtsbildes hebt H. A. Winkler hervor (FR 14. November 1986). »Lauter als jemals seit den 50er Jahren« schalle aus der FAZ »der Ruf nach der Wiedervereinigung Deutschlands«. Hier seien »die tieferen Gründe der nationalapologetischen Welle zu suchen«, denn: »Um heute die Wiederherstellung des Deutschen Reiches fordern zu können, muß die Geschichte in der Tat umgeschrieben werden. Das Regime, das die staatliche Einheit Deutschlands verspielt hat, darf nicht länger als das erscheinen was es war: das menschenfeindlichste der Geschichte.« Auch Jürgen Kocka (FR 23. September 1986) interpretiert die Offensive konservativer Historiker im Zusammenhang mit dem Wunsch nach »zustimmungsfähiger Vergangenheit«, nach »Geschichte als Tra249
dition zur Stärkung der kollektiven Identität und Konsensbildung«. Er macht besonders auf die »neue geohistorische Hypothese« aufmerksam, wie sie nicht nur von Stürmer, sondern auch von dem WestBerliner Historiker Hagen Schulze vertreten werde 45 , die Karriere mache »bis hinein in die früheren Reden des gegenwärtigen Bundespräsidenten von Weizsäcker«. Danach ist »die große Konstante der deutschen Geschichte . . . die Mittellage in Europa. Deutschlands Schicksal ist die Geographie« (so Hagen Schulze). Eine solche Interpretation »ließe sich gut zur Begründung neuer deutscher Sonderwege benützen, wer weiß auf welchen Gebieten«. Der Münchener Politologe Kurt Sontheimer45a betrachtet die konservativen Historiker als diejenigen, die der »herrschenden Politik . . . die Argumente . . . liefern« und dabei »eine Tradition der deutschen Nationalhistoriographie der vordemokratischen Ära aufnehmen«. Er unterscheidet »zwei Stoßrichtungen: die eine ist die Entschärfung, Relativierung, Normalisierung, Veralltäglichung des Nationalsozialismus (Beispiel: Nolte, Hillgruber u. a.), die andere ist die Aufdeckung und Präsentation von identitäts-relevanten Vorgängen, Figuren und Episoden im Interesse eines systemstabilisierenden historischen Bewußtseins (Beispiel: Stürmer u. a.)«. Dem Konzept der »identitätssüchtigen Historiker« stellt er die Politologie und die Soziologie gegenüber, die nun - wie schon nach 1945 - erneut gefordert seien, »zur aufgeklärten Bewußtseinsbildung« im Sinne der »westlich-liberalen Demokratietradition« ihren Beitrag zu leisten. Auch Martin Broszat, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, zitiert noch einmal Michael Stürmers Thesen über die politische Notwendigkeit eines konsensstiftenden Geschichtsbildes, um »Maß und Mitte des Patriotismus« (Stürmer) wiederzufinden. Und in der Tat seien so unterschiedliche wissenschaftliche Individualitäten wie Stürmer, Hildebrand und Hillgruber »unter dem Protektorat der Schleyer-Stiftung . . . in Berlin zu einem Symposium« zusammengetreten, als ein »gesinnungsmäßig weitgehend geschlossener Kreis von Neuzeithistorikern«. Eine platte »Verschwörungstheorie«, wie es Fest in der FAZ behauptet habe, könne die These vom Zusammenwirken also nicht sein. Auch Broszat zitiert dann Dregger und stellt Übereinstimmungen mit Stürmer fest: Habermas habe es »treffend formuliert: Den Deutschen soll die Schamröte ausgetrieben werden«. Dazu Broszat: »Hier scheiden sich die Geister.« Es handele sich um »Perversionen patriotischen Geschichtsverlangens«, wenn »den Bürgern der Bundesrepublik der selbstkritische Umgang mit ihrer älteren und jüngeren Geschichte« weggeschwatzt werden soll - als »sei die durch die Not 250
erworbene moralische Sensibilität gegenüber der eigenen Geschichte ein kultureller und politischer Nachteil, verglichen mit anderen Nationen«. Eine solche Tendenz komme gar nicht spontan aus der jüngeren Generation, wie vielfach behauptet, sondern »reflektiert weit mehr den Kulturträger - Ehrgeiz politisch ambitionierter Eliten in unserem Land, die bei ihrer angemaßten ordnungspolitischen Führungsrolle glauben, ohne nationalpädagogisches Wächteramt nicht auskommen zu können«. (Die Zeit v. 3. Oktober 1986) Das sind nun in der Tat Töne von einer Schärfe, wie sie im wissenschaftlichen Meinungsstreit von Fachkollegen bisher nicht üblich waren. Sie erklären sich aus der Erschütterung und Empörung der liberalen Historiker nicht nur über die Art und Weise, wie hier von Seiten konservativer Kollegen mit Quellen und mit dem Handwerkszeug des Historikers umgegangen wird, sondern mehr noch über die unverhüllte politische Instrumentalisierung von Geschichte durch rechtsgerichtete Kräfte. Von den publizistischen Kritikern wurden die Argumente der Wissenschaftler aufgenommen, zugespitzt - und gelegentlich auch überspitzt und etwas zu stark vereinfacht. Nach Rudolf Augstein wollen die konservativen Historiker uns suggerieren: »Wir müssen diesmal auf der richtigen Seite stehen. Dafür ist es unerläßlich, daß die Verbrechen Hitlers zu Ende sind, diejenigen Stalins und seines Nachfolgers Gorbatschow noch andauern.« (Spiegel 41/1986, S. 63). »Der Spiegel« weist dann auch auf den Zusammenhang mit den Museumsprojekten der Bundesregierung hin: Hildebrand sei einer der Gutachter für das Bonner »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, Hillgruber einer der Berater (Spiegel 36/1986, S. 70). (Susanne Miller führt diesen Zusammenhang unter dem Titel »>Wende<-Zeichen auf dem Gebiet der Geschichte« in der Neuen Gesellschaft näher aus. 46 ) Otto Köhler bringt in »Konkret« (10/1986) die Beziehung zwischen konservativer Wissenschaft und Politik auf die Formel: »Die Historiker«, die für Kohl das »Haus der Geschichte bauen, haben ihre Schulaufgaben gemacht«. Die »Vierergruppe nationalkonservativer Historiker« heize eine Auseinandersetzung an, »die dem Ziel dient, im Zeichen der Wende auch das altbewährt deutsche Geschichtsbild wieder herzustellen«. »Publizistischer Geleitschutz« sei durch FAZ und »Welt« gewährleistet. Die Stiftung, »die der Würdigung der Verdienste des 1977 ermordeten Arbeitgeberpräsidenten und SS-Führers Hanns Martin Schleyer . . . gewidmet ist«, organisierte diese Historiker am 3. Oktober in Berlin in einer Konferenz mit dem bezeichnenden Titel »Wem gehört die deutsche Geschichte?«, und Günter von Lojewski von der »Report«-Redaktion des Bayrischen 251
Rundfunks fungierte als Moderator. »Die Herrschaften, die erst die deutsche Geschichte kaputtmachten und seither ihre neuere Abteilung gar nicht mehr zu Kenntnis nahmen, möchten sie jetzt, schleunigst, zurückhaben.« Auch K.-H. Janßen in der »Zeit« (21. November 1986) ordnet die gegenwärtige Debatte in die Gesamtentwicklung der Bundesrepublik seit ihren Anfängen ein. Er erinnert daran, daß 40 Jahre lang »allzuviel . . . verdrängt« blieb: »Eliten, Stände, Berufsschichten brauchten viele Jahre, ehe sie sich den eigenen Verstrickungen und der eigenen Mitschuld stellten, . . . die Psychoanalytiker am längsten. Die Justiz hat das nie geschafft. Der Anteil der Wehrmacht an den Verbrechen blieb bis in die späten 70er Jahre tabuisiert; Industrielle und Bankiers fühlten sich schuldlos - schuldig. Verdrängungen und Lebenslügen suchten sich die verschiedensten Formen. Z. B. die Totalitarismustheorie«, die dazu verhalf, die in der Sowjetunion durch die Deutschen »verübten Verbrechen in milderem Lichte zu sehen . . . Zum Beispiel die Dämonisierung Hitlers«, die sowohl die »Massen« wie die »Eliten« entlastet habe, »die ihm zugearbeitet hatten«. Und nun wehen »die Bonner Wendewinde den Aufklärern ins Gesicht«, und »flinke Historiker« wie Stürmer »erkennen die Zeichen der Zeit«. Flucht vor der Vergangenheit sei jedoch unmöglich. Auch die junge Generation müsse »begreifen lernen, wie es geschehen konnte«, zumal die Deutschen mit diesen Problemen keineswegs »unter sich« seien - eben wegen der Erfahrungen, die die Nachbarn in Ost und West mit diesen Deutschen gemacht haben. Marxistische Wissenschaftler nehmen die Argumentationslinie der liberalen Kritik auf, führen sie weiter und modifizieren sie. Ulrike Hörster-Philipps46a schreibt: »Die Debatte wäre - wissenschaftlich unhaltbar und moralisch unvertretbar - längst im Sande verlaufen, stünde nicht an ihrer Wiege eben jene politische Zweckbestimmung, die ihre Verfechter so eloquent verleugnen.« Zentral sei »die Frage nach Koexistenz oder Konfrontation«. Aus politischen Gründen sei es so wichtig für die Rechte, die Sowjetunion als »Herd und Ausgangspunkt der grausamsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts«, als »beutegierig und aggressionsbereit und trotz aller Friedensbeteuerungen und Verträge stets bereit zum Krieg, ja zum Erstschlag« darzustellen. Gegenüber der Interpretation der liberalen Wissenschaftler, die in der Entscheidung für den Westen die große geschichtliche Leistung der Bundesrepublik sehen und den rechten Historikern vorwerfen, eben diese zu gefährden, gibt der Marburger Politikwissenschaftler Georg Fülberth4bh zu bedenken, daß diese Entscheidung der Bundesre252
publik für den Westen »ja verbunden war mit ihrer Parteinahme im Kalten Krieg, mehr noch: Sie selbst ist ein Produkt der Ost-West-Konfrontation«. Wenn man sich kein realistisches Bild vom »Westen« mache, könne ein Historiker wie Hillgruber mit seinem Nachweis hausieren gehen, daß auch Großbritannien im Zweiten Weltkrieg weitreichende eigene Kriegsziele verfolgt habe. Es dürfe eben nicht vergessen werden, »daß die Westmächte auch in der Anti-Hitler-Koalition nicht aufhörten, imperialistisch zu sein«. Diese Diagnose über den »Westen« hat natürlich auch Folgen für die Beurteilung politischer Probleme der Gegenwart. Die Kritiker aus Wissenschaft und Publizistik waren sich also weitgehend einig, daß die Offensive konservativer Historiker eine eindeutige politische Stoßrichtung hatte und im Zusammenhang mit den politischen Zielen der konservativen Kräfte in der Bundesrepublik betrachtet werden muß. In der Frage allerdings, von wem dabei die Initiative ausgegangen war, wer Ziel und Richtung der Offensive bestimmte, gab es sehr unterschiedliche Hypothesen - und ebenso darüber, wie deren Ziele genauer zu bestimmen seien. 3)
Die Antwort
der Konservativen
Die kritisierten Historiker reagierten mit einem Aufschrei der Empörung: Ungeheuerliches Unrecht werde ihnen angetan, bösartige Verleumdungen und Entstellungen seien am Werk, nicht um eine wissenschaftliche Debatte handele es sich, sondern um einen Diffamierungsund Schauprozeß. Das am häufigsten gebrauchte Adjektiv zur Kennzeichnung des eigenen Verhaltens und zugleich zur Abgrenzung gegenüber dem Verhalten der Kritiker lautete »wissenschaftlich«. »Es ist ein einzigartiger wissenschaftlicher Skandal.« 46c Sie verhielten sich also so, wie konservative deutsche Historiker sich seit über hundert Jahren verhalten, wenn sie ihre wissenschaftliche Arbeit massiv in den Dienst der herrschenden Politik und Ideologie stellen und dies dann zu legitimieren gezwungen sind: »Wissenschaftlich« war das, was die herrschende Geschichtswissenschaft in Übereinstimmung mit der bestehenden Gesellschaftsordnung und der herrschenden Politik im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg tat. »Politisch«, somit unwissenschaftlich und deshalb von den Universitäten strikt fernzuhalten war das, was gegenüber dieser Gesellschaft und Politik z. B. von der marxistischen Theorie aus - an Kritik formuliert wurde. 47 Nach dieser Maxime wurde auch in der Weimarer Republik verfahren und im Gefolge der Restauration und des Kalten Krieges dann auch in 253
der Bundesrepublik. (Auch in meinem eigenen Werdegang hatte ich Gelegenheit, diese Methode intensiv kennenzulernen.) In der hier zur Diskussion stehenden Debatte stellt sich diese Haltung so dar: Von »Entgleisungen« und »böser Diffamierung« spricht der Herausgeber der Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«; deshalb will er »einen Hauptbetroffenen« - Andreas Hillgruber - zu Wort kommen lassen (der vorher in der Tat nur durch Artikelserien in der »Welt«, in der FAZ, im Rheinischen Merkur, bei Fernsehauftritten, Rundfunkdiskussionen und in einer größeren Zahl von Zeitschriften und Zeitungen zu Wort gekommen, kurzum: fast vollständig zum Schweigen verurteilt worden war). »Politisch motivierte Rufmordkampagne« und »politisch-agitatorisch« nennt Hillgruber selbst48 die Kritik von Habermas und anderen. Ein »trübes Gebräu aus Politik und Wissenschaft«, bei dem »schließlich die Wissenschaft vollends auf der Strecke« bleibt, »Wirklichkeitsverlust und Manichäismus« nennt Klaus Hildebrand die Kritik von Habermas (FAZ 31. Juli 1986). Dieser habe sich »auf Kosten der Wahrheitssuche ans Politisieren« begeben, und er habe überhaupt ein »gestörtes Verhältnis zu Wissenschaft und Forschung«. Mit drei Argumentationslinien tritt man dann den Kritikern entgegen: 1.) Die Kritiker hätten unkorrekt zitiert: »Schludrige Recherche und geklitterte Zitate« lautet der Vorwurf von Michael Stürmer gegen Habermas. Es fehle am »gewissenhaft-akribischen Umgang mit den Texten«; es würden »Aussagen und Positionen unterstellt, die sich in den inkriminierten Artikeln entweder gar nicht finden oder nur mittels waghalsiger Interpretationen hineindeuten lassen«. 49 Dieser Vorwurf soll also besagen, daß alles ganz anders gemeint gewesen sei, als von den Kritikern behauptet. 2.) Die eigenen Thesen seien Resultate neuer wissenschaftlicher Forschungen, »neuer Quellen, neuer Erkenntnisse und neuer Fragen«. »Da es aber keine liberalen oder reaktionären Forschungsergebnisse gibt, ist nicht einzusehen, warum wir mit den Füßen im Zement irgendeines Geschichtsbildes stehen . . . sollen.« »Wer solche Sperren im Dienst des ein für allemal Etablierten aufrichtet, behindert die Forschung und huldigt dem Dogma.« 50 »Neue Überlegungen sowie differenziertere und zugleich auf breiteren Grund gestellte Einsichten« seien möglich und notwendig. 51 3.) Es werde doch wohl in einem freien Land noch erlaubt sein, Fragen zu stellen! Der Rheinische Merkur ließ eine Großanzeige publizieren mit dem Text: »Hände weg vom Dritten Reich? Wir Histori254
ker lassen uns nicht den Mund verbieten. Der Historiker Professor Andreas Hillgruber stellt sich dem Vorwurf, daß sich die Deutschen aus ihrer Geschichte davonstehlen wollen.« Das war der durchgängige Tenor: »Wer auf dem Felde unseres - gewiß hochsensiblen - Verhältnisses zur NS-Vergangenheit bestimmte Überlegungen von vornherein tabuisieren oder verbieten . . . will, begeht damit nicht nur einen fatalen Anschlag auf den Geist der Wissenschaft, sondern schadet auch der politischen Kultur in unserem Lande.« 52 Die »Freiheit des Fragens« sei zu verteidigen, forderte Fest in der FAZ (29. August 1986). »Frageverbote« seien nicht erlaubt, »pluralistische Wissenschaftsmoral« sei gegen den »Monopolanspruch der kritischen Historie«, »Pragmatismus gegen moralischen Absolutismus« zu setzen.53 Insgesamt stellte sich aus dieser Sicht die Kontroverse so dar, daß sie selber - die konservativen Historiker - ihren normalen wissenschaftlichen Arbeiten nachgegangen seien, unbeeinflußt von irgendwelchen außerwissenschaftlichen Tendenzen, plötzlich aber von linken Kritikern in politisch-polemischer Absicht überfallen worden seien. »Mitten im Frieden überfällt uns der Feind«, verkündete Kaiser Wilhelm II. dem deutschen Volk, als das Deutsche Reich - nach langer Vorbereitung - im August 1914 den Krieg begann. Einen ähnlichen Eindruck muß der Leser aus den Bekundungen der konservativen Historiker gewinnen. Nicht sie haben danach die Debatte eröffnet, sondern Habermas war es: »Ich halte die von Habermas eröffnete Debatte für ein Unglück«, schrieb Nipperdey in der »Zeit« (17. Oktober 1986). Die konservativen Historiker befinden sich also gewissermaßen im Status von Verfolgten. Und sie verteidigen nicht nur sich selbst, sondern zugleich die Freiheit der Wissenschaft und des Geistes gegen den linken Absolutismus. Die Lage dieser unschuldig verdächtigten und verfolgten Wissenschaftler gegenüber ihren Widersachern, gegenüber Lügnern, Verleumdern und politischen Agitatoren konnte danach wirklich bemitleidenswert erscheinen. In der Tat standen auf ihrer Seite ganz explizit lediglich der Bundeskanzler und verschiedene Mitglieder der Bundesregierung, die Sprecher der Unionsparteien mit ihren ideologischen Apparaten, einige größere Medienkonzerne sowie die Stiftung des Unternehmerverbandes. Im übrigen standen sie mutterseelenallein. Auf der Ebene der Argumente stellen sich die Entgegnungen der konservativen Historiker ziemlich schwach dar: Michael Stürmer, der die ideologische Legitimation für die gesamte Richtung geliefert und auch am klarsten den Bezug zur aktuellen Politik hergestellt hatte, wollte nun überhaupt nichts Eindeutiges gesagt, sondern lediglich »gefragt« haben, »ob die Historie« zur »innerweltlichen Sinnstiftung . . . 255
berufen sei«. Unter dem großsprecherischen Titel »Eine Anklage, die sich ihre Belege selbst fabriziert« (FAZ 16. August 1986), wurde Habermas praktisch als Fälscher abqualifiziert. Daraufhin rief ihm Martin Broszat in der »Zeit« (3. Oktober 1986) allerdings in Erinnerung, daß er damit die »ganz anders klingenden Zitate« aus dem Artikel von Habermas nicht »entkräftet« habe und daß er nicht nur das bei Habermas Zitierte, sondern noch einiges mehr geschrieben hatte: mit geradezu »priesterlicher Gebärde« verkündete Stürmer seine Lehre: Broszat zitiert dann Stürmers Aussagen, Geschichte verspreche »Wegweiser zur Identität«; wir müßten uns einigen auf einen »elementaren Lehrplan der Kultur . . ., damit Kontinuität und Konsens im Lande fortzuarbeiten und Maß und Mitte des Patriotismus wieder zu finden«. Explizit werde dabei Geschichte als Religionsersatz proklamiert. Und die politische Übereinstimmung mit Alfred Dregger sei offensichtlich. Auch die vollmundige Ankündigung von Andreas Hillgruber, er werde die Habermas'sche Kritik, »diese Manipulation, Zitat für Zitat vergleichend im einzelnen widerlegen« 54 , erwies sich als nicht realisierbar. Die Nachweise Hillgrubers, die dann in dem Aufsatz »Jürgen Habermas, Karl-Heinz Janßen und die Aufklärung Anno 1986« in der Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« (1986/12) erschienen, verblieben durchweg im Bereich kleinlichen Herumdeuteins an der Interpretation einzelner Zitate, ließen sich aber auf die Hauptfragen gar nicht ein und vermochten die Argumentationslinie von Habermas überhaupt nicht zu erschüttern. Seine weiteren Behauptungen, er habe mit den »ganz anderen wissenschaftlichen Ansätzen, Fragestellungen, Thesen und Hypothesen« von Stürmer, Nolte und Hildebrand nichts zu tun55, war bereits dadurch widerlegt, daß man sich - unter dem »Protektorat« (Broszat) der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung - bereits am 3. Oktober 1986 zu einer Konferenz mit dem Titel versammelt hatte: »Wem gehört die deutsche Geschichte?« und dabei den »nationalen Auftrag« der Geschichtswissenschaft noch eimal bekräftigte 551 (nur Nolte nahm daran nicht teil). Und was die Behauptung Hillgrubers betrifft, die wissenschaftlichen Arbeiten der attackierten Historiker hätten mit den Museumsplänen der Bundesregierung »nichts zu tun«, und es sei Habermas, der überhaupt das »Durcheinander von historischen, politischen und publizistischen Problemen hervorgerufen« habe: In dem oben schon genannten Aufsatz von Susanne Miller und in verschiedenen Publikationen von Hans Mommsen ist im Detail das Gegenteil nachzulesen, und Hillgruber selbst bekennt in dem zitierten Interview im Rheinischen Merkur, daß er von der Bundesregierung in den Beirat für das 256
»Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« in Bonn berufen worden sei (dem übrigens auch Klaus Hildebrand angehört). Und hatte Hillgruber sich nicht selbst in Fernseh- und Pressegesprächen mit Strauß und Kohl als Stichwortgeber rechtskonservativer Politik präsentiert? Hatte er überhaupt keine Ahnung, was seine Thesen politisch und ideologisch bedeuteten? Die Zeitung jedenfalls, die diese Thesen besonders groß herausbrachte, wußte es besser: »Bei Hillgruber ist ein nationaler politischer Wille spürbar.« 56 »Die Pose der strengen Wissenschaftlichkeit, die die Historiker in dieser Debatte gereckten Halses zur Schau tragen, steht denen, die neuerdings Geschichte für Bildung nationalen Bewußtseins genutzt wissen wollen, nicht gut zu Gesicht« - so der Münchner Politologe Kurt Sontheimer.56a Sehr wenig blieb schließlich auch von dem Anspruch übrig, es handle sich um neue Forschungsergebnisse, die da publiziert worden seien - und nur darum. Warum man von Noltes bolschewistischen »Rattenkäfig«, den Jäckel als »abstruse Assoziationskette« erwiesen hatte57, einmal absieht, bleibt als einzige »Forschungsleistung« der durch neue Dokumente erneut gefestigte Nachweis Hillgrubers, daß Großbritannien im Krieg gegen das Deutsche Reich die Ausschaltung Deutschlands als ökonomische und politische Macht anstrebte und daß diese Ziele nicht durch die Verbrechen des deutschen Faschismus, sondern durch eigenständige Interessen Großbritanniens begründet waren. Dies ist nun aber wirklich ein alter Hut. Wieso daraus aber die Kernthese Hillgrubers abgeleitet werden kann, daß man sich mit dem »Abwehrkampf« des deutschen »Ostheeres« und also mit dem faschistischen Regime dieser Jahre insgesamt zu identifizieren habe, ist nicht ersichtlich. Hier kommt wohl doch das ins Spiel, was der Rheinische Merkur den »nationalen politischen Willen« Hillgrubers nennt. Nicht um neue Forschungsergebnisse also ging es, sondern um neue Bewertungen dessen, was sich vor 1945 in Deutschland und Europa ereignet hatte.
4)
Ansätze zur Eingrenzung
und Beendigung
der Debatte
Als die Schärfe der Debatte sich steigerte, wurden Versuche unternommen, die Konfrontation einzugrenzen und die Polemik zu beenden. Die Offensive der rechten Historiker hatte so gut wie alle wesentlichen Elemente des Geschichtsbildes in Frage gestellt, das in der seriösen Geschichtswissenschaft in Hinsicht auf den deutschen Faschismus entwickelt worden war und als gesichert gelten konnte. Dieser »Konsens« 257
war nun in der Tat »von rechts aufgekündigt« (Habermas) worden, und dabei waren die bisher erarbeiteten Interpretationen mitsamt der umfangreichen Quellenbasis, auf die sie sich stützten, mit lockerer Hand weggewischt worden. Daß man dabei auf Widerspruch stoßen würde, war natürlich absehbar. Der Münchener Althistoriker Christian Meier, der Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes, mahnte deshalb schon in seinem Eröffnungsvortrag beim 36. Historikertag in Trier58, in der Auseinandersetzung »äußerste Vorsicht« walten zu lassen. Meier, der selbst ohne Zweifel zu den Konservativen zählt, befürchtete offenbar, daß aus der Polemik Brüche entstehen könnten, die die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Geschichtswissenschaft insgesamt beeinträchtigen könnten. »Es geht nicht an, daß Historiker sich weigern, Räume zu betreten, in denen bestimmte andere Historiker sich aufhalten um nicht in die Versuchung zu kommen, ihnen die Hand zu geben.« Meier versuchte dann, eine Position der Vermittlung zu formulieren. Er gab den »Stahlhelm«-Historikern Recht, »daß es bei uns keine Frageverbote geben darf und gibt«, daß der Vergleich zwischen den Untaten Deutschlands unter Hitler und denen der Sowjetunion unter Stalin . . . keineswegs illegal, im Gegenteil, . . . erhellend und nützlich« sei und daß in der Tat das Problem gestellt sei, »wie wir die gleichsam hypnotische Lähmung weiter Teile unserer Volkes gegenüber der NSVergangenheit auflösen können, jenes Nebeneinander von pauschaler Verurteilung aller Deutschen jener Zeit und alles Deutschen und von Verdrängung und trotziger Zuwendung«. Und er gab den Kritikern darin Recht, daß »die deutschen Verbrechen . . . in dem Sinne singulär (waren), daß sie qualitativ deutlich über die vergleichbaren anderer Völker (etwa der stalinistischen Sowjetunion) hinausgingen«, daß uns die Erinnerung daran keineswegs am »aufrechten Gang« hindert, daß »ein solcher Streit nicht nur wissenschaftlich« sein kann, sondern »zugleich politisch« sein muß und daß man die Kritik von Habermas nicht »einfach unter Hinweis auf zu kurze Zitate . . . vom Tisch . . .wischen« könne. Auch der konservative Münchener Historiker Thomas Nipperdey 59 befürchtete, daß durch die Polemik »Gräben aufgerissen« werden, daß »die Historikerzunft wie die Öffentlichkeit . . . polarisiert« werde, lastete dies allerdings einseitig der »von Habermas eröffneten Debatte« an. Am 20. November unternahm dann Meier einen weiteren Versuch der Vermittlung, diesmal in der FAZ, um zwar »kein Schlußwort« zu sprechen, wohl aber »eine Bilanz« zu ziehen, »nachdem der Histori258
kerstreit im wesentlichen beendet ist«. 60 Noch deutlicher wandte er sich jetzt in zentralen Punkten gegen die Thesen des rechten Flügels: Das Problem der Singularität könne »nicht mehr strittig« sein - zumal nach den Ausführungen von Eberhard Jäckel. »Noltes Hoffnung, durch Hinweise auf die verschiedenen anderen millionenfachen Morde das Bedrängende an unserer NS-Vergangenheit abarbeiten zu können«, werde »gewiß nicht in Erfüllung gehen . . . dazu ist das Bewußtsein von den Untaten zu tief in die Grundlagen der Bundesrepublik eingebrannt«. Eine Lösung der »hypnotischen Lähmung« könne überhaupt nicht darin bestehen, »daß man an dem, was im ganzen geschehen ist, deutelt«. Im strikten Gegensatz zu den Thesen Hildebrands und Hillgrubers stellte Meier fest: »Es ging und geht beim Thema des »Historikerstreits« weniger um die Vergangenheit als um die Gegenwart und Zukunft.« Und gerade für die politische Stellung der Bundesrepublik »ist es, um es einmal taktisch zu nehmen, viel besser, wir wissen und sagen, wie es ist, als daß wir uns es immer wieder sagen lassen müssen«. Nolte habe seine Thesen immerhin stark »modifiziert«. »Was Hillgruber bewogen haben mag, sich nachträglich mit den Verteidigern der Front in Ostpreußen zu »identifizieren«, wird wohl sein Geheimnis bleiben.« Und daß Stürmer »die Geschichte politisch instrumentalisieren möchte«, sei »unverkennbar«: »Stürmer will die Geschichte in Dienst nehmen.« Auch Meier plädiert für ein gewisses »gemeinsames Grundverständnis« im Sinne des Bundespräsidenten, doch könne dies »nur von der Mitte her geschehen«. Der bloße »Verfassungspatriotismus«, wie ihn Habermas vorschlage, reiche dafür allerdings nicht. Eine »nationale, vor allem bundesrepublikanische Identität« wachse aber ohnehin heran. Gerade die letzte Formulierung Meiers ließ nun allerdings die Hauptfrage in der Schwebe: ob nämlich das Identitätsbewußtsein sich auf die Bundesrepublik oder auf ein fiktives Gesamtdeutschland bezieht und also Expansionsansprüche enthält. Die weitere Formulierung, daß auch die Jüngeren »in einem Staat leben, der Deutschland heißt«, ist eher geeignet, mißtrauisch zu machen. Doch für die Rechte war dieser Vermittlungsversuch unannehmbar. Postwendend protestierte Nolte gegen die Unterstellung Meiers, er habe seine Position »entschärft« (FAZ 6. Dezember 1986). Und auch die anderen konservativen Historiker gaben keine Signale, daß sie zu einem Einlenken bereit waren. Allzu fest gefügt ist wohl schon das Bündnis, das sie mit dem rechten Flügel der Unionsparteien und der Bundesregierung eingegangen sind. Kohl und Strauß haben denn auch diese Linie bei der großen Wahlkundgebung der CDU in der Dort259
munder Westfalenhalle am 3. Januar 1987 und in ihren weiteren Wahlkampfäußerungen in betont rüder Form bekräftigt: Strauß wiederholte in aller Härte seine Forderung, daß die Bundesrepublik »aus dem Schatten des Dritten Reiches heraustreten« und endlich den »aufrechten Gang« erlernen müsse. »Denn die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftspolitische Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk.«61 Kohl sprach von »Konzentrationslagern«, in denen die DDR ihre politischen Häftlinge gefangen halte, und die FAZ (7. Januar 1987) kommentierte, daß es zwar in der DDR keine Konzentrationslager im Sinne von Vernichtungslagern gebe, wohl aber gebe es solche in der Sowjetunion - während es in der DDR, so muß der Leser folgern, nur »normale« Konzentrationslager gebe. Während also der wissenschaftliche Streit mindestens in der ersten Etappe eine ziemlich klare Niederlage der Rechten brachte, treiben die politischen Kräfte der Rechten diese Konfrontation mit aller Energie weiter voran, um das neue Geschichtsbild durchzusetzen, das sie für ihre Politik benötigen. Auf der anderen Seite sah auch Jürgen Habermas in seinem zweiten, bilanzierenden Artikel 62 keine Möglichkeit der Verständigung mit den Positionen der konservativen Historiker. Er stellte noch einmal dar, worauf deren Thesen hinauslaufen, und folgerte dann: diese Thesen (von Nolte und Fest) »dienen nicht der Aufklärung. Sie berühren die politische Moral eines Gemeinwesens, daß - nach der Befreiung durch alliierte Truppen ohne eigenes Zutun - im Geiste des okzidentalen Verständnisses von Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung errichtet worden ist.«
C. Schlußfolgerungen und Bilanz
1) Die
Vorgeschichte
Da im Gefolge der Restauration des Kapitalismus in den Westzonen und der Politik des Kalten Krieges die ehemaligen Führungsschichten des faschistischen Systems in großem Maßstab wieder in ihre früheren Machtpositionen einrücken konnten, gab es in der Bundesrepublik gerade bei den politisch einflußreichen Kräften von Anfang an ein starkes Bedürfnis, die Wurzeln des Faschismus und die gesellschaftlichen Träger und Nutznießer seiner Politik im Dunkeln zu halten und seine Verbrechen zu verharmlosen. Diese Bestrebungen kamen auch dem Be260
dürfnis breiter Schichten ehemaliger Mitläufer und Mittäter entgegen, die sich zudem durch das ebenfalls restaurierte Feindbild des Kommunismus bestätigt sehen konnten und mit Schuldgefühlen nicht länger belastet werden wollten. Das Gedankenmaterial, mit dem die Verharmlosung, Verdrängung und Leugnung legitimiert werden konnte, hatten die Faschisten selber schon in den Grundelementen bereitgestellt: in den offiziellen Bekundungen des Regimes zum Krieg und zur Behandlung politischer Gegner, Juden und unterworfener Völker und dann, nach dem 8. Mai 1945, durch die Aussagen der als Kriegsverbrecher angeklagten und zur öffentlichen Rechtfertigung sich gedrängt fühlenden ehemaligen Führungskräfte des faschistischen Systems. Dieses Geschichtsbild wurde aufgenommen und fortgeführt von der neofaschistischen Publizistik, die dabei immer eine gewisse Resonanz fand beim rechten Flügel der etablierten Rechten: der Unionsparteien, der Vertriebenenverbände, der Springerpresse, der Bundeswehr, der Deutschland-Stiftung usw. In einem deutlichen Kontrast zur realen Restauration ehemaliger faschistischer Führungsschichten, zur ungehinderten Propagierung faschistischer Ideologie durch die extreme Rechte und zur ideologischen Rehabilitierung nicht nur der Wehrmacht, sondern auch der Waffen-SS durch die Bundesregierung stand das, was die Bundesrepublik als ihr offizielles Selbstverständnis definierte. Um in die Gemeinschaft der Völker Westeuropas, denen sich die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus tief eingebrannt hatte, aufgenommen zu werden und die staatliche Souveränität und eine neue Militärmacht erlangen zu können, war es erforderlich, die Bundesrepublik als einen Staat zu präsentieren, der sich vom Faschismus gänzlich abgewandt habe. Die Bundesrepublik stehe in der Tradition des (bürgerlich-militärischen) Widerstands und habe durch das Grundgesetz und die parlamentarische Demokratie sich den »westlichen Werten« vorbehaltlos geöffnet - so lautete das offiziell proklamierte Selbstverständnis. Ein Element von Unaufrichtigkeit war damit von Anfang an konstituierend für die Art und Weise, wie man mit der faschistischen Vergangenheit umging. Dieses offizielle Selbstverständnis war zwar nicht mehr durch den antifaschistischen Konsens der Jahre 1945/46 bestimmt, der die Kommunisten als wesentliche Kraft des Antifaschismus und die demokratische Kontrolle ökonomischer Macht als Folgerung aus den Erfahrungen mit dem Faschismus eingeschlossen hatte. Aber eine klare Distanzierung vom Faschismus und eine Verurteilung seiner Verbrechen jedenfalls in Hinsicht auf die Entfesselung des Krieges und den Massenmord an den Juden - war in diesem »reduzierten« antifaschisti261
sehen Konsens doch enthalten. Diese Momente wurden durch die herrschende Totalitarismustheorie zwar stark überlagert, die sich praktisch so gut wie ausschließlich gegen den »neuen Totalitarismus«, die sozialistischen Länder und die Linke im eigenen Land richtete. Und in den Jahren, in denen der Kalte Krieg alle Bereiche des politischen und kulturellen Lebens durchdrang, konnte der Antikommunismus die antifaschistische Dimension der Totalitarismusthese fast gänzlich überwältigen. Aber seit Beginn der 60er Jahre verlor der Kalte Krieg langsam an Einfluß; über den Faschismus konnte wieder offener geredet werden und es zeigte sich, daß immer noch dieser Begriff sich verband mit Folter und Terror, Krieg und Massenmord. Von den gleichen Widersprüchen war auch das Geschichtsbild bestimmt, das an den Universitäten gelehrt und in den Schulen vermittelt wurde. Diese Generation von Historikern, die in aller Regel bis 1945 dem Faschismus gedient hatten, tat nicht mehr, als notwendig war, um als »Glied der westlichen Gemeinschaft« anerkannt zu werden. So wurden zwar die »Untaten« der »Gewaltherrschaft« moralisch verurteilt, doch die Ursachen, sozialen Interessen und politischen Kräfte, die den Faschismus zur Macht gebracht und seine Politik bestimmt hatten, wurden im Dunkeln belassen, so daß der Bevölkerung, insbesondere der jungen Generation, ein wirkliches Begreifen versperrt war. Diese Sichtweise blieb einerseits auf den großen Einzeltäter Hitler und andererseits auf die Gleichsetzung Nationalsozialismus = Kommunismus fixiert. Und sie löste überhaupt den Faschismus aus der Kontinuität deutscher Geschichte heraus, definierte ihn gewissermaßen als Fremdkörper, so daß das nationalkonservative Geschichtsbild im Ganzen aufrechterhalten werden konnte. Der das deutsche Geschichtsdenken seit dem Kaiserreich beherrschende Historismus mit seiner Lehre von der Singularität aller geschichtlichen Erscheinungen lieferte dafür die theoretische Grundlage. Erst als der Geist des Kalten Krieges seinen beherrschenden Einfluß verlor und als eine neue Generation von Historikern und Sozialwissenschaftlern heranwuchs, die persönlich nicht in den Faschismus verwikkelt gewesen waren, konnten die Borniertheiten dieses Geschichtsbildes gelockert werden. Und mit der »Fischer-Kontroverse« über die Ursachen des Ersten Weltkrieges Anfang der 60er Jahre brachen auch die Schranken zusammen, die ein Erkennen des Zusammenhangs zwischen dem Faschismus und den vorangegangenen Machtstrukturen blockiert hatten. Aber auch Versuche, das herrschende Geschichtsbild noch weiter nach rechts zu verschieben, hat es immer wieder gegeben. Führende 262
Politiker der regierenden Rechten wie F. J. Strauß haben dabei schon frühzeitig Forderungen formuliert, die im Interesse der politischen Machtentfaltung der Bundesrepublik ein Ende der »Vergangenheitsbewältigung« verlangten - und darin einig waren mit der extremen Rechten. Sie haben allerdings die Geschichtswissenschaft - von Außenseitern wie Diwald abgesehen - nicht maßgeblich beeinflussen, das Geschichtsbild nicht revidieren können. Die Entspannungspolitik und die Reformhoffnungen, die sich mit der Bildung der sozialliberalen Regierung verbanden, trugen ganz wesentlich bei zu einem Klima, in dem die Frage nach den Ursachen des Faschismus neu gestellt und vor allem dessen sozialökonomische Dimension thematisiert werden konnte. Die Rolle von Großkapital und Wehrmacht auch für die Planung und Durchführung der großen Verbrechen wurde nun schrittweise offengelegt. Der Antifaschismus drang - vermittelt über Hochschulen und Schulen, Studentenbewegungen und Gewerkschaften und die Organisationen der Verfolgten und Antifaschisten - erneut ins Massenbewußtsein, bewirkte große Demonstrationen und brachte sein Potential dann ein in die folgenden demokratischen Bewegungen, besonders die »Stoppt-Strauß«-Bewegung 1979/80 und die Friedensbewegung seit 1980/81. Der Film »Holocaust« ergriff Millionen von Menschen und festigte antifaschistische Stimmungen in der Bevölkerung. Aber auch in dieser Periode unternahm die Rechte weiterhin Versuche, das Geschichtsbild in ihrem Sinne zu revidieren. Sie gingen aus von Zirkeln konservativer Ideologen, vom rechten Flügel der Unionsparteien und von Publizisten wie J. C. Fest und Sebastian Haffner. Das gilt für die »Hitlerwelle« der Jahre nach 1973 ebenso wie für die »Preußenwelle« der folgenden Jahre. Fernsehserien, insbesondere des Bayrischen Rundfunks über Deutschland im Krieg, über Flucht und Vertreibung usw. versuchten, die Wirkungen von Holocaust zu neutralisieren. Eine relevante Strömung innerhalb der etablierten Geschichtswissenschaft konnte damit aber zunächst nicht erzeugt werden. Zwar wurde besonders das Hitlerbuch von Fest von renommierten Zeithistorikern und von den großbürgerlichen Medien überschwenglich gelobt, zwar wurde innerhalb der Historikerzunft der Einfluß der Sozial- und Strukturgeschichte seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre wieder zurückgedrängt, doch ein wirklicher Durchbruch der Rechten in der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit gelang nicht. Mit der Durchsetzung einer neuen, auf Konfrontation zielenden Globalstrategie und der Etablierung der Regierung Reagan in den USA und der Regierung der »Wende« in der Bundesrepublik waren poli263
tisch und atmosphärisch auch für die wissenschaftliche Diskussion neue Bedingungen geschaffen. Der Bedarf nach einem neuen Geschichtsbild wurde nun von den Regierenden energisch formuliert: eines Geschichtsbildes, das sich in einem nationalkonservativen Verständnis zur Identifikation eignet und die Belastungen abstreift, die aus der faschistischen Vergangenheit resultieren und die volle Entfaltung der politischen, ökonomischen und militärischen Potentiale der Bundesrepublik hemmen. Der »westdeutsche Wille, eine Führungsrolle anzunehmen« (FAZ v. 7. Februar 1987), bedarf der ideologischen Fundierung. Neokonservative Ideologie wurde allenthalben gefördert, ein neuer Nationalismus unter wissenschaftlicher Beihilfe konzipiert und propagiert. Die Revision des bisher herrschenden Geschichtsbildes über den deutschen Faschismus wurde resolut angepackt. Der große Kongreß im Reichstagsgebäude anläßlich des 50. Jahrestages des 30. Januar 1933, bei dem der Philosoph Hermann Lübbe das Hauptreferat hielt, bildete den Auftakt. Lübbe erklärte das Verdrängen und Verschleiern der faschistischen Vergangenheit zur staatsbürgerlichen Tugend, die die Stabilisierung der Bundesrepublik überhaupt erst ermöglicht habe. Die Auseinandersetzungen um den 8. Mai 1985, den 40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, stand dann schon ganz im Zeichen der Totalrevision des Geschichtsbildes. Und die Inszenierung von Bitburg, Äußerungen von Dregger, Strauß und Kohl und die Pläne der Bundesregierung für Geschichtsmuseen in Bonn und West-Berlin sowie eines repräsentativen Mahnmals zeigten in aller Öffentlichkeit, in welcher Richtung diese Revisionsbemühungen zielten.
2)
Die Debatte
Wie in allen vorangegangenen Etappen der Geschichte der Bundesrepublik ging die Initiative von den politischen Kräften der Rechten und ihren publizistischen Organen aus (und nicht etwa von den Fachwissenschaftlern). Sie bestimmten Richtung und Ziel der ideologischen Offensive - und sie suchten sich dafür brauchbaren wissenschaftlichen Beistand. Insbesondere die FAZ, die »Welt«, der Bayernkurier und der Rheinische Merkur/Christ und Welt verliehen den Thesen konservativer Historiker den Charakter einer ideologischen Kampagne. Das Neue gegenüber den früheren Revisionsversuchen bestand darin, daß sie renommierte Fachhistoriker fanden, die geeignet und bereit waren, diesen Beistand zu liefern, daß sie damit aber auch eine beträchtliche 264
Zahl anderer Historiker zur Stellungnahme herausforderten und eine relativ breite Front der Kritik hervorriefen. Die Argumentationsmuster der konservativen Historiker waren keineswegs originell. Sie nahmen Argumente auf, die vom Neofaschismus und der etablierten Rechten seit Jahrzehnten verkündet, von der Fachwissenschaft aber bisher zurückgewiesen worden waren. Das gilt für die These vom Präventivkrieg gegen die Sowjetunion 1941 ebenso wie für den »Abwehrkampf« des »deutschen Ostheeres« gegen die »rote Flut«, für die Methode der Aufrechnung der faschistischen Verbrechen gegen andere in der Geschichte begangene Verbrechen ebenso wie für die Methode, möglichst für alle Verbrechen letzten Endes den Kommunismus verantwortlich zu machen; und dies gilt schließlich in besonderem Maße für den Umgang mit dem Auschwitzproblem. Michael Stürmer, der Erlanger Historiker und Kanzlerberater Kohls, hatte mit seiner Forderung nach einem Geschichtsbild, das wie früher die Religion - Konsens und Identitätsbewußtsein schaffen könne, die ideologische Leitlinie formuliert und die politische Indienstnahme der Geschichte als staatspolitisch notwendig verkündet. Der Kölner Historiker Andreas Hillgruber, bewährter Interviewpartner und Stichwortgeber für Strauß und Kohl, erklärte, daß sich der Historiker mit dem Kampf der deutschen Wehrmacht im Osten 1944/ 45 identifizieren müsse: Entscheidend war der »Abwehrkampf« gegen die Sowjetunion und die Chance, die Großmachtstellung Deutschlands zu erhalten; zurückzutreten hatten nach Hillgruber demgegenüber die Interessen der weiterhin unterdrückten Völker Europas und der Gefolterten und Ermordeten in den Konzentrationslagern. Jeder antifaschistische Widerstand, auch der bürgerlich-militärische des 20. Juli, lag nach der Bewertung Hillgrubers objektiv im Interesse des bolschewistischen Feindes. Die »Moral«, die sich aus dieser Geschichtsinterpretation für die Gegenwart ergab, lautet offensichtlich: Wenn es um die Verteidigung gegen die bolschewistische Bedrohung geht, muß mancherlei in Kauf genommen werden — wenn es sein muß, auch faschistischer Terror. Gillessen von der FAZ und Hoffmann vom Militärgeschichtlichen Eorschungsamt Freiburg versuchten dann glauben zu machen, daß schon 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion ein mindestens verständlicher, weil einer sowjetischen Aggression zuvorkommender Präventivkrieg gewesen sei. Wenig vorher hatte die CSU bereits ein Buch des Sozialphilosophen Ernst Topitsch groß propagiert, das Hitler und den Zweiten Weltkrieg von Anfang an als Instrument Stalins präsentiert hatte. Die »Moral« der Präventivkriegsthese für die Gegenwart lautet 265
offenbar, daß ein Angriffskrieg gegen die Sowjetunion dann seine Berechtigung habe, wenn Anzeichen von Angriffsvorbereitungen in diesem Lande auszumachen sind. Was sich daraus alles machen läßt, ist leicht absehbar. Und der Westberliner Historiker Ernst Nolte schließlich definierte Auschwitz als eine »asiatische Tat«, als eine Reaktion auf den »asiatischen« Bolschewismus, der Hitler in Angst versetzt habe, so daß er sozusagen einen Präventivmassenmord begangen habe. Der Bonner Historiker Klaus Hildebrand, Mitglied im Beirat für Kohls Bonner Museum, und J. C. Fest, Mitherausgeber der FAZ, gaben den Thesen von Hillgruber und Nolte in der FAZ Flankenschutz und fegten kritische Einwände, die sich zu artikulieren begannen, resolut vom Tisch. Mit diesen Thesen war nun in der Tat das bisherige offiziell bekundete Selbstverständnis der Bundesrepublik auf den Müllhaufen geworfen: Nicht mehr aus der Abkehr vom Faschismus, aus der Tradition des bürgerlichen Widerstands und aus der vorbehaltlosen Hinwendung zu Liberalität und Demokratie im Sinne des Westens definierte sich dieses neue Selbstverständnis, sondern aus der weitgehenden Rechtfertigung des Faschismus und seiner Politik. »Der Konsens wurde von rechts aufgekündigt« (Habermas). Politisch ist das neue Geschichtsbild durch die Aussage gekennzeichnet, daß das Deutsche Reich - jedenfalls in der Hauptsache - schon damals das richtige Feindbild besessen, den richtigen Krieg geführt und damit sogar gesamteuropäische Interessen wahrgenommen habe - im Unterschied zu den Westmächten, die damals auf der falschen Seite standen. Und daß angesichts der Gefahr aus dem Osten die Verbrechen des Faschismus teils verständlich, teils in milderem Lichte erscheinen und daß die Bundesrepublik eben deshalb heute keinerlei Hemmungen zu haben brauche, ihr Machtpotential zu entfalten, »den aufrechten Gang« zu praktizieren (F. J. Strauß). Gleichgültig, ob dies eine von Anfang an koordinierte Aktion oder ein zufälliges Zusammentreffen verschiedener Initiativen konservativer Historiker gewesen ist - in der Folge wurde es jedenfalls zu einer koordinierten Aktion durch diejenigen Kräfte, die hier die Regie führten: durch die großbürgerliche Presse, die entschied, wann wo was publiziert wurde, und durch die Stiftung des Unternehmerverbandes, die den Namen Hanns-Martin Schleyers trägt, des früheren SS-Führers und späteren Vorsitzenden des Verbandes. Unter dem »Protektorat« (Martin Broszat) dieser Stiftung, unter dem Titel »Wem gehört die deutsche Geschichte« wurde hier der Versuch unternommen, »ein für 266
allemal die Eigentumsverhältnisse an der deutschen Geschichte festzuschreiben« (Otto Köhler in Konkret). Es paßte also in der Tat alles aufs schönste zusammen. Die Thesen der Historiker kamen auch wissenschaftlich gesehen nicht ganz unvermittelt: Wenn man - erstens - den deutschen Faschismus und seine Politik im wesentlichen aus dem Denken und Wollen Hitlers herleitet, Hitler zum großen Einzeltäter, praktisch zum Alleinverantwortlichen macht, so liegt es nahe, alle anderen Beteiligten mehr oder weniger freizusprechen: also auch die Wehrmacht, also auch die faschistische Partei und ihre Gliederungen, also auch die Waffen-SS. In der Tat ist diese »Führertheorie« ja bis heute einer der herrschenden Erklärungsansätze, und gerade Hillgruber und Hildebrand wurden nicht müde, immer nur von »Hitlers Krieg« und »Hitlers Regime« zu sprechen. Das Neue liegt hier lediglich darin, daß Hillgruber nun aus diesem Ansatz explizit einige Schlußfolgerungen gezogen hat, die bisher von seriösen Historikern nicht gezogen worden waren, aber gut in den politischen Trend passen. In der Tat versichert Hillgruber, mit Hitler wolle er sich nicht identifizieren, wohl aber mit den Hoheitsträgern der Partei und des Staates und mit der Wehrmacht, die den »Abwehrkampf« organisierten. Wenn man - zweitens - jahrzehntelang erklärt, daß Nationalsozialismus und Kommunismus im wesentlichen identisch seien, und diese Totalitarismusthese zur Staatsideologie erhebt wie auch zur herrschenden wissenschaftlichen These, dann verschwinden natürlich alle Fragen nach den konkreten Interessen und Machtgruppen, die den deutschen Faschismus zur Herrschaft gebracht und seine Politik bestimmt haben. Klassenkampf und Rassenkampf können als dasselbe erklärt werden. Und wenn führende Politiker immer aufs neue hinzufügen, daß der eine Totalitarismus der Vergangenheit angehöre, der andere aber lebendig und äußerst gefährlich sei, dann liegt auch für Historiker der Gedanke nicht fern, nach der Beziehung zwischen den beiden Totalitarismen zu fragen und womöglich für den einen, ohnehin vergangenen, aber immer noch belastenden, den anderen, gegenwärtig noch bedrohlichen, verantwortlich zu machen. So kann der erklärte politische Feind unserer Gesellschaft auch noch mit den Verbrechen belastet werden, die der Totalitarismus des eigenen Landes ja nun einmal unzweifelhaft begangen hat. In der Tat betont Nolte, daß es ihm darauf ankomme, die Totalitarismustheorie wieder voll zur Geltung zu bringen und nun aber genauer zu bestimmen, wie die Priorität zwischen den beiten Totalitarismen beschaffen sei.62a 267
Und wenn man schließlich - drittens - an den Grundsätzen des Historismus festhält und die Machtentfaltung des Staates nach außen als dessen Lebensgesetz betrachtet, dann liegt es nahe, den Kampf des faschistischen Reiches und die Verteidigung der Großmachtstellung 1944/45 als legitim zu bewerten und den Interessen der unterdrückten Völker und der in den Konzentrationslagern Eingesperrten überzuordnen - und daraus auch die Rechtfertigung für eine neue Machtpolitik der Bundesrepublik abzuleiten. Solche Schlußfolgerungen, wie sie die rechtskonservativen Historiker aus schon lange vorhandenen, wissenschaftlich einflußreichen Erklärungsansätzen gezogen haben, ergaben sich nicht etwa zwingend. Andere Historiker, die von den gleichen Ansätzen ausgehen, zogen solche Forderungen durchaus nicht. Aber sie konnten eben gezogen werden - und sie wurden gezogen, als die Politik der »Wende« ein verändertes ideologisches Klima schuf. Daß nicht die Bindung an bestimmte methodologische und theoretische Prinzipien letzten Endes bestimmend war, geht auch daraus hervor, daß diese Prinzipien dort preisgegeben wurden, wo dies notwendig erschien, um bestimmte Resultate zu erzielen. So blieb von der »Singularität« Hitlers und »seiner« Gewaltherrschaft, wie sie in Übereinstimmung mit der Lehre des Historismus jahrzehntelang behauptet worden war, bei einigen dieser Historiker nicht mehr viel übrig. Nun, da es nicht mehr um die Herausnahme des Faschismus aus der Kontinuität der deutschen Geschichte ging, sondern um die Einordnung der faschistischen Verbrechen in die Normalität des geschichtlichen Prozesses, griffen die gleichen Historiker zu sehr verallgemeinernden Kategorien: Nun ordnete sich der Faschismus nicht nur ein in die Reihe von Gewaltherrschaften von Stalin bis Pol Pot, sondern die neue Geschichte erschien generell als »das Zeitalter der Tyrannen« (Hildebrand). Im Sinn des neuen Geschichtsbildes können Fragen nach der Besonderheit der faschistischen Verbrechen oder gar nach ihren Urhebern und Nutznießern nur störend sein. Auch Intellektuelle, auch Geistes- und Sozialwissenschaftler werden beeinflußt von den herrschenden ideologischen Strömungen ihrer Zeit. Wie intensiv das geschehen kann, hat das Verhalten der deutschen Intelligenz im Ersten Weltkrieg und dann wieder nach 1929 gezeigt. Und das seit einigen Jahren rasch anwachsende Gerede von »Nation« und »nationaler Identität« zeigt es erneut. Marcel Reich-Reinicki hat solche Veränderungen am Beispiel des Schriftstellers Martin Walser mit Erstaunen festgestellt: Martin Walser »leidet jetzt - ähnlich wie Grass am Zustand der Nation und erklärt, ohne mit der Wimper zu zucken: 268
»Ich kann mich mit der Teilung Deutschlands nicht abfinden.« Wirklich? Rund vierzig Jahre lang waren ihm die Alemannen und die Schwaben ungleich wichtiger als die ganze deutsche Frage, doch die Trends, die haben es so an sich, daß sie kommen und gehen.« (FAZ 17. Dezember 1986). Die Wendung renommierter Historiker nach rechts bis hin zu Positionen, die bisher für den Neofaschismus kennzeichnend waren, gehört offenbar in den gleichen Zusammenhang. Zugleich haben sicherlich auch individuelle Prägungen und Erfahrungen bei dieser Wendung eine Rolle gespielt. Die Historiker und Sozialwissenschaftler, die an dem Unternehmen mitwirkten, waren zwar auf unterschiedlichen Wegen dahin gelangt. Es fällt aber auf, daß die meisten von ihnen - Nolte, Hillgruber, Lübbe und Topitsch durch die Hochschulreform und die Studentenbewegung der Jahre nach 1968 alarmiert und in Schrecken versetzt worden waren. Lübbe flüchtete aus Nordrhein-Westfalen nach Zürich, Topitsch aus Heidelberg nach Graz, Nolte aus Marburg an das ruhigere Friedrich-Meinecke-Institut nach West-Berlin, und Hillgruber wirft Habermas noch heute vor, er habe damals einen »maßgeblichen Anteil« an der von einigen Professoren »entfesselten Agitation und des psychischen Terrors gegen einzelne nicht-marxistische Kollegen« gehabt.63 Diese Historiker, so darf man wohl schließen, sahen sich als Opfer linker Kräfte. Und in ihren Augen war damit klar erwiesen, daß Demokratisierung die Freiheit der Wissenschaft bedroht und im Totalitarismus endet und daß Marxismus und Stalinismus dem Wesen nach dasselbe sind. Von diesem Erlebnishorizont her erschien ihnen der Faschismus als Abwehrmaßnahme gegen die kommunistische Gefahr besser verständlich und erschienen seine Verbrechen in einem milderen Lichte. In der Tat haben Nolte wie auch Hillgruber ihre Thesen schon seit längerem herausgearbeitet. Jetzt aber gab es für diese Thesen dringende, politisch motivierte Nachfrage. Und jetzt wurden beide groß herausgebracht - Nolte allerdings in etwas bereinigter Form, unter Hintanstellung seiner Thesen, daß die Juden an der Verfolgung zu einem Teil selber schuld seien, weil sie 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hätten. Groß herausgebracht wurde nur die andere These: die von Auschwitz als einer »asiatischen Tat«. Gebraucht wurde eben nicht die Stoßrichtung gegen die Juden, sondern die gegen den Bolschewismus. (Allerdings ist auch die andere These den Kritikern nicht verborgen geblieben.) Auf der Seite der Kritiker war es die politische (und moralische) Seite, die den Gegensatz zu den konservativen Historikern bestimmte. Dem Anschein nach ging es zwar über weite Strecken um eine rein 269
methodologische Auseinandersetzung: ob es nämlich so etwas wie Singularität geschichtlicher Ereignisse gebe, ob historische Vergleiche zulässig seien und was das für die Frage der faschistischen Verbrechen bedeute. Sicherlich war es zudem sehr bedeutsam, daß auch die nach allen Maßstäben des Historikerhandwerks unseriöse und absolut unhaltbare Argumentationsmethode der Konservativen offengelegt wurde, wie es besonders Eberhard Jäckel durch seine Kritik an Nolte vorführte. Und sicherlich waren es überwiegend Historiker der sozialund strukturgeschichtlichen Richtung, also der linken Minderheit in der Historikerzunft, die sich hier äußerten. Aber zu den schärfsten Kritikern gehörte eben auch der Stuttgarter Historiker Jäckel, der methodologisch auf der »anderen Seite« steht: Für ihn ist das Denken und Wollen Hitlers die wichtigste Antriebskraft für die Politik des deutschen Faschismus. Und andererseits hat sich weder der Bonner Politologe und Zeithistoriker K. D. Bracher noch der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler in die Debatte auf der Seite der Kritiker eingeschaltet, obgleich beide von ihrem Arbeitsbereich her eigentlich gefordert wären und in methodologischer Hinsicht eine sozialwissenschaftlich beeinflußte Auffassung von Geschichte vertreten.63* Und der aus der Fritz-Fischer-Schule stammende Bremer Zeithistoriker Immanuel Geiß, der einst ein besonders militanter Verfechter der Schuld des Dritten Reiches am Zweiten Weltkrieg und zudem ein Vertreter einer sozialhistorisch bestimmten Geschichtswissenschaft gewesen ist, signalisierte sogar Sympathie für die Thesen der Rechten.64 Geeint waren aber alle Kritiker durch die Auffassung, daß die konservative Revision des Geschichtsbildes geeignet sei, gefährliche rechtsgerichtete Traditionen der deutschen Vergangenheit wieder zu beleben und sowohl die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik im Innern wie die Entwicklung friedlicher Beziehungen nach außen zu bedrohen. In dieser Kritik trafen sich die der Sozialdemokratie verbundenen Historiker und Sozialwissenschaftler sowohl mit liberalen Publizisten (wie Rudolf Augstein) wie auch mit marxistischen Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik und aus der DDR (wie Ulrike Hörster-Philipps, Georg Fülberth und Kurt Pätzold) und kritischen jüdischen Wissenschaftlern (wie Walter Grab, Michael Brumlik und Dan Diner). 65 Auch an diesem Frontverlauf wird also deutlich, worum es eigentlich ging und geht: Es handelt sich um eine Kontroverse, die mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft ausgetragen wird, die in ihrer Substanz aber politischen Charakter hat. Es geht um den künftigen politischen Weg der Bundesrepublik, um ihre innere Verfassung und ihre außenpolitische Richtung. In der Tat ist diese Debatte ja auch ein270
gebettet in die übergreifende politische Auseinandersetzung über diese Fragen. Weithin waren die Konfliktpunkte und Positionen auch vorformuliert durch politische Kräfte, und die publizistischen Instrumente der Auseinandersetzung lagen in deren Hand. Daß der politische Charakter dieser Debatte von einigen konservativen Historikern vehement bestritten, von Michael Stürmer aber offen eingestanden wird, mag an dem unterschiedlichen Selbstverständnis dieser Wissenschaftler liegen, die allemal ausgeprägte Individualitäten sind. Den Tatbestand als solchen kann das Leugnen (durch Hillgruber, Nolte u. a.) natürlich nicht ändern.
3)
Die Maßstäbe der Kritik
An dieser Stelle ist nun genauer zu fragen nach den Grundlagen und Maßstäben der Kritik. In mancher Hinsicht nämlich erscheint diese Kritik nicht zureichend fundiert und in mancher Hinsicht auch politisch problematisch. Die Kritiker haben mit gutem Grund darauf bestanden, daß die faschistischen Verbrechen singulären Charakter besitzen. Sie wenden sich damit gegen den Versuch der rechten Historiker (und Politiker), diese Verbrechen in die Normalität der Ereignisse im »Zeitalter der Tyrannen« (Hildebrand) oder überhaupt in die Normalität des Geschichtsablaufs seit Nebukadnezar (Kaltenbrunner) einzuordnen und den Schluß nahezulegen, daß man nun zur Tagesordnung übergehen, sich endlich der Zukunft zuwenden könne. Diese Historiker haben auf die These von der Singularität geantwortet, daß es in der Geschichtswissenschaft selbstverständlich erlaubt sei, Vergleiche anzustellen und auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen. Hier hat sich eine merkwürdige Verkehrung der Fronten vollzogen. Denn gerade die These des Historismus von der Singularität aller geschichtlichen Phänomene stellte jahrzehntelang die Rechtfertigung dafür dar, den Faschismus aus der Kontinuität der deutschen Geschichte herauszunehmen und überhaupt jede sozialwissenschaftliche Begriffsbildung zu verhindern. So gilt es heute noch für jeden Historiker, der in seiner Zunft Anerkennung finden will, als verbindlich, »Nationalsozialismus« oder noch besser »Hitlerismus« zu sagen - und nicht etwa »Faschismus«. (Die andere, von Nolte entwicklte Variante der Apologie, den Faschismusbegriff aufzunehmen, ihn aber rein geistesgeschichtlich als ideelles Produkt seiner Führer zu fassen und mit dem Tode der maßgeblichen Führer die »Epoche des Faschismus« für beendet zu erklären, hatte sich nicht durchsetzen können.) 271
Der Faschismusbegriff aber erfaßt gerade dasjenige, was den verschiedenen Bewegungen und Systemen in verschiedenen Ländern an Wesentlichem gemeinsam ist. Er leugnet damit nicht, daß es nationale Besonderheiten gibt und daß diese auch sehr extreme Ausmaße annehmen können. Aber er öffnet den Blick für Fragen der sozialökonomischen Strukturen und Interessen, für den Zusammenhang zwischen Eigentumsverfassung und politischer Herrschaftsform, die der These des Historismus von der Singularität verschlossen bleiben. 66 Es ist deshalb wichtig, das berechtigte Beharren auf der Singularität der Ausmaße und Methoden der Verbrechen des deutschen Faschismus zu verabsolutieren. Nur von einem sozialwissenschaftlichen Faschismusbegriff aus kann übrigens auch die Frage angegangen werden, welche Bedingungen für faschistische Entwicklungen auch nach dem Untergang des faschistischen Regimes 1945 noch existieren oder entstehen können. Ein zweiter Punkt betrifft die Frage der Neuorientierung unseres Landes nach 1945. Ein Hauptvorwurf der liberalen und sozialliberalen Kritiker (Habermas, Kocka, Sontheimer, Winkler u. a.) lautet, daß durch die konservativen Historiker das gefährdet wurde, was die eigentliche geschichtliche Leistung der Bundesrepublik und ihren besonderen Wert ausmache: die vorbehaltlose Öffnung zum Westen hin. Nach Habermas wurde die Bundesrepublik errichtet »im Geiste des okzidentalen Verständnisses von Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung« (Zeit v. 7. November 1986). Und bei Kurt Sontheimer heißt es, die Revision der konservativen Historiker bedeute »eine Abkehr von dem politischen Konsensus der Ära des Wiederaufbaus der deutschen Demokratie nach 1945. Damals war man sich einig, die Prinzipien und Grundlagen für die neue Demokratie weniger in der deutschen Vergangenheit als vermittels der Übernahme der westlich-liberalen Demokratietradition zu finden, um sie dann in diesem Geiste fortzuentwicklen«. »Jeder Versuch einer politischen Sinnstiftung durch unsere vordemokratische nationale Geschichte« kündige den »Konsensus der Nachkriegsära« auf. 67 Nun war aber die »Öffnung zum Westen« nach 1945 auch verknüpft mit der Restauration des Kapitalismus, mit der Wiederbewaffnung und mit der Eingliederung in das von den USA geführte Militärbündnis. Eben auf dieser Basis argumentiert die Regierung Kohl, wenn sie sich auf die Wertegemeinschaft mit den USA und mit der NATO beruft. Hier aber will Habermas unterschieden wissen zwischen der Öffnung der Bundesrepublik »gegenüber der politischen Kultur des Westens«, die er als große Leistung deklariert, und der »NATO-Philosophie« 272
sowie den »kalifornischen Weltbildern«, von denen er sich distanziert. Darauf antwortet Andreas Hillgruber mit der Frage, ob sich denn Kultur und Politik in dieser Weise trennen lassen und ob nicht »die lautstark verfochtene NATO-Aversion der >Linken< genau den politischen und kulturellen Prozeß einleitet oder beschleunigt, den Habermas verhindern zu wollen vorgibt«. 671 Den liberalen Historikern und Politologen ist in der Tat ein gewisser Idealismus eigen, wenn von der Entstehung der Bundesrepublik und ihrer »Öffnung zum Westen« die Rede ist: ein Idealismus, der die Struktur und Politik der Westmächte betrifft sowie die Bedingungen, unter denen die Gründung der Bundesrepublik erfolgte, und die Ziele, die damit verknüpft waren. Ihnen gegenüber kann sich dann Hillgruber wirklich als »Realist« aufspielen, indem er auf die (imperialistischen) Kriegsziele Großbritanniens oder auf die militärische Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen hinweist. Im Lichte dieses Idealismus wird auch der »Konsens« etwas überschätzt, der nach der Auffassung der liberalen Wissenschaftler seit der Entstehung der Bundesrepublik in der Beurteilung des Faschismus geherrscht habe und nun »von rechts aufgekündigt« werde. Sie orientieren sich dabei am offiziell proklamierten Selbstverständnis der Bundesrepublik; zu bedenken wäre allerdings, daß, wie im 1. Kapitel dargestellt, die reale Politik dieses Staates seit 1949 doch erheblich anders beschaffen war. Die liberalen Wissenschaftler gelangen zu diesem Ergebnis deshalb, weil sie methodologisch hauptsächlich von Ideen und weniger von realen Strukturen und Interessen ausgehen - wie auch bei der Beurteilung »des Westens«. Mit dieser idealistischen »Westorientierung« mag es auch zusammenhängen, daß sich die Kritik der liberalen Historiker zwar sehr scharf gegen Nolte richtet, Hillgruber aber ziemlich geschont wird. Nolte nämlich hat jenes Tabu verletzt, das für die Bundesrepublik der offizielle Ausweis der Abkehr vom Faschismus gewesen ist: Er hat Auschwitz verharmlost und auf jegliches Schuldbekenntnis im Zusammenhang mit dem Judenmord verzichtet. Damit hat er der Bundesrepublik nach Westen hin ein Stück ihrer Glaubwürdigkeit genommen. Hillgruber hingegen richtet seine Argumentation in der Hauptsache gegen die Sowjetunion, erklärt den Krieg des Deutschen Reiches 1944/ 45 als legitim und notwendig und fügt sich damit im Prinzip eben doch gedanklich ein ins westliche Bündnis der Nachkriegszeit. Hillgrubers Thesen werden - wenn man von marxistischen Historikern absieht nur von Habermas scharf kritisiert, während sich die liberalen Historiker hier sehr zurückhalten. Ebenso bleiben die Thesen von Gillessen 273
und Hoffmann über die 1941 angeblich bevorstehende sowjetische Aggression weitgehend außerhalb der Kritik der liberalen Historiker, soweit sie Professoren sind (nur Jäckel wendet sich scharf und eindeutig gegen die »Präventivkriegsthese«). Man wird also in der Tat genauer angeben müssen, was mit der »Bindung an den Westen« (Habermas) gemeint ist - und was damit nicht gemeint ist. Man wird vor allem genauer bestimmen müssen, in welcher Beziehung Ökonomie und Politik, Kultur und Militär »des Westens« zueinander stehen. Der Hinweis auf die »westlichen Werte«, deren »Ausverkauf« die konservativen Historiker angeblich betreiben (Winkler), reicht offensichtlich nicht aus. Habermas und andere liberale Kritiker meinen offenbar die liberalen, demokratischen, humanistischen und bürgerlich-revolutionären Traditionen der westlichen Länder, die dort in der Tat bedeutend stärker ausgeprägt sind als im Deutschen Reich. Und sie meinen nicht die imperialistische Politik, die grausamen Kolonialkriege, nicht Hiroshima und Vietnam, nicht Chile und die Türkei und nicht die gegenwärtigen Kriegsplanungen der USA. Wie aber verhalten sich diese zur Gesellschafts- und Eigentumsordnung »des Westens« ? Sind sie nur zufällige Entgleisungen oder gehen sie hervor aus dieser Eigentumsordnung, aus der auch der deutsche Imperialismus mitsamt den beiden Weltkriegen hervorging? Und was schließlich »die Kultur« der kapitalistischen Länder betrifft: Ist nicht auch sie zutiefst durchdrungen und deformiert durch imperialistische Interessen? Diese Fragen legen die Schlußfolgerung nahe, daß die demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Revolution heute nur bewahrt und weiterentwickelt werden können, wenn die kapitalistische Eigentumsverfassung verändert, wenn die Dispositionsgewalt des Kapitals eingeschränkt und schließlich durch die Selbstbestimmung der Produzenten ersetzt, wenn die Volkssouveränität wirklich umfassend realisiert wird. Von hier aus relativiert sich dann die Formel von der vorbehaltlosen Öffnung zum Westen. Unzweifelhaft richtig aber bleibt die in dieser Formel liegende Abgrenzung gegenüber allen Ideologien vom »deutschen Sonderweg«, von der Vorstellung, die preußisch-deutsche Tradition mit ihrem auf Staatsautorität, Militärmacht, Gehorsam und Leistungsbereitschaft fürs Ganze basierenden Tugendkodex stelle etwas besonders Wertvolles, Zukunftsweisendes und womöglich auch für andere Nationen Vorbildliches (»Modell Deutschland«) dar. In der Tat sind bei konservativen Historikern und Politikern wieder Ideen im Schwange, daß für unser Land (z. B. wegen der »europäischen Mittellage«) Führungsaufgaben resultieren, die nur wahrgenommen werden 274
können, wenn die »bewährten« deutschen Traditionen wiederbelebt werden. Ein weiterer problematischer Punkt in der Argumentation der liberalen Kritiker betrifft die Frage der Verantwortlichkeit für die Verbrechen des Faschismus. Die Vorstellung, daß »wir Deutsche« dafür verantwortlich sind und deshalb auch heute noch allen Grund zur Scham haben, bildet ein Leitmotiv dieser Kritik. Dies ist eine moralisch absolut respektable Haltung; und sofern sie sich auf die Frage der Gesamthaftung der Nation und ihres Staates als Völkerrechtssubjekt bezieht, ist sie auch ohne Zweifel richtig. Dennoch habe ich Zweifel, ob sie der geschichtlichen Realität angemessen ist und ob sie ausreicht, um der ideologischen Offensive der Rechten wirksam entgegenzutreten. Erstens wäre festzustellen, daß die Redeweise »wir Deutsche« logisch auf der gleichen Ebene liegt wie die von »den Deutschen«, »den Franzosen« usw. Sie unterstellt eine Gemeinsamkeit der Interessenlage und eine Einheitlichkeit des Denkens und Handelns, die es real nicht gab, auch nicht im Faschismus. Sie gerät also, ob explizit oder nicht, in die Nähe der konservativen Ideologie von der »Volksgemeinschaft« und im konkreten Fall der These von der Kollektivschuld. Nun ist in der Tat die große Mehrheit der Deutschen durch Handeln oder durch Dulden daran beteiligt gewesen, daß die faschistischen Verbrechen vollzogen werden konnten. Ein Begreifen dieser Vorgänge wird jedoch eher blockiert denn gefördert, wenn nicht unterschieden wird zwischen den Faschisten und den Antifaschisten, wenn verdrängt wird, daß Hunderttausende politisch in Opposition standen und Verfolgungen auf sich nahmen und daß Tausende ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus opferten. In der Tat war die Unterwerfung des eigenen Volkes und die terroristische Zerschlagung aller oppositionellen Kräfte die Voraussetzung dafür, daß die faschistische Ideologie ihre Massenwirksamkeit voll entfalten und daß dann die Unterwerfung der anderen europäischen Völker in Angriff genommen werden konnte. Aber selbst auf der Seite derer, die nicht in Opposition standen, sind Differenzierungen notwendig zwischen den Kräften, die die faschistische Politik konzipiert und organisiert und für ihre Durchsetzung den Terrorapparat aufgebaut und eingesetzt haben - und den Vielen, die mitgemacht oder dies alles jedenfalls hingenommen haben - angestachelt durch eine jahrzehntelange ideologische Hetze oder in Angst versetzt durch den Terrorapparat; notwendig ist also die Unterscheidung zwischen »Hauptverantwortlichen« und »Mitläufern«, wie es nach 1945 anschaulich hieß. Wer aber wollte behaupten, daß die im Untergrund kämpfenden, 275
die in Zuchthäusern und Konzentrationslagern eingesperrten Antifaschisten sich schuldig gemacht haben? Und wer wollte ihnen ansinnen, sie hätten sich zu schämen? Sicherlich: Sie haben politische Fehler gemacht, sie haben nicht die richtigen Wege gefunden, um den Faschismus aufzuhalten, und in diesem Sinne mag man auch von einer Mitschuld reden (wie es der Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 auch getan hat). Diese Mitschuld der Opfer aber liegt offensichtlich auf einer anderen Ebene als die Schuld derer, die sich an der Konzipierung und Durchsetzung der faschistischen Politik aktiv beteiligt haben. Notwendig ist also die präzise Benennung der für den Faschismus verantwortlichen Kräfte und Interessen. Auch die These von der Kollektivschuld, die zunächst (z. B. in der Publizistik der USA) auch das Unvermögen ausdrückte, den sozialen Charakter des Faschismus wirklich zu begreifen, wurde dann, funktional gesehen, zu einer der vielen Varianten, mit denen die tatsächliche Machtstruktur des Faschismus verschleiert wurde. Sie taucht die gesamte faschistische Periode in eine Nacht, in der alle Katzen grau und Faschisten und Antifaschisten, Hauptverantwortliche, Ausführende und Verführte nicht mehr unterscheidbar sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich kaum von der Führertheorie (obgleich ihr meist ganz andere moralische Motive zugrundeliegen): ob man behauptet, alle seien gleichermaßen schuldig geworden oder ob man behauptet, alle seien gleichermaßen unschuldig (und nur der Führer sei schuldig), macht hier keinen großen Unterschied. Ich wage sogar zu behaupten, daß der Ruf nach einem »Schlußstrich« unter die Vergangenheit um so leichter durchsetzbar ist, je besser es der Rechten gelingt, in der Bevölkerung die Meinung zu verbreiten, es gehe um einen Schuldvorwurf gegen »die Deutschen«. So leistet die These von der Kollektivschuld womöglich der Rechten noch Vorschub - auch wenn die Vertreter dieser These von ehrenwerten Motiven bewegt sind. Zweitens wäre nach der Generation derer zu fragen, die nach 1945 aufgewachsen oder erst in den 50er und 60er Jahren geboren worden sind - und das ist mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung. Die Spuren der faschistischen Vergangenheit begegnen ihnen auf Schritt und Tritt: Es existiert keine Stadt in unserem Lande, in der nicht ein Konzentrationsaußenlager oder ein Lager verschleppter Zwangsarbeiter stand, kein Dorf, in dem nicht Menschen, die jeder kannte, umgebracht oder abtransportiert wurden. Die lokalgeschichtliche Forschung - oft durch Laien oder durch Schulklassen - hat hier vieles wieder aufgedeckt, was die Generation der damals Lebenden schon verdrängt hatte und vergessen glaubte. Und es waren und sind die eige276
nen Großväter und Großmütter, die das miterlebt haben, die der heutige Schüler als »Zeitzeugen« befragen kann. Es handelt sich also keineswegs um Verbrechen, die von uns ebenso weit entfernt sind wie die des Nebukadnezar oder des Tschingis Khan, wie es uns die konservativen Ideologen weismachen wollen. Auch das Ausmaß und die Methoden dieser Verbrechen haben durchaus singulären Charakter und zwingen uns schon deswegen, der Frage besonders intensiv nachzugehen, wie dergleichen geschehen konnte. Auch das haben die liberalen Wissenschaftler in ihrer Kritik herausgearbeitet. Der besondere Charakter der faschistischen Verbrechen verbietet also eine »Historisierung« im Sinne einer Einordnung in den »normalen« Geschichtsverlauf der Neuzeit. Daß diese »Historisierung«, wie sie von den konservativen Historikern jetzt gefordert wird, in den Lehrplänen der meisten Bundesländer (keineswegs nur in denen von CDU- und CSU-regierten) bereits verwirklicht ist, daß hier dem Faschismus im normalen Durchgang von der römischen Antike bis zur Gegenwart keine besondere Aufmerksamkeit mehr gewidmet ist, verweist auf den umfassenden Charakter der »geistig-moralischen Wende«. Die besondere Betroffenheit all derer, die in diesem Lande leben und mit dieser Vergangenheit konfrontiert sind, auch der jungen Generation, steht also außer Zweifel. Sie darf jedoch nicht so aufgefaßt werden, als seien diese jungen Leute in irgendeiner Weise persönlich schuldig, als enthalte die Erinnerung an die faschistischen Verbrechen einen Schuldvorwurf gegen sie. In der Tat gibt es Darstellungen besonders in den Massenmedien, die sich mangels analytischer Kraft einer pauschalmoralisierenden Tonlage zuwenden und den Vorwurf durchschimmern lassen, »wir Deutsche« seien allesamt gleichermaßen schuldig. Ist es nicht verständlich, daß die junge Generation solche Vorwürfe zurückweist? An genau dieser Stelle setzt die Ideologie der Rechten an. Im Wort des Bundeskanzlers Kohl von der »Gnade der späten Geburt« ist bereits die von Dregger und Strauß formulierte Konsequenz angelegt, die heute Lebenden hätten ein Recht darauf, von dieser Vergangenheit nichts mehr zu hören. Und im nächsten Schritt, der nicht nur vom Neofaschismus, sondern neuerdings auch von konservativen Ideologen vollzogen wird, heißt es dann: Die Beschäftigung mit der faschistischen Vergangenheit diene überhaupt nur dazu, »die Deutschen« in politischer und geistiger Knechtschaft zu halten, sie zukunftsunfähig zu machen. Mit Schuldvorwürfen und Aufforderungen zu Schamgefühlen ist 277
also sehr vorsichtig umzugehen. Daraus folgt natürlich keineswegs, daß die faschistischen Verbrechen nun schleunigst zu vergessen seien, im Gegenteil. Wohl aber folgt daraus, daß wir ihre Aufarbeitung fassen als ein Stück unserer eigenen Zukunftsbewältigung, als Erfahrungen, die wir dringend brauchen, damit wir die Zukunft auf andere, bessere, antifaschistische Weise gestalten können. Das Konzept der Rechten ist klar: Sie verlangt, »Schlußstrich unter die Vergangenheit, Hinwendung zur Zukunft«. Wir sollen vergessen, was die damals herrschenden Kräfte den Deutschen und den Nachbarvölkern angetan haben, damit eben diese Kräfte heute erneut freie Hand haben, damit wir begriffslos und wehrlos werden. Wir aber brauchen die Wahrheit über den Faschismus, wir brauchen die Lehren der Vergangenheit, damit wir die Zukunft gewinnen können. Nicht ein Schuldvorwurf an »die Deutschen« resultiert aus der Beschäftigung mit dem Faschismus, sondern eine große Chance zu begreifen, was damals den Menschen angetan worden ist und wer es ihnen angetan hat, warum unsere Städte in Trümmer gelegt wurden, warum unsere Väter und Großväter in Millionen auf den Schlachtfeldern gestorben sind und warum wir manchmal immer noch Zurückweisung erfahren, wenn wir nach Norwegen oder nach Jugoslawien kommen. Eine Chance ist dies auch für die Heimatvertriebenen zu begreifen, wem sie es zu verdanken haben, daß sie aus Schlesien und aus dem Sudetenland vertrieben wurden, und in welcher Tradition es steht, wenn die heutige Regierung wieder einmal zur Gewinnung östlicher Räume aufruft mit der Parole »Schlesien bleibt unsere Zukunft«. Diese Art, Vergangenheit zu bewältigen, ermöglicht also die Überwindung pauschaler Kollektivschuldthesen, gegen die die junge Generation sich mit Recht zur Wehr setzt; und sie ermöglicht auch diesen Jugendlichen, die Beschäftigung mit der faschistischen Vergangenheit als ihre eigene Sache zu begreifen. Erst von hier aus kann der Rechten, die ihnen einreden will, Beschäftigung mit den faschistischen Verbrechen richte sich immer nur gegen »die Deutschen«, wirklich der Wind aus den Segeln genommen werden. Eine solche Art der Geschichtsschreibung schafft aber auch die Möglichkeit, jenes »andere Deutschland« sichtbar zu machen und unseren Kampf in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. So wie es zur Zeit der Französischen Revolution auch in Deutschland jakobinische Kräfte gab, die für Freiheit und Demokratie kämpften, wie sich diese Traditionslinie dann ausgeprägt hat in den revolutionären Kämpfen von 1848/49, in den Kämpfen gegen den kaiserlichen Staat und seinen Krieg und dann in der Revolution 1918/19 und in den 278
Kämpfen gegen die Rechte in der Weimarer Republik, so gab es dieses »andere Deutschland« auch in der Zeit der faschistischen Herrschaft. Sicherlich: diese Kräfte waren immer wieder besiegt worden - 1792 ebenso wie 1849, 1919 ebenso wie 1933; und auch ihr mutiger und opferreicher Kampf gegen den Faschismus konnte dessen Herrschaft nicht stürzen und dessen Krieg nicht verhindern. Aber waren diese Kämpfe deswegen umsonst? Haben nicht auch die deutschen Antifaschisten mitgewirkt an dem großem Kampf der Völker zur Befreiung von der faschistischen Tyrannei? Gewiß, sie waren nicht stark genug, um die Befreiung aus eigener Kraft zu schaffen; die Entscheidung brachten die Armeen der Alliierten, vor allem die der Sowjetunion. Aber hat nicht jede Granate, die von deutschen Arbeitern unwirksam gemacht worden war, hat nicht jede Handlung, die die Entfaltung der faschistischen Macht an irgendeinem Punkt beeinträchtigte, beigetragen zu dem großen Befreiungskampf? Die Rechte weiß, warum sie seit Jahrzehnten alles unternimmt, um die Erinnerung an diesen Widerstand der arbeitenden Bevölkerung auszulöschen, ihn abzuwerten und zu verleumden. Und wir sollten wissen, weshalb wir die Erinnerung an diesen Widerstand so dringend brauchen. Aus diesen Überlegungen folgt zweierlei: Es ist - erstens - historisch nicht richtig und politisch eher kontraproduktiv, die Befreiung vom Faschismus 1945 ausschließlich den Alliierten zuzuschreiben und ihren gleichsam eine einförmige Masse von Mitläufern und Mittätern auf der deutschen Seite gegenüberzustellen. Ganz »ohne eigenes Zutun« (Habermas) vollzog sich die Befreiung nicht. Es gibt eine demokratische und antifaschistische Tradition in Deutschland, die nicht nur aus moralischen Gründen der Erinnerung wert ist. Die Kämpfe und Leiden dieser Menschen können Erfahrungen vermitteln, die wir brauchen für unsere eigenen Kämpfe. Und sie können Ermutigung und Vorbild für viele sein, die nach Orientierung suchen. Rationale und emotionale Aneignung dieser Tradition sind gar nicht voneinander zu trennen. Das hat nun - zweitens - auch Folgen für die Beurteilung der neuen Perspektiven, die mit der Befreiung 1945 eröffnet waren. In der Kritik der liberalen Wissenschaftler gegenüber den Konservativen stellt es sich so dar, daß eine hellere Zukunft nur durch die vorbehaltlose Öffnung zur westlichen Kultur gewährleistet werden konnte und kann, daß also aus den nationalgeschichtlichen Traditionen kaum etwas Zukunftsweisendes zu gewinnen ist und daß deshalb die einzige mögliche Form des Patriotismus der »Verfassungspatriotismus« ist, die Bindung an »universalistische Verfassungsprinzipien« (Habermas). Wiederum ist unzweifelhaft richtig, daß die Sicherung eines demo279
kratischen Entwicklungsweges verlangt, daß die schon erwähnte Ideologie von einer besonderen deutschen Bestimmung und einem besonderen deutschen Wesen, das sich gerade durch die Abgrenzung von den liberalen und demokratischen Traditionen des Westens definiert, vollständig preisgegeben werden muß. Und richtig an der Kritik der liberalen Wissenschaftler ist auch, daß gegenüber allen Formen von »Patriotismus« gerade in unserem Lande äußerste Vorsicht am Platze ist; und daß die Identifikatikon der Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen sich nie auf »den Staat« beziehen kann, der allemal auch und wesentlich Herrschafts- und Gewaltapparat ist, sondern nur auf die demokratische Verfassung. Dennoch kann diese Interpretation nicht ganz befriedigen. Sie tendiert dazu, die deutschen nationalgeschichtlichen Traditionen vollständig zu verwerfen und die »westlichen« Traditionen ebenso vollständig und unkritisch zu akzeptieren. Was die erforderlichen Differenzierungen in Hinsicht auf die »westlichen« Traditionen betrifft, so habe ich oben schon das Wichtigste ausgeführt. Aber auch bei den deutschen Traditionen sind Differenzierungen erforderlich. Habermas deutet das auch an: »Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen« (Zeit v. 7. November 1986). Daraus folgt aber, daß wir unser Identitätsbewußtsein nicht allein aus der kulturellen Tradition des Westens entwickeln können. Deren Aneignung ist überhaupt nur möglich, weil sie einer lebendigen, wenn auch immer wieder unterdrückten demokratischen und antifaschistischen Tradition der eigenen Nationalgeschichte entspricht, weil sie für uns durchaus nichts wesensmäßig Fremdes, nur von außen Kommendes ist. Diese Tradition muß also auch konkret sichtbar gemacht werden. (Dabei wird es ohne Zweifel auch begründete Meinungsverschiedenheiten geben bei der Bewertung einzelner Ereignisse und Persönlichkeiten; die Diskussion in der Geschichtswissenschaft der DDR über Luther oder über Friedrich II. liefert dafür lehrreiches Anschauungsmaterial.) Dies berührt nun auch die Frage des »Verfassungspatriotismus«. In der Tat kann nur die Identifikation der Bürger mit der demokratischen Verfassung als der Norm, nach der das politische Leben gestaltet werden soll, sicherstellen, daß die immer drohende Verselbständigung der staatlichen und bürokratischen Machtapparate und deren Instrumentalisierung für die Interessen der herrschenden Klassen auf Kosten der Bürgerrechte in Grenzen gehalten werden können. Aber reicht sie aus, um den Kampf für Demokratie und Frieden mit aller Kraft zu führen? 280
Ist es ein Zufall, daß die großen geschichtlichen Kämpfe auch ihre eigenen Symbole, ihre eigenen Lieder hervorgebracht haben, in denen die Bedürfnisse, Gefühle und Ziele der Handelnden ihren konzentrierten Ausdruck fanden? Diese Kämpfe verlangten immer den ganzen Menschen, seinen Verstand und seine Gefühle. Das lehrt die Geschichte der Arbeiterbewegung ebenso wie die Geschichte des antifaschistischen Befreiungskampfes der europäischen Völker oder der der Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt. Und diese Lehre wird nicht dadurch falsch, daß es der Faschismus verstanden hat, große Massen so zu verdummen, daß die auf dieser Basis erzeugte Emotionalisierung gegen die Lebensinteressen dieser Massen selbst gekehrt werden konnte. Wenn es uns also gelingt, in unserem Kampf für Demokratie und Frieden auch die Gefühle der Menschen anzusprechen, so gewinnt der »Verfassungspatriotismus« eine stärkere Kraft. Allein aus universalistischen Verfassungsprinzipien aber ist diese nicht zu gewinnen. Die Erinnerung an die besseren Traditionen der eigenen Nationalgeschichte, an die Kämpfe, Opfer und Leiden der Antifaschisten kann Kräfte mobilisieren und kann helfen, das Identitätsbewußtsein der Deutschen in der Bundesrepublik so zu entwickeln, daß es gegenüber den verlockenden Identitätsangeboten der Rechten stärker immunisiert wird. Damit ist nun auch die Frage nach der politischen Funktion von Geschichtswissenschaft aufgeworfen. Von konservativer Seite, insbesondere von der CDU/CSU, wurde die direkte Instrumentalisierung der Geschichte für ihre politischen Zwecke gefordert, und der Historiker Michael Stürmer hat dazu eine (schein-)wissenschaftliche Rechtfertigung geliefert: Geschichte als sinnstiftend und konsensbildend in jenem Sinne, wie dies früher die Religion geleistet habe. Die liberalen Kritiker haben diesen Anspruch entschieden zurückgewiesen. In dieser Debatte ist aber nicht hinreichend deutlich geworden, wie denn tatsächlich die Beziehung zwischen Geschichte und politischer Gegenwart beschaffen ist. Mit einem gewissen Recht sagt der konservative Historiker Thomas Nipperdey (Zeit v. 17. Oktober 1986): »Der Umgang mit Geschichte hat Bedeutung für das Leben, er hat mit unserer Identität zu tun.« Und sein - ebenfalls konservativer - Kollege Hagen Schulze (Zeit v. 26. September 1986) weist darauf hin, daß Geschichte »immer mit Politik zu tun« hat: »Sie hat Politik zum Gegenstand, politische Erkenntnisinteressen wirken auf ihre Fragestellungen, ihre Ergebnisse können politische Konsequenzen haben.« Insbesondere die letzte Aussage, daß Darstellungen über Geschichte auf das 281
Bewußtsein der Adressaten einwirken und also politische Folgen haben, ist unzweifelhaft richtig. (Ich sehe hier davon ab, daß Schulze dies vermengt hat mit der Aussage, »daß an die Geschichtswissenschaft zunehmend Erwartungen politisch-legitimatorischer Art gestellt werden«.) Die Kritik an Historikern wie Stürmer oder Schulze darf sich also nicht prinzipiell gegen deren Aussage richten (die allerdings von Nolte etwa ausdrücklich bestritten wird!), daß Geschichte und Geschichtswissenschaft mit aktueller Politik verbunden sind. Sondern sie muß erstens aufzueigen, worin die politische Funktion besteht und wie die Beziehung zwischen dem Anspruch auf Wahrheit und der politischen Funktion beschaffen ist; und sie muß zweitens offenlegen, daß es sich beim Konzept der Rechten wirklich um eine politische Instrumentalisierung handelt: während z. B. im marxistischen Verständnis Wissenschaft historische Wahrheit zu ermitteln trachtet, um daraus Lehren für die Gegenwart zu gewinnen, fordert die Rechte umgekehrt für die Unterordnung der Geschichtswissenschaft unter die politischen Zwecke: Den Historikern wird vorgegeben, was sie an Nachweisen zu erbringen haben. Mit einem solchen Ansinnen, wie es besonders dreist im Forderungskatalog der CDU-Fraktion zur Gestaltung des Bonner Museums zum Ausdruck kommt, wird nun allerdings die Geschichtswissenschaft in ihren Grundlagen bedroht. 68
4)
Kampf ums
Geschichtsbild und aktuelle Politik
Der Kampf um das Geschichtsbild wird geführt, seit es Klassengesellschaften und also die Notwendigkeit der Absicherung von Herrschaft auch mit den Mitteln der Ideologie gibt. Dieser Kampf erreichte eine neue Stufe, seit der herrschenden Klasse in Gestalt der Arbeiterbewegung eine organisierte Kraft gegenübersteht, die nicht nur sozialökonomisch, sondern auch geistig und moralisch eine Alternative repräsentiert; in der ein eigenes Weltbild sich entwickelte, das ihrem Kampf Ziel und Richtung zu geben vermag. Daß es den herrschenden Klassen gelang, bis 1918 die ideologische Hegemonie auch bei der Interpretation von Geschichte aufrechtzuerhalten und sie nach 1919 allmählich zurückzugewinnen, hat mit dazu beigetragen, daß der Faschismus seine Herrschaft errichten und seine Politik durchsetzen konnte. Dieser Kampf um das Geschichtsbild war natürlich mit dem Jahr 1945 nicht zu Ende. Auch in der Geschichte der Bundesrepublik stellt er ein bedeutsames Moment der übergreifenden Auseinandersetzung 282
über die Interpretation der Welt und des Menschen dar und über den Weg, den unser Land einschlagen soll. Der Kampf um das Geschichtsbild ist also ein politischer Kampf; und er wird geführt, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Es ist besser, wenn wir uns dessen bewußt sind, weil wir nur dann wirksam eingreifen können. Die Einsicht in den politischen Charakter dieses Kampfes bedeutet für uns keinerlei Minderung des Anspruchs auf Wahrheitsfindung - im Gegenteil: Nur wenn wir die geschichtliche Wahrheit, die tatsächlichen Kausalbeziehungen und Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses so genau wie möglich ermitteln, können wir die richtigen Lehren ziehen aus den Erfahrungen der Generationen, die vor uns den Kampf um Frieden und um eine menschenwürdige Gesellschaft geführt haben. Die Geschichtsideologie der Herrschenden ist darauf angewiesen, wesentliche Zusammenhänge der Geschichte zu verdunkeln, um ihre aktuellen Ziele verfolgen zu können. Nirgends wird das so deutlich wie im Fall der faschistischen Vergangenheit. Wir aber brauchen für unseren politischen Kampf die geschichtliche Wahrheit. Der Kampf um das Geschichtsbild in der Bundesrepublik ist, wie im 1. Kapitel dargestellt, sehr wechselhaft verlaufen. Seit der Mitte der 60er Jahre konnten die demokratischen Kräfte wichtige Positionen gewinnen: Sie konnten Fragen in der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit zur Diskussion stellen, die bis dahin weitgehend tabuisiert waren; und sie konnten Geschichtskenntnisse und antifaschistische Orientierungen besonders in der jungen Generation und in der organisierten Arbeiterschaft verankern. Die großen demokratischen Massenbewegungen seit dem Ende der 60er Jahre bis hin zur »Stoppt-Strauß«Bewegung und zur gegenwärtigen Friedensbewegung sind nicht denkbar ohne diesen Terraingewinn für antifaschistische Orientierungen. Mit der Gegenoffensive der konservativen Historiker hat diese Auseinandersetzung eine neue Qualität erreicht. Die Offensive ist eingebettet in die Politik der »Wende«, wie sie vom rechten Flügel der gegenwärtigen Koalition repräsentiert wird. Diese Kräfte, die sich um die »Stahlhelm-Fraktion« gruppieren, bestimmen Ziel und Richtung dieser politischen Offensive; und sie verleihen den Äußerungen der konservativen Historiker auch die publizistische Kraft, um Massenwirksamkeit zu erzielen. Und sicherlich gibt es auch nicht zu unterschätzende Chancen, in unserem Land tiefsitzende, dumpfe Ressentiments durch eine entsprechende Agitation zu mobilisieren. Über die »Tiefenwirkungen der Thesen von Nolte und Fest in der nichtöffentlichen Meinung« (J. Pereis, FR v. 27. Dezember 1986) kann in der Tat Definitives nicht ausgesagt werden. 283
Ob diese Offensive abgewehrt werden kann, entscheidet sich also nicht allein auf dem Feld der wissenschaftlichen Argumentation. Es hängt sehr wesentlich auch davon ab, welche Handlungsfähigkeit die demokratischen Potentiale in der Bundesrepublik (und natürlich auch im internationalen Maßstab) insgesamt erlangen werden: welche Mobilisierungsfähigkeit die Friedensbewegung entwickeln wird; welche Kampfkraft die Gewerkschaften in den sicherlich sehr schweren Auseinandersetzungen der nahen Zukunft entfalten werden; ob das ökologische Bewußtsein sich weiter ausbreiten und auch massenhaft zu gesellschaftskritischen Einsichten sich entwickeln kann usw. Der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kommt jedoch keineswegs nur eine sekundäre Bedeutung zu. Für alle diejenigen, die an geschichtlichen Fragen überhaupt interessiert sind - und das sind sehr viele, nicht nur im Bereich der Intelligenz -, ist die Frage sehr maßgeblich, wer denn recht hat in diesem »Historikerstreit«. Hier ist nun der Mißerfolg der konservativen Historiker offensichtlich. Die Kritiker konnten ihnen erstens schlüssig nachweisen, daß sie die einfachsten Grundsätze des Historikerhandwerks mißachtet hatten, um zu ihren Resultaten zu gelangen; daß zweitens keine Rede davon sein kann, daß hier neue wissenschaftliche Resultate vorgelegt wurden, sondern daß es sich lediglich um neue Bewertungen handelt, die zum Teil auf dem Weg abstruser Spekulation gewonnen worden waren; und daß diese neuen Bewertungen in Wirklichkeit ganz alte sind, nämlich diejenigen, die der Neofaschismus seit Jahrzehnten verkündet und die die »Stahlhelm-Fraktion« nunmehr benötigt, um ihr politisches Programm ideologisch absichern zu können. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Argumentation ist die Niederlage der Rechten also eklatant. Das wird sie natürlich nicht davon abhalten, ihren Kurs weiterzuverfolgen. Wissenschaftliche Unhaltbarkeit war für die deutsche Historikerzunft noch nie ein Grund, ihre Positionen zu revidieren. Die Erklärungen deutscher Historiker während der beiden Weltkriege und ihre oft unsäglich niveaulosen Äußerungen, wenn es um die Auseinandersetzung mit marxistischer Wissenschaft geht, sind dafür anschauliche Belege. Und die für die gesamte Offensive bestimmenden Kräfte - vom rechten Flügel der Unionsparteien bis zur Stiftung des Unternehmerverbandes - werden ihre Ziele nicht aufgeben und ohne Zweifel auch in Zukunft Historiker finden, die sich in diese Politik integrieren lassen. Bedeutsam ist die Niederlage der konservativen Historiker dennoch. Nicht nur die dezidiert linke, sondern auch die liberale und vielleicht sogar ein Teil der konservativen Öffentlichkeit wird fortan sehr viel 284
skeptischer sein, als sie es bisher war, wenn ihr »anerkannte Historiker« mit ihren »wissenschaftlichen« Urteilen über den deutschen Faschismus präsentiert werden. Und für die demokratischen und liberalen Historiker bleibt natürlich die Aufgabe, die geschichtlichen Prozesse noch genauer als bisher zu erforschen und noch überzeugender als bisher ihre Resultate den Vielen zu vermitteln, die sie brauchen, um Gegenwart und Zukunft in ihrem Sinne gestalten zu können. Die »Historiker-Debatte« ist Bestandteil einer umfassenden Auseinandersetzung über den weiteren politischen Weg unseres Landes. Die Bundesrepublik ist seit dem Beginn der 70er Jahre aufgestiegen zur stärksten ökonomischen Macht in Westeuropa und ebenso zur stärksten militärischen Macht - mit Ausnahme der atomaren Komponente. Die Rechte drängt nun mit aller Macht danach, dieses Potential entschlossen zu nutzen zum Ausbau ihrer Position als Führungsmacht in Westeuropa und zur direkten Konfrontation mit den sozialistischen Ländern. Die Disziplinierung demokratischer Potentiale im eigenen Land und die ideologische Mobilisierung der Massen nach rechts hin bilden dafür notwendige Voraussetzungen. Aus alledem wird kein Geheimnis gemacht. Formuliert der Vertreter der Bundesregierung noch etwas verschämt, »Europa« habe große Erwartungen, daß die Bundesrepublik eine starke Führungsrolle in der internationalen Politik übernehme, so redet die FAZ in ihrem Kommentar Klartext: Sie spricht vom »westdeutschen Willen, eine Führungsrolle einzunehmen«, und verlangt, nicht so viele Worte zu machen, sondern dies »durch Taten zu beweisen«. Sie befürchtet nämlich, daß sonst »bei unseren prestigebedachten europäischen Nachbarn nur alte Animositäten« geweckt würden (FAZ v. 7. Februar 1987). Das ist eine dezente Umschreibung der bei den europäischen Völkern tief eingebrannten Erinnerung an den Faschismus und seine Verbrechen. Die Notwendigkeit der Revision des Geschichtsbildes ist damit schon aufgezeigt. Was die Ostpolitik angeht, so hat sich diese Bundesregierung festgelegt mit der Formel »Schlesien bleibt unsere Zukunft« sowie auf die von der »Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas« und der Schaffung freiheitlicher Verhältnisse in ganz Europa. Der Sinn dieser Formeln läßt wenig Raum für Interpretationen. Der Stahlhelmflügel drängt deshalb darauf, klarzustellen, daß die Ostverträge keine Grenzanerkennungsverträge seien. An den Revisions- und Expansionszielen dieser Kräfte kann also kein Zweifel bestehen. Und die Verfügungsgewalt über atomare Waffen, die diese Kräfte auf vielerlei Wegen seit den 60er Jahren angestrebt haben, ist durch die Wiederauf285
bereitungsanlage in Wackersdorf nunmehr in greifbare Nähe gerückt. Vom Imperativ des Atomzeitalters haben diese Kräfte nicht das Mindeste begriffen. Ihre Politik und ihre Gedankenwelt bleiben beschränkt auf die traditionellen Vorstellungen von Machtpolitik - unter Einschluß des Risikos eines Krieges. Die Aussagen der konservativen Historiker sind ganz und gar in Übereinstimmung mit dieser politischen Linie. Sie liefern ihr die (schein-)wissenschaftlichen Begründungen. Wenn der Bundeskanzler Gorbatschow mit Goebbels vergleicht, wenn er die Existenz von Konzentrationslagern in der DDR behauptet und wenn dann die großbürgerliche Presse wochenlang darüber räsoniert, in welchem Sinne es tatsächlich Konzentrationslager in der DDR und in der Sowjetunion gibt und daß solche Lager übrigens von den Briten im Burenkrieg zuerst eingerichtet worden seien und dann in verschiedenen Ländern existiert hätten (vgl. z. B. FAZ v. 9. Januar 1987), so ist das die politische Anwendung dessen, was die konservativen Historiker »rein wissenschaftlich« dargestellt haben. Diesen Kräften sind renommierte Vertreter der liberalen und der linken Intelligenz entschieden entgegengetreten. Auch auf dem Feld der Politik sind starke Gegentendenzen erkennbar. Die Meinungsumfragen zeigen, daß die Mehrheit der Bevölkerung Entspannung und Abrüstung will. Die Bundestagswahlen vom 25. Januar 1987 haben zwar eine Ablösung dieser Regierung nicht ermöglicht; sie haben aber die Stahlhelmfraktion durchaus nicht gestärkt: Innerhalb der Koalition konnte der auf Entspannungspolitik gerichtete Flügel an Boden gewinnen, und in der Opposition konnten die antimilitaristischen Kräfte ihre Position ebenfalls stabilisieren: die Grünen nahmen beträchtlich zu, innerhalb der Sozialdemokratie scheinen sich die auf Abrüstung drängenden Kräfte konsolidiert zu haben. Von außen erfährt der Kurs des Stahlhelmflügels natürlich starke Unterstützung durch die Regierung der USA, in deren Globalstrategie sich dieser Flügel nahtlos einordnet (von den nationalistischen Tönen sollte man sich da nicht blenden lassen). Bei den europäischen Nachbarländern - und nicht nur bei denen im Osten - aber sind die Widerstände gegen eine solche Politik beträchtlich, und die regierende Rechte in der Bundesrepublik weiß das auch. Das internationale Bündnis all der Kräfte herzustellen, die den Imperativ des Atomazeitalters begriffen haben, wäre also das strategische Ziel. Die wissenschaftliche und politische Kritik am Geschichtsbild der konservativen Historiker kann dazu einen Beitrag leisten.
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Anmerkungen
1 Vgl. dazu u n d z u m Folgenden T h . Doerry, Antifaschismus in der Bundesrepublik, F r a n k f u r t 1980, hier bes. S. 5 ff. 2 Vgl. dazu im Einzelnen: U. Mayer, G. Stuby (Hg.), D i e E n t s t e h u n g des G r u n d g e s e t zes, Beiträge und D o k u m e n t e , Köln 1976; W. A b e n d r o t h , D a s G r u n d g e s e t z , 2. Aufl. Pfullingen 1966 3 D a ß dieser Spagat zwischen tatsächlicher Restauration der alten F ü h r u n g s s c h i c h t e n u n d der im offiziellen Selbstverständnis enthaltenen Verurteilung des N S - R e g i m e s seine G r e n z e n hatte, erwies sich 1962, als die Bundesregierung die VVN d u r c h das Bundesverwaltungsgericht verbieten lassen wollte, ein W i d e r s t a n d s k ä m p f e r jedoch den Präsidenten dieses Gerichts (Prof. Fritz Werner) als ehemaliges Mitglied von N S D A P und SA erwies u n d dies sowie die Proteste im I n - u n d Ausland d a z u f ü h r t e n , daß das Verfahren nicht fortgesetzt w u r d e . 4 So Adenauer am 5. M ä r z 1952 im N o r d w e s t d e u t s c h e n R u n d f u n k ; vgl. B o n n e r Bulletin N r . 27 v. 6. M ä r z 1952, S. 262 5 Bayernkurier v. 4. Juli 1970 6 N a c h Spiegel 32/1969 6a Ich habe das im Einzelnen in m e i n e m Buch »Die Weimarer Republik« (Reinbek 1985) dargestellt. 7 Vgl. dazu bes. M. I m h o f , D i e Vertriebenenverbände in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h land, M a r b u r g 1975; H . - D . Bamberg, Die D e u t s c h l a n d s t i f t u n g e. V., Meisenheim 1978; z u r weiteren E n t w i c k l u n g des Übergangsfeldes zwischen der regierenden u n d der extremen Rechten vgl. u. a. R. Kühnl, Die v o n F. J. Strauß repräsentierten politischen K r ä f t e u n d ihr Verhältnis z u m Faschismus, Köln 1980; A. Meyer, K . - K . R a b e (Hg.), Einschlägige Bezieh u n g e n v o n Unionspolitikern, B o r n h e i m - M e r t e n 1980; K.-K. Rabe (Hg.), Von O g g e r s h e i m bis Oberschlesien. U n i o n und Vertriebenenverbände im politischen Gleichklang. Eine D o k u m e n t a t i o n , B o r n h e i m - M e r t e n 1985; R. O p i t z , Faschismus u n d N e o f a s c h i s m u s , Frankf u r t 1984 7a Vgl. G. G. Iggers, D e u t s c h e Geschichtswissenschaft, M ü n c h e n 1971; ders., N e u e Geschichtswissenschaft. Vom H i s t o r i s m u s zur historischen Sozialwissenschaft, M ü n c h e n 1978; H. Schleier, Z u m idealistischen H i s t o r i s m u s in der bürgerlichen deutschen G e schichtswissenschaft, in: J a h r b u c h f ü r Geschichte 28 (1983), S. 133—154 8 K. D. E r d m a n n , Geschichte, Politik und Pädagogik, Stuttgart 1970, S. 90 8a Vgl. d a z u meine U n t e r s u c h u n g »Faschismustheorien«, Reinbek 1979 9 So war es nach G e r h a r d Ritter »Das M a s s e n m e n s c h e n t u m der m o d e r n e n Industriezentren«, nach R ö p k e das »eigentliche Proletariat«, das die faschistischen Massen gebildet habe (G. Ritter, E u r o p a u n d die deutsche Frage, M ü n c h e n 1948, S. 188 u. 19; W. Röpke, D i e deutsche Frage, E r l e n b a c h / Z ü r i c h 1948, S. 48 u. 64) 10 G. Jasper, Ü b e r die U r s a c h e n des Zweiten Weltkrieges. Zu den Büchern von A. J. P. Taylor und David L. H o g g a n , V f Z G 10/1962, S. 3 1 1 - 3 4 0 10a H. Diwald, Geschichte der D e u t s c h e n , F r a n k f u r t , West-Berlin, Wien 1978 (Propyläen) 11 Vgl. dazu bes.: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961; ders., Bündnis der Eliten. Z u r Kontinuität der M a c h t s t r u k t u r e n in D e u t s c h l a n d 1871 bis 1945, Düsseldorf 1979; vgl. auch W. Jäger, H i s t o r i s c h e F o r s c h u n g u n d politische Kultur in Deutschland. Die D e b a t t e 1914—1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, G ö t t i n g e n 1984 IIa Vgl. meine U n t e r s u c h u n g »Das D r i t t e Reich in der Presse der Bundesrepublik«, F r a n k f u r t 1966
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12 Vgl. dazu meinen Band »Der deutsche Faschismus in Q u e l l e n u n d D o k u m e n t e n « , 6. Aufl., Köln 1987, bes. Kap. V, 2a 13 Auszüge in Kühnl, D e r deutsche Faschismus in Q u e l l e n u n d D o k u m e n t e n , Kap. V, lb 14 Vgl. R. K ü h n l u. a., D i e N P D • Struktur, Ideologie und F u n k t i o n einer neofaschistischen Partei, F r a n k f u r t 1986 15 Vgl. Doerry, a.a.O., S. 24 ff. 15a Vgl. bes. B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978; C h . Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; H. Krausnick, H . - H . Wilhelm, D i e T r u p p e des Weltanschauungskrieges. Die E i n s a t z g r u p p e n der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942, Stuttgart 1981; C h . K l e ß m a n n , F. Pingel (Hg.), G e g n e r des Nationalsozialismus, F r a n k f u r t , N e w York 1980 16 Vgl. dazu A. M a n z m a n n (Hg.), Hitlerwelle u n d historische Fakten, Königstein 1979 17 Die Welt v. 1. O k t o b e r 1973 18 J. C. Fest, Hitler, West-Berlin 1973; vgl. d a z u J. Berlin u. a., Was verschweigt Fest? Analysen und D o k u m e n t e z u m Hitlerfilm, Köln 1978; S. H a f f n e r , A n m e r k u n g e n zu Hitler, Zürich, M ü n c h e n 1978; vgl. dazu meine Rezension in Politische Vierteljahresschrift - Liter a t u r 2/80, S. 136 ff. 18a H a f f n e r , S. 41 ff. u. 161 ff. 18b So der Leiter der außenpolitischen A b t e i l u n g im B u n d e s k a n z l e r a m t , Teltschik, nach FAZ v. 7. Februar 1987; die FAZ f ü g t in ihrem K o m m e n t a r h i n z u : »Allerdings wäre es besser, den westdeutschen Willen, eine F ü h r u n g s r o l l e a n z u n e h m e n , weniger durch Worte a n z u k ü n d i g e n als d u r c h Taten zu beweisen. D a r a n hat es in der Vergangenheit des öfteren gemangelt. Zu starke T ö n e wecken bei unseren prestigebedachten N a c h b a r n nur alte A n i mositäten. . .« (ebenda). Was beim Vertreter der Regierung also n o c h E r w a r t u n g e n E u r o p a s sind, heißt im Klartext der F A Z bereits »westdeutscher Wille« nach einer Führungsrolle; und dieser m u ß durchgesetzt werden, bedarf allerdings taktischer Geschicklichkeit. D a s H i n d e r n i s bilden dabei »alte Animositäten« der europäischen N a c h b a r n . H i e r ist n u n der Z u s a m m e n h a n g zwischen neuen M a c h t a n s p r ü c h e n und alten, aus der faschistischen Vergangenheit h e r r ü h r e n d e n H i n d e r n i s s e n in aller Klarheit f o r m u l i e r t . 18c So die FAZ v. 27. J a n u a r 1987 ü b e r J a p a n ; die Analogie liegt auf der H a n d . 19 Belege in meinem schon genannten Buch »Nation, Nationalismus, nationale Frage«, a. a. O . 19a B. Wagner, Politikwissenschaft im Faschismus, D i p l o m a r b e i t , M a r b u r g 1987, S. 155 19b In der K o n z e p t i o n der großen Preußenausstellung kam die Rechte allerdings n u r in Ansätzen z u m Zuge: vgl. P r e u ß e n . Versuch einer Bilanz. Katalog in fünf Bänden, 1981; vgl. auch A. Kaiser (Hg.), D e n k m a l s b e s e t z u n g . P r e u ß e n wird aufgelöst, West-Berlin 1982 20 Vgl. dazu neben den Leitartikeln Stürmers in der FAZ bes. seine A u f s a t z s a m m l u n g »Dissonanzen des Fortschritts«, M ü n c h e n 1986 21 Vgl. FAZ v. 2. D e z e m b e r 1986 22 Vgl. F A Z v. 24. Januar 1983; eine gute Analyse der Rede findet sich in der N e u a u f l a g e v o n W. F. H a u g , D e r hilflose Antifaschismus, West-Berlin 1986 23 Fest im Leitartikel der FAZ v. 20. April 1985 24 Fack im Leitartikel der F A Z v. 29. April 1985 mit d e m Titel »Ein Scherbenhaufen« 25 FAZ-Leitartikel v. 14. J a n u a r 1985 26 FAZ v. 18. April 1985 26a So Fest im Leitartikel der F A Z v. 20. April 1985; ähnlich der Rheinische M e r k u r / Christ und Welt v. 16. Februar 1985 26b D r e g g e r im Bundestag am 10. September 1986 27 F. O p p e n h e i m e r in FAZ v. 14. Mai 1986
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27a A. Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des D e u t s c h e n Reiches u n d das E n d e des europäischen J u d e n t u m s . West-Berlin 1986; enthält auch den Text des Vortrages »Der Z u s a m m e n b r u c h im O s t e n als P r o b l e m der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte«, den H i l l g r u b e r s c h o n 1985 publiziert hatte. 28 So die Interpretation der Hillgruber-Thesen durch den Rheinischen M e r k u r / C h r i s t und Welt v. 5. September 1986 29 Rheinischer M e r k u r / C h r i s t und Welt v. 31. O k t o b e r 1986 29a N a c h ebenda v. 10. O k t o b e r 1986 30 Vgl. R U S I , die Vierteljahresschrift des »Royal United Services Institute« v o m Juni 1985 sowie M ä r z und Juni 1986 31 Zu seiner Faschismusinterpretation vgl. meine Darstellung in »Faschismustheorien«, a. a. O . , S. 1 3 3 - 1 5 1 31a E. N o l t e , D e r Faschismus in seiner E p o c h e und seine weltpolitischen Konsequenzen bis z u r G e g e n w a r t , in: D e u t s c h e Identität heute, hg. v. S t u d i e n z e n t r u m Weikersheim e. V., mit einem Vorwort von Heinrich Windelen, Bundesminister f ü r innerdeutsche Beziehungen, M a i n z - L a u b e n h e i m , S. 25—47, hier S. 43—46 32 Aus dieser Prämisse hatte er bereits 1970 in seinem G u t a c h t e n ü b e r meine Habilitationsleistungen gefolgert, daß diese nicht als wissenschaftlich a n e r k a n n t werden k ö n n t e n , weil »ein wissenschaftliches Buch ü b e r die N P D nicht o h n e eine gewisse Noblesse geschrieben werden« k ö n n e , w ä h r e n d »der Verfasser sich von vorneherein als scharfer G e g n e r der N P D zu erkennen gibt« (Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Philipps-Universität M a r b u r g , G u t a c h t e n und Stellungnahmen im Habilitationsverfahren Dr. Reinhard Kühnl, N e u w i e d u n d Berlin 1971, S. 10 f. 32a E. N o l t e , Between M y t h and Revisionism, in: H . W . Koch (Hg.), Aspects of the Third Reich, L o n d o n 1985 32b K. H i l d e b r a n d , Das Zeitalter der Tyrannen, in: F A Z v. 31. Juli 1986 33 H Z , Bd. 242, 1986, S. 465 f. 33a N u r der Freiburger H i s t o r i k e r H . A . W i n k l e r u n d der Westberliner H i s t o r i k e r H. Köhler reagierten relativ rasch u n d schrieben d e r F A Z Leserbriefe, die am 26. Juni 1986 publiziert w u r d e n . 34 W. J. M o m m s e n , Weder Leugnen n o c h Vergessen. Befreit von der Vergangenheit, in: FR v. 1. D e z e m b e r 1986 35 H. M o m m s e n , Suche nach der »verlorenen Geschichte«?, in: M e r k u r 451/52, 1986, S. 863 ff. 36 M. Broszat, Wo sich die Geister scheiden, in: D i e Zeit v. 3. O k t o b e r 1986 37 K. Pätzold, Von Verlorenem, G e w o n n e n e m u n d E r s t r e b t e m o d e r : Wohin der »Neue Revisionismus« steuert, in: Blätter f. dt. u. internat. Pol. 12/1986, S. 1452-1465; der Text w u r d e in den vorliegenden Band ü b e r n o m m e n . 38 Verwiesen wird auf G. R. Ueberschär, W. Wette (Hg.), » U n t e r n e h m e n Barbarossa«. D e r deutsche Überfall auf die S o w j e t u n i o n 1941. Berichte, Analysen, D o k u m e n t e , Paderb o r n 1984 39 So der D i p l o m - P o l i t o l o g e L o t h a r J u n g u. Dr. R o l f - D i e t e r Müller, in: FAZ v. 10. N o vember 1986; vgl. auch den Leserbrief v. M. I. Inacker am 21. N o v e m b e r 1986 40 J. H a b e r m a s , Eine A r t Schadensabwicklung, in: D i e Zeit v. 11. Juli 1986 41 H. M o m m s e n , Suche nach der »verlorenen Geschichte«?, a. a. O . , S. 870 42 H. M o m m s e n , N e u e s Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus, in: Blätter f. dt. u. internat. Pol. 10/86, S. 1200-1213, hier S. 1211 ff. 42a Vgl. ebenda 43 Vgl. H. Lübbe, D e r Nationalsozialismus im deutschen N a c h k r i e g s b e w u ß t s e i n , in: Historische Zeitschrift N r . 236, 1983 44 M e r k u r 451/52, 1986, S. 262 ff.
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45 Vgl. deren voluminöse Bände »Das ruhelose Reich. D e u t s c h l a n d 1866—1918« und »Weimar«, beide im Siedler-Verlag erschienen 45a K. Sontheimer, Maskenbildner schminken eine neue Identität, in: Rheinischer Merk u r / C h r i s t u n d Welt v. 21. N o v e m b e r 1986 46 S. Miller, »Wende«-Zeichen auf d e m Gebiet der Geschichte, in: N e u e Gesellschaft/ F r a n k f u r t e r H e f t e N r . 9/86, S. 836 ff.; vgl. auch H. M o m m s e n , Verordnete Geschichtsbilder? H i s t o r i s c h e M u s e u m s p l ä n e der Bundesregierung, in: Gewerkschaftliche M o n a t s h e f t e N r . 1, J a n u a r 1986 46a U. H ö r s t e r - P h i l i p p s , Kernfrage des b u n d e s d e u t s c h e n Historikerstreits, in: D V Z / d i e tat v. 12. D e z e m b e r 1986 46b G. Fülberth, Ein P h i l o s o p h blamiert die Historiker, in: D V Z / d i e tat v. 26. September 1986 46c H i l l g r u b e r in seinem Interview im Rheinischen M e r k u r / C h r i s t u n d Welt v. 31. O k t o ber 1986 47 Vgl. dazu W. A b e n d r o t h , D a s Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität, in: Universitätstage 1966, West-Berlin 1966, S. 189 f. sowie R. Kühnl, Die Weimarer Republik, Reinbek 1985, S. 93 ff. 48 A. Hillgruber, J ü r g e n H a b e r m a s , Karl H e i n z J a n ß e n u n d die A u f k l ä r u n g A n n o 1986, in: Geschichte in Wissenschaft u n d Unterricht ( G W U ) 12/86, S. 7 2 5 - 7 3 9 , hier S. 725 f. 49 So Hillgruber, ebenda 50 So H i l d e b r a n d in der FAZ v. 31. Juli 1986 51 Fest in der FAZ v. 29. August 1986 52 D e r H e r a u s g e b e r von G W U , a. a. O. 53 T h o m a s Nipperdey, P r o f e s s o r f ü r N e u e r e Geschichte in M ü n c h e n , »Unter der H e r r schaft des Verdachts«, in: D i e Zeit v. 17. O k t o b e r 1986 54 Hillgruber in d e m Interview »Für die F o r s c h u n g gibt es kein Frageverbot«, in: Rheinischer M e r k u r / C h r i s t und Welt v. 31. O k t o b e r 1986 55 E b e n d a 55a So die FAZ in ihrem Bericht v. 11. O k t o b e r 1986 56 Rheinischer M e r k u r / C h r i s t und Welt v. 10. O k t o b e r 1986. 56a K. Sontheimer, Maskenbildner schminken eine neue Identität, in: ebenda v. 21. N o vember 1986 57 D i e Zeit v. 12. September 1986 58 A b g e d r u c k t im Rheinischen M e r k u r / C h r i s t und Welt v. 10. O k t o b e r 1986 59 D i e Zeit v. 17. O k t o b e r 1986 60 FAZ 20. 11. 1986 61 Vgl. auch die W a h l k a m p f b r o s c h ü r e der CSU, über die die F A Z am 9. J a n u a r 1987 berichtete, sowie Bayernkurier v. 29. N o v e m b e r 1986 62 H a b e r m a s , Vom öffentlichen G e b r a u c h der Historie, in: D i e Zeit v. 7. N o v e m b e r 1986 62a So N o l t e beim S P D - K o n g r e ß »Erziehung - A u f k l ä r u n g - Restauration«, zit. nach D V Z / d i e tat v. 17. O k t o b e r 1986. Wie verbindlich das Totalitarismusschema auch f ü r die regierende Rechte noch i m m e r ist, zeigt die A n t w o r t des C S U - L a n d e s g r u p p e n v o r s i t z e n d e n im Bundestag, T h e o Waigel, auf die Frage »Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?« Waigel gibt auf diese jede Woche einem P r o m i n e n t e n v o n der FAZ gestellten Frage die geradezu stereotype A n t w o r t »Hitler und Stalin«. D e r U S - B o t s c h a f t e r in der Bundesrepublik, Richard Burt, k a n n da u n b e f a n g e n e r sein: Er a n t w o r t e t schlicht »Josef Stalin«. (FAZ-Magazin v. 9. J a n u a r 1987 u. 23. Januar 1987) 63 So H i l l g r u b e r in dem schon zitierten Beitrag in Geschichte in Wissenschaft u n d U n terricht 12/1986, S. 736
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63a Vgl. den Leserbrief Brachers in der FAZ (6. September 1986), in d e m er die Rehabilitierung der Totalitarismusthese f ü r die vordringlichste Aufgabe erklärt. 64 I. Geiß, Auschwitz »asiatische Tat«, in: D e r Spiegel 43/1986, S. 10 65 Vgl. U. H ö r s t e r - P h i l i p p s , Kernfrage des b u n d e s d e u t s c h e n Historikerstreits, in: D e u t sche Volkszeitung/die tat v. 12. D e z e m b e r 1986; G. F ü l b e r t h , Ein P h i l o s o p h blamiert die Historiker, in: ebenda, v. 26. September 1986; H. Pätzold, Von Verlorenem, G e w o n n e n e m u n d E r s t r e b t e m . Z u r H i s t o r i k e r d e b a t t e , in: Blätter f. dt. u. internat. Pol. 12/86, S. 1452-1465; ders., Wo der Weg nach Auschwitz begann, ebenda 2/87, S. 1 6 0 - 1 7 2 ; W. G r a b , Kritische B e m e r k u n g e n z u r nationalen Apologetik J o a c h i m Fests, E r n s t N o l t e s und Andreas Hillgrubers, in: 1999 2/1987; M. Brumlik, N e u e r Staatsmythos O s t f r o n t , in: taz v. 12. Juli 1986; D. Diner, D e r Kern der Wende, in: links, N o v e m b e r 1986 66 Ob der Nationalsozialismus eine Form des Faschismus war, habe ich u n t e r s u c h t in m e i n e m Buch »Der Faschismus. U r s a c h e n , H e r r s c h a f t s s t r u k t u r , Aktualität«, H e i l b r o n n 1983, S. 9 7 - 1 1 3 67 K. Sontheimer, Maskenbildner schminken eine neue Identität, in: Rheinischer M e r k u r / C h r i s t u n d Welt v. 21. N o v e m b e r 1986 67a Hillgruber, J ü r g e n H a b e r m a s . . ., a. a. O . , S. 733 68 D i e FAZ hat soeben wieder ein schönes Beispiel f ü r die Geschichtsauffassung dieser K r ä f t e geliefert. Anläßlich einer M e l d u n g aus der S o w j e t u n i o n ü b e r die E r m o r d u n g von 2000 italienischen Soldaten d u r c h »die Nazis« schrieb sie (3. Februar 1987): »Es kann die deutschen Interessen nicht gleichgültig lassen, wenn von der sowjetischen N a c h r i c h t e n a gentur TASS ausgehende u n d in italienischen Zeitungen w i e d e r k e h r e n d e Berichte die Beziehungen zwischen Italienern und D e u t s c h e n zu stören suchen, fast unabhängig davon, wie die objektive historische Wahrheit beschaffen ist.« Diese Geschichtsauffassung ist also durch zwei M o m e n t e gekennzeichnet: Sie setzt die E r i n n e r u n g an die Taten »der Nazis« mit einer Schädigung der »deutschen Interessen« gleich; u n d sie will deshalb solche E r i n n e rungen b e k ä m p f e n , »fast u n a b h ä n g i g davon, wie die objektive historische Wahrheit beschafffen ist«. Es ist schon erstaunlich, wie offen diese H e r r e n m a n c h m a l aussprechen, w o r u m es ihnen geht. 69 D i e Berliner A k a d e m i e der Künste beschloß eine Resolution, in der es heißt: »Das P l e n u m der A k a d e m i e der Künste protestiert gegen die geplante E r r i c h t u n g einer sogen a n n t e n >Nationalen Gedenkstätte< in B o n n . D e r bisherige Verlauf der öffentlichen D i s k u s sion läßt erkennen, daß es sich hier um eine vorsätzliche Geschichtsverfälschung handelt. D e r Täter und O p f e r darf nicht auf gleiche Weise gedacht werden.« (nach FAZ v. 3. D e z e m ber 1986). Aus solchen Ansätzen k ö n n t e sich eine breitere Mobilisierung der liberalen wissenschaftlichen Ö f f e n t l i c h k e i t - ü b e r das Fach Geschichte hinaus - entwickeln. U n d der diesjährige Friedesnobelpreisträger Elie Wiesel w a r n t e v o r d e m Versuch, A u s c h w i t z gegen die stalinistischen Arbeitslager a u f z u r e c h n e n (FAZ v. 10. D e z e m b e r 1986). Es gibt also offenbar auch Möglichkeiten, in der internationalen Öffentlichkeit U n t e r s t ü t z u n g f ü r die A b w e h r der konservativen Offensive in der Bundesrepublik zu finden.
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Kurt
Gossweiler
Nur eine Historiker-Debatte?
Im Atomzeitalter kann man nicht - zumindest nicht lange - mit der Psychologie, den Gewohnheiten und Verhaltensweise der Steinzeit leben. (Michail Gorbatschow im Februar 1986)
Unsere Zeitgenossen, seit längerem, besonders aber seit Antritt der Reaganadministration, durch Täler der Furcht vor vielfältigen Existenzbedrohungen gejagt und doch immer wieder zur Hoffnung ermuntert, hatten Grund, in der gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Erklärung vom 21. November 1985 ein Zeichen des gemeinsamen Willens zur Hinwendung zu einer dem Atomzeitalter angemessenen neuen Denk- und Handlungsweise zu erblicken, fanden sich in dieser Verlautbarung doch Formulierungen über die gemeinsame Verantwortung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten dafür, daß ein Kernwaffenkrieg nicht entfesselt werden darf, und wurde in dieser Erklärung doch ausdrücklich noch einmal als Ziel der Verhandlungen bestätigt, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern und es auf der Erde zu beenden. Wer, wenn nicht die Historiker, die schon von Berufswegen wie niemand sonst die Lehren der Geschichte verarbeitet haben müßten, wäre mehr dazu berufen, dem neuen, dem Atomzeitalter angemessenen Denken zum vollen Durchbruch zu verhelfen? Und wer von den Historikern aus aller Welt hätte mehr Grund zu radikalstem Bruch mit dem Steinzeitdenken und -verhalten, als die Historiker aus beiden deutschen Staaten, zu deren noch lange nicht gelöster vordringlicher Aufgabe es gehört, ihren Beitrag dazu zu leisten, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg und Kriegshetze ausgehen? Daß in meinem Lande, der DDR, die schonungslose Abrechnung mit dem Faschismus auf allen Gebieten, also auch in der Geschichtsschreibung, eine der Grundlagen unserer Identität als sozialistischer deutscher Staat bildet, ist in der Welt bekannt und von allen objektiven Beobachtern auch mit Respekt anerkannt. Mit gleichem Respekt wird in unserem Lande jedes auf das gleiche 292
Ziel der Vergangenheitsbewältigung gerichtete Bemühen in der Bundesrepublik vermerkt, von welcher weltanschaulichen Position auch immer es ausgehen mag. Und wir können sehr froh darüber sein, daß in den letzten Jahren ein Dialog in Gang gekommen ist zwischen Historikern der DDR und der BRD, der auch dem Ziel dient, das Steinzeitdenken in der Politik zu überwinden. Aber nicht zu übersehen ist, daß in der Historikerzunft der BRD jene Kräfte noch sehr stark sind, denen der Gedanke an Diskussion und Gespräch anstelle von Konfrontation ein Greuel ist. Wer sich darüber Illusionen hingeben mochte, der wurde durch den sog. Historikerstreit eines Schlechteren belehrt. Was hier zutage trat, mußte einem aufmerksamen ausländischen Beobachter ungeheuerlich und erschreckend erscheinen, sollte ihn aber dennoch nicht überraschen. Ungeheuerlich ist schon das »Was«, sind die Thesen, durch die die Debatte ausgelöst wurde; ungeheuerlich ist aber auch, wer diese Thesen vertritt, wie sie verbreitet wurden und werden. Das »Was« sind die dem Leser dieser Zeitschrift schon zur Geüüge bekannten Verharmlosungs- bis Rechtfertigungsversuche der faschistischen Massenmorde, deren Wesenskern eine BRD-Zeitung genau traf mit der Überschrift: »Die >FAZ< enthüllt: Kommunisten waren schuld an Auschwitz.« 1 Die Ungeheuerlichkeit, die im »Wer« liegt, hat Wolfram Schütte mit Blick auf Andreas Hillgruber und Ernst Nolte mit der Feststellung kenntlich gemacht, daß die Exkulpation des Faschismus nicht mehr nur Sache »des dumpfesten, dümmsten und durchschaubaren Ressentiments der >Ewig-Gestrigen<« sei, sondern auch einer »neuen intellektuellen Rechten«, der subtilere Mittel der Argumentation zur Verfügung stünden. 2 Dieser Rechten wären mindestens noch der »FAZ«-Redakteur und Hitler-Biograph Joachim C. Fest und der Historiker Klaus Hildebrand hinzuzurechnen; zu vermerken wäre weiterhin, daß die Tribüne, von der aus der Vorstoß der neokonservativen Geschichtsrevisionisten vorgetragen wurde, immerhin das wichtigste Sprachrohr der mächtigsten Kreise der bundesdeutschen Großbourgeoisie, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (»FAZ«) ist, die sich in den Überschriften ihrer Kommentare zwar immer noch der Schrifttypen der alten Frankfurter Zeitung bedient, mit dieser und ihrem im Vergleich zur »FAZ« kämpferisch-liberalem Geiste aber nicht das mindeste mehr zu schaffen hat, vielmehr unverkennbar der geistig-politische Nachfahre des Scharfmacherblatts der Großbourgeoisie der Weimarer Zeit, der »Deutschen 293
Allgemeinen Zeitung« (DAZ), ist. Daran ist ablesbar, wie weit nach rechts im Vergleich zu Weimar inzwischen die Gleise verlagert sind, denen das politische Denken maßgeblicher Kreise der bundesdeutschen Großbourgeoisie heute folgt. Susanne Miller ist deshalb zuzustimmen, wenn sie feststellt, die eigentliche Bedeutung des Nolteartikels liege darin, daß er in der »FAZ« veröffentlicht wurde. 3 Dies ist schon einer der Fakten, die zum Erschrecken Anlaß geben, wenn man an mögliche zukünftige Konsequenzen dieser Rechtsverlagerung denkt. Ahnliche Empfindungen ruft im Hinblick auf die Situation in der bundesdeutschen Historikergemeinde auch der bisherige Verlauf der Kontroverse hervor, bei der es sich ja durchaus nicht um einen normalen Meinungsstreit handelt, sondern um die Frage, ob es den Wendepolitikern in der BRD gelingt, ein im Sinne einer »deutsch-national eingefärbten Natophilosophie« (Habermas) vereinheitlichtes Geschichtsbild als dominant durchzusetzen, ein Geschichtsbild, in dem die zwölf braunen Jahre keinen Anlaß mehr bieten zu Scham und Schuldgefühlen, sondern eher zur Genugtuung (Bitburg!) darüber, als einzige schon damals gegen den richtigen Feind gekämpft zu haben. Dennoch war es keiner aus der Historikerzunft, der nach der Veröffentlichung des Hillgruber-Bändchens und des Nolte-Artikels Alarm schlug, sondern ein Philosoph. 4 Und es könnte sein, daß Wolfram Schütte recht hat mit seiner Vermutung, ohne Habermas' Einspruch wäre das »historische Kommandounternehmen« ohne Widerspruch über die intellektuelle Bühne gegangen, - zur vollen Zufriedenheit jener, die der Ansicht sind, daß »der Streit . . . so überflüssig wie ein Kropf« gewesen sei (Thomas Kielinger im »Rheinischen Merkur« v. 19. September 1986), oder die ihn gar für ein Unglück halten, weil er »die Historikerzunft wie die deutsche Öffentlichkeit« polarisiere (Thomas Nipperdey in »Die Zeit« v. 17. Oktober 1986). Die Wahrheit ist jedoch, daß der Streit nur eine bereits bestehende Polarisierung an den Tag gebracht hat und dadurch auch jene, die so gerne das trügerische Bild einer im großen und ganzen in harmonischem Konsens befindlichen Zunft und Öffentlichkeit unangetastet sehen möchte, zwingt, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Die Entscheidung fällt bei diesen gewöhnlich gegen denjenigen, der den Vorhang vor dem Trugbild zerrissen und deutlich gemacht hat, daß da Frontlinien existieren, und der ausspricht, wofür man auf der einen und wofür auf der anderen Seite steht. Diese Störenfriedtat wird innerhalb und außerhalb der Zunft - viele der Artikel und der Leserzuschriften beweisen es - als eine Art von Verrat betrachtet, mit dem der 294
Täter sich selbst aus der Gemeinschaft der »Anständigen« ausgeschlossen hat. Was da über Habermas nach der Veröffentlichung seines Einspruchs hereinbrach an Beschuldigungen, bösartigen Unterstellungen und an Versuchen, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, um seinen Argumenten ihr Gewicht zu nehmen - damit waren, jedenfalls bisher, eigentlich nur sehr viel weiter links stehende Persönlichkeiten ausgezeichnet worden. Man kann das alles kaum besser charakterisieren, als es »Die Welt« in einer redaktionellen Bemerkung am 22. November 1986 tat, in der sie schrieb, die Diskussion sei in eine politische Schlammschlacht ausgeartet, Beschimpfungen, Verdächtigungen und Unterstellungen bestimmten die Szene. Allerdings war diese treffende Kennzeichnung - wie bei diesem Blatt nicht anders zu erwarten - an die falsche Adresse gerichtet. Es war ja der »Welt«-Autor Klaus Hildebrand, der den »Zeit«-Artikel von Habermas als »ein trübes Gebräu aus Politik und Wissenschaft« (»FAZ« v. 31. Juli 1986) abqualifiziert hatte; es war Michael Stürmer, der Habermas der Fälschungen bezichtigte (»Eine Anklage, die sich selbst ihre Belege fabriziert«, »FAZ« v. 16. August 1986); es war Hillgruber, der Habermas einen »Mangel an elementarer Redlichkeit beim Zitieren« vorwarf, (»FAZ« v. 23. August 1986); es war Joachim Fest, der Habermas' besorgte Warnungen als »platteste Verschwörungstheorie« (»FAZ« v. 29. August 1986) abtat; es war Thomas Nipperdey, der Habermas beschuldigte, eine »Herrschaft des Verdachts« zu errichten, mit Unterstellungen zu arbeiten, Frageverbote zu erlassen und eine »Historie der Staatsanwälte und Richter« zu praktizieren (»Die Zeit« v. 17. Oktober 1986). Hagen Schulze schließlich zeigte Habermas die rote Karte, indem er ihm vorhielt, die Diskussion dürfe nicht »mit den Mitteln manichäischer Wirklichkeitsreduktion und künstlicher Feindbilder geführt werden«, andernfalls sei die Auseinandersetzung unfair, und das sei ein Verdikt, »das im Bereich westlicher politischer Kultur, allerdings nur dort, vernichtet«. (»Die Zeit« v. 26. September 1986). (Diese optimistische Sicht auf den Moralkodex der westlichen Welt wird nicht zuletzt durch den Verlauf des Historikerstreits ad absurdum geführt.) Durch die rüden Attacken eines Klaus Hildebrand gegen Habermas und die »Vertiefung« der ungeheuerlichen Nolte-Thesen durch Joachim Fest (»FAZ« v. 29. September 1986) fühlten sich nun auch jene Historiker herausgefordert, die bisher zu Noltes und Hillgrubers Auslassungen geschwiegen hatten, die jedoch in diesem oder jenem Punkte die Ansichten und Besorgnisse Habermas' über die Offensive der Geschichtsrevisionisten teilten. Die Artikel von Martin Broszat (Süddt. 295
Ztg. V. 14./15. August 1986 und »Die Zeit« v. 3. Oktober 1986), Susanne Miller, Eberhard Jäckel (»Die Zeit« v. 12. September 1986), Jürgen Kocka (FR v. 23. September 1986), Hans Mommsen (September/ Oktoberheft d. »Merkur« und Oktoberheft der »Blätter für deutsche und internationale Politik«) und anderer, die Stellungnahmen von Rudolf Augstein und Wolfgang Malanowski im »Spiegel« sowie zahlreiche Leserbriefe in verschiedenen Blättern, sie alle, in denen mit unterschiedlicher Motivation und Entschiedenheit, im allgemeinen eher zurückhaltend als militant, aber doch unmißverständlich die Nolteschen wirklichkeitsfremden »Konstrukte« und Hillgrubers Identifizierung mit den NS-Hoheitsträgern an der Ostfront zurückgewiesen wurden, zerstören das Trugbild einer zwar pluralistischen, aber dennoch durch den großen Konsens geeinten Historikergemeinde. Dies führt zu einem großen Erschrecken bei all denen, die das Trugbild für echt gehalten hatten und rief jene auf den Plan, die sich als Repräsentanten einer ausgleichenden Mitte verstanden und um Schadensbegrenzung durch Beendigung des Streites bemüht waren. Einen ersten in diese Richtung weisenden Versuch unternahm Thomas Kielinger schon im September im »Rheinischen Merkur« (19. September 1986). Kielinger bedauerte, daß man »den Ansatzpunkt einer konstruktiven Betrachtung unserer Gegenwartslage« bei Habermas vollkommen übersehen und übergangen habe. Er meinte damit jene Schlußpassage in Habermas' Aufsatz, in der es heißt, »die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens« sei »die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit«, auf die gerade seine Generation stolz sein könne. Mit sicherem Blick für den schwächsten Punkt in der Argumentation des Philosophen der Frankfurter Schule erklärte Kielinger diese Passage für ein rühmendes Bekenntnis zur »großen Errungenschaft der Adenauerschen Politik«. Dieser Hinweis auf eine listige Möglichkeit, den unerwünschten Streit beizulegen, fand jedoch keine Beachtung. Der Fortgang des Streites brachte u. a. auch eine bemerkenswerte »Umschichtung des historisch-politischen Denkens« zutage bei einem, der bei einem früheren Historikerstreit eine sehr achtbare Stellung bezogen hatte; die Rede ist von Immanuel Geiss und seiner Wortmeldung im »Spiegel« (Spiegel v. 20. Oktober 1986). Er, der seinerzeit an der Seite seines Lehrers Fritz Fischer die Anwürfe von rechts gegen diesen abgewehrt hatte, verteidigte nun die Neokonservativen heftig gegen Augstein und Habermas und zwar ausgerechnet mit dem Argument, deren Kritik an Nolte gefährde den in der Fischerkontroverse »mühsam . . . gegen die erstarrte Zunft erstrittenen . . . heutigen liberalen 296
Pluralismus«. Als ob einem Manne von seinem Intellekt hätte verborgen bleiben können, daß es imgrunde in beiden Fällen um das gleiche ging - um den Nachweis wenn schon nicht der deutschen Unschuld, so doch der deutschen minderen Schuld gegenüber der Schuld der anderen -, und daß die Vorstöße in beiden Fällen aus der gleichen politischen Ecke kamen - nur mit dem Unterschied, daß im Falle des ersten Weltkrieges das alte verlogene Geschichtsbild gegen die von Fritz Fischer auf den Schild gehobene geschichtliche Wahrheit verteidigt wurde, im Falle des Zweiten Weltkrieges aber die längst erwiesene Wahrheit revidiert werden soll zugunsten eines die »nationale Identitätsfindung« im Sinne der Wendepolitik ermöglichenden Geschichtsbildes. Daß der Widerstand gegen diese Revision von Geiss als Gefährdung des »Freiraumes für wissenschaftliche (!) Neuerungen« hingestellt wird, ist - um es ganz milde auszudrücken - höchst sonderbar. Der einzige Revidierer, der Bereitschaft zum Einlenken andeutete, war Nolte. Das konnte allerdings nicht überraschen. Seinen Auftritten in seiner Lieblingsrolle als Praeceptor Germaniae und umliegender Regionen folgte bisher in schöner Regelmäßigkeit der Auftritt in seiner weniger geliebten, aber - wegen der heftigen Proteste, die er in seiner Hauptrolle ständig hervorrief - unvermeindlichen zweiten Rolle als böswillig mißverstandener, zu Unrecht beschuldigter Wahrheitssucher.5 Allerdings hält er diese Rolle nie durch, ohne immer wieder in seine Hauptrolle zurückzufallen. So auch in seinem Artikel in der »Zeit« v. 31. Oktober 1986. Er begann mit einer Klage darüber, daß man sich nicht genügend bemüht habe, seinen Gedankengang richtig zu verstehen, ging dann dazu über, diesen in einer Weise zu erläutern, der ihn für seine Opponenten weniger anstößig erscheinen lassen sollte, ohne jedoch irgendeine seiner Grundthesen aufzugeben, und schloß mit einer arrogant-»versöhnlichen« Wendung gegenüber Habermas: dieser würde in derartigen Fragen »ein gewichtiges Wort mitzureden« haben, allerdings müsse er erst lernen »auch dann hinzuhören, wenn er seine Vor-Urteile herausgefordert« fühle. In der gleichen Zeitung erschien eine Woche später (»Die Zeit« v. 7. November 1986) gewissermaßen als Antwort auf Nolte ein zweiter Artikel von Habermas. Eingeleitet mit einer leichten Verbeugung vor Noltes »besonnenem Beitrag« umriß Habermas darin noch einmal präzise seine Positionen, dabei klarstellend, daß es ihm nicht - wohin ihn seine Opponenten drängen wollten - um einen Streit um historische Details ging, sondern »um jene politische Umsetzung des in der Zeitgeschichtsschreibung aufgekommenen Revisionismus, die von den Politikern der Wenderegierung ungeduldig angemahnt wird«, also um »den öffentlichen Gebrauch der Historie«. 297
Bei diesem Stand der Diskussion hielt der Vorsitzende des Historikerverbandes der BRD, Christian Meier, den Zeitpunkt für gekommen, einen Schlußpunkt zu setzen. Zwar überschrieb er seinen in der »FAZ« am 20. November veröffentlichten Artikel mit »Kein Schlußwort«, aber er konstatierte, der Historikerstreit scheine beendet zu sein, jetzt soll man Bilanz ziehen. Vor allem um die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des »Grundkonsens« besorgt, versicherte er, in der Verurteilung der NS-Vergangenheit sei kein Grundkonsens aufgekündigt worden, das Problem der Singularität der NS-Verbrechen scheine nicht mehr strittig zu sein. Trotz dieser Versicherungen hielt Meier es indessen für angebracht, der geschichtsrevisionistischen Seite zu erläutern, es sei »viel besser, wir wissen und sagen, wie es ist, als daß wir es uns immer wieder sagen lassen müssen«; jeder Versuch, sich aus dieser Vergangenheit davonzustehlen oder sie zu politischen Vergleichen heranzuziehen, mache die Dinge nur schlimmer, wie die Geschichte der letzten Jahre und Wochen an vielen Beispielen erwiesen habe. Hillgruber wurde zwar attestiert, daß man ihm eine Verharmlosung des Nationalsozialismus nicht vorwerfen könne, zugleich aber distanziert sich Meier von Hillgrubers Aussage mit der Bemerkung: »Was Hillgruber dazu bewogen haben mag, sich nachträglich mit den Verteidigern der Front in Ostpreußen zu »identifizieren«, wird wohl sein Geheimnis bleiben.« Chr. Meier appellierte an beide Seiten, sich um das von Richard von Weizsäcker geforderte »gewisse gemeinsame Grundverständnis der deutschen Geschichte« zu bemühen, und meinte, dies sei am sichersten zu erreichen, wenn »die Mitte« stark sei, »die bisher in der Geschichte der Bundesrepublik noch immer zu vernünftigen Lösungen, Erkenntnissen und Maximen in der Lage war«. Wenn er erwartet hatte, damit Öl auf die Wogen gegossen und eine Beendigung des unerwünschten Streites erreicht zu haben, sah er sich schon zwei Tage später bitter enttäuscht. Offenbar durch Meiers Versöhnungsversuch aufs Höchste gereizt, attackierte Klaus Hildebrand, diesmal nicht in der FAZ, sondern im »Lokalanzeiger« der Bundesrepublik, in der »Welt« (v. 22. November 1986), nicht nur erneut Habermas, sondern den Historikervorsitzenden Meier selber mit dem Anwurf, dieser habe mit seinem Artikel der »chronique scandaleuse« dieser Debatte ein neues Blatt hinzugefügt, indem der Habermas' Vorgehen gegen Hillgruber zu entschuldigen gesucht habe. Meiers Versuch, die Debatte zu beenden, hielt Hildebrand entgegen, die ständige Revision des Kenntnisstandes sei Pflicht des Wissenschaftlers - deshalb gehe »die Suche nach der Wahrheit« weiter. Dem »Althi298
storiker Christian Meier« wurde von Hildebrand für diese »Wahrheitssuche« jede Kompetenz abgesprochen. Der »Meinung«, daß »die deutschen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 . . . qualitativ über die vergleichbaren anderer Völker hinausgingen« - verwiesen wurde dabei, wie könnte es anders sein, auf die Sowjetunion -, stellte er die Vermutung entgegen, »daß sogar das Gegenteil der vorgetragenen >Meinung< zutreffend sein könnte«, womit er die Ungeheuerlichkeiten der Nolte und Fest noch übergipfelte. In übler Rufmordmanier unterstellt er Habermas persönliches Strebertum als treibendes Motiv. Habermas - so Hildebrand - scheine es darum zu gehen, »eine intellektuelle Vormachtstellung zu behaupten«; »der Verlust an öffentlicher Resonanz« scheine ihn zu Attacken gereizt zu haben und es scheine so, daß es ihm nicht um Wahrheit, sondern um Einfluß gehe; Habermas werfe der Wissenschaft (!) bei der Aufgabe, die Geschichte des Dritten Reiches im deutschen, europäischen und universalen Zusammenhang zu erforschen und darzustellen, »weltanschauliches Uralt-Gestein in den Weg«. Nach dem professionellen Historiker setzte in der gleichen Zeitung »Die Welt« zwei Tage später (24. November 1986) - und zwar auf der Kulturseite! - ein journalistischer Historiker, der sich hinter dem Namen »Pankraz« versteckt, das I-Tüpfelchen auf die Auslassungen des Professors. Überschrift: »Pankraz, die Urenkel und die Kollektivschuld«. Zu den bisherigen horziontalen historischen Vergleichen müßten - so Pankraz - die vertikalen, die Längsschnitte durch die Geschichte hinzukommen; dann zeige sich, daß die Nazidiktatur für die deutsche Geschichte untypisch sei, denn: »Die Deutschen haben sehr im Unterschied zu Spaniern und Portugiesen, Engländern und Amerikanern - bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nie ein fremdes Volk überfallen oder gar ausgerottet . . . All ihre vielen Kriege waren entweder Verteidigungskriege oder innere Stammeskriege. Es gab unter ihnen auch kaum je Sklaven, während die Sklaverei im Mittelmeerraum und in den hispanischen Besitzungen, bei den Türken oder in den USA gang und gäbe war . . . Die deutsche Ostkolonisation nahm sich verglichen mit der amerikanischen Westkolonisation und ihren Indianerausrottungen äußerst gentlemanlike aus.« Preußen und das josefinische Österreich seien »in bezug auf Rechtsstaatlichkeit den gleichzeitigen Staaten im Westen wie im Osten überlegen« gewesen. Ein Vergleich der Kriege Preußens 1864 und 1866 mit dem amerikanischen Bürgerkrieg ergebe auf deutscher Seite: »Fairness, Vornehmheit, >gehegter< Krieg«, auf amerikanischer dagegen: »wilde Grausamkeit, ideologischer Haß und dauernde Übergriffe gegen Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung«. 299
So also möchte man offenbar in gewissen Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft und in gewissen Redaktionen deutsche Geschichte wieder schreiben können! Das wäre wohl für diese Kreise der Durchbruch zur geschichtlichen Wahrheit! Doch weiter im »Welt«-Text: »Nicht die Deutschen, sondern die Amerikaner waren es, die den >totalen< Krieg, die >totale< Feindschaft erfanden, mit all den bösen Folgen im 20. Jahrhundert.« Das »Unheil für die Deutschen« kam erst, als sie »auch so werden wollten, wie all die anderen«. Das Vorbild der anderen habe »leider Schule gemacht, und es ist den Deutschen nicht gut bekommen. Aber die Trauer und die Verstörung darüber sollten sie nicht dazu verführen, sich von nun an und bis in alle Ewigkeit als Helotenvolk aufzuführen. Ihre Geschichte verurteilt sie dazu nicht. Wollen sie sich von Habermas und Co. dazu verurteilen lassen?« Dieser »Welt«-Pankraz läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, wo die Goebbels-Tradition noch in voller Blüte steht. Wer kann nach solchen Ergänzungen und Vollendungen der professoralen geschichtsrevisionistischen Thesen noch zu behaupten wagen, Habermas habe keinen Grund zur Besorgnis, er habe Tendendenz diagnostiziert, die es in Wirklichkeit gar nicht gäbe? Und wer kann sich darüber wundern, daß man im Ausland - und besonders in der Deutschen Demokratischen Republik - diesen steinzeitlichen, aggressiven Deutschland-über-alles-Nationalismus, der da in der BRD eruptiv hochkommt, ungeheuerlich und erschreckend findet? Ungeheuerlich und erschreckend, - aber dennoch nicht überraschend! Erstens, weil vorherzusehen war, daß die Wendepolitiker nicht darauf verzichten würden, ein Geschichtsbild zu fordern und zu fördern, das ihre gewachsenen Ansprüche hinsichtlich der Rolle der BRD in der Weltpolitik abstützt und legitimiert. Und zweitens hat dieser jetzige geschichtsrevisionistische Vorstoß eine ziemlich lange Vorgeschichte. Nolte hat ausnahmsweise Recht, wenn er immer wieder betont, daß er die Ansichten, die jetzt zum Auslöser der Historiker-Debatte wurden, doch schon seit langem vertreten habe. Wer das schon 1963 erschienene Werk, das ihn mit einen Schlage in den Rang eines führenden Faschismusexperten erhob, (»Der Faschismus in seiner Epoche«) aufmerksam las, dem mußte schon damals klar sein, daß hier die Toterklärung des Faschismus benutzt wurde als Begründung dafür, den Antifaschismus als überholt und eine Behandlung des Faschismus von antifaschistischen Positionen aus als voreingenommen und unwissenschaftlich abzustempeln, gleichzeitig aber auch zur Begründung 300
einer Sympathiewerbung für den Faschismus als einer Erscheinung, die zu der »Untat« nicht durch ein »widermenschliches System«, sondern durch »nur allzu menschliche Sorgen und Ängste« geführt worden sei.6 Damals wurde das allerdings noch nicht so offen und geradezu herausgesagt, wie später, sondern hinter einem schwerdurchdringlichen Wort- und Begriffsverhau verborgen. Damals hieß es auch noch, mit der faschistischen Untat könne nichts in der Weltgeschichte verglichen werden - ein Dutzend Jahre später wird gerade der Vergleich die Brücke zur Leugnung der »Singularität« der »Untat«. Zu denen, die Noltes Buch aufmerksam gelesen, die Intentionen des Autors sehr wohl verstanden und die Brauchbarkeit des Mannes für die Zwecke einer nationalistischen Geschichtsrevision im Gewände hochintellektueller Wissenschaftlichkeit richtig erkannt hatten, dürfte auch Joachim Fest gehört haben, der mit seiner Hitler-Biographie und dem Hitler-Film selbst wichtige Marksteine dieser Revision gesetzt hat. Jedenfalls machte er Nolte seit Mitte der 70er Jahre zum geschichtsphilosophischen und historischen Starautor der FAZ; Fest war auch der Inspirator der brisantesten Themen, denen sich Nolte in der Folge zuwandte 7 , und ihm hauptsächlich dürfte Nolte es verdanken, wenn er von einem ernstzunehmenden Forscher zu einem Massenproduzenten verantwortungsloser Pamphlete zur Apologie der schlimmsten Erscheinung der deutschen und der Menschheitsgeschichte herabgesunken ist. (Um so mehr muß auffallen, daß Fest - von dem Georg Fülberth ganz offensichtlich zu recht feststellte, er habe »schon sehr früh in dieser Diskussion Regie geführt« [DVZ/die tat, Nr. 39 v. 26. September 1986] - selbst von den meisten linken Diskussionsteilnehmern mit einer kaum verständlichen Zaghaftigkeit angegangen wird, obwohl sein FAZ-Artikel wohl zum Schlimmsten gehört, was in dieser Diskussion von prominenten Autoren veröffentlicht wurde.) In seinem Buch: »Deutschland und der Kalte Krieg« (1974) erläuterte Nolte den von ihm geprägten Begriff der »Pluralität der Hitlerzeit« so: »In der Tat hat jeder bedeutende Staat der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte, seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt, und es hing nur von seiner Größe und seiner Situation ab, welche Folgen daraus für die Welt im ganzen resultierten.« Man fragt sich, weshalb sich nicht schon damals die heutige Debatte entzündete - ist in diesem Satz doch schon all das enthalten, worum es jetzt ging und geht. Tatsächlich gab es auch damals Proteste - aber sie kamen vorwiegend aus dem der BRD verbündeten und befreundeten Ausland. Nolte hatte sich nämlich nicht damit begnügt, eine »Hitler301
zeit« im »Stalinismus«, »Maoismus«, »Nasserismus« und »Sukarnismus« ausfindig zu machen, er fand sie auch im schmutzigen Krieg der USA in Vietnam und in den israelischen Massakern an Arabern. Daß solche Seitenhiebe in diese Richtung nicht unbeabsichtigte Ausrutscher waren, dafür spricht ihre Wiederholung in dem bereits zitierten »Pankraz«-Beitrag in der »Welt«. Aber das böse Echo, das damals aus Israel und den USA zurückscholl, vor allem aber das nun, 1986, verfolgte politische Ziel ließen es Nolte und Fest geraten erscheinen, den Ursprung aller »Untaten« des 20. Jahrhunderts auf eine einzige Erscheinung, den Bolschewismus, zurückzuführen.
Ü b e r das singulare Verbrechen und seine Ursprünge
Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprung in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten. (Karl Marx an Arnold Rüge im März 1843)
Überblickt man die Behandlung der Frage der Singularität der Naziverbrechen im Zeitraum etwa der letzten zwanzig Jahre durch Ernst Nolte und seine neokonservativen Mitstreiter, dann stellt man fest, daß sie von der vorbehaltlosen Anerkennung der Singularität, ja sogar der Unvergleichlichkeit dieser Verbrechen 1963 über die Infragestellung der Einmaligkeit in der Mitte der 70er Jahre 8 zur Umkehrung des Spießes verlief, nämlich zur Behauptung der Zweitrangigkeit der deutschen Verbrechen im Vergleich zu den mangels Beweis vermuteten oder auch ohne Beweis behaupteten »bolschewistischen Millionenmorden« (Hildebrand). Angedeutet oder aber auch deutlich ausgesprochen wurde auch, daß die jahrzehntelange widerspruchslose Akzeptanz der Singularitätsthese das Ergebnis der massiven »Reedukation« der Sieger gewesen, daß es aber nunmehr an der Zeit sei, die eigene Geschichte wieder selbst zu schreiben. 9 Die Mittel, mit denen die Neokonservativen eine hochbrandende Welle des neuen Nationalismus in Gang zu bringen suchen, die be302
wegte Klage über eine angebliche Diskriminierung der Deutschen durch die Sieger, die Erweckung von Selbstmitleid und Zorn über das jahrzehntelange Unrecht, das man angeblich habe ertragen müssen, und der Appell zur Beendigung dieses unwürdigen Zustandes, zum stolzen Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit -, all das ist ein Rückgriff auf Methoden, mit denen die »nationale Rechte« in der Weimarer Republik mit bekanntem Erfolg eine Massenbasis für ihre antidemokratischen und außenpolitisch abenteuerlichen Ziele zu gewinnen suchte. Ein ganz wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, daß die Deutschen damals in der Tat durch den Versailler Vertrag einem System nationaler Diskriminierung und Demütigung ausgesetzt waren, während sich die Neokonservativen heute sehr anstrengen müssen, um angesichts der tatsächlichen Rolle der BRD im westlichen Lager den Bundesdeutschen ein Gefühl der Minderberechtigung und Benachteiligung einzureden, indem z. B. von »Frageverboten für die Deutschen« gesprochen wird, oder davon, daß sie endlich die »Demutshaltung« aufgeben, den »aufrechten Gang« erlernen und aus dem Schatten Hitlers heraustreten müßten. Während Nolte, Fest und andere noch mit so verhältnismäßig zurückhaltenden Phrasen den neuen Nationalismus hervorzukitzeln suchen, fahren die publizistischen Multiplikatoren und Verstärker dieser Bemühungen gröberes Geschütz auf. In der »Welt« z. B. schrieb Pankratz in dem bereits zitierten Artikel folgende Sätze, (die im übrigen auch deutlich machen, daß die bevorzugte Zielgruppe dieser nationalistischen Indoktrination die junge Generation ist): »Da die bisherige >Schuldgeneration< politisch abtritt und allmählich wegstirbt, versucht man nun, den Enkeln und Urenkeln den Schuldbazillus einzuimpfen«. Die >Linken< wollten die (Bundes)-Deutschen >klein und häßlich* halten, »damit sie weiterhin physisch und psychisch erpressbar« blieben. Zunächst einmal wäre da zu sagen, daß das Erscheinungsbild des Durchschnitts-Bundesdeutschen bei seinen näheren und ferneren Nachbarn wohl kaum den Eindruck einer »Demutshaltung« und fehlenden aufrechten Gang hervorrufen dürfte, und daß dies auch nirgendwo erwartet oder verlangt wird, ebenso wenig wie von den DDRDeutschen. Wer der jungen Generation in der BRD einzureden sucht, irgend jemand in der Welt wolle die Schuld der Väter oder Großväter auch ihr aufbürden, betreibt verantwortungslose Aufhetzung für dubiose Zwecke. Eine ganz andere Frage ist, von welchen Empfindungen jugendliche Bundesdeutsche wie auch Bürger der DDR bei Betrachtung der deut303
sehen Vergangenheit bewegt werden. Festzustellen ist, daß die gleichen Leute, die - mit Habermas zu sprechen - den Deutschen die Scham über die finstersten Seiten deutscher Geschichte austreiben wollen, zugleich den mangelnden Stolz ihrer Mitbürger auf die großen Leistungen des deutschen Volkes beklagen. Aber eine Betrachtungsweise der eigenen Geschichte, die nur die Glanzpunkte zur Kenntnis nimmt und sich an ihnen berauscht, muß zu nationalistischem Größenwahnsinn führen und bereitet damit erneut jenen Boden vor, der es möglich gemacht hat, daß die faschistischen Verbrechen nicht nur von einer Handvoll von Sadisten, sondern auch von vielen Hunderttausenden normaler Durchschnittsdeutscher ausgeführt und vom ganzen Volk - mit Ausnahme der aktiven Antifaschisten und Hitlergegner - bis zum 8. Mai 1945 widerstandslos geduldet wurden. Wenn es je in der deutschen Geschichte einen bleibenden Grund zur Scham im Sinne des Marx-Zitates gegeben hat - dann in der Tatsache, daß das deutsche Volk es nicht vermocht hat, sich aus eigener Kraft von der faschistischen Verbrecherbande zu befreien. Wo diese Art von Zorn fehlt, da fehlt ein wichtiger, ja unentbehrlicher Antrieb zur Schaffung von Verhältnissen, die eine Wiederholung der schmachvollen Vergangenheit nicht zulassen. Die zunehmend ablehnende Reaktion auf den neokonservativen Revisionsvorstoß erlaubt die Feststellung, daß dieser nicht den vollen Druchbruch erbracht hat; das war aber wohl auch gar nicht erwartet worden. Es sollte wohl zunächst nur erreicht werden, den Boden aufzubrechen, die Aufnahmebereitschaft für den nächsten geschichtsrevisionistischen Vorstoß in einer breiten Öffentlichkeit vorzubereiten 10 , und dies schient in der Tat erreicht worden zu sein. Die Debatte um diese Frage hat aber auch echte Probleme aufgeworfen und in gewisser Hinsicht auch Fortschritte gebracht. Das betrifft vor allem die Frage, welche Naziverbrechen gemeint sind, wenn von ihrer Singularität gesprochen wird. Nolte selbst hat mit seiner »Frage«, ob nicht der »Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz« gewesen sei, dafür gesorgt, daß zunächst nur über den »Rassenmord« diskutiert wurde. Eberhard Jäckel zum Beispiel, dessen Artikel in glänzender Manier die Haltlosigkeit der »abstrusen Assoziationsketten« Noltes abfertigt, bezieht die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen nur auf die »Endlösung«; der Mord an den Juden, so Jäckel, sei deswegen einzigartig gewesen, »weil . . . noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine besimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Be304
Schluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte«. Diese Einengung wurde im Verlauf der Diskussion aber von verschiedenen Teilnehmern - etwas von Rudolf Augstein, Hans Mommsen und anderen - durchbrochen, indem sie auch Massenmordaktionen an Polen, Russen, Zigeunern und die »Euthanasie«-Morde den einmaligen Verbrechen zurechneten. Wohl dadurch sah sich Nolte veranlaßt, in seinem zweiten Artikel deutlich auch von den »Vernichtungsmaßnahmen gegen Juden, Slawen, Geisteskranke und andere Gruppen« zu sprechen, ohne jedoch von seiner Position der Anfechtung der Einmaligkeit dieser Verbrechen abzugehen. Die Einschränkung der Singularitätsdebatte auf Auschwitz ist unbefriedigend nicht nur wegen der Beschränkung auf einen Teilausschnitt der faschistischen Verbrechen - auch wenn dieser Ausschnitt den mit der grauenhaftesten Konsequenz praktizierten Genozid vor Augen führt -, sondern auch, weil sie einen anderen wichtigen Aspekt außer acht läßt, der von Mommsen in den »Blättern« mit Recht hervorgehoben wurde: »Das eigentliche Problem« - schrieb er, »besteht doch darin, warum die vielen, die an der Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Lebensbereich, die am Anfang des >Holocaust< stand, aktiv beteiligt waren, sich der Mitwirkung nicht zu entziehen versucht haben, von der Mitgliedschaft in den Einsatzgruppen, der technischen Durchführung der Deportation, der Verwertung des jüdischen Vermögens und der Einschmelzung des Zahngoldes ganz zu schweigen.« Mommsens Antwort auf diese Frage fegt den Nebel Noltescher Mythen beiseite und gibt den Blick frei auf einen realen »kausalen Nexus«; es war der »antisemitisch garnierte Antibolschewismus der herrschenden Eliten« - so Mommsen -, der bewirkte, »daß das Programm des rassischen Vernichtungskrieges auf keinerlei ernsthaften Widerstand stieß, daß sich die Wehrmachtsführung vielmehr bereitwillig zum Komplizen der Ausrottungspolitik machte, indem sie den Komplex der verbrecherischen Befehle* selbst formulierte und deren Implementierung . . . keineswegs nur passiv unterstützte. Darüber einen engeren >kausalen Nexus< im Gehirn Hitlers zu konstruieren, heißt faktisch doch, von der maßgeblichen Mitverantwortung der militärischen Führung und der bürokratischen Eliten abzulenken.« Man muß indessen noch weitergehen. Die Einmaligkeit der Verbrechen des deutschen Faschismus ist nur dann voll zu erkennen und zu erklären, wenn man mit der Forderung, die Nolte nur vorgibt zu erfüllen, tatsächlich ernst macht, mit der Forderung nämlich nach ihrer komplexen Betrachtung durch Einordnung in die deutsche, die euro305
päische und in die Weltgeschichte. Tut man dies, dann springt ins Auge, daß das faschistische Deutschland einen Krieg vorbereitete und führte, der nicht nur gegen die mächtigsten Staaten der Welt, sondern gegen die beherrschenden Tendenzen der Weltgeschichte, gegen die mächtigsten sozialen und politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, gegen den sozialen Befreiungskampf der Arbeiterklasse und den Kampf der unterdrückten Völker um ihre nationale Befreiung und Selbständigkeit gerichtet war. In einer Epoche, in der die Oktoberrevolution das Ende des Zeitalters der Weltreiche und der kolonialen und halbkolonialen Unterdrückung und Ausbeutung eingeläutet hat, wollte das Deutsche Reich auf den Trümmern des britischen Weltreiches sein eigenes Weltreich, wollte es als Erbe des Britischen Empire und der unterworfenen europäischen Festlandskolonialmächte ein Kolonialreich von Afrika bis Indien errichten; wollte es dem europäischen Kontinent vom Atlantik bis zum Ural, vom Nordkap bis zur Ägäis eine »Neuordnung« aufzwingen, in der es nur einen Herrscher, Großdeutschland, und sonst nur Abhängige in vielfältiger Abstufung, von »verbündeten« Vasallen bis zu reinen Kolonien, genannt »Protektorat« oder »Generalgouvernement«, geben sollte; wollte es die Völker der Sowjetunion, die ihre sozialistische Revolution und deren Errungenschaften gegen die Drohung einer brutalen faschistischen Fremdherrschaft zu verteidigen hatten, niederwerfen und zu seinem unerschöpflichen Reservoir von Arbeitssklaven machen. Es genügt die Aufzählung dieser wahnwitzigen Ziele, um zu begreifen, daß ein Versuch zur Realisierung solcher Pläne von vornherein als Exekutoren eine Bande skrupelloser Gangster erforderte und eine Strategie der physischen Vernichtung aller Gegenkräfte, der inneren ebenso wie der äußeren. Daher - lange bevor der Krieg eröffnet wurde - der Vernichtungsfeldzug gegen alle aktiven Antifaschisten im Lande, und später, im Kriege, selbst gegen jene, die nur durch ein Wort, einen Witz die »Wehrkraft« zersetzten; daher ein Regime allumfassenden Terrors; daher aber auch eine Kriegsführung mit bisher einmaligen Methoden der Vernichtung der Träger nationalen Widerstandes unterworfener Völker sowie derer, die man sich aus rasseideologischen Gründen selbst zu Feinden gemacht hatte; und daher schließlich auch die bedenkenlose Auslöschung sogenannten »lebensunwerten Lebens«, eines Lebens also, das nicht als Kanonenfutter zu verheizen oder als Kanonenbauer zu verwerten war, sondern dessen Erhaltung nur Mittel verschlang, die die Führung für den Eroberungskrieg brauchte. Es liegt auf der Hand: die Einmaligkeit der Kriegsziele - einmalig für das 20. Jahrhundert! - zog unvermeindlich eine in der ganzen Weltge306
schichte einmalig mörderische Kriegsführung nach sich, weil, was im 17. bis 19. Jahrhundert noch mit »konventionellen« Mitteln erreicht werden konnte, im 20. Jahrhundert zutiefst anachronistisch geworden war - und daher von Anfang an Völkermord einkalkulieren mußte. Ist es nicht sehr merkwürdig, daß ein solcher »kausaler Nexus« wie der zwischen Ziel und Mittel dem Wahrheitsucher und Geschichtsphilosophen Nolte entgehen konnte, so daß er, um eine Erklärung ringend, keinen anderen Weg sah als einen Zusammenhang zwischen dem Orwellschen »Rattenkäfig« und Hitlers Ängsten zu konstruieren? Die Aufdeckung des Ziel-Mittel-Zusammenhangs führt folgerichtig zur Frage nach den Entstehungsbedingungen für ein derartiges Ziel eine Frage, die in der Debatte natürlich gar nicht auftauchen konnte, da die Frage nach den Kriegszielen des deutschen Faschismus erstaunlicherweise undiskutiert blieb. Welches diese Entstehungsbedingungen waren, das ist allerdings längst bekannt und sogar gerichtsnotorisch, nämlich das Streben deutscher Bank- und Industriemonopole nach grenzenloser Expansion, das Weltherrschaftstreben des deutschen Finanzkapitals. Mit anderen Worten: der Mutterboden des Faschismus und seiner Verbrechen ist der Imperialismus." Damit ist zugleich gesagt, daß angesichts der weiterentwickelten Massenvernichtungswaffen durchaus die Möglickeit und die Gefahr besteht, daß aus diesem imperialistischen Mutterboden noch viel schlimmere Verbrechen an der Menschheit hervorgehen können. Hiroshima und Nagasaki sind dafür grausige Menetekel. Es gab einmal eine Zeit, und sie liegt noch nicht gar so weit zurück, da das Aussprechen solcher Feststellungen in der BRD als Normalität im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion aufgenommen wurde. Das war, als das Wort Max Horkheimers, daß, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, vom Faschismus schweigen solle, weithin als ein orientierter Hinweis auf den Mutterboden des Faschismus akzeptiert war. Heute kann man nur mit Erstaunen feststellen, daß es der neokonservativen Geschichtsrevision immerhin gelungen zu sein scheint, diesen Satz entweder so sehr in Vergessenheit geraten zu lassen oder ihn so in Verruf zu bringen, daß kaum noch einer wagt, an ihn zu erinnern; mehr noch, es scheint Nolte, Fest und ihren Gesinnungsgenossen gelungen zu sein, ein Schweigegebot weitgehend durchzusetzen, das man in die Worte fassen könnte: »Wer vom Bolschewismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.« Vor zehn Jahren ging Nolte allerdings noch nicht ganz so weit, da formulierte er nur: »Wenn man keine besseren Argumente gegen den gegenwärtigen Kapitalismus vorzubringen hat, als daß er vor 50 Jahren 307
den Faschismus erzeugt hat, dann sollte man das Argumentieren lieber aufgeben.«12 Heute ist es aber schon so, daß jemand, der, wie Habermas, nur von der »Vertreibung der Kulaken« in der Sowjetunion spricht, statt, wie Nolte, vom »Klassenmord« und von der »Vernichtung von Millionen«, oder wie Hagen Schulze von der »Kulakenausrottung«, dafür wie ein Ketzer und Abtrünniger gebrandmarkt wird; Joachim Fest beschuldigt Habermas dieserhalb einer »schwerlich überbietbaren Verharmlosung« und Thomas Nipperdey kreidet Habermas schwer an, daß bei ihm »nebenbei. . . aus der Vernichtung der Kulaken ihre Vertreibung« werde; auch für Ernst Nolte hat sich Habermas völlig ins Abseits begeben: Über Habermas' »Vertreibung der Kulaken braucht nichts mehr gesagt zu werden«, so sein Verdikt. Diese Linienrichterschelte blieb bedauerlicherweise nicht ohne Wirkung auf Habermas. In seinem Artikel vom 7. November sah er sich aus welchen Gründen auch immer - veranlaßt, in einem einzigen Punkte - eben in diesem - sich zu »korrigieren« mit der Erklärung, »nicht Vertreibung, sondern Vernichtung der Kulaken sei die zutreffende Beschreibung diese barbarischen Vorganges«. Mir scheint, dieser Ausschnitt aus der Historiker-Debatte ist weniger bemerkenswert für die Positionsbestimmung des Philosophen Habermas als charakteristisch für ein Klima der Unduldsamkeit, das sich im Zeichen eines neu entfachten, primitiven Antibolschewismus in der BRD ausbreitet und die lautstarken Bekenntnisse zum Pluralismus in der Geschichtswissenschaft unglaubwürdig macht.
Wissenschaftlichkeit
und
Antibolschewismus
Zu ächten sind die Propagande des Krieges, des Hasses und der Gewalt. Es gilt, auf die Schaffung von Feindbildern gegenüber anderen Ländern und Volkern zu verzichten. (Aus der von Rajiv Gandhi und Michail Gorbatschow unterzeichneten Deklaration von Delhi über die Prinzipien einer Welt ohne Kernwaffen und Gewalt, November 1986).
Wollte man den schärfsten Opponenten Habermas' glauben, dann treibt sie nichts stärker an zu ihrem Widerspruch als die Sorge um die 308
von Habermas angeblich bedrohte Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung. Habermas betreibe »Gegenaufklärung«, vermische Politik und Wissenschaft, wobei die Wissenschaft auf der Strecke bleibe, so die Anklage von Klaus Hildebrand. Habermas' Ablehnung einer bestimmten - nämlich der Nolteschen Spielart des Revisionismus wird von Joachim Fest und anderen gegen ihn gekehrt mit dem Vorwurf, er lehne jeglichen Revisionismus und damit den Fortschritt der Wissenschaft ab: »Als ob die Wissenschaft, genauso wie das Denken überhaupt, nicht entweder dauernde Revision oder gar nicht ist.« (Fest). Ebenfalls gegen Habermas gewandt, bekennt sich Fest dazu, daß »der Historiker sich, anders als es in der Sozialwissenschaft vielfach üblich ist, an einen Zusammenhang nachprüfbarer Fakten gebunden sieht; sie sind der Grund, auf dem er steht«. Daß Nolte und Fest eben nicht auf solchem Grunde stehen, hat ihnen bereits Eberhard Jäkkel bescheinigt. Er bezeichnete als »Die elende Praxis der Untersteller« das Vorgehen dieser beiden und beschrieb es treffend wie folgt: »Statt Fragen zu stellen und Antworten zu geben, um sie alsdann zu überprüfen, werden Aussagen in Frageform vorgetragen, um anzudeuten, was nicht belegt werden kann oder soll, und wer bei dem Spiel ertappt wird, erwidert mit Empörung und unschuldiger Miene, man werde ja noch fragen dürfen. In Wahrheit aber war die Frage gar keine Frage gewesen, sondern eine verdeckte Aussage, und der scheinbare Fragesteller hatte sich nur der Mühe entzogen, sie zu begründen, und die Überzeugungsarbeit einiger verklausulierten Andeutungen überlassen.« Um von der Elendigkeit dieser Praxis einen plastischen Begriff zu bekommen, muß man sie wenigstens an ein paar Beispielen erleben. Zuerst bei Ernst Nolte; nachdem dieser darüber Klage geführt hat, daß die antibolschewistische Literatur der frühen zwanziger Jahre so wenig Beachtung gefunden habe, sei dort doch alles, was die »Nationalsozialisten später taten«, schon beschrieben, »mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung«, und nachdem er eingeräumt hat, daß wahrscheinlich viele dieser Berichte übertrieben gewesen seien, geht er zu der von Jäckel beschriebenen elenden Praxis über, indem er fortfährt: »Aber gleichwohl muß die folgende Frage als zulässig, ja unvermeidbar (!) erscheinen: Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische« Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer »asiatischen« Tat betrachteten?« Nun ist diese Frage zwar merkwürdig genug - (und weshalb Auschwitz dabei als »asiatische« Tat hingestellt wird, ist nicht einzusehen) 309
aber man kann natürlich keine, nicht einmal die dümmste Frage für unzulässig erklären; doch wenn Nolte schon eine solch abwegige stellt, dann müßte er sie auf Grund seines Wissens über Hitler und die wirklichen Ursprünge seines Antisemitismus auch ehrlicherweise mit dem gleichen klaren Nein beantworten wie Eberhard Jäckel dies wohlbegründet tat. Nolte plädiert aber ganz im Gegenteil nicht nur für die Zulässigkeit seiner Suggestivfrage, sondern erklärt sie gar als »unvermeidlich« ; indem er das tut, beantwortet er sie - wissentlich wahrheitswidrig! - »verdeckt« mit »Ja« - denn warum sollte sie sonst »unvermeidlich« sein? Nachdem er auf diese unredliche Weise den Pflock mit der Aufschrift: »Die Nationalsozialisten haben nur nachgemacht, was ihnen die Bolschewisten vorgemacht haben, und sie taten es nur um sich zu verteidigen«, erst einmal aufgestellt hat, rammt er ihn mit einigen weiteren »Fragen« gleichen elenden Kalibers fest ins Bewußtsein der Leser: »War nicht der Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz?« (Die elende Praxis besteht hier nicht nur darin, daß aus dem zeitlichen Vorhergehen ein ursächlicher Zusammenhang konstruiert wird, sondern daß durch das Hintereinanderstellen eine Gleichartigkeit als keines Beweises mehr bedürftig vorausgesetzt wird.) Und gleich darauf der nächste Rammschlag: »War nicht der >Klassenmord< der Bolschewiki das logische und faktische Prius des >Rassenmords< der Nationalsozialisten?« Mit dieser angeblichen Frage wird zugleich mit der wiederholten Kausalkonstruktion die Behauptung aufgestellt, die Beseitung der Kapitalistenklasse in der Sowjetunion sei durch die physische Liquidierung der Angehörigen der städtischen und ländlichen Kapitalisten (der Kulaken) erfolgt; wer, wie Eberhard Jäckel, darauf hinzuweisen wagt, daß dies ja wohl doch nicht stimme, und daß Nolte jeden Beweis für seine Behauptung schuldig bleibe, der wird mit moralischer Entrüstung der »Kaltherzigkeit« beschuldigt. (Nolte in der »Zeit« v. 31. Oktober 1986). Keineswegs von Sorge um die Wissenschaftlichkeit seiner Argumentation besorgt und auch nicht um seinen Ruf als Wissenschaftler zeigt sich Nolte gleichfalls bei der Begründung für seine Kennzeichnung der Oktoberrevolution als »asiatisch« im Unterschied zu den »europäischen« Revolutionen in England und Frankreich (Die Zeit v. 31. Oktober 1986): in den Revolutionen dieser Länder sei nur der Herrscher oder das Herrscherpaar hingerichtet worden, in der russischen Revolution dagegen die ganze Zarenfamilie und ihre Gefolge . . . Ganz abgesehen von der Absurdität eines solch willkürlichen »Kriteriums« zur 310
Charakterbestimmung von historischen Ereignissen stellt sich die Frage, ob Nolte in der westeuropäischen und deutschen Geschichte wirklich so unbewandert sein sollte, daß ihm nicht selbst gleich die Beispiele einfielen, die seine Argumentation entweder als unglaubliches Ignorantentum oder aber als schlimmste Demagogie bloßstellen. Schließlich noch ein Wort zu den Quellen, auf die sich Nolte bei seiner umstürzenden Geschichtsrevision stützt, nämlich zu den weißgardistischen antibolschewistischen Hetzschriften »der frühen zwanziger Jahre«. Wenn Nolte es als Mangel der bisherigen Literatur über den »Nationalsozialismus« betrachtet, daß diese Hetz- und Haß-Literatur von ihr nicht beachtet wurde, dann kann man daran ablesen, was in der BRD zu erwarten wäre an Geschichtsschreibung, wenn Noltes Maßstäbe allgemeingültig würden. Fast keiner der heute in der BRD Lebenden hat allerdings an diese antibolschewistischen Pamphlete noch eine eigene Erinnerung. Aber er kann sich dennoch ein ungefähres Bild von ihrem Quellenwert machen, wenn er sich die Methode der umgekehrten Betrachtungsweise vor Augen führt, mit der ihn die großbürgerliche und die Boulevardpresse über die Vorgänge in der Welt, z. B. zum Thema »Menschenrechtsverletzungen«, informierten: Mit einem Fernglas maximaler Vergrößerung nach Osten gerichtet, mit dem gleichen Fernglas, aber nunmehr umgekehrt, also mit maximaler Verkleinerung in Blickrichtung »freie Welt«: so kommt es dann, daß Millionen, denen das Recht auf Arbeit vorenthalten wird, Millionen, die in den reichsten Ländern der Welt als Obdachlose vegetieren, Millionen »Gast«-arbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und arbeiten müssen, in den westlichen Rechnungen über Menschenrechtsverletzungen überhaupt nicht auftauchen; daß über einen einzigen im Osten verhafteten sog. »Dissidenten« tage- und wochenlange Entrüstungs- und Protestkampagnen entfesselt werden, während die Ermordung von im Durchschnitt der letzten zwei Jahre drei Menschen täglich, die von den Bütteln des südafrikanischen Apartheitregimes erschlagen oder erschossen werden, sowie die dort landesüblich gewordene massenhafte Einkerkerung von Kindern höchstens einer Meldung in den Abendnachrichten für Wert erachtet wird. Diese umgekehrte Betrachtungsweise scheut auch nicht vor zynischster Heuchelei zurück, so etwa, wenn angeblich aus Gründen der Verteidigung der Menschenrechte, in Wahrheit zur Unterstützung der Konterrevolution, gegen Polen wegen der zeitweiligen Verhängung des Ausnahmezustandes einschneidende, die Versorgung der Bevölkerung schwerwiegend beeinträchtigende Sanktionen verhängt wurden, wäh311
rend gleichzeitig Sanktionen gegen das mörderische Apartheitregime in Südafrika und das menschenverachtende faschistische Pinochet-Regime in Chile abgelehnt wurden mit der scheinheiligen Begründung, durch Sanktionen werde nicht so sehr das Regime als die schuldlose Bevölkerung getroffen, während der wahre Gund ist, daß diese Regime so lange als möglich am Leben erhalten werden sollen, weil sie den ausländischen Kapitalanlagen den besten Schutz gewähren. Wenn sich die Medienkonsumenten in der BRD diese tagtäglich millionenfach vor sich gehende Desinformation bewußt machen, dann bekommen sie in etwa einen Begriff davon, was vom Wahrheitsgehalt der »Literatur« zu halten ist, auf die sich Noltes Argumentation stützt. Damit wollen wir uns dem zweiten Hauptvertreter der »elenden Praxis« zuwenden, dem FAZ-Redakteur Joachim C. Fest. Er knüpfte seine Scheinfragen an Noltes Behauptung vom »Klassenmord« an, so als handele es sich dabei um eine erwiesene Tatsache, in der Absicht, durch seine Noltes »vertiefende« Argumentation die letzten Zweifel an der behaupteten Gleichheit der »Vernichtungsqualität« von NS-Faschismus und »Bolschewismus« auszuräumen. Auf von ihm selbst zwecks »Widerlegung« bereitgelegte Einwände gegen diese Behauptung stellt er seinerseits in der schon bekannten Manier Behauptungen in Frageform auf, wie diese: »Kann man glauben, daß das Ausrottungswerk Stalins auf wesentlich andere, weniger administrative Weise vollbracht wurde?« und nach Erwähnung der in den faschistischen Vernichtungslagern vorgefundenen Bergen von Leichen, Schuhen, Brillen usw. stellt er die in ihrer Infamie kaum noch zu überbietende »Frage«: »Doch was berechtigt uns, zu denken, es habe der gleichen in den Mordfabriken der Stalinära nicht gegeben?. . . Sind nicht, aufs Ganze gesehen, die Vorgänge hier wie dort in den entscheidenden Merkmalen vergleichbar?« Wenn dies geschrieben werden kann und der Artikel, in dem Derartiges vorgetragen wird, von professionellen Historikern noch mit Lob bedacht wird - wie weit ist man dann in der BRD eigentlich noch von dem Geist entfernt, der aus den Plakaten und Hetzpamphleten der Antibolschewistischen Liga in den Jahren ach dem Ersten Weltkrieg sprach? Und wenn es erlaubt ist, Lenin und Sinowjew als »Beweis« für den bolschewistischen »Klassenmord« ohne jeden Beleg zu »zitieren« 13 , ohne daß ein solches Verfahren als wissenschaftsfremd zurückgewiesen wird - dann muß die Frage erlaubt sein, ob es tatsächlich schon wieder so weit ist in der BRD, daß jegliches gegen Kommunisten und sozialistische Staaten erhobene Beschuldigungen von vornherein als wahr unterstellt werden und deshalb nach Beweisen nicht mehr gefragt wird. Wenn es jemand so scheinen 312
mag, als sei dies eine überempfindliche Reaktion, dann darf daran erinnert werden, daß nicht erst im Dritten Reich, sondern schon in den Anfängen der Weimarer Republik kommunistische Führer wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg einer zügellosen Hetze, die alle Kommunisten zu Verbrechern abstempelte und zum Freiwild erklärte, zum Opfer fielen, weil nicht schon den Anfängen gewehrt wurde. Weiterer Beweis dafür, daß keineswegs die Sorge um die Wissenschaftlichkeit die Nolte, Fest, Hildebrand usw. zu ihrem Tun trieb, bedarf es wohl nicht. Worum es den Neokonservativen wirklich geht, das wurde in der Debatte von verschiedenen Seiten recht deutlich ausgesprochen. Habermas wies in seinem ersten Artikel darauf hin, daß Noltes »Theorie« den Vorzug böte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen - zum einen die Verharmlosung der Naziverbrechen, zum anderen den Hinweis auf die »bolschewistische Vernichtungsdrohung«, auf den »Feind, der immer noch vor unseren Toren steht«. Wie recht Habermas hat, bestätigte Nolte unfreiwillig in seinem zweiten Artikel (in der »Zeit« v. 31. Oktober), als er erläuterte, ihm sei es in seinem ersten Artikel darum gegangen, zu verhindern, daß die NS-Zeit zum »negativen Mythos vom absoluten Bösen wird, der relevanten Revisionen verhindert und damit wissenschaftsfeindlich wird, während er zugleich die politische Konsequenz in sich hat, daß diejenigen am meisten recht hatten, die am entschiedensten gegen das absolute Böse« kämpfen«, - also die Kommunisten! Da dies nicht sein darf, »vermenschlicht« Nolte die NS-»Untat« - und schafft zugleich den »negativen Mythos« von der Sowjetunion als dem absoluten, weil nicht abgeleiteten, sondern ursprünglichen Bösen. Dies bewirkt aber - Noltes eigener Logik folgend -, daß nunmehr diejenigen »am meisten recht hatten«, die am entschiedensten gegen dieses »absolute Böse« kämpften - also Hitler, Himmler und die ganze faschistische Brut. So weist denn auch Hans Mommsen ganz zu recht im »Merkur« darauf hin, daß Noltes Argumentation darauf hinausläuft, »alle irgendwie gegen den Bolschewismus gerichteten Handlungen als solche gerechtfertigt erscheinen« zu lassen. Er stellt ferner die Äußerungen Michael Stürmers, Hillgrubers und Noltes in den Zusammenhang der politischen Forderungen und Aspirationen, wie sie von Dregger formuliert und in Bitburg demonstriert wurden, wenn er schreibt, Bitburg habe die Ersetzung des Gedankens des alliierten Kreuzzugs gegen die Hitler-Diktatur durch den Gedanken des Kreuzzugs gegen die »Kommunistische Weltherrschaft« symbolisieren sollen. Die »Fragen« von Nolte und Fest stellen also objektiv die historische Untermauerung des Präsidenten-Wortes von der Sowjetunion als 313
dem »Reich des Bösen« dar, dessen Ende nicht mehr fern sei und dessen Untergang zu beschleunigen der Präsident zu Beginn seiner Präsidentschaft als eines seiner Hauptanliegen zu erkennen gab. Sie statten das alte, schon unansehnlich gewordene antibolschewistische Feindbild mit neuen grellen Farben aus und verhelfen der Kreuzzugsidee sowie der amerikanischen Ablehnung aller sowjetischen Abrüstungsvorschläge, dem Festhalten an den wahnwitzigen und nicht nur für die USA, sondern auch für ihre Verbündeten ruinösen SDI-Plänen zur so dringend notwendigen »wissenschaftlichen« Rechtfertigung. Daß diese antibolschewistische Kampagne 1986 zu bisher ungekannter Intensität auflief, ist nicht zufällig. Wenn es einen sympathischen Zug in den Arbeiten Noltes gibt, dann ist es der, daß er hin und wieder ganz offen zu erkennen gibt, welches Motiv zur Abfassung dieser oder jener abenteuerlichen Gedankenkonstruktion veranlaßt hat. So begann er vor Jahren einen den Antikommunismus propagierenden Artikel (»Antikommunismus gestern - heute - morgen«) mit dem offenherzigen Ansprechen dessen, was ihn beunruhigte und wogegen er mit seinem Artikel angehen wollte: »Der Antikommunismus ist, wie es scheint, seit einigen Jahren dabei, in Verruf zu geraten«; 14 in einem FAZ-Artikel zum Thema »Ökonomie und Politik« hielt Nolte genausowenig hinter dem Berg damit, welches Ärgernis ihn zu diesem inspiriert hatte, seine Beobachtung nämlich, daß »unzählige Studenten« mit »tiefer Befriedigung« die Zurückführung politischer Phänomene auf deren »ökonomische Wurzel« zur Kenntnis nahmen; 15 in einem weiteren Artikel »Despotismus - Totalitarimus - Freiheitliche Gesellschaft« verschwieg er ebensowenig, was ihm beträchtliche Sorgen bereitete, die Tatsache nämlich, daß sich unter der akademischen Jugend der BRD junge Leute fanden - ihre Zahl bezifferte Nolte gewaltig übertreibend auf fast die Hälfte der bundesdeutschen Studenten -, die sich »der Sowjetunion und der DDR weitaus stärker verbunden (fühlten) als ihrem eigenen Staat oder dem Westen«.16 Wie erst muß Nolte von jüngeren Ergebnissen von Meinungsumfragen in der BRD alarmiert worden sein, aus denen hervorgeht, daß infolge der Reaganschen Rüstungsbesessenheit und der dazu im positivem Kontrast stehenden sowjetischen Bereitschaft zu radikaler Abrüstung immer mehr Bundesbürger sich durch die amerikanischen »Beschützer« stärker bedroht fühlten als durch die angebliche »Bedrohung aus dem Osten«! Einer solchen Entwicklung der öffentlichen Meinung massiv entgegenzuwirken, dürfte eines der stärksten Motive für die antisowjetische Kampagne sein, als die sich die »Historiker-Debatte« von Seiten der 314
Neokonservativen immer deutlicher enthüllte. Und um das alles abzurunden, wurde dem bundesdeutschen Leser in der FAZ vom 22. August 1986 von deren Redakteur Günther Gillesen die alte Nazilüge vom Präventivkrieg mit der Behauptung vorgesetzt, neueste Forschungen hätten ergeben, daß mit seinem Überfall auf die Sowjetunion Hitler Stalin gerade noch zuvorgekommen sei! Die Gegenstimmen, die sie in der Geschichtsdebatte meldeten, lassen indessen hoffen, daß sich an den Geschichtsrevisionisten das Mehringwort erfüllen wird: »Man kann nicht oft genug wiederholen, daß jede tendenziöse Geschichtsschreibung mit dem gerechten Fluch belastet ist, diejenigen am härtesten zu strafen, denen sie am eifrigsten nützen will.« 17
Anmerkungen 1 Arbeiterkampf, H a m b u r g , v. 22. September 1986, S. 15. 2 Wolfram Schütte, Einspruch im N a m e n der Opfer, in: Frankfurter Rundschau v. 10. November 1986. 3 Susanne Miller, »Wende«-Zeichen auf dem Gebiet der Geschichte, in: Die neue Gesellschaft, Bonn, 9/1986. 4 Genau genommen war Habermas nicht der erste, der auf N o l t e und Hillgruber reagierte, aber doch derjenige, dessen Erwiderung von durchschlagender W i r k u n g war. Michael Brumlik setzte sich in der »tageszeitung« (taz) v. 12. Juli 1986 unter der Überschrift: »Neuer Staatsmythos O s t f r o n t . Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der B R D « mit Hillgrubers Publikation »Zweierlei Untergang« auseinander, deren Quintessenz er darin sah, daß das Durchhaltedenken Himmlers der neue Staatsmythos der Bundesrepublik werden sollte. N o c h früher, am 26. Juni, hatte die FAZ einen Vortrag veröffentlicht, den der Präsident des bundesdeutschen Historikerverbandes, Christian Meier, in Tel Aviv - offenbar nach der Veröffentlichung des Nolteartikels - gehalten hatte; denn Meiers Vortrag zielte darauf ab, die Noltesche Leugnung der Singularität der Naziverbrechen zurückzuweisen, o h n e auf Noltes FAZ-Artikel direkt einzugehen; zugleich aber forderte er seine israelischen Zuhörer auf, es den Bundesdeutschen nicht zu schwer zu machen bei ihrem Versuch, sich zu ihrer Geschichte »wieder in ein besseres Benehmen zu setzen«. D e r Titel seines Vortrages lautete dann auch: »Verurteilen und Verstehen. An einem Wendep u n k t deutscher Geschichtserinnerung.« Die Reaktion seiner israelischen Gastgeber dürfte sein Gespür dafür, wie weit die »Wende« auf dem Gebiete der Geschichtswissenschaft vorangetrieben werden kann und wo sensible Grenzen markiert sind, die besser nicht tangiert werden, geschärft haben. 5 Man vergleiche dazu z. B. seine Artikelsammlung in: Ernst Nolte, Was ist bürgerlich? und andere Artikel, Abhandlungen, Auseinandersetzungen, Stuttgart 1979. 6 Sympathie sei nach der klassischen deutschen Geschichtsschreibung eine unabdingbare Voraussetzung der Objektivität, f ü h r t e N o l t e in seinem Buche (S. 24) aus, um dann in der von ihm beliebten Frageform seine positive Ansicht zu formulieren: »Wenn aber dem Faschismus die Aufrichtigkeit und Wirkungsmacht der subjektiven Zwecksetzung nicht abgestritten werden soll, m u ß dann nicht notwendig jene Sympathie zurückkehren?«.
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7 N o l t e selbst verweist im Vorwort seines Buches »Was ist bürgerlich?« darauf, daß die A n r e g u n g zu den d o r t veröffentlichen FAZ-Artikeln von J o a c h i m Fest k a m . 8 Am 10. Juli 1976 erschien in der FAZ ein Artikel von N o l t e z u r E r l ä u t e r u n g des von ihm geprägten Begriffes der »Epoche des Faschismus«, in dem er schrieb: »Aber es ist mir inzwischen viel klarer als zu Beginn der 60er Jahre, d a ß dieses (nationalsozialistische) Vernichtungspostulat o h n e die ältere Vernichtungsprophetie des M a r x i s m u s nicht verständlich ist. Wenn es eine Wurzel des gesellschaftlichen Unheils dieses J a h r h u n d e r t s gibt, dann liegt sie darin, d a ß starke Parteien auch des Westens an dieser Vernichtungsprophetie und an dem keineswegs spezifisch marxistischen, sondern uralt-sozialreligiösen Strebens nach der A u s r o t t u n g der >Wurzel des Übels<, d. h. nach >der< A b s c h a f f u n g >des< Privateigentums festhielten.« (Zit. nach: Ernst N o l t e , Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg. Vorträge u n d Aufsätze 1964-1976, D e u t s c h e Verlagsanstalt Stuttgart, 1977, S. 380). 9 Auf eine derartige A r g u m e n t a t i o n bei N o l t e weist H a b e r m a s in seinem Artikel hin. Siehe dazu auch H e l l m u t Diwald, »Immer noch schlechte Zeiten f ü r den aufrechten G a n g « , in D i e Welt, 30. August 1986. 10 D a f ü r spricht folgender Satz im Schlußteil des Festartikels: »Fragen jedenfalls ü b e r Fragen, und es soll in diesem R a h m e n keine A n t w o r t , in welcher R i c h t u n g auch immer, insinuiert werden. Viel eher geht es d a r u m , Zweifel an der m o n u m e n t a l e n Einfalt u n d Einseitigkeit der vielfach herrschenden Vorstellung ü b e r die vorbildlose Besonderheit der N S Verbrechen zu wecken.« Inzwischen ist aber o f f e n b a r geworden, daß die Wendepolitiker das Eisen schmieden wollen, solange es heiß ist. Vor allem Franz Josef Strauß hat dies mit bajuwarischer Gradlinigkeit ausgesprochen, und zugleich o h n e Scheu zu erkennen gegeben, welche u n d wessen Interessen die U m s c h r e i b u n g der Geschichte e r f o r d e r n , als er erstmals im Z u s a m m e n h a n g mit der U - B o o t - B l a u p a u s e n - L i e f e r u n g nach Südafrika u n d seitd e m in Serie forderte, »Wir« m ü ß t e n endlich aus dem Schatten Hitlers heraustreten, um ebenso unbefangen wie die anderen Waffengeschäfte überallhin m a c h e n zu k ö n n e n . D a ß er diese F o r d e r u n g mit d e r Sorge um die Arbeitsplätze begründet, ist nicht originell. Diese A r t A r b e i t s b e s c h a f f u n g u n d ihre Folgen sind n o c h nicht vergessen. 11 Wer dagegen einwenden m ö c h t e , d a ß die deutschen Kriegsziele im Zweiten Weltkrieg allein Hitlers Kopf entsprungen seien, der sei daran erinnert, daß, was sich in Hitlers Kopf befand, großenteils schon vor dem Ersten Weltkrieg durch die Schriften der Alldeutschen d o r t hineingepflanzt w o r d e n war, z. B. durch eine 1895 erschienene Schrift: » G r o ß d e u t s c h land und Mitteleuropa um das Jahr 1950. Von einem Alldeutschen.« D a r i n f a n d sich folgende Z u k u n f t s v i s i o n : »Der großdeutsche B u n d ist ein deutscher Volksstaat, der die g r o ß e M e h r h e i t der in E u r o p a z u s a m m e n l e b e n d e n D e u t s c h e n u m f a ß t , der nicht ausschließlich von D e u t s c h e n b e w o h n t , aber ausschließlich von D e u t s c h e n beherrscht w i r d . . . . D a d u r c h , d a ß die Deutschen allein politische Rechte ausüben, im H e e r und in der Marine dienen u n d G r u n d b e s i t z erwerben k ö n n e n , erlangen sie das im Mittelalter v o r h a n d e n e Bewußtsein wieder, ein H e r r e n v o l k zu sein. Sie dulden die unter ihnen lebenden F r e m d e n gern z u r A u s f ü h r u n g der niederen H a n d a r b e i t e n . « (S. 48). 12 N o l t e , Marxismus, S. 207. 13 ». . .Lenin verlangte, die russische E r d e von den >Hunden und Schweinen der sterbenden Bourgeoisie< f r e i z u m a c h e n , u n d S i n o w j e w (sprach) u n g e r ü h r t ü b e r die Auslöschung von zehn Millionen M e n s c h e n . . .« (FAZ v. 29. August 1986). 14 N o l t e , Was ist bürgerlich?, S. 67. 15 E b e n d a , S. 25. 16 E b e n d a , S. 127. 17 F r a n z Mehring, D e r rote Faden der preußischen Geschichte, in: F r a n z Mehring, G e sammelte Schriften, Bd. 5, Z u r deutschen Geschichte bis z u r Zeit der Französischen Revolution 1789, Berlin 1964, S. 370.
316
Arno
Klönne
Historiker-Debatte und „Kulturrevolution von rechts"
Bei oberflächlicher Betrachtung mag das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen als Beleg dafür gelten, daß eine „Rechtsaußen"-Position in der Bundesrepublik keinen ernstzunehmenden Einfluß erreichen könne. Der Blick auf die Veränderungen in der politischen Kultur, die sich seit einigen Jahren hierzulande vollziehen und die nun auch in wahlpolitischen Argumenten Ausdruck fanden, muß freilich zu einer weniger optimistischen Einschätzung kommen. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit" hat mit den kritischen Hinweisen von Jürgen Habermas auf „Revisionen" geschichtswissenschaftlicher Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit eine Debatte ausgelöst, die an den Tag brachte, daß die „Entsorgung" bereits weiter vorangeschritten ist, als es auch Habermas selbst zunächst erschienen war. Ernst Nolte und seine Mitrevisionisten greifen aber nur eine Geschichtssicht auf, die unterhalb der seriösen Wissenschaft längst Verbreitung gefunden hat. Nicht ohne Grund konnte die Zeitschrift „Deutschland in Geschichte und Gegenwart", zu deren Autoren auch Alfred Schickel gehört, kürzlich konstatieren: „Es ist eine Frage der Zeit, wie lange die . . . Sicht der Siegerpropaganda sich noch in den Reden der Politiker, insbesondere des Bundespräsidenten halten kann." Bezeichnend ist, daß die Mitarbeit an dieser Zeitschrift (die vom Verfassungsschutzbericht - wie lange noch? - als rechtsextremistisch eingestuft wird), für Schickel als Leiter der „Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt" keine Zugangsschwierigkeiten etwa beim „Bayernkurier" mit sich bringt. „Die Zeit" hat in ihrer Ausgabe vom 9. Januar 1987 über die Alte/ Neue Rechte „im Halbdunkel von Literatur und Publizistik" informiert. Allerdings ist zu fragen, ob es wirklich nur mißbräuchliche Nutzung ist (wie „Die Zeit" meint), die „rechtsextreme Publizistik einflußreichen Wissenschaftlern und angesehenen Verlagen" angedeihen läßt. Zu befürchten ist, daß hier inzwischen ein breites Feld von inhaltlichen Übereinstimmungen entstanden ist. Der Begriff „Rechtsextremismus" 317
erweist sich dabei als unscharf, weil er den Anschein erweckt, es handele sich um „Außenseiter der Gesellschaft", die da ideologisch tätig werden; tatsächlich geht es aber eher um Rechtsentwicklungen in der politischen Stammkultur der Bundesrepublik. Es liegt nahe, daß vor allem die Unionsparteien durch das Vorrücken einer kulturellen und ideologischen Neuen Rechten (die an die westdeutsche Alte Rechte anknüpft, aber diese nicht einfach nur fortsetzt) vor die Frage gestellt sind, wie sie darauf zu reagieren gedenken. Die Repräsentanten der CSU haben auf ihre Weise Antworten gegeben. Rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, so hat zunächst Franz Josef Strauß formuliert; der CSULandesgruppenchef Theo Waigel sagte es dann etwas anders: Die CSU müsse das, wie er es nennt, demokratische Protestpotential von 10 bis 15% der Wähler am Rande des Spektrums rechts erreichen. Und schließlich hat Franz Josef Strauß noch einmal nachformuliert: Die CSU müsse den Bereich „von links der Mitte über die Mitte nach rechts bis zur Grenze des demokratischen Spektrums" abdecken. Die CSU-Führung hat auch die Signale dafür gesetzt, wie die parteipolitische Einbindung des Potentials „am Rande des Spektrums rechts" bewerkstelligt werden soll: Es soll Schluß sein mit der, wie Strauß sagt, „Selbstdemütigung der Deutschen"; diese dürften nicht als „Dauersteher an der Klagemauer fungieren". Dauernde Vergangenheitsbewältigung „lähme" ein Volk. Und Waigel hat hinzugefügt: Die CSU müsse wieder als „Richtungspartei" wahrnehmbar werden; ihre Grundsatzpositionen, so etwa beim Asylrecht, beim Demonstrationsstrafrecht und bei der Außenpolitik müßten deutlicher herausgestellt werden, um das Protestpotential rechts integrieren zu können. Das klingt kalkulatorisch, und es paßt in jedes gedankliche Mischmuster von abgesunkener Kommunikationswissenschaft und Marketing, das heutzutage Wahlstrategien beherrscht. Da werden Begriffe besetzt und zum eigenen Angebot gemacht, um Wähler einzubinden; aber es wird dabei leicht übersehen, daß solche Begriffe ihre eigene Dynamik haben, daß sie ihrerseits Politik besetzen und Parteien binden können. Die intellektuellen Wortführer des von Theo Waigel gemeinten rechten Protestpotentials nehmen partei- und wahlstrategische Überlegungen nicht allzu wichtig, jedenfalls sehen sie hier nicht das Terrain, auf dem zur Zeit die Machtverhältnisse verändert werden könnten. Bei der Neuen Rechten, aber auch bei Teilen der Alten Rechten in der Bundesrepublik wird inzwischen ganz überwiegend langfristig gedacht und geplant, und das heißt eben auch: Man ist hier nicht mehr auf den 318
kurzfristigen Organisationserfolg der eigenen Gruppe, nicht mehr auf die Geschlossenheit des eigenen Milieus und Weltbildes fixiert, sondern man verhält sich kulturrevolutionär, man betreibt Ideenpolitik, stellt dafür publizistische Infrastrukturen her, sucht Kontakte und Bündnisse, öffnet sich und vereinnahmt zugleich, zielt eine ideologische Hegemonie als Bedingung für die Neuverteilung der Positionen im Feld der organisierten Politik an. Die Entwicklung der Publizistik „am rechten Rande des Spektrums", um bei dieser Kennzeichnung zu bleiben, läßt seit einer Reihe von Jahren deutliche politische Strukturveränderungen erkennen: Abkehr vom
Traditionalismus
Erstens stellt sich eine Abkehr vom plumpen oder dumpfen Traditionalismus im Stile der Harzburger Front, der Mischung von deutschnationalen und nazistischen Motiven also, jedenfalls bei jenen Zeitschriften oder anderen Veröffentlichungen heraus, die sich an die nachwachsende Generation wenden. Statt dessen wird die Verbindung zum wissenschaftlichen Diskurs gesucht und zugleich werden Themen aufgegriffen, die dem öffentlichen Verständnis nach eher als grün-alternativ oder links gelten, wie etwa ökologische Probleme, Kapitalismuskritik, Technikkritik, Kritik am Rüstungswettlauf oder an den Supermächten. Allerdings ist hier gleich anzumerken: Das öffentliche Verständnis leidet in diesem Punkte unter Erinnerungslücken, denn so verwunderlich sind solche Themen als rechte Themen keineswegs. Es gab und gibt nicht nur die noch am ehesten wahrgenommenen Berührungspunkte zwischen einer altkonservativen und einer grün-alternativen Unmutshaltung gegenüber dem Industriesystem, sondern es existieren auch lebensreformerische, naturschützerische und antikapitalistische Beimischungen in der Gedankenwelt der sogenannten konservativen Revolution vor 1933, auch im Ideologiegemisch des historischen Faschismus oder Nationalsozialismus. Die kulturrevolutionär gesonnene Neue Rechte in der Bundesrepublik (wie übrigens auch in Frankreich und in Italien) ist in hohem Maße philosophisch interessiert, setzt Philosophie als Waffe im - wie sie es versteht - Krieg um die Köpfe ein, und sie greift dabei vornehmlich auf die Überlieferungen der vorfaschistischen konservativen Revolutionäre zurück, auch auf Denker, die dieser Geistesrichtung Anregungen gaben oder die von ihr angeregt wurden. Das Thule-Seminar - beispielsweise - führt Friedrich Nietzsche 319
und Oswald Spengler, Julius Evola und Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Martin Heidegger, Konrad Lorenz und Carl Schmitt in seiner Ahnenreihe auf, und es versteht sich, daß von hier aus die Kontaktnahme zum herrschenden Wissenschaftsbetrieb leicht fällt, sehr viel leichter jedenfalls, als wenn sich eine neurechte Gruppierung auf Alfred Rosenberg berufen wollte, zumal dieser mit wissenschaftlichen Ritualen wenig vertraut war. Der Zugewinn an Intellektualität, den die Neue Rechte seit den 70er Jahren zweifellos aufweisen kann, bietet freilich keine Garantie gegen Rutschgefahren ins faschistische Denken. Das Thule-Seminar als Beispiel genommen: Gewiß geht es hier gedanklich feiner zu als bei der NPD, aber der Bruch mit den Grundrechtsideen der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik ist in der Thule-Metapolitik vielfach radikal vollzogen, so mancher Nationaldemokrat könnte das Fürchten lernen, wenn er verstehen würde, was neurechte Philosophie hier im Schilde führt.
Die
Grenzen der „Lager" verschwimmen
Ein zweites Kennzeichen des Strukturwandels im rechten Teil des politischen Spektrums: Der „Lagercharakter", der für die Alte Rechte in der Bundesrepublik weithin bezeichnend war, löst sich bei der Neuen Rechten auf, die Grenzziehungen zwischen den verschiedenen Richtungen des rechten Potentials geraten ins Schwimmen, die Schranken in der Kommunikation zwischen Konservativen und Rechtsextremen, Neokonservativen und Neuen Rechten, mitunter aber auch zwischen Neuen Rechten und Grün-alternativ-Linken werden niedriger oder entfallen ganz. Dieser Vorgang hat damit zu tun, daß die Neue Rechte sich weniger borniert gibt als es die Alte Rechte in der Bundesrepublik früher tat; aber mehr noch spielt hier mit, daß in jenen politischen Potentialen, die, parteipolitisch gesprochen, mit den Unionsparteien beginnend zur Mitte hin und von dort aus nach links reichen, in zunehmendem Umfange Argumente und Positionen gesprächsfähig werden, die bis vor kurzem noch als extremistisch galten oder wegen ihrer Verwandtschaft zum Faschismus bzw. Nationalsozialismus mit einem Tabu belegt waren. In dieser Hinsicht verlagern sich ganz offensichtlich die Maßstäbe zugunsten der Rechten; es steht ja nicht ein für allemal fest, was in einer Gesellschaft als „rechter Rand des Spektrums" definiert wird. 320
Der Bochumer Politikwissenschaftler Bernard Willms, der seit seinem 1982 erschienenen Buch „Die deutsche Nation" zum führenden Theoretiker des westdeutschen Neonationalismus aufgestiegen ist, hat in der Lageeinschätzung durchaus recht, wenn er schreibt: „Heute kann man in Deutschland auf eine Weise von der Nation reden, die vor ein paar Jahren noch nicht möglich war. Im politisch-geistigen Spektrum verschiebt sich das, was man, leichtfertig mit dem Wort, als rechtsradikal abtun kann, eben nach rechts." Für Willms, der naheliegenderweise den Begriff „rechtsradikal" nicht mag, dessen heutige Ideen ihm selbst aber wohl vor fünfzehn Jahren noch als rechtsextremistisch erschienen wären, ist „die Existenz der Nation das unumgänglich Erste", für ihm gibt es „keine Idee über der Idee der Nation, keine der Nation übergeordneten Prinzipien, schon gar keine moralischen". Identität liegt für Willms „in der Nation, nicht in der Verfassung". Der, wie er sagt, „sogenannte Antifaschismus" ist für Willms „kollektiver Selbsthaß, identitätsstörend", die moralische Verurteilung der Verbrechen des Nationalsozialismus ist für ihn nichts weiter als „eine Waffe im fortgesetzten Versuch zur Niederhaltung der Deutschen als Nation", die „Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland mit anderen Mitteln". Wer die Reden und Publikationen von Bernard Willms liest, der muß verwundert sein darüber, daß die Historiker-Kontroversen über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit als Auffälligkeit in Erscheinung treten konnten. Ohne die Bedeutung eines geschichtswissenschaftlichen Revisionismus im Hinblick auf das Dritte Reich zu unterschätzen, läßt sich doch feststellen: Die Aufforderung, um der „nationalen Identität" willen die „Wunde Hitler" zu schließen, ist von Willms früher, effektvoller und radikaler unter die Leute gebracht worden als von irgendeinem der westdeutschen Historiker, und die von Willms vertretene Position wurde weithin als durchaus legitim und annehmbar oder doch wenigstens nachdenkenswert anerkannt. Um dies an publizistischen Verfahrensweisen deutlich zu machen: Willms konnte und kann seinen radikalen „nationalen Imperativ" in Zeitschriften verkünden, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingeordnet werden, aber auch in der Tageszeitung „Die Welt" und in einer Schrift des unionsnahen Studienzentrums Weikersheim, und die NPD-Studentenzeitschrift belobigt Willms und seine Auffassungen ebenso wie die „Frankfurter Allgemeine". Ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die Trennlinie zwischen dem konservativen und dem rechtsextremen, dem neokonservativen und dem neu-rechten politischen Diskurs sich verflüchtigen, ist die 321
leseleicht gemachte und gut bebilderte rechte Monatszeitschrift „Mut", keineswegs eine bereits vergangene „Jugendzeitschrift" (wie „Die Zeit" neulich schrieb). In dem 1984 von Bundesinnenminister Zimmermann vorgelegten Verfassungsschutzbericht findet sich die Zeitschrift „Mut" noch unter der Rubrik „Rechtsextremistische Publikationen" ; inzwischen wird sie dort nicht mehr aufgeführt. Nicht so, als hätte die Zeitschrift ihre alten Mitarbeiter und Ideen verdrängt, aber sie hat neue Autoren hinzugewonnen, und als „Mut"-Mitarbeiter treten nun neben Bernard Willms, Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Alfred Schickel, Günther Zehm, Hellmut Diwald, Armin Möhler und Klaus Hornung auch auf: der langjährige Wissenschaftspolitiker der SPD, Ulrich Lohmar und der kürzlich verabschiedete bayerische Kultusminister und Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Hans Maier. Das New-Age-Informationsblatt „Trendwende" empfiehlt seinen Lesern die Zeitschrift „Mut" als Ausdruck „globalen Denkens und lokalen Handelns", womit gemeint ist: als Organ nationaler Identitätssuche, und die Tageszeitung „Die Welt" wirbt redaktionell für diese Zeitschrift mit dem Satz „Mut spricht den Deutschen Mut zu. Sie können ihn brauchen". Daß die westdeutsche Rechte bei ihren kulturrevolutionären Versuchen nicht ohne Erfolg bleibt, daß sie aus langjährigen Isolierungen herauskommen konnte, läßt sich auch im Verlagswesen und im Büchermarkt erkennen. Es wird, so meine ich, noch kaum hinreichend zur Kenntnis genommen, welch ein Wandel sich hier binnen weniger Jahre vollzogen hat. Die Alte Rechte war, bis in die 70er Jahre hinein, in ihrer politischen Buchpublizistik auf einige, auch in der konservativen Öffentlichkeit als extremistisch etikettierte Verlage eingegrenzt, ansonsten gab es eine verdeckte rechte Traditionspflege, die als nicht anstößig galt, am ehesten - und dort allerdings massenwirksam - in der Kriegserinnerungsliteratur. Heute hingegen haben auch extreme rechte Positionen viele Möglichkeiten, in Verlagen zum Zuge zu kommen, die nicht als politisch randständig gelten, und manche altrechten Verlage haben sich aus der einstigen Etikettierung lösen können, ohne deswegen nun auf ihre gewohnten Argumente zu verzichten.
322
Vielfalt und Arbeitsteilung im
rechten Spektrum
Ein drittes Merkmal struktureller Veränderungen bei der westdeutschen Rechten läßt sich wie folgt beschreiben: Die Vielfalt der politischen und ideologischen Optionen im rechten Teil des gesellschaftlichen Spektrums der Bundesrepublik ist heute weitaus größer als in den 50er und 60er Jahren; die Milieus, aus denen die Rechte sich rekrutiert und in denen sie sich bewegt, weisen größere Unterschiede auf; die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Rechten sind oft so tiefreichend, daß es kaum möglich erscheint, den rechten Konsens zu identifizieren. Nimmt man die Phänomene, so lassen sich nur schwer Gemeinsamkeiten erkennen zwischen den Kampfblättern des Dr. Frey und der sogenannten Metapolitik der Thüle-Zeitschrift „elemente", zwischen dem bildungsbürgerlich-rechten Periodikum „criticón" und dem Blatt der Schönhuber-Republikaner, zwischen der immer noch rechtstraditionalistischen Monatsschrift „Nation Europa" und dem nationalrevolutionären Blatt „Neue Zeit", zwischen der nachdenklichen Taschenbuch-Zeitschrift „Initiative" im Herder-Verlag und den aggressiven „Deutschen Monatsheften" im Türmer-Verlag. Und tatsächlich wäre es auch von der Substanz her falsch, all diese Publikationen mit ihren Texten und Autoren in eine große Schublade mit der Aufschrift „Rechtsradikalismus" oder gar „Neonazismus" zu schieben. Aber es gibt sehr wohl Schnittmengen der Politikauffassungen und der Weltbilder zwischen solch unterschiedlichen Publikationen, ihren Lesern und Mitarbeitern; es bestehen operative und personelle Querverbindungen, und es existiert kaum so etwas wie ideologische Berührungsscheu. Dem außenstehenden Beobachter bietet sich das Bild einer nicht unbedingt und nicht immer gewollten, aber doch funktionierenden Arbeitsteilung verschiedener Gruppierungen und Fraktionen einer rechtsgerichteten Fundamentalopposition in der Bundesrepublik, wohlgemerkt: einer auf die Umorientierung der politischen Kultur, der gesellschaftlich geltenden Grundwerte gerichteten Opposition; denn nur zum Teil setzt diese Rechte auch auf die Möglichkeit einer parteipolitisch-parlamentarischen Opposition; zum anderen Teil - oder auch mit der anderen Hand - geht es ihr um die ideologische Umwälzung in den Unionsparteien, mitunter auch um die Verpflichtung der Sozialdemokratie oder der Grünen auf den „nationalen Imperativ" in dem Sinne, wie ihn etwa Willms formuliert. 323
Das rechte Intelligenzblatt „criticón", das vor einiger Zeit auch die Zeitschrift „Konservativ heute" in sich aufgenommen hat, hält intensive Verbindungen zu Unionspolitikern und läßt es in der Schwebe, ob auf längere Sicht aus den Rechten neben der Union und den Ebennoch-Unionswählern eine neue parteipolitische Formation zu bilden sei. Als Drohung jedenfalls halten die ,,criticón"-Leute den Gedanken der Parteineugründung bereit, und speziell diesem Zweck dient auch der seit Herbst vergangenen Jahres erscheinende Informationsdienst „criticón aktuell", der den Unmut rechtskonservativer Kreise innerhalb oder außerhalb der Union mit der bisherigen Wendepolitik der Bundesregierung zu artikulieren weiß. Die Zeitschrift „criticón" läßt keinen Zweifel daran, daß aus ihrer Sicht mit Kohl als Kanzler kein deutscher Staat zu machen sei, und sie klagt nicht nur Kohl an, daß er dem entspannungspolitischen „Genscherismus" Spielraum zugestehe, sondern sie bezichtigt auch den CDU-Generalsekretär Geißler, der, so wörtlich, „sozialen Perversion", weil er Rita Süßmuth eine „radikal-feministische Familienpolitik" betreiben lasse. Die Zeitschrift „criticón" war es auch, in der Günter Rohrmoser, seinerzeit von dem CDU-Ministerpräsidenten Filbinger als Hausphilosoph nach Baden-Württemberg geholt, der Bonner Unions-Politik die Leviten las, woraufhin ihn Franz Josef Strauß als brillianten Analytiker würdigte. Rohrmoser schrieb, die Bonner Unionspolitik lasse die nationale Identität wie auch den christlich-bürgerlichen Familiensinn vermissen, die CDU - die CSU ließ er unerwähnt - sei dabei, „die alten und neuen Konservativen geistig und organisatorisch zu kastrieren". Eine Wende nach der Wende sei vonnöten - eine Art konservativer Revolution in der Christdemokratie. ,,criticón"-Mitarbeiter Wolfgang Hieber münzte die Kritik an der CDU in eine Absage an diese Partei um, und er bediente sich dafür der Monatszeitschrift „Nation Europa", die auch im neuesten Verfassungsschutzbericht noch als rechtsextremistisch bezeichnet wird und eher der NPD, den Republikanern oder der neuen „Deutschen Volksliste" des Dr. Frey nahesteht als den gegenwärtigen Regierungsparteien. Die CDU, so Hieber, werde unter dem heimlichen Vorsitz von Heiner Geißler zur sozialliberalen Wirtschaftspartei, die alles Konservative ausgrenze. Bezeichnend sei da Rita Süßmuth als „Emanze im Ministeramt", die eine Provokation für jeden bürgerlichen oder konservativen Wähler darstelle. Ebenso bezeichnend sei, wie Geißler mit seinem „menschenrechtlichen Missionsdrang" Chile, Südafrika oder Südkorea „belästige". Hinter der Fassade seiner Polemik gegen die Linke verwandele Geißler die CDU in eine „gemäßigte SPD", und dies alles sei 324
nichts anderes als eine „Fernwirkung der Frankfurter Schule". Hieber und „Nation Europa" berufen sich auf den CDU-Abgeordneten Jürgen Todenhöfer, der ja selbst gesagt habe, konservative Bürger würden sich von der Union abwenden, wenn diese - etwa in der Ostpolitik, in der Frauenpolitik, beim Demonstrationsstrafrecht - bei ihrem gegenwärtigen Kurs bleibe. Was in „Nation Europa" zwar nicht in der Sache, aber doch im Ton noch halbwegs moderat vorgebracht wird, übertragen die Wochenzeitungen des Dr. Frey - „National-Zeitung", „Deutscher Anzeiger" und „Deutsche Wochen-Zeitung" - in die Sprache der politischen Aggression. In der programmatischen Ankündigung einer künftigen „nationalen Sammlung", die später einmal auch parlamentarisch Einfluß nehmen soll, „Deutsche Volksliste" genannt, steht zu lesen: „Kohl betont die Absage an den deutschen Nationalstaat . . . Brandts verräterische Ostpolitik wird fortgesetzt, der Verzicht auf Ost- und Sudetendeutschland festgeschrieben. Noch nie wurden die Wehrlosesten der Wehrlosen, die Gefallenen und die Ungeborenen, so geschändet, noch nie waren sie so rechtlos wie jetzt. Weder hat Kohl den Abtreibungsmißbrauch bekämpft, noch hat er für den Ehrenschutz unserer Frontsoldaten und unserer Gefallenen gesorgt . . . Der Hetze gegen das deutsche Volk wird nicht entgegengetreten, sondern führende Unionspolitiker treiben diese Hetze auf den Höhepunkt. Richard von Weizsäcker propagiert eine Kollektivhaftung des deutschen Volkes, kommende Generationen eingeschlossen . . . Die Überfremdung hat sich weiter verstärkt. Die Zahl der Asylanten und vor allem der Scheinasylanten stieg seit der Zeit des Wendeversprechens um 400%. Kohl erweist sich als unfähig, die überfälligen gesetzlichen Maßnahmen durchzusetzen . . . Da die beschworene Wende ausgeblieben ist und die gegen die Lebensinteressen des deutschen Volkes gerichtete Politik fortgesetzt, ja verstärkt wird, muß jetzt gehandelt werden. Das Maß des Erträglichen ist übervoll." Soweit die Zeitungen des Dr. Frey. Handelt es sich hier um Äußerungen politisch abseitiger Krawallmacher? Der rüde Ton dieser Blätter darf nicht zu solchen Fehleinschätzungen veranlassen. Herr Dr. Frey ist nicht mit jenen Sektierern zu verwechseln, die der NSDAP nachträumen. Seine Wochenzeitungen haben laut Verfassungsschutzbericht eine Gesamtauflage von circa 130 000 Exemplaren. Dr. Frey und seine Leute schreiben nicht ohne Berechnung. Die vorhin zitierten Polemiken greifen politische Gefühle auf, die zum Teil auch bei den Unionsparteien Resonanz haben; sie radikalisieren Meinungen, die auch 325
manchem Unionspolitiker nicht fremd sind. Und eben darauf wird in den Frey-Zeitungen spekuliert. Es ist nicht einmal ausgemacht, daß die Kreise um Dr. Frey sich von einem künftigen Wahlaustritt der „Deutschen Volksliste" die Herausbildung einer selbständigen parlamentarischen Kraft versprechen; es kann sein, daß es hier mehr um eine Zweckgründung geht, darauf bedacht, die Unionsparteien durch rechten Konkurrenzdruck weiter nach rechts zu drängen . . .
Integration der Neuen Rechten ?
Was aber ist, wenn parteipolitische Strategien und ideologische Stellungnahmen in der gegenwärtigen westdeutschen Rechten, der alten oder neuen oder altneuen, vielfach weit auseinanderliegen, die gedanklich und praktisch zusammenhaltende Perspektive, das funktional einigende, gemeinsame Deutungsmuster, das vielversprechend und doch wieder diffus genug ist, Abstände zu überbrücken? Karlheinz Weißmann, einer der intelligenten Autoren in der westdeutschen Neuen Rechten, Mitarbeiter der Zeitschrift „Phönix", die sich selbst als jungkonservativ bezeichnet, hat kürzlich eine wohlinformierte Bestandsaufnahme der Entwicklungen in der deutschen Rechten nach 1945 publiziert. Weißmann zeichnet nach, wie ein liberal-technokratischer Konservatismus in der Bundesrepublik, der in Wirtschaftswunderzeiten und auch in der Reaktion auf die Neue Linke oder die Studentenbewegung einige theoretische Positionen besetzen konnte, im Grunde keine soziale Verankerung fand und angesichts neuer gesellschaftlicher Krisenerscheinungen an Gewicht verlor. Plausibel legt Weißmann dar, daß es wenig Sinn hat, in Analogie zu der gegenwärtig in den USA einflußreichen Strömung von einem Neo-Konservatismus in der Bundesrepublik zu sprechen. Zu tief seien die ideologischen Differenzen, zu unterschiedlich die historischen Anknüpfungspunkte. Der Satz, die Neo-Konservativen seien konservativ, weil sie liberal dächten, aber mit der Realität in Konflikt gerieten, sei bei unszulande nur in Ausnahmefällen zutreffend. Die Rekonstruktion des Konservatismus in der Bundesrepublik - so die Bezeichnung bei Weißmann, ich nenne es: die Herausbildung einer Neuen Rechten in vielen Varianten, diese Formierung also sei möglich geworden eben dadurch, daß gedankliche Traditionen wieder aufgegriffen wurden, die nicht durch Liberalität geprägt sind, die auch eher der Lebensphilosophie als dem Rationalismus zugehörig sind. Entscheidend aber, so Weißmann, sei für die Rekonstruk326
tion des Konservatismus in der Bundesrepublik die Erneuerung des nationalen Arguments gewesen, der Widerruf der Umerziehung, der Bruch mit der Vergangenheitsbewältigung, der Rekurs auf die Nation als die ausschlaggebende Größe. Die Renationalisierung des Konservatismus in unserem Lande erst habe das politische Potential neu mobilisiert, habe auch neue ideologische Frontverläufe mit sich gebracht, und an der Frage einer neuen deutschen Nationalbewegung, nicht etwa an der gemeinsamen Gegnerschaft zum Kommunismus oder der Abwehr der Linken, müsse sich das Verhältnis zwischen der konservativen Rechten und den Unionsparteien klären. „Renationalisierung" - dieser Begriff enthält nicht nur deutschlandpolitische, sondern mehr noch gesellschaftsphilosophische Dimensionen, er zielt auf politische Weltbilder ab, auch auf ein bestimmtes Geschichtsverständnis. Geschichtsverständnis: „für Antifaschisten kein Platz"
Der Umerziehung in Deutschland nach 1945 wird von der Neuen Rechten der Vorwurf gemacht, da sei den Deutschen die einzig denkbare Nationalphilosophie, das Selbstbewußtsein geraubt worden. Diese Sichtweise verbreitet sich derzeit in raschem Tempo in Gefilden der öffentlichen Meinung, die durchaus nicht als rechtsextremistisch gelten. Vierzig Jahre lang, so schreibt der Heidelberger Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt, sei in der Bundesrepublik auf „deutsche Sozialisation" verzichtet worden, seien deutsche Jahrgänge herangewachsen, die kein „Bewußtsein von ihrem Dasein als Deutsche vermittelt bekamen". Der CSU-Bundesabgeordnete Lorenz Niegel, bekannt geworden, weil er am 8. Mai 1985 der Gedenkstunde des Bundestages und der Ansprache des Bundespräsidenten unter Protest fernblieb, sagt es so: „Den Deutschen haben die Westmächte und Moskau die Identität gestohlen." Hans Wahls, Mitarbeiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, deren Geschichtsdeutungen immer mehr Akzeptanz finden, hat auf einer Tagung dieser Forschungsstelle die folgende Formulierung gefunden (und der sudetendeutsche „Witiko-Brief" hat sie verbreitet): „Die Umerziehung als psychotechnische Fortsetzung des Krieges hat die bis dahin ein Volk bildenden Deutschen in eine bloße Ansammlung von Individuen verwandelt, die zur Durchsetzung eines zielstrebigen politischen Willens im Eigeninteresse nicht mehr fähig 327
ist." Inzwischen aber, so Wahls im „Witiko-Brief" weiter, sei ein wachsender Teil der westdeutschen Bevölkerung der Dauerselbstgeißelung überdrüssig geworden. Ein Autor der Zeitschrift „Deutsche Monatshefte", deren Redaktion zu diesem Zeitpunkt bei dem ehemaligen „Welt"-Journalisten HansDietrich Sander lag, trieb dieserart Gedankengänge zu ihrer möglichen Konsequenz: „Im künftigen Deutschland ist für Antifaschisten kein Platz. Der Weg zur Selbstfindung der Deutschen geht über die Trümmer der KZ-Denkstätten." Und Hans-Dietrich Sander selbst schrieb anläßlich der Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Gedenkdatums 8. Mai: „Man kann den Eindruck haben, daß heute in den deutschen Teilstaaten ein gewaltiges Potential nur schläft, um sich zu erholen. Die Deutschen werden als Gläubiger erwachen. Zwischen den Verbrechen an den Deutschen 1944/45, deren Qualität und Quantität unanfechtbar sind, und den Vergaben der Deutschen 1933/45, gegen die immer Zweifel laut wurden, liegen Welten. Sie werden uns das gute Gewissen zurückgeben." Wie hier zu sehen ist, muß es nicht bei der schuldausgleichenden Relativierung der politischen Verbrechen des Dritten Reiches bleiben; es wird schon der nächste Schritt der Aufrechnung unternommen, bei dem die Gegenmächte Hitler-Deutschlands als Schuldner erscheinen. Nicht jeder, der heute dazu auffordert, die Deutschen müßten aus dem Schatten Hitlers heraustreten, wird Sanders Schlüsse teilen wollen. Aber der Drang danach, sich vom sogenannten Vergangenheitstrauma zu lösen, den Bruch mit der Umerziehung vorzunehmen, hat seine eigene Logik. Rückgriffe auf die Philosophie des Machtstaates
Die Rekonstruktion des Konservatismus als Renationalisierung - dieser Vorgang enthält aber für die neue deutsche Rechte auch den Rückgriff auf die politische Philosophie des Machtstaates. Der in Freiburg und Reutlingen lehrende Politikwissenschaftler Klaus Hornung schrieb neulich, nationalpolitische „Lähmung" sei das beklagenswerte Resultat des seit 1945 verbreiteten „Selbsthasses" vieler Deutscher, der „fortgesetzten Selbstanklagen". Oder, in einer Formulierung Filbingers: „Ein Volk, das ewig in der Schuldecke steht, ist politisch nur beschränkt handlungsfähig. Es ist in der Gefahr, Spielball im Kampf zwischen den großen Machtblöcken zu werden." 328
Hier wird auch der Kontext sichtbar, in dem Revisionen des Geschichtsbildes als Entsorgung der nationalsozialistischen Vergangenheit erst ihren Stellenwert erhalten. Es geht offenbar darum, die „gezähmten Deutschen", wie Hans-Peter Schwarz sie im Tone des Bedauerns genannt hat, wieder an die freie Wildbahn zu gewöhnen. In der Zeitschrift des Nationaleuropäischen Jugendwerkes, einer kleinen, aber ideologisch gewichtigen Gruppe der Neuen Rechten, schreibt Hans Henning Festge: „Solange diese Nation auf ihr Selbstbewußtsein verzichtet und freiwillig die gröbsten Anschuldigungen im Hochgefühl gerechter Buße auf sich nimmt, ist jeder Versuch, dem deutschen Namen wieder Weltgeltung zu verschaffen, ein aussichtsloses Unterfangen. Weltgeltung aber bedeutet: Macht und damit das Recht zum Überleben." Was aber kann „Überleben", was kann „Macht" hier meinen? Die Position der Bundesrepublik als Welthandelsgroßmacht ist offensichtlich gegeben, und da ist es wohl nicht angebracht, von einer deutschen „Fellachenmentalität im Schatten Hitlers" zu reden, wie dies der schon erwähnte renommierte Politologe Hans-Peter Schwarz tut. Wiederum ist zu bedenken, welche innere Logik das Verlangen nach einer neuen deutschen - und nicht nur ökonomischen - „Weltgeltung" haben kann. Das Thule-Seminar, der westdeutsche Zweig einer westeuropäischen Richtung der Neuen Rechten, die sich selbst als „metapolitisch" definiert, bietet hier eine Vision an, die durchaus ihren traditionellen und aktuellen Boden hat. „elemente", die Prachtzeitschrift dieser Gruppierung, die nun auch auf deutsch erscheint, verlegerisch und redaktionell betreut in Kassel und in Horn am Externsteine, wie Redakteur Burkhart Weecke den Ort benennt, hoffen darauf, daß aus der „augenblicklichen Erniedrigung des Deutschen Volkes wieder einmal eine deutsche Größe hervorgeht", aus dem „Chaos herausgeboren wird" (frei nach Nietzsche), sie hoffen auf Deutschland als Zentrum eines „germanischen" neuen Europas, das sich durchsetzen soll gegen Amerika und gegen Rußland, die als Ausgeburten ein und desselben egalitaristischen Ungeheuers gelten: der „trostlosen Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen" (frei nach Heidegger). Das „Leben als Kampf", die „Absage an die Gleichheit" - das sind die Parolen dieser Richtung der Neuen Rechten, die den „Kulturkrieg gegen sämtliche Entwurzelungskräfte" verkündet, gegen „den christlichen, gegen den liberalen und gegen den sozialdemokratisch-marxistischen Egalitarismus". „elemente" hoffen auf die „Lebens-, Schaffensund Kampfinstinkte", auf einen erneuten „Sturm in die Geschichte", 329
der das Gleichheitsdenken in all seinen Erscheinungsformen „zertrümmern" soll. „Metapolitik" bedeutet hier, einen ideologischen Kampf zu führen und das System kultureller Werte für den eigenen Standpunkt zu erobern. Die kulturelle Revolution, so sagt der Vorsitzende des westdeutschen Thule-Seminars, müsse die politische Revolution antizipieren. Und er sagt weiter, frei nach Julius Evola: „Die Macht ist ein Spielball des Willens. Die Eroberung dieser Macht ist die größte Herausforderung des Jahrhunderts und das schönste Projekt, das der Jugend Europas geboten wird." Wer die philosophischen Vorräume des historischen Faschismus kennt, der weiß, was sich hier anbahnt.
Aus: Blätter f ü r deutsche u n d internationale Politik, H e f t 3/1987
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