BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
S.O.S. VOM MARS von Marcus Michael Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m gr...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
S.O.S. VOM MARS von Marcus Michael Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blauäugig, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte - später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. Hat sich mit den »Gespenstern« in seinem Hirn arrangiert: die Wissensimplantate, aus verstorbenen Menschen gewonnen, sind nach wie vor in ihm vorhanden, plagen ihn aber seit Verlassen des Aqua-Kubus nicht mehr mit Visionen. Außerdem kreisen in Clouds Körper immer noch Reste von Protomaterie, die sich bislang zwar noch nicht nachteilig bemerkbar gemacht haben - aber er traut dem Frieden nicht. Durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kamen. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten - mentale Verbindung aufnehmen zu können. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Die Hirten Die sieben Hirten - ihre Namen lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden letzt genannten sind weiblich - sind die göttlichen Wesen der im AquaKubus beheimateten Vaaren. Sie selbst nennen sich Foronen. In einem Krieg gegen ein noch unbekanntes Volk wurde ihre Rasse beinahe ausgelöscht. Sie sind die waren Herren der Rubikon II (Sesha). Unter ihnen ist Sobek der Erste unter Gleichen. GenTecs Sie besitzen unter anderem die Fähigkeit, sich im äußersten Fall in eine Art Winterschlaf zurückzuziehen. Daneben extrem robuste Konstitution, frequenzvariable Sehweise bis hin zu Infrarotsicht und bewusste Beeinflussung von normalerweise unbewussten Körperfunktionen wie Pulsfrequenz, Adrenalinausstoß usw. Bei den Mitgliedern der Rubikon-Crew Jarvis, Resnick und Scobee handelt es sich um GenTecs.
Der Amorphe Dieses Wesen aus Nanomaschinen wurde John Cloud von den Hirten als Diener und Beschützer zugeteilt Er kann viele beliebige Formen annehmen, verfügt über gewaltige Kräfte und ist nahezu unzerstörbar. Aber Cloud und seine Gefährten misstrauen dem Amorphen - zu Recht? RUBIKON II Die RUBIKON II - oder SESHA, wie ihre Erbauer das rochenförmige Raumschiff nennen hat eine Schwingen-Spannweite von ca. 300 Metern, eine Länge (ohne Schwanz) von ca. 250 Metern und eine Dicke von ca. 60 Metern. Im Inneren ist sie jedoch ungleich größer (ca. 10 km x 8 km x 2 km). Ihre Primärwaffe verursacht einen Riss in unserem Raum-Zeit-Gefüge, der alles in seiner Nähe verschlingt. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen - das unversehens die Schattenseite der terrestrischen Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik« - über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Vorstöße koordinieren. Bislang ist unklar, warum die Menschen eine solche Expansionspolitik betreiben, ob die Erde inzwischen aus allen Nähten platzt... oder ob völlig andere Motive dahinter stehen. Die Keelon Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von friedlichen Forschern wurde von den Erinjij ausgelöscht. Der einzige überlebende Keelon ist Darnok. So schien es zumindest. Inzwischen ist John Cloud und seinen Gefährten bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben und in sämtlichen Metropolen der Welt und anderen primär wichtigen Umgebungen stehen. Sie werden Master genannt und sind die Führer der Erinjij.
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es über 211 Jahre hinweg in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie die Hinterlassenschaft eines uralten Volkes: ein rochenförmiges Raumschiff, das sie RUBIKON II taufen. Damit gelingt ihnen die Rückkehr in unser Sonnensystem. Resnick und Jarvis verschlägt es über Umwege zum Mars, Cloud und Scobee gelangen zur Erde. Dort müssen sie erkennen, wer die Erdinvasion im Jahr 2041 initiierte: Hinter den Mastern verbergen sich die vernichtet geglaubten Keelon. Zusammen mit dem
Mädchen Aylea, dem Florenhüter Jelto und einem namenlosen amorphen Wesen gelingt Cloud und Scobee die Flucht aus den Klauen der Master. Cloud will auf die RUBIKON II zurückkehren - wo inzwischen einer der ursprünglichen Erbauer erwacht ist: der »Hirte« Sobek. Der Weg dorthin führt nur über eine uralte Station der Hirten, die sich in den Tiefen des Pazifiks befindet... 1. John Cloud hatte das Dach des Warrikk transparent werden lassen. Helle Lichtflecken waren da und dort in der Dunkelheit der Tiefsee zu sehen; wahrscheinlich Leuchtfische. Manchmal fingen die starken Scheinwerfer riesige, ruhig dahinschwebende Körper ein. Doch noch bevor Scobee Details ausmachen konnte, waren sie auch schon wieder vorbei. Das Warrikk pflügte mit unbegreiflicher Geschwindigkeit durch das Schwarz. Der Amorphe verschwand - und rematerialisierte Augenblicke später auf Scobees Schoß. Die junge Frau zuckte zusammen, unterdrückte einen wüsten Fluch und stieß das unheimliche, gallertartige Ding mit aller Kraft von sich. Sie wusste, dass das Ding ihr wahrscheinlich nichts Übles wollte. Doch wie sollte man sich daran gewöhnen, dass ein Wesen, das wie ein transparenter, nasser und unförmiger Sack aussah, in der Zeit oszillierte? Ständig verschwand es, wurde unfreiwillig in eine andere Zeit gerissen, nur um Augenblicke später wieder aufzutauchen. »Diese verdammten Keelon und ihre Zeit-Experimente«, sagte Scobee und wischte sich die Finger angewidert an ihrem Overall ab. »Seien wir doch froh, dass wir heil aus Skytown entkommen sind«, entgegnete John Cloud lapidar. »Eine Raumstation, die von den Keelon zu ihrem Vergnügen im Atlantischen Ozean geparkt worden ist«, sagte Scobee und schüttelte sich. Sie waren auf Keelon einer gänzlich neuen Ausprägung gestoßen. Unbekümmerte, ja, geradezu naive Wesen, die wie kleine Kinder mit dem ihnen gegebenen Talent der Zeitbeeinflussung umgingen. Ihr Freund Darnok war ganz anders gewesen. Ein Suchender, voll von Rachegefühlen und dem Wunsch nach dem Verstehen ihm unbegreiflicher Vorgänge. Die Besatzer der Erde in den mehr als siebzig Türmen wiederum, die so genannten Master, hatten sich als paranoide, machthungrige Wesen herausgestellt, die nur den eigenen Vorteil zu suchen schienen - und dabei wortwörtlich über Leichen gingen. Als hätte Cloud Scobees Gedanken erraten, sagte er: »Stell dir vor, ein Außerirdischer wäre Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts zuerst im Nahen Osten, dann an der Westküste Amerikas und schließlich auf Papua-Neuguinea gelandet. Hätte er nicht drei völlig unterschiedliche Anschauungen kennen gelernt? Eine von religiösem Fundamentalismus geprägte Welt, eine gänzlich dekadente, nur auf den persönlichen Vorteil ausgerichtete und eine, die gerade mal den Sprung aus der Steinzeit in die Moderne getan hat? Er hätte - so wie du gerade - nur den Kopf schütteln können. Sofern er einen gehabt hätte.« Natürlich hatte er Recht, das wusste sie. Dennoch nickte Scobee ihm nur knapp zu und senkte dann den Blick. Sie hatte momentan keine Lust, sich mit dem Mann auf Diskussionen einzulassen. Cloud widmete sich wieder konzentriert der Steuerung des Warrikks. Jenes amphibienförmigen Fahrzeugs aus den Beständen der Hirten war vielleicht doppelt so groß
wie ein Jeep des Modelljahrganges 2040. Er tat dies mit einer Souveränität und einer Selbstverständlichkeit, die Scobee deutlich machte, dass ihr ehemaliger Commander weit mehr über die fremdartige Technologie wusste als sie. Nun, »wusste« war möglicherweise der falsche Ausdruck. Protomaterie, die in seinem Körper abgelagert war, spielte dabei eine bedeutende Rolle, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, in wie weit John Clouds Geist frei von Beeinflussung war. Doch Scobee tat gut daran, dieses unangenehme Thema nicht anzusprechen. Schließlich war sie es gewesen, die einer genetischen Konditionierung durch Reuben Cronenberg über Jahrhunderte hinweg hatte Folge leisten müssen und Cloud schmerzlich im Stich gelassen hatte. Dies war etwas, wofür sie sich schämte und auch selbst hasste - obwohl sie ja nichts dafür konnte. Nur ja nicht zu viel darüber grübeln. Sie beobachtete, wie der Amorphe erneut verschwand. »Warum er wohl immer wieder an Bord des Warrikks auftaucht?«, überlegte sie laut. »Seine Sprünge bringen auch eine räumliche Versetzung mit sich. Irgendwann hätte er im Ozean rund um uns landen müssen...« »Ich nehme an, dass irgend etwas hier an Bord als räumlicher Anker für ihn dient«, warf Aylea ein, die weiter hinten saß. Die Zehnjährige war auf der neuen Erde, der Erde des Jahres 2252, aufgewachsen und war viel intelligenter und in vielen Dingen auch gebildeter, als ein durchschnittlicher Erwachsener des 21. Jahrhunderts es gewesen war. Sie war es auch gewesen, die auf die Theorie gekommen war, dass sich der Amorphe in einer Art Zeitschleife befand. »Vielleicht.« Scobee nickte nachdenklich. »Aber was könnte das sein?« »Entweder die Technologie der Hirten«, schlug Aylea vor, »oder Johns Gegenwart.« Noch bevor Scobee näher auf das Thema eingehen konnte, ertönte ein spitzer Schreckensschrei. Jelto, der vierte und letzte Mensch an Bord des Warrikks, warf den Amorphen angeekelt von sich - der daraufhin gleich wieder verschwand...
Reuben Cronenberg hatte Scobee mehrere Male zum Tauchen an der pazifischen Küste Nordamerikas mitgenommen, und ein Teil ihrer Ausbildung hatte sich auf einer isolierten Plattform vor der Küste Floridas abgespielt. Sie kannte also die scheinbar endlose Weite dieser unbekannten Welt. Nicht so Jelto und Aylea, die zumeist ruhig auf ihren Plätzen saßen und mit scheinbar gemischten Gefühlen die Umgebung betrachteten. »Mehr als einhundertachtzig Kilometer pro Stunde fahren wir, und das gegen die Trägheit und den Druck des Wassers«, sagte Scobee. »Und auch noch bei der zerklüfteten Bauweise unseres Fahrzeugs, die jeder Dynamik Hohn spricht.« »Hirten-Technik... ein Buch mit sieben Siegeln«, entgegnete Cloud. »So darf es aber nicht bleiben, John! Wenn wir zumindest einen gewissen Einfluss auf unser Leben zurückgewinnen wollen, müssen wir lernen, lernen und nochmals lernen.« »Scob, du verstehst nicht ganz. Anscheinend glaubst du, dass ich weiß, wie ich das Warrikk
zu lenken habe. Aber ich mache dies alles in einem halb unbewussten Zustand. Jeden Handgriff, jedes Wort, das ich mit der KI wechsle, wird wahrscheinlich von diesen verfluchten Protopartikeln in meinem Körper und in meiner mentalen Substanz gesteuert.« »Aber du kannst dir doch merken, was du tust?« »Merken - ja, Scobee. Verstehen - nein.« Cloud seufzte schwer. »Im Übrigen empfange ich soeben ein Leitsignal der Tiefseestation. In ungefähr fünf Minuten sollte sie in Sichtweite kommen.« Scobee hatte keine gute Erinnerung an ihren ersten Aufenthalt in der unterseeischen Station der Hirten. Alles war sehr rasch vor sich gegangen, und eine unheimliche Bedrohung hatte sie vorwärts getrieben. Eine Bedrohung, die von jenem amorphen Wesen ausgegangen war, das nun in ihrer Begleitung war. »Ich habe das Gefühl, dass das Wesen schwächer wird«, meldete sich Aylea schüchtern zu Wort. »Du meinst wohl unser Zeit-Jojo?«, fragte Scobee betont locker, kam sich aber im nächsten Moment ein wenig kindisch vor. »Der Amorphe? Was ist mit ihm?« Cloud wirkte alarmiert. »Nun«, sagte Aylea zögernd, »es ist wie gesagt nur ein Gefühl. Aber seht ihr nicht, dass er schwächer wirkt? Dass er Mühe hat, seine körperliche Form beizubehalten?« Tatsächlich. Scobee erkannte es nun auch. Der Amorphe verlor einen Teil seiner Körpersubstanz. Als ob er da und dort ausfranste und Materie wie eine sich auflösende Stickerei in einzelnen Fäden verlor. »Ich weiß nicht«, sagte Cloud nach einem kurzen Blick nach hinten. Er konzentrierte sich bereits auf die Annäherung an die Station. »Er hat schon mehr als einmal so gewirkt, als wäre er tot oder als hätte er sich aufgelöst. Denkt nur an seine Finte im Turm von New York...« (siehe Bad Earth Band 22: »Im Zentrum der Macht.) »Jetzt gibt es allerdings keinen triftigen Grund für irgendwelche Tricks, die er anwenden müsste«, entgegnete Scobee zweifelnd. »Warten wir ab. Möglicherweise ist es auch die Nähe zur Station, die eine Reaktion auslöst. Und weil wir gerade davon sprechen...« Grelle Lichter flammten vor ihnen auf und erhellten den Meeresboden in einer Tiefe von mehr als viertausend Metern. Wie ein der Länge nach aufgeschnittenes Ei lag die Kuppel der Hirten vor ihnen. Eine rot glühende Energiekugel entzündete sich wie ein Fanal an der Oberseite des Gebäudes, strahlte für einen Moment hell auf - und schoss dann auf sie zu. Aylea schrie auf - doch das unheimliche Leuchten erlosch sofort. Ein leichter Ruck ging durch das Warrikk, und unwiderstehlich wurde es in Richtung der Station gezogen. »Nur keine Angst«, sagte Cloud, »das ist lediglich der Leitstrahl, der uns eingefangen hat.« Doch auch er war etwas blass um die Nase, fand Scobee. Sie blickte ihn fragend an- und auffordernd. »Wenn die Kennung, die ich übermittelt habe, nicht gestimmt hätte«, erklärte er so leise, dass Aylea und Jelto ihn nicht hören konnten, »wären wir von demselben Energiestrahl in subatomare Partikel aufgelöst worden. Ohne Wenn und Aber...«
Das Andocken an die Mutterstation verlief unspektakulär. Die Energieblase, der sie sich
anvertraut hatten, zog sie sanft in eine Bucht, die sich bald als Druckschott herausstellte, und entließ sie aus ihren unsichtbaren Klammern. Ein leiser Gong ertönte, und das Wasser wurde binnen Sekunden abgepumpt. »Was nun?«, fragte Jelto, der Florenhüter. Er erhob sich aus dem Sitz, der für ihn viel zu breit gebaut war. Er hat Angst, höllische Angst, dachte Scobee. So wie wir alle. Wir sind Gestrandete, aus unserem natürlichen Umfeld gerissen, und wir spielen die Rolle der Bauern auf einem überdimensionalen Schachbrett. »Wir müssen uns nun auf Hilfestellung durch die Hirten verlassen«, antwortete Cloud. »Der Amorphe spielt dabei die zentrale Rolle. Leider. Wir wissen von ihm, dass ich als Kundschafter der Hirten - oder dem Bordcomputer von SESHA - auf die Erde geschickt wurde und er als mein Beschützer durch ein unsichtbares Band mit mir verbunden ist.« Es schien, als wollte er noch mehr sagen, doch schließlich winkte er müde ab und deaktivierte die Funktionen des Warrikk. Als hätte er jahrzehntelang nichts anderes getan. Sie stiegen aus. Der Amorphe verformte sich zu einer Art Kugel, die ihnen rollend folgte. Nein. Er folgte nicht der Gruppe, sondern nur dem Mann, John Cloud. Unübersehbar. Und er hatte merklich an Substanz verloren. Die Luft war stickig, aber atembar; das Licht hingegen ein wenig zu dunkel, wie sie es mittlerweile von den Einrichtungen der Hirten gewohnt waren. Scobee erinnerte sich noch gut an die denkbar einfache Aufteilung und Strukturierung der Station. Schließlich waren sie erst wenige Tage zuvor hier mit einer Transportkugel der Hirten gelandet. Und genau dorthin, zum Bahnhof, mussten sie wieder, um diesen Ort verlassen zu können. Sie ging wachsam voran. John folgte und blickte vorsichtig nach links und rechts. Aylea und Jelto trippelten ängstlich, eingeschüchtert, hinter ihnen her. Und der Amorphe? Wie von einem unsichtbaren Gummiband gezogen, folgte er Cloud. Verschwand immer wieder von der Bildfläche und kehrte leicht versetzt wieder zurück. War da ein Ächzen oder ein Stöhnen von ihm zu hören? Unmöglich. Das seltsame Wesen, so es denn überhaupt eines war, hatte bislang nur ganz wenige Worte gesprochen und noch keinerlei Regung gezeigt, die auf Gefühle schließen ließ. Sie musste sich irren. Sie passierten eine Tür - eine ganz bestimmte Tür... »Sollen wir noch einmal nachsehen?«, fragte Scobee an Cloud gewandt. »Nein«, entgegnete er und ging mit starrem Blick an ihr vorbei. Mit Schaudern erinnerte sich Scobee, was hinter dem Zugang auf sie wartete: siebenundzwanzig Aschehaufen. Aschehaufen von Menschen, Chinesen der Han-Dynastie, die vor mehr als zweitausend Jahren in Stasetanks eingefroren worden waren. (siehe Bad Earth Band 16: Hinter dem Schattenschirm«) John Cloud hatte versucht, einen von ihnen zu wecken und damit eine Kettenreaktion ausgelöst, die alle anderen in den Tod gerissen hatte. Sie schob die Gedanken an die grässlichen Bilder schaudernd beiseite. Der Zugang zum Bahnhof lag vor ihnen. Es war ein einfaches, hell beleuchtetes Schott. Scobee betrat den Raum als Erste. Er war leer. Eigentlich sollten zwei Kapseln hier auf sie warten. Scobee und Cloud waren hier mit einer
gelandet, und der Amorphe war ihnen mit einem weiteren der knapp sieben Meter hohen Transportmittel gefolgt - doch diese waren verschwunden. Der 25 mal 25 Meter durchmessende Raum war wie blank geputzt. Ganze Batterien von Bildschirmen, die in dieser hochtechnisierten Umgebung fast altertümlich wirkten, sahen scheinbar hohnlächelnd von den Wänden auf sie herab. »Scheiße!«, murmelte Cloud. »Das ist bestenfalls ein Hilfsausdruck«, meinte Scobee gepresst. »Mir fallen ganz andere Begriffe ein...« »Beruhige dich, Scob. Dann gehen wir eben in die Zentrale und sehen, was wir dort ausrichten können.« »In die Zentrale?« »In den Altarraum«, erläuterte Cloud und setzte sich in Bewegung. Scobee folgte ihm. Gleichzeitig erreichten sie den Zugang zum Altarraum. Scobee presste die Handfläche auf das Schott. Geräuschlos fuhr das zentnerschwere Tor beiseite. Sie und Cloud waren auf die Bilderflut im Rauminneren vorbereitet. Jelto und Aylea jedoch keuchten erschrocken auf. Düster wirkende Reliefs bedeckten Boden, Decke und Wände. Sie wirkten so greifbar, dass man glaubte, sich im Trubel eines orientalischen Basars zu befinden. Doch die Bilder waren andererseits für menschliche Begriffe zu fremd, um sie genau betrachten zu können. Die Reize überfluteten den Betrachter. Nach wenigen Augenblicken war man gezwungen, die Augen zu schließen. »Willst du den >Altar< aktivieren?«, fragte Scobee John. »Ja. Ich denke, dass er mehr kann, als uns diese unglaubliche Darstellung der Milchstraße und der Umgebung zu liefern.« Sie nickte ruckartig und trat einen Schritt zurück. Technik und Kultur der Hirten - und besonders Clouds instinktiver Umgang damit - waren ihr nicht geheuer. John hatte wieder diesen starren Blick in den Augen, als er mit wenigen Bewegungen, wie ein erfahrener Dirigent, eine Hand breit über dem verzierten Marmor hin und her fuhr. Musik klang auf. Sie erinnerte an Walgesang. Einen Moment erfüllte sie mit ihrer Lautstärke den gesamten Raum und ließ den Anwesenden, außer John Cloud, das Blut in den Adern gefrieren. Doch sofort regulierte er nach, sodass die Musik nur noch im Hintergrund präsent war. Die Oberfläche des Altars, eine Scheibe mit einer Stärke von maximal fünf Millimetern, spaltete sich plötzlich ab, schwebte sanft zur Seite und nach unten und glitt ungefähr auf halber Höhe in das Gestein zurück. Der »Marmor« nahm die Masse fugenlos in sich auf und hatte schließlich wieder dieselbe Höhe wie zuvor. Scobee war sich dessen sicher. »Anscheinend ist der ganze Altar ein zusammengesetzter Turm dieser dünnen Schalttafeln«, murmelte Cloud. »Jedes Pad, wenn ich's mal leger so nennen darf, erfüllt offensichtlich einen eigenen Zweck. Im Normalzustand sieht es wie gefestigte Masse aus, doch wenn man eine Arbeitsplatte aktiviert, löst sie sich.« »Und was, glaubst du, bewirkt die oberste Schalttafel?«, fragte Scobee. Sie war widerwillig fasziniert von der eigentümlichen Technik der Hirten. Sie waren bei ihren Begegnungen mit den Hinterlassenschaf ten des fremden Volkes auf höchst individuelle Ausprägungen gestoßen. Das Seelenschiff SESHA, auf dem sie durch das Weltall geflogen waren, hatte gar keine Armaturen besessen. Cloud war geradezu mit dem Raumschiff verschmolzen. Es schien nur sehr wenige Normen für die Hirten zu geben. Formten jeweils einzelne Wesen dieses Volkes die Umgebung speziell für sich?
»Ich weiß es nicht«, gestand Cloud. »Und ich will auch nicht unbedingt aufs Geratewohl herumprobieren.« Er seufzte. »Aber ich denke... hm...« Erneut machte er eine dirigierende Handbewegung. Der Altar löste sich vollends auf. Binnen weniger Sekunden hatten sich alle Pads, wie Cloud sie genannt hatte, lautlos in jede freie Ecke des Raumes rund um die vier Menschen verteilt. »Das sind mehr als zweihundertfünfzig Arbeitsplatten«, schätzte Scobee, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. Es bedurfte starker Nerven, ruhig stehen zu bleiben, wenn hauchdünne Steinplatten in Brusthöhe geräuschlos und mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft schossen. Ehrfürchtig wanderten die vier Menschen zwischen den Schalttafeln umher. Manche waren mit bunten, unregelmäßig geformten Farbklecksen versehen, andere mit nüchtern wirkenden Schriftzeichen. Wiederum andere besaßen kleine, eingearbeitete Holoschirme, in deren Darstellungen endlose Datenkolonnen von links nach rechts vorbeiliefen. Und eines war geradezu auseinander geklappt. Das dreidimensionale Oberkörper-Hologramm eines Hirten ragte dort hoch. Bedrohlich, übermächtig, wuchtig und präsent. Scobee erkannte mehrere kleine Details im Gesicht der Aufzeichnung, um auf Anhieb sagen zu können, dass dies nicht Sobek war. »Das hier sieht gut aus«, sagte Cloud und ging auf eine der Tafeln zu. Wieder einmal stellte sich sein feines Gespür, sein sicherer Instinkt für technische Gerätschaften der Hirten unter Beweis. »Was meinst du?«,fragte Scobee. Sie war nervös und musste an sich halten, um nicht von einem Bein aufs andere zu treten. »Dieses Pad scheint eine Art Kommunikationsplattform sein.« Cloud berührte es kurz und ein leerer 3-D-Bildschirm erschien. »Hm... Das könnte etwas dauern...« Scobee überließ ihn seinen Überlegungen und ging zum Ausgang, wo Aylea und Jelto warteten. »Habt ihr Angst?«, fragte sie. »Über Angst bin ich hinaus«, entgegnete Aylea mit einem humorlosen Grinsen. »Ich bin bereits bei Panik angelangt.« Wenn sie sprach, dachte Scobee manchmal an einen Twen, der schon Einiges an Erfahrung gesammelt hatte. Doch in Wirklichkeit stand ein schmales, zehnjähriges - wenn auch hochintelligentes - Mädchen vor ihr. »Dito«, sagte Jelto schmallippig. »Ich komme mir vor wie ein Blatt im Wind.« Seine KirlianAura leuchtete schwach auf. Scobee seufzte. »Willkommen im Klub. Seit Monaten kenne ich keinen anderen Zustand als diesen.« Sie blickte kurz über die Schulter und sah, dass Cloud vier steinerne Pads vor sich angeordnet hatte und mit einem Zeigefinger kleine, geschwungene Linien in die Luft zeichnete. Sie zuckte mit den Schultern. »Was haltet ihr davon, wenn wir John seinen Nachforschungen überlassen? Wir könnten zwischenzeitlich einige Erfahrungen austauschen. Ich berichte euch ein bisschen mehr von dem, was John und ich erlebt haben, und ihr schildert mir euer bisheriges Leben. Und dann bemitleiden wir uns gegenseitig.« Sie lächelte ironisch. »Geteilter Schmerz ist schließlich halber Schmerz.« Die Mienen des Kindes und des Florenhüters hellten sich ein wenig auf, als Scobee die beiden so unterschiedlichen Menschen am Arm packte und aus der Zentrale zog. Allerdings nicht, ohne sich nochmals suchend umzudrehen. Der Amorphe blieb in seiner Kugelform bei John Cloud zurück. Das Fipsen und Ächzen des Wesens war für Scobees feines Gehör nicht mehr zu überhören. Es spürte Schmerzen, das
wusste sie nun. Unwillkürlich brachte sie das mit einem Begriff in Verbindung, den sie - da sie den Amorphen nach Clouds Meinung noch benötigten - lieber vermieden hätte - Todeskampf!
»...und GT-Resnick hoppelte mit einer Kugel im Gesäß davon wie ein betrunkener Affe«, beendete Scobee die Anekdote aus der Zeit ihrer Ausbildung. Wehmütig dachte sie einen Augenblick daran, dass dieser Resnick-Klon drei Wochen später tödlich verunglückt war. Jelto blickte Scobee verblüfft an - und brach dann in ein merkwürdig rollendes Gelächter aus. Aylea war rot geworden und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Allerdings so heftig, dass ihr zarter Körper sichtbar durchgeschüttelt wurde. Na also, funktioniert doch, dachte Scobee, und fiel in das Lachen ein. »Erzählst du wieder mal von deiner ach so lustigen Ausbildungszeit?«, fragte John Cloud. Er war unbemerkt zu ihnen getreten. Eine Bombe hätte keinen größeren Schaden anrichten können als der sarkastisch unterlegte Kommentar ihres ehemaligen Commanders. Die gute Laune war von einem Moment zum nächsten verflogen, und die Wirklichkeit hatte sie wieder. So ein Trampel! Manchmal benimmt er sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Es wird Zeit, dass wir uns aussprechen. Es stehen so viele verletzende Dinge zwischen uns, die bereinigt werden müssen. Sonst finden wir nie einen Zugang zueinander. Weder in Hinsicht auf gegenseitigen Respekt noch auf... auf... anderer Ebene. Scobee räusperte sich. »Bist du weitergekommen?« »Ja, aber ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen.« »Was hast du herausgefunden?«, fragte sie, während sie sich erhob. »Ich glaube, dass ich Kontakt zur SESHA - ich meine, zur RUBIKON - aufnehmen kann.« Cloud drehte sich abrupt um und ging zurück in die Zentrale. Scobee bemühte sich, Verständnis für den Mann aufzubringen. Er stand unter enormem Druck und spürte ebenso wie sie die permanente psychische Belastung der letzten Wochen. Zumindest hoffte sie, dass es an dem Stress lag. Denn sonst stand dieses Verhalten sicherlich auch damit im Zusammenhang, dass er die Technik der Hirten beherrschte. War es überhaupt noch der Cloud, mit dem sie zum Mars aufgebrochen war...? Auf den ersten Blick hatte sich in der Zentrale nicht viel geändert. Nach wie vor schwebte eine große Anzahl der Stein-Pads in der Luft. Doch dann bemerkte sie, dass der Altar bereits zur Hälfte wieder zusammengebaut war. »Ich habe jene Boards ausgefiltert, die keinen praktischen Nutzen für uns haben«, erläuterte John Cloud. »Diese fünf hier«, er deutete mit dem Arm auf eine Anordnung, die wie der Arbeitsplatz eines Schlagzeugers aussah, »steuern mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die interne und externe Kommunikation der Station. Ich nehme an, dass ein Hirte sie alle im Normalfall mit seiner Stimme steuern konnte. Aber das funktioniert bei mir nicht. Vielleicht ist meine Aussprache zu undeutlich. Deswegen müssen wir zu zweit ein paar Tasten synchron betätigen.« Scobee nickte und hörte ihm konzentriert zu, als er die notwendige Vorgehensweise mit ihr besprach. Es war eine einfache Befehlskette, die allerdings zumindest drei Hände erforderte. »...und schließlich müssen wir gleichzeitig über diese beiden grünen Felder hier und hier
streichen.« Cloud blickte ihr in die Augen. »Alles klar?« Sie nickte. »Gut. Dann gehen wir's an.« Er atmete tief durch und drückte die Aktivierungssequenz der zentralen Kommunikationstafel. Seine Finger zitterten. Seine Handflächen, deren feine Linien und Strukturen sie genau vor sich sah, waren von einem dünnen Schweißfilm benetzt. John Cloud hatte Angst. Scobee konnte es sogar riechen. Vielleicht hätte sie fragen sollen, was passieren könnte, wenn sie einen Fehler... Nein, sie wollte gar nicht daran denken. »Schritt Zwei!«, sagte er. Sie berührten gleichzeitig vier gelbe Flächen, die ihre Farben abrupt zu grün änderten. »Das passt alles«, murmelte er mit Erleichterung in der Stimme. Jelto und Aylea standen hinter ihnen und hielten beide den Atem an. Sie alle waren sich dessen bewusst, dass sie wie Fliegen auf dem Körper eines schlafenden Titanen herumtapsten. Immer in der Gefahr, dass eine überdimensionale Klatsche sie zerquetschen würde. »Schritt Drei.« Die entscheidende Sequenz. »...zwei, eins, jetzt!«, zählte Cloud ruhig den Countdown herunter. Sie blickten sich kurz an und fuhren dann vollkommen synchron über jeweils eines der grünen Tastfelder. Die steinernen Pads leuchteten rot und ketteten sich aneinander, sodass sie ein schwebendes Pult mit einer Länge von mehr als sechs Meter bildeten. »Geschafft!« Cloud klatschte triumphierend in die Hände. »Das war's. Jetzt nur noch die Aktivierungstaste hier drücken, und ich müsste Kontakt mit der nächstgelegenen Kommunikationszentrale der Hirten aufnehmen können. Und das wird die RUBIKON sein.« Er irrte sich. Eine Stimme war zu hören, die sie nie, nie und nimmer, erwartet hätten. Sie klang anders als sonst, schwächer, krächzender. Dennoch war sie so klar und deutlich, als stünde ihr Gesprächspartner neben ihnen. Die Stimme sagte: »Der Mars ruft die Erde, bitte kommen! Hier spricht GT-Resnick, Überlebender der zweiten Mars-Mission...« 2. Die Künstliche Intelligenz, die sich selbst als Mutter sah, erwachte. Dies war ein Vorgang, den man am ehesten mit dem Betätigen eines Schalters vergleichen konnte - und dennoch war es so unendlich anders. Von einem Moment zum nächsten waren Myriaden von Befehlen zu erteilen, Querverbindungen mussten gelegt und miteinander in Einklang gebracht werden, endlos viele Sicherheitsprüfungen wurden aktiviert. Wäre Mutter in diesem ersten Moment bereits ganz wach gewesen, hätte sie den Vorgang des Einschaltens möglicherweise im Vergleich zum Weben eines Spinnennetzes gesehen. Doch sie hätte mit der ihr eigenen Besserwisserei - oder, anders ausgedrückt, mit der ihr eigenen Arroganz - darauf hingewiesen, dass es sich um ein vierdimensionales Spinnennetz handeln musste. Ja, Mutter war arrogant - wie ihre Erschaffer. Und hätte Mutter dies gehört, hätte sie einen vor mehr als zweitausend Jahren verstorbenen irdischen Schriftsteller namens Petronius zitiert, der in seinem Roman »Satyricon« sagen ließ:
»Wie der Herr, so auch der Knecht.« Ja, Mutter war sehr wissend, konnte unendlich viele sinnreiche Sprüche zitieren, passende Bilder heraufbeschwören und treffende Vergleiche bemühen. Schließlich stand sie im Dienste der Foronen, jener gottnahen Wesen, und glaubte sich ihnen sehr nahe. Zumindest empfand sie die Foronen als gottnah, denn sie war auf diesen unerschütterlichen Glauben hin programmiert. Doch Mutter konnte in den ersten Momenten ihres Erwachens weder zitieren, noch Arroganz zeigen, noch ihren Göttern geziemend huldigen. Denn sie funktionierte nicht richtig.
Resnick starrte auf die Gestalt, die scheinbar schockgefroren in einem mit bernsteinfarbenem Eis gefüllten Container stand. Der Mann war nackt. Teile dessen, was einmal eine Uniform der NASA gewesen sein konnte, schwebten wie zerrissene Papierfetzen in der durchsichtigen Masse um den Mann. Die dunkelblonden Haare standen ihm steil zu Berge, der Mund war leicht geöffnet, als ob er um Hilfe schreien wollte. Das Gesicht zeigte einen Ausdruck des Grauens, des unendlichen Erschreckens. Beide Arme waren in abwehrender Haltung nach vorne gedrückt, die Muskeln des gesamten Körpers sichtbar angespannt. Nathan Cloud, dachte Resnick. Der Vater unseres ehemaligen Kommandanten. Die Ähnlichkeit ist unübersehbar. Er streckte beide Hände aus und legte die Flächen zögernd auf das Eis. Es fühlte sich warm an, körperwarm. Wie bist du da nur hineingekommen, Nathan Cloud?, fragte er sich. Eingegossen wie in Kunstharz. Bist du tot? Ein Schauobjekt zur Belustigung der ehemaligen Besatzung dieser Station? Oder bist du doch nur abgestellt worden, damit du irgendwann wieder Verwendung findest? »Sieh dir seine Augen an«, sagte Jarvis, der neben ihm stand. Er war blass, noch blasser als sonst in der letzten Zeit. Und Resnick wusste, dass er nicht besser aussah. Mit ihnen beiden ging es zu Ende. Sie waren tödlich krank. »Der Blick wirkt so, als könnte Cloud jeden Moment wieder zum Leben erwachen«, fuhr Jarvis fort. Es stimmte. Die Pupillen in den grünen Augen waren erweitert und wirkten durchaus lebendig. Doch wirkten nicht alle - Resnick tadelte sich selbst für diesen Vergleich - ausgestopften Tiere so, als ob sie zurückstarrten, egal, aus welchem Winkel man sie ansah? »Ihr kennt den Mann?«, fragte Boreguir. Er war leise hinter sie getreten und betrachtete den Kubus aus leicht zusammengekniffenen Augen. Resnick zuckte bei den Worten des igelähnlichen Außerirdischen mit der katzengleichen Gewandtheit irritiert zurück. Sie verständigten sich mit Hilfe eines Sprachchips, den ihnen der Keelon Darnok eingepflanzt hatte. So konnten sie seine Sprache sprechen und verstehen. Boreguir sah einer Katze auch viel ähnlicher als einem Igel, doch seit er seine hervorschnellenden Stacheln offenbart hatte, um eine parasitäre Echse zu töten, konnte der GenTec nicht anders - er dachte von ihm als Igel...
Das Wesen mit dem ausgeprägten Ehrenkodex hatte sich in den letzten Stunden als guter und tapferer Begleiter erwiesen. Nur ihm war es zu verdanken gewesen, dass sie einen Weg aus der riesigen Hohlwelt des Mars hierher in die mutmaßliche Station der so genannten Hirten gefunden hatten. Doch Boreguir war einfach ganz anders, er war kein Mensch. Selbst einem GenTec wie ihm, einem gentechnisch geformten Wesen, fiel es schwer, außerirdisches Leben vorbehaltlos zu akzeptieren. Aliens rochen anders, sie bewegten sich anders, sie sahen einen sogar anders an. Egal, ob es sich um einen herzmuskelförmigen Zeitreisenden wie Darnok handelte, um ein Vogelwesen wie Jiim oder eben um den heldenhaften Krieger Boreguir- es fehlte schlicht und einfach an Vergleichsmöglichkeiten. »Ja, wir kennen den Menschen«, murmelte Resnick und hoffte, dass der Igelähnliche seinen Moment der Unsicherheit nicht bemerkt hatte. »Er ist der Vater eines... Freundes von uns. Ein Raumfahrer, so wie wir.« »Er lebt. Ich kann es spüren«, sagte Boreguir leise schnarrend. »Sie alle leben.« Er deutete mit einer fließenden Bewegung seines kräftigen Schwertarms auf Dutzende, ja, hunderte Würfel, die in der Tiefe des Raumes nebeneinander und hintereinander standen. »Unmöglich«, entfuhr es Jarvis, der sich mit vorgeneigtem Oberkörper gegen den Harzblock stützte. Er wirkte erschöpft. »Dieses Wort sollte in unserem Sprachschatz eigentlich nicht mehr vorkommen«, sagte Resnick. Er vertraute den Instinkten Boreguirs, und seinen eigenen. Der Mann, der hier eingegossen in einer unerklärlichen Masse stand, lebte! »Seht euch das an. An jedem Sockel, hier rechts unten, befindet sich eine...« Ein kurzer Schwindelanfall ließ Resnick taumeln. »... eine Apparatur.« Er fragte sich einen Moment, warum sie das hier eigentlich noch taten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie starben. Doch er kannte die Antwort: weil sie nichts anderes tun konnten - und neugierig waren... »Eine grüne, in alle Richtungen drehbare Kugel, die man wahrscheinlich tiefer in die Führung pressen kann«, erwiderte Jarvis. »Könnte eine Art Knopf sein...« »...um den Schläfer zu wecken«, ergänzte Resnick fröstelnd. »Doch sehen wir uns vorerst mal weiter um.« Er ging langsam die vorderste Reihe der übermannsgroßen Kuben ab. Sie reichte weit in das Halbdunkel des Raumes hinein, der offensichtlich viel größer war, als sie zuerst gedacht hatten. Jarvis und Boreguir folgten ihm, ohne ein Wort zu sagen. Es war schlicht und einfach bedrückend. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und Hautfarbe standen da. Große und kleine, dicke und dünne - ohne Ordnung schienen sie abgelegt wie Blätter einer schlampig geführten Buchhaltung. Die meisten waren nackt, alle hatten sie die Augen weit aufgerissen angesichts des Schreckens, der offenbar im Moment des Einfrierens über sie gekommen war. »Stell dir vor, wir würden alle gleichzeitig wiederbeleben«, raunte Jarvis in sein Ohr. Sie benahmen sich so unauffällig wie möglich. Und sie flüsterten, als ob sie mit einem unbedachten, zu lauten Wort ein Etwas aufwecken würden. Ein Etwas, dem sie unter keinen Umständen begegnen wollten... »Ich könnte mir vorstellen, dass ein tausendstimmiges Geschrei anheben würde«, setzte Resnick den Gedanken seines Freundes fort. »Diese Menschen - sie sehen so aus, als wollten sie ihre Angst und ihre Panik hinausbrüllen.«
Boreguir schwieg, da ihm die Mimik der Menschen natürlich weitgehend fremd war. Er ging neben den beiden GenTecs her und betrachtete die Eingeschlossenen mit naiver Neugierde. »Das hier könnte Alexej Wolinow sein«, sagte Jarvis schließlich, und blieb vor einem baumlangen, stark behaarten Mann stehen. »Und das hier links sind möglicherweise Oyama und Jeunet«, fügte Resnick hinzu. Dies waren die beiden anderen Mitglieder der ARMSTRONG, die am 24. Juli 2019 auf dem Sand des Mars aufgesetzt hatte. Eine multinationale Truppe aus einer anderen Zeit, bestehend aus einem Franzosen, einem Russen, einem Japaner und dem amerikanischen Kommandanten. »Bist du okay?«, fragte Jarvis leise Resnick, der ins Leere zu starren schien. »Ich überlege, G.T.«, antwortete er. »Ich denke über die Zeit nach. Darüber, dass all diesen Menschen ebenso wie uns die natürliche Lebenszeit gestohlen wurde. Und wie wenig uns davon noch geblieben ist.« Jarvis ging nicht weiter auf das unangenehme Thema ein. Die Körperfunktionen der beiden GenTecs versagten. Rascher und schmerzhafter, als ihnen lieb war. Dies waren aller Voraussicht nach Spätfolgen ihrer genetischen Konditionierung. Sie wurden fehlsichtig, hatten Kreislaufprobleme und ermüdeten rasch. Binnen weniger Stunden und Tage waren sie körperlich um Jahrzehnte gealtert. Jarvis drehte sich abrupt zur Seite und schritt die vorderste Reihe der Kuben ab. Am Ende der Halle wandte er sich um und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Mehr als einhundert Kuben pro Reihe«, murmelte er, und presste die Hand gegen die schmerzende Schläfe. »Und es sind insgesamt acht Reihen.« »Macht neunhundert bis tausend Gefangene.« »Diese hier sehen irgendwie anders aus«, sagte Boreguir in parsisch, jener primitiven Gebrauchssprache, die sie am Fuße des Kristallturmes kennen gelernt hatten. »Du hast Recht«, sagte Resnick und betrachtete die Gefangenen in der dritthintersten Reihe genauer. Der Igelähnliche hatte in der Tat ein sehr, sehr gutes Auge. Diese Menschen waren nahezu um einen Kopf kleiner, wirkten ungepflegt und hatten meist langes, strähniges Haar. »Diese Menschen stammen aus dem frühen Mittelalter, würde ich sagen.« Jarvis` Stimme war klirrend kalt, als betrachte er aufgespießte Schmetterlinge. Er umrundete nachdenklich den Block und ging schließlich weiter nach hinten, bis in die letzte Reihe. Alles hier wirkte klinisch sauber und aufgeräumt - und dennoch meinte Resnick zu spüren, dass die hintersten Kuben schon eine Ewigkeit in ihren metallenen Sockeln ruhten. Ein Mann stand da, beide Fäuste geballt, der Körper tätowiert, die wenigen Zähne angespitzt. Maximal einmeterfünfzig groß. Eine negroide Frau mit flachen Brüsten. Die platte Nase war mit den schmal geschliffenen Knochen eines Raubtieres durchbohrt. Ein hagerer Junge, vielleicht dreizehn Jahre alt. Die Rippen sprangen gut sichtbar hervor, das Haar war geschoren. Die Armgelenke waren blutverkrustet, Dutzende rote Striemen zogen sich über den Rücken. Ein stämmiger, kräftiger Mann, stark behaart. Leicht hervorstehende Augenwülste, hohe Stirn, ausgeprägtes Kinn. Ein wacher Blick, ein ratloser Gesichtsausdruck. »Das ist mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Cromagnon-Mensch«, sagte Jarvis. »Der stammt aus der früheren Altsteinzeit. Zehntausend Jahre vor Christus oder noch älter.« »Das würde bedeuten, dass wir seit mehr als zwölftausend Jahren unter Beobachtung von
Außerirdischen stehen!«, überlegte Resnick laut. Sie blickten sich lange an, hingen ihren düsteren Gedanken nach. Wurden. wir Menschen von den Besitzern dieser Station nur beobachtet? Oder beeinflusst und geformt? Oder gar von ihnen erschaffen? Jarvis hatte Recht. Es war müßig, über den Sinn dieser Anlage zu spekulieren. Es verwirrte nur. Sie mussten sich um ihre eigenen, nahe liegenden Probleme kümmern. Der Incus, jener blutsaugende Parasit, den Resnick mehrere Tage mit sich getragen hatte, hatte ihm lediglich spärliches Wissen über diese Station hinterlassen. Doch es hatte ausgereicht, um einen Hilferuf zu formulieren, der nun über das Funknetz der Station gezielt in Richtung Erde ausgestrahlt wurde. Auch wenn »Funk« mit Sicherheit nicht der richtige Begriff war. Die Hirten arbeiteten gewiss mit überlichtschnellen Kommunikationsmitteln. Sie gingen langsam zurück zum zentralen Schaltpult, ein wenig abseits der Kuben, das inmitten ganzer Batterien von kleinen und größeren Bildschirmen thronte. Sie zeigten Bilder der Station, des umgebenden Wassers, den Wesen am Fuße des Kristallturmes und der sturmumtosten Mars-Oberfläche. »Kantrattan tar«, drang eine Stimme an Resnicks Ohr, und er fuhr zusammen. »Pest anil ser zerlaut...« Die Stimme des Holos eines Hirten war aus dem eigentlichen Zentralraum der Station zu hören. »Ein gutes Zeichen«, sagte Boreguir, und nahm die Linke vom Griff seines HerzblutSchwertes. »Solange dieses durchsichtige, verzerrte Wesen auftaucht und wieder verschwindet und immer wieder den gleichen Unsinn faselt, wird es uns nicht zum Kampf herausfordern.« Es hatte keinen Sinn, Boreguir den Sinn von Ton- und Bildaufzeichnungen begreiflich zu machen. Manche Dinge verstand er instinktiv, andere ignorierte er, sodass sein Weltbild einigermaßen intakt blieb. »Mein Freund - kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Resnick den Kämpfer. »Ja?« »Kannst du bitte endlich den Incus aus deinen Stacheln entfernen? Er bietet keinen besonders schönen Anblick.« Boreguir zögerte. »Es bereitet mir Mühe, Resnick. Sobald ich den getöteten Gegner sehe, bin ich verpflichtet, ein Gebet für seine Seele zu sprechen. Doch der Geist dieses ehrlosen Schimmden und Schmarotzers hat kein Anrecht auf tröstenden Zuspruch. Er soll auf meinem Rücken bleiben, meinem Blick entzogen, bis sein Leib verfault ist.« Dies war also ein moralisches Dilemma für den Kämpfer. »Aber er beleidigt auch unsere Augen«, entgegnete Resnick vorsichtig. »Ganz abgesehen von der dünnen Blutspur, die du hinterlässt.« ...und die eigentlich die Spur meines Blutes ist, das der Incus in seinem dreimal verfluchten Körper in sich trug und filterte, dachte er. »Was hältst du davon, wenn wir die kleine Echse in einen separaten Raum legen und abdecken, sodass er unseren Blicken bis auf Weiteres entzogen ist?« Boreguir stand lange Zeit ruhig da und überlegte. Der komplizierte moralische Kodex seiner Heimat gestattete ihm nicht allzu viele Freiheiten. »Ich bin einverstanden«, sagte er schließlich. Ein hässliches Knirschen ertönte, die rasiermesserscharfen Stachel zogen sich in seine derbe, ledrige Rückenhaut zurück, und die Reste der kleinen, nahezu durchsichtigen Echse fielen mit einem dumpfen Klatscher zu Boden. Boreguir ging, ohne sich umzudrehen, einige Schritte in
den domähnlichen Zentralraum. Die beiden GenTecs sahen sich an. »Ich mache es«, seufzte Resnick schließlich und nahm den toten Parasiten in die Hände. Das Schott zu einem kleinen Nebenraum ohne ersichtliche Funktion stand offen. Möglicherweise war dies ein kleines Labor, das im Bedarfsfalle rasch ausgestattet werden konnte, vielleicht war es auch nur eine leer stehende Besenkammer. Einerlei. Resnick quetschte die Reste des glibberigen Etwas nochmals fest mit den Händen und klatschte sie dann mit aller Wucht in die schmale Laufschiene des Schotts. Es war einfach, den Schließmechanismus zu finden. Das Schott schloss schwer und satt, ohne erkennbare Mühe. Ein paar kleine Blutstropfen quollen unter dem Türrahmen hervor. Das ist fast zu viel an Umständen für deine Beerdigung, du Monster, dachte Resnick hasserfüllt und kehrte zu Jarvis und Boreguir zurück. 3. »Jarvis und Resnick sind auf dem Mars gestrandet?« Scobee konnte es einfach nicht fassen. »In einer weiteren unbekannten Station der Hirten? Das kann kein Zufall sein...« Nur zu gut erinnerte sie sich an den Moment, als Darnok ihnen an Bord der RUBIKON mitteilte, dass ihre Kameraden das Schiff verlassen hätten. Sie waren an Bord einer Transportkapsel gegangen... Nein, das war nicht ganz korrekt. Jarvis und Resnick waren wahrscheinlich geradezu hinein gesogen worden. Auch Scobee und Cloud war das beinahe passiert. Der Verbleib der beiden GenTecs, eines der vielen Rätsel, die sich an Bord des Seelenschiffes SESHA - oder RUBIKON II - aufgetan hatten, schien damit einer Lösung nahe. Scobee konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. Ihre beiden Freunde lebten also! Sie waren für sie das, was einer Familie am nächsten kam. Erst recht seit sie erfahren hatte, dass ihre Zuneigung zu Reuben Cronenberg in ihren Genen verankert war und damit gar nicht echt. »Kannst du ihnen antworten?«, drängte sie John Cloud. »Ich nehme es an«, antwortete er und presste zögernd seine Hand auf einige Schaltflächen. Mehrmals sprach er eine kurze Antwort in ein halb transparentes Kraftfeld, das zwanzig Zentimeter über ihm hing. Nichts tat sich, nichts veränderte sich. »Ich bin mir sicher, dass ich keinen Fehler gemacht habe«, murmelte Cloud mehr zu sich selbst als zu Scobee. »Ich habe zwar keine Ahnung, warum ich etwas mache, aber es scheint immer richtig - wie bei der Steuerung des Warrikk.« Er versuchte ein letztes Mal, den kurzen Spruch abzusetzen. »Ich befürchte, dass die Empfangsstation fehlerhaft arbeitet.« »Wir müssen etwas tun«, drängte Scobee. »Du weißt, in welchen Schwierigkeiten sie höchstwahrscheinlich stecken. Hast du gehört, wie erschöpft Resnick klang?« Darnok, der »gute« Keelon, hatte die GenTecs untersucht und einen rapiden Zerfall in den Zellkernen beider Menschen prophezeit. Ein extrem beschleunigter körperlicher Verfall und Alterungsprozess waren mehr als wahrscheinlich. Und in letzter Konsequenz wartete der Tod. Doch selbst wenn sie die Station verlassen und den Mars erreichen konnten - Jarvis und Resnick war damit noch lange nicht geholfen. Nur eine überlegene Technologie - so wie jene der Hirten! - konnte vielleicht das Leben der GenTecs retten. Ein lautes, unartikuliertes Wimmern ertönte und erinnerte Scobee daran, dass sich noch ein
fünftes Wesen im Raum befand. Der Amorphe. »Wir müssen ihn dazu bringen, uns zu helfen«, drängte Scobee. Sie packte Cloud an den Schultern und schob ihn unsanft in Richtung des unheimlichen Wesens. »Sprich mit ihm! Oder schlüpfe in ihn hinein! Mach irgendetwas!« »Warum sollte er sich gerade jetzt erholen, obwohl er sich seit Stunden in Agonie windet und zudem immer wieder von der Bildfläche verschwindet? Ich hatte eigentlich gehofft, dass er in dieser gewohnten Umgebung zu seiner ursprünglichen Verfassung zurückfindet.« »Darauf können wir nicht mehr warten, John. Die Lage für Jarvis und Resnick ist mehr als ernst. Es kann um Minuten und Sekunden gehen. Zwinge den Amorphen zur Zusammenarbeit! Du bist es, der ihm nahe steht, John. Auf dich reagiert er. Vielleicht reicht eine Berührung, vielleicht deine Stimme.« Leise fügte sie hinzu: »Bitte!« John sah sie nachdenklich an. Erst vor kurzem hatte er sich vorgenommen, nicht mehr der Spielball irgendwelcher Mächte zu sein, sondern sein Schicksal wieder selbst zu bestimmen. Er wollte endlich selbst handeln, nicht nur versuchen, nicht getötet zu werden. Und Cloud würde handeln - wenn auch ziemlich tollkühn. »Ich denke, es gibt eine Möglichkeit, ihn aus der Agonie zu erwecken. Es kann aber ein wenig ungemütlich werden.« »Was bedeutet >ungemütlich« »Dass ich dich, Aylea und Jelto aus dem Weg haben will.« Und, an alle gerichtet, fuhr er fort: »Bitte verlasst den Raum. Sofort!« Bevor ich es mir anders überlege. Scobee überlegte, was ihr Gefährte vorhaben könnte. Wollte er den Kontakt mit dem Amorphen erzwingen? Wie sollte er das schaffen? Die Kräfte des Wesens waren selbst in diesem geschwächten Zustand mit Sicherheit weit größer als die des Mannes. »John«, sagte sie, »tu nichts Unüberlegtes!« »Geht jetzt. Bitte!«, wich er schmallippig aus und schob sie Richtung Eingang vor sich her. Aylea und Jelto gingen ohne weiteren Widerspruch aus dem Raum. Sie erkannten die ausgeprägte Autorität des ehemaligen Commanders an. Scobee hingegen drehte sich noch mal um. »John...« Er blickte ihr nur stumm in die Augen. Sie gab auf...
»Sie muss ja nicht alles wissen«, sagte Cloud, um die Strenge gegen Scobee vor sich selbst zu rechtfertigen - und um sich selbst Mut zu machen. »So, mein Freund, jetzt werden wir sehen, ob noch ein wenig Mumm in dir steckt.« Er blickte kurz in Richtung des Amorphen, der sich mittlerweile wie ein glänzender, quecksilberner Teich über mehrere Quadratmeter des Bodens ausbreitete. Würde das Wesen so reagieren, wie er es erwartete? Es war ein gefährliches Spiel, das Cloud spielen wollte. Unter Umständen konnte es ihn das Leben kosten... John seufzte. »Also los. Tun wir unser Bestes.« Mit einer geschwungenen Bewegung der Hand deaktivierte er eines der steinernen Pads und verhinderte gleichzeitig, dass es in den Altar zurück glitt. Es war eines jener Stücke, das die Gestaltung der Innendekoration der Station steuerte und ihm damit durchaus entbehrlich schien. Seiner Energie beraubt, fiel es ruckartig nach unten - und wurde knapp oberhalb des Bodens von einem Antigravfeld aufgefangen.
»Das war ja wohl klar«, knurrte John. »Ein integrierter Mechanismus schützt das Pad vor fehlerhafter Anwendung.« Er lächelte grimmig. »Aber ich kann ja auch anders...« Er packte die dünne Tafel, die mittlerweile in die ursprüngliche Höhe zurückgeschwebt war, deaktivierte sie erneut und schleuderte sie mit aller Kraft gegen ein anderes Pad. Fehlanzeige. Diesmal bildete sich ein leicht gelblich schimmerndes Prallfeld, das Schädigungen von dem wertvollen Gerät fernhielt. »Nun gut. Dann zählt wohl nur der direkte Angriff.« Cloud atmete tief durch, konzentrierte sich - und trat mit voller Wucht gegen das Pad. Diesmal hatte er Erfolg. Zwar konnte er die Arbeitsoberfläche keineswegs schädigen - aber es zählte allein, dass der Angriff von der KI der Station als solcher registriert wurde. Ein unangenehm hoher, auf und ab schwellender Ton brachte die Trommelfelle zum Klingen. Dumpfes Brummen begleitete eine Veränderung der Wand und der irritierenden Reliefs. Binnen weniger Augenblicke waren die ineinander verschlungenen Bilder verschwunden. Der einstmals helle Raum verdüsterte sich mehr und mehr. Noch ein Tritt, gegen dasselbe Pad geführt. Die Stimme eines Hirten erklang und rief Cloud eine Warnung zu. Eine letzte Warnung. So grob und voll Hass klangen die Worte, das sie in seinen Ohren schmerzten. Ein letzter Tritt, noch wuchtiger als die vorherigen. Cloud hatte ihn derart heftig ausgeführt, dass das Pad sogar um einige Millimeter zur Seite ruckte. »So, mein Lieber, jetzt kannst du mir beweisen, was du wert bist!«, rief er dem Amorphen zu, dessen Oberfläche sich unruhig kräuselte. Instinktiv duckte sich Cloud unter ein Pad. Keine Sekunde zu früh, denn aus einer in der Decke verborgenen Waffe jagte ein energiereicher, blauer Strahl dort entlang, wo er soeben noch gestanden hatte. Der Boden begann dort, wo der Strahl auftraf, zu kochen, glättete sich aber nach wenigen Sekunden wie durch ein Wunder. »So langsam benötige ich deine Hilfe, Amorpher!« Erneut wechselte John seinen Standort. Er achtete darauf, immer unter einem der Pads Deckung zu finden. Die KI reagierte gottlob schwerfällig und möglicherweise verwirrt. Sie achtete darauf, nicht eine ihrer wertvollen Arbeitsoberflächen unter Beschuss zu nehmen. Doch diese Vorsicht, nahm John an, würde sich rasch legen. Die Künstlichen Intelligenzen aus der Werkstatt der Hirten besaßen, wie er mittlerweile wusste, eine Art PseudoPersönlichkeit, die sich durch das Zeigen ungeahnter Emotionen ausdrückte. Er musste nur an die KI der RUBIKON II denken... Wie auf Kommando setzten sich die schwebenden Pads, die ihm Deckung boten, in Bewegung und glitten in den Altarstein. Im nächsten Augenblick fuhr ein blauer Energiestrahl knapp neben seiner rechten Ferse in den Boden. »Verdammt!«, fluchte er. Er spürte, wie sich die Hitze schmerzhaft über seinem Fuß verbreitete. Riesige Brandblasen waren das Mindeste, was er von diesem abenteuerlichen Experiment zurückbehalten würde. Der Amorphe zitterte und versuchte, eine Form zu bilden. Die Form eines Menschen. »Mach schon! Hilf mir!« Erneut sprang Cloud unter einem Pad hervor, das behäbig in Richtung des Altars schwebte. Es wurde knapp mit seinen Ausweichmöglichkeiten. Maximal vierzig der Schalttafeln schwebten noch im Raum. Hatte er sich verkalkuliert? War der Amorphe bereits zu schwach, um seinen Auftrag auszuführen und ihn vor Bedrohungen jeglicher Art zu schützen? Oder wurden die
Einrichtungen der Hirten ihm, Cloud, gegenüber als übergeordnet eingeschätzt? Zählte sein Leben weniger als die Sicherheit der Station? »Hilf mir!«, wollte Cloud erneut schreien, als ungeheurer Schmerz seine rechte Schulter durchfuhr. Er hatte seine Deckung sträflich missachtet. Es brannte, als ob Fleisch, Sehnen und Knochen weggeätzt worden wären. Und es stank... Er fiel vom Schock erfasst nach hinten auf den Rücken. Schulter und Arm waren binnen weniger Momente taub, doch der Schmerz setzte sich bis tief in den Körper fort. Noch half ihm der Schock, noch konnte er sich ein weiteres Mal beiseite rollen, aus der Richtung der blauen Strahlenbahn entfernen... »Hil...«, brachte Cloud mühsam hervor. Er schmeckte das Blut auf seinen aufgebissenen Lippen. Und unendlich verlangsamt spürte er, wie der Schmerz sein zentrales Nervensystem erreichte und ihn in eine Ohnmacht schicken wollte, die den Tod nach sich ziehen würde. Später würde Cloud Stein und Bein schwören, dass er gesehen hätte, wie der letzte, todbringende blaue Strahl auf ihn zuschoss, nach ihm leckte - und sich in der Substanz des Amorphen verfing, der ihn buchstäblich im letzten Moment umhüllte. Dann verlor er das Bewusstsein... 4. Mutter litt an Gedächtnisschwund. Zudem fühlte sie sich, als seien ihr Millionen von Gliedmaßen amputiert worden. Der Sicherheits-Check nahm nun schon mehr als drei Sekunden in Anspruch. Allmählich wurde sie nervös - wenn das einer Maschine möglich war. Drei fremde Bewusstseine, die keinerlei Berechtigung besaßen, in ihrem Leib frei herumzulaufen, waren nur all zu deutlich zu spüren. Zwei, die sie mühelos als gendeformierte Menschen erkannte, und ein Wesen, dessen bescheidener Intellekt kaum anzumessen war. Dies waren keine Gegner, dies waren nicht einmal Mikroben. Selbst in ihrem angegriffenen Zustand durften sie keine Probleme darstellen. Sie schuf einen TURAKK, um die Bewusstseine zu beseitigen. Das Wesen formte sich aus dem Nichts, bildete einen Körper und Gliedmaßen mit unbändiger Kraft aus - und zerrann wieder! Mutter kochte vor Zorn. Sie konnte die Form, den Zusammenhalt des TURAKK nicht stabilisieren! Ihre Milliarden Synapsen, Nervenzentren und Informationspools brodelten. Klares Denken war ihr für vier Millisekunden unmöglich. Das durfte einfach nicht wahr sein! Erneut versuchte sie es, diesmal mit einem wesentlich kleineren Wesen, das sie aus ihrem Lager aus Rohmaterial schuf. Und erneut zerrann es zwischen ihren virtuellen Fingern. Drei weitere Versuche blieben erfolglos, und mit mühsam unterdrückter Wut gestand sie sich endlich ihr Versagen ein. Nun gut. Dann musste sie eben zu primitiveren Mitteln greifen. Es gab noch andere Varianten, um sich der Fremdkörper zu entledigen.
Sie tranken ein wenig vom Wasser, das überall in den Räumen in kleinen, geschlossenen Becken zur Verfügungstand. Die Hirten hatten offenbar ein besonderes Verhältnis zum kühlen Nass. Die größte Wassermenge befand sich in einem steril wirkenden Kubus in der Mitte der Zentrale und war hermetisch geschlossen. Jarvis und Resnick rätselten, was er für eine Bedeutung haben mochte, kamen jedoch zu keiner Lösung. »Wecken wir nun den alten Cloud auf oder nicht?«, fragte Jarvis, und brachte damit ihre Gedanken zurück auf das unangenehme, aber wichtige Thema. Das Risiko war hoch, verdammt hoch. Es gab keine Kriterien, keine Anhaltspunkte, anhand derer man ein Vorgehen festlegen konnte. Die Entscheidung lautete schlicht und einfach: Ja oder Nein. John Cloud, sollten sie ihn jemals wieder sehen, würde ihnen ein Misslingen des Experimentes vermutlich niemals verzeihen. Doch Cloud war Lichtjahre entfernt und irrte in einem geheimnisvollen Raumschiff durch das unbekannte Universum auf der Suche nach der Erde. Sollten sie den Kommandanten der ARMSTRONG jedoch erwecken können, hatten sie möglicherweise jemanden an der Hand, der ihnen mehr über diese geheimnisvolle Station sagen konnte. »Wir versuchen es zuerst mit einem anderen der Eingeschlossenen«, sagte Resnick schließlich. Jarvis wirkte erleichtert, dass der andere die Entscheidung für ihn mit getroffen hatte. »Dieser hier.« Resnick wusste nicht, warum er sich gerade zielbewusst den kleingewachsenen Mann mit den weißen Haaren ausgesucht hatte. Vielleicht deshalb, weil er als einer der wenigen eine Art Bekleidung trug. Schmutzige Stofffetzen wanden sich in mehreren Bahnen um den Leib. Boreguir wich instinktiv zurück, als sich die beiden GenTecs zum Sockel hinabbeugten. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, außer, dass es etwas sein würde, das er nicht akzeptieren konnte, wenn er zusah. Also hielt er sich fern. Irgendwo gab es mit Sicherheit eine Art Fernbedienung für den Weckmechanismus. Die Hirten hätten sich kaum mühsam gebückt, um die Aktivierung zu betätigen. Denn aus all dem, was sie bisher über dieses mysteriöse Volk in Erfahrung gebracht hatten, sprach pure Arroganz. »Ich drücke jetzt die Kugel«, sagte Resnick und wischte sich noch einmal die von kaltem Schweiß benetzten Hände am Overall ab. Er hielt inne, als ihn ein kurzer Schwindel erfasste. Dann presste er den Handballen gegen die grüne Fläche, die sich leichtgängig hin und her bewegen ließ. Ein Zischen ertönte, ein Surren, und ein heller Lichtbogen umspannte den Block mit dem erstarrten Menschen. Vorsichtig drehte Resnick die Kugel nach rechts. Die Intensität des Lichtes nahm zu, auch das Surren wurde stärker; und er gab mit der Hand sofort wieder ein wenig nach. Er stand auf und trat zurück zu Jarvis, der mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin starrte. Der Block öffnete sich nicht - er schmolz. Feine Risse bildeten sich knacksend, brachen den bernsteinfarbenen Harzblock auseinander, und in dünnen Bächen rann eine ölige Flüssigkeit hinab zum Sockel. Dort versickerte sie im Nichts, löste sich einfach auf. Es dauerte lediglich wenige Minuten, bis der Kopf des Mannes befreit war. Seine Kiefer mahlten, drückten wie unter enormer Anstrengung gegeneinander. Ein Schrei ertönte, barbarisch, urtümlich und voll Schmerz. Die GenTecs legten die Hände über ihre Ohren. Kaum waren seine Arme und der Rumpf aus
dem bernsteinfarbenen Harz befreit, schlug der Weißhaarige wie wild um sich, ohne darauf zu achten, dass er sich selbst verletzte. Die Augen aber waren das Grässlichste an dem armen Wesen. Sie bluteten und starrten blind und verständnislos umher. »Tuez-moi!«, schrie er. »Tuez-moi!« Tötet mich! Fünf, sechs Mal brachte er mit schwerer Zunge die kaum verständlichen französischen Worte hervor. Dann brach die Stimme. Seine Haut löste sich, Muskeln zerfielen in Sekundenschnelle. Der ganze Körper verrottete wie im Zeitraffer. Mit einem letzten Seufzer, einem Seufzer der Erleichterung, sank der Mann in sich zusammen, noch bevor seine Beine vollends aus dem schmelzenden Harz befreit waren. Zischend, wie einer chemischen Reaktion ausgesetzt, verbrannten die kümmerlichen Reste seines Körpers an der Luft. Lediglich ein kleines Häuflein Asche blieb auf dem nun frei stehenden und gänzlich trockenen Sockel übrig. Das Surren hörte auf, der gelbliche Lichtbogen erlosch. »Das«, sagte Jarvis, »war kein gelungenes Experiment.« Seine Stimme zitterte leicht...
Resnick setzte sich erschöpft auf den Boden und gab vor, dass nur der Schock diese Schwäche verursacht hatte, die er in den Gliedern spürte. Die Wahrheit sah anders aus: Die Kräfte verließen ihn rapide. Seine Körperfunktionen kollabierten. Schneller, als er es erwartet hatte. Genau so wie diesem armen Wesen wird es mir ergehen, dachte er, nur verzögert sich der Zerfall. Doch das Ende wird ähnlich aussehen. Er blickte Jarvis an. Jarvis, der gerne »G.T.« gerufen werden wollte. Er selbst hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, sich einen richtigen Namen zu geben und sich von der Klonbezeichnung GT-Resnick zu lösen. Einen winzigen Akt der Selbstbestimmung und der Selbstfindung vorzunehmen. Denn mit Riesenschritten näherte sich das Ende ihrer Lebensspanne. Vielleicht verursacht durch ihre Reise durch die Zeit oder durch irgendeine Weltraumkrankheit - oder durch einen genetischen Defekt, der beim Klonen entstanden war. Resnicks Hände zitterten stark, und er betrachtete sie ungläubig. Hände, die noch vor wenigen Tagen die eines Scharfschützen gewesen waren, bebten nun unkontrolliert wie die eines Greises. »Ein paar Stunden oder Tage noch, mehr nicht«, murmelte Jarvis und sah ihn an. Er übertünchte seine Ängste mit dem üblichen nichts sagenden Gesichtsausdruck. »Zeit, die ich nicht verschwenden will!« Jarvis richtete sich auf. »Es wäre bitterste Ironie, wenn wir inmitten dieser hochtechnisierten Umgebung sterben würden. Diese Hirten haben sicherlich eine Lösung für unser Problem parat. Es muss einen Ausweg geben, und wir werden ihn finden!«, sagte er bestimmt, wenn auch gegen seine innere Überzeugung. »Deswegen bin ich dafür, noch einen Weckversuch zu machen. Und noch einen und noch einen, wenn es sein muss.« »Um weitere dieser armen Kreaturen zu töten?« »Sieh mal, fast alle haben die Augen geöffnet«, wich Jarvis aus. »Sie waren offenbar wach, als sie eingeschmolzen wurden. Ich glaube sogar, dass sie auch jetzt bei vollem Bewusstsein
sind. Kannst du dir das vorstellen? Sie sind unfähig, sich zu rühren und nur mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Und das teilweise über hunderte oder tausende Jahre hinweg. Es kann sein, dass sie mit ihrer Existenz schon längst abgeschlossen haben. Und wenn es uns gelingt, sie zu wecken - um so besser.« »Ja, aber was erhoffst du dir von diesen Versuchen?« »Wenn wir es streng logisch betrachten, sind die Menschen nach dem Zeitpunkt ihres Einfrierens gereiht. Ziel muss es sein, den Erweckungsmechanismus so lange zu verfeinern, bis wir daran gehen können, Nathan Cloud aus dem Kunstharz zu befreien. Er ist der drittletzte in seiner Reihe, und seine Erweckung sollte oberste Priorität haben. Um es ganz brutal zu sagen: Nicht, um den Vater unseres Ex-Commander wiederzubeleben, sondern um an das zu gelangen, was er möglicherweise herausgefunden hat. Schließlich wurde er speziell für seine Mars-Mission geschult und er war zudem als guter Beobachter mit hohem technischem Geschick bekannt. Wenn irgendjemand der Eingefrorenen Informationen über diese Station besitzt, dann ist er es. Cloud senior ist schlicht und einfach unsere größte Hoffnung, Wissen zu erlangen. Wissen, das unser Leben verlängern oder retten könnte.« »Du hängst sehr vagen Vermutungen nach. Du klammerst dich an Unwahrscheinlichkeiten, an Wenns und Aber.« »Ja, was sollen wir denn sonst tun?«, rief Jarvis wütend. »Einfach hier liegen bleiben und auf das Ende warten?« Resnick ließ sich nicht irritieren. »Du riskierst das Leben all dieser Menschen, nur um deine Existenz zu retten...« »Diese Wesen sind doch ohnehin schon scheintot, verdammt noch mal!«, brüllte Jarvis. »Entweder sterben sie bei unseren Versuchen, oder sie bleiben hier für alle Ewigkeiten eingeschlossen.« Schweigen. »Es tut mir Leid...«, sagte Jarvis schließlich leise. »Die Anspannung ist einfach zu viel für mich. Zu wissen, dass man nur noch kurze Zeit hat...« »Ist schon gut«, unterbrach ihn Resnick müde. »Du hast ja Recht. Wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, muss man sich am Unmöglichen orientieren.« Er mühte sich hoch. »Also gehen wir's an.«
»Langsam! Dreh noch langsamer!«, sagte Jarvis und hustete. »Wir wollten doch versuchen, den Auftauprozess so lange wie möglich zu strecken.« »Leichter gesagt als getan«, entgegnete Resnick. »Dieses Bedienungselement ist derart feinfühlig, dass bereits ein Millimeter zu viel entscheidenden Einfluss auf den Mechanismus nehmen kann.« Den zweiten Versuch, eine nackte Frau in ihren Sechzigern, hatten sie willkürlich aus der ersten Reihe der Kuben gewählt. Sie würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit töten. Resnick würgte. Ein dicker Kloß saß ihm im Hals. War es das wirklich wert? Wäre es nicht besser, sich in eine Ecke zu setzen und auf den Tod zu warten? »Der Harz beginnt abzutropfen«, unterbrach Jarvis seine Gedanken. »Es geschieht diesmal wesentlich langsamer als beim ersten Mal.«
Boreguir hatte sich längst entfernt und wartete sichtlich verwirrt im großen Zentralraum. Er verstand nicht, was in den beiden GenTecs vor sich ging. Der Kopf der Frau wurde freigelegt. Wie Schmelzwasser tropfte die Flüssigkeit von ihren kurz geschnittenen Haaren ab, und löste sich nahezu augenblicklich auf. Sie bewegte den Mund, machte ihn zu. Das erste Mal seit wie vielen Jahren?, fragte sich Resnick. Diesmal erklang kein Schrei, nur ein unterdrücktes Stöhnen. Wie in Zeitlupe senkten sich die Lider. »Ruhig, ganz ruhig«, redete Jarvis auf die Frau ein. »Wir wollen Ihnen helfen. Wir werden Sie befreien.« Sie bemühte sich zu antworten, doch nur sinnloses Gestammel drang über ihre Lippen. Der Auftauprozess erreichte die Schultern, dann die Oberarme und den Rumpf. Zehn lange Minuten dauerte es, bis sie endgültig von der Harzflüssigkeit befreit war. Resnick stützte sie, hob sie schließlich vom Podest und legte sie auf den warmen Boden. »Das funktioniert doch viel besser als beim letzten Mal«, sagte Jarvis unnötigerweise. »Was ist mit ihrem Puls?« Resnick presste zwei Finger gegen die Halsschlagader. Leichtes, unregelmäßiges und langsames Klopfen war zu spüren. Die Frau hielt die Augen nach wie vor geschlossen, als wolle sie sie nie mehr öffnen. Ein Husten, tief aus der Lunge kommend, bahnte sich seinen Weg. Sie erbrach einen Schwall undefinierbarer, grauer Flüssigkeit, säuerlich stinkend. Dann folgte Blut. Rot, dunkelrot. Wie ein dünner Faden rann es anfangs aus ihren Mundwinkeln, wurde jedoch rasch mehr. »Können Sie mich hören? Können Sie mich verstehen?« Resnick versuchte es in sechs, in sieben Sprachen, doch die Frau reagierte nicht auf seine Worte. »Die Lunge ist beschädigt«, konstatierte Jarvis gewohnt nüchtern, und Resnick hasste ihn dafür. Er öffnete den Mund der Frau unsanft mit zwei Fingern. Er sah das schwärende, rasend schnell dunkel werdende Fleisch. Die Lippen wurden spröde, rissen, bluteten. »Grazie...«, murmelte sie mit einem letzten Aufbäumen ihres Willens - danke. Dann begann der Leib unkontrolliert zu zittern und fiel haltlos in sich zusammen. Sie war tot. Und sie war glücklich gewesen, dass es zu Ende war...
»Das mache ich nicht mehr weiter mit«, sagte Resnick mit deutlichem Abscheu in der Stimme. »Hast du denn nicht gehört, dass sie sich bedankt hat?«, fragte Jarvis. »Ich bin mir mittlerweile sicher, dass diese bedauernswerten Geschöpfe auf irgendeine makabre und lebensverachtende Weise in ihren Kuben alles bewusst mitbekommen. Sie können sich allerdings nicht bewegen. Nur denken, nichts als denken. Der Tod ist eine Gnade für diese Frau gewesen.« »Da magst du Recht haben«, räumte Resnick ein. »Doch ich habe keine Lust, all diesen Menschen bei einem langsamen Sterben zuzusehen. Ich kann das nicht!« »Aber erkennst du denn nicht, dass wir sie beinahe gehabt hätten, beinahe gerettet hätten?
Wenn wir die Dauer des Aufweckmechanismus noch weiter strecken können, und wenn ich einen Menschen nehme, der wahrscheinlich noch nicht so lange in seinem Kubus eingegossen ist, ist die Chance umso größer, dass er bei geistiger Gesundheit überlebt...« »Wenn und Aber!«, blaffte Resnick ihn an. »Hör endlich mit diesem Selbstbetrug auf! Ohne, dass wir diese Technik begreifen und ohne medikamentöse Begleitung wird es uns nicht möglich sein, irgendetwas zu unternehmen. Wenn wir diesen armen Kreaturen helfen wollen, sollten wir sie alle miteinander so rasch wie möglich aufwecken, damit sie nicht so lange leiden müssen. Sieh sie dir doch an, sieh in diese weit aufgerissenen Augen. Sie betteln doch alle nur um Gnade...« Als ob jemand Resnicks Wunsch erhört hätte, erklang ein lautes Surren aus den beiden hintersten Reihen. Mehrere grell scheinende Lichtbögen bezeugten, dass weitere Kuben aktiviert wurden. In rasender Geschwindigkeit tropfte der bernsteinfarbene Harz von mehreren Dutzend Eingeschlossenen.
»Was ist denn... haben wir etwas damit zu tun?«, fragte Resnick panisch. Sie hatten keinen weiteren Aktivierungsbefehl erteilt! Er konnte einfach nicht glauben, was er da sah! Das Rascheln pergamentener Haut, das Brechen von Knochen, das Knirschen zerbröselnder Gliedmaßen, das Keuchen aus stimmlosen Kehlen - dies alles zusammen bildete eine Geräuschkulisse, wie sie schauriger nicht sein konnte. »Aufhören!«, schrie Jarvis, »das ist ja Wahnsinn! Was haben wir da in Gang gesetzt?« Boreguir kam mit dem Herzblut-Schwert in der Faust herbei gerannt, die Igelspitzen seines Rückens waren zur Verteidigung ausgefahren. Er blickte witternd umher und wich dann zurück, ohne die sterbenden Menschen aus den Augen zu verlieren. Mehr als achtzig von ihnen waren aus dem Staseschlaf erwacht - und starben... Plötzlich kehrte wieder Ruhe ein, lediglich unterbrochen von einigen Überladungsblitzen, die aus den Lichtbögen der geleerten Kuben stammten. »Wahnsinn!«, wiederholte Jarvis. Ein schwerer Hustenanfall befiel ihn, und er krümmte den mager scheinenden Körper zusammen. »Ich will dieses... dieses Horror-Kabinett nicht mehr sehen«, sagte er heiser, nachdem er sich wieder erholt hatte. Er wandte sich um und verließ torkelnd, wie desorientiert, den Raum. Gefolgt von Boreguir, der nach wie vor sein Schwert in der Hand hielt. Resnick blieb alleine zurück. Alleine mit mehreren Dutzend kleiner, weißer Staubhäufchen, die einmal Menschen gewesen waren. Er trat nochmals nach vorne, blickte in die Augen Nathan Clouds, der nach wie vor in seinem Kubus eingesperrt war. Alle Wiedererweckten hatten aus den letzten beiden Reihen, aus längst vergessenen Epochen gestammt. »Wir haben das nicht gewollt«, sagte Resnick müde. »Wir wollten Ihnen helfen - und uns...« Er wandte sich ab und folgte seinem Freund. Seine Nase hatte zu bluten begonnen, doch er achtete nicht darauf... 5. John Cloud erwachte stehend. Sein Körper zitterte vor Schwäche, schwankte hin und her. Nein.
Es war nicht er, der taumelte. Es war der Amorphe, der ihn umhüllt hielt. »Ich will sterben«, grollte das eigenartige, kaum durchschaubare Wesen leise. »Mach, dass ich sterben darf!« Die Stimme klang nüchtern. Keine Spur von Verzweiflung lag darin verborgen. Der Amorphe war offensichtlich nicht dazu geschaffen, Gefühle zu transportieren. »Immer schön langsam«, sagte Cloud und versuchte, seine Beine zu heben. Umsonst. Er stand inmitten der Zentrale vor dem Altar. Seine Hände lagen auf dem Pult. Der Amorphe hatte also mit Hilfe seines Körpers einige Befehle an die KI der Station gegeben. Die Strahlengeschütze in der Decke hatten das Feuer eingestellt. Gleißendes, blendendes Licht badete den Raum.. Dies alles musste geschehen sein, während Cloud bewusstlos gewesen war. Eigentlich hätte er sich schon längst daran gewöhnen müssen, vom Amorphen wie eine Puppe an Schnüren geführt zu werden - doch es war immer wieder eine bittere, eine demütigende Erfahrung. »Ich will sterben«, wiederholte das Wesen, das ihn umhüllte, lapidar. »Warum?«, fragte John irritiert zurück. Gleichzeitig konzentrierte er sich auf die verletzte Schulter. War da noch ein Gefühl zu spüren, oder hatte sie der letzte Strahlenschuss weg gebrannt? Hielt nur noch der Amorphe seinen Körper zusammen? Seltsam. Er spürte keinerlei Schmerzen... »Meine Körpersubstanz schwindet«, antwortete sein unheimlicher Partner. »Die Berührung mit der Zeitenergie der Keeton hat die Permanenzschaltung meiner Revitalisierungsfunktionen irreparabel geschädigt. Tachyonenpartikel durchsieben meine Substanz. Überlichtschnelle Materie zerfetzt meinen Leib.« »Wohin fließt die Substanz, die du verlierst?«, fragte Cloud verwirrt, der Mühe hatte, der Ausführung zu folgen. »Sie zerrinnt in der Zeit, in unendlich vielen Epochen und in unendlich vielen Multiversen. Atom für Atom geht dahin, und ich spüre den Verlust jedes einzelnen. Sag mir, dass du mich entlässt.« Ah, darauf lief es also hinaus! Der Amorphe starb, doch die oberste Direktive seiner Existenz lautete, ihn, John Cloud, unter allen Umständen zu schützen. Dieser Befehl, dieser Bann allein, hielt ihn an Ort und Stelle. »Das kann ich nicht«, entgegnete Cloud laut. »Und dein Todeswunsch widerspricht den ausdrücklichen Befehlen Sobeks.« Ich will sterben. »Dein Auftrag ist noch nicht erledigt«, sagte Cloud unbarmherzig. »Ich benötige deine Hilfe.« Er schwankte. Nein. Der Amorphe taumelte - und ließ plötzlich von ihm ab. Wie schmelzender Schnee tropfte er zu Boden und verformte sich zu einer gleißend hellen Kugel. »Es zieht mich immer wieder fort in eine andere Zeit«, sagte das Wesen mit hohler Stimme. »Ich kann mich nicht mehr länger hier halten.« Cloud fühlte, wie ihn Schwäche in den Gliedern überkam. Die Stütze durch die Kraft des Amorphen war notwendig gewesen. Hastig griff er nach der Kante des Altars und hielt sich krampfhaft fest. Er tat dies... mit der rechten Hand! Verblüfft sah er seinen Arm, sah er seine Schulter an. Der Overall war zerfetzt und wies Brandspuren auf, doch die darunter liegende Haut war unverletzt. Keine Spur, keine Narbe war zu erkennen! Waren die heilenden Kräfte des Amorphen noch größer, als er gedacht hatte?
Cloud tat fast Leid, was er nun tun musste. »Ich verbiete dir, in der Zeit zu verschwinden«, sagte er und legte so viel Nachdruck in die Stimme, wie ihm nur möglich war. »Es wird mich in weniger als einer Stunde eurer Zeit meine gesamte Substanz kosten, wenn ich diese Zeitenwechsel nicht beständig zur Entlastung durchführe. Ich fühle mich sehr... unwohl.« »Diese Stunde wird reichen«, sagte Cloud unbarmherzig. »Besorge uns eine Transportkugel, mit der wir zum Mars reisen können. Sofort!« Lockend ergänzte er: »Wenn du mir diesen Wunsch erfüllst, gebe ich dich frei.« Ein flüchtiges, kaum merkbares Zögern, dann: »Negativ. Die Empfangsstation auf dem Nachbarplaneten ist gestört. Du musst warten. Die dortige Basis wird in Kürze einer Revitalisierung unterzogen...« John dachte an die beiden GenTecs, die vermutlich verzweifelt auf Rettung warteten. »Schicke uns sofort auf den Mars, wie groß das Risiko auch sein mag!« »Negativ. Es besteht keine Möglichkeit für einen Transport dorthin.« Gebetsmühlenartig fügte das Wesen hinzu: »Lass mich sterben.« Gab es irgendeinen Grund für den Amorphen, die vier Menschen von der Marsstation der Hirten fernzuhalten? Oder war der Transportweg wirklich versperrt? John seufzte schwer. Er musste dem Amorphen einfach glauben und vertrauen. »Wir werden wohl öder übel auf den ursprünglichen Plan zurückkommen«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Besorge uns eine Transportkugel, die uns an Bord der RUBIKON zurückträgt.« »Sobek wird euch nicht empfangen.« Cloud lachte laut auf, um den Amorphen sein Unbehagen nicht spüren zu lassen. Nur zu gut war ihm die Wucht und Präsenz dieser übermannsgroßen Erscheinung noch in Erinnerung, die ihn und Scobee aus dem Seelenschiff vertrieben hatte. Doch er wusste mittlerweile auch, dass sie als Erkunder des Hirten auf der Erde unterwegs waren. Boten und Spione mussten schließlich auch einmal Bericht erstatten... Sobek würde mit ihnen sprechen, dessen war er sich sicher. »Ich gehorche«, sagte der Amorphe plötzlich mit tiefer, kaum verständlicher Stimme. Selbst seine Sprachmodulierung litt unter den Zeitschädigungen, denen das Wesen seit geraumer Weile ausgesetzt war. Es glitt über den Altar und bedeckte ihn vollends. So sehr sich Cloud auch bemühte - er konnte nicht sehen, was der Amorphe tat. Da und dort wuchsen Blasen aus seinem Körper, doch das konnte auch mit seinem weit reichenden Verfall zu tun haben... Plötzlich öffnete sich das Schott, und Scobee, Aylea und Jelto stürmten herein. Sie musterten ihn nervös. Die GenTec machte ein vorwurfsvolles Gesicht. »Aber hallo!«, sagte John ruhig. »Was ist los mit euch? Ich hatte eine nette Unterhaltung mit unserem Freund hier.« »Eine geschlagene Stunden lang? Während ich mich mit dem Gedanken anfreundete, deine Überreste von irgendeiner Wand kratzen zu müssen, hast du dich unterhalten?«, fuhr ihn Scobee an. »Nun - wir hatten uns viel zu sagen, da vergeht die Zeit wie im Flu...« Patsch! Bevor er reagieren oder auch nur ausreden konnte, hatte er bereits eine ordentliche Backpfeife auf der linken Wange sitzen. Cloud ging beinahe in die Knie. »Dass wir uns Sorgen um dich machen, kam dir nicht in den Sinn, wie?« Ihre Augen sprühten vor Zorn. »Das Schott war versiegelt, und in der ganzen Station jaulte ein Alarm. Was wäre geschehen, wenn es hier automatische Sicherheitseinrichtungen gegeben hätte? Was hast du
eigentlich angestellt?« Scobee stutzte, studierte Clouds Gesicht. »Es gab automatische Sicherheitseinrichtungen, nicht wahr?«, fragte sie leise. Doch sie erwartete gar keine Antwort. »Das war dein toller Plan? Genau wie bei dem Kuana-Baum, bei dem du dich darauf verlassen hast, dass der Amorphe dich rettet! So wolltest du ihn zu einer Reaktion bewegen!« Jelto und Aylea starrten ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination an. John Cloud hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, und zuckte bloß mit den Schultern. Es hatte schließlich funktioniert, oder? Sie würden zurück zur RUBIKON II gelangen...
Wenige Minuten später verließ der Amorphe den Altar und kroch erneut über John Cloud. Der ließ es widerwillig geschehen. Diese lebende Panzerung gab ihm zwar ein Gefühl der Sicherheit - dennoch war der Vorgang fremdartig und abstoßend. »Es geht los!«, sagte Cloud zu seinen Gefährten, die ihn erschrocken anblickten. Für einen Beobachter musste es noch viel widerwärtiger wirken. »Bleibt alle dicht hinter mir!« Sein Panzer erlaubte ihm gerade noch zu sprechen. Alle weiteren Bewegungsfunktionen unterlagen der Kontrolle seines »Beschützers«. Er selbst konnte nicht einmal den Kopf drehen. Er stapfte aus der Zentrale und den kurzen Korridor entlang, hinein in den kleinen Bahnhof. Eine Transmitterkapsel war da. Still stand sie an ihrem Platz, als ob sie bereits seit Jahrhunderten auf ihn wartete. Clouds Hand fuhr über den Öffnungsmechanismus. Ein fremdartiger, schriller Ton erklang, und die Kapsel klappte auseinander. »Haltet euch dicht hinter mir!«, sagte Cloud. Man durfte den Eigenwillen und die fremdartige Denkweise des Amorphen in keiner Situation unterschätzen. Möglicherweise hatte er kein Interesse daran, Clouds drei Begleiter mit an Bord zu nehmen... Es zischte, als sich die Kapsel hinter ihnen wieder schloss. »Seid ihr alle da?«, fragte Cloud. Er - beziehungsweise der Amorphe - stand so, dass er ihnen den Rücken zuwandte und weder Scobee, noch Aylea oder Jelto sehen konnte. »Ja!«, riefen seine drei Begleiter fast zugleich. Mittlerweile setzte der Amorphe seinen Körper auf einen der drei voluminösen Plätze, berührte mit seiner Hand einige Sensoren neben der Armlehne und senkte sie schließlich auf ein grünes, rundes Farbfeld. Ein leichter Ruck ging durch die Transportkapsel. Oder entsprang dieses Gefühl nur Clouds Wunschdenken? Gab es überhaupt einen leichten Stoß, wenn sie teleportierten? »Wir sind gestartet«, erklärte der Amorphe einen Moment später. Und wie zum Beweis wurde die Kugel von einem Moment zum nächsten transparent. Nicht nur die Kugel, nein! Alles! Die komplette Einrichtung, die wenige sichtbare Technik, die Befehlsfelder. Selbst die Beleuchtungskörper - schlanke, länglich geformte Schienen - verschwanden wie von Zauberhand, wurden transparent. Aylea schrie entsetzt auf...
Sobek stand breitbeinig in der Zentrale des Seelenschiffes und schaute hinaus ins All. »Die Kundschafter versuchen zurückzukehren«, sagte SESHA demütig. Die Künstliche Intelligenz des Raumschiffs hatte eine eigene Persönlichkeit, wie die meisten Kls der Foronen. »Gut.« Sobek machte eine Geste der Zustimmung - ein kurzes Anheben der Hand, die sechs Finger gespreizt. Der Mensch John Cloud, den er ohne dessen Zustimmung für diese Aufgabe bestimmt hatte, schien eine gute Wahl gewesen zu sein. »Wann werden sie eintreffen?« »Sie haben eine Transportkapsel angefordert. Sie halten sich zu diesem Zeitpunkt auf der Untersee-Station des dritten Planeten auf.« »Sende ihnen die Kapsel. Doch bei ihrer Rückkehr lass sie am Schild abgleiten und im Normalraum rematerialisieren. Du wirst sie ausführlich scannen, bevor ich ihnen Zugang zu dir gewähre. Ich werde kein Risiko eingehen.« Nicht, seit es den Erinjij, den Menschen, gelungen war, das Konstrukt so stark zu schädigen, dass es nicht mehr ständigen Kontakt halten konnte. »Jawohl.« »Wie weit ist der Erweckungsprozess der anderen vorangeschritten?« »Sie träumen noch. Sie sind noch nicht so weit«, entgegnete SESHA. »Wir werden sehen.« Sobek versank wieder in seinen düsteren Gedanken.
Aylea schrie! Sie trieben mit einem Mal mitten im All, durch die transparenten Wände konnten sie eine münzgroße Sonne ausmachen, ansonsten waren um sie herum nur ferne Sterne. Sie schwebten im Nichts. Der Schrei der Zehnjährigen verklang. »Wo...?«, stotterte sie. »Ich dachte, wir würden auf der Rubikon landen!« Ayleas Stimme überschlug sich. »Wo sind wir?« Cloud tauschte mit Scobee einen stummen Blick. Er biss sich auf die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. Er wusste schließlich auch nicht, was geschehen war. Die GenTec deutete auf den Amorphen, der eine Lache zu Clouds Füßen bildete. Er schien am Ende seiner Kräfte. »Wo ist die RUBIKON?«, verlangte Cloud zu wissen. Wie auf Kommando war sie plötzlich da. Es gab keinen Lichtblitz, kein ankündigendes Schimmern im Vakuum. Nur ein gigantisches Objekt, das aus dem Nichts auftauchte. »Dort ist SESHA«, sagte der Amorphe und benutzte dabei den Namen der Sieben Hirten für das Artefakt. Aylea lehnte sich instinktiv an Scobee, kroch unter ihre Armbeuge. Jelto umklammerte das Erste Korn, das an einer Kette vor seiner Brust hing, wie einen Talisman. »Es... es erinnert mich in seiner Form an einen Rochen, nur der Schwanz fehlt.« Cloud richtete seinen Blick auf die makellose Oberfläche der RUBIKON. Erleichtert stellte er fest, dass der Florenhüter Recht hatte. Der Schwanz, jene furchtbare Waffe, deren Wirkung
Scobee und er bereits miterlebt hatten, war nicht zu sehen - was nicht bedeutete, dass die RUBIKON wehrlos war... »Sie sieht aus wie neu«, flüsterte Scobee neben ihm. »Wie frisch von der Werft gekommen.« »Die Hülle begann sich selbst zu regenerieren«, sagte Cloud ebenso leise zurück. »Es war ein mühsamer Vorgang und erforderte größte Konzentration. Ich dachte, dass es Jahre dauern würde, um sie wieder zum Glänzen zu bringen. Aber was sind das eigentlich für Bilder?« Schemen und Schatten waren auf der Hülle sichtbar, irrlichternde Szenen von Geistern und Dämonen... Nein. Keine Geister. Dies waren zum Teil Wesen, wie Sobek eines war. Groß und mächtig, in wuchtigen Rüstungen und einer nahezu körperlich spürbaren Präsenz. Die Knochenstruktur war deutlich zu erkennen, besonders am Kopf sah es so aus, als sei überhaupt keine Haut vorhanden. Ein Gesicht im menschlichen Sinne hatte das Wesen nicht. Lediglich eine Membran, die sich stetig bewegte, leicht zitterte. Sonst waren keine Sinnesorgane zu erkennen. Raumschiffe, gewaltig und feurig glänzend, rauschten im Hintergrund der Bilderflut heran und tauchten wieder weg. Manche von ihnen waren verwaschene Schemen, die hinter einem alles verzerrenden Feld verborgen lagen, andere erinnerten an gigantische Dreizacke, aus deren Spitzen Strahlenbahnen hervordrangen. Sie verbrannten Planeten mit absurd fröhlich wirkendem, regenbogenfarbigem Licht, ließen nichts zurück als düstere Schlackehaufen, die, ihrer Sonnen beraubt, durch das All torkelten. John graute, sein Magen revoltierte. Was waren dies für Bilder, welche Tragödien projizierten sie? Außer den Weltraumszenen gab es Momentaufnahmen von Wesen, deren ledrige, vielfach gefaltete Häute sechs spinnenartige Beine bedeckte. Manche der Wesen sprangen hoch, katapultierten sich geradezu in die Luft. Sie stürzten sich auf einen Hirten, der vergeblich versuchte, sie mit einer Strahlwaffe abzuwehren. Die angreifenden Wesen absorbierten die Energie, fraßen sie richtiggehend weg - und setzten sich schließlich an dem Hirten fest. Sie waren wesentlich kleiner als ihr Gegner, vielleicht vierzig Zentimeter im Durchmesser - doch hatten sie sich einmal angeklammert, schien es kaum noch eine Möglichkeit zu geben, sie zu entfernen. Der Hirte hieb mit einer sichelartigen Waffe um sich und erzeugte damit mehr Schaden als mit dem Strahler. Manch einer seiner Gegner taumelte leblos zu Boden und zerbröselte augenblicklich zu Staub. Doch immer mehr der unheimlichen Wesen sprangen oder krabbelten heran. Sie klammerten sich fest, hieben die dünnen Klauen in das Fleisch des Hirten, bedeckten seinen Leib immer mehr. Noch einmal erwachte der Kampf es willen des Hirten. Mit urtümlicher Kraft schwang er nun sein gekrümmtes Schwert, hieb um sich, trennte mehrere der festgeklammerten Gegner von seinem Körper. Doch dort, wo sie gesessen hatten, war sein Körper grau geworden. Wie versteinert. Und neue Gegner brandeten gegen ihn an, verdunkelten die Luft, stürzten sich auf ihn, fraßen sich an ihm fest. Da! Einer, ein gutes Stück größer als seine Artgenossen, umklammerte den Waffenarm des Hirten - und kraftlos glitt die Waffe aus dessen Hand. Der Hirte konnte sich unter dem Gewicht der Gegner kaum noch bewegen, zuckte nur noch
hilflos hin und her. Vergebens. Der größte seiner Gegner wartete geduldig, bis die Kraft des Hirten nachließ - und setzte sich schließlich mit einer eleganten Bewegung auf sein Haupt. Das Wesen umklammerte den Kopf seines Opfers mit allen sechs Beinen, Krallen bohrten sich am Halsansatz des Hirten in die Haut, immer tiefer. Kurze Zeit noch zuckte der Hirte unter den fremden Leibern, als ob er unter fürchterlichen Schmerzen litte. Dann stand er still. Wenige Momente später ließen die lederhäutigen Geschöpfe vom Hirten ab- und hinterließen ein skelettiertes, sofort in sich zerfallendes Wesen. »Verdammt«, stieß John hervor, »was ist das?« Er taumelte zurück, im Schrecken des Gesehenen gefangen. Die Bilder waren derart präsent gewesen, dass er geglaubt hatte, inmitten des Schlachtfeldes gestanden zu sein. Er meinte, die Schreie des Hirten gehört, den Geruch von Blut, Angst und Schweiß in seiner Nase zu haben. Rasch blickte er sich um. Scobee, Aylea und Jelto ging es nicht anders als ihm. Die Augen vor Schrecken weit geöffnet, starrten sie auf die fürchterlichen Geschehnisse, die sich auf der Außenhaut der RUBIKON wie auf einer Filmleinwand abspielten. In diesem Moment wurden die Wände der Transportkapsel wieder undurchsichtig...
»Scan abgeschlossen«, meldete SESHA. »Außer dem Konstrukt befinden sich vier menschliche Lebensformen an Bord. Eine genauere Unterscheidung ist mangels Vergleichsdaten nicht möglich. Ich empfehle eine baldige Erweiterung der Daten. Doch unter ihnen befinden sich die Menschen John Cloud und GT-Scobee. Das Konstrukt ist schwer beschädigt, ist aber reparabel.« »Gut.« Sobek saß in seinem Kommandosessel und hatte so direkten Zugriff auf alle gescannten Informationen. »Leite ihren Transport auf die SESHA ein und handle nach eigenem Ermessen auf Grund der zur Verfügung stehenden Daten. SESHA ist nicht zu gefährden!« Sobek wies das Seelenschiff auf einige Scan-Ergebnisse hin, auf die sich seine Anweisung bezog. Dann wechselte er das Thema. »Haben sie die Träume gesehen?« »Ja.« »Gut. Dann wissen sie, was auf sie zukommt.«
Die Transportkapsel öffnete sich. Der Amorphe formte sich zu einer menschenähnlichen Gestalt und stapfte durch das geöffnete Schott, ohne auf die Menschen zu warten. Er war kleiner und schmaler geworden, maß vielleicht noch einen Meter fünfzig. Er zitterte unkontrolliert und wirkte bei weitem nicht mehr so eindrucksvoll wie bislang. Cloud stieg hinter ihm aus, blickte vorsichtig nach links und rechts. Sie standen in einem Raum, ähnlich dem, aus dem sie ihre Reise zur Erde angetreten hatten. Drei weitere Transportkapseln hingen in ihren zangenartigen Halterungen. »Was ist los?«, fragte er den Amorphen, der abrupt stehen geblieben war.
»Wartet!«, sagte der einsilbig. »SESHA befielt mit Sobeks Vollmacht, dass wir warten.« Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Sie mussten auf dem schnellsten Wege in die Zentrale. Auch sein Bewacher sollte sich - schon aus Eigennutz - beeilen. »Was geschieht hier?«, fragte Aylea ängstlich. »Alles verschwimmt.« Scobee beugte sich hinab zu ihr. »Ist dir schlecht?«, fragte sie mit Besorgnis in der Stimme. Keine Reaktion. »Aylea?« Wie unter Drogen stehend blickte die Zehnjährige die GenTec an. »Ich fühle mich so schwach, so müde...« »Wahrscheinlich ist ihr das alles zu viel geworden«, sagte John und blickte nach vorne. Der Raum wirkte anders als das, was er bislang in Bord der SESHA gesehen hatte. Er hatte das Gefühl, dass es bergauf ging, egal, ob er sich nach links, rechts oder nach vorne drehte. Seine Sinne konnten die Eindrücke nicht richtig verarbeiten. »John, ich brauche dich!«, drängte Scobee. »Was ist los?« Rasch ging er zu der GenTec zurück, die sich hingekauert hatte und Aylea auf ihrem Schoß hielt. »Sie fiebert! Sie hat etwa«, sie legte dem Mädchen die Hand auf die Stirn, »41 Grad Celsius Fieber. Und sie wirkt auf einmal so leicht, so ätherisch...« John griff an die Stirn des Mädchens. Er konnte die Temperatur nicht so genau bestimmen wie die Klon-Frau mit ihren gesteigerten Sinnen. Doch er spürte die brennende Haut über dem schreckverzerrten, rot glühenden Gesicht. »Scobee! John! Jelto! Wo seid ihr?«, schrie das Mädchen panisch. Es starrte blind umher, ruderte mit den dünnen Armen. Cloud starrte entsetzt auf die Stelle, wo sich unter ihrer Kleidung etwa der Bauchnabel befinden musste. Aylea löste sich auf! Von der Körpermitte zu den Seiten hin verschwand das Mädchen. Von den Rändern sprühten blaue Funken, die sich immer schneller voran fraßen. Eine Sekunde später war Aylea weg. Scobee sprang hoch, das Antlitz zu einer Fratze aus Angst und Wut verzerrt. »Aylea!« »Du hast gewusst, dass das passieren wird!«, brüllte John den Amorphen an, der wie erstarrt vor ihm stand. »Du hast es gewusst! Wo ist sie hin? Was habt ihr mit ihr gemacht?« Er schlug voll Hass und Zorn mit der Faust in das teigige Gesicht des Wesens - und versank darin. »Es ist geschehen«, sagte das Wesen unbeeindruckt. »Wir können nun zu Sobek gehen.« Es stülpte sich, von der Hand Clouds in seinem bizarren Gesicht ausgehend, um dessen Körper, bis es ihn vollständig umhüllt hatte. Mit einer Leichtigkeit, die seiner angegriffenen Verfassung eigentlich Hohn sprach, zwang er Cloud, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Lass mich in Ruhe!« Mit aller Macht wehrte sich der Mann, spannte die Muskeln an. Umsonst. John spürte ein leichtes Kribbeln, als Scobee und Jelto auf seine Brust einschlugen, hörte die Flüche, die der Frau über die Lippen kamen. Doch der Amorphe schob die beiden Menschen kurzerhand beiseite und bewegte sich ungeachtet weiterer Attacken voran. »Du hast mich hintergangen, du Schweinehund!«, rief Cloud. Er legte allen Zorn, der sich in ihm aufgestaut hatte, in seine Stimme. »Was habt ihr mit Aylea gemacht? Ist sie tot?« »Ich bringe dich zu Sobek«, entgegnete sein Panzer. »Er wird mich endlich sterben lassen. Alles andere ist bedeutungslos.« Wiederum wischte er mit einer beiläufigen Bewegung Scobee beiseite, die mit einem
metallenen Gegenstand auf ihn einschlug. »Ich wünsche dir, dass du zur Hölle fährst«, knurrte John inbrünstig. Der Amorphe schwieg, so sehr John auch auf ihn einzuwirken versuchte. Nach einer Weile gab er es erschöpft auf und bereitete sich auf die Begegnung mit Sobek vor. 6. Mutter erlitt einen Tobsuchtsanfall. Ihr Geist, das unbestechliche Gehirn, das den Hirten gehörte, glühte vor Zorn. Die Muster, die sie aus den Stasetanks befreit hatte, um sie auf die drei Eindringlinge zu hetzen, waren ausnahmslos zerfallen, bevor sie ihre Aufgabe hatten erfüllen können. Es war ihr nicht möglich gewesen, diese Muster ausreichend auf das Erwachen nach jahrhunderteoder jahrtausendelanger Stasezeit vorzubereiten, und rasch hatte sie jeglichen weiteren Weckvorgang unterbunden. Auch wenn dies nur Wesen von geringem Wert waren, so gehörten sie doch ihren Meistern, den Hirten. Ach, hätte sie doch nur selbst einen Körper besessen, um diese drei widerlichen Kreaturen mit ihren eigenen Händen zu töten... Nach geraumer Zeit beruhigte sich Mutter. Auch wenn sie eine Gefühlskonstante besaß, war sie schlussendlich doch nur eine Künstliche Intelligenz. Und damit gezwungen, auf Fakten beruhende Entscheidungen zu treffen; logisch und unbestechlich zu handeln. Die Mechanismen der Station gehorchten ihr nur noch zu einem geringen Prozentsatz. Mutter hatte sogar dulden müssen, dass die Eindringlinge einen hochrangigen Hilferuf über ihre Systeme ausgesandt hatten. Warum nur war sie losgerissen vom Ganzen, dem sie sich so sehr verbunden fühlte? Warum hatten sie die Hirten seit einer Ewigkeit hierher auf diesen trostlosen Steinklumpen verbannt? Nur, um Muster vom Nachbarplaneten zu sich zu ziehen, zu befragen und in Stasetanks für spätere Befragungen aufzubewahren? Wie hatte nur ihr exakter Auftrag gelautet? Was war Inhalt ihrer bewussten Existenz gewesen, so weit weg vom Ganzen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, konnte sich an nahezu nichts mehr erinnern. Ein jeder Denkprozess fiel ihr schwer, und sie sehnte sich mit einer unbestimmten Ahnung nach Wärme und Behaglichkeit und Vergessen. Ihre Lebenserhaltungsmechanismen funktionierten leidlich, die Testaufzeichnungen über den Zoo am Fuß des Kristallturms wurden weiterhin geführt. Auch die dicke, schützende Wasserschicht, die als Abgrenzung zur Oberfläche und als Schutz vor den Feinden diente, unterlag tadelloser Wartung. Doch ausgerechnet im Stammhaus, in der Zentrale der riesigen Station, musste sie den Gestank und die Gegenwart dreier widerlicher Krabbelwesen dulden. Wie Ungeziefer gehörten sie ausgerottet... Ungeziefer. Das erinnerte Mutter an die Würmer, die sie vor wenigen Jahrtausenden geschaffen hatte, um die Zentrale vor Schädlingen aller Art zu schützen. Hatte sie denn nicht noch einen der Würmer übrig behalten? Ja! Da war er, an der Oberfläche ihres Leibes - und er funktionierte. Er war zwar keineswegs als Waffe gedacht - doch er würde vollends genügen.
Die Funkanlage strahlte weiterhin jenen kurzen Hilferuf aus, den Resnick aufgezeichnet hatte. Dessen hatte er sich versichert, dann war er mit Jarvis und Boreguir erneut aufgebrochen, um die Station der Hirten weiter zu erkunden. Während des Gehens aß er kleine Happen getrockneten Bichisto-Fleisches. Käferfleisch, zäh und ungewürzt. Er hatte Mühe, die Bissen zu schlucken. Kiefer und Rachen schmerzten, und immer wieder musste er husten. »Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte ihn Boreguir. »Wäre es nicht besser, wenn wir in der Nähe des sprechenden Zauberkastens bleiben würden? Möglicherweise gibt er ja Antwort, während wir nicht da sind.« Mit einer müden Handbewegung winkte Resnick ab. Dann dachte er daran, dass Boreguir diese typisch menschliche Geste nicht verstehen konnte, und sagte: »Ich habe die wichtigsten Informationen in meinem Funk... Zauberspruch weitergegeben. Sollte uns tatsächlich jemand suchen, kann er uns ausreichend präzise anmessen. Doch nach den fehlgeschlagenen Experimenten mit den Eingefrorenen sollten wir auf eigene Faust Erkundigungen einholen. Es gibt möglicherweise Waffensysteme und Sicherungsmaßnahmen, die wir ausschalten sollten.« Jarvis ergänzte: »Wir sehen hier an allen Ecken und Enden eine unglaubliche Überlegenheit der Erbauer. Und dennoch werden wir als Eindringlinge nicht attackiert. Warum? Wir können nur vermuten, dass die Verteidigungsmechanismen der Station lahm gelegt beziehungsweise geschwächt sind. Doch wir sollten uns keineswegs sicher fühlen.« »Vielleicht wurden wir bereits angegriffen«, sagte Boreguir. »Wie meinst du das?«, fragte Resnick müde. Er konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dies fiel ihm schwer genug. »Die Schläfer. Möglicherweise wurden sie vom bösen Geist der Station erweckt, um uns zu vertreiben oder zu töten.« Resnick blickte Jarvis an und sah dasselbe Erschrecken in dessen Augen, das auch er spürte. Verdammt, wenn ihm doch nur das Denken nicht so schwer fallen würde. Sie beide hätten längst denselben Schluss wie Boreguir ziehen müssen. »Ich befürchte, du hast Recht«, sagte er. »Umso mehr müssen wir uns in Acht nehmen.« Sie hatten die zentrale Halle längst verlassen und wanderten einen der vielen, gekrümmten Gänge entlang. Indirektes, etwas zu schwaches Licht beleuchtete ihren Weg nur mangelhaft. Links und rechts führten immer wieder Quergänge weg, die jedoch allesamt in leeren, nahezu gleich großen Räumlichkeiten endeten. Vorbei ging es an monströsen, deformiert wirkenden Statuen, die in sich verzerrt waren. Als ob sich die windenden Leiber ohne Kopf und Glieder selbst verschlingen würden... Sie saßen auf dunkelrot leuchtenden Sockeln, strahlten Bösartigkeit und Übelkeit erzeugende Fremdartigkeit aus, die trotz der fortschreitenden Abstumpfung von Resnicks Sinnen deutlich zu spüren war. »Da ist eine Rampe nach oben«, sagte Jarvis und deutete mit zitternder Hand nach vorne. Möglicherweise eine Form der Selbstbestätigung dafür, dass er das filigrane, brückenartige Gebilde überhaupt noch erkennen konnte. Immer wieder stießen sie völlig überraschend auf Monumente der Schönheit wie eben dieses. Die verschnörkelte und liebevoll detaillierte Bauweise der in strahlendes Licht getauchten Brücke widersprach so derart der sonst vorherrschenden Abartigkeit der Station. Resnick betrat die Rampe zögernd. Der Boden war glatt und ein wenig rutschig, ganz anders als der Belag in den endlosen Gängen. Vorsichtig und langsam ging er nach oben, dem hellen,
viereckigen Tor zur nächst höheren Etage entgegen. Warum verwendeten die Hirten hier keine moderne Technologie, um von einer Ebene zur nächsten zu gelangen? In der RUBIKON II gab es überall Transmitter. Wahrscheinlich waren sie einfach defekt. Schwitzend und keuchend erreichte Resnick das obere Rampenende. Er stand vor einem stählern wirkenden Tor ohne sichtbaren Öffnungsmechanismus. Es war so glatt poliert, dass es wie ein Spiegel wirkte. Sein Gegenüber, sein Spiegelbild, ein alt wirkender, gebückt stehender Mann, betrachtete ihn erschrocken. Resnick fuhr sich über den kahlen Schädel, betastete die hervortretenden Adern, die dunklen Flecken, die brüchige Haut. Er sah aus wie ein Fünfzig- bis Sechzigjähriger. »Erschreckend, nicht wahr?«, sagte Jarvis, der neben ihn getreten war und sich ebenfalls betrachtete. »Wem wollen wir noch etwas vormachen?«, murmelte Resnick. »Jede Hilfe kommt zu spät.« »Für uns vielleicht aber nicht für Boreguir«, entgegnete Jarvis flüsternd. »Wir müssen ihm die besten Voraussetzungen schaffen, um von hier entkommen zu können. Er ist ein guter Freund.« »Sollten wir ihn nicht wieder nach unten schicken?« Resnick hatte ins Englische gewechselt, das der Igelartige nicht verstand. »Am Fuß des Kristallturms hat er mit seinen kämpferischen Talenten und vor allem mit seinem Grips alle Aussichten auf ein langes Leben.« »Ein Leben in Gefangenschaft, ha! Du kennst doch seinen unbändigen Freiheitsdrang. Diese Option hat er zudem immer noch zur Verfügung, wenn wir... wenn wir ihm nicht mehr helfen können. Bis dahin sollten wir allerdings alles Menschenmögliche tun, um ihn von hier weg zu bringen.« Jarvis hustete hinter vorgehaltener Hand. »Wir müssen ihm so viel wie möglich von dem erzählen, was wir in den letzten Wochen erlebt haben und wohin es uns verschlagen hat. Egal, wie klein die Chance auch sein mag: Das Wissen, das wir uns angeeignet haben, darf nicht verloren gehen.« »Wem soll er es denn weitererzählen? Und zu welchem Zweck?«, fragte Resnick. »John Cloud wird kommen. Du kennst seine Zähigkeit. Wahrscheinlich lernt er soeben, die neue RUBIKON zu beherrschen. Und irgendwann wird er hier auftauchen, gemeinsam mit Scobee...« »Cloud! Bei allem Respekt - er ist auch nur ein Mensch, der zudem gegen alle Widrigkeiten dieses Universums zu kämpfen hat.«, »Lassen wir doch die Diskussionen, Resnick. Vergeuden wir nicht unsere wertvolle Lebenszeit.« Jarvis hustete erneut und wischte sich das Blut, das auf seiner Hand klebte, am Overall ab. »Machen wir weiter?« Resnick nickte und betätigte den Öffnungsmechanismus des Tors. Das stählerne Portal schwang leise nach außen. Boreguir folgte ihnen, als sie hindurch traten. Er hielt Feofneer, das Herzblut-Schwert, in seiner Schlaghand. Wachsam, wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Sie betraten das Dach der Station. Über ihnen war das Halbrund der Decke des riesigen Hohlraumes zu sehen. Grünblau lumineszierendes Wasser wogte dort oben in einer nahezu transparenten Fassung zähflüssig hin und her, schien sich jeden Moment über sie ergießen zu wollen. Es war ein Angst einflößender Anblick. So ungewohnt, so widersinnig, so derart gegen jede ihnen bekannte Regel der Physik. Doch viel erschreckender als das Wasser über ihnen war das wurmartige Geschöpf, das sich ihnen frontal mit rasender Geschwindigkeit näherte. Es leuchtete, es zischte, und es
vernichtete alles, was ihm in den Weg kam. Der Wurm zog einen kaskadenförmigen Sprühregen hinter sich her, in dem Antennen, verschnörkelter Zierrat und abgrundtief hässliche Statuen gleichermaßen vergingen wie Schneebälle in der Hölle. »Zurück!«, schrie Boreguir, und drängte die beiden GenTecs vor sich her, durch das Portal zurück. »Mach, dass es wieder zugeht! Schnell«, herrschte er Resnick an. Der Wurm kam immer näher, unglaublich schnell, trotz der schlängelnden Fortbewegung. Er schien vor Energie zu bersten. Resnick suchte die Stelle, an der der Schließ- und Öffnungsmechanismus integriert war und presste die zitternde Hand erneut dagegen. Langsam, viel zu langsam, schwang das Tor wieder zu. Gleich war der Wurm heran, gleich... Ein Blitzen, eine hastige Bewegung einer Hand - und ein armlanges Messer zischte an Resnick vorbei. Boreguir! Der Igelähnliche hatte aus dem Bund seiner Hose eine bislang verborgen gebliebene zweite Waffe gezogen und mit unglaublicher Wucht in Richtung des heranstürmenden Wurmes geschleudert. Und getroffen! Dort, wo man bei einem Lebewesen den Kopf vermuten würde, steckte der Stahl und fraß sich merkwürdig langsam seinen Weg ins Innere. Nein. Das stimmte nicht. Das Messer löste sich auf, als ob es schmelzen würde. Doch immerhin: Der Wurf hatte die Geschwindigkeit des Wurmes gebremst und ihn ein wenig von seinem Kollisionskurs abgebracht. Lange genug, dass das Tor zu schwingen und sie vor dem unheimlichen Geschöpf schützen konnte. Der Wurm prallte mit aller Gewalt gegen das verschlossene Portal, sodass das dumpfe, hässliche Geräusch in den Gängen unter der Rampe widerhallte. Boreguir fluchte ausgiebig in seiner Muttersprache, während Resnick völlig ausgebrannt zu Boden sank. Ein paar rasche Bewegungen bloß, und seine Energie war aufgebraucht. Warum das Unvermeidliche noch weiter hinausschieben? Warum sollte er nicht einfach das Tor öffnen und sich dem Wesen zum Opfer anbieten? »...hoch mit euch, ich bitte euch!«, hörte er plötzlich die besorgte Stimme Boreguirs vor sich. »Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden.« Hatte er geschlafen? Das Bewusstsein verloren? Er wusste es nicht. Scheinbar fehlten ihm einige Minuten. Dann hörte er erneut das dumpfe Wummern. Nein, dies war kein nachklingendes Echo. Der Wurm krachte mit all seiner Kraft immer und immer wieder gegen das Tor. Müde presste Resnick den Kopf gegen das kühle Metall. Er spürte förmlich, wie das Leben aus seinem Körper wich. »Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr«, flüsterte er heiser. »Doch! Du willst!«, knurrte Boreguir zornig und zog ihn mit einem Ruck auf die Beine. »Es ist eines Kriegers nicht würdig, einfach so zu sterben. Solange noch Kraft in euren Körpern steckt, seid ihr dazu verpflichtet, den Kampf aufrecht zu erhalten.« »Siehst du denn nicht, dass es mit uns zu Ende geht?«, hörte Resnick die murmelnde Stimme Jarvis von irgendwoher. »Unsere Körper - sie versagen. Sie zerfallen richtiggehend. Binnen weniger Stunden sind wir um Jahrzehnte gealtert.« »Das weiß ich«, entgegnete Boreguir. »Es war selbst für mich nicht zu übersehen.« Wieder krachte der Wurm gegen die stählerne Tür, erschütterte sie, brachte sie zum Vibrieren. »Wenn der Körper nichts mehr zu leisten vermag, muss der Geist ihn stützen«, fuhr der Igelähnliche beschwörend fort. »Geist und Stolz müssen bis zur letzten Sekunde der Existenz aufrechterhalten bleiben, damit Würde entsteht. Unsere Würde ist alles, was uns ins jenseitige
Reich begleitet. Wollt ihr eurem Schöpfer als Schwächlinge gegenübertreten, damit er euch verleugnet und ins Dunkle Reich verweist? Habe ich mich geirrt bei der Wahl meiner Partner? Seid ihr Schwächlinge? Ehrlose Feiglinge?« Mit zornbebender Stimme beendete Boreguir seine kurze Ansprache. Erneut krachte der Wurm gegen das Portal, nur wenige Zentimeter von Resnick entfernt. Unglaublich. Erste Dellen bildeten sich im Stahl. Das wurmähnliche Ding, egal ob Lebewesen oder Maschine, verfügte über unbeschreibliche Kräfte. Aber immerhin konnte es das Tor offensichtlich nicht einfach öffnen. »Boreguir hat Recht. Ehre und Würde sind alles, was uns geblieben ist«, sagte Jarvis. »Ich wünschte, ich hätte eine vernünftige Waffe.« Resnick nickte langsam und hoffte, dass der Igelähnliche seine Körpersprache verstehen würde. Der Hals tat ihm weh, er wollte und konnte nicht sprechen. »Gut«, sagte Boreguir, wieder ruhig und beherrscht. »Der Wurm wird dieses Tor bald durchbrochen haben. Wir ziehen uns so rasch wie möglich zurück. In den großen Raum, die Zentrale, wie ihr sagt. Ich erinnere mich an drei weitere Türen, die wir wahrscheinlich verschließen können. Wir müssen Zeit gewinnen, um eine Falle zu errichten.« Zeit! Resnick konnte und wollte das Wort nicht mehr hören. Ihre Lebenskerze war bis auf einen schnell dahin schmelzenden Wachsstummel niedergebrannt. Er humpelte und stolperte hinter Boreguir her und dachte intensiv über das nach, was ihnen der Krieger über Stolz und Würde erzählt hatte. Es war tatsächlich das Einzige, über das es noch wert war nachzudenken. 7. Das Podium der Zentrale war von milchigem Schleier verhüllt. Der Hirte, Sobek, stand links daneben, vor dem Panoramaschirm, und starrte ihn an. Zumindest glaubte Cloud, angestarrt zu werden, denn keine Augen waren in dem zerfurchten »Gesicht« zu sehen. »Du hast uns ungelogen«, sagte John zur Eröffnung. »Wie bitte?« Die Stimme des Wesens brandete ihm entgegen. Kraftvoll, befehlsgewohnt Cloud wäre beinahe zurückgewichen. »Du sagtest, wir wären hier nicht mehr willkommen und würden sterben, sollten wir die SESHA nochmals betreten«, entgegnete der Mensch konzentriert. Er spürte, wie die Reste des Amorphen von ihm abtropften und er die Kontrolle über seinen Körper wiedergewann. »Aber in Wirklichkeit hast du uns als Kundschafter auf der Erde ausgesetzt. Warum diese Charade?« »Meine Gründe für das, was ich tue, haben dich nicht zu interessieren...« »Wohin ist Aylea verschwunden?« Der Hirte schwieg, wandte sich ab und betrachtete den Panoramabildschirm. »So viele Sterne. So viel Unglück, so viel Schmerz, so viel Unvernunft«, sagte er zusammenhanglos. »Trotz all der Jahrtausende, die wir schliefen, hat sich nichts geändert.« »Bist du der echte Sobek? Oder nur ein Hologramm, ein Schatten, ein Abklatsch eines Wesens?« »Ich bin erwacht«, sagte Sobek. »Auch die übrigen Überlebenden der Sieben werden bald erwacht sein.« Mit einer verscheuchenden Handbewegung veranlasste er den milchigen Nebel, sich von den sieben Schalensitzen zu lösen, die inmitten der Zentrale auf einer Erhöhung thronten. Fünf der Kommandosessel waren besetzt. Durchscheinende Hologramme von Hirten schienen
darauf Platz genommen zu haben. Cloud konnte keinen Unterschied zu Sobek erkennen. Dieser schritt auf das Podest und ließ sich schwer in den der beiden freien Sitze sinken, der der mittlere der sieben Sitze war. »Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona, Siroona. Und Sobek. Wir sind die überlebenden Führer der Foronen. Noch sind meine Gefährten bloß Hologramme, von ihren Träumen geleitet. Aber sie beenden bald ihre Träume. Dann werden auch sie in Fleisch und Blut hier sitzen.«
Sobek genoss es, inmitten der Hologramme der anderen zu sitzen. Ihre langsam erwachende und stärker werdende Präsenz ergänzte die seine. Siroona saß neben ihm, und es war beinahe so, als wäre sie wirklich. Und Mont würde niemals wieder hier sitzen... »Eure Rüstungen«, stotterte Cloud. »Es sind Wesen, so wie mein Bewacher eines ist.« Er deutete zitternd auf den Amorphen, den Sobek ihm auf die Erde nachgeschickt hatte, und der nun klein und verkümmert am Boden lag. »So ist es, John Cloud. Betrachte es als Ehre, dass du Monts Rüstung tragen durftest. »Mont ist...« »Mont ist vergangen. Er ist gestorben, vor langer Zeit. Die anderen fünf jedoch, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona - sie werden leben. Noch träumen sie, doch bald...« »Ich möchte sterben«, sagte plötzlich Monts Panzer. Er stand auf und orientierte sich in seine Richtung. Cloud registrierte am Rande, dass er in der Sprache der Hirten... nein, der Foronen sprach. Sobek war leicht irritiert. Die Rüstungen besaßen eine beträchtliche Intelligenz, doch sah ihre normale Programmierung nicht vor, dass sie selbst über ihr Schicksal entscheiden wollten. Die Strukturschäden des Konstrukts mussten sich auf die Persönlichkeit der 1(1 ausgewirkt haben. »Ich möchte sterben«, wiederholte der Panzer störrisch. Er zitterte unmotiviert. Sobek griff mit SESHAs Hilfe nach Monts Rüstung - und schreckte fast zurück. Zeit war in der Substanz der Hirtentechnik gefangen. Zeit, die bereits vergangen war und Zeit, die noch nicht einmal Formen angenommen hatte. Temporale Ursubstanz, sozusagen. Sie fraß die Panzerung auf, und nur wenn sie Ausgleichsbewegungen in die Vergangenheit vornahm, konnte Monts Rüstung ihr Schicksal der völligen Auflösung verzögern. SESHA, fuhr der Forone die Schiffs-KI an. Wieso wurde ich nach dem Scan nicht darauf hingewiesen? Es ist weder für mich noch für die Besatzung schädlich. Es besteht keine Gefahr und kann zu jedem gewünschten Zeitpunkt untersucht oder beseitigt werden. »Nein, ich erlaube es dir nicht«, sagte Sobek nach kurzem Zögern und ließ SESHA den Panzer deaktivieren. Der Amorphe erstarrte...
Cloud warf einen kurzen Blick auf den Amorphen, der wie eine schockgefrorene, quecksilberne Statue dastand. Was auch immer Sobek mit ihm angestellt hatte - in seinen
Augen war es verdient. Das Ding sollte leiden! »Was ist mit Aylea passiert?«, fragte er vorsichtig. Er musste den Kopf in den Nacken legen, wollte er dem Hirten - dem Foronen, verbesserte er sich, ins »Gesicht« blicken. Selbst in sitzender Position überragten ihn die Hirten auf dem Podium um einen halben Meter. Er fühlte sich wie ein Wurm, der jederzeit zertreten werden konnte. Doch er musste wissen, was mit dem Mädchen geschehen war. »Wir werden uns nun mit der Station auf dem vierten Planeten befassen«, sagte Sobek und ignorierte die Frage erneut. Es war, als ob sie aneinander vorbei redeten. »Die Menschen GTResnick und GT-Jarvis, die auf meine Veranlassung SESHA verlassen haben, haben unseren dortigen Stützpunkt erreicht. Dort ist es zu Unregelmäßigkeiten gekommen.« John begehrte erneut auf, doch Sobek ignorierte ihn völlig. Gewalt anzuwenden kam für die Menschen nicht in Frage - nicht solange der Forone ein Wesen wie den Amorphen als Rüstung trug. Die anderen Hirten - eigentlich deren Hologramme - wurden unruhig. Sie tasteten umher, als wollten sie eingreifen und mittun. Inzwischen konnte Cloud sie auseinander halten, wenn er genau hinsah. Die sechs Wesen sahen Sobek zum Verwechseln ähnlich, doch es gab kleine, kaum merkbare Unterschiede. Sowohl im Aussehen als auch in ihren Bewegungsabläufen. In einer großen Holosäule konnten die Menschen beobachten, wie sich das Rochenschiff in Bewegung setzte und schwingen schlagend den Mars anvisierte. Plötzlich flog SESHA einen Haken. »Wir müssen kleinen Hindernissen ausweichen«, erklärte Sobek überraschend. »Die Erinjij setzten gravitationale Netze aus, um SESHA zu orten. Pah!« Die Verachtung, die in der Stimme durchklang, ließ erkennen, wie wenig er von den technischen Möglichkeiten der Menschen hielt. John schloss die Augen und dachte an die kurze Zeit zurück, als er das Schiff mit seiner Geistes- und Willenskraft gesteuert hatte. An die Leichtigkeit, mit der es jeden seiner gedanklichen Befehle vollzog. An das Gefühl der Macht, das er dabei empfunden, an die Gier nach mehr, die sich daraus entwickelt hatte. Er fragte sich, ob er auch so arrogant und selbstherrlich wie die Foronen geworden wäre, wenn diese Erfahrung länger angehalten hätte... 8. Es gelang ihnen, die Zugänge zier Zentrale hermetisch abzuriegeln. Stählerne, blank polierte Tore boten nach allen Richtungen einen fragwürdigen Schutz gegen den energetisch geladenen Wurm. Nur allzu deutlich hatte Jarvis einen dumpfen Knall im Ohr. Der Wurm hatte die erste Barriere, den Durchgang von der oberen Ebene hinab zu ihnen, mit der bloßen Wucht seiner Körpermasse gesprengt. Hier agierte ein stumpfsinniges, mechanisch handelndes Ding, das auf dem direktesten Weg die Konfrontation mit ihnen suchte und dabei sprichwörtlich durch Wände ging. Resnick, dessen körperlicher Gesamtzustand ein wenig besser zu sein schien als sein eigener, redete ununterbrochen. Mit schleppender Stimme berichtete er alles, was sie zwei auf ihrer Odyssee zum Heimatplaneten der Luuren und in den Höhlen des Mars' herausgefunden hatten und was sie vermuteten. (siehe Bad Earth Band 15 und 19)
Hall von jenseits der Wände und leichte Vibrationen im Boden kündeten vom weiteren Vordringen des Energiewesens. Wie ein Bluthund behielt es die Witterung und folgte ihnen, der Beute, bis zum bitteren Ende. »Wir könnten versuchen, ihn einzuklemmen«, sagte Jarvis heiser. Resnick unterbrach seinen Monolog und blickte ihn einen Moment überlegend an. »Die Schotts?« »Genau. Wir locken ihn an und betätigen den Schließmechanismus des Tors so, dass der Wurm sozusagen zwischen Tür und Angel zerquetscht wird.« »Glaubst du nicht, dass eine Schutzmaßnahme das Schließen verhindern würde? Derartige Sicherheitsstandards gelten doch beim primitivsten Aufzug.« »Auf der Erde, ja«, sagte Jarvis. Er hustete Blut. »Aber nicht hier. Denk nur daran, was du mit den Überresten des Incus gemacht hast. Sie wurden schlicht und einfach zermahlen.« Dies war entweder ein weiterer Hinweis darauf, dass die Mechanismen der Station keineswegs einwandfrei funktionierten - oder die Bestätigung, dass die Hirten in gänzlich anderen Maßstäben dachten und handelten als Menschen. »Du hast Recht!«, stieß Resnick hervor. Da war ein leichter Hoffnungsschimmer. »Wenn wir...« Ein hässliches Knirschen war zu hören, und er verstummte abrupt. Der Wurm hatte ein weiteres Hindernis überwunden. »Wenn ihr eine brauchbare Idee habt«, sagte Boreguir in die Stille, »sollten wir sie schnellstens umsetzen.« Das Krachen ertönte wieder, nun deutlich näher. Nur noch zwei Schichten zentimeterdicken Stahls trennten sie von dem schrecklichen Feind. Ja, sie konnten fliehen und immer weiter in die unbekannten Regionen der Station vordringen... So lange, bis sie entweder vor Schwäche zusammenbrachen oder der Wurm sie einholte. Oder sie konnten es auf eine finale Konfrontation ankommen lassen. Mit Stolz kämpfen und in Würde sterben, dachte Resnick. Nicht einfach darauf wartend, dass der Körper versagt. »Wir kämpfen«, sagte er dann laut. »Ja, wir kämpfen«, echote Jarvis. Boreguir schwieg, zog lediglich sein Herzblut-Schwert und prüfte demonstrativ die schartige Klinge. Damit war es entschieden.
Das Wummern und Hämmern dröhnte in Resnicks Ohren. Sie hatten das letzte Tor, das die Zentrale vom Gang trennte, aus dem sie den Wurm erwarteten, wieder geöffnet. Jarvis und Boreguir standen bereit. Zwei Gestalten, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten: Hier der kraftstrotzende, todesverachtende Krieger, der sein halblanges Schwert entspannt und locker in der Rechten hielt. Dort ein alt wirkender, faltiger Mann, dessen Glieder unkontrolliert schlotterten, und der sich immer wieder mit schmerzverzerrter Miene an die Brust griff. Wenn Jarvis so wie er fühlte, musste sein Freund Todesängste ausstehen, überlegte Resnick. Denn nicht nur, dass der Alterungsprozess in sein Endstadium trat. Nun wurde Resnick auch von einer Fülle von Emotionen überschwemmt, die er Zeit seines Lebens hatte kontrollieren können - allem voran die Angst...
Wieder krachte der Wurm gegen die Tür. Resnick zuckte zusammen. Eine erste Wölbung bildete sich im Stahl keine zwanzig Meter vor ihnen. Schabende Geräusche waren zu hören, als der Wurm zurück glitt, um erneut gegen das Hindernis anzustürmen. Mechanisch, stur, ohne einem Moment des Zögerns. »Scheiß-Ding, verdammtes Scheiß-Ding! «, schrie Jarvis hysterisch. »Verreck doch endlich!« In einer Ecke seines Gehirns registrierte Resnick kalt, dass seine Vermutung zutraf. Jarvis konnte ebenso wie er die Angst nicht mehr so weit zurückdrängen, dass sie seine Handlungen nicht beeinflusste. Trotzdem würde der GenTec nicht fliehen, da war er sich sicher. Jarvis würde standhalten. Ebenso wie ich, hoffte Resnick. Der Ausbruch hatte Jarvis erschöpft. Wenn Boreguir den GenTec nicht gestützt hätte, wäre der wohl willenlos zu Boden geglitten. Wieder krachte der Wurm gegen das Tor. Eine neue Delle entstand dich neben der ersten. »Ruhig bleiben, G.T.!« Resnicks Stimme glich dem. Krächzen eines Raben und wirkte alles andere als beruhigend. »Der Wurm ist gleich durch. Dann ist das Warten vorbei.« In wohl jeder Beziehung, dachte er. »Haltet euch bereit«, sagte Boreguir in seiner ruhigen, etwas schleppenden Sprechweise. Resnick straffte den Körper. Ein letztes Mal richtete er sich zu seiner vollen Größe von 191 cm auf. Er fuhr sich mit steif gewordenen Fingern über den haarlosen Schädel und wischte sich den Schweiß seiner Hände an dem schlotternden, schmutziggrauen Overall ab. Er wollte die wenigen Schritte hinübergehen zu den beiden anderen und ihre Hände schütteln. Waren ein paar Abschiedsworte angebracht? Sollte er.. Das Tor erbebte. Der Stahl beulte sich erneut nach innen und riss schließlich wie trockener Stoff. Der Frontteil des Wurms leuchtete hell zwischen den merkwürdig verdrehten Metallzacken durch und warf ein unheimliches Licht an die Wände. Der Kopf, wenn man ihn so nennen durfte, war schrecklich deformiert und eingedrückt, was aber keinen Einfluss auf die stoische Intensität nahm, mit der sich das mechanische Wesen durch den Spalt zu pressen versuchte. Es waren keine Anzeichen von Sinnesorganen am Vorderteil des Wurmes zu erkennen. Wie auch immer er sich orientierte und sein Ziel suchte, er verriet seine Geheimnisse nicht - und auch nicht seine Schwachstellen. Aber ich erwarte ja auch gar nicht, diesen Kampf zu gewinnen, dachte Resnick. Schlangengleich wand sich der mehr als drei Meter lange Körper durch den Spalt. Mit stetigen, gleichmäßigen Bewegungen. Dort, wo er Metall berührte, glühte er noch ein wenig heller. Nie gekannter Hass erfüllte Resnick. Hass auf die Unabänderlichkeit dessen, was nun auf sie zukam. Kein würdiger Gegner, sondern ein Ding ohne Verstand und Vernunft spielte den Schicksalsengel für die Gefährten. Musste denn alles so... so... lapidar und bedeutungslos enden? »Haltet euch bereit!«, sagte Jarvis, kaum mehr als zehn Meter vom Wurm entfernt. Er und Boreguir bildeten die Lockvögel, das sichtbare Angriffsziel in der Mitte des Ganges, während Resnick die Aufgabe zufiel, den genauen Zeitpunkt abzuschätzen, wann er den Schließbefehl an das Tor geben musste. Gleich, dachte er. Aus zusammengekniffenen Augen konnte er erkennen, dass der Wurm mehrere Einkerbungen besaß, die ihn eigentlich eher einer Raupe ähnlich aussehen ließen. Fasziniert und gleichzeitig
abgestoßen, betrachtete er die tänzelnden Bewegungen, mit denen das künstliche Geschöpf sich vorwärts wand. Jetzt, dachte Resnick. »Jetzt«, schrien auch Boreguir und Jarvis mit einer Stimme. Er presste die rechte Hand gegen den unsichtbaren Schließmechanismus des letzten Stahltores. Nichts. »Mach schon!«, rief Jarvis. »Flach dagegen drücken.« Boreguir wich Schritt für Schritt zurück und zog Jarvis mit sich. Er hielt Feofneer, das Herzblut-Schwert, schützend vor sie beide. Aber genau das tat Resnick. Aus irgendeinem Grund rührte sich das Tor nicht. Immer wieder, immer fester hieb er mit einer verkrümmten arthritischen Klaue, die einmal seine Hand gewesen war, gegen den Sensor. Er verstand nicht, was los war. Der Mechanismus dieses Tors hatte doch eben noch einwandfrei funktioniert! War der Sensor beschädigt? Sein Blick wanderte auf die andere Seite des Portals, wo sich ein zweiter Auslöser zum Schließen des Tors befand. Möglicherweise funktionierte der noch. Er setzte sich in Bewegung. Doch er war langsam, und der Weg erschien so lang. »Verdammt, jetzt tu etwas!«, brüllte Jarvis mit einer Kraft, die Resnick ihm nicht mehr zugetraut hätte. Der Wurm war nahezu durch, nur noch das letzte seiner Glieder hing an einer spitzen Metallnase fest. Resnick hastete auf den Sensor zu. Doch er war nur noch in der Lage, die Füße jeweils kaum mehr als eine Hand breit vorzuschieben. Größere Schritte waren ihm nicht mehr möglich. Gleich war es geschafft. Wenn er sich nach vorne fallen ließ, und es schaffte, den Arm weit genug auszustrecken, würde er den Sensor erreichen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf sich zujagen - und warf sich seinem Ziel entgegen...
Boreguir hetzte mit weiten Sprüngen auf Resnick zu. Sein Gefährte war offensichtlich nicht mehr in der Lage, das Tor zu schließen. Also musste der Igelähnliche dessen Aufgabe übernehmen. Als Boreguir den Rahmen des Portals passierte, schwang er das Herzblut-Schwert herum, um es gegen den Sensor zu schmettern. In diesem Augenblick warf sich Resnick nach vorne, riss die rechte Hand hoch - genau in die Bahn von Boreguirs blitzender Klinge. Das Schwert traf auf Widerstand, doch gebremst wurde es dadurch kaum. Auch war es dem igelähnlichen Krieger nicht möglich, es zurückzureißen. Benetzt vom roten Blut des GenTecs schmetterte es gegen den Sensor. Das Tor reagierte, doch es war zu spät. Viel zu spät, denn der Wurm durchquerte den Gang vor der Zentrale mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Er würde die Falle passieren, bevor sie zuschnappen konnte. Boreguir lief wieder zurück und packte den wie paralysiert dastehenden Jarvis. Nur wenige
Meter vor dem mechanischen Geschöpf warf er sich den Greis, der einmal ein gentechnisch verbesserter Elitesoldat gewesen war, wie einen leeren Sack über die Schultet. Seine Rückenstacheln fuhren wie von selbst zurück, um den GenTec nicht zu verletzen. Es musste Boreguir gehörige Überwindung kosten, angesichts des nahenden Todes bewusst auf seinen wirkungsvollsten Verteidigungsmechanismus zu verzichten - aber er tat es. Die Stacheln würden gegen das entfesselte Monstrum ohnehin keinen Schutz bieten, doch alleine die psychologische Schwächung, die der Schwertkämpfer bewusst auf sich nahm, war bemerkenswert. Boreguir schwang das Schwert ein-, zweimal in weiten Schwüngen hin und her, doch der Wurm reagierte nicht darauf. Er veränderte weder die Geschwindigkeit, noch machte er Anstalten auszuweichen. Stur raste er weiter auf den Krieger zu. Boreguir blieb vor dem halb geöffneten Tor stehen, hieb ohne eine weitere Finte nach dem Wurm, traf ihn wuchtig an der Oberseite. Resnick lag auf dem Boden. Er versuchte sich aufzurappeln, während er sein Handgelenk umklammerte. Seltsamerweise blutete es kaum aus dem Stumpf. Wie in Zeitlupe sah er, dass Boreguir Feofneer aus der Hand geprellt und nach hinten geschleudert wurde. Wie sich das Schwert zweimal überschlug, nahe des Holo-Bildes des Hirten mit lautem Klirren aufprallte und liegen blieb. Boreguir selbst erfasste ein Schock, der ihn auf der Stelle steif werden ließ. Ein schrecklicher Ton kam über seine Lippen. Funken zuckten über ihn und Jarvis hinweg. Der Kopf des Wurms zuckte vor, schmetterte den Igelähnlichen mit seiner Last zu Boden. Ungeahnte Energien blitzten auf. Weder Boreguir noch Jarvis rührten sich. Auch nicht, als der Wurm die beiden so ungleichen Wesen vor sich herstieß. Mit einer Leichtigkeit, als ob ein junger Hund mit seinem Ball spielte. Immer wieder tauchte er die leblosen Gestalten Boreguirs und Jarvis' an, schob sie vor sich her. Das Tor schloss sich vollends, endlich, doch der mechanische Wächter war längst durch. Der Plan war misslungen. Es gab kein logisches Denken mehr in Resnicks Kopf. Es war kein Platz für Pläne oder Überlegungen. Das erste Mal in seinem Leben reagierte er vollends aus dem Bauch - und handelte damit frei von allen Zwängen. Erst halb auf den Beinen, stieß er sich ab und begann zu rennen, stürmte die wenigen Meter, die ihn vom Wurm trennten, auf seinen Gegner zu. Resnick vermeinte, Kräfte wieder gefunden zu haben, die er in den letzten Tagen und Stunden so schmerzlich vermisst hatte. Er holte alles aus dem verbrauchten Körper heraus, flog dem Wurm mit dem Kopf voran entgegen - und stieß den Wächter beiseite. Weg von Boreguir, weg von Jarvis. Beide, sowohl Resnick als auch der Wurm, landeten in der holografischen Darstellung des Hirten...
Was auch immer die Hirten ausmachte - ihre Präsenz musste unglaublich sein. Selbst im Holo, selbst in einer bloß bildlichen Manifestation, war Arroganz, Kraft und Überlegenheit spürbar.
Was aber viel wichtiger war: Das Hologramm bestand aus Energie. Energie, die der Wurm keineswegs mochte. Er wand sich hin und her, mühte sich, aus der Bildaufzeichnung zu entkommen. Doch wie von einem Magneten angezogen, drehte er sich um die eigene Achse. Es war ein gespenstischer Tanz, in den jenes Wesen, das einmal Resnick geheißen hatte, hineingezerrt wurde. Seine linke Hand war zwischen zwei Segmenten des Wurms eingeklemmt, sein unnützer, zerstörter Körper hockte wie der eines Rodeo-Reiters auf dem Rücken des Wurms. Doch er ließ nicht los! Nein, das konnte er nicht! Vor scheinbar unendlichen Zeiten hatte ihm ein guter Freund eine wunderbare Geschichte von Stolz und Würde erzählt. Davon, dass man bis zum Letzten danach trachten sollte, Mensch zu sein. Und war er denn kein Mensch gewesen? So verzweifelt hatte er um Anerkennung gerungen... war ständig auf der Suche gewesen nach dem, was ihn von seinen genetischen Zwillingen unterschied. Nichts hatte er gefunden, gar nichts, trotz der verzweifelten Jagd nach dem... ja, was war es denn eigentlich? Nach dem Sinn des Lebens? Und während der GenTec in einer irrwitzigen Reise, rundherum, immer nur rundherum, rücklings auf einer mechanischen Bestie, in die Dunkelheit ritt - nur ja nicht loslassen! -, kam ihm die Erkenntnis, so simpel, so einfach, eigentlich unübersehbar. Der Weg ist das Ziel! Nicht die äußerlichen Unterschiede, der kühl designte Intellekt, die Veränderungen und Verbesserungen seiner Physis hatten jemals irgendeine Rolle gespielt, nein! Alle anderen, die so genannten normalen Menschen hatten sich geirrt, hatten ihm Seele und Menschsein aberkannt. Er hatte sich, eben weil er ein Mensch war, bereitwillig in seine Außenseiterrolle drängen lassen. Doch jetzt, in den letzten und wichtigsten Momenten seines Lebens, erkannte er die Wahrheit: Er war Homo sapiens sapiens, weil er gesucht hatte. Er war mehr Mensch als die meisten anderen, denen er begegnet war. Das Vorbild, an dem er sich insgeheim gemessen hatte, John Cloud, war eigentlich noch lange nicht so weit wie er. Denn er, die Person Resnick - und nicht der GenTec! - hatte das Ende seiner Suche erreicht. Cloud hingegen stand erst am Beginn seiner Reise. So ritt er, immer im Kreis, durch das Holo eines unbegreiflichen Wesens, - nur ja nicht loslassen! -, und hätte er noch Mund und Stimme gehabt, hätte er vor Freude laut aufgelacht. Ich habe Dinge gesehen, dachte er, in einer letzten, unbestimmten Erinnerung gefangen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Zeit zu sterben... Und so hörte Resnick auf zu existieren - doch er ließ nicht los, nein, das hatte er seinen Freunden versprochen...
Mühsam fand Jarvis zurück in die Welt der Lebenden. Er stemmte seinen unnützen, hinfällig gewordenen Körper hoch. An die letzten Sekunden vor der Bewusstlosigkeit erinnerte er sich nur noch vage. Boreguir hatte ihn mit einem Ruck auf seine Schultern gepackt und ihn für wenige Augenblicke vor der
heranstürmenden Bestie in Sicherheit gebracht. Wenn auch nur für kurze Zeit... Zigtausende Volt, so schien es, waren durch Jarvis' Körper gerast und hatten ihn paralysiert. Doch die Hauptwucht des elektrischen Schlages hatte zweifelsohne Boreguir getroffen. Feofneer, das Herzblut-Schwert, war ihm aus der Hand geprellt worden. Dann war er steif wie ein Holzklotz umgefallen und hatte Jarvis mit sich gerissen. Warum lebte er noch? Wo war der Wurm? Wo war Resnick? »Kantrattan tar«, sagte eine bekannte und dennoch immer wieder erschreckend intensive Stimme. Das Holo des Hirten würde seine Botschaft wohl bis in alle Ewigkeit wiederholen... Der Wurm! Er tobte im Kreis durch das Holo. Wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagte. Funken sprühten zur Seite; gelbe, blaue und rote Entladungen sprangen knisternd von dem Wesen weg. Was hing da bloß auf dem Wurm? Die Bild- und Tonaufzeichnung des Holos endete, und noch bevor sich der Wurm in seiner Trägheit daraus befreien konnte, begann sie von neuem. Jarvis bückte sich und fühlte nach Boreguirs Puls. Er hätte dies wahrscheinlich schon längst tun sollen, doch zeitliche Abläufe hatten jegliche Bedeutung für ihn verloren. Er fand ihn nicht. Aber vielleicht besaß Boreguirs Rasse ja gar keinen Puls, schließlich war er ja gar kein Mensch. Der GenTec richtete sich ächzend auf und wandte sich ab. Verzweifelte Suche nach Hoffnung, dachte er resignierend. Für einen Moment schloss er müde die Augen. Dann straffte er sich. Furcht und Schmerz waren von ihm abgefallen und hatten einem finalen Gleichmut Platz gemacht. Dachte Jarvis. Er trat näher an den kreisenden Wurm heran, beobachtete fasziniert, wie er sich selbst jagte, als ob er wie die Aufzeichnung des Hirten in einer Endlosschleife gefangen wäre. Hätte er seinen deduktiven Verstand noch im vollen Umfang beanspruchen können, wäre ihm die Ähnlichkeit des verkohlten Anhängsels mit dem Körper eines Menschen sofort aufgefallen. Doch so dauerte es lange, sehr lange. Aber die Erkenntnis kam... »Nein!«, flüsterte der GenTec. »Neineinein... « Das durfte einfach nicht wahr sein! Selbst in diesen Stunden und Minuten hatte er immer noch insgeheim auf eine Rettung in letzter Sekunde gehofft. Darauf, dass von irgendwoher eine Stimme anheben würde, die Stimme John Clouds, die ihnen sagte, dass sie gerettet seien und dass alles wieder gut werden würde. Die Wirklichkeit sah anders aus. Wieder kreiste der Wurm mit seinem toten Reiter an Jarvis vorbei. Dieses elende, stumpfe Ding, er hasste es so sehr, so sehr... »Nein!«, sagte Jarvis fest, »so beiläufig darf und wird es nicht enden.« Er wollte sich umsehen, doch sein Augenlicht versagte gerade in diesen Momenten vollends. Oder waren es Tränen, die einen Film über sein Sehen legten? Licht und Schatten erkannte er
noch, die schemenhaften Bewegungen des Wurms und den grünblauen Schein des großen Wasserblocks... Das Wasser! Jarvis tastete sich blindlings vorwärts. Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo das HerzblutSchwert liegen musste. Rechts von ihm, wenige Schritte weiter in den zentralen Raum hinein. Er kroch auf den Knien, griff hastig umher - bis er die Klinge zwischen den gichtigen Fingern spürte. Taumelnd kam er auf die Beine und ging auf den Fleck zu, der Boreguir sein musste. »So, mein Freund«, ächzte er, und wollte den Bewusstlosen mit sich ziehen. Zwei-, nein, dreimal setzte er an, bis er ausreichend Kraftreserven mobilisiert hatte. Jarvis umklammerte Boreguirs breiten Brustkorb und stolperte langsam mit ihm zum Wasserbecken. Seine Kraftreserven waren längst aufgebraucht. Unglaubliche Kopfschmerzen peinigten ihn, und er vermeinte, das Nachlassen der Blutzirkulation förmlich zu spüren. Jeder Atemzug, den er seinem Körper noch abrang, war eine Willenssache. Das kleine Podest hinauf, maximal zwanzig Zentimeter hoch, noch mehrere Meter nach hinten. Er legte Boreguir ab. Schmerzen? Hatte Jarvis nicht mehr... Bedauern? Er hatte sein Leben gelebt... Angst? Dieser Punkt war längst überschritten... Wut? Ja! Sie kochte und brodelte in ihm. Wut auf den Wurm und alles, was er repräsentierte. Ohnmächtige Wut, die sich irgendwie Luft machen musste. Jarvis trat an die Breitseite des Wasserbeckens, hob das Herzblut-Schwert Feofneer. Er spürte die Kraft, die in dem Stahl steckte, und schwang die Waffe hoch, mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst erschreckte. Ließ sie hinabfahren auf den gläsernen Behälter, sodass er hallte wie ein Gong. Die ganze Station schien zu dröhnen, zu ächzen, sich zu weigern, seinen immensen Kraftakt anzuerkennen. Ein Riss entstand, schmal und kurz zuerst. Doch er verbreitete sich rasch, durchzog das Glas wie unregelmäßig gezogene Spinnfäden. Und der Behälter zerbarst. Das Wasser, wohl mehrere zehntausend Liter, ergoss sich über den Boden der Station in Richtung des Hologramms und des Wurmes. Jarvis lachte...
Mutter schrie. Es war ein Schrei des Zornes und der Angst zugleich. Denn die Eindringlinge hatten das verhasste Element aus seiner Form, aus seinem Gefängnis befreit. Wasser! Alles in ihr schrie Alarm. Das Wasser würde sie lähmen, Schaltkreise kurzschließen. Und in ihrem derzeitigen Zustand hatte Mutter keine Möglichkeit, sich gegen diese sonst so harmlose Bedrohung zu wappnen. Das Wasser schwappte über den Wurm hinweg, löschte all seine Energien von einem Moment zum nächsten und beraubte sie ihrer letzten Verteidigungsmöglichkeit gegen die
Eindringlinge. Noch waren zwei von ihnen am Leben. Und das Allerschlimmste war: Sie spürte Kälte und Nässe des bösen Elements über ihren Körper kriechen, in jede Ritze dringen... SESHA!, schrie Mutter verzweifelt mit ihren tausenden Mündern, die niemand hören konnte, außer vielleicht der Einen, der Erhabenen, die seit Ewigkeiten nicht mehr geantwortet hatte. Hätte Mutter das Konzept eines, Wunders` anerkannt, hätte sie nun wohl davon gesprochen, es lauthals gepriesen. So aber sah sie es nüchtern als eine »gering scheinende Wahrscheinlichkeit von 0,000000056 Prozent, die zum Fakt wurde«, dass SESHA im richtigen Moment reagierte. SESHA, das Seelenschiff, antwortete. Endlich. Alle virtuellen Sorgen waren wie weggeblasen, denn SESHA übernahm binnen Nanosekunden das Kommando. Sie zeigte Mutter, wie diese sich selbst reparieren konnte, was sie vergessen hatte. Und SESHA befahl ihr, sich zu erinnern, all die Erinnerungslücken zu schließen, die sich im Laufe der Ewigkeiten aufgetan hatten. Augenblicke später besaß sie wieder ihren vollen Gedächtnisstatus, ihre Kraft, ihre Kampfesbereitschaft. Die nächste Anweisung lautete, dass Mutter wieder nach Hause durfte. Sie vergaß das nun unbedeutend gewordene Problem mit den drei Eindringlingen und dem Wasserausbruch. Sie ließ sich fallen und wurde Eins mit dem Schiff... 9. Sie umrundeten den roten Planeten, unbehelligt von den Schiffen der Erinjij. Waren sie für die Flotte der Menschen nicht sichtbar oder hatten sich die mächtigen Kampfraumer zurückgezogen? War ihnen die RUBIKON II zu mächtig, ballten sie ihre Verteidigungskräfte rund um den grauen Schirm? Waren es die Keelon, die ihnen über riesige Zuchthirne befahlen, einmal abzuwarten? Für jede Frage, die Cloud beantwortet bekam, taten sich ein Dutzend neue auf. »Siedlungen«, murmelte Scobee, und deutete hinab auf den Mars: Sie hatte beschlossen, die Anwesenheit Sobeks und der Hologramme der anderen Hirten zu ignorieren - wie sie selbst ignoriert wurden - und war direkt vor den Panoramabildschirm getreten. Die RUBIKON flog in wenigen Kilometern Höhe über die karge, rote Planetenlandschaft hinweg. Immer wieder huschten kleine, grüne Flecken an ihnen vorbei. Terrageformte Ortschaften oder Städte, die sich unter strahlenden Leuchtkuppeln befanden. Was mussten die Erinjij dort unten empfinden, wenn sie das Rochenschiff vorbeisausen sahen? Waren sie alle so ahnungslos und unbeleckt wie Aylea vor wenigen Tagen noch gewesen war? Glaubten sie die Ammenmärchen von der friedlichen Besiedelung des Universums durch den Menschen? Oder waren nur die Erinjij-Kinder unschuldig? Waren diese länglichen, an Kasernenbauten erinnernden Konstruktionen vielleicht Zuchtanstalten für erbarmungslose Krieger, die Wut und Hass in das All hinaus trugen? Im Namen der Master, der Keelon, die verborgen in ihren riesigen Türmen schalteten und walteten? »Das ist schon die dritte Umkreisung des Mars«, sagte Cloud, der ebenso wie Jelto dicht an die GenTec-Frau herangetreten war. Sobek beachtete sie nicht, als ob sie Ungeziefer wären. Abrupt und scheinbar grundlos machte die RUBIKON II Halt. Eine weite, steinerne Ebene breitete sich unter ihnen aus. Cloud kannte die Topographie des Planeten, schließlich hatte er sich jahrelang intensiv auf die Landung auf dem Mars vorbereitet. Dies war eine Landschaft
auf der Südhalbkugel. Sie lag nordöstlich der vulkanischen Hochebene Hellas Planitia und unweit der Tharsis-Region, in der ein Berg namens Olympus Mons mit sechsundzwanzig Kilometern Höhe die gewaltigste Erhebung des Sonnensystems darstellte. Cloud konnte und mochte nicht mehr an einen Zufall glauben: Sie schwebten exakt über jenem Unglücksort, an dem sowohl die RUBIKON als auch die ARMSTRONG unter dem Kommando seines Vaters niedergegangen war. Und jetzt?, fragte sich Cloud. Warum hat Sobek Jarvis und Resnick nicht einfach mit Hilfe einer Transportkapsel zurück an Bord der SESHA geholt? Was haben die Hirten - die Foronen! - vor? Egal - Hauptsache war, dass die beiden GenTecs an Bord kamen, und dass ihnen medizinische Hilfe zuteil wurde - und zumindest damit schien Sobek ja einverstanden zu sein. »Der Kontakt ist nun hergestellt«, sagte Sobek. »Seht zu!« Kam es John nur so vor, oder waren plötzlich auch die fünf anderen Hirten mit aller Anteilnahme bei der Sache? Waren sie endgültig aus ihren Träumen erwacht? Nahmen sie bereits Einfluss auf die Schiffssteuerung? »Da unten tut sich etwas«, flüsterte Scobee. Jelto zog erschrocken die Luft ein und hielt den Atem an. Ein Teil der Bildschirmpräsentation fokussierte auf die Marsoberfläche, genau unterhalb des Schiffsleibes. Rötlichbraunes Geröll hob sich dort in die dünne Luft. Es wurde von einem irrlichternden Sog, der aus der RUBIKON stammte, hochgehoben und spritzte schließlich eruptiv nach allen Seiten weg. Wie mit einem Präzisionsbohrer fräste sich der Lichtstrahl in den Untergrund. Er war vielleicht fünf, sechs Meter im Durchmesser. »Da unten... da dampft es!«, ächzte Cloud. Er konnte kaum glauben, was er nun sah. »Wasser!« Sein Vater hatte damals, kurz bevor er verschollen war, Wasser aufgespürt. Doch bevor er es hatte beweisen können, war die gesamte Crew verschwunden. Bei späteren Messungen durch Lande- und Orbitalsonden hatte es niemals mehr angemessen werden können. Aber sie waren doch vorhanden! Cloud riss sich von den Gedanken los und blickte wieder zu der rot gefärbten Fontäne auf dem Bildschirm, die durch die geringe Schwerkraft weitaus höher spritzte als dies auf der Erde möglich gewesen wäre. Hundert, hundertfünfzig Meter hoch. Eine Sturmböe erfasste den Wasserstrahl und drückte ihn nach Süden. Feine, langsam zu Boden perlende Tröpfchen verteilten sich über eine riesige Fläche, so groß wie dreißig, vierzig Fußballfelder. Immer mehr Wasser drang nach, es wollte einfach nicht mehr aufhören. Es verklumpte den Sand, verlor sich in feinsten Ritzen und breiten Spalten der seit Jahrtausenden trockenen Marsoberfläche. »Das Gestein unter uns bricht weg«, sagte Jelto und deutete mit seinen grünen Fingern auf Risse, die sich anfänglich noch ohne System bildeten, doch schließlich ein nahezu regelmäßiges Rund ausmachten. Wenn dort unten die Station der Hirten mit den beiden GenTecs war - warum riss Sobek mit SESHAs Hilfe die Marsoberfläche weg? Wozu diese Mühe? Die Risse vertieften sich. Breite Gesteinsflächen stürzten in den dunklen Hohlraum, den das Wasser hinterließ. Die Kamera fokussierte noch tiefer hinab, in den Leib des Mars hinein. Der Strahl der RUBIKON bohrte sich immer weiter hinab, riss gewaltige Mengen der Siliziumund eisenhaltigen Felsen mit sich und wirbelte sie beiseite.
Der Untergrund brach vollends nach unten weg! In einen Hohlraum mit gewaltigen Ausmaßen, in dem nahezu klein und verlassen ein ovales Gebäude schwebte. Falsch, korrigierte sich Cloud. Diese Station schwebt nicht. Sie steht auf einem absurd dünnen, metallenen Dorn, der in einer merkwürdigen Wolkenbank verschwindet. Zum Wundern war keine Zeit, geschweige denn zum Verarbeiten dessen, was er nun sah: Das vielleicht einhundertfünfzigmal achtzig Meter große Gebäude hob sich, vom Strahl der RUBIKON vollends erfasst, schwebte langsam und leicht ruckelnd nach oben. Rundherum spielten sich währenddessen durch ihr schieres Ausmaß unglaubliche Dinge ab. Immer weiter, breiter und tiefer gingen die Risse in der Oberfläche, setzten sich scheinbar ins Unendliche der Marslandschaft fort. Immer mehr Gestein stürzte in die Tiefe, von unsichtbaren Kameras beobachtet. »Einhundert eurer Kilometer im Durchmesser hatte dieser Krater, bevor wir ihn vor geraumer. Zeit abdeckten, vor dem Feind schützend versiegelten und eine Zuflucht und Beobachtungsstation hineinverpflanzten«, sagte Sobek mit ruhiger Stimme. »Die Station wird uns hoffentlich viele Erkenntnisse über die Rasse der Erinjij vermitteln können, wenn wir sie wieder an Bord haben. Und vielleicht auch über weitere Fremdwesen.« »Wenn wir sie wieder an Bord haben...« »Einhundert Kilometer im Durchmesser...« »Beobachtungsstation...« »Weitere Fremdwesen...« Die Worte hallten in Cloud nach und wollten einfach keinen Sinn ergeben. Wieder stellten sich Tausende von Fragen... Er schüttelte den Kopf. Er musste nun ruhig bleiben, durfte sich nicht weiter irritieren lassen. Wichtig war für ihn im Moment nur, dass die beiden GenTecs an Bord der RUBIKON gelangten.
Zwischenspiel Die Menschen registrierten nicht, dass am Fuße des metallenen Dorns, der in einer anderen Welt »Kristallturm« genannt wurde, mehrere hundert Lebewesen von Trümmern so groß wie Wolkenkratzer erschlagen wurden. Und wer nicht vom Gestein erwischt wurde, starb am plötzlichen Druckabfall, der zu dünnen Atemluft oder am alles erstickenden Sand. Sobek widmete den Kreaturen, die um den Kristallturm gelebt hatten, einen kurzen Gedanken. Dann kümmerte er sich um Wichtigeres...
Am Bauch des Rochenschiffes bildete sich ein breiter Spalt. Die ovale Station der Hirten wurde förmlich hinein gesogen und landete, von zigtausenden winzigen mechanischen Drohnen umschwärmt, die wie Ungeziefer aus allen Ecken und Enden gekrochen kamen. Diese Reparatur-Roboter waren - wie John wusste, seit er ihnen das erste Mal beim geistigen Durchstreunen der RUBIKON begegnet war - jedoch nur im Vergleich zu dem Raumschiff oder der geborgenen Station klein. Viele von ihnen durchmaßen in Wirklichkeit mindestens fünf Meter. Eine Einbuchtung bildete sich im Inneren der RUBIKON, in die sich die Mars-Station perfekt einfügte. Es war, als sei sie schon immer Teil des Schiffes gewesen.
Ein unheimlicher Vorgang - doch was war an Bord des Seelenschiffes schon als normal anzusehen? Sobek richtete sich auf, erhob sich. »Ihr beide geht jetzt! Schlaf!«, sagte er zu Jelto und Scobee - und die beiden Menschen verschwanden. Nur nicht ablenken lassen, nur keine Angst zeigen, dachte Cloud. Ich muss mich darauf verlassen, dass er sie wirklich nur schlafen schickt. Der Vorgang, mit dem er Aylea verschwinden ließ, sah anders aus. Das Naheliegendste, das Wichtigste ist jetzt das Schicksal der GenTecs... »Was ist mit den beiden Menschen, die sich an Bord der Station befinden?«, drängte er. »Die Stations-KI spricht von zwei Wesen namens Jarvis und Boreguir«, sagte Sobek nach einem Moment des Schweigens. »Jarvis und Resnick«, verbesserte Cloud. »Nein.« Der Hirte winkte dem Amorphen, der augenblicklich wieder zum Leben erwachte. Noch bevor sich Cloud dagegen wehren konnte, war das verhasste Wesen über seine Beine geglitten und umfing ihn vollends. Eine weitere, kürze Geste - und vor Clouds Augen erschienen wie von Zauberhand seine ehemaligen Kameraden und ein fremdartiges, aber menschenähnliches Wesen. 10. John Cloud betrachtete ungläubig die Szenerie. Seine Rüstung - der Amorphe - zwang ihn, den Kopf starr auf die drei Gestalten zu richten, die vor ihm lagen. »Dies sind deine Kameraden, John Cloud von der Erde«, sagte Sobek mit lauter, mit wuchtiger Stimme. »Sie sind in die Station eingedrungen und wollten Schaden anrichten.« Doch Cloud achtete kaum auf ihn. Eines der Wesen bewegte sich. Es wirkte unendlich alt, heftig atmend und konvulsivisch zuckend. Mit ziemlicher Sicherheit war es ein Mensch, aber... Das schrecklich verunstaltete Wesen verzog die bläulich angelaufene Fratze, fletschte die Zähne, als wollte es etwas sagen. Cloud beugte sich hinab, und der Amorphe ließ es geschehen. Moment! Der Overall! Das war doch... nein! Das konnte nicht sein. Jarvis und Resnick waren um mindestens zehn Zentimeter größer gewesen. Alles in Cloud sträubte sich, in dieser dürren, von blutroten Geschwüren überzogenen Gestalt einen seiner Begleiter auf seiner Reise zum Mars zu sehen. »Cloud!«, flüsterte die Gestalt. »Nein! « Er wollte aufstehen und zurückweichen, doch der Amorphe ließ es nicht zu. Ein Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet und drohte, nach oben zu wandern. »Ich... Jar... vis!«, sagte das Wesen. Todmüde, blutunterlaufene Augen öffneten sich und starrten ihn an. »Das kann nicht... was ist passiert? Wer war das?« Cloud fand keine Worte, die der Situation angemessen waren. Jarvis wollte etwas sagen, doch ein Hustenanfall ließ ihn erschöpft zusammensacken. »Wo ist Resnick?« fragte Cloud und weigerte sich zugleich, weiter nach rechts zu blicken. Dorthin, wo ein undefinierbar verkohltes Etwas lag. »Tot... begrab ihn... im All«, antwortete Jarvis. »Mich auch...«
»NEIN«, schrie Cloud und drehte sich zu Sobek um, der teilnahmslos hinter ihm stand. Dessen schrecklich unmenschliche Physiognomie verriet keinerlei Gefühle. »Ich will, dass dieser Mensch gerettet wird, Hirte! «, sagte der Commander. »Ich weiß, dass du die Möglichkeiten dazu hast!« »Glaubst du tatsächlich, dass ich die Macht habe, über Tod und Leben zu entscheiden?«,fragte Sobek, ohne auch nur eine Regung zu zeigen. Cloud stürmte näher heran an den Hirten, hätte ihn am liebsten gepackt und wie einen nassen Sack gebeutelt, doch der Amorphe, Monts Rüstung, hinderte ihn an jeder Berührung Sobeks. »Ich habe doch die Drecksarbeit für dich und deinesgleichen erledigt und war als dein Kundschafter unterwegs.« Clouds Stimme überschlug sich. Panik hatte sich hineingedrängt. »Du schuldest mir einen Gefallen! Bitte!« »Warum willst du, dass dieses Wesen überlebt?«, fragte Sobek, und es klang tatsächlich so etwas wie Interesse und Neugierde in seiner Stimme durch. »Weil... weil dieser Mensch mein Freund ist.« »Freunde kommen und gehen. Nichts bleibt ewig bestehen, alles fließt. Du wirst neue Freunde finden, möglicherweise sogar hier an Bord...« »Wahre Freundschaft besteht ewig«, sagte Cloud verzweifelt. Hinter sich hörte er Jarvis röcheln und husten. »Nicht bei uns Foronen«, entgegnete Sobek, wandte seinen riesigen Kopf dem linken Sitznachbarn zu - Mont hatte er doch geheißen, oder? - und schwieg dann. »Bitte«, versuchte es Cloud ein letztes Mal, mit geballten Fäusten, während ihm die Tränen aus den Augen quollen. Alles in ihm schrie danach, dem Hirten an die Gurgel zu springen und ihn zu zwingen, endlich etwas zu tun... »Es ist zu spät«, sagte Sobek mit schleppender Stimme, »sieh es doch ein. Aber ich werde ihm und dir einen Gefallen tun.« Er winkte leicht mit seiner linken Hand, und Cloud setzte sich in Bewegung. Der Amorphe ging mit seinem Körper und gegen seinen Willen auf Jarvis zu. »Was hast du vor? Nein, das darfst du nicht tun!« Seine Rüstung, presste sich flach auf den Sterbenden, umarmte ihn mit Clouds Händen, so sehr sich der Commander auch dagegen sträubte. Knochen wollten brechen, Sehnen wollten reißen, so sehr wehrte er sich, doch gegen die unbändige Kraft des Nanowesens kam er nicht an. Er schrie und tobte, weinte und bettelte - umsonst. Es knackte laut und vernehmlich.
Der Amorphe verließ John schließlich, tropfte von ihm ab und umgab den toten Jarvis. Ein Teil seiner Masse rann in den obszön geöffneten Mund des GenTecs, den Schlund hinab. »Dies war alles, was ich noch für ihn tun konnte«, sagte Sobek, der den Geschehnissen teilnahmslos zusah. Die Rüstung, die seinen Freund getötet hatte, glitt von der leblosen Körperhülle Jarvis' weg und bildete sich neu. Das Zerrbild eines Menschen entstand. Kraftvoller und größer war der Amorphe geworden, als hätte ihm Sobek neue Substanz zugeführt. Ihn wieder aufgefüllt. Wie zum Hohn ähnelte das Wesen nun jenem Jarvis, den er während seiner Reise zum Mars um sich gehabt hatte. »Das«, sagte John Cloud mit leiser, kalter Stimme, »werde ich dir nie vergessen. Nie.«
»Ich weiß«, antwortete der Hirte, drehte sich um und verließ den Raum. Der Amorphe folgte ihm wie ein Schoßhündchen. Cloud blieb noch mehrere Minuten stumm stehen. Er sprach ein kurzes Gebet, das von derben Flüchen durchzogen war. Dann kümmerte er sich um das dritte Wesen, das langsam aus seiner Starre erwachte. Boreguir hieß es. Es sprach schleppend in einer merkwürdigen Sprache, die Cloud instinktiv verstand. Und Boreguir sang ihm ein Heldenlied. Ein Lied, das von Freundschaft, Stolz und zwei guten Freunden handelte. ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!