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Man schreibt das Jahr 2015, die Menschheit macht einen weiteren bedeutenden Schri. Richard Orme, Captain der ersten Marsexpedition, setzt seinen Fuß auf den roten Planeten, und Milliarden an ihren Fernsehgeräten hören kurze Zeit später seine Worte: »Christoph Columbus, du solltest hier sein.« Vielleicht war er es! Irgend jemand war auf jeden Fall schon hier, denn kurz darauf entdecken die Astronauten ein halb im Sand vergrabenes Raumschiff, und ganz in der Nähe befindet sich ein Tunneleingang. Durch ihn betreten Orme und seine Crew eine fremde, unterirdische Welt. Der Mars scheint ausgehöhlt, und in den großen Höhlensystemen leben Marsianer, die eine sonnenartige Kugel verehren, die hoch über ihren unterirdischen Städten schwebt. Zunächst hält Orme die Marsianer für Sonnenanbeter, doch dann stellt er fest, daß sich ein Mann in der Kugel befindet, den die Marsianer »Jesus« nennen. Schließlich kommt der »Erlöser vom Mars« auf die Erde, aber dort nennt man ihn den »Anti-Christ«. Wiederholt sich die Geschichte? Philip José Farmer wurde 1918 in North Terre Haute/Indiana geboren und gilt als herausragender Vertreter abenteuerlicher, ideenreicher Science Fiction. Der mehrfache Hugo-Preisträger erregte auch immer wieder wegen seiner Themen Aufsehen. Sex und Religion stellten für ihn keine Tabus dar, und auch der vorliegende Roman ist in seiner thematischen Brisanz typisch für Farmer.
Philip José Farmer
Der Erlöser vom Mars Science-Fiction-Roman Deutsche Erstausgabe
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Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1984 Titel der Originalausgabe »Jesus on Mars«. Copyright © 1979 by Philip José Farmer Aus dem Amerikanischen von Verena C. Harksen Umschlagillustration W. Siudmak Satz: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany • 1 • 9 • 584 ISBN 3-426-05777-8 1. Auflage
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as gewaltige Canyonsystem der Vallis Marineris sah aus wie eine schwarze Wunde auf rotem Leib. Nahe dem Marsäquator erstreckte es sich über 3000 Meilen von Osten nach Westen. Es maß fünfzig Meilen an seiner breitesten Stelle und erreichte eine Tiefe von mehreren Meilen. Aber nicht nur der furchtbaren Wunde eines Leichnams ähnelte es, sondern auch einem ungeheuren Tausendfüßler: Seine Beine waren die Kanäle, die sich vom Hochland in den riesigen Spalt hinabschlängelten, ihre Nebenflüsse die Borsten daran. Von der Aries, die im stationären Orbit kreiste, sah Richard Orme hinab wie von einem unglaublich hohen Berg. Ein schon wieder nachlassender Wind blies hohe Eiskristallwolken und niedrige, rote Staubwolken über einen Teil des Systems hin und verdunkelte den Bereich, der das Ziel ihrer viermonatigen Reise war. Orme verließ das Bullauge und schwebte auf Madeleine Danton zu. Sie saß vor einem Bildschirm. In Taillenhöhe war sie an einen Stuhl geschnallt, der wiederum am Deck angeschraubt war. Hinter ihr schwebten Nadir Shirazi und Avram Bronski. Mit den Händen hielten sie sich an der Stuhllehne fest und starrten über ihre Schulter hinweg auf den Schirm. Orme ergriff Shirazis Schulter, wandte sich um und verharrte. Auf dem Schirm sah man den freigelegten Tunnel, den der Satellit vor fünf Jahren aufgenommen hae. Die Decke, einst eine dünne Felsschicht, war eingestürzt. Ein Gang, drei Meter breit, sechs Meter hoch und fünfundzwanzig Meter lang, wurde sichtbar. Obwohl von den Bullaugen des Schiffs aus der Sandsturm undurchdringlich schien, waren die Bilder, die der vor zwei Jahren gelandete Robotspäher sendete, auf eine Entfernung von fünfzig Fuß einigermaßen scharf. Alles weitere lag in rötlichem Dunst. Der Tunnelboden hae sich im Lauf der Zeit mit Staub bedeckt. Am einen Ende, dort, wo die Decke nicht eingefallen war, verschwand er im Dunkel. Am andern Ende, durch den Staub verschwommen erkennbar, gab es eine Tür. Sie bestand aus einem dunklen Material, das Metall sein konnte oder Stein. Ihre Gläe |5|
zeigte, daß sie maschinell hergestellt war. Auf der schwarzen Oberfläche der Tür standen zwei große, orangefarbige Schrizeichen: griechische Buchstaben, ein großes Tau und ein großes Omega. Dantons ovales Gesicht war ausdruckslos. Shirazis Falkengesicht zeigte eine Intensität, die Orme an einen Raubvogel erinnerte, der gerade ein Kaninchen entdeckt hat. Auf Bronskis dunklen, schönen Zügen stand ein albernes Lächeln. Sein eigenes, schwarzes Gesicht sah vermutlich leicht ekstatisch aus. Ormes Herz schlug heig. Diese plötzliche Beschleunigung würde der Monitor in Houston, Texas, in etwa 11,5 Minuten übertragen haben, wären die Sensoren befestigt gewesen. Aber er trug einen Overall. In zwei Stunden war Zeit zum Abstoßen. Bis dahin müßte sich der Wind dort unten in eine sane Brise verwandelt haben. »Sehen wir uns das Schiff an«, sagte Orme. Danton drückte die entsprechenden Befehle auf die winzige Schalafel vor ihr. Das Blickfeld schwenkte nach oben und zeigte eine unbestimmte dunkle Masse im Staub, die Wände des meilentiefen Grabens und dann eine gewaltige Masse; nein, nur Andeutungen davon – etwas Geisterhaes. Der Späher kroch darauf zu. Minuten vergingen, während die gewölbten Konturen der Masse deutlicher wurden. Danton gab dem Roboter mündlich Anweisung anzuhalten. Jetzt konnten sie den riesigen, gewölbten Gegenstand sehen, der vor sechs Jahren die Aufmerksamkeit der Bodenstation erregt hae. Es war ein Schock für die ganze Erde gewesen, hae Aufsehen hervorgerufen und zur ersten bemannten Expedition auf den roten Planeten geführt. »Ich habe es von der Erde aus hundertmal gesehen«, erklärte Orme, »und ich glaube es immer noch nicht. Ein Raumschiff !« Niemand antwortete. Sie verstanden, daß er nur redete, um die Spannung zu verringern. Wie lange war es her, daß das Schiff gelandet oder abgestürzt war? Hundert Jahre? Tausend? Wie lange hae es gedauert, bis eine Moräne morschen Gesteins es zugedeckt hae? Und wie viele |6|
Jahre waren vergangen, bis ein Teil der Felsendecke abgerutscht und ein kleines Stück des Kolosses sichtbar geworden war? Oder hae man es absichtlich versteckt, hae die Mannscha die Steine darauf gehäu? Häe es da nicht die Neugier eines australischen Wissenschalers gegeben, seine »Ahnung«, daß das schaenhae Gebilde auf den Fotos unnatürlich aussah, und seine Hartnäckigkeit – das Schiff wäre vielleicht auch weiterhin unbeachtet geblieben. Vielleicht häe man es niemals entdeckt. Aber dann fand man den offenen Tunnel, und drei Jahre später hae man einen Roboter gelandet, der die Angelegenheit etwas genauer untersuchen sollte. Die ganze Welt war aufs höchste gespannt. Richard Orme, 1979 in Toronto, Kanada, geboren, war dreißig Jahre alt, als die IASA widerwillig bekanntgab, daß die gewölbte Masse in der Tat keines natürlichen Ursprungs sei. Er hae geahnt, welche Folgen das haben würde und hae gearbeitet, geplant und gekämp, um Mitglied dieser Expedition zu werden. Das Hochwerfen einer Münze hae darüber entschieden, ob er oder ein australischer Astronaut Kapitän und viertes Besatzungsmitglied der Aries werden würde. Der Verlierer hae ihm lächelnd gratuliert, sich in derselben Nacht aber sinnlos betrunken und war bei einem Autounfall zum Krüppel geworden. Obwohl er wußte, wie unlogisch es war, hae Orme sich schuldig gefühlt. Ein Teil der Schuld ging auf das Hochgefühl über seinen Sieg zurück. Orme schaute auf den Chronometer und sagte: »Zeit für die nächste Phase.« Danton blieb an der Schalafel, während Bronski und Shirazi Orme halfen, seinen Anzug anzulegen. Dann half Orme dem Iraner, Bronski in seine Rüstung hineinzuschaffen. Inzwischen gab Danton laufend Berichte über die Werte der Umgebung und den Fortschri der Vorbereitungen zur Landung. Ihr Englisch hae einen leichten französischen Akzent. Es war keine einfache Arbeit, weil die Zeitdifferenz bei der Übermilung zur Folge hae, daß sie gleichzeitig Nachrichten von der Erde empfangen und o auch beantworten mußte, die von dem Satelliten über Houston übermielt wurden. Sie mußte sich deshalb merken, was sie |7|
vorher bei der Landeoperation und an Houston weitergegeben hae. Die ganze Welt hörte jetzt auf sie und würde auch weiter bei jeder Gelegenheit zuhören. An sich müßte das Unternehmen gla verlaufen – immerhin haen sie das Landen auf dem Mond viele Stunden lang geübt. Aber natürlich bestand immer die Möglichkeit elektromechanischer Funktionsstörungen. Schließlich glien Orme und Bronski durch die Luke in die Landefähre, die Barsoom. Der Chef der IASA hae als Kind Edgar Rice Burroughs gelesen. Er hieß John Carter wie der Held von Burroughs’ frühen Büchern über den Mars, dessen fiktive Bewohner ihren Planeten Barsoom genannt haen. Carter hae den Namen als erster vorgeschlagen und mit Hilfe der nötigen politischen Manipulationen dafür gesorgt, daß er angenommen wurde. Die Befürworter des Namens Tau Omega für die Landefähre, nach den beiden Leern auf der Tunneltür, haen bei der Abstimmung knapp verloren. Nach einer halben Stunde nochmaliger Kontrollen gab Orme Befehl zum Abstoßen. Langsam, mit schwachem Düsenantrieb, entfernte sich die Barsoom vom Muerschiff. Orme fühlte eine warme Stelle über seinem Nabel, als habe man die seelische Nabelschnur, die ihn mit dem Muerplaneten verband, durchtrennt. Aber jetzt war keine Zeit zu innerer Besinnung. Er mußte sich auf sein Ziel konzentrieren, die Position der Landefähre im Verhältnis zur Landefläche bestimmen und die laufend eingehenden Fluginformationen beachten. Er mußte eine fehlerfreie Maschine sein; die Ehrfurcht und das Gefühl des Wunderbaren beim Anflug, der Rausch des erreichten Ziels – sie konnten nach der Landung auf dem Mars kommen. Natürlich nur, wenn es dort keine dringenderen Probleme gab. Die Mannscha hae Landemanöver schon auf der Erde geübt, in einer sehr viel stärkeren Maschine, die mit der hohen Schwerkra und der dichten Atmosphäre fertig wurde. Sie hae auch auf dem Mond trainiert, wo die Gravitation viel geringer war als auf der Erde und die Atmosphäre praktisch gleich Null. Hier dagegen bildete die Atmosphäre, wenngleich relativ labil, doch einen wesentlichen Faktor. Immerhin hae man das Landen auf dem |8|
Mars in der Theorie erarbeitet, die Mannscha war unter simulierten Bedingungen hart gedrillt worden, damit die Wirklichkeit kein Problem sein sollte. Vier Tage lang hae die Besatzung der Aries darauf gewartet, daß die Winde sich legten. Jetzt endlich ließen die hohen Eisund die tieferen Staubwolken nach. Nur ein paar dünne Zirren schwebten noch unter ihnen, und die Oberflächenatmosphäre konnte im Grunde keine Schwierigkeiten mehr machen. Der rote Ball vergrößerte sich schnell. Der Gipfel des Olympus Mons, eines Vulkans von der Größe des Staates Neumexiko und einer Höhe von 15,5 Meilen, entschwand aus dem Gesichtsfeld. Die Tharsiskee, die aussah wie ein kolossaler Dinosaurier mit fleischigen Rückenschuppen, wurde breiter und war dann ebenfalls nicht mehr zu sehen. Der Tithoniusgraben, über 46 Meilen breit und mehrere Meilen tief, Teil des Canyonsystems der Vallis Marineris, erweiterte sich. Zwanzig Sekunden lang umgab sie blendendes Weiß, als sie eine lange, schmale und tiefe Eiswolke durchquerten. Im Osten lag ein Schaen, das war die Marsnacht, die sich fast mit der Schnelligkeit einer Erdennacht näherte. Sie war der Bogen, der den Pfeil der Dunkelheit und furchtbaren Kälte über das Ödland schoß. Nicht daß es auf der Oberfläche kalt gewesen wäre: Bei der Landung würde die Temperatur etwa plus 20 Grad Celsius betragen. Orme steuerte die Landefähre in westlicher Richtung, als der dünne, aber immer noch starke Wind sie ostwärts abzutreiben begann. Er richtete die Triebwerkdüsen gegen den Druck der Atmosphäre. Die Barsoom sank, und er stellte fest, daß die Lu, obwohl sie dicker wurde, sich nicht so schnell bewegte wie der Höhenwind. Er verringerte den Schub – die Raser-Anzeige ließ erkennen, daß die Barsoom ihren Fallwinkel beibehielt. Eine von der Landefähre ausgehende, gerade Linie würde genau an der Landungsstelle enden, am Boden des Tithoniusgrabens. Während er Daten in das kombinierte Sender-Empfänger-Gerät eingab, verging die Zeit. Die Transmier würden auch Aufnahmen der näher kommenden Marsoberfläche und der beiden Mar|9|
sastronauten in ihrem Kokon aus leuchtendem Kunststoff zur Erde senden. Wie ein Mund öffnete sich unter ihm der Spalt. Die riesigen Gipfel der Vulkane auf der Außenseite versanken, und bald schwebte das Schiff an den Rändern der ehrfurchtgebietend emporragenden Klippen hinab. Noch immer standen sie im dünnen, aber hellen Sonnenlicht des Planeten. Erst wenn die Sonne sank, würde der Schaen der westlichen Wand auf sie fallen. Orme, der ab und zu aus dem Bullauge blickte, konnte die metallische Wölbung des unter dem Erdrutsch begrabenen, anderen Schiffs erkennen. Rötlicher Fels und ein feineres Material – Staub – aus dem verwierten Material der Canyonwand vermischten sich mit diesem Erdrutsch. Es gab hier kaum Wind, was Ormes Aufgabe leichter machte. Bronski, von Gefühlen überwältigt, vergaß sein Englisch und sagte etwas auf polnisch. Das war seine Muersprache. Erst mit zehn Jahren hae er Französisch gelernt, als seine Eltern nach Schweden und dann nach Paris geflohen waren. Einen Augenblick später berichtigte er sich und tief: »Tatsächlich! Es ist ein künstliches Gebilde! Ein Schiff !« Orme dachte, noch wäre zu beweisen, daß es sich auch tatsächlich um ein Raumschiff handelte. Aber zu Anmerkungen blieb ihm keine Zeit. Außerdem war er der Meinung, Bronski habe recht. Die Landefähre stellte sich fest auf ihre sechs Greiffüße und sank leicht ab. Ihre Teleskopbeine fingen den Aufprall ab und streckten sich dann wieder, um das Gefährt aufzurichten. Orme schaltete die Energiezufuhr ab und blieb einen Augenblick sitzen. Er fühlte die schwache Anziehungskra des Mars und hörte die Stille. Dann jubelte er: »Marsianer – wir sind da!« Er hae sich ein paar kurze Ansprachen zurechtgelegt, einige davon durchaus poetisch, schließlich aber auf den ganzen Kram gepfiffen. Er würde sagen, was ihm gerade einfiel. Dantons Stimme unterbrach die Stille. »Herzlichen Glückwunsch, Commander!« | 10 |
Orme war verblü, als ihn Bronskis Arme von rückwärts umfaßten und dieser ihm in die Ohren brüllte: »Bei Go, wir haben es gescha!« »Und Er ist auch hier«, sagte Orme, und er meinte es auch. »Auch wenn es hier aussieht wie in des Teufels Waschküche.«
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rme löste die Gurte und stand langsam auf, wobei er nicht vergaß, daß es hier zwar eine Schwerkra gab, die aber der irdischen wenig ähnelte. Er warf einen Blick durch das Bullauge und beschrieb dann schnell, was er sah. Die Landefähre stand dreihundert Fuß vom Anfang des Erdrutschs entfernt. Sie war in einem Bereich gelandet, den sie von der Aries aus entdeckt haen. Es gab dort vergleichsweise wenig von jenen Felsen, die sonst auf dem Boden des Canyons überall herumlagen; die Greiffüße haen keinen davon berührt und standen nun fest auf felsigem Untergrund, von Staub befreit durch die Winde, die gerade noch geweht haen. Durch das Bullauge im Dach konnte er den Himmel sehen, ein helles Blau, durchzogen von ein paar weißen Streifen. Der Robotspäher, Red II, der als erster die beiden griechischen Lettern auf der Tunneltür gesehen hae, näherte sich. Danton hae ihn nah an die Barsoom herangesteuert, um so Bilder der Marsfahrer beim Verlassen der Landefähre und der näheren Umgebung der Barsoom zu bekommen. Diese Bilder würden dann zur Aries gefunkt und von dort über den Satelliten zur Erde weitergeleitet werden. Achthundert Fuß hinter dem Späher, unsichtbar selbst aus seiner Höhe, lag der Tunnel. Orme und Bronski machten sich an die Arbeit. Nachdem sie Raumanzüge und Helme angelegt und überprü haen, kleerten sie in den beengten Raum der Druckkammer und schlossen die Luke zum Inneren der Landefähre. Orme stellte ein Meßgerät ein und drückte auf einen Knopf. Innerhalb von drei Minuten hae sich der Druck in der Kammer auf den der Außenatmosphäre reduziert. Orme öffnete die Luke nach außen und entrollte eine Metall-Leiter. Zwar häe er die vierzehn Fuß zum Marsboden ohne weiteres hinunterspringen können, aber das war ihm verboten. Die beiden sollten kein Risiko eingehen. Er kleerte die Leiter hinunter, trat von rückwärts auf den Felsen und drehte sich dann um. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, das nicht an der niedrigen Schwerkra lag. Er, Richard Orme, | 12 |
ein schwarzer Kanadier, war das erste menschliche Wesen, das die Oberfläche des roten Planeten betrat. Der Späher, diese metallene, insektenartige Maschine, sendete bereits in diesem Augenblick Bilder des einzigartigen Geschehnisses. Bilder von ihm, Richard Orme, dem ersten Erdmenschen, der den Fuß auf den uralten Fels eines fremden Planeten setzte. »Kolumbus, du häest hier sein sollen!« sagte er und war sich deutlich der Tatsache bewußt, daß elfeinhalb Minuten später Milliarden hören würden, was er da gesagt hae. Seinen nächsten Gedanken sprach er nicht aus. »Und du häest dir in die Hosen geschissen!« Der alte Navigator häe von so etwas nicht einmal träumen können. »Fünundertdreiundzwanzig Jahre haben uns weit gebracht«, sagte er. Er führte das nicht weiter aus. Es würde genügend Leute auf der Erde geben, die verstanden, was er meinte, und es den Zuschauern erklären konnten. Nun kam Bronski die Leiter hinunter, sah sich einen Moment um und fing auf ein Zeichen von Orme hin ebenfalls mit der Arbeit an. Aus einem Fach im Boden der Landefähre luden sie ein Sicherungsseil, ein Bohrgerät und ein Sonar aus. Letzteres bestätigte ihnen, daß der Landeplatz aus massivem Fels bestand und dick genug für die Verankerung war. Bronski bohrte ein Loch in den Basalt und löste dann den Bohrer von der Energieversorgungseinheit. Das eine Ende des Seils wurde an dem aus der Erde hochstehenden Stück des Bohrers befestigt. Orme stellte eine Zementmischung her und goß sie zwischen Bohrer und Bohrloch. Während sie darauf warteten, daß das schnelltrocknende Zeug hart wurde, gingen sie hinüber zu der silbermetallischen Rundung, die aus den Felsmassen hervorragte. Als er unter dem gewaltigen Bogen stand und nach oben blickte, war Orme tief beeindruckt. Wenn das ein Raumschiff war, und bestimmt war es das, dann von der Größe eines alten Ozeanriesen, etwa der Queen Mary, oder riesig wie der Zeppelin Hindenburg. Wer immer das gebaut hae, verfügte über Energiequellen, die der Erde fehlten. Dieses Ungetüm von einem Planeten aus in den Weltraum zu | 13 |
katapultieren, durch das All zwischen den Sternen hindurchzusteuern und hier landen zu lassen – das alles erforderte eine Kra, an die nur zu denken schon überwältigend war. Wie lange hae es hier schon gelegen, auf dem Grund dieser ungeheuren Schlucht? Jedenfalls lange genug, daß die Wand verwiern und Felsbrocken herabfallen und es begraben konnten. Und dann wieder so lange, daß irgendeine Kra, vielleicht der Einfluß ungewöhnlich starker Stürme über einen langen Zeitraum, die Felsen, die jenes Stück des Schiffs bedeckten, wieder wegräumen konnte. Natürlich konnte es auch sein, daß dieser jetzt freiliegende Teil überhaupt nie zugeschüet gewesen war. Der Beobachtungssatellit hae ihn mehrfach aufgenommen, ohne daß er einem der Aräographen aufgefallen war – bis Lackley, der Australier, seine »Ahnung« gehabt hae. Oder vielleicht haen irgendwelche Wesen angefangen, die Felsen abzutragen, und irgend etwas hae sie unterbrochen. Bei dieser Vorstellung lief es ihm kalt über den Rücken, bis hinauf in die Kopaut. Unwillkürlich drehte er sich um und schaute hinter sich. Natürlich war da keine Gruppe von Marsbewohnern, die sich schweigend näherten. Er lachte. »Wo ist der Witz?« fragte Bronski. »Eigentlich nirgends. Ich habe nur gelacht, weil ... ist ja auch egal. Vielleicht vor Freude. Hier. Hol das Handwerkszeug raus.« Er drehte Bronski den Rücken zu. Bronski nahm aus dem Zylinder auf Ormes Rücken einen Kasten, ein Minilabor für chemisch-physikalische Untersuchungen. Er stellte den Kasten auf den Boden, öffnete den Deckel, und er und Orme erledigten das Testverfahren mit der Schnelligkeit, die sie langer Übung verdankten. Als sie fertig waren, erstaete Orme Bericht. »Die Tür sieht aus wie Metall. Wie Sie durch den Audiometer gehört haben, ist das Innere hohl. Wenn man mit einem Stahlhammer daraufschlägt, gibt es einen Klang. Selbst ein Diamant erzeugt keine Kratzer. Salpetersäure hinterläßt keine Spuren. Ich möchte keinen Laserstrahl anwenden, weil Lu den Inhalt beschädigen könnte. Woraus auch immer die Tür besteht – der Stoff ist der irdi| 14 |
schen Wissenscha unbekannt.« Bronski setzte den Kasten wieder in den Zylinder, und sie kehrten zur Barsoom zurück. Der Zement war hart. In dieser Atmosphäre, deren Druck demjenigen einer Höhe von zehn Meilen über der Erdoberfläche entsprach, gab der Zement seine Feuchtigkeit sehr schnell ab. Sie war zu Dampf verkocht, den man in dieser Dämmerung nicht sehen konnte. Orme benutzte einen winzigen Heber, um das lose Ende festzuzurren und das Seil zu straffen. Jetzt würden nicht einmal Stürme mit einer Stundengeschwindigkeit von 250 Meilen, am Grunde des Canyons ohnehin wenig wahrscheinlich, die Landefähre umstürzen können. Nadir Shirazi, der Danton abgelöst hae, sagte: »Wie fühlt ihr euch? Wollt ihr euch erst ausruhen, bevor ihr zum Tunnel geht?« »Ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt aufzuhören«, erklärte Bronski. »Ich würde am liebsten weitermachen.« Aus dem Fach, in dem das Ankerungsmaterial gelegen hae, holten sie eine faltbare Aluminiumleiter und eine Kiste Sprengstoff heraus. Orme nahm die Kiste, und sie gingen zum Anfang des Tunnels. Der Späher folgte ihnen und behielt sie für die beiden auf der Aries und die Milliarden auf der Erde im Blickfeld seines Hauptscanners. Orme stellte die Kiste ab und öffnete den Deckel. Bronski ließ die Leiter in den Tunnel hinab. Mit einer starken Leuchte, die er der Kiste entnommen hae, schickte Orme einen Lichtstrahl den Tunnel entlang. Links von den beiden Männern folgten die beiden Antennen des Spähers dem Licht. Mit den Augen des Spähers hae Orme das Innere der Öffnung schon mehrfach gesehen. Aber jetzt erblickte er es mit eigenen Augen und empfand die gleiche Erregung wie beim ersten Mal, als er es im Laboratorium von Houston in der Simulation gesehen hae. Am entfernteren Ende lagen Felsbrocken und Stücke der eingefallenen Decke. Wahrscheinlich verdeckten sie eine zweite Tür. Überall auf dem Boden gab es weitere Steinblöcke, große und kleine. Am andern Ende befand sich der obere Teil einer Tür, deren unteres Viertel hinter noch mehr Gestein verborgen war. Roter Staub bedeckte die Felsen. Die jedoch nur dünne Staub| 15 |
schicht deutete darauf hin, daß das Dach erst kürzlich eingestürzt war. Was hae den Zusammenbruch herbeigeführt? Niemand hae bisher eine Theorie, die vernüniger Überlegung standgehalten häe. Der Tunnel war zu weit entfernt von den nächsten Klippen, als daß Felsstücke von dort heruntergefallen sein könnten. Außerdem lagen auch im Tunnel oder nahe dabei keine großen Felsbrocken. Im Westen gab es ein paar Riesenfelsen, aber die hae vor undenklichen Zeiten das Wasser den Canyonboden hinabgespült. Ein Wissenschaler hae die Ansicht vertreten, ein kleiner Meteorit habe das Dach zerschmeert. Aber die Umgebung war frei von Aufprallkratern, großen wie kleinen. Auch erschien der Zufall einfach zu groß, daß ein seltener Meteorit ausgerechnet in diesem engen Bereich einschlagen und etwas enthüllen sollte, das man auf andere Weise nie entdeckt häe. Orme richtete den Lichtstrahl fest auf die orangefarbenen Leern auf der stumpfschwarzen Tür. Tau Omega in Großbuchstaben. Aber hae sie jemand geschrieben, der das Griechische beherrschte? Waren die Schrizeichen nicht so simpel, daß andere denkende Wesen sich ihrer bedient haben könnten? T und Ω würden jedem, der ein Alphabet erfand, sozusagen von selbst einfallen ... falls diese Zeichen überhaupt alphabetischer Natur waren. Genausogut konnten sie Zeichen für eine Silbenschri sein oder zu einem Ideogramm-System gehören, wie die Chinesen es benutzten. Auch um arithmetische Symbole konnte es sich handeln. Orme bedeutete Bronski mit einer Geste, die Leiter hinabzusteigen. Wenn er schon nicht der erste Mensch war, der den Mars betrat, so konnte er doch wenigstens als erster die Tür im Tunnel anfassen. Der Späher stand jetzt an der Kante der Öffnung, den einen Scanner auf Orme gerichtet, den anderen auf den Franzosen. Als Orme sah, daß Bronski nicht mehr auf der Leiter stand, ließ er die Kiste zu ihm hinunter. Bronski fing sie geschickt auf, und Orme folgte ihm die Leiter hinab. Als Orme bei ihm war, hae Bronski schon den kleinen Steinhaufen bestiegen und prüe die Tür. Orme nahm einen etwa kopfgroßen Stein zur Hand, hob ihn hoch und warf ihn aus dem | 16 |
Tunnel, nachdem er sich vergewissert hae, daß er nicht den Späher treffen würde. Bronski kam vom oberen Teil des Steinhaufens herunter, um ihm zu helfen. In etwa fünf Minuten war der Weg zur Tür freigeräumt. Im Licht der vierbeinigen Leuchte, die sie auf den Boden gestellt haen, nahm Bronski den Kasten aus dem Zylinder auf Ormes Rücken. Die Tests ergaben, daß die Tür aus einer Stahllegierung bestand. »Sie sitzt ganz eng in der Öffnung«, meinte Orme. »Offensichtlich ist sie ludruckversiegelt und genau für solche Vorfälle gebaut, nämlich für das Einstürzen von Teilen des Tunnels.« Anders als die Außenhaut des mutmaßlichen Raumschiffs war die Tür dick. Als er mit dem Hammer darauf schlug, gab es keinen hohlen Klang. »Wir könnten versuchen, sie herauszusprengen«, sagte Orme. »Aber ich glaube, es ist leichter, wenn wir oben zum Dach des nächsten Abschnis gehen und dort graben.« Sie verließen den Tunnel und gingen zurück zur Landefähre. Orme wurde langsam müde, was bedeutete, daß Bronski noch müder sein mußte. Orme maß nur einen Meter siebzig, aber auf der Erde wog er muskulöse einhundertneunzig Pfund, ohne jedes überflüssige Fe. Der schlanke Bronski war schnell, konnte mit seinem Kapitän aber nicht mithalten. Orme schlug vor, beim Ausruhen zu essen und vielleicht sogar ein Nickerchen zu machen. Der Franzose lehnte ab. »Dazu bin ich noch viel zu aufgeregt.« Aber von seinem Kommandoposten in Houston ordnete Carter an, die Monitoren anzuschließen. Nachdem er gesehen hae, was sie anzeigten, erklärte er: »Jungs, ihr müßt eure Baerien aufladen. Ihr seid einfach müde.« Bis diese Nachricht durchkam, haen die beiden gegessen. Eine Stunde ruhten sie in ihren Liegesitzen. Orme versuchte, mit Hilfe von Alphawellentechnik einzuschlafen. Trotzdem dauerte es, den Monitoren zufolge, zwanzig Minuten, bis er soweit war. Er häe geschworen, die ganze Zeit wach gewesen zu sein. Zwanzig Minuten später waren sie wieder im Tunnel. Fünfzig Zentimeter von der Tür entfernt schni Orme mit einem kleinen Laserbohrer | 17 |
ein Loch in die Tunneldecke. Als er durchdrang, trieb die Explosion der eingeschlossenen Lu das Gerät durch das Loch nach außen zurück. Orme hae jedoch damit gerechnet und sich seitlich danebengestellt. Trotzdem schlug es ihm fast den Bohrer aus der Hand. Sofort machte er sich daran, fünf weitere Löcher zu bohren, alle in einem Kreis von einem Meter Durchmesser. Er häe die Löcher mit dem Laser verbinden und so ein ganzes Stück herausschneiden und in den Tunnel fallen lassen können. Aber er mußte Energie sparen. Darum steckte er Gelignit-Ladungen in die Löcher und zündete den Sprengstoff aus einiger Entfernung mit Hilfe einer Baerie. Das kreisförmige Felsstück flog unter Rauchentwicklung mit ein paar größeren Felsbrocken in die Lu. Sie stiegen weiter in die Höhe, als es auf dem Heimatplaneten der Fall gewesen wäre, der Rauch verzog sich schneller und der Staub setzte sich in kürzerer Zeit. »Wenn es ein automatisches Versiegelungssystem gibt, das noch funktioniert, ist das Ende dieses Tunnels jetzt abgeriegelt«, meinte Orme. »Dann müssen wir eine Tür öffnen. Das würde bedeuten, daß der nächste Abschni versiegelt wird. Wir haben nicht genügend Material, um viele Türen zu überwinden.« Wenn der Tunnel in gerader Linie weiterlief, würde er in die Canyonwand hineinführen. Milerweile lag der Schaen der Westwand auf ihnen. Es wurde kälter. In ihren Anzügen, so sperrig sie waren und soviel Ausrüstung auch noch darauf geschnallt war, ließ/es sich aushalten. In jedem Anzug gab es eine Wasserflasche, aus der sie durch einen Schlauch saugen konnten, wenn sie den Kopf innen im Helm seitlich nach unten beugten. Jeder hae noch eine halbe Flasche übrig. Sie konnten in eine vorn am Bein befestigte Blase urinieren. Trotzdem ordnete John Carter an, daß sie für diese Nacht auören sollten. Zuvor haen sie mit dem Sonar untersucht, ob der Tunnel weiter in die Klippen hineinging. »Ihr könnt Strom sparen, wenn ihr bei Tageslicht arbeitet. Und wir können euch besser beobachten.« Orme hae keine Lust, mußte sich aber fügen. Nachdem er | 18 |
bestätigt gefunden hae, daß der Tunnel bis unter die Steilwände reichte, erklärte er Bronski, daß sie zurückgehen müßten. »Morgen haben wir den ganzen Tag Zeit. Wir sind dann auch erholt. Die Landung hat uns eben doch ziemlich mitgenommen. Auch wenn wir unterwegs schon auf der Aries trainiert haben, sind wir nicht gerade in erstklassiger Verfassung. Diese Nullgravitation ist heimtückisch, auf lange Sicht gesehen, macht sie einen schwach.« »Ja«, erwiderte Bronski. Sein Ton deutete an, daß er Bescheid wußte, und Orme wußte auch, daß es so war. Aber es war besser, sich selbst zu wiederholen und banales Zeug zu reden, als dem Schweigen zu lauschen. Die Sterne waren jetzt sichtbar und schienen heller als in der Erdatmosphäre. Auf dem Grunde des Canyons war es, als stehe man am Boden eines Brunnens. Die Sterne, die zu sehen waren, wirkten unheilvoll, als häen sie etwas gegen die Anwesenheit der beiden Fremden. Orme wußte, daß diese Reaktion auf seine Müdigkeit zurückzuführen war, auf das Gefühl der Bedeutungslosigkeit gegenüber der Wand, die sich über ihnen türmte, auf das Unheimliche der ganzen Situation, auf das Empfinden, daß es irgendwo dort unten Wesen gab, die sie vielleicht bedrohten. Er wußte nicht genau, auf welche Weise – denn die Erdbewohner bedeuteten ja keine Gefahr für die Marsianer (sofern es sie überhaupt gab) – und es fiel ihm kein Grund ein, weshalb sie zwei Fremde für gefährlich halten sollten. Allerdings deutete das verschüete Raumschiff auf eine hochentwickelte Technologie hin, und der Tunnel schien darauf hinzuweisen, daß die Leute, die dort gelandet waren, sich in den Mars hineingegraben haen. Wenn sie es gescha haen, unterirdisch zu überleben – und sie mußten schon sehr lange hier sein – warum waren sie dann nicht nach oben gekommen, um ihr Schiff zu reparieren? Wenn es überhaupt zerstört war? Zwecklos, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen. Morgen oder übermorgen oder in ein oder zwei Wochen würden sie die Antwort finden. Trotzdem war er froh, zur Landefähre zurückzukommen. Auch wenn sie nicht gerade die bequemste oder geräumigste Behau| 19 |
sung darstellte, war sie doch in gewisser Weise ein Stück Erde. Er schlief ohne Schwierigkeiten ein, wurde aber mien in der Nacht ganz plötzlich wach. Er glaubte etwas gehört zu haben, etwas Hartes, das gegen den doppelten Rumpf klope. Er stand auf und schaute durch die Bullaugen. Nichts war zu sehen außer Finsternis auf allen Seiten, eine ausgenommen. Noch immer wanderten Sterne langsam über das offene Canyondach. Der Späher sah aus wie ein nicht zu identifizierendes Etwas, das er für einen Felsblock gehalten häe, häe er es nicht besser gewußt. Dann, während er noch hinaussah, ging ein Licht von dem Späher aus, ein Strahl, der hinabdrang in den Tunnel, sich dann hob und einen Bogen von dreißig Grad beschrieb. Nach zwei Minuten erlosch das Licht. Einmal pro Stunde, so hae Danton ihm befohlen, wurde der Roboter aktiv und bestrich das Gebiet mit sichtbarem Licht, Infrarot und Radar. Wenn sich, auch meilenweit entfernt, etwas bewegte, würde er in der Landefähre und auf der Aries Alarm geben. Den Rest der Nacht schlief Orme ruhig. Der Wecker, durch ein Radiosignal von der Aries ausgelöst, ließ ihn emporschrecken. Draußen war es noch dunkel, aber oben über dem Canyon wurde der Himmel schon blaß. Nach den nötigen Meldungen, dem Kontrollieren der Ausrüstung und einem Frühstück kleerten er und Bronski zum Boden hinunter. Auf dem Weg zum Klippensockel betrachtete er die graue Wölbung, die aus dem Geröll hervorsah. Wenn sie in den Tunneln nicht weiterkamen, würden sie anfangen, die Felsen von dem Raumschiff wegzuräumen. Oder wenn sie nach einer bestimmten Anzahl von Arbeitstagen keine Luke oder andere bequeme Zugangsmöglichkeit fänden, würden sie versuchen, mit dem Laser ein Loch hineinzuschneiden. Auf der Erde wäre es unmöglich gewesen, ohne einen Kran oder sehr viel Sprengstoff die Felsen zu entfernen – einige davon waren von eindrucksvoller Größe. Hier oben müßten zwei Männer imstande sein, jeden der Blöcke zu heben, die er auf dem Haufen gesehen hae. Vielleicht müßten Shirazi und Danton noch helfen kommen. Als er an dem Späher vorbeikam, winkte er ihm zu. Obwohl | 20 |
das Ding aussah wie die Science-Fiction-Ausgabe eines Marsmenschen, war es ihm doch vertraut und darum freundlich. Noch eine Erinnerung an den Heimatplaneten. Einen Augenblick später sah er sich um. Der Späher folgte ihm wie ein Hund seinem Herrn. Danton, die jetzt Dienst hae, hae ihn angewiesen, sie zu begleiten. Als er und Bronski durch das am Vortag gebohrte Loch in den Tunnel hinunterstiegen, streckte der Späher einen beweglichen Arm aus, an dessen Ende eine Leuchte und eine Kamera angebracht waren. Er würde ein Auge auf sie haben, damit die beiden in der Aries und mit ihnen die ganze Welt ihre Fortschrie verfolgen konnten – wenn es welche gab. Orme schüelte den Kopf. Solche pessimistischen Gedanken entsprachen seiner Natur im Grunde gar nicht. Er war so optimistisch, wie ein vernüniger Mensch nur sein konnte. Aber in jedem Menschen steckte eine dunkle Schicht, die auch die größte Anzahl psychologischer Tests nicht freilegen konnte. Sie lag zu tief. Selbst ihr Besitzer wußte nichts von ihr, solange nicht bestimmte Situationen sie nach oben brachten. In so einer Situation befand er sich jetzt. Aber er würde sich nicht unterkriegen lassen. Wenn er erst die Ärmel hochgekrempelt hae, würde er die ganze Sache vergessen. Orme stand beinahe in Reichweite der Tür, die vermutlich den Eingang zu einem anderen Tunnelabschni bildete. Nur einen Schri weiter, und er wäre erschlagen worden, verkrüppelt oder getötet, als sie mit einem Knall aufflog. Es war, als sei im dahinterliegenden Abschni eine Ladung Dynamit hochgegangen. Von der Luexplosion aus dem Tunnel wurde er in die Höhe gehoben und halb umgedreht. Er sah einen Lichtschimmer, hae den vagen Eindruck einer kuppelförmigen Maschine und schlug dann auf dem Boden auf. Halbbetäubt lag er eine Minute, vielleicht auch länger, hilflos da. Er war sich nicht genau bewußt, wo oder sogar wer er war. Bevor er seine fünf Sinne wieder zusammenhae, ergriffen ihn Leute in Raumanzügen, die Gesichter verdeckt durch die dunklen Sichtscheiben ihrer Helme. Aber sie waren von menschlicher Größe, haen zwei Arme, zwei Beine und fünf Finger. Zwei von | 21 |
ihnen hoben ihn auf, schleppten und zogen ihn zu der großen, mit Rädern versehenen Maschine. Dantons Stimme jammerte ihm ins Ohr: »Was ist los, Richard? Richard? Bist du noch da?« Während er langsam zu sich kam, dachte er: »Du kannst mich doch sehen, oder?« Aber einen Moment lang gab er keine Antwort. Dann murmelte er: »Ich bin okay. Hier sind Dinger ... nein ... Leute ... wie Leute ...« Er wurde durch die offene Tür der Maschine gestoßen und energisch auf einen Stuhl gedrückt. Etwas gli über seine Brust. Gleich darauf erkannte er ein Metallband, das seine Arme festhielt. Der sich windende Bronski wurde hereingezerrt und in einen Stuhl vor Orme gesetzt. Vor den Sitzreihen standen noch zwei Stühle vor einem Armaturenbre. Der Fahrer und noch ein anderer mußten dort sitzen. Die große gewölbte Frontscheibe erlaubte einen Blickwinkel von 150 Grad, so daß Orme sehen konnte, womit ein Teil seiner Ergreifer beschäigt war. »Madeleine«, sagte er, »sie befestigen sechs Metallstreifen über dem Eingang. Jetzt ... setzen sie sechs waagrechte Streifen über die senkrechten. Sie scheinen angeklebt zu werden. Jetzt ... sie kleben einen Schirm über die Streifen ...« Der Arm des Spähers ragte immer noch in das Loch hinunter. Aber durch den engmaschigen Schirm sah man ihn nur noch wie eine Gestalt im Nebel. »Jetzt sprühen sie etwas über den Schirm. Was sie da machen – ich glaube, sie bauen eine Art provisorische Tür, damit sie wieder Lu in diesen Abschni pumpen können. Kannst du mich empfangen, Madeleine?« Keine Antwort. Die Barriere blockte die Radiowellen ab. Die Arbeiter kehrten zum Heck der Maschine zurück. Orme vermutete, daß sie dort ein Fach zum Verstauen ihres Werkzeugs haen. Dann kleerten sie herein, nahmen ihre Sitze ein, die Tür wurde geschlossen, die Maschine wendete und steuerte auf die entgegengesetzte Tür zu. Dort blieb sie etwa zehn Minuten stehen, bis sich die Tür plötzlich öffnete. Die Maschine rollte in einen anderen Abschni. Er unterschied sich nicht von den vorigen, wies jedoch eine Deckenbeleuchtung auf. | 22 |
Orme dachte, daß Nadir und Madeleine jetzt wahrscheinlich durchdrehten. Und auf der Erde, wo inzwischen die ersten Aufnahmen des Spähers und die gesprochenen Berichte ankommen müßten, würden die Menschen außer Rand und Band geraten. Er sagte: »Go, laß diese ... Leute ... freundlich sein. Laß auch sie Deine Leute sein.«
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3
A
vram Bronski sagte: »Das hier könnte durchaus die luxuriöseste Gefängniszelle im Sonnensystem sein.« Sie befanden sich in einer Vierzimmerwohnung, die hoch oben auf der einen Seite der ungeheuren Höhle in den Fels gehauen war. Die Wände waren mit einem holzartigen Material von hellem Rotbraun getäfelt. Die Decke bestand aus Stein, war aber mit Fresken bemalt, die offenbar Szenen mit Bauern und Haustieren darstellten. »Marsianer« waren nicht abgebildet und erschienen auch nicht auf den gerahmten Bildern an der Wand. Diese Gemälde waren entweder abstrakt oder zeigten Stilleben, Bauwerke oder Geschöpfe, die es entweder hierzulande gab oder die mythologischen Ursprungs waren. Manche sahen aus wie Drachen – eines war ein walartiges Untier mit sieben Hörnern, das aus dem Meer emporstieg. Bronski hae nach einigen privaten Spekulationen erklärt, daß das Verbot, lebende Wesen in Bildern, Plastiken oder sonstigen Formen darzustellen, gemildert worden sei. Aber er meinte, wenn er recht habe, sei es immer noch verboten, Abbilder denkender Geschöpfe zu fertigen. »Allerdings nicht bei der Holographenübermilung«, fügte er hinzu. »Und da ihre medizinische Wissenscha hochentwickelt zu sein scheint, müssen sie in den Lehrbüchern Bilder des menschlichen Körpers und Modelle von Organen und so weiter für die Studenten benutzen. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob sie auch Leichen sezieren.« Der Holographenfernseher in der Wohnung war so einstellbar, daß man die richtige Uhrzeit sehen und hören konnte. Nach dreitägiger Gefangenscha haen Orme und Bronski die Zahlen gelernt, die man brauchte, um das System zu begreifen. Bronski, der auf der Erde nicht nur ein erstklassiger Aräologe, sondern auch ein berühmter Sprachwissenschaler gewesen war, hae sich die zu den Symbolen gehörenden Worte angeeignet. Sie haen die eigenen Uhren auf die Ortszeit eingestellt. Allerdings glaubten sie nicht, daß sie in absehbarer Zeit irgendwohin gehen düren, so | 24 |
daß die Zeit für sie nicht weiter von Bedeutung war. Eine der wenigen Tatsachen, von denen sie schon sichere Kenntnis besaßen, war, daß das Tau und das Omega auf der Tunnelwand nicht griechischer Herkun waren. Zwar gab es hier Leute, die diese Sprache beherrschten, aber die arithmetischen Symbole auf den Fernsehern kamen von einem von der Erde weit entfernten Ort. Orme stand vom Stuhl auf und ging hinüber zu Bronski. Zusammen starrten sie auf eine Szene, die ihnen zwar inzwischen vertraut war, aber von ihrer Faszination nichts eingebüßt hae. Ihr Gefängnis lag etwa dreißig Meter hoch in einer Wand der aus massivem Basalt herausgeschnienen, ungeheuren Halbkugel. Der Sockel der gegenüberliegenden Wand war, so schätzten sie, 35 Meilen entfernt. Der höchste Punkt der Kuppel schien bei anderthalb Meilen zu liegen. Von ihrem Standpunkt aus konnten sie sieben riesige, hufeisenförmige Öffnungen und einundzwanzig kleinere sehen. Sie mußten zu Korridoren führen, die in andere Höhlen mündeten. Ihrer Ansicht nach war die Höhle nur Teil eines gigantischen, unterirdischen Systems. Abgesehen vom Boden des Gewölbes war der Stein himmelblau. Das war nicht die natürliche Farbe von Basalt, also mußte man ihn besprüht oder sonstwie behandelt haben. Welche Methode man aber auch angewendet hae – die Kuppel sah aus wie der Himmel über der Erde an einem wolkenlosen Tag. Etwa dreißig Meter unter dem höchsten Punkt der Halbkugel hing ein sonnenheller Globus. Eine halbe Stunde vor achtzehn Uhr am »Abend« begann er zu verblassen. Gegen achtzehn Uhr leuchtete er nur noch schwach, als häe die Sonne sich in den Mond verwandelt. Es war das einzige Licht außer dem, das aus den Fenstern der Häuser drang; bis sechs Uhr »morgens«, wenn die »Sonne« wieder stärker zu werden begann. Der Leuchtkörper schien nicht an einem Kabel zu hängen, obwohl es schwer war, an der Helligkeit vorbeizusehen. Aber wenn er ohne Befestigung in der Lu schwebte, mußte ihn irgendeine Anti-Schwerkra-Vorrichtung halten. Bisher waren Orme und | 25 |
Bronski überzeugt gewesen, daß es Anti-Gravitations-Maschinen nur in der Science fiction gab – vorausgesetzt, daß man Dinge wie Treppen, Leitern, Fahrstühle, Ballons, Luschiffe, Flugzeuge und Raketen nicht mitzählte. Bisher war der Leuchtkörper das einzige gewesen, bei dem ein Hilfsmiel nicht zu erkennen war. Die Menschen, die sie sahen, gingen entweder zu Fuß, rien auf Pferden oder benutzten von Pferden gezogene Einspänner oder Fuhrwerke, Fahrräder oder die wenigen, maschinell angetriebenen Räderfahrzeuge. Der Boden der Höhle war weder eben, noch wölbte er sich nach unten, um einen Horizont zu bilden. Sta dessen stieg er von der Mie aus san nach allen Richtungen an und endete an der Talwand. Aus Löchern am Boden der Wand floß Wasser und verteilte sich in Bäche mit vielfachen Windungen, kleine Flüßchen und zwei Flüsse, letztere jeweils eine dreiviertel Meile breit. Die kleineren Wasserläufe mündeten in die Flüsse, die schließlich in einem See in der Höhlenmie endeten. Er hae ungefähr die Gestalt eines Stundenglases. An den breitesten Stellen war er eine halbe Meile breit; seine Länge betrug zwei Meilen. Überall gab es Bäume und Bauernhöfe, kleine Parkanlagen und Wälder, durchsetzt von Dörfern. Die einzigen Gebäude mit mehr als zwei Stockwerken Höhe waren die Scheunen. Jedes als solches erkennbare Wohngebäude war von einem großen Hof umgeben und hae einen Garten. Manche Häuser sahen aus wie Schulen. Zu jedem Dorf gehörte ein offenes Stadion, in dem Lauf- und Springwekämpfe, Pferderennen und Spiele stafanden. Eines der Spiele erinnerte stark an Fußball, ein anderes war ähnlich wie Korbball. Es gab auch viele öffentliche Schwimmbäder, aber keine für private Häuser. Durch das Fernglas, das ihnen Hfathon, einer ihrer Ergreifer, gegeben hae, konnten sie viele Dinge sehen, die sonst verschwommen oder nicht zu erkennen gewesen wären. Häe es an irgendeiner Stelle hohe Gebäude gegeben, häen sie sie entdekken können, der nach oben gewölbte Boden häe dafür gesorgt. Zweispurige, gepflasterte Straßen verbanden Städte und Höfe. Sie sahen keine Lastwagen, obwohl es mit landwirtschalichen | 26 |
Erzeugnissen beladene Pferdefuhrwerke in großer Zahl gab. Nahe dem See in der Mie stand ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude, in das morgens um acht die Menschen in großen Scharen strömten. Um zwölf Uhr kamen sie heraus, machten in den Parks Picknick, schwammen im See oder ruderten. Eine Stunde später betraten sie das Haus wieder, und um vierzehn Uhr schwärmte alles endgültig aus. Die meisten gingen zu Häusern, die bis zu einer Meile entfernt lagen, aber andere fuhren mit dem Rad, rien oder trabten sogar im Dauerlauf zu weiter abgelegenen Wohnungen. Bronski war der Ansicht, es könnte sich um das Hauptverwaltungsgebäude der Regierung handeln. »Wer weiß, wieviel Etagen es unter der Erde noch hat.« Gegenüber, auf der anderen Seite des Sees, lag eine Art Universitätsgelände. Andere Gebäude sahen, nach der Anzahl der Leute zu schließen, die sie am Sabbat betraten, wie Tempel aus. Alle Baulichkeiten besaßen Dächer. Orme dachte über den Grund dafür nach, da die gesamte Höhle ja höchstwahrscheinlich klimatisiert war. Am vierten Tag begriff er die Ursache. Wasser regnete aus der Kuppeldecke, eine halbe Stunde lang. »Darum haben die Höfe also keine Bewässerungssysteme!« Die Gefangenen haen ihr Miagsmahl verzehrt und das schmutzige Geschirr auf Tables in ein Wandfach geschoben. Jetzt sahen sie, wie zwei Autos mit Marsianern in ihre Richtung fuhren. Sie verschwanden unter dem Vordach, und kurz darauf wurden die Köpfe der Insassen des ersten Fahrzeugs sichtbar. Eine Straße führte von außen zu dem Gefängnis hinauf. Aber die Leute hier zogen es offenbar vor, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Fuß zu gehen und nicht zu fahren. Bisher haen sich Orme und Bronski über schlechte Behandlung nicht beklagen können. Man hae sie physisch und medizinisch gründlich untersucht und ausführlich befragt, aber sie waren gut untergebracht, gut verpflegt und haen viel Zeit für sich selbst. Die sechs Marsianer blieben stehen, während die unzerbrechliche Glasfront des Raums in einer Deckennische verschwand. | 27 |
Orme wußte, daß das durchsichtige Material unzerstörbar war, denn er hae es mit verschiedenen Stühlen, seinem gestiefelten Fuß und einer schweren Bronzevase getestet. Drei ihrer Ergreifer waren Homo sapiens, sehr hochgewachsen, wohlgebaut und in wallende Gewänder gekleidet. Zwei von ihnen haen langes, dunkles Haar und Vollbärte und waren dunkelhäutig. Der drie hae eine helle Haut, dunkelblaue Augen und einen goldbraunen Bart. Alle drei haen lange, gekräuselte Schläfenlocken. Das andere Trio war zwar humanoid, aber schon der erste Blick zeigte einem Terraner, daß sie von einem anderen Planeten stammten. Sie waren fast zwei Meter zwanzig groß, eine für Terraner des Jahres 2015 n. Chr. nicht ungewöhnliche Größe. Damit und mit ihrer schlanken Statur, den langen Armen und Beinen und ihrer Schnelligkeit häen sie im besten Basketballteam der Erde mitspielen können. Sie haen fünf Finger mit langen Nägeln, fünf Zehen und waren insgesamt sehr menschenähnlich – mit Ausnahme der Gesichter. Ihre Haut war von heller Bronzefarbe, und sie haen beinahe purpurrote Augen. Das Haar war federartig – bei einem gelb, beim anderen tizianrot, beim drien schwarz. Sowohl die Frau als auch die beiden Männer haen haarlose Gesichter. Ob es keine Behaarung gab oder ob sie sich rasierten, wußten die Männer von der Erde noch nicht. Wie ihre menschlichen Gefährten trugen auch sie lange, gekräuselte Schläfenlocken. Ihre Ohren waren erheblich größer als Menschenohren und zeigten, vom Standpunkt der Terraner aus betrachtet, merkwürdig barocke Windungen. Das Kinn war gewaltig und erinnerte Orme an Fotos von Akromegalie-Kranken. Ihre Nasen waren sehr groß und extrem gebogen, die Nasenlöcher blauschwarz umrahmt. Die Lippen wären menschlich gewesen, häe es nicht die schwarzgrüne Pigmentierung an ihren Rändern gegeben. Im übrigen ähnelten sie dem Homo sapiens stark, und zwar bis hin zur Form ihrer Zähne. Sämtliche Ankömmlinge trugen Gewänder, einteilige Kleidungsstücke aus leichtem Material. Manche waren ärmellos, andere haen niedrige Kragen oder spitze Ausschnie. | 28 |
Die Farben reichten vom tiefen Schwarz, Orange oder Grün bis hin zu bunten Streifen. Ein Mann trug einen Mantel mit Trauben aus je vier Quasten an jeder Ecke. Die Fußbekleidung bestand aus Sandalen oder Halbstiefeln mit offenen Zehen. Das Gewand der Frau war über und über mit abstrakten Mustern bestickt, aber nicht nur sie schmückte sich mit zahlreichen, juwelenbesetzten Ringen, goldenen oder silbernen Armbändern und Ohrringen. Diese letzteren wurden von kleinen Schrauben gehalten. Alle haen unterschiedlich große, verschieden geformte Helme auf. Der eine sah aus wie ein Zehn-Gallonen-Cowboyhut, zwei erinnerten an Dreispitze aus dem 18. Jahrhundert, wobei auf dem einen davon noch eine riesige Feder prangte. Die Frau strömte ein Moschusparfüm aus. Ihre Lider waren blau geschminkt. Der rechte Nasenflügel zeigte einen gelben Halbkreis. Hfathon, der Führer der Nichtmenschen, die Krsh genannt wurden, trat als erster ein. Dicht hinter ihm, wie es dem zweitwichtigsten Mann gebührt, folgte Ya’aqob Bar-Abbas, ein Mensch. Er hae eine große Adlernase, einen Stiernacken und auffallend breite Schultern. Dem Aussehen nach zählte er fünfundvierzig Erdenjahre, aber wenn das, was er Bronski erzählt hae, stimmte, war er hundertdreißig Jahre alt. Die anderen Nichtmenschen waren Hmmindron, ein Mann, und Zhkeesh, eine Frau. Yirmeyah Ben-Yokhanan und Sha’ul BenHebhel waren Menschen. Hfathon begrüßte die Gefangenen mit erhobenem rechten Arm. Zwei Finger bildeten dabei ein V, der Daumen war im rechten Winkel dazu abgespreizt. Er lächelte und zeigte dabei von irgendeiner Art von Kaugummi blau verfärbte Zähne. Er sprach zu Ya’aqob, der dann etwas auf griechisch zu Bronski sagte. Orme verstand kaum mehr als ein Wort davon. Bronski, der Linguist, hae entdeckt, daß weder Aramäisch noch Koine-Griechisch die Umgangssprache bildete. Aber es gab Gelehrte, die diese Sprachen erhalten haen und sich in beiden recht geläufig ausdrücken konnten. Bronski konnte Koine oder neutestamentliches Griechisch mühelos lesen, hae aber wenig Übung im Sprechen. Wenn | 29 |
seine Befrager jedoch langsam mit ihm redeten, konnte er die meisten ihrer Sätze verstehen. Eine Anzahl von Krsh-Lehnworten wurde verwendet, weil das alte Griechisch keine Ausdrücke für moderne wissenschaliche oder philosophische Konzeptionen hae. Diese mußte man ihm dann auf griechisch umschreiben. Orme war froh darüber, daß die beiden Gruppen wenigstens eine Sprache gemeinsam haen. Sonst häe es viele Wochen gedauert, mit ihren Entführern überhaupt Verbindung aufzunehmen. Inzwischen saßen Danton und Shirazi im Schiff fest. Wenn sie innerhalb von drei Wochen nichts von ihren Kollegen hörten, waren sie gezwungen, allein zur Erde zurückzukehren. Wenigstens nahm er das an. Es war natürlich sehr gut möglich, daß die Marsianer bereits eines ihrer eigenen Schiffe nach oben geschickt haen oder mit der Landefähre aufgestiegen waren, um die beiden ebenfalls gefangenzunehmen. Bronski hae ihre Ergreifer danach gefragt, aber außer einem Lächeln keine Antwort erhalten. Im Verlauf der Befragung übersetzte Bronski Orme einen Teil der Sätze. Während der ersten beiden Tage waren sie durch die gläserne Wand von ihren Befragern isoliert worden. Aber heute waren die Marsianer hereingekommen. Das bedeutete, daß die Tests ihre Gesundheit bestätigt haen – zumindest die körperliche. Nach dem, was Bronski ihm jetzt erzählte, waren sich ihre Ergreifer hinsichtlich der geistigen Gesundheit nicht so ganz sicher. Oder besser gesagt, über ihren theologischen Status. Ya’aqob fragte: »Dann verehrt man also auf der Erde Iesous ho Christos als den Sohn des Barmherzigen? Und er ist selbst auch der Barmherzige? Teilen alle diesen Glauben, oder gibt es auch Andersdenkende?« Aus den schmal gewordenen Augen des Mannes schloß Orme, daß er die letzten Sätze nur widerwillig aussprach. Avram Bronski erklärte: »Wie ich schon gesagt habe, gibt es ungefähr vier Milliarden Christen auf der Erde. Aber sie sind in viele Gruppierungen zerspliert, bei denen es ganz unterschiedli| 30 |
che Auffassungen über die Natur von ho Christos gibt. Die Orthodoxen glauben, daß Iesous ho Christos durch den Willen Goes von einer Jungfrau, Mariam, empfangen wurde. Darüber hinaus war Mariam selbst unbefleckt empfangen worden, das heißt, ihre Muer gebar sie ohne Sünde. In gewisser Weise war also ihre Muer die Großmuer Goes.« Die Augen aller sechs Ergreifer rollten, und sie riefen ein Wort, von dem selbst Orme merkte, daß es nicht der griechischen Sprache entstammte. Bronski sagte: »Ich müßte mich mit Kapitän Orme über diese Dinge beraten. Ich habe zwar viel über das Christentum gelesen, aber ich bin kein Christ. Ich bin Jude. Der Kapitän ist Christ und gehört zu einer Sekte – man nennt sie Baptisten. Er ist ein frommer Mann und kann viel besser als ich über die Feinheiten seiner speziellen Glaubenslehre sprechen.« Der Franzose hae alles, was er gesagt hae, für Orme übersetzt. »Das stimmt doch gar nicht!« sagte Orme. »Sag ihnen, daß du viel mehr über den Vergleich von Religionen weißt als ich. Wenn du irgend etwas Irriges über die Baptisten sagst, mache ich dich schon darauf aufmerksam.« Ya’aqob redete griechisch wie ein Maschinengewehr. Bronski bat ihn, langsamer zu sprechen. Ya’aqob wiederholte. Bronski sagte: »Kapitän, er hat mich gefragt, wie ich mich als Juden bezeichnen kann, wenn ich nicht daran glaube, daß Iesous der Messias ist. Hinzukommt, sagt er, daß ein Jude nicht glarasiert sei, sondern einen Vollbart und Schläfenlocken habe.« Orme fühlte sich verwirrt und frustriert. »Sag ihnen, daß wir über religiöse Fragen später diskutieren können. Es gibt jetzt Wichtigeres festzustellen. Verdammt noch mal, wir wissen nicht einmal, wo Hfathon und sein Volk herkommen! Oder wie die Menschen es hierher gescha haben! Und es ist lebenswichtig, daß wir Verbindung mit Danton und Shirazi aufnehmen!« »Schon richtig ... für uns«, antwortete Bronski. »Ich fürchte nur, daß für sie die religiöse Frage das Wichtigste ist. Ich kann sie nicht dazu bringen, über das zu reden, was uns am meisten interessiert, verstehst du.« | 31 |
Bronski sah so besorgt aus, wie Orme sich fühlte. Orme rang die Hände. »Wer häe so etwas gedacht?« Hfathon sagte etwas. Bronski übersetzte: »Er möchte wissen, was dem braunen Mann fehlt.« »Sag ihm, ich bin schwarz und nicht braun.« Hfathon sprudelte etwas hervor, und die anderen lachten. Bronski erläuterte: »Er möchte wissen, wieso man einen Farbenblinden zum Leiter einer Weltraumexpedition gemacht hat.« »Dann sag ihm, daß ›schwarz‹ eine feste Bezeichnung ist, Wenn man krause Haare und dicke Lippen und eine dunkelbraune Haut hat, dann ist man eben schwarz. Es ist eine ... äh ... semantische Sache. Politisch. Man kann glae Haare und blaue Augen und schmale Lippen haben und doch schwarz sein. Ach, zum Teufel!« Orme streckte die Arme aus. Da saßen sie nun, die ersten Menschen auf dem Mars, wenigstens glaubten sie das, und diskutierten über Religion und Semantik. »Ich glaube, das übersetze ich lieber nicht«, meinte Bronski. »Wir sind schon durcheinander genug, ohne daß wir auch noch auf solche Sachen eingehen.« Hfathon sprach wieder. Bronski übersetzte: »Er sagt, seine Haut hat die gleiche Farbe wie deine, und er ist eindeutig braun.« Ya’aqob sagte etwas in scharfem Ton, als würde er erkennen, daß das Verhör sich zu verzeeln begann. Bronski antwortete auf die nächste Frage. »Zu erklären, warum ich mich für einen Juden halte, würde noch länger dauern und genauso in Einzelheiten gehen wie eine Erläuterung, warum Orme ein Schwarzer ist. Können wir uns nicht mit wichtigeren Dingen befassen? Wollt ihr uns nicht etwas über euch erzählen? Wenn wir verstehen, wie ihr hierhergekommen und warum ihr immer noch hier seid, obwohl wenigstens ich den Eindruck habe, ihr könntet diesen Planeten verlassen, dann können wir wieder auf eure Fragestellungen zurückkommen. Wir würden dann auch besser begreifen, warum ihr euch so für unsere Theologie interessiert. Oder vielmehr für unsere Theologien, denn | 32 |
es gibt viele davon auf der Erde. Vielleicht sogar Tausende. « Die sechs Marsianer berieten untereinander und sprachen dabei in der Sprache, die Hfathon als Krsh bezeichnet hae. Als sie fertig waren, sagte Ya’aqob auf griechisch: »Wahrscheinlich hast du recht. Bie verzeiht uns, was euch als unmäßige Neugier in bezug auf bestimmte Dinge erscheinen muß. Für uns ist diese Neugier nicht unmäßig. Sie ist in Wirklichkeit das einzige, worauf es in unserer Welt ankommt. Aber wenn wir weiterkommen wollen, sollten wir langsam vom Einfachen zum Komplizierten fortschreiten, damit wir uns gegenseitig verstehen. Aber dennoch habe ich ein paar Fragen, die euch vielleicht nebensächlich vorkommen, auf die wir aber gern eure Antwort häen, bevor wir unsere gegenseitige Unterrichtung beginnen. Erstens das: Warum ist der schwarze Mann, wenn er ein Anhänger von Christus und damit jüdisch ist, kein Jude? Wäre ein Nichtjude denn beschnien?« »Es ist in Teilen der westlichen Welt schon lange üblich, männliche Kleinkinder zu beschneiden«, erwiderte Bronski. »Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es gesünder ist. Natürlich verlangt auch die Religion des Islam, die teilweise auf der jüdischen beruht, die Beschneidung. Auch die alten Ägypter, die unsere Väter in der Sklaverei hielten, beschnien ihre Söhne.« Ya’aqob schaute verständnislos und fragte: »Islam? Du hast in der Tat recht. Eine Frage führt nur zu hundert anderen. Aber trotzdem gibt es noch eine zu diesem Thema.« Er gab dem dunkelblonden Sha’ul mit der Hand ein Zeichen, worauf dieser eine Kiste öffnete und einen Stapel Rationen aus der Landefähre hervorholte. Also waren die Marsianer in die Fähre eingedrungen. Danton und Shirazi und die ganze Erde mußten es gesehen haben. Er konnte sich die Bestürzung vorstellen, das Staunen, die Frustration. Vielleicht haen die beiden versucht, mit den Eindringlingen Kontakt aufzunehmen, aber natürlich haen sie nicht wissen können, daß diese nur neutestamentliches Griechisch verstanden. Es häe ihnen ohnehin nichts genützt, weil keiner von beiden diese Sprache beherrschte. Sha’ul hielt mit behandschuhten Fingern eine Fleischdose in die Höhe. Der Deckel | 33 |
war entfernt worden. Die innere Schutzhülle bestand aus thermoplastischem Kunststoff. Man konnte ihn in Wasser kochen, und er ergab eine nahrhae Suppe. »Was ist das für ein Fleisch?« fragte Sha’ul streng. »Schinken«, sagte Bronski. Sha’ul sah angewidert aus und ließ die Dose auf den Tisch fallen. »Wenigstens hast du die Wahrheit gesagt«, erwiderte er. Bronski hae sich schon gedacht, daß das Fleisch analysiert worden war. Er hae auch die Reaktion des Mannes vorausgesehen. Nachdem er die Übersetzung gehört hae, fragte Orme: »Und was soll nun das Ganze?« »Die Marsianer sind orthodoxe Juden«, antwortete Bronski.
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F
ünfzehn Minuten vor zwölf Uhr »miags« gingen fünf der Ergreifer. Sha’ul war sofort aufgebrochen, als feststand, daß die Büchse unreines Fleisch enthielt. Obwohl er den Schinken nicht unmielbar angefaßt hae, mußte er sich vielleicht einer rituellen Reinigung unterziehen. Wie bisher jeden Tag um zwölf Uhr begannen die Sirenen zu heulen. Menschen strömten aus den Gebäuden und schauten zu der brennenden Kugel empor. Nach drei Minuten ließen die Sirenen stöhnend nach. Stille. Eine weitere Minute verging, und Lautsprecher intonierten einen Gesang, in den die Menge unverzüglich einfiel. Er war kurz, vielleicht fünfzehn Zeilen. Danach zerstreuten sich die Leute, die Büroangestellten gingen nach Hause oder zu Tischen im Park, an denen sie aßen, die anderen kehrten in ihre Häuser zurück. Bronski schüelte den Kopf. »Sie sehen aus, als beteten sie die Sonne an – beziehungsweise ihr Abbild, meine ich. Aber das kann nicht sein. Kein Jude würde jemals ein Idol verehren.« »Wir werden es schon noch herausfinden«, meinte Orme. Er setzte sich an den Tisch und fing an, den von Sha’ul zurückgelassenen Schinken aufzuschneiden. »Sie beobachten dich«, sagte Bronski. »Ich glaube, sie haben den Schinken hiergelassen, um zu sehen, ob du ihn ißt.« Orme kaute energisch. »Mann, schmeckt das gut! Ich bin ganz verrückt nach Schinken, Speck, Würsten. Alles, was vom Schwein kommt, einschließlich der Füße.« »Du meinst Hufe.« »Wir sagen Schweinsfüße dazu.« Aus Bronskis Handbewegung sprach Gereiztheit. »Ich finde, du häest ihn nicht annehmen sollen. Es könnte ihre Einstellung uns gegenüber ändern.« Orme sah erstaunt aus. »Warum? Was liegt ihnen daran, was ich esse?« »Die alten Hebräer häen nicht mit einem Heiden am gleichen Tisch gegessen. Meine Eltern auch nicht.« | 35 |
Orme schaufelte ein weiteres großes Stück in sich hinein. »So wie zur Zeit meiner Großeltern, als Weiße nicht mit Schwarzen essen wollten?« »Nein, das ist etwas ganz anderes. Nichtjuden aßen rituell unreine Speisen, verbotene Speisen. Um nicht selbst unrein zu werden, lehnten die Juden es ab, mit Nichtjuden gemeinsam zu essen. Die bloße Nähe häe sie schon unrein machen können.« »Aber sie sahen die Nichtjuden als unter ihnen stehend an, stimmt’s? Die Nichtjuden waren nicht Goes auserwähltes Volk.« »Theoretisch nicht. Alle Menschen war vor Go gleich. Aber ich nehme an, daß die Hebräer es in der Praxis nicht verhindern konnten, sich eine Haltung moralischer Überlegenheit anzugewöhnen.« Eine Folge kurzer Pfiffe kündigte an, daß das Miagessen gebracht worden war. Bronski holte aus einer Nische die beiden Tables, stellte eins auf den Tisch und trug das andere zu einem Stuhl. Orme grinste ihn an. »Du sitzt nicht mehr mit mir am Tisch?« »Ich habe beim Essen neben dir gesessen, seitdem wir abgeflogen sind«, erwiderte Bronski. »Sogar, wenn du Schweinefleisch gegessen hast. Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Richard. Vielleicht kommt es dir lächerlich vor, aber diesen Leuten ist die Sache äußerst ernst. Ich gehe kein Risiko ein, mich hier ... äh ... anstecken zu lassen. Einer von uns muß über eine gewisse Glaubwürdigkeit verfügen – ich meine, daß man ihn mit einigem Respekt betrachtet. Vielleicht möchten sie mit dir nicht verhandeln, deshalb ...« »Vergiß bloß nicht, daß ich der Kapitän bin«, sagte Orme. »Für mich bist du das auch. Bei ihnen bin ich mir nicht ganz sicher. Bisher bist du nur ein Gefangener, der sie mit seinen Eßgewohnheiten beleidigt.« »Ja doch! Aber du hast sie auch beleidigt oder jedenfalls erschreckt, weil du kein Anhänger von Iesous ho Christos bist. Von Jesus Christus. Wie bringst du ihr Judentum mit ihren Aussagen über Jesus unter einen Hut?« »Gar nicht. Ich weiß nicht, was hier los ist.« | 36 |
Orme aß das Brot (es gab keine Buer), Bohnen, Erbsen und einen Apfel. Bronski verzehrte sein Hammelfleisch, grünen Salat, Brot und einen Apfel. Nach einem Schluck Wein schmatzte Bronski mit den Lippen. »Sehr gut.« Der Kapitän grinste wieder. »Vielleicht können wir ein Monopol auf Marswein bekommen. Damit könnten wir auf der Erde ordentlich absahnen.« Er stand auf und ging in einen inneren Raum. Kurz nachdem das Geräusch der Wasserspülung an Bronskis Ohr drang, erschien Orme wieder. »Ich habe sie genau beobachtet, aber noch nie gesehen, daß sie etwas gesagt oder getan häen, damit die Tür aufging.« »Es muß ein Monitor dasein«, sagte der Franzose. »Was würdest du tun, wenn du herauskämst?« »Abhauen wie ein geölter Blitz.« »Das wäre idiotisch. Du kämst höchstens ein paar Schrie weit.« »Kann sein. Aber ich habe in der Schule gelernt, daß man sich immer wieder bemühen muß. Würdest du nicht mitkommen?« »Nur, wenn du es mir befehlen würdest«, erklärte Bronski. »Und ich würde protestieren. Außerdem scheinen mir die Leute keine finsteren Absichten zu hegen.« »Jedenfalls kennst du sie nicht. Aber solange wir hier eingesperrt sind, ist es unsere Pflicht, einen Ausbruch zu versuchen.« Bronski machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sie müssen uns in Quarantäne stecken. Das würden wir auch tun, wenn sie auf der Erde landeten.« »Ja, aber du hast gehört, wie Hfathon sagte, wir seien gesund. Also warum lassen sie uns nicht raus?« »Wir können die Sprache nicht lernen, wenn wir uns benehmen wie Touristen.« »Das ist die beste Methode«, sagte Orme. »Selbst mit den Leuten reden. Überhaupt haben sie mit dem Sprachunterricht für uns ja noch gar nicht angefangen.« Zehn Minuten später gab er zu, daß er sich wenigstens in seiner | 37 |
Vorstellung über die Absichten der Marsianer geirrt hae. Sofort nachdem er eingetreten war und sich überzeugt hae, daß der Behälter mit dem Schinken beseitigt worden war, nahm Hfathon Platz. In den Händen hielt er eine Kiste mit vielen verschiedenen Gegenständen. Er nahm eine Gabel mit drei sehr langen Zinken, hielt sie hoch und sagte langsam und deutlich: »Shneshdit.« Bronski, dem Sprachgelehrten, gelang es nach nur zwei Versuchen, das Wort auszusprechen. Orme mußte viermal ansetzen und schae es erst, als Bronski ihm erklärte, daß man das d so aussprach, daß die Zungenspitze den Gaumenrand berührte, und das t so, daß die Zungenspitze oben an der Mundhöhle lag. Freilich wußten sie immer noch nicht, ob Hfathon nun gesagt hae: »Gabel« oder »eine Gabel« oder »die Gabel« oder aber »das ist eine Gabel«. Bronski bat Sha’ul, es auf griechisch zu erklären. Es war etwas schwierig, weil, soweit ihm bekannt war, das KoineGriechisch kein Wort für »Gabel« hae. Dieses Instrument war im ersten nachchristlichen Jahrhundert noch nicht erfunden gewesen. Ya’aqob protestierte. Bronski sollte seine Frage an ihn richten und nicht an Sha’ul. Er, Ya’aqob, war der oberste menschliche Inquisitor und darum derjenige, der den Unterricht fortzuführen hae. Bronski lächelte und sagte auf englisch: »Kapitän, was immer die Marsianer sonst auch sein mögen, sie sind eifersüchtig auf ihre Autorität. Sie haben die gute alte Hackordnung des Homo sapiens.« »Man kann den Terraner von der Erde wegnehmen, aber nicht die Erde von einem Terraner«, sagte Orme. Ya’aqob fragte Bronski, was er gesagt habe. Bronski erwiderte, er habe lediglich für Orme übersetzt. Ya’aqob erklärte, das glaube er nicht. Sie lächelten, aber in ihren Worten lag nichts Erheiterndes. Bronski zuckte die Achseln. Hfathon sagte etwas auf griechisch. Es klang leicht verärgert. Wenn diese Unterbrechungen nicht auörten, würde der Unterricht erheblich hinter dem Plan zurückbleiben. Von jetzt an konnte | 38 |
Bronski ihn fragen, wenn er die griechische Übersetzung irgendeines Wortes wissen wollte. Er beherrsche diese Sprache so flüssig wie jeder andere in der Gruppe. Ya’aqob sagte: »Wenn es so ist, könnten wir anderen genausogut an die Universität zurückgehen. Aber wir haben hier einen Ausschuß und keine militärische Einheit. Auch wenn du der Vorsitzende bist, hat jeder das Recht, seine Meinung zu äußern, wenn es ihm so gefällt.« »Oder ihr«, sagte Zhkeesh, die Frau. Ya’aqob griente. Bronski übersetzte Orme den Wortwechsel. »Das sind Akademiker, kein Zweifel.« »Also was ist es jetzt – ›eine Gabel‹ oder was sonst?« fragte Orme ungeduldig. »Shneshdit heißt einfach ›Gabel‹. Es ist im Griechischen ein Lehnwort, wird dort aber etwas anders ausgesprochen.« »Erzähl mir nicht, wie es griechisch ausgesprochen wird«, entgegnete Orme. »Ich will lediglich Krsh lernen. Jedenfalls vorläufig.« Danach ging die Lektion ziemlich flo weiter, obwohl Bronski zweimal zu fragen versuchte, wann er und Orme aus ihrer Unterkun herausgelassen werden würden. Hfathon antwortete, sie würden es rechtzeitig erfahren. Beide Marsastronauten verfügten über ein vorzügliches Gedächtnis. In drei Stunden haen sie die Namen von zwanzig Gegenständen begriffen und auch die Ausdrücke für Teile des menschlichen und des Krsh-Körpers gelernt. Auch ein paar kurze Sätze haen sie sich angeeignet. Von den vier Gabeln auf dem Tisch war die ihnen am nächsten liegende shnesh-am-dit. Eine etwas weiter entfernt liegende Gabel hieß shnesh-aim-dit. Eine drie, noch weiter weg liegende war shnesh-tu-dit. Zweit Gabeln neben ihnen waren shnesh-am-gr-dit. Und so weiter. Orme hae Schwierigkeiten, »gr« ohne dazwischen liegenden Vokal auszusprechen, vor allem, weil das r mit der Zungenspitze nahe dem Gaumen hervorgebracht wurde. Völlig versagte er auch | 39 |
beim Produzieren zweier tief in der Kehle liegender Konsonanten, die sich für ihn anhörten wie zerreißendes Segeltuch. Bronski meinte: »Es gibt ganz ähnliche Laute im Arabischen. Du wirst sie schon noch herausbringen.« »Wenn ich nicht vorher an Halsentzündung sterbe. Jedenfalls kann ich keinen Unterschied zwischen ihnen feststellen.« »Dein Ohr wird sich daran gewöhnen.« Die Sitzung endete. Orme blieb schwitzend und müde zurück. Sein einziger Trost war, daß auch Bronski erschöp aussah. Ihre Lehrer verließen sie vor dem Abendessen, kehrten aber eine Stunde, nachdem die beiden gegessen haen, zurück. Orme stellte den Fernseher ab, in dem eine Art Theaterstück lief. Es wirkte auf ihn wie die Marsversion einer Schnulze, aber natürlich konnte er nicht sicher sein. Immerhin hae er im Verlauf des Stücks vier Sätze erkannt, die er gerade gelernt hae. Seine Versuche, sie laut wiederzugeben, waren allerdings gescheitert. »Sag ihnen, ich hae genug Berlitz-Stunden«, erklärte er. Aber ihnen stand eine andere Art von anstrengender Sitzung bevor. Sie wurde ausschließlich in griechischer Sprache geführt, außer wenn Bronski Orme etwas übersetzte. Man überschüete sie mit Fragen über die Geschichte der Erde seit etwa 50 n. Chr. Gelegentlich versagte Bronskis Griechisch; ein Wort fehlte ihm oder ein Satz. Seit jener Zeit gab es so viele neue Dinge, waren so viele soziale und psychologische Begriffe entstanden. Manchmal konnte er etwas erklären, indem er ein Bild oder eine grafische Darstellung auf den elektronischen Bildschirm malte, den Sha’ul mitgebracht hae. Häufig geschah es, daß Hfathon ihn mit den Worten unterbrach: »Lassen wir dieses Spezialthema zunächst beiseite. Es ist zu kompliziert und verwirrt uns nur. Schildere uns nur die Hauptlinien der Erdgeschichte.« Aber wenn Bronski das versuchte, mußte er ins Detail gehen. »Du hast uns jetzt bis zu dem Zeitpunkt gebracht, den ihr das 11. Jahrhundert nennt. Das entspricht, wenn ich dich richtig verstehe, dem Jahr 4961 der hebräischen Zeitrechnung. Wir wollen versuchen, am Ende unserer morgigen Sitzung bis zur Gegenwart zu kommen. Dann müssen wir wieder zurückgehen und von vorn | 40 |
anfangen, damit du uns die Dinge erläutern kannst, die man nur dann richtig verstehen kann, wenn man Einzelheiten kennt.« Als der Franzose ihm diese Worte übersetzt hae, ergänzte Orme: »Sag ihm, auch wir platzen vor Neugier, was sie betri. Frag ihn, ob man uns nicht sagen kann, wie und warum sie auf den Mars gekommen sind. Und falls nicht – warum nicht?« Hfathon sagte: »Wir haben unsere Gründe für diese Methode des Vorgehens. Ihr müßt Geduld mit uns haben. Schließlich seid ihr ungeladen gekommen und könnt nicht erwarten, wie Ehrengäste behandelt zu werden. Aber wir sind verpflichtet, den Fremden in unserem Land zu lieben wie uns selbst, denn auch wir waren einst Fremde in Ägypten. Aber um eure Herzen zu erleichtern, wollen wir euch sagen, daß wir keine bösen Absichten hegen. Alles, was geschieht, dient zum Besten. Schalom, meine Gäste.« Bronski konterte: »Aber ich habe euch gesagt, daß unsere Schiffskameraden nicht viel länger als drei Wochen auf einer Umlauahn bleiben können. Danach müssen sie zurück zur Erde. Diese Gefangenscha ist unerträglich – jedenfalls aus unserer Sicht. Könnt ...?« Er unterbrach sich. Die sechs waren hinausgegangen, und die durchsichtige Wand gli hinter ihnen hinab. Orme goß den letzten Wein aus einer Flasche, die Sha’ul ihm gegeben hae. »Verdammt! Ich bin so frustriert, daß ich Nägel beißen könnte. Oder einen Marsianer! Was glaubst du, was sie vorhaben, Avram?« Bronski zuckte die Schultern. Sein mageres Adlergesicht war starr und voller Zweifel. »Ich weiß nicht. Wir können nichts weiter tun, als in ihrem Tempo mitzumachen.« »Eins will ich dir sagen. Ich halte diese ganzen Fragen über unsere Geschichte für Humbug. Sie behaupten, seit dem Jahr 50 n. Chr. nichts mehr über uns zu wissen. Aber sie haben doch nicht die ganze Zeit den Kopf in den Sand gesteckt – jedenfalls ist das unwahrscheinlich. Sieh dir doch an, wie hochentwickelt ihre Technologie ist. Was hat sie davon abgehalten, ein neues Raumschiff zu bauen und zur Erde zu fliegen? Oder wenn sie das aus irgend| 41 |
einem Grund nicht getan haben, obwohl ich nicht wüßte, wieso, könnten sie sta dessen doch die ganzen Jahre Radiosignale empfangen haben. Es wäre doch nur logisch. Müßten sie dann nicht eine Menge mehr von uns wissen, als sie zugeben?« »Wahrscheinlich schon«, erwiderte Bronski. »Aber vielleicht haben sie einen Grund, nicht mitzuhören.« »Würden Leute von der Erde unter vergleichbaren Umständen absichtlich unwissend bleiben?« »Ich weiß nicht. Immerhin stammt die Häle der Marsbewohner von Erdenmenschen ab.« Orme war eine Weile still, ging auf und ab und schwang mit den Armen. Er liebte und brauchte harte körperliche Betätigung. Eingesperrt fühlte er sich wie ein Tiger im Käfig. Liegestütze und Kniebeugen waren kein Ausgleich. Er brauchte körperliche Anstrengungen, die ihm zugleich Spaß machten: Tennis, Baseball, Schwimmen. Dagegen schien der asketische Bronski durchaus imstande zu sein, tagelang herumzusitzen oder dazuliegen, ohne sich zu langweilen, wenn er nur etwas hae, das er studieren konnte. »So wie ich es verstehe«, sagte Orme plötzlich, »sind sie – wenn sie nicht lügen – deshalb so an dem interessiert, was nach dem Jahr 50 n. Chr. passiert ist, weil sie wissen, was sich bis zu diesem Jahr ereignet hat. Das würde bedeuten, daß sie die Erde damals verlassen haben und seither nicht mehr dort waren. Oder vielleicht waren sie doch da und haben uns von einem Schiff aus beobachtet, aber sie kennen weder den Sinn noch die Einzelheiten dessen, was sie gesehen haben. Und das können sie nur von uns bekommen. Und um uns vorzutäuschen, daß ihnen die Dinge auch im großen und ganzen nicht bekannt sind, lassen sie sich von uns erst einmal alles in großen Zügen darstellen. Dann können sie uns dazu bringen, daß wir ihnen auch alle Einzelheiten erzählen.« »Es ist offensichtlich, daß die Menschen hier von Leuten abstammen, die die Krsh im ersten Jahrhundert nach Christus aufgelesen haben«, antwortete Bronski. »Was darüber hinausgeht, sind Vermutungen von uns. Aber wenn dir das Spekulieren Spaß macht, dann nur zu.« | 42 |
Orme erwiderte nichts. Nach einigen Minuten stellte Bronski den Holographenfernseher an. Das Programm schien eine Nachrichtensendung zu sein. Es interessierte Orme, weil es Bilder von anderen Orten als der Höhle, in der sie gefangen waren, zeigte. Er sah zwei Veranstaltungen im Freien, eine Art Volksfest und eine Tierschau. Flüchtige Aufnahmen der Höhlen verrieten, daß sich nicht nur die Eingänge unterschieden, sondern auch die Beleuchtung von vielen kleinen Globen kam, die von der Decke herunterhingen. Eine andere Szene spielte in einem großen Tunnel, der offenbar zwei Höhlen miteinander verband. Ein Mann war von einem Pferd getötet worden. Obwohl er die Worte des Ansagers nicht verstehen konnte, erkannte er ohne Schwierigkeit, was geschehen war. »Ein Bild ist zehntausend Worte wert«, murmelte er. »Was?« sagte Bronski. Orme wollte gerade seine Worte wiederholen, als er sich fast sofort unterbrach. »He! Das sind ja wir!« Da waren sie, beim Verhör durch die sechs Wissenschaler. Die Bilder wurden abrupt abgeschaltet. Der Ansager, ein leicht rotgesichtiger, fleischiger alter Krsh, sagte etwas. Dann wurde ein anderes Bild eingeblendet. Die beiden Männer sprangen vom Stuhl. Sie sahen Madeleine Danton und Nadir Shirazi, die aus einem Fahrzeug vom gleichen Typ wie dem stiegen, das sie von dem Außentunnel in ihr Gefängnis gebracht hae. Sie trugen ihre Helme, die Gesichter waren nicht zu erkennen. Aber sie mußten es sein. Orme stöhnte und sagte: »Haben sie sie also erwischt! Wie nur?«
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rme und Bronski haen erwartet, daß man ihre Kameraden zu ihnen ins Quartier bringen würde. Aber bei näherer Überlegung wurde ihnen klar, daß Shirazi und Danton in Quarantäne kommen und folglich anderweitig untergebracht werden würden. Als ihre Befrager am Morgen eintrafen, sagte ihnen Bronski, daß er die Gefangennahme im Fernsehen gesehen häe. »Natürlich«, meinte Hfathon. Sha’ul öffnete eine Kiste und begann, neue Gegenstände herauszunehmen. Bronski lief rot an, und Orme knurrte. Hfathon fragte: »Was fehlt euch?« »Offenbar habt ihr vor, einfach den Unterricht fortzusetzen und unsere Neugier in keiner Weise zu befriedigen«, erklärte ihm Bronski. »Habt ihr denn kein Mitgefühl, kein Mitleid? Seid ihr keine Menschen? Ihr müßt doch wissen, daß es für uns unerträglich ist, nicht zu wissen, was mit unseren Schiffskameraden passiert ist. Geht es ihnen gut? Wie seid ihr an sie herangekommen? Was habt ihr mit ihnen vor?« Hfathons langes, hageres Gesicht blieb unbeweglich. »Nein – ich bin kein Mensch, wenn man es genau nimmt. Aber ich weiß, was ihr meint. Ja, ich begreife eure Gefühle. Wäre ich in eurer Lage, würde ich auch vor Ungeduld platzen. Aber unserem Ausschuß wurde vom Rat befohlen, euch nichts zu sagen. Ich weiß nicht, wieso; anscheinend handelt es sich um eine Sicherheitsmaßnahme. Der Rat wird uns schon noch darüber informieren, warum diese Einschränkungen verfügt worden sind – wenn es ihm beliebt.« »Um Goes willen«, rief Bronski, »kannst du uns überhaupt nichts sagen?« »Man hat uns aufgetragen, euch so schnell wie möglich unsere Sprache zu lehren. Anscheinend ist der Rat überzeugt, daß der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist. Laßt uns also fortfahren.« Nachdem Bronski ihm diese Worte übersetzt hae, biß Orme sich auf die Unterlippe und sagte: »Avram, erzähl diesen Hyänen, | 44 |
daß wir nicht mit ihnen zusammenarbeiten werden, ehe sie uns nicht erklären, was hier vorgeht. Bis dahin: kein Wort.« Bronski sprach Griechisch. Die sechs blickten ernstha, aber nur Hfathon antwortete. »Wir haben Miel, euch zur Mitarbeit zu zwingen, aber wir sind zu human, sie anzuwenden. Also gut. Eure Kameraden sind unverletzt und bei guter Gesundheit. Sie haben ein Quartier, das eurem ganz ähnlich ist und nicht weit von diesem entfernt liegt. Die Frau spricht keine uns bekannte Sprache, aber der Mann kann etwas Hebräisch. Es ist nicht ganz die Sprache, die wir in unseren Liturgien verwenden, aber die Verwandtscha genügt für eine begrenzte Verständigung. Wir haben ihm von euch erzählt.« »Frag ihn, wie man die beiden aus der Aries geholt hat«, sagte Orme. Bronski berichtete, Hfathon habe gesagt, die Landefähre sei von Krsh-Wissenschalern untersucht worden. Nachdem sie herausgefunden haen, wie sie funktionierte, waren zwei von ihnen damit zum Schiff aufgestiegen. Man hae sie eingelassen. Als die zwei Erdbewohner sich geweigert haen mitzukommen, waren sie betäubt worden. Orme schüelte den Kopf. »Kannst du dir die Bestürzung auf der Erde vorstellen, als dieses Bild dort ankam?« Bronski redete mit Hfathon. »Habt ihr daran gedacht, daß man diese Ergreifung als feindlichen Akt ansehen könnte? Versucht ihr, Krieg anzufangen?« Ya’aqob gab zur Antwort: »Es besteht keine Notwendigkeit für einen Krieg. Was wir getan haben, war zu eurem Vorteil. Zu gegebener Zeit werden wir alles erklären, und zwar so, daß eure Leute zufrieden sein werden. Jetzt wollen wir aber unseren Unterricht fortsetzen.« Das Tempo der Lektion ließ zum Nachdenken über andere Dinge wenig Zeit. Trotzdem konnte Orme nicht umhin, ab und zu an die Reaktion der gesamten Erdbevölkerung zu denken. Was würden wohl die Regierungen der Nordamerikanischen Konföderation zu der gewaltsamen Ergreifung ihrer Staatsbürger sagen? Was war mit den anderen Nationen, die der IASA ange| 45 |
hörten und sich an den Kosten dieser Expedition beteiligt haen? Einmal fuhr Ya’aqob ihn an, er solle sich besser konzentrieren. Orme starrte ihn wütend an, entschied dann aber, daß es besser sei, seine Bezwinger nicht gegen sich aufzubringen. Danach lächelte er häufig, obwohl es ihn einige Anstrengung kostete, und brachte sogar einige der Marsianer zum Lachen, als er absichtlich einen Versprecher in Krsh machte. Vor allem Sha’ul schien sich zu amüsieren. Orme wählte ihn für sich als denjenigen aus, den man pflegen mußte und von dem man später vielleicht Nutzen haben würde. Der dunkelblonde Mann schien offener und mitfühlender zu sein als die anderen. Könnte man ihn dazu überreden, mehr zu sagen als er eigentlich sollte, könnte er vielleicht sogar der Schlüssel zur Flucht sein. Obwohl es unmöglich schien, zur Landefähre zurückzugelangen, hae Orme diesen Gedanken nicht aufgegeben. Häe er sich jemals leicht entmutigen lassen, wäre er schließlich nie der TopAstronaut beim NAC geworden. Während der Abendbrotpause stellte er das Fernsehen an. Mien in einer Sendung über medizinische Forschung verblaßten die Bilder. Dann erschien Hfathon, der an einem Schreibtisch saß. Die Wand hinter ihm war mit leuchtenden, abstrakten Mustern verziert. Eine Minute lang sprach er in Griechisch. Lächelnd meinte Bronski: »Sie wollen uns mit Madeleine und Nadir reden lassen.« Hfathon verschwand, und sie erblickten ihre Kollegen. Sie saßen auf Stühlen und starrten sie an. »He, ihr beiden!« rief Orme. »Ist mit euch alles in Ordnung?« In den folgenden Sekunden schwatzten alle vier zugleich. Orme unterbrach sie: »Wir wissen nicht, wie lange wir miteinander sprechen dürfen, darum sollten wir erst mal das Wichtige erledigen. Sagt mir, waren die Transmier in Funktion, als sie euch gefaßt haben?« Danton und Shirazi begannen gleichzeitig zu reden. Orme pfiff und sagte: »Du zuerst, Nadir. Du bist ranghöher als Madeleine.« »Die IASA hat alles gesehen, von dem Augenblick an, als die Marsianer in den Tunnel hinaustraten«, berichtete Nadir. »Jedenfalls glaube ich das. Ich weiß, daß ich meinerseits sie bis zu der | 46 |
Sekunde empfangen habe, als wir die beiden Männer hereinließen. Möglicherweise wurde der Transmier dann abgeschaltet. « »Als ihr saht, wie sie in die Landefähre stiegen – wieso habt ihr euch dann entschlossen, sie hereinzulassen? Warum habt ihr die Aries nicht aus der Umlauahn genommen und seid zur Erde zurückgeflogen?« »Das war eine schwere Entscheidung. Reisten wir ab, ließen wir euch beide im Stich. Wir haen keine Ahnung, wie man euch behandelte, gut oder schlecht. Aber wir glaubten, wenn eure Ergreifer freundlich zu euch wären, häen sie euch sicher erlaubt, uns davon in Kenntnis zu setzen. Wir nahmen Funkverbindung mit den beiden Marsianern auf, als sie in die Landefähre eindrangen, und sie antworteten – in einer völlig fremden Sprache. Wir haen natürlich dem Zentrum gemeldet, was sich hier abspielte, und selbst unter Berücksichtigung der Übertragungszeit hae Carter mehr als genug Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Er hat gesagt, man könnte nur auf eine Art feststellen, ob die Leute in der Landefähre feindselig waren oder nicht – wenn sie nämlich an Bord der Aries kämen. Und wenn sie freundlich wären und wir uns ablehnend verhielten, könnten sie das wiederum als feindlichen Akt unsererseits auslegen. Außerdem häe das tatsächlich bedeutet, euch sitzenzulassen. Andererseits wollte er uns nicht den Befehl zum Bleiben geben, um uns dadurch nicht möglicherweise auch noch in Gefahr zu bringen. Schließlich überließ er uns dann selber die Entscheidung.« »Um sich dadurch«, ergänzt Madeleine, »vor der Verantwortung zu drücken. Ein vorzüglicher Verwaltungsmensch, aber im wesentlichen eben doch Politiker.« Shirazi lächelte und meinte: »Wenn er uns den Abzug befohlen häe, weiß ich nicht, was ich getan häe. Ich wollte nicht weg. Erstens häen wir euch damit nun wirklich in der Tinte steckenlassen. Bis man ein neues Schiff häe schicken können, wären drei Jahre vergangen. Aber noch viel stärker war meine Neugier. Ich konnte es einfach nicht aushalten, nicht zu erfahren, was mit euch passiert war und was hier überhaupt vorging.« | 47 |
»Und ich«, erklärte Danton, »häe energisch protestiert, wenn du beschlossen häest abzufahren.« »Hat Carter irgend etwas von einer Hilfsexpedition gesagt?« fragte Orme. »Ja. Er hat geschworen, ein zweites Schiff würde uns folgen, so schnell es irgend ginge. Aber natürlich kann er das gar nicht bestimmen. Wenn kein Geld da ist ...« »Glaubst du auch nur einen Moment, daß die Öffentlichkeit durch diese Geschichte nicht völlig ausgeflippt ist? Die beschaffen das Geld schon, verlaß dich darauf.« Orme machte eine Pause und fuhr dann fort: »Na gut. Nun zu unseren Erlebnissen.« Als er geendet hae, herrschte kurze Zeit Schweigen. Dann fragte Shirazi: »Also sind die Leute Juden? Auch die Krsh?« »Ja«, sagte Bronski. »Und trotzdem haben sie von Iesous ho Christos, das heißt von Jesus Christus, gesprochen. Und sie behaupten, jedenfalls sinngemäß, Christen zu sein?« Der Irano-Schoe war blaß. »Kein Wunder«, dachte Orme. »Er ist Moslem. Vielleicht ist er nicht orthodox genug für seine religiöseren Landsleute, aber er ist von Eltern erzogen worden, die eifrig im Glauben waren. Und er ist davon überzeugt, daß Mohammed der letzte und der größte der Propheten war, auch wenn er nicht alles im Koran, der Heiligen Schri der Moslems, noch wortwörtlich nimmt.« Aber wenn es ein Schock für Shirazi war, dann ebenso für Orme, den einzigen praktizierenden Christen der vier. Und Bronski, obwohl kein orthodoxer Jude, war ebenfalls beunruhigt. Wie stand es mit Danton, aufgewachsen in einer frommen katholischen Familie, heute allerdings Atheistin? Sie saß einigermaßen entspannt da, die Beine lang ausgestreckt, die Hände ruhig im Schoß. Sie trug ein kastanienbraunes Gewand, das die Ergreifer ihr gegeben haen. Es zeigte ihre ein wenig dicken Fesseln und die breiten Füße in den Sandalen. Das Gewand verbarg die zu breiten Hüen und die sehr schmale Taille, konnte aber die prachtvoll großen Brüste nicht verstecken. Sie hae ein recht auffallendes | 48 |
Gesicht, breit, mit hohen Wangenknochen, einem breiten Mund und großen Augen. Ihre Nase war ein wenig zu lang und zu gebogen, betonte aber ihre Züge, ansta von ihnen abzulenken. Sie hae zwei Ehemänner gehabt. Angeblich war es teuflisch schwer, in ihrem Labor mit ihr auszukommen. Aber ihre brillanten Fähigkeiten auf ihrem Gebiet, der Biochemie, und ihr psychologisches Gesamtprofil haen sie zu einem der vier Topkandidaten für die Mannscha gemacht. Ganz bestimmt hae sie beim Training und auf dem langen Flug voll und ganz mit den anderen zusammengearbeitet. Sie hae keine Persönlichkeitskonflikte und war verträglich genug, wenn man das Thema Religion aus dem Spiel ließ. Dann nämlich verschloß sie sich wie eine Auster, obwohl man sehen konnte, wie gern sie diskutiert häe. Unter anderen Umständen häe sie es sicher auch getan. Vielleicht sah sie deshalb so ... gelassen ... aus, weil es hier endlich den Beweis dafür geben würde, daß der Gründer der Religion, in die sie hineingeboren war, auch nur ein Mann war. Ganz offensichtlich waren die Menschen hier oben von den Krsh hergebracht worden, die sie etwa um 50 n. Chr. irgendwie aufgelesen haen. Ebenso offenkundig haen einige von ihnen Jesus noch gekannt. Jedenfalls kam es Orme so vor. Vielleicht besaßen diese Leute Aufzeichnungen, Niederschrien von Augenzeugen, vielleicht sogar Filme mit Interviews und Bestätigungen von Männern und Frauen, die eng mit Jesus bekannt gewesen waren. Sein Herz klope heig, und er zierte leicht. Plötzlich erschien Hfathons Bild, kleiner als die beiden andern und über ihnen schwebend, im Apparat. Er sagte etwas zu Bronski und verschwand. Der Franzose erklärte: »Wir werden jetzt abgeschaltet. Gute Nacht, ihr beiden. Vielleicht können wir bald wieder direkt miteinander reden.« Die Scheibe wurde leer. Die beiden schwiegen einen Augenblick. »Ich möchte gern wissen«, sagte Bronski langsam, »warum die Marsianer die Wiedergabe von tierischem und menschlichem Leben in diesen Apparaten gestaen, in ihrer Kunst aber nicht | 49 |
zulassen? Theoretisch müßte das Gesetz Moses auch für Fernsehbilder gelten. Vielleicht sind sie aber doch nicht so orthodox, wie ich geglaubt habe.« Orme war leicht gereizt. »Guter Go, Avram! Warum zerbrichst du dir den Kopf über so etwas Unwichtiges? Wir haben echte Probleme und schwerwiegende Fragen, über die wir nachdenken sollten – wer kümmert sich dabei um solche Lappalien!« Bronski zuckte die Achseln. »Worüber sollten wir sonst nachdenken? Wir können nichts anderes tun, als uns nach unseren ... äh ... Gastgebern zu richten. Außerdem interessieren mich solche Sachen.« »Tatsächlich? Mich auch – wenn ich die Zeit dazu habe.« Bronski drehte sich um und lächelte schief. Orme brach in Gelächter aus. »Ich verstehe schon. Was haben wir schon übrig außer Zeit, hm? Na gut – laß mich auch mal eine Frage stellen. Sehen orthodoxe Juden fern?« »In Israel gibt es eine ultraorthodoxe Gruppe, die Neturai Karta, die sich weigern, Fernsehgeräte zu besitzen oder zu benutzen, übrigens gilt deshalb auch für Radios. Sie erheben Anspruch darauf, die einzigen auf der Welt noch existierenden wirklich echten Juden zu sein. Sogar die Anerkennung des Staates Israel lehnen sie ab. Aber sie sind fast ausgestorben, und die Orthodoxen betrachten sie mit Horror – oder vielleicht ist es Mitleid. Ja, die Orthodoxen sehen fern, aber am Sabbat schalten sie es ab. Dagegen könnten die Marsjuden das Gegenstück zur Neturai Karta sein. Ich würde es allerdings bezweifeln.« Orme meinte: »Diese Leute leben hier jetzt schon 2000 Jahre. Sicher haben sie sich in dieser Zeit auch verändert? Selbst eure superorthodoxen Juden steinigen keine beim Ehebruch ertappten Frauen mehr oder drücken einem Mann das Auge aus, weil er einen anderen geblendet hat?« »Ich würde es kaum erwarten. Die Gesetze Moses wurden streng angewendet, als die Hebräer noch in vieler Hinsicht Nomadenstämme waren, wilde Beduinen. Die Gesetze waren von barbarischer Härte, aber notwendig, um Ordnung zu halten und | 50 |
den Glauben zu bewahren. So wild sie uns auch erscheinen, sie waren humaner als die Gesetze ihrer Zeitgenossen. Nachdem die Juden sich in Palästina angesiedelt haen und zivilisiert geworden waren, milderten sie die Buchstaben des Gesetzes nach und nach durch den Geist der Humanität und nach den Gegebenheiten ihrer Zeit und Umwelt. Ein Jahrhundert vor Jesu Geburt war das Steinigen als Strafe für Ehebruch schon nicht mehr üblich.« »Aber Johannes hat gesagt, als Jesus im Tempel war, häen einige Rechtsgelehrte und Pharisäer eine Frau zu ihm gebracht, die man beim Ehebruch erwischt hae. Sie erklärten, Mose habe das Gesetz erlassen, daß solche Frauen gesteinigt werden müßten, und fragten ihn nach seiner Meinung. Sie wollten ihn in eine Falle locken und anklagen. Und du sagst jetzt, die Geschichte sei nicht wahr?« »Vielleicht ist die Geschichte schon wahr«, entgegnete Bronski. »Aber sie kann sich nicht in Jerusalem abgespielt haben. Wahrscheinlich ereignete sich der Vorfall in Galiläa, dessen Bevölkerung – jedenfalls in mancher Hinsicht – in religiösen Dingen konservativer war und wahrscheinlich Ehebrecher wirklich noch steinigte, wenn es möglich war, ohne daß die Behörden es merkten. Gesetz war aber, daß Ehebrecherinnen nach Jerusalem gebracht und dort vor Gericht gestellt werden mußten. Sie brauchten sich lediglich der Bierwasserprobe zu unterziehen, und wenn sie dabei versagten, wurden sie bestra – aber nicht mit Steinigen oder überhaupt irgendeiner Form der Todesstrafe. Wahrscheinlich schied man sie von ihren Männern und schickte sie mit Schimpf und Schande zu ihrer Familie zurück. Jedenfalls haben die Marsjuden zweitausend Jahre lang weder den Einfluß noch überhaupt eine Einmischung Fremder erlebt. Darum kann man auch nicht erwarten, daß ihre Entwicklung so verlaufen ist wie bei ihrem Gegenstück auf der Erde.« »Kein fremder Einfluß?« fragte Orme. »Willst du mich auf den Arm nehmen, Mann? Und was ist mit den Krsh? Ich würde sagen, die sind so fremd wie nur irgend etwas. Sie sind ja nicht einmal menschlich!« »Im physiologischen Sinn nicht. Aber sonst, nach unserer recht | 51 |
kurzen Bekanntscha zu urteilen, würde ich sagen, sie sind durchaus menschlich.« Er setzte sich im Stuhl auf und beugte sich Orme zu, die Hände ineinander verschränkt. »Aber das ist es, was mich an der Sache verwirrt: Sie waren schon vor zweitausend Jahren technisch wesentlich weiter als die Menschen, die sie da auflasen. Sie müssen sogar weiter fortgeschrien gewesen sein, als wir es heute sind. Also waren sie die überlegene Rasse. Den Menschen müssen die Krsh wie Göer erschienen sein, wenigstens aber wie Engel. Der Kulturschock muß für die Menschen gewaltig gewesen sein. Wahrscheinlich waren sie erst einmal völlig betäubt. Die Wirkung kann auch nur einseitig gewesen sein – von den Krsh zu den Menschen. Was häen die Terraner den Krsh bieten können? Wir wissen jetzt, daß die Sprache der Krsh sowohl für sie als auch für die Menschen Umgangssprache ist. Griechisch und Aramäisch sind erhalten geblieben, aber nur unter Gelehrten, und Hebräisch ist vornehmlich die Sprache der Liturgie. Das kann man auch erwarten.« Er lehnte sich zurück, die Hände immer noch fest geschlossen. »Wir würden auch erwarten, daß die Religion des niedriger stehenden Volkes – verzieh nicht das Gesicht, ich gebrauche ›niedriger stehend‹ in dem Sinn, daß die Menschen technisch unterlegen waren und ihr Wissen eher lückenha erschien –, daß also diese niedriger Stehenden von den Überlegenen in ungeheurem Umfang beeinflußt worden wären. So wie alle primitiven Kulturen entweder untergingen oder durch den Zusammenprall mit den technologisch höher entwickelten westlichen Völkern in ungeheuer starkem Maß beeinflußt und verändert wurden. Allerdings ist das auch nicht so ganz richtig, denn die Zivilisationen des Ostens brachten weniger entwickelte Gesellschaen dazu, vor ihnen zu fliehen, zu sterben oder sich zu ändern. Sie waren genauso skrupellos, ausbeuterisch und verständnislos wie die des Westens ...« »Ich will jetzt keinen Vortrag«, sagte Orme. »Entschuldigung. Was ich sagen wollte, war: Die Kultur der | 52 |
Menschen häe eigentlich völlig assimiliert werden müssen. Aber es war nicht so. Warum? Lag es daran, daß die Krsh es mit orthodoxen Juden zu tun haen, die besonders widerstandsfähig und ungemein stur sind, wenn es um ihre Religion geht? Es war ein historischer Zufall, daß die Krsh gerade Menschen aus dieser Gruppe aufnahmen. Natürlich will ich damit nicht sagen, daß die Juden die einzige Gruppe sind, die sich hartnäckig an ihre Religion geklammert hat. Nimm zum Beispiel die Perser. Sie ...« »Du fängst schon wieder an, Avram. Sieh mal, ich finde das alles hochinteressant, aber gerade jetzt würde ich mich lieber auf wesentliche Dinge beschränken.« »Also gut. Andererseits, selbst wenn nun die Juden sich geweigert haben sollten, zur Religion der Krsh (wenn sie eine haen) zu konvertieren – warum sollten die Krsh, die nicht einmal Homo sapiens sind und den Juden in der Wissenscha und Go weiß wo noch um Jahrtausende voraus waren, warum sollten diese Leute das Judentum annehmen?« »Christentum.« »Das wäre noch zu beweisen. Diese Leute sind Juden, die glauben, daß Jesus der Messias ist. Wenn du also vom Christentum sprichst, jedenfalls in diesem Sinn, dann stimmt das nicht. Jedenfalls glaube ich, daß es nicht so ist. Zudem bleibt es unfaßbar, daß sich die Krsh zu einem Glauben bekehrt haben sollten, der aus ihrer Sicht nichts Besseres gewesen sein kann als irgendeine Steinzeitreligion für uns. Im Judentum der damaligen Zeit gibt es übrigens tatsächlich viele Elemente, die unmielbar auf die Steinzeit zurückgehen. Der Gebrauch von Feuersteinmessern bei der Beschneidung, obwohl man schon Eisen hae, die Speisetabus, die denen anderer uralter Kulturen, noch vor Einführung der Schri, entsprechen, ihre ...« Orme schüelte den Kopf. »Du häest Rabbiner werden sollen.« »Mein Vater war einer.« »Und worauf führst du nun die Bekehrung der Krsh zurück?« »Das werden wir noch erfahren.« Aus dem Fernseher kam eine Stimme. Orme drehte sich um | 53 |
und erkannte Hfathons Bild auf der Mascheibe. Er sprach zu Avram, der verblü aussah. Der Franzose antwortete schnell – sein Griechisch wurde immer besser –, und Hfathon, ernst blikkend, verschwand. Avram sagte: »Er hat mich gefragt, ob Madeleine und Nadir verheiratet seien. Ich habe gesagt, daß Nadir eine Frau hat, aber sie, Madeleine, unverheiratet ist. Darüber schien er bestürzt zu sein, aber er wollte mir den Grund nicht sagen.« »Was kann ihnen daran liegen?« Bronski verzog den Mund nach der rechten Seite. »Ich könnte mir einiges vorstellen, aber lieber nicht.« Er schüelte den Kopf. »Nein, es ist undenkbar.«
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6
A
m nächsten Morgen erkundigte sich Orme sofort, nachdem ihre Lehrer hereingekommen waren: »Warum habt ihr uns gefragt, ob Shirazi und Danton verheiratet sind?« Die sechs sahen verblü aus. Der Gefangene hae griechisch gesprochen. Hfathon antwortete in derselben Sprache, und Orme verstand kein Wort. Er hae sich den Satz von Bronski beibringen lassen, aber für alles weitere mußte er sich auf den Franzosen verlassen. Trotzdem hae er ihnen die Frage selbst entgegenschleudern wollen, um ihnen seine Besorgnis einzuprägen. Der Krsh und Bronski tauschten ein paar Sätze aus. Dann erklärte letzterer auf englisch: »Sie haen angenommen, Danton und Shirazi seien verheiratet, weil sie sie ohne weitere Begleitung im Schiff vorfanden. Aber die erste Nacht in ihrer neuen Unterkun hat man beobachtet, daß sie in getrennten Zimmern schliefen. Sie sind davon ausgegangen, daß die Frau menstruierte und deshalb unrein war. Aber in der nächsten Nacht haben die beiden zusammen geschlafen, und es gab keinen Nachweis dafür, daß die Frau geblutet hae. Man hat dann Frauen geschickt, um sie zu untersuchen, und sie fanden heraus, daß sie in der Nacht Geschlechtsverkehr haen. Sie wurde mit Hilfe des Mannes befragt, aber sein Hebräisch ist so fehlerha, daß er sie anscheinend nicht verstand. Oder vielleicht, sagt Hfathon, hat er absichtlich vorgegeben, sie nicht zu verstehen. Jedenfalls hat uns Hfathon ja dann gestern abend angerufen und über die beiden befragt. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Wenn ich allerdings geahnt häe, worum es ihnen ging, häe ich gelogen. Obwohl das im Endeffekt auch nichts genützt häe. Sie häen es herausgefunden.« Orme häe gelacht, wenn ihm Bronskis Gesichtsausdruck nicht gezeigt häe, daß die Situation ernst war. »Madeleine und Nadir? Aber es hat doch nie Anzeichen dafür gegeben, daß sie sexuell aneinander interessiert waren! Ich glaube das einfach nicht.« Bronski machte eine ungeduldige Bewegung. | 55 |
»Bist du denn nach so langer Zeit nicht scharf? Und wenn du eingesperrt und verängstigt und einsam wärst, würdest du nicht was mit einer Frau anfangen? Oder mit einem Mann, wenn du eine Frau wärst?« »Vielleicht«, antwortete Orme. »Aber ich war meiner Frau – meiner Exfrau, meine ich – nie untreu, und glaub mir, Chancen hae ich genug. Trotzdem, wenn diese zwangsweise Enthaltsamkeit lange genug andauerte, nehme ich an ...« »Eben. Und du bist ein frommer Christ. Außerdem hat das, was du oder ich tun würden, mit der Sache nichts zu tun.« »Ja, aber Madeleine! Sie sieht ja ganz gut aus, ist aber immer so kühl und distanziert!« »Je länger der Vulkan schweigt, desto mehr Druck sammelt sich an. Der springende Punkt ist, daß das Gesetz Moses gegen Ehebruch hier immer noch gilt.« »Dann frag ihn danach!« Bronski sprach, hörte Hfathon zu und sagte dann: »Wenn Nadir wahrha bereut, also seine Tat bedauert und verspricht, diese Sünde nicht wieder zu begehen, und wenn ihm seine eigene Frau verzeiht, wird man ihn nicht bestrafen.« »Und welche Strafe käme in Frage?« »Eine Verurteilung zu sechs Monaten Zwangsarbeit: Höhlen aus dem Fels graben. Und vielleicht eine öffentliche Anprangerung. « »Und Madeleine?« »Das gleiche. Im Augenblick beraten die Richter über den Fall. Es besteht die Chance, daß keiner von beiden verurteilt wird, weil es keine Präzedenzfälle gibt. Sie haen es bisher noch mit Verbrechern zu tun, die Goyim waren.« »Sag ihnen, sie bildeten sich wohl Go weiß was ein! Ihre Gesetze gelten für uns nicht. Nach unseren Gesetzen haben die beiden kein Verbrechen begangen.« Nach einer Minute erläuterte Bronski weiter: »Er hat gesagt, daß sie niemanden, auch keinen Fremden, erlauben können, ihre Gesetze zu brechen. Wenn jemand hierherkommt, unterliegt er der Rechtsprechung dieses Landes. Er sagte auch, daß man Nadir | 56 |
in ein anderes Gefängnis verlegt hat, damit die beiden nicht in Versuchung geraten, nochmals zu sündigen. Übrigens ist Nadir bis heute abend unrein. Jeder Mann, der einen Samenerguß hae, ist unrein bis zum Abend.« Orme hob die Hände. »Was denn nun noch? Also sag ihm ...« »Nein«, unterbrach ihn Bronski. »Ich sage ihm gar nichts. Wir sind völlig in ihrer Gewalt und wollen sie nicht gegen uns auringen. « Hfathon knurrte etwas. Bronski übersetzte: »Wir sollen mit dem Unterricht anfangen und den Unsinn lassen.« »Hat er Unsinn gesagt oder du?« »Bleib kühl, Richard. Wir gewinnen nichts, wenn du jetzt den Kopf verlierst.« »Ich habe ihn nicht verloren. Aber er ist verflucht heiß.« Als der Unterricht durch die Miagspause unterbrochen wurde, bat Orme Bronski, Hfathon zu fragen, wann der letzte Ehebruchsfall vor Gericht verhandelt worden sei. »Er sagt, es war vor zwei Jahren.« Orme grunzte. »Und du sagst, diese Leute wären menschlich?« Hfathon sprach zu Bronski, und die sechs verließen nacheinander den Raum. »Heute finden keine Lektionen mehr sta. Sie haben anderes zu tun, und abends fängt der Sabbat an. Morgen kommen sie auch nicht zu uns.« Die »Dämmerung« kam, ohne daß die Leute aus den Häusern zur Arbeit strömten. Bis auf ein paar Tiere von den Bauernhöfen, die man von fern erkennen konnte, ließ sich kein lebendes Wesen blicken. »Sie bleiben alle zu Hause, um zu meditieren und zu beten«, sagte Bronski. »Später gehen sie dann aber in die Synagogen. Die Synagogen müssen immer in einer bestimmten Entfernung von den Häusern liegen. Am Sabbat ist es verboten, sich mehr als eine festgesetzte Strecke von seinem Hause zu entfernen. Und man | 57 |
muß laufen und darf weder reiten noch fahren.« Orme drehte den Apparat an, aber es kamen keine Bilder. »Fernsehen dürfen sie anscheinend auch nicht. Schau an. Ob sie uns wohl trotzdem überwachen?« »Ich weiß nicht. Wenn sie wirklich streng gläubig sind, dann nicht.« »Weißt du«, sagte Orme langsam, »wenn am Sabbat alles geschlossen ist, dann wäre das genau der Tag, an dem man es versuchen sollte.« »Zuerst mußt du herausfinden, wie man die Wand nach oben bewegt.« »Ich glaube, es macht jemand von außen, oder es geht automatisch. Ist dir schon aufgefallen, daß Ya’aqob immer, kurz bevor die Wand hochgeht, die Hand in sein Gewand steckt? Ich denke, er hat einen Aktivator in einer Innentasche.« »Und wie willst du ihm den wegnehmen?« Orme antwortete nicht. Er stellte sich vor, wie er dem Mann die Taschen ausräumte. Wenn er ihn gegen etwas austauschen könnte, das sich anfühlte wie der echte Aktivator, würde Ya’aqob das Gerät nicht vermissen ... aber der Tausch müßte unmielbar nachdem Ya’aqob den Knopf gedrückt hae vorgenommen werden. Das wäre äußerst knapp. Man müßte seine Aufmerksamkeit und auch die der anderen ablenken. Wenn Bronski mitmachen und ihnen eine Szene vorspielen würde, war es machbar. Wenn man aber das Gerät auch benutzen mußte, um die Wand wieder nach unten zu bewegen, würde Ya’aqob sofort entdecken, daß man ihm etwas Falsches untergejubelt hae. Und wahrscheinlich funktionierte es so. Es sei denn, die Wand senkte sich nach einer gewissen Zeit von allein wieder, ohne nochmalige Funksteuerung. Nein – das wäre zuviel erho. Obwohl die Entführer in der Regel den Raum sofort verließen, wenn die Wand weit genug oben war, war es doch auch schon einmal vorgekommen, daß sie noch mindestens neunzig Sekunden dagestanden und geredet haen. Wenn er allerdings herausfinden könnte, daß die anderen fünf – oder wenigstens einer davon – ebenfalls Aktivatoren bei sich trugen, könnte er zwei Arappen herstellen. Aber | 58 |
das bedeutete, daß er zwei Taschen leeren mußte. Es erforderte außerdem, die Wand genau in dem Augenblick herunterkommen zu lassen, in dem Ya’aqob auf den Knopf drückte oder was immer er sonst tat. Wie sollte er die Nachahmungen herstellen? Er hae kein Material, um etwas zu schnitzen, und kein Messer. Außerdem überwachte sie der Fernseher, so daß er, wenn er die Geräte stahl, auch den Monitoraugen entgehen mußte – und das Schnitzen selbst müßte im Schlafzimmer stafinden, wo man sie, wie er vermutete, nicht überwachte. Und selbst wenn dieser komplizierte Plan gelang, wußte er immer noch nicht, wohin er fliehen sollte oder was er tun konnte, wenn er wieder frei war. Er hae keinerlei Ahnung, wo die Tunnel lagen, die zur Landefähre führten. Außerdem würden die Eingänge bewacht werden. Die Kerle hier waren nicht dumm. Wie war das mit dem Sabbat? Wären die Posten nicht an diesem Tag auch zu Hause? Vielleicht. Aber selbst wenn ... es würde automatische Alarmanlagen geben. Wenn er sich die Schwierigkeiten richtig überlegte, mußte er zugeben, daß Bronski wahrscheinlich recht hae. Eine Flucht erschien unmöglich. Falls man sie allerdings je aus ihrem Gefängnis herausließ, und sei es unter Bewachung, würden sie eine wesentlich bessere Chance haben. Bronski, der wortlos, mit langsam rollenden Augen dagesessen hae, brach plötzlich sein Schweigen. »Ich hab’s!« »Was?« »Ich habe nachgerechnet. Heute ist in Israel auch Sabbat. Es könnte Zufall sein, aber ich glaube nicht daran.« Bronski sah so zufrieden aus wie vermutlich Mose, als ihm seine Spione die Nachricht brachten, Palästina, das Land von Milch und Honig, sei nun reif zum Erobern. »Interessant«, meinte Orme, »aber ich wünschte, du würdest deinen überragenden Verstand darauf konzentrieren, wie wir hier herauskommen.« »Das wäre eine reizvolle, intellektuelle Übung, aber in der Praxis undurchführbar. Und außerdem, Richard, wenn du die Wahrheit wissen willst, ich glaube, ich würde nicht weggehen, | 59 |
selbst wenn ich könnte. Es gibt hier so viel zu lernen.« »Und wenn ich es dir befehlen würde?« Bronski zuckte die Schultern. »Du bist der Chef.« Er erhob sich langsam und schlenderte zur Fensterwand hinüber. »Da kommen sie zur Sonnenzeremonie.« Nach dem Ritual oder dem öffentlichen Gebet oder was es sonst war, teilte sich die Masse in kleinere Gruppen auf. Sie verschwanden in großen Gebäuden, die auf den Höhen niedriger Steinhügel standen und zu denen zwölf breite, in den Stein gehauene Stufen emporführten. »Synagogen«, erklärte Bronski. »Die Architektur ist interessant. Sie haben zwölf Kanten, und die inneren Teile des Dachs schieben sich zusammen oder gleiten nach innen, so daß das Innere dem Sonnenlicht geöffnet ist. Die Ecken des Dachs sind nach oben gebogen. Die Schnitzereien an den Enden sehen aus wie symbolische Hände. Es sind keine echten Abbildungen, aber sie erinnern an gefaltete Hände, betende Hände.« Den Rest des Tages über blieb Bronski wie ein Posten an der Wand stationiert, nur daß er sich einen Stuhl zum Sitzen herbeigezogen hae. Er gab mit lauter Stimme Kommentare zu allem. Gelegentlich ging auch Orme an die Mauer, wenn ihn Bronski auf etwas Interessantes aufmerksam machte, wie etwa die Kinder, die nach dem Miagessen draußen spielten. Aber seine Gedanken beschäigten sich hauptsächlich mit Fluchtplänen. Wenn sie nachts eines der Landfahrzeuge in ihre Gewalt bringen konnten, könnten sie schnellstens dorthin fahren, wo der Tunneleingang lag, wo immer das auch sein mochte. Es standen überall Fahrzeuge herum. Soweit er feststellen konnte, wenn die sechs abfuhren, gab es keine Schlüssel. Offenbar haen die Marsianer keine Angst vor Diebstählen. Das Abendessen war besonders üppig und abwechslungsreich. Sie verzehrten mit bestem Appetit Roastbeef, gebratenen Fisch, Bohnen, Salat, Zwiebeln, Soße und Obstsalate. Was sie erstaunte, waren die gerösteten Maiskolben, das Indianerkorn, noch in den Schalen. | 60 |
»Mais gehörte ganz sicher nicht zur Ernährung der Völker der antiken Welt«, sagte Bronski. »Die Krsh müssen Exemplare eßbarer Pflanzen von der ganzen Erde mitgenommen haben, bevor sie weiterfuhren.« »Weizen- und Gerstenfelder kann man von hier aus sehen«, meinte Orme, »aber keinen Mais. Wahrscheinlich bauen sie ihn in den anderen Höhlen an.« »Oder auf Feldern, die außerhalb unserer Sichtweite liegen.« Der nächste Tag war Sonntag oder Yom Shamash, wie er hier hieß. Bronski hae angenommen, daß er ein normaler Arbeitstag sein würde. Aber wie am Shabbat ging niemand zur Arbeit, außer den Bauern, und auch sie füerten nur Vieh und Geflügel. Es fanden drei Synagogenbesuche sta, aber zwischen den Goesdiensten spielten draußen die Kinder. Den größten Unterschied gab es bei der Dauer des Miagsgoesdienstes im Freien. Die Länge der vorherigen Zeremonien hae Bronski mit zehn Minuten ermielt. Die heutige dauerte vierundzwanzig Minuten. Die Häle davon schwieg die Menge, während ein Kantor sang. Die Gefangenen konnten alles genau hören und sehen. Das Fernsehgerät war an. Bronski vertrat die Theorie, daß die Kranken und sehr Alten auf diese Art teilnehmen konnten. Das gesamte Ritual spielte sich auf hebräisch ab. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie beten die Sonne an«, erklärte er. »Ich muß die Erläuterung dafür abwarten. Immerhin hae die Essener-Sekte eine Hymne an die Sonne. Vielleicht ist das so etwas Ähnliches.« Orme wunderte sich, daß Hfathon ihnen nichts davon gesagt hae, daß es an diesem Tag auch keinen Unterricht geben würde. Aber eine halbe Stunde, nachdem die Menge sich zertreut hae, fuhr Hfathon mit Zhkeesh vor. Beim Eintreten begrüßte er sie mit dem üblichen »Shalom aleikum« und sagte dann: »Meine Kollegen sind zu Hause bei ihren Familien. Unsere Kinder sind schon erwachsen und darum bei ihren eigenen Kindern. Aber heute findet bei uns ein großer Familientag sta, so daß wir früh gehen müssen, um das Oberhaupt der Familie zu besuchen, meinen Urgroßvater.« | 61 |
»Du bist wahrlich gesegnet, noch einen Urgroßvater zu besitzen«, erwiderte Bronski. »Ich hoffe, daß er sich bei guter Gesundheit und klarem Verstand befindet.« »Nicht schlecht für einen Zweihundertvierzigjährigen«, entgegnete Hfathon. Bronski hob die Brauen, ebenso Orme, als ihm das Gespräch übersetzt wurde. »Eure Medizin ist der unsrigen weit überlegen«, meinte Bronski. »Du sprichst doch von Erdenjahren, nicht von Marsjahren, nicht wahr?« »Natürlich.« Als Orme das hörte, bemerkte er: »Wenn es Marsjahre wären, läge sein Alter bei etwa 408 Jahren. Warte, wenn unsere Leute zu Hause das hören!« Bronski dachte kurz über die Weiterungen dieser Erklärung nach. Ihn schauderte. »Darf ich fragen, wie alt du bist, Hfathon?« »Einhundertneunundsechzig.« Orme pfiff durch die Zähne und sagte: »Er sieht nicht wesentlich älter aus als fünfzig. Natürlich ist er Krsh, deshalb kann man es bei ihm schwer sagen. Für mich sehen sie sowieso alle gleich aus.« Bronski fragte: »Sha’ul sieht aus wie ein Dreißigjähriger. Wie alt ist er?« »Zweiundachtzig.« »Diese Langlebigkeit«, erkundigte sich Bronski, »ist aber nicht natürlich, oder? Ich meine, verwendet ihr Chemikalien oder irgendwelche wissenschalichen Präparate, um den Alterungsprozeß zu verlangsamen?« Hfathon entgegnete: »Tun eure Leute das nicht?« Bronski überlegte, ob er lügen sollte. Aber früher oder später würden die Marsianer ja doch die Wahrheit herausfinden. »Nein. Es ist uns gelungen, bei Laborversuchstieren das Altern bis zu einem gewissen Grad zu verringern, aber in keiner Weise so, wie ihr es erreicht habt. Für Menschen haben wir bisher nichts.« Hfathon und Zhkeesh hielten die Lu an. »Ihr sterbt immer | 62 |
noch wie die Tiere? Wie vor zweitausend Jahren?« Bronski sagte nichts. Den beiden Krsh mußte klar sein, wie diese Neuigkeit auf die Erdbevölkerung wirken mußte. Wenn sie es erst wußten, würden sie nach der Behandlung mit dem Elixier oder was es sonst war schreien. Natürlich nur, wenn die Regierungen auf der Erde die Nachricht überhaupt freigaben. Obwohl die Weltgeburtenrate seit den sechziger Jahren gesunken war, stellte die Übervölkerung noch immer ein furchtbares Problem dar. Hfathon sagte: »Wir wollen mit dem Unterricht anfangen. Aber bie nehmt zuerst das hier ein.« Aus der Innentasche seines Gewandes nahm er zwei große grüne Pillen. »Nehmt sie, sie schaden euch nicht. Es sind Gedächtnisverstärker. Ihr könnt damit schneller lernen und behaltet hundert Prozent des neuerworbenen Wissens. Wir verdoppeln das Tempo unserer Fortschrie.« Bronski hielt die viereckige Pille zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. »Warum haben wir sie dann nicht gleich zu Anfang bekommen?« »Ihr habt sie erhalten: in winzigen Dosen im Essen, Wein, Wasser. Jeden Tag ist die Menge erhöht worden. Ihr seid nun auch immun gegen die Nebenwirkungen, die teilweise unangenehm sind.« Bronski erklärte Orme den Zweck der Pillen. Orme sagte: »Je eher wir die Sprache sprechen, desto schneller kommen wir aus diesem Gefängnis raus.« Sie nahmen die Pillen mit einem Schluck Wasser. Einen Augenblick stand Orme da und zwinkerte mit den Augen. Dann sagte er: »Ich fühle gar nichts.« »Was haest du erwartet? Blitze? Ein plötzliches Ansteigen deines Intelligenzquotienten?« »Ich fühle mich kein bißchen schlauer.« Aber die Pillen funktionierten tatsächlich. Sie schaen sechzig neue Wortbegriffe, vergaßen keinen davon und begriffen wesentlich mehr vom Satzbau der Krsh-Sprache, als ihnen in den früheren | 63 |
Lektionen möglich gewesen war. Zudem hae Orme weit weniger Schwierigkeiten mit der Wiedergabe der Laute. »Helfen diese Pillen – wie nennt ihr sie ...?« »Gbredut.« »... Gbredut ... helfen sie auch jemandem mit einem niedrigen Intelligenzgrad?« »Nicht soviel wie einer Person von höherer Intelligenz.« »Mann«, sagte Orme, »auf der Erde werden die Dinge einen ungeheuren Wert haben. Wenn ich ein Monopol darauf kriegen könnte ...« »Kannst du bloß ans Reichwerden denken?« fragte Bronski. »Ich denke an jede Menge anderer Sachen. Aber das ist doch kein Grund dafür, so eine Gelegenheit zu verpassen.« Hfathon rief sie scharf an die Arbeit zurück, aber Orme konnte nicht auören, sich auszumalen, wieviel Geld er verdienen könnte, wenn er eine Lizenz für die Erde bekäme. Natürlich würde diese Pille – er würde sie Wogglebug-Pille nennen, nach dem gigantischen Insekt aus dem Lande Oz, das seinen Schülern Schnell-Lern-Pillen gab, damit sie die ganze Zeit spielen konnten – von ungeheurem Nutzen sein. Er würde auch keinen hohen Preis dafür verlangen – das würde er nicht nötig haben. Aber wenn nun die Marsianer der Erde die Gbredut einfach schenkten? Würden sie der Erde überhaupt welche geben? Schließlich verlieh ihr Besitz den Marsianern einen ganz schönen Vorteil. Aber wenn sie so silich hochstehend waren, wie sie behaupteten, würden sie dieses Geschenk genausowenig zurückhalten, wie sie anderen das Rezept der Langlebigkeit verweigern würden. Oder doch nicht? Nach der Lektion, von der Hfathon sagte, sie sei gut gewesen, und nachdem die beiden Krsh gegangen waren, sagte Orme zu Bronski: »Glaubst du, wir würden es schaffen, die Pillen morgen nicht zu schlucken? Wir könnten sie in der hohlen Hand verstekken. Das einzige Problem ist, ihnen etwas vorzumachen, so daß sie glauben, wir häen alles gelernt. Natürlich anstrengend, aber wir könnten damit durchkommen.« Bronski starrte ihn an. »Du möchtest welche davon aueben, | 64 |
damit man sie analysieren kann, wenn wir wieder auf der Erde sind?« »So war es gedacht.« »Damit du ein Plutokrat werden kannst?« »Was hast du dagegen? Irgend jemand tut es ja doch. Warum nicht ich? Ich schade doch keinem damit.« »Warum biest du sie nicht einfach um ein Muster oder um die Formel? Vielleicht geben sie sie dir.« »Und wenn sie es ablehnen? Dann wissen sie, was ich vorhabe, und beobachten mich wie die Katze das Mauseloch.« An diesem Abend erlaubte man ihnen erneut, mit Shirazi und Danton zu sprechen. Sie konnten sehen, daß die beiden in getrennten Gefängnissen saßen. Keiner der beiden schien verlegen, weil man sie zusammen im Be erwischt hae, obwohl ihnen die Konsequenzen weniger gefielen. Nadir sagte: »Wenn ich meinen Befrager, einen gewissen Iyyobh, richtig verstanden habe, können wir wählen. Wir können in eine Arbeitskompanie gehen, und wenn wir wieder frei sind, müssen wir ein Jahr ein Abzeichen tragen, das uns als Ehebrecher kennzeichnet. Immerhin eine bessere Behandlung als in den alten Zeiten bei Mose. Man häe uns zu Tode gesteinigt. Die zweite Möglichkeit ist Heirat.« »Du hast doch schon eine Frau!« »Ja, aber ich habe ihnen wahrheitsgemäß gesagt, daß ich Moslem bin. Ich mußte erst erklären, was das ist, aber sie betrachten mich als eine Art ketzerischen Juden. Jedenfalls habe ich ihnen gesagt, daß ein Moslem mehr als eine Frau haben kann. Das sei das Gesetz meines Landes. Iyyobh sagte, hierzulande sei die Einehe Sie, obwohl anfangs, als die Bevölkerung gering an Zahl war, auch Polygamie erlaubt war. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, können die Krsh das Geschlecht eines ungeborenen Kindes programmieren, also produzieren sie immer einen Jungen auf drei Mädchen. Auf diese Art konnte ein Mann drei Frauen haben und sehr viel mehr Nachkommen zeugen.« »Wie ist es mit Klonen?« »Ich weiß nicht. Ich könnte mir vorstellen, daß ihre Religion | 65 |
es ihnen verbietet. Oder die Gene würden zu ähnlich ausfallen. Jedenfalls haben sie entschieden, daß Madeleine und ich entweder heiraten oder die Strafe auf uns nehmen können.« »Ich bräuchte keine Sekunde, um mich zu entschließen«, meinte Orme. »Wir auch nicht«, erklärte Madeleine. »Wir sind nicht ineinander verliebt, aber wir verstehen uns prima im Be und brauchen nicht unter sexuellen Spannungsgefühlen zu leiden. Das einzige ist, daß mein Verhütungsmiel in sechs Monaten abgebaut sein wird. Nadir hat sich nichts einsetzen lassen, wäre also fruchtbar. Wir werden nach fünf Monaten mit konventionellem Sex auören müssen. Ich gehe kein Schwangerschasrisiko ein.« Sie sprach völlig sachlich. Orme sagte: »Ihr habt es gut. Bronski und ich haben nur uns, und er wird jeden Tag hübscher.« Bronski schaute entrüstet drein. Orme lachte. Madeleine erwiderte: »Für einen frommen Baptisten redest du ganz schön leichtfertig daher.« »Reden schadet keinem etwas. Im Gegenteil, es hil, Spannungen abzubauen. Außerdem ist das eine Sache zwischen meinem Go und mir. Wie läu euer Unterricht?« Nadir sagte, sie machten so gute Fortschrie, wie man erwarten könnte. Orme erklärte ihnen, sie könnten davon ausgehen, es werde in ein paar Tagen schneller vorangehen, und erzählte ihnen von den Wogglebug-Pillen. Das interessierte sie zwar, aber die Neuigkeit von der erheblich verlängerten Lebensdauer der Marsianer verblüe sie wesentlich mehr. »Wenn sie sich weigern, der Erde die Formel zu überlassen, gibt es Krieg«, meinte der Iraner. »Wahrscheinlich«, antwortete Orme. »Aber ich bin nicht sicher, daß sie der Erde etwas davon sagen. Es ist ihnen vor allem deshalb so wichtig, daß wir ihre Sprache lernen, weil sie wissen möchten, was für Leute wir überhaupt sind. Ich könnte mir denken, daß sie beschließen, sich von uns völlig fernzuhalten, wenn sie es erst wissen. Stimmt das nicht, Avram?« »Wir haben noch nicht genügend Informationen, von denen | 66 |
wir ausgehen können.« Eine weitere Woche verging. Nadir kehrte in Madeleines Quartier zurück, nachdem sie verheiratet waren. Die Eheschließung war nicht von einem Rabbi vorgenommen worden, weil man die beiden als Heiden betrachtete. Aber Nadir erklärte ihnen, daß er nach den Gesetzen seines Landes weiter nichts zu tun brauchte, als öffentlich zu verkünden, er und diese Frau seien vor Goes Antlitz verheiratet. Das stimmte zwar nicht, aber da die Marsianer es nicht besser wußten, konnten sie auch nichts dagegen einwenden. Alles freute sich über die Heirat, obwohl Nadir sorgenvoll daran dachte, was wohl passieren würde, wenn er nach Scholand zurückkam. »Bigamie ist dort gesetzlich verboten.« »Reg dich darüber nicht auf«, meinte Bronski. »Nach schottischem Recht bist du ja nicht verheiratet. Aber du gibst den Rechtsanwälten dort wunderschönes Diskussionsmaterial. Ist eine Eheschließung auf dem Mars gültig?« »Außerdem«, fügte Orme hinzu, »kommst du ja vielleicht gar nicht mehr zur Erde zurück.« Dieser Gedanke wirkte ernüchternd. Am dreißigsten Tag ihrer Gefangenscha wurden die vier ohne vorherige Ankündigung freigelassen. Hfathon informierte sie lächelnd, daß diese Freiheit Grenzen hae. »Ihr bekommt Quartiere in der Nähe des Regierungsgebäudes. Euer Haus liegt dem der Shirazis gegenüber. Aber wenn ihr, zumindest in der ersten Zeit, irgendwo hingeht, werden euch zwei Führer begleiten.« Orme sagte: »Wir danken euch. Können wir uns denn jetzt mit der Erde in Verbindung setzen?« »Zu gegebener Zeit. Wir halten es für das beste, daß ihr erst mehr über uns erfahrt, um dann eurer Regierung wirklich genau Bericht erstaen zu können. Wir wünschen keine Mißverständnisse. Auch wir brauchen mehr Informationen über eure Bevölkerung. Ich sollte wohl besser sagen, eure Völker, weil ihr so extrem verschiedenartig seid. Außerdem sollt ihr anfangen, uns ein paar von euren wichtigen Sprachen zu lehren.« | 67 |
»Aber es ist wichtig, die Erde begreifen zu lassen, daß wir hier nicht Gefangene sind.« »Aber ihr seid Gefangene.« Und dann erklärte Hfathon etwas Seltsames: »Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir es mit den Söhnen der Finsternis zu tun haben.« Orme sträubten sich die Haare. »Was meinst du damit?« »Du wirst es erfahren. Jetzt wollen wir aber zu eurer neuen Wohnung fahren.« Unterwegs im Auto fragte Orme: »Bei einem unserer ersten Gespräche hast du etwas über Jesus Christus gesagt. Willst du uns mehr von ihm erzählen? Betet ihr ihn an, oder seid ihr wirklich Juden?« »Wir sind Juden, die wissen, daß Jesus der Messias ist. Nein, wir beten ihn nicht an. Er ist ein Mensch, und es gibt nur Einen, den wir anbeten. Aber Jesus ist bei uns.« Hfathon zeigte auf den leuchtenden Globus, der unter der Höhlendecke hing und sagte: »Er wohnt dort.«
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fathon kam manchmal nach dem Frühstück, allein, um mit ihnen zu sprechen. Gelegentlich tauchten auch Sha’ul oder Ya’aqob allein auf. Ab und zu begleiteten sie Vertreter verschiedener Abteilungen der Regierung oder Professoren der Naturwissenscha, der Künste oder der klassischen Philologie. Bevor sie eintraten, baten sie um Erlaubnis dazu, offenbar, um den Terranern die Illusion zu geben, das Haus sei wirklich ihr eigenes Heim, und es ihnen dadurch leichter zu machen. An den Nachmiagen konnten die Erdmenschen innerhalb gewisser Grenzen Spazierengehen oder -fahren. Manchmal fuhren Hfathon oder Sha’ul sie durch die Tunnel zu anderen Höhlen. Es gab vierzig davon, und man war gerade dabei, eine weitere aus dem Felsen zu hauen, um Raum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen. Einmal gingen die vier dorthin und sahen sich die Schachtarbeiten an. Gigantische Laser lösten den harten Granit und Basalt mit der Leichtigkeit einer Acetylenlampe, die Papier verbrannte. »Ihr habt natürlich die gleiche Sorte Laserwerkzeuge«, sagte Hfathon. Orme nickte. »Wenn ihr Kontakt zu euren Leuten aufnehmt, müßt ihr ihnen sagen, daß sie kein Schiff schicken dürfen, das mit diesen Laserbrennern ausgerüstet ist. Oder mit Atom- oder Neutronenbomben. Genauer gesagt, überhaupt mit Kriegsgerät jeder Art. Wir würden das als feindlichen Akt ansehen.« Hfathon lächelte, als wollte er seiner Rede den Stachel nehmen. »Wir haben an der Oberfläche ein Warnsystem und Waffen installiert. Es handelt sich um eine reine Verteidigungsmaßnahme. Allerdings kann ich euch versichern, daß sich kein bewaffnetes feindliches Schiff oder feindliche Geschosse uns auf 50000 Meilen nähern kann, ohne zerstört zu werden.« Orme fragte, wie die Marsianer denn im Weltraum ein Schiff entern wollten, um es auf Waffen zu überprüfen. Schließlich haen sie doch gar keine Raumschiffe. | 69 |
»Haen ist richtig.« Der Krsh wollte dazu nichts mehr sagen, aber Orme vermutete, daß das kapue Schiff repariert worden war. Wenn das freilich stimmte, müßte der Überwachungssatellit es auf der Erde gemeldet haben. Oder hae man das Wrack unberührt gelassen, während ein anderes Schiff – oder mehrere – unterirdisch zusammengebaut wurden? Und wieso haen die Marsianer, die doch in den letzten eintausendfünundert Jahren jederzeit beliebig Raumschiffe häen bauen können, bis jetzt gewartet? Er fragte Hfathon nicht danach, erkundigte sich aber, warum die Magnetwellenmesser auf den Erdsatelliten die vielen ungeheuren Höhlen unter der Planetenoberfläche nicht entdeckt häen. »Wir haben die Möglichkeit, falsche Werte zu übermieln«, erklärte Hfathon. Auf dem Rückweg machten sie in einem Restaurant halt. Wie immer bekamen die vier von der Erde einen Sondertisch zugewiesen. »Man fühlt sich, als sei man unrein«, sagte Orme mit leiser Stimme. »Und rituell gesehen sind wir das auch«, erwiderte Bronski. »Nur, wo ist der Unterschied? Wir bekommen das gleiche Essen wie sie, und es ist gut. Außerdem können wir auf diese Weise miteinander reden, ohne daß uns die Monitoren überwachen.« Orme erklärte: »Ich bin da nicht so sicher. Woher wissen wir, daß wir nicht abgehört werden?« Madeleine sagte: »Aber wir benutzen die englische Sprache, die sie nicht kennen.« »Sagen sie«, gab Orme zurück. »Woher wissen wir, daß das stimmt? Weil sie es sagen? Vielleicht tun sie das nur, damit wir offen miteinander reden und sie herausfinden können, ob wir etwas planen.« »Hast du herausgefunden, wo die Tunnel nach außen sind?« fragte Shirazi. »Nein, und wenn, würde es auch nichts nützen«, erwiderte Orme. »Jetzt, wo sie ihr Schiff startbereit haben, könnten sie uns bequem einholen, selbst wenn wir es schaen, an Bord der Aries | 70 |
zu kommen.« »Bist du sicher?« erkundigte sich Bronski. »Ihr Schiff muß verdammt viel schneller sein als unseres.« »Vielleicht«, sagte die Frau, »haben sie uns das bloß erzählt, damit wir alle Fluchtpläne aufgeben.« »Das würde auch keinen Unterschied bedeuten. Ihre Laser könnten uns problemlos vom Himmel herunterbrennen. Natürlich nur, wenn sie sie wirklich draußen aufgestellt haben. Vielleicht sagen sie uns darüber nicht die Wahrheit. Aber soll ich – sollen wir das Risiko auf uns nehmen, daß es doch stimmt?« Als sie in ihre »heimatliche« Höhle zurückkamen, zeigte Orme auf den Globus. »Angeblich soll ›er‹ in einem Monat von dort aus erscheinen. Glaubt ihr, sie meinen das symbolisch, oder wollen sie uns einen Bären auinden?« »Sie werden uns erzählen, was sie meinen«, antwortete Bronski, »wenn sie meinen, daß es soweit ist. Vielleicht warten sie auch, bis es tatsächlich passiert, und lassen uns dann selbst sehen.« Sie kamen an einem Marktplatz vorbei, auf dem ein paar hundert Menschen Vieh verkauen oder kauen: Schafe, Ziegen, Pferde, Enten, Fasanen, Truthähne, Papageien und viele kleine Vögel, orangefarben, schwarz oder grün gestrei, die sangen wie keine anderen Vögel, die sie je gehört haen. Sie stammten von Haustieren ab, die die Krsh von ihrem Heimatplaneten Thrrillkrwillutaut mitgebracht haen. Orme hae zu Hfathon gesagt, wie wunderschön er sie fand, und am nächsten Tag hae der Krsh ihm zwei geschenkt. Sie brauchten keinen Käfig, denn sie waren völlig zahm. Es gab auch landwirtschaliche Produkte, Kunstgegenstände und vielerlei Hausrat. Für alles bezahlte man, wenn man nicht tauschte, mit dickem Plastikgeld in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben. Die Menge war geräuschvoll, aber gutgelaunt. Alle schienen glücklich zu sein. Soweit Orme bisher gesehen hae, lebte diese Gesellscha erheblich einträchtiger miteinander und war wesentlich freier von Verbrechen und Lastern als alle Gesellschaen auf der Erde. Wenn | 71 |
Hfathons Aussagen stimmten, lagen der letzte Fall von Diebstahl zehn und der letzte Mord sechs Jahre zurück. Welches andere Einmillionenvolk konnte sich dessen rühmen? »Hört sich großartig an«, meinte Orme. »Woher weißt du soviel darüber?« »Ich habe mit unseren Lehrern und den Leuten auf der Straße gesprochen, mit Menschen und mit Krsh.« »Vielleicht nehmen sie dich nur auf den Arm. Trotzdem, vielleicht sind sie auch wirklich ehrlich. Aber du weißt ja auch, daß die Wirklichkeit dem Ideal meistens nicht entspricht und daß einem die Leute immer nur etwas vom Ideal erzählen.« »Ich habe das Gefühl«, sagte Bronski, »daß sie die Wahrheit sagen – nicht bloß, wie sie sie sehen, sondern wie sie wirklich ist. Jedenfalls gibt es hier einen sehr engen Familienzusammenhalt, der wohltuend ist. Obwohl ich glaube, daß er auch Nachteile hat, wie alles. Aber die Vorteile überwiegen die Schaenseiten bei weitem. Die Krsh haben das alte hebräische Wort für ›Veer‹ genommen und ihm die Bedeutung ›Bürger‹ gegeben. Alle sind miteinander verwandt. Ihr solltet die Stammbäume sehen, die sie seit dem Tage ihrer Landung sorgsam weitergeführt haben. Übrigens mit Gen-Plänen! Aber ich komme vom Thema ab. Es gibt hier keine Waisenhäuser. Ein verwaistes Kind wird in der Regel vom nächsten Verwandten adoptiert. Natürlich gibt es kaum Waisen, weil die meisten Leute ihre volle Lebensspanne wirklich erleben. Jedenfalls hängen die Mitglieder einer Familie und die Tanten, Onkel, Nichten und Neffen alle sehr eng zusammen und wachen übereinander, vor allem, um sicherzustellen, daß auch jeder geliebt wird.« »Vorzüglich«, meinte Orme. »Und was verstehen sie unter ›Liebe‹? Du weißt, wie wenig Bedeutung dieses Wort auf der Erde hat. Man legt es auf hunderterlei Weise aus und pervertiert es tausendfach.« Bronski zuckte mit den Achseln und erwiderte: »Es sind Menschen, und du weißt, wie Menschen sind. Aber es gibt ja auch noch den Einfluß der Krsh – wie er auch sein mag.« | 72 |
Wegen ihres einzigartigen religiös-sozialpolitischen Systems vermutete Bronski bei den Marsianern ein Beinahe-Utopia. »Seine Wurzeln, das ist ihre Religion, und Stengel und Blüten sind dasselbe. Aber es ist kein starres System. Es ist aufgeschlossen und bereit für jeden nützlichen evolutionären Wandel.« »Und wie definieren sie den Begriff ›nützlich‹?« »Warten wir’s ab. Sha’ul hat mir erzählt, man würde uns vielleicht eines Tages einladen, eine Weile in einer marsianischen Familie zu leben, damit wir die Atmosphäre ihrer Lebensweise in uns aufnehmen können.« »Dürfen wir denn am selben Tisch essen wie sie?« »Ich glaube ja. Wahrscheinlich ist es bald soweit. Wenn nicht, würden wir uns als Fremde fühlen, als Außenseiter, und so ihre Gesellscha nie richtig kennenlernen. Wir werden trotzdem keine Staatsbürger sein, weil wir uns nicht bekehrt haben. Aber ich glaube, sie erwarten – oder hoffen –, daß wir das noch tun.« »Wenn wir das täten«, erwiderte Orme, »würden wir zu Marsianern. Und zu Verrätern an der Erde!« »Die Marsianer haben ein Sprichwort: ›Der einzige Verräter ist der, der die Wahrheit verrät.‹« Bronski fuhr fort und erzählte ihnen jetzt etwas über das Regierungssystem. »Nachbarn entscheiden selbständig über Dinge, die ihren eigenen Bereich betreffen. Alle zusammen bilden eine Stadtgemeinde, die wiederum Abgeordnete in den Rat der Stadtgemeinde entsendet. Jeder Landkreis hat seinen Richter, der dem Rat vorsteht, und die Landkreise delegieren Vertreter in den Höhlenrat. Er wird von einem Richter geleitet, der zugleich die höchste Autorität jeder Höhle ist. Bei ihm endet die Verantwortung. Aber auch seine Macht ist nicht unbegrenzt. Die Richter sind nicht nur Justizbeamte, sondern zugleich auch Stahalter. Sie gleichen den Richtern aus der Zeit, in der die Hebräer noch keine Könige haen. Ihr habt das Alte Testament gelesen und wißt, was sie für eine Stellung haen. Die zentrale Regierung wird von einem Rat der Vertreter der einzelnen Höhlen geleitet, an dessen Spitze wiederum ein Richter steht. Im Augenblick ist es ein Krsh, Zhmrezhkot ben| 73 |
Rautha, der oberster Richter ist. Er ...« »Moment mal«, unterbrach Madeleine Danton. »Sind die Ratsmitglieder und Richter alle Männer?« »Ungefähr fünf Sechstel von ihnen.« Danton sah entrüstet aus. Bronski lächelte. »Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, Madeleine. Abgesehen von den obersten Regierungsbeamten ist der Anteil der Frauen in den unteren Ebenen der Regierung und in den freien Berufen sehr viel höher. Fast die Häle davon sind Frauen. Aber sie sind alle schon älter. Von den Frauen wird erwartet, daß sie in den Jahren, in denen sie Kinder bekommen können, zu Hause bleiben, also etwa vom 27. bis zum 47. Lebensjahr. Vergeßt nicht, daß die Verlängerung der Lebenszeit auch eine längere Kindheits- und Jugendperiode bedeutet. Wenn die Kinder erwachsen sind, kann eine Frau jede Tätigkeit ausüben, die sie möchte. Wenn sie gern für Kinder sorgen möchte, weil ihr das Spaß macht, kann sie Lehrerin werden oder in einer Familie als Zweitmuer leben. Diese Leute schätzen ihre Kinder sehr hoch ein. Es hat seit dreihundert Jahren keinen Fall von Kindesmißhandlung mehr gegeben, weder körperlich noch geistig.« Dantons Gesicht war ständig röter geworden. Jetzt explodierte sie. »Und was ist mit den Frauen, die nicht Muer werden wollen? Die nicht das Temperament oder die Neigung dazu haben? Was ist mit Lesbierinnen – jene eingeschlossen, die gern Muer werden möchten, aber eine Adoption oder künstliche Befruchtung vorziehen?« »Die Krsh haben die biologische Basis für lesbische Liebe in der zweiten Generation hier oben abgescha. Nach der ersten Generation gab es keine mehr.« Danton fauchte, schae es aber, sich zu beherrschen. »Aber das ist doch lächerlich! Vor allem ist es eine Verletzung von Bürgerrechten!« »Tatsächlich? Schließlich darfst du nicht vergessen, daß dies keine Erdengesellscha ist. Aber sie könnte der Erde die Lösung für das Problem der Homosexualität bringen.« | 74 |
»Unsinn! Wie steht es mit denen, deren Homosexualität aus dem Milieu der Familie stammt – wo der Vater schwach oder nicht vorhanden ist und die Muer dominiert? Was ist damit, he?« »Der Psychizist, mit dem ich gesprochen habe, sagt, daß das familiäre Milieu keine Homosexualität verursachen kann. Viele Männer auf der Erde haben schwache Väter und starke Müer, weißt du, und sind trotzdem nicht homosexuell. Er hat gesagt, daß nur solche, bei denen eine genetische Tendenz zur Homosexualität vorhanden ist, durch das »Schwacher Vater – starke Muer«-Syndrom beeinflußt werden. Wenn man aber diese Gene ändert, gibt es keine derartigen Neigungen mehr, egal, wie die familiäre Situation aussieht.« »Du redest von männlichen Homosexuellen! Und die Lesbierinnen?« »Für die gilt das gleiche. Sieh mal, Madeleine, ich verteidige hier nicht die Marsianer, obwohl ich die Ergebnisse ihrer Einstellung aufrichtig bewundere. Yehudhah ben-Yonathan, übrigens ein Krsh, hat gesagt, daß in der Tat manchmal ein Kind Ansätze einer homosexuellen Tendenz zeigt. Aber das sind dann Mutationen. Auch Diabetes wurde aus den Genen herausgenommen, und nur ganz selten gibt es noch einmal ein zuckerkrankes Kind. Die Heilbestrahlung wirkt selbst durch den meilendicken Fels über der Höhle und zerstört die unerwünschten Gene. Wenn homosexuelles Verhalten oder Diabetes festgestellt werden, behandelt man das Kind. Der Gen-Komplex wird geändert.« »Sie produzieren Roboter!« »Du meinst, man sollte wählen dürfen, ob man Diabetes, haben möchte oder nicht?« »Die Erde könnte von ihren Gen-Techniken profitieren«, sagte Orme. »Sie sind uns weit voraus.« »Möchtest du auch auf diesem Gebiet den Markt an dich bringen?« fragte Bronski. »Es schadet nie, an einer Sache zu verdienen, wenn man den Leuten dadurch hil. Aber die Marsianer müssen Familienplanung betreiben – die doch nach den Gesetzen Moses streng verboten ist.« | 75 |
»Wenn sie das nicht täten, könnten sie gar nicht so schnell Höhlen graben, wie die Bevölkerung zunimmt. Andererseits vollziehen die Frauen hier nie Abtreibungen.« »Und was ist«, warf Danton ein, »wenn eine Frau mit dem Kinderkriegen nicht auören möchte?« »Nach drei Kindern ist die Sache für sie erledigt. Aber sie kann Ersatzmuer werden und mithelfen, für die Kinder anderer Müer zu sorgen.« »Sie sind totalitär!« rief Danton. »In mancher Hinsicht ja, nehme ich an. Aber sie sind die einzige echte Theokratie im Sonnensystem – wenn sie die Wahrheit sagen.« »Du meinst, sie werden von Priestern regiert?« »Nein. Sie haben keine Priester, obwohl es jede Menge Nachkommen Aarons hier gibt. Sie haben keinen Tempel. Für sie steht der einzige Tempel in Jerusalem. Übrigens hat sich Yehudhah sehr aufgeregt, als ich ihm erzählte, daß die Römer diesen Tempel im Jahre 70 n. Chr. zerstört haben. Die Marsianer wußten das natürlich nicht. Dann hat er gesagt: ›Es wird nichts ändern. Wir werden ihn wieder auauen!‹ Und dann wurde er leicht blaß und sah aus, als habe er etwas gesagt, was er nicht sollte.« »Aha!« rief Orme. »Also haben sie doch Pläne für die Erde.« Shirazi fragte: »Aber wenn sie keine Priester haben, wie können sie dann Theokraten sein?« »Ich habe den Eindruck, daß sie von IHM regiert werden.« »IHM? Wer ist IHM?« schrie Orme. »Wer ist ER, meinst du.« Bronski zeigte mit dem Finger auf den brennenden Globus. Orme hae das Gefühl, seine Haut verdunste und seine Nerven lägen plötzlich frei in flammender Lu. »Du kannst doch nicht meinen ... Jesus?« »Nach dem, was Yehudhah gesagt hat, richtet Jesus über die besonders schwierigen Rechtsfälle und grei ab und zu auch in den Gang der Verwaltung ein. Er ist de facto, wenn auch nicht dem Namen nach, der Große Richter.« Kälte kroch Ormes Rückgrat hinauf und weiter, über seinen | 76 |
Hals die Kopaut entlang. Der Globus sah aus wie ein riesiges, feuriges Auge. Starrte es ihn an? »Vielleicht«, fuhr Bronski fort, »ist ›Theokratie‹ nicht die exakte Definition. Schließlich nennt man ihn den Menschensohn, was bedeutet, daß er nur ein menschliches Wesen ist. Man hält ihn nicht für den Sohn Goes, allenfalls im Wege der Adoption, und auch nicht für Go. Trotzdem ...« Orme sagte sich selbst, daß er emotional überreagierte. Die Marsianer versuchten offenbar, ihn hereinzulegen. Trotzdem merkte er, als er vor dem Schlafengehen auf dem Boden kniete und betete, daß er sich in die Richtung des Globus gewandt hae. Er stand schnell auf, und sein Gesicht brannte, als habe man ihn bei etwas äußerst Peinlichem, ja sogar Sündigem erwischt. Am folgenden Tag wurden er und seine Kollegen in Hfathons Büro in der Tleth’sha, der Hauptuniversität, gebracht. Dort erwarteten sie die Lehrer Ya’aqob, Zhkeesh, Sha’ul, Yirmeyah, Hmmindron und fünf andere Personen. Die Terraner nahmen Platz. Man bot ihnen Wasser oder Obstmost an, dazu Waffeln mit Streifen von Trockenfisch. Orme überlegte, wie ihnen wohl Spritzgebakkenes, Quark und Schillerlocken schmecken würden, eine Kombination, von der diese Juden noch nie gehört haen. Wenn er ein Patent darauf bekommen könnte, wäre einiges zu verdienen. Aber würden sie überhaupt jemandem ein Monopol darauf geben – und schon gar einem Nichtjuden? Und was würde ihm das Marsgeld auf der Erde nützen? Immerhin, vielleicht würde auch diese Zeit kommen. Nachdem sich Hfathon nach der Gesundheit aller erkundigt hae (als ob hier je einer krank wurde), sagte er: »Wir haben euch hierhergerufen, um euch etwas über unsere Geschichte zu erzählen. In diesem Büro gibt es audiovisuelle Hilfen, die unseren mündlichen Bericht ergänzen. Obwohl ihr in unserer Sprache gute Fortschrie gemacht habt, werde ich vielleicht Wörter oder Satzkonstruktionen verwenden, die ihr nicht kennt. In solchen Fällen fragt mich bie. Sonst bie ich um Ruhe, bis der Vortrag beendet ist.« Abgesehen von den erwarteten Fragen sprach niemand ein | 77 |
Wort, während Hfathon redete. In der ersten Viertelstunde streie er die Entwicklung des Lebens auf dem Thrrillkrwillutaut, dem Planeten der Krsh. (Orme fiel auf, daß er kein einziges Mal erwähnte, um welchen Stern er kreiste.) Das Leben dort war ganz ähnlich entstanden wie auf der Erde. Die Krsh haen sich aus einem affenähnlichen Geschöpf entwickelt. »Ähnliche Planeten produzieren ähnliche Lebensformen«, dozierte Hfathon. »Wenigstens war es bei denen so, auf die wir gestoßen sind. Obwohl ich zugeben muß, daß wir nur zwei andere gefunden haben, die so waren wie eure und unsere. Die eine Lebensform steckte noch mien in der Steinzeit. Die andere – aber darauf komme ich noch.« Vorgeschichte und Geschichte haen die verschiedenen Steinzeiten, die Zeitalter von Bronze, Eisen und Plastik-ElektronikAtom durchlaufen. Wie auf der Erde hae es unterschiedliche Rassen gegeben. Vertreter aller dieser Rassen waren auch auf dem Raumschiff gewesen, das zur Erforschung der Sternenwelt aufgebrochen war. Aber auf dem Mars hae die Vermischung der Rassen aus den Krsh ein einheitliches Volk gemacht. Orme war verzaubert, als er die Hologramme der Krsh-Zivilisation sah. Selbst damals vor zweitausend Jahren, nein, schon früher – denn wer konnte sagen, wie lange die Reise gedauert hae, ehe das Schiff auf der Erde landete –, hae dieses Volk über eine Wissenscha und Technik verfügt, denen gegenüber die irdische primitiv wirkte. Warum hae sich dann die Wissenscha der Krsh nicht noch weiterentwickelt? Sie schien keine Fortschrie mehr gemacht zu haben, seitdem sie ihre Heimat verlassen haen. In manchen Dingen war sie sogar zurückgefallen. Die meisten Marsianer benutzten als Transportmiel und zum Pflügen Pferde. Rinderund Pferdemist waren die hauptsächlichen Düngemiel. Hfathons Erzählung von Bau und Start des Raumschiffs ließ Orme seine Fragen vergessen. Das Schiff hae wahrha kolossale Ausmaße, war viel größer, als das freigelegte Stück ahnen ließ. Welche Antriebsart es auch gehabt haben mochte – Hfathon äußerte sich dazu nicht –, ungeheure Kräe mußten freigesetzt | 78 |
worden sein. Es war auch nicht etwa im Weltraum gebaut worden, sondern direkt von der Planetenoberfläche aufgestiegen. Es gab faszinierende Hologramme vom Leben an Bord des Schiffs. Allerdings ging es dort nicht sehr hektisch zu. Die Reisenden wechselten sich in der Bedienung des Schiffs und dem Tiefschlaf ab. »Sie reisten mit einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit«, erklärte Hfathon, »und es hat vierzig Jahre gedauert, bis sie das erste System erreichten.« Es gab Hologrammfotos von einer Welt, die der Erde etwa 20 000 Jahre vor Christi Geburt ähnelte. Die Wesen dort waren humanoid, haen aber spitze Ohren, Katzenaugen und Zähne, die ihre Abstammung von reinen Fleischfressern eindeutig nachwiesen. »Auf dieser Welt nahm die Evolution einen etwas anderen Weg. Das göliche Wesen führte eine primitive Katzenform zur Intelligenz. « Die zweite Reise führte zu einem Stern, der wie die Sonne der Erde und der Heimat der Krsh zum G-Typ gehörte. »Dieser Ausflug hat 55 Jahre objektive Zeit gedauert«, sagte Hfathon. Dann fanden die Krsh zwei bewohnte Planeten, nämlich den drien und vierten von denen, die den entdeckten Himmelskörper umkreisten. Auf dem vierten Planeten war erst vor kurzer Zeit ein Trommelfeuer von Vibrationsbomben niedergegangen (die Hfathon nicht näher definierte) – aber es gab Überlebende. Kleine Gruppen, die auf der Suche nach Nahrung umherstreien und den Eroberern zu entkommen versuchten. »Offenbar waren es die Wesen vom drien Planeten, die sie besiegt haen«, berichtete Hfathon. »Wir wissen nicht, wie sie sich nannten, aber wir haben Fotos von ihnen.« Auf einem Bildschirm erschien ein gedrungenes, schwerknochiges Geschöpf mit riesigen Muskelpaketen, in eine Art Keenpanzer gekleidet. In der breiten, fünffingrigen Hand hielt es einen silbrigen Helm mit gezacktem Kamm. Eine Nahaufnahme der Finger zeigte jedoch, daß es keine Nägel besaß. Der Kopf ähnelte dem eines Erdmenschen weitgehend, aber | 79 |
das Geschöpf häe trotzdem nicht mit ihm verwechselt werden können. Sta der Haare hae es kurze, dicke Stacheln, die Orme an Stachelschweinsborsten erinnerten, obwohl sie möglicherweise wesentlich biegsamer waren. Im Verhältnis zum Körper war der Schädel größer als bei einem normalen Erdmenschen. Die Ohrmuscheln haen etwas anders geformte Windungen, ihre Spitzen gabelten sich in zwei lange, fleischige Teile. Das Kinn war sehr massig. Die Lippen reichten fast bis zum Unterkieferknochen. Der Mund stand offen und ließ durchaus menschenähnliche Zähne erkennen. Die Nase war sehr kurz und breit, mit einem runden Höcker auf dem Nasenrücken, von dem ein paar Borsten abstanden. Die Augenbrauen waren dick, die Haare oder Borsten daran spiralförmig. Beim Zwinkern bewegten sich beide Augenlider, das eine nach oben, das andere nach unten. Das untere war blauschwarz, das obere von der gleichen Farbe wie die Gesichtshaut und die Hände, einem rötlichen Braun. Die Augen waren einfarbig rostrot. »Andere Exemplare zeigen unterschiedliche Haut-, Augen- und Haarfarben«, erklärte Hfathon. »Aber ihr Herz ist immer schwarz. Oder, um barmherzig zu sein, sollte ich vielleicht sagen, daß ihre Regierung ein böses Herz hat. Vielleicht gibt es auf dieser Welt auch gute Geschöpfe. Aber wie das sich auch verhalten mag, wir wurden ohne Warnung angegriffen, obwohl wir in Frieden kamen.« Zum Glück für die Krsh waren sie mit Verteidigungswaffen ausgerüstet. Und ihre Waffen waren überlegen, wenn auch nicht mit überwältigendem Abstand. Orme nahm zur Kenntnis, daß Hfathon auf die Art der Waffen nicht näher einging. Die beiden Schiffe, die die Krsh vernichten sollten, wurden nun selbst zerstört. Trotzdem versuchten die Krsh noch einmal, mit den Fremdweltlern Kontakt aufzunehmen, aber ihr Versuch wurde ignoriert, und ein erneuter Angreifer mußte vernichtet werden. Nunmehr gezwungen, ihre Erkundigungen einzustellen, brachen die Krsh zum nächsten Stern auf ihrer Reiseroute auf: der | 80 |
Erdsonne. »Aber die Söhne der Finsternis verfolgten uns, obwohl wir es erst bemerkten, als wir schon einige Zeit im Erdbereich waren. Wir brachten das Schiff dort in eine Umlauahn. Nachdem wir festgestellt haen, daß wir mit einem bewaffneten Angriff der primitiven Erdvölker mit Leichtigkeit fertig werden konnten, schickten wir ein Erkundungsschiff hinunter. Viele Muster pflanzlichen und tierischen Lebens wurden gesammelt und eingefroren, um sie nach Thrrillkrwillutaut zurückzubringen. Dagegen bedeutete die Beschaffung von Exemplaren des vernunbegabten Lebens ein Problem. Wir duren niemanden entführen, denn das häe gegen unsere silichen Normen verstoßen. Aber wir verfuhren so wie auf dem ersten Planeten, den wir besucht haen. Wir suchten so lange, bis wir Geschöpfe in gefährlichen Situationen, zum Beispiel Krankheit, fanden. Wir reeten sie und hoen, ihre Dankbarkeit würde so groß sein, daß sie uns freiwillig bei unseren Studien ihres eigenen Wesens unterstützten. Danach wollten wir sie in der Nähe des Ortes, an dem wir sie aufgenommen haen, wieder freilassen.«
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fathon hielt inne und trank Fruchtsa. »Natürlich hoen wir, einige von ihnen würden so neugierig sein, mit uns zurückreisen zu wollen. Auf dem paläolithischen Planeten haen wir kein Glück. Unsere ›Gäste‹ waren zu sehr in ihrem Stamm verwurzelt – häe man sie zu lange von ihrem eigenen Volk getrennt, wären sie gestorben. Darum brachten wir sie zurück, nachdem wir sie studiert haen. Aber auf der Erde gab es zivilisierte Völker, wenn auch aus unserer Sicht noch auf außerordentlich niedrigem Niveau. Von den zweihundert, die wir fanden, waren fünfzig vor Angst so hysterisch, daß wir sie schleunigst dorthin zurückbeförderten, wo wir sie hergeholt haen. Von den übrigen stammten die meisten aus den Mielmeerländern oder aus einem Land, in dem ein großer Fluß namens Sindhu floß, oder sie kamen aus dem fernen Osten. Die letzteren waren braune Menschen mit Schlitzaugen. Ein paar kamen aus einer großen Stadt in der Mie eines Erdteils, der jenseits eines Ozeans im Westen des größten Kontinents lag. Oder im Osten.« Hier unterbrach Hfathon seinen Vortrag, um die vier zu fragen, ob sie Namen für diese Menschen häen. »Das Land mit dem Sindhufluß müßte wohl Indien sein«, sagte Orme. »Die Leute aus dem fernen Osten waren Chinesen oder Mongolen. Das Land, das die beiden Kontinente verbindet, düre Zentralamerika sein, und die Leute von dort, nehme ich an, waren Mayas. Mit dem großen Kontinent hast du wahrscheinlich die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika gemeint.« »Wir hielten es für einen einzigen Kontinent«, bemerkte Hfathon. »Nach den Fotos, die ich gesehen habe, wirkt es wie eine zusammenhängende Landmasse.« »Sie mögen zwar zusammenhängen, sind aber dennoch drei getrennte Erdteile«, erläuterte Orme. »Obwohl Europa in Wirklichkeit keiner ist. Es wird aber aufgrund historischer und rassischer Ursachen als eigene Landmasse betrachtet. Übrigens ist die große Landmasse westlich von Eurasien auch ein Doppelkontinent, Nord- und Südamerika. Die enge Stelle, wo ihr die Mayas | 82 |
oder was sie sonst waren herhabt, heißt Zentralamerika und verbindet die beiden miteinander.« »Ich will jetzt nicht auf geographische Dispute eingehen«, sagte Hfathon. »Die meisten von denen, die wir zum Muerschiff zurückbrachten, waren seuchenkrank. Wir heilten sie und lernten ihre Sprachen, bevor wir ihnen freistellten, zurückzukehren oder auf dem Schiff zu bleiben. Einer der Männer stammte von dem Kontinent, den du Afrika nennst, aus einem Gebiet unweit von Khem oder auf griechisch Ägyptos. Er war ein Hebräer namens Matathias oder abgekürzt Mahias. Er war derjenige Jünger des Messias, den das Los erwählt hae, Yehudhahs Nachfolger zu werden. Auf griechisch Ioudas Iskariotes, der Apostel, der den Messias verriet.« »Du sprichst von Mahias und Judas Ischariot!« rief Orme – auf englisch – ungläubig aus. Der Krsh kümmerte sich nicht um diesen Ausbruch. Er drückte auf ein kleines Gerät, das er in der Hand hielt, und auf dem riesigen Bildschirm an der Wand erschien ein kleiner, bärtiger Mann, der in einem kleinen Raum mit zwei Krsh redete. »Was spricht er für eine Sprache?« flüsterte Orme Bronski zu. »Ich glaube, es ist Aramäisch.« »Das ist Mahias«, erklärte Hfathon. Er machte eine Pause. »Er war der dreizehnte Apostel und kannte Jesus gut, bevor man ihn kreuzigte. Er begleitete ihn auf seinen Wegen und sprach mit ihm und aß mit ihm ... hier.« Orme wollte um eine Erklärung bien, was er mit seiner letzten Bemerkung gemeint habe – »er aß mit ihm ... hier« –, aber Hfathon sprach über das plötzliche Erscheinen der Söhne der Finsternis. »Unsere Detektoren zeigten sie an, als sie hinter dem Planeten hervorkamen, den ihr Jupiter nennt. Wir haen drei Möglichkeiten: uns zu verstecken, zu kämpfen oder zu fliehen. Wir häen das Schiff unter dem Wasserspiegel eines Ozeans verstecken oder mit Leichtigkeit aus dem System entkommen können, denn wir waren schneller als sie. Aber wir wußten nicht, was sie der Erde antun würden. Nach dem, was wir gesehen haen, waren sie skrupellos und brutal. Sie besaßen eine hochentwickelte technologische | 83 |
Zivilisation, aber das bedeutet kein gleich hohes siliches Niveau. Was war, wenn sie die Erde zerstörten wie den vierten Planeten ihres eigenen Systems? Vielleicht würden sie auch Sklaven aus den Erdvölkern machen. Weil wir dafür verantwortlich waren, daß sie überhaupt dorthin gekommen waren, war es unsere Pflicht, die Erde zu schützen. Unsere Politik ist immer gewesen, uns so wenig wie möglich in die Entwicklung einer anderen Art einzumischen, selbst wenn es für uns selbst ein Nachteil sein konnte, das Böse, das da angriff, nicht unschädlich zu machen.« Er hielt wieder inne. »Jedenfalls war das damals unsere Politik.« Orme setzte sich gerade. Was bedeutete diese rätselhae Bemerkung? »Also beschlossen wir zu kämpfen.« »Entschuldige, Hfathon«, sagte Orme, »aber ich kann da einfach nicht an mich halten. Du hast gesagt: ›unsere damalige Politik‹. Was ...?« »Wir werden es später erklären.« »Okay. Aber was ich außerdem wissen möchte: Wie konntet ihr die Schiffe der ›Söhne der Finsternis‹, wie ihr sie nennt, erkennen? An der Bauweise? Oder woran?« »Sie haen die gleiche Form wie jene, die uns früher schon angegriffen haen. Wir wußten nicht – oder vielmehr unsere Vorväter, die Mannscha von damals, wußte nicht, wie sie es gescha haen, uns zu verfolgen. Ein Raumschiff hinterläßt keine Spuren. Jedenfalls nahmen wir das nicht an, obwohl die Söhne der Finsternis vielleicht schon weiter waren, als wir dachten. Außerdem mußten sie schon Raumschiffe gehabt haben, als wir uns in ihrem System auielten, obwohl wir keine bemerkt haen. Jedenfalls ...« Das Krsh-Schiff, mit den »Gästen« von der Erde an Bord, traf 100000 Meilen jenseits des Mars auf den Feind. Die Schlacht war kurz und heig. Trümmer der angreifenden Schiffe trieben auf die Sonne zu. Aber auch die Krsh waren schwer getroffen. Nur ein Antriebsaggregat war noch funktionsfähig, als sie den Mars ansteuerten und dort eine Bruchlandung schaen. Zum | 84 |
Glück war der Aufprall für Besatzung und Passagiere nicht lebensgefährlich. Aber das Schiff konnte nicht repariert werden, und das kleine Erkundungsfahrzeug war völlig zerstört. Die Marsfahrer sahen Bilder des Fluges, des Absturzes und der Sofortmaßnahmen zum Überleben. Mit Hilfe der vorhandenen Ausrüstung gruben die Krsh als vorläufiges Standquartier eine Höhle aus dem harten Gestein. Aus den Mineralien destillierten sie Sauerstoff und Nahrung. Und im Lauf der Jahre vergrößerten sie sich, bis es schließlich das riesige, unterirdische System gab. Orme fand diesen Bericht zwar spannend, war aber mehr daran interessiert, auf die Mahias-Geschichte zurückzukommen. Er verspürte Ehrfurcht. Der Apostel war tatsächlich bei diesen Leuten gewesen. Und wie Hfathons Hologramme zeigten, war er nur eine kurze Strecke von hier im Fels begraben. Die Kamera war über den Friedhof geschwenkt und hae zuerst die Grabsteine der ersten Bewohner gezeigt. Sie trugen Inschrien in Hebräisch, Griechisch, Latein, Krsh, in chinesischen Ideogrammen und in verschiedenen Symbolen, die er für Maya-Hieroglyphen hielt. Als die Kamera sich jüngerer Gräber näherte, gab es nur noch hebräische Inschrien. Alle Steine waren gleich groß, so verlangte es das Gesetz. Nach Ansicht der Hebräer waren im Tod alle Menschen gleich, Heilige und Sünder, Reiche und Arme, Junge und Alte, Männer, Frauen und Kinder. Bronski übersetzte die Inschri: »Matathias bar-Hamath. Die Jahre nach der hebräischen Zeitrechnung entsprechen unseren Jahren 2 n. Chr. und 149 n. Chr.« Nahe dem Stein des Apostels befanden sich zehn weitere, auf die Hfathon sie aufmerksam machte. »Das waren Mahias’ Gefährten oder besser seine Jünger, die an einer Seuche lien, als wir sie aufnahmen. Es waren libysche Juden, die er davon überzeugt hae, Jesus sei wahrha der Messias. Es war auch Mahias, der zusammen mit seinen zehn Leuten alle seine heidnischen Gefährten, soweit sie Menschen waren, bekehrte. Wir Krsh erkannten damals das Licht noch nicht. Die meisten von uns waren Agnostiker oder Atheisten, obwohl auch einige noch der Religion ihrer Vorfahren folgten. Wir griffen auch | 85 |
nicht ein, als Mahias die Menschen alle unter das Gesetz Moses stellte, wenn wir auch in unserer Unwissenheit in einigen dieser Gesetze nur sinnlose Brutalität erkennen konnten.« Orme konnte sich nicht länger beherrschen. Er sprang auf und schrie: »Und warum habt ihr eure Ansicht geändert?« »Der Messias selbst erschien uns. Und er tat etwas, was uns für immer überzeugt hat.«
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hilemon Zhbeshg Mosheh ben-Yonathan war ein junger Mann von fünfunddreißig, ein bißchen stutzerha mit seinen viole gefärbten Schläfenlocken, seinen großen, wagenradformigen Silberohrringen und seinem Gewand, das in den Farben des Regenbogens gestrei war. Seine älteren Verwandten hielten sein Äußeres für skandalös. Seine verzierten Halbstiefel und die scharlachroten Fußnägel veranlaßten sie, ihm öffentlich Vorwürfe zu machen. Er hörte ihnen demütig und schweigend zu, worauf er sich weiterhin so kleidete wie vorher. Wie so viele junge Leute zwischen 22 und 50 zog er an, was ihm gefiel, und ging mit der Mode. Anders als seine Altersgenossen neigte er jedoch nicht zu übermäßigem Trinken, das heißt zu mehr als drei Glas Wein am Tag. Weil er Sportler war, gestaete er sich nur zum Abendessen ein Gläschen Wein. Orme, der drei olympische Goldmedaillen gewonnen hae (100-Meter- und 200-Meter-Schnellauf sowie Weitspringen), ging in die Zentralsporthalle, um sich auszutoben. Natürlich war er sehr gespannt, was für Athleten die Marsianer waren. Er rechnete sich aus, daß zweitausend Jahre auf einem Planeten mit wesentlich geringerer Schwerkra als auf der Erde dazu geführt haben mußten, daß auch die Muskeln schwächer waren. Aber da irrte er sich. Die Einheimischen rannten, sprangen und rangen, als seien sie auf der Erde geboren. Orme fand Philemon wegen seiner freundlichen, heiteren Art sympathisch. Darüber hinaus reizte es ihn, daß er auch einer der besten Schnelläufer war. Er fing ein Gespräch mit ihm an, freilich durch sein mangelhaes Krsh beschränkt, und sechs Tage nachdem er ihn kennengelernt hae, forderte er ihn heraus. Zu seinem Erstaunen und Kummer war ihm Philemon bei jedem Lauf um etliche Meter voraus. »Na gut – ich bin auch nicht in Topform«, sagte er zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Ich brauche ungefähr fünf Monate Training. Ich bin auch nicht daran gewöhnt, hier zu laufen. Jeder Schri, den ich mache, ist fünf Meter lang. Außerdem habe ich | 87 |
meinen Höhepunkt überschrien – obwohl ich glaube, du häest mich auch früher schon geschlagen. Fünfunddreißig ist für einen Schnelläufer schon ziemlich alt. Jedenfalls für einen von der Erde. Und ich bin auch das Barfußrennen nicht gewöhnt.« Er unterbrach sich, um zu grinsen und zu sagen: »Vielleicht fallen mir noch ein paar Ausreden ein.« Das war der Moment, in dem Philemon ihm mieilte, er sei genauso alt wie Orme. »Ja, aber ich hae diese Langlebigkeitsbehandlung nicht. Ich wee, du bist rein körperlich erst neunzehn.« »Hast du denn nicht um die Behandlung gebeten?« Orme war verblü. »Ich bin natürlich davon ausgegangen, daß man sie mir verweigern würde. Schließlich bin ich ein Fremder.« »Bie Hfathon darum. Schaden kann es jedenfalls nicht.« Abends redete Orme mit seinen Mannschaskameraden, und sie beschlossen, Hfathon am Morgen um die Behandlung zu bien. Bronski stellte Orme über die Sporthalle eine Menge Fragen. Schließlich meinte Orme: »Du scheinst dich plötzlich sehr für Sport zu interessieren. Ich habe immer gedacht, du machst dir nichts daraus.« »Ich bin neugierig, weil die alten Juden das Gymnasium haßten und nicht gerade auf Sport erpicht waren. Spiele gehörten für sie zu den Gebräuchen der heidnischen Griechen und Römer. Aber mit der Zeit wandeln sich auch solche Einstellungen. Immerhin sind die modernen Isrealis sehr sportlich orientiert. Die orthodoxen Juden in Israel sind in der Minderheit.« Am anderen Morgen, gleich nachdem die Lehrer gekommen waren und man einander begrüßt hae, stellte Orme seinen Antrag. Hfathon schwieg einen Augenblick und formte mit den Händen eine Kirchturmspitze. Schließlich erwiderte er: »Ja, ich wußte, daß ihr darum bien würdet. Wir haben gestern abend darüber beraten. Es hat nicht lange gedauert. Wir haben entschieden, daß wir euch die Behandlung jetzt noch nicht gewähren können.« Hfathon sah aus, als sei die Angelegenheit damit erledigt. | 88 |
Aber Orme fragte: »Weshalb nicht?« »Warum sollten wir es tun?« »Es wäre human.« »Ach – wäre es das? Wir wissen immer noch nicht viel über euer Volk. Woher wissen wir, daß im Endergebnis nicht etwas Böses daraus entstehen könnte?« Madeleine fragte: »Etwas Böses? Du meinst, die Behandlung könnte ein körperliches Trauma zur Folge haben, weil unser Stoffwechsel vielleicht anders ist als eurer? Oder meinst du, der Einfluß auf unsere Gesellscha könnte schädlich sein?« »In jedem Fall«, sagte Nadir, »wie könnte es etwas Schlechtes für die Bürger der Erde bedeuten, wenn ihr nur uns die Behandlung gewährt?« »Um zuerst deine zweite Frage zu beantworten, Madeleine: Es könnte das Gesellschassystem der Erde, sozial betrachtet, völlig sprengen. Es wäre böse. Mir fällt auf, daß ihr Worte wie ›Böses‹ und ›Sünde‹ vermeidet oder sie verächtlich gebraucht. Glaubt ihr nicht, daß es so etwas gibt?« Hfathon wechselte immer geschickt das Thema, wenn er über eine Sache nicht reden wollte. »Ich verwende lieber wissenschaliche Bezeichnungen«, antwortete Madeleine. »Es gibt mehr als nur eine Wissenscha. Und es gibt ein Wissen jenseits aller Wissenscha. Aber wir wollen darüber jetzt nicht diskutieren. Um deine Frage zu beantworten, Nadir: Wenn man dir die Behandlung gestaete und du dann zur Erde zurückkämst, könnten eure Wissenschaler aus deinem Blut die chemischen Bestandteile herausanalysieren. Obwohl ich sagen würde, soweit mir der Stand eurer Forschung bekannt ist, gibt es die Behandlung bei euch schon. Natürlich düre sie nicht so wirkungsvoll sein wie unsere. Aber aus irgendwelchen Gründen hat man sie der Öffentlichkeit noch nicht bekanntgegeben, vielleicht aus ähnlichen Ursachen wie denen, die uns veranlassen, sie euch zu verweigern. Jedenfalls für jetzt.« Orme wußte inzwischen, daß es keinen Sinn hae, mit den Marsianern zu diskutieren. »Also gut«, sagte er. »Aber ihr ver| 89 |
steht, warum wir daran interessiert sind, oder?« Hfathon lächelte. »Ja. Übrigens werden wir die Schnell-LernPillen absetzen. Die gestern entnommenen Blutproben zeigen, daß ihr euch dem Punkt nähert, an dem die Nebenwirkungen gefährlich werden.« »Was für Nebenwirkungen?« fragte Madeleine. »Mir ist nichts aufgefallen.« »Das würde auch erst dann der Fall sein, wenn sie wirklich eintreten – etwa in drei Tagen. Vielleicht werdet ihr unter ein paar leichten Entzugserscheinungen leiden – dem Gefühl, daß es nebenan Leute gibt, obwohl gar keine da sind, und ähnlichen Wahnvorstellungen. Wißt ihr, nach dem, was ihr mir über euer Volk erzählt habt, würden dort viele die Pillen nicht nach Vorschri einnehmen. Narren und Verbrecher würden sie mißbrauchen.« Zornig entgegnete sie: »Ich nehme an, hier würde das keiner tun?« »Nein.« Sie antwortete nicht, aber man sah, daß sie kochte. Auch Orme war verärgert – es war ein Gefühl, als häe man ihn ungerecht getadelt. Allerdings mußte er zugeben, daß der Krsh recht hae. Trotzdem versuchte er nachmiags in der Sporthalle unauffällig, Philemon über die zur Oberfläche führenden Tunnel auszuhorchen. Philemon ging ihm aber nicht in die Falle. Er schien gar nicht zu merken, was Orme wollte. Sta dessen schweie er ganz einfach ab, wenn ihn Orme in eine bestimmte Richtung steuern wollte. Er mochte nur über Sport auf der Erde reden. Der Kanadier überlegte, ob er vielleicht doch nicht so harmlos war, wie er aussah. Woher hae Hfathon beispielsweise gewußt, daß Orme das Thema Langlebigkeitsbehandlung auf den Tisch bringen würde? Wurde Philemon abends über das ausgehorcht, was Orme ihm nachmiags erzählte? Oder war der Marsianer an einen Lautsprecher angeschlossen? Die Krsh haen den Terranern einmal gesagt, daß sie, auch wenn man sie freiließe, nicht allein gelassen würden. Orme hae erwartet, daß man ihm einen Führer mitgeben würde. Aber das war nicht der Fall. Nach der ersten Woche hae er allein hingehen dürfen, wohin er wollte. Auch die | 90 |
drei anderen haen erzählt, daß sie sich frei bewegen konnten. Irgendwie wurden sie aus der Ferne überwacht. Oder haen sich die Marsianer dafür entschieden, ihre Informationen von den Leuten zu beziehen, mit denen sie redeten? Was die optische Überwachung anging, so konnten dazu in der Höhlendecke verborgene Kameras eingesetzt worden sein. Wenn sie in ein Haus gingen, konnte der dortige Fernseher, auch wenn er ausgeschaltet zu sein schien, als Kamera fungieren. Vielleicht haen die Marsianer ihren Gefangenen auch kleine Monitoren eingesetzt. Manchmal fragte sich Orme, ob er nicht unter den Nebenwirkungen der Wogglebug-Pillen li. Hae er schon Zwangsvorstellungen? Eines Tages gegen dreizehn Uhr hae Orme den Versuch sa, ein Lehrbuch über Differential-Photonenantriebsmechanismen zu lesen. Er setzte das Buch auf den Boden, damit es sich selbständig in die richtige Lücke der Bibliotheksablage zurückbewegen konnte, und schlenderte hinüber in die Abteilung für Sprache. Dort bläerte er im Katalog für populäre Literatur, in dem viele Gedichtbände standen, die Häle davon religiöser Art. Er kam zu dem Schluß, daß er selbst bei größeren Sprachkenntnissen die Poesie nur schwer verstehen würde, nämlich wegen der Häufung gedrängter Ideen, der obskuren Zitate und der Neigung zu Wortspielen. Die Poesie der Krsh basierte auf einem Versmaß, bei dem es auf die Anzahl der Silben und nicht auf ihre Betonung ankam, ganz ähnlich der altgriechischen und lateinischen Dichtung. Zudem hing alles stark von Alliterationen und Parallelismen ab. Die letzteren waren, wie ein Professor erläutert hae, der hebräischen Dichtung entlehnt. Er beschloß, heimzugehen und dort seine Lektüre des »Mahias-Testaments« fortzusetzen. Aber auf dem Weg nach Hause änderte er seine Absicht. Warum sollte er sich nicht ein Auto leihen und ein bißchen herumkutschieren? Wenn die Behörden etwas dagegen haen, würden sie es ihm schon mieilen. Auf dem Gemeindeparkplatz gab es keine Aufseher. Ein Dutzend der offenen Fahrzeuge stand in ordentlichen Reihen auf dem Felsen. Er stieg in eines davon, drückte auf einen Knopf, und der Elektromotor war startbereit. Es gab hier keine Schlüssel, | 91 |
weil Privatpersonen keine Autos besaßen. Entweder gehörten sie einer Gemeinde oder der Zentralregierung. Wenn jemand eines brauchte, stieg er einfach ein und fuhr los. Es gab kaum Lastwagen, weil die Bauern Pferdefuhrwerke benutzten und man Güter in Ludruckkapseln durch unterirdische Tunnel beförderte. Straßen und Landstraßen bestanden aus einem dicken, gummiartigen Material, auf dem es sich gut fahren ließ und das auch für die Sohlen der Fußgänger angenehm war. Das Auto, von Hand gesteuert, rollte in die Ausfahrt. Er häe dem eingebauten Computer mündlich sein Ziel nennen und sich zurücklehnen können, während das Auto selbsätig auf dem schnellsten Weg dorthin fuhr. Aber nur wenige machten von diesem automatischen System Gebrauch, weil ihnen das Fahren Freude bereitete. Mit einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen in der Stunde – die Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeugs lag bei fünfunddreißig Meilen – lenkte Orme den Wagen die Straße hinunter und bog in eine Hauptverkehrsstraße ein. Sie führte ihn in einem großen Bogen um die Hauptstadt herum, danach hinaus ins Land. Es gab keine Stoppzeichen, keine Ampeln, keine Verkehrsschilder. Selbst Straßennamen fehlten. Man ging davon aus, daß die Bürger sich in ihrer eigenen Gemeinde auskannten. Ein Fremder konnte herausfinden, wo jemand wohnte, indem er einen anderen Bürger fragte oder einen Computer zu Rate zog. Es gab auch kein Postsystem: Die Leute benutzten, um sich miteinander in Verbindung zu setzen, ihren Fernsehapparat, mit dem sie auch Ausdrucke auf Papier übermieln konnten. Orme hae herausgefunden, daß die Höhle, in der er sich aufhielt, die erste von allen war. Über seinen Fernseher hae er eine offizielle Regierungsinformation abgerufen und eine Karte der Tunnel und Höhlen gesehen. Zweifellos hae man seinen Anruf überwacht, aber niemand hae ihn deswegen angesprochen, und ihm waren keine Informationen verweigert worden. Er hae nicht gefragt, wo die Eingänge zu den Tunnels an die Oberfläche lagen. Das würde er selbst herauszubekommen versuchen. Nach fünfzehn Minuten angenehmer Fahrt – kein Staub, kaum andere Autos, über die man sich häe aufregen müssen, keine Hupkon| 92 |
zerte – bog er in eine Straße ein, die ihn auf die Landstraße bringen mußte, die am äußeren Höhlenrand entlangführte. Er mußte auf zehn Meilen pro Stunde heruntergehen, weil die Straße durch eine kleine Stadt führte. Das größte Gebäude hier war eine etwa sieben Meter hohe Kuppel von hundert Metern Umfang, der obere Teil eines unterirdischen Silos, das jenes Getreide aufnahm, das die Bauern dorthin brachten. Orme fuhr noch langsamer, um ein paar Kindern auszuweichen. Sie spielten ein Spiel, das ihn an das kanadische Lacrosse erinnerte. Sofort hörten sie damit auf und starrten den schwarzen Mann an. Er grinste sie an, was bei einigen ein Lächeln hervorrief. Dann rannte eine Frau, in der Hand eine große Ledertasche, ihm nach und bat ihn anzuhalten. Er stoppte und fragte sich, was sie wohl wollte. »Fährst du nach Yishub?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Wo ist das?« »Ungefähr sechs Meilen diese Straße entlang. Ich habe dort zu tun, und alle Autos sind unterwegs. Ich würde laufen, aber dann käme ich zu spät.« »Ich fahre in diese Richtung. Steig ein.« Sie warf die Tasche auf den Rücksitz und setzte sich neben ihn. »Ich bin Gulthilo Ribhqah bat-Yishaq. Wer du bist, weiß ich natürlich – Richard Orme von der Erde.« Sie sah gut aus, war mehrere Zentimeter größer als er, vollbusig, mit schlanken Fesseln, lockigem blonden Haar und dunkelblauen Augen. Ihr gotischer Name, der soviel bedeutete wie »Goldchen«, überraschte ihn nicht, denn einige der Terraner hae man damals auch im Norden Europas aufgenommen. Daher stammten Namen wie Fauho, Rautha, Swiglja und Haurnja. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß er hier einer Blondine begegnete. Obwohl die meisten der menschlichen Marsianer dunkelhäutige, mediterrane Typen waren, gab es auch einige mit blauen oder grünen Augen, roten oder gelben Haaren. Allerdings waren diese nicht natürlichen Ursprungs. Zwar mochte ein Teil ihrer Ahnen blond gewesen sein, aber die Gene für die helle Pigmentierung waren in den zwanzig Generationen Inzucht ausge| 93 |
merzt worden. Gelegentlich gab es jedoch Eltern, die sich zur Abwechslung eine hellere Färbung für ihre Kinder wünschten, und die Bio-Ingenieure manipulierten die Gene dann so, wie man sie haben wollte. Darum ähnelte Gulthilo einer längst verstorbenen Ahnin, die den gleichen Namen getragen hae. Er fuhr an und fragte: »Was ist dein Beruf?« »Ich unterrichte auf den Bauernhöfen und in einigen Städten im Flötenspielen. Meistens fahre ich mit dem Rad, wenn ich kein Auto erwische. Aber mein Rad ist heute morgen kapugegangen, und die anderen brauchten ihre Räder alle selber, so daß ich mir auch keins leihen konnte. Zum Glück bist du jetzt gekommen. Ich freue mich sehr, denn wahrscheinlich ist das meine einzige Chance, mit einem von euch zu sprechen.« Ihre Geschichte klang plausibel, wenn es auch merkwürdig erschien, daß gar kein Fahrrad zu haben gewesen sein sollte. Vielleicht hae man die Fahrräder für etwas Besonderes benötigt. Allerdings konnte man die Frau auch auf ihn angesetzt haben. Möglicherweise hoen die Behörden, seine Wachsamkeit würde nachlassen, wenn er an ein rein zufälliges Zusammentreffen glaubte. »Ich bin nicht wirklich verrückt«, sagte er zu sich selbst. »Mein Verdacht beruht auf durchaus ernstzunehmenden Erwägungen. Trotzdem – vielleicht tue ich ihr Unrecht.« »Wohin fährst du?« fragte sie mit der diesem Volk eigentümlichen offenen Neugier. Wie Kinder haen sie keine Scheu vor Fremden, auch nicht, wenn sie von einem anderen Planeten kamen. »Ich fahre nur ein bißchen herum, um die Gegend zu genießen und mal etwas anderes zu sehen. Ich habe die Universität sa und wollte ein bißchen ausspannen.« »Bist du verheiratet?« Obwohl er sich langsam an die Freimütigkeit der Marsianer zu gewöhnen begann, verblüe ihn diese Frage doch. Er antwortete: »Ich war es, aber meine Frau hat sich scheiden lassen.« »Neulich gab es eine Sendung über euch auf der Erde. Habt ihr sie sehen können? Nein. Jedenfalls hat der Kommen| 94 |
tator gesagt, daß es dort viele Scheidungen gibt. Man kann sich aus allen möglichen Ursachen oder auch ganz ohne Grund scheiden lassen. Das kommt uns seltsam vor. Hier sind nur Ungläubigkeit, Ehebruch, Grausamkeit oder völlige Unverträglichkeit Scheidungsgründe. Früher war Unfruchtbarkeit auch ein Grund, aber heute ist niemand mehr steril. Und natürlich glauben alle an den Messias. Obwohl das ein paar böse Menschen nicht hindert, ihm insgeheim Widerstand zu leisten.« Also gab es sogar hier Abweichler. »Als meine Frau mich heiratete, wußte sie, daß ich unbedingt Astronaut werden wollte ... Raumfahrer. Aber als ich einmal einen Unfall hae, fing sie immer wieder davon an, ich sollte auören und eine gesicherte Position annehmen. Darum haben wir uns dann getrennt.« »Bist du verlobt?« Er lächelte. Dann sagte er: »Bist du verheiratet oder versprochen?« »Nein. Mein Mann war zweihundertvierzig Jahre alt, als ich ihn heiratete. Er starb, kurz nachdem unser jüngstes Kind vor zwei Jahren auf die Universität kam. Ich habe ein Dutzend Verehrer, aber ich habe mich noch nicht entschieden. Außerdem genieße ich es durchaus, von ehelichen Pflichten frei zu sein. Man könnte sagen, ich habe Ferien.« Orme fragte sich, was das für ein Gefühl sein mochte – einen Vater zu haben, der zweihundert Jahre alt war, wenn man selbst auf die Welt kam. Als Marsianer würde man sich wahrscheinlich gar nichts dabei denken. Diese Frau erregte Orme. Obwohl ihr Gewand am Hals geschlossen und knöchellang war, zeigte der dünne Stoff ihre üppige Gestalt und die langen Beine. Das Gesicht war sinnlich: volle Lippen, eine leicht gebogene, aber zarte Nase, dunkle, dichte Brauen, weiche Haut und ein heller Glanz in den blauen Augen. Er seufzte. Sie konnte ihm nie gehören, nicht einmal kurz. Endlich, als sie an einem Bauernhaus vorbeifuhren, sagte er: »Zwei Jahre ohne Mann sind eine lange Zeit. Oder findest du das nicht?« | 95 |
Er sah sie bei diesen Worten an, und sie errötete. »Oh«, dachte er, »oh – ich bin zu weit gegangen.« Aber daß sie rot wurde! Er konnte sich seit seinen Kindertagen nicht mehr daran erinnern, eine Frau erröten sehen zu haben. Sie erwiderte: »Wie lange bist du ohne Frau gewesen? Sechs Monate? Ist das keine lange Zeit?« »Es scheint noch keine Ewigkeit zu sein«, antwortete er und lachte. Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Halte dort drüben unter dem Baum.« Er sah sie an, schwieg aber. Als er das Auto angehalten hae, stellte er fest, daß der Baum und ein Feld mit hohen Sheshunit, einer sonnenblumenartigen Pflanze, sie vor allen Blicken verbargen, wenn nicht gerade jemand auf der Straße vorbeikam. Und in den letzten fünf Minuten hae es niemanden gegeben. Sie rückte nahe an ihn heran. Ihre Schenkel berührten sich. »Bilde dir jetzt nichts Falsches ein«, sagte sie lächelnd. »Aber das hier will ich wirklich.« Ihre Arme umschlangen seinen Hals, ihre Lippen preßten sich auf seinen Mund. Dann gli ihre Zunge zwischen seine Lippen und berührte seine Zunge. »Das kann nicht wahr sein«, dachte er. Aber es war so. Sie ließ zu, daß er ihre Brüste betastete, aber als er ihr Gewand zu öffnen versuchte, wandte sie sich ab. Beide rangen nach Lu. »Ich wollte nur herausfinden, wie es ist, wenn man einen Mann von der Erde küßt«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus und strich ihm über die Haare. »Auch darauf war ich neugierig. Es fühlt sich so eigenartig an. Aber angenehm.« »Vielleicht bringt es dir Glück«, sagte er. »In den alten Zeiten strichen weiße Leute einem Schwarzen gern über die Wolle. Es sollte ihnen Glück bringen.« »Merkwürdig.« »Und nun, nachdem du einen Mann von der Erde geküßt hast – wie fandest du es?« »Sehr aufregend. Fast zu aufregend. Aber schließlich habe ich | 96 |
zwei Jahre lang auch nur meine Verwandten geküßt. Ich werde sehr leidenschalich. Man hat mir auch schon vorgeworfen, ich sei zu keck. Aber ich bin keine verworfene Frau. Ich konnte einfach nicht dagegen an.« »Ich habe noch nie eine Marsianerin geküßt«, meinte er. Und nach einer Pause: »Wir könnten in das Feld gehen.« Sie errötete wieder, lächelte aber gleich darauf. »Wenn wir das täten, müßten wir heiraten.« »Ich würde es niemandem erzählen.« »Aber ich würde es wissen. Ich bin ja auch nicht in dich verliebt. Es tut mir leid. Ich häe es nicht tun sollen. Nur ...« »Entschuldige dich nicht. Es war doch schön, auch wenn es nur kurz war. Aber ich hoffe, du neckst keine anderen Männer so. Du könntest vergewaltigt werden.« »Nur ein schlechter Mann würde so etwas tun. Und man würde ihn nach She’ol schicken.« »Wo ist das?« Sie schauderte. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Bie, fahren wir weiter.« »Wie du möchtest.« Einen Augenblick später sagte er: »Ihr habt hier bestimmt die moralischste Gesellscha im Sonnensystem. Oder jedenfalls die strengste. Aber die menschliche Natur ist im wesentlichen doch überall gleich. Wie viele eurer Bräute sind vor der Zeremonie schwanger?« Sie lachte. »Oh – man schätzt, ungefähr ein Viertel. Aber keine Frau gerät je in Schande. Der verantwortliche Mann würde sie nie sitzenlassen. Er würde es nicht wagen.« »Ich könnte mir vorstellen, daß das zu vielen unglücklichen Ehen führt.« »Nein. Warum sollte es?« Er glaubte, darauf keine Antwort zu wissen. Erst mußte er die Einstellung dieses Volkes besser kennen, bevor er über so etwas diskutieren konnte. Offensichtlich waren die Bedingungen auf der Erde nicht in allen Punkten – oder jedenfalls nicht o – so wie hier. | 97 |
Sie deutete auf die Sonne. »Er würde es nicht gern sehen.« »Ach, er! Aber warum sollte die Furcht vor ihm für euch das Glück ersetzen?« »Wir lieben ihn«, antwortete sie. »Wir würden ihn anbeten, wenn er es zuließe. Aber er warnt uns immer wieder davor, ihn für den Allbarmherzigen zu halten.« Orme beschloß, das Thema zu wechseln. Dieses ganze Gespräch, wenn auch durchaus interessant, war für seine Pläne unwesentlich. Wenn sie so aufrichtig war, warum nicht auch er? Vielleicht gelang ein Überraschungserfolg. »Übrigens«, fragte er, »wo ist der Eingang zu den Tunneln, die zum Raumschiff führen?« »Da hinten.« Sie zeigte an ihm vorbei auf die blaue Wand der Höhle. Er folgte der unsichtbaren Verlängerung ihres Fingers, konnte aber nichts Auffallendes bemerken. »Wenn du zu der Straße fährst, die fünf Meilen von hier parallel zu dieser verläu, dann direkt auf die Wand zusteuerst, kommst du zu der Straße, die an der Seite hochführt. Dann erreichst du einen Felsabsatz, auf dem ein kleines Gebäude steht, das blau und rot gestrei ist. Dahinter ist der Eingang.« Wie leicht das gewesen war. Vielleicht zu einfach. »Ist es ein Wachhäuschen?« »Nein. Warum sollten dort Wachen sein?« Wollte sie sich über ihn lustig machen? Oder glaubte sie wirklich, die Erdbewohner würden so wenig an Flucht denken wie ein feister Stier auf einer üppigen Weide? Glaubten das etwa die Behörden? »Wenn du dich verfährst, kannst du im Dorf Gamaliel nach der Richtung fragen. Jetzt bie langsam fahren. Das hier ist der Hof von Wang Ben-Hebhel. Ich gebe seinem Sohn und seiner Tochter Unterricht.« Orme bog in die zementierte, hufeisenförmige Einfahrt ein und hielt vor dem Haus. Wie die meisten Wohngebäude hier war es aus Holz und siebenseitig. (Die Zahl Sieben besaß in dieser Kultur | 98 |
große symbolische Bedeutung.) Es war anderthalb Stockwerke hoch. Das Holz, aus dem es bestand, war, wie er wußte, sehr hart (es stammte von den Krsh) und sehr dünn. Die Breer standen senkrecht, und überall gab es große Fenster. Das pagodenförmige Dach war rot; eine hellblaue Veranda umgab das Haus. Die Dachrinne war sehr breit, wegen der jüdischen Tradition, daß kein Blut das Haus selbst berühren sollte, falls jemand vom Dach fiel. Ein großes Tier, das aussah wie ein schwarzer Wolf, dessen Ahnen aber die Krsh mitgebracht haen, erhob sich vom Fußboden der Veranda und zirpte laut. Einen Augenblick später kamen zwei Kinder von etwa zehn und dreizehn herausgelaufen. Eine schlanke, dunkle Frau, eine Schönheit, folgte ihnen nach wenigen Sekunden. Alle drei sahen erstaunt aus, als sie Orme erkannten. Als Gulthilo ihn vorstellte – als ob sie nicht längst wüßten, wer er war –, lächelten sie breit und wirkten ehrlich erfreut. Gulthilo dankte ihm für die Fahrt und warf ihm dabei einen rätselhaen Blick zu. Anscheinend war er damit entlassen. Bevor er sich aber umdrehen und zum Auto zurückgehen konnte, sagte sie: »Warte eine Sekunde!« und fing an, in schnellem Krsh auf die andere Frau, Ester, einzureden. Gulthilo fragte: »Hast du Hunger?« »Ich habe zwar das Miagessen ausfallen lassen, aber ...« »Du bist eingeladen, mit uns zu essen. Bie, sag ja.« »Mit euch?« »Ja. Wie Ester mir erzählte, hat der Rat entschieden, daß ihr Terraner mit uns am Tisch essen dür. Sie hat es im Fernsehen erfahren. Ihr könnt keine unerlaubten Speisen mehr zu euch nehmen, weil eure Vorräte verbraucht sind, und es schadet nichts, wenn ihr mit uns eßt. Natürlich gilt das nur für gewöhnliche Mahlzeiten. Fesage und heilige Tage gelten noch nicht für euch. Und ihr müßt diese Regeln einhalten.« »Es ist schön, nicht wie ein Paria behandelt zu werden«, bemerkte Orme. Er dankte ihr und folgte ihnen durch eine weite Türöffnung, an deren Seiten Mesuses hingen, kleine Kapseln mit Worten aus | 99 |
der Heiligen Schri. Die einzigen Wohnungen auf dem Mars, die so etwas nicht haen, waren die, in denen die Erdmenschen lebten. Der erste Raum war hoch und luig. Die Breer der Wand waren abwechselnd blaßweiß und blaßblau gestrichen. Es gab keine Tapete. Von der anderthalb Stockwerke hohen Decke hingen drei große Kronleuchter aus geschnienem Quarz, von denen jeder sechs elektrische Kerzen trug. Die einzige Wanddekoration bestand aus zwei großen, sehr flachen Fernsehapparaten und einem gigantischen Speer in einer Halterung. In jedem Haushalt gab es mindestens eine derartige Waffe. Bei den Krsh war es alter Brauch gewesen, daß der Vater dem Sohn, wenn dieser heiratete, den zeremoniellen Speer übergab. Die Menschen haen die Sie angenommen, ungefähr in der Zeit, als die sechste Höhle gegraben wurde. Der Fußboden bestand aus poliertem Mahagoni, auf dem hier und da hellgemusterte Brücken lagen. Möbliert war das Zimmer mit einem sehr großen Tisch, fünf Sofas, ein paar kleinen Beistelltischen, einem Lesepult und einem riesigen Schreibtisch. Dieser hae an jeder Ecke einen hohen, runden Pfeiler, in dem sechszakkige Sterne und Blumenmotive eingeschnitzt waren. Das Zimmer mündete unmielbar in einen viereckigen Innenhof. Jeder Raum ging auf diesen Hof hinaus, einem bezaubernden Aufenthaltsort. Polierte Granitblöcke lagen auf dem Boden. In der Mie gab es einen großen, siebenseitigen Teich, aus dessen Mie eine gut vier Meter hohe Fontäne emporschoß. Hier und da befanden sich Öffnungen im Boden, aus denen sieben Meter hohe Bäume mit weit ausladenden Ästen herauswuchsen. Gelbe und scharlachrote, kanarienartige Vögel sangen oder zwitscherten in den Zweigen oder pickten an apfelgroßen, birnenförmigen und purpurroten Früchten herum. In einer Ecke sah eine fahlfarbene Katze, so groß wie die Katzen auf der Erde, ihren Jungen beim Spiel zu. Ihre großen Ohren, die Zeichnung des Gesichts und die großen, grünen Augen haen etwas Luchsartiges. Ester führte sie an der Seite des Hofs entlang zum andern Ende des kleinen Platzes. Dort betraten sie eine Diele, und | 100 |
man führte ihn in ein großes Badezimmer. Nachdem er die Tür geschlossen hae, benutzte er die Toilee und wusch sich Gesicht und Hände. Die Badewanne reichte bequem für drei Personen und war aus einem einzigen Block glänzendschwarzen Basalts herausgemeißelt. Er ging wieder zu den anderen, die sich ebenfalls gewaschen haen und ihn nun in eine gewaltige Küche führten. Im Herd häe man ein ganzes Kalb rösten können. Allerdings sah er nicht so aus, als benutze man ihn o. An der einen Wand gab es Regale mit Messern, Sägen, Hackmessern und Tischbesteck, an einer anderen waren Geschirr, Töpfe und Kessel untergebracht. Neben dem Waschbecken stand ein mächtiger Hackklotz. In einer Ecke stand ein großer elektrischer Herd, auf dem darüber noch ein Mikrowellenbackofen angebracht war. Dort befanden sich auch eine Spülmaschine, zwei turmhohe Kühlschränke und, mien im Raum, ein riesiger Tisch, an dem gut zwanzig Personen Platz gefunden häen. Es war aber nur für sechs gedeckt. Ester bewegte sich geschäig hin und her und stellte zugedeckte Schüsseln mit Speisen sowie Obstschalen auf den Tisch. Das kleine Mädchen half ihr, aber der Junge stand da und starrte Orme an, bis seine Muer ihn in den Keller schickte. Die Falltür lag in einer anderen Ecke. Er kam eine Minute später mit zwei großen Weinflaschen zurück. Zugleich trat auch das Familienoberhaupt ein, Wang Elkanah Ben-Hebhel. Gulthilo stellte Orme vor, und sie verbeugten sich voreinander. Der Bauer war ganz offen neugierig auf jenes Fabelwesen, den schwarzen Terraner. Auf der Erde häe man das Anstarren unhöflich gefunden, hier aber entsprach es durchaus den guten Manieren. Ben-Hebhel kam gerade von den Feldern, wo er die Gerste inspiziert hae. Jedoch hae er sich eilig gewaschen, seine Arbeitskleidung abgelegt und ein sauberes weißes Gewand angezogen. Sein Hut, der aussah wie ein Cowboy-Sombrero, war ebenfalls weiß. Über den Schultern trug er einen silberfarbenen Gebetsschal, einen Tallith. Der Junge rannte aus dem Zimmer und kam mit Gebetsschals für den Rest der Familie und Orme zurück. Gulthilo sagte: »Ihr gehört unserem Glauben nicht an – noch nicht –, aber der Rat hat auch entschieden, daß ihr mit uns beten | 101 |
dür. Wenn ihr wollt. Nur die Frau, Danton, kann so lange nicht an den Gebeten teilnehmen, wie sie Atheistin bleibt.« »Ich werde sehr gern mit euch beten«, antwortete Orme. Segen und Dank wurden hier jedoch erst nach dem Essen gesprochen. Sie fingen an, die köstliche Gemüsesuppe, das schmackhae Schwarzbrot, den Salat und den Käse zu verzehren. Auf dem Mars war das Miagessen eine leichte Mahlzeit. Weil kein Fleisch auf dem Tisch stand, brauchten sie nicht darauf zu achten, daß es von den Milchprodukten getrennt blieb. Orme mußte eine Menge Fragen beantworten, meistens freilich von den Kindern. Mit Guithilos Unterstützung antwortete er ihnen, so gut er konnte. Einmal zitierte Orme das Neue Testament: »Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.« »So, du kennst also diese Erklärung des Messias«, sagte Wang. »Hast du denn das ›Mahias-Testament‹ gelesen?« Orme erklärte, daß es auf der Erde Testamente anderer Jünger Yeshua gab. Man hae sie in einem Buch gesammelt, das die Fortsetzung eines anderen Buchs war, das die Terraner das Alte Testament nannten, das heilige Buch der alten und der modernen Juden, zugleich auch eines der heiligen Bücher der Christen. Gulthilo sagte: »Ja, wir haben davon gehört. In zwei Wochen soll die erste Folge einer Fernsehserie laufen, in der man uns etwas über die Geschichte der Anhänger des Messias zu der Zeit, nachdem der Prophet Mahias die Erde verlassen hae, berichtet.« Die Informationen für die Verfasser dieser Serie stammten hauptsächlich von Bronski, obwohl Orme soviel beigesteuert hae, wie er konnte. Aber er hae mehr Ärger als Freude daran gehabt, weil er von seiner eigenen Religion so wenig wußte. Der gelehrte Jude hae viel besser Bescheid gewußt als er. »Um wieder auf das ›Mahias-Testament‹ zurückzukommen«, meinte Wang. »Du hast uns nicht gesagt, ob du es nun gelesen hast oder nicht.« »Ich habe ungefähr ein Viertel davon gescha«, antwortete Orme. »Es fällt mir ziemlich schwer, weil mein Krsh noch nicht so flüssig ist, obwohl es eigentlich einfach geschrieben ist. Das grie| 102 |
chische Original kann ich schon gar nicht lesen.« »Und sind nun diese Schreiber des Neuen Testaments, wie du es nennst, derselben Ansicht wie Mahias?« Orme lächelte. »Nun, zu einem großen Teil schon, aber manchmal auch nicht. Zum Beispiel steht bei ihm nichts über die jungfräuliche Geburt oder die Heilige Dreifaltigkeit oder die Abstammung Jesu oder ... da gibt es vieles.« Bronski, der den Mahias inzwischen viermal gelesen hae, hae Orme erzählt, daß alle Bücher des Neuen Testaments erst niedergeschrieben worden waren, als man Jesus schon lange gekreuzigt hae. Und viele, vor allem Markus, Mahäus, Lukas und Johannes, wiesen deutliche Spuren von Bearbeitung auf. Orme hae das bestrien, aber Bronski, dessen Bibelgelehrsamkeit fundiert war, hae ihm jedes Kapitel und jeden Vers der Heiligen Schri und ihrer vielen Kommentare zitiert. »Mahäus, Markus, Lukas und Johannes haen von der jungfräulichen Geburt überhaupt nie etwas gehört. Paulus erwähnt sie an keiner Stelle, und du kannst sicher sein, wenn er eine Ahnung davon gehabt häe, häe er einen langen Kommentar dazu abgegeben. Die Hinweise in den ersten vier Evangelien sind offenkundig spätere Zusätze, ein frommer Betrug. Und aus den ersten vier Evangelien geht auch klar hervor, daß Jesus ein Jude war, der sich als der Messias der Juden betrachtete, als ihr Erlöser ganz allein. Die Ausdehnung des Glaubens auf Nichtjuden war hauptsächlich das Werk von Paulus und Barnabas. Die meisten Juden lehnten Jesus als Messias ab, darum wurde das Gesetz Moses nun in bestimmten Punkten für die Heiden geändert. Dazu gehörten der Verzicht auf die Beschneidung und die Speisenverbote. Auch der Glaube an die jungfräuliche Geburt war unter den Heiden nichts Ungewöhnliches – in ihren Mythen und Legenden kam sie zu Hunderten vor.« »Warum habe ich davon nie etwas gehört?« wollte Orme wissen. »Weil du, wie die meisten Christen, dir gar nicht die Mühe gemacht hast, die vorhandenen Quellen zu lesen. Viele haben das zwar getan, die Feststellungen der Gelehrten aber abgelehnt. | 103 |
Sie kümmern sich einfach nicht darum. Sie glauben blind. Oder sie akzeptieren sie zwar, rationalisieren sie aber und werden verwässerte liberale Christen. Die Fundamentalisten andererseits nehmen alles, was in der Bibel steht, für bare Münze. Es hat also einen Adam und eine Eva und einen Garten Eden gegeben, die Schlange hat Eva dazu verführt, die Fracht der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, und die Schlange wurden dann auch verflucht, verlor ihre Glieder und mußte für alle Ewigkeit auf dem Bauch kriechen. Ha, ha!« Orme war zornig geworden und hae es schließlich aufgegeben, mit Bronski zu diskutieren. Er konnte nicht bestreiten, daß Mahias nichts über die Auferstehung Jesu wußte, obwohl er Gerüchte darüber gehört hae. Und er, der dreizehnte Apostel, hae alle, mit denen Jesus eng verbunden war, gekannt – und keiner davon hae behauptet, er habe den auferstandenen Jesus gesehen. »Darum«, erklärte Bronski, »sind die Berichte darüber in den vier Evangelien Erfindungen, die man hinzugefügt hat. Die Geschichten von Markus, Lukas, Mahäus und Johannes weichen voneinander ab, und die Verteidiger des christlichen Glaubens haben viele Bücher geschrieben, um diese Diskrepanzen zu erklären. Keins davon ist wirklich überzeugend. Es sind vorzügliche Beispiele der Fähigkeit des menschlichen Verstandes, etwas rational darzustellen, und damit hat es sich. Der einzige Schluß, den man daraus ziehen kann ist, daß Jesus nicht auferstanden, sondern in seinem steinernen Grabmal vermodert und zu Staub zerfallen ist. Aber hier haben wir andererseits den unleugbaren Nachweis, daß Jesus, kurz nachdem die Ausschachtungen auf dem Mars anfingen, dort auf einmal auauchte. Er war aber nicht auf dem Krsh-Schiff, als es die Erde verließ, zumindest hae niemand seine Anwesenheit an Bord bemerkt. Und dann, auf einmal, hoppla, war er da! Und Mahias, der ihn gut gekannt hae, erkannte ihn. Damals sagte Jesus, er sei am Kreuz gestorben und in einem Grab beigesetzt worden. Aber anders, als es in den Evangelien steht, berichtete er, einige seiner Jünger häen den Leichnam entfernt und an anderer Stelle neu begraben. Das | 104 |
haben ihre Feinde ihnen übrigens auch vorgeworfen, weißt du. Jedenfalls erklärte dieser Jesus, sein Geist sei gen Himmel gefahren, Go habe ihn jedoch von dort wieder in die diesseitige Welt zurückgesandt, aber nicht auf die Erde. Go hat Jesus nämlich mitgeteilt, er, Jesus, habe ihn in Hinsicht auf den Sinn und den Verlauf seiner Kreuzigung mißverstanden. Er wurde in einem neuen Körper, der genauso aussah wie der alte, zum Mars geschickt, um dort über sein Volk zu herrschen und es auf seine Rolle bei der Gründung eines neuen Zion auf Erden vorzubereiten. Was hältst du davon?« Betäubt konnte Orme nur erwidern, daß er dazu im Augenblick gar nichts sagen könnte. Nur daß die Sache seiner Ansicht nach ziemlich sauer und nach faulen Fischen rieche. »Der Fisch war das Symbol der frühen Christen«, sagte Bronski trocken. Orme fragte ihn nicht, was er damit meinte. Inzwischen las er das Testament des Mahias, so schnell seine Kenntnisse es ihm erlaubten. Bisher hae er es erst bis zu der Stelle gescha, an der Mahias und seine Gefährten in Libyen an der Pest erkrankten und beteten, daß die göliche Macht sie von dem Übel erlösen möge wie einst das auserwählte Volk zu Moses Zeiten. Der Rest der Mahlzeit verging mit Wangs Scherzen. Er schien ein großer Geschichtenerzähler zu sein, und Orme häe bequem den Tag dort zubringen und mit ihm Anekdoten austauschen können. Jedoch waren Wangs Histörchen nie schlüpfrig, denn das war verboten. Endlich aber erklärte Wang, er müsse nun wieder an die Arbeit, und Gulthilo mußte mit ihrem Unterricht anfangen. Orme dankte ihnen für das Essen und stieg ins Auto, während die anderen auf der Veranda vor dem Haus standen, sich von ihm verabschiedeten und ihn aufforderten wiederzukommen. Bevor er losfahren konnte, lief die blonde Frau von der Veranda zu ihm hinunter. Sie lehnte sich über den Sitz und berührte sein Handgelenk. »Vielleicht sollten wir uns besser nicht wiedersehen«, sagte sie. | 105 |
»Aber ich würde mich trotzdem darüber freuen. Wenn du wieder hier entlangkommst, frag im Dorf Nod nach mir. Oder du kannst mich über den Fernseher anrufen.« »Das würde ich gern tun, aber ich weiß nicht recht – die Behörden könnten sich einmischen. Und was würde deine Familie tun, wenn sie glaubte, ich liefe dir nach?« »Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es soweit ist«, antwortete sie. Sie zog ihre Hand zurück und hinterließ eine warme, prikkelnde Stelle auf seinem Gelenk. »Es liegt an dir. Ich bin ohnehin schon zu vorwitzig gewesen.« Er fuhr ab, ohne sich noch einmal umzusehen. Es war ein schönes Erlebnis gewesen, das viel dazu beigetragen hae – auch wenn es nur kurze Zeit gedauert hae –, ihm seine Einsamkeit leichter zu machen. Wenn er nicht mit Philemon und den anderen Athleten zusammen war, hae er immer das Gefühl, tatsächlich ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein. Wie hieß es doch? »Ein Fremder im fremden Land.« Die Gastlichkeit und echte Freundlichkeit der Familie, die Anziehungskra, die er auf Gulthilo ausübte, sie gaben ihm ein warmes Gefühl, das Gefühl einer gewissen Sicherheit. Aber, mahnte er sich selbst zur Vorsicht, das waren Illusionen. Es war gefährlich, die blonde Frau wiederzusehen, und die Ben-Hebhels haen ihren Gast willkommen geheißen, weil es ihnen wahrscheinlich ihr Gesetz gebot. Nein, das war nicht fair. Sie haen ihn nicht mit der höflichen Förmlichkeit aufgenommen, die korrekte Manieren von ihnen verlangten. Sie schienen wirkliches Interesse für ihn zu hegen. Natürlich konnte das daran liegen, daß er eine Kuriosität war, etwas, über das sie mit ihren Freunden reden konnten, ein Gesprächsthema. Solange es dafür keinen Beweis gab, erklärte er sich selbst, waren das doch schon wieder Wahnvorstellungen. Warum sollte er sie nicht so nehmen, wie sie sich gaben, solange er keinen Beweis für ihre Unaufrichtigkeit hae? Wang hae ihm eine Flasche Wein geschenkt. Ab und zu trank | 106 |
er daraus, so daß er einigermaßen betrunken war, als er an der Höhlenwand ankam. Die Unsinnigkeit dieses Zustands war ihm selbst durchaus klar. Er brauchte seinen ganzen Verstand, wenn er die Tunneleingänge zu finden versuchte. In diesem Augenblick begriff er, daß er trank, weil er nicht wirklich an das Gelingen seines Versuchs glaubte. Sie – die Gegner – verhielten sich zu gleichgültig. Sie kümmerten sich nicht darum, ob er ein Auto nahm und in der Gegend herumfuhr und tat, was er wollte, und schließlich den Eingang fand. Sie wußten, wo er sich auielt. Wenn sie nur wollten, konnten sie ihn jederzeit stoppen. Als er mit der Flasche fertig war, fühlte er sich keineswegs kühn und in Hochstimmung, sondern hae Angst. Er war ein Idiot, sich vorzustellen, er könne einfach flo an den Fluchtweg heranfahren und dann abhauen. Kein intelligentes Volk – und die Marsianer waren intelligent, auch wenn sie ein paar abseitige religiöse Ansichten haen – würde den Weg an die Oberfläche ohne Bewachung lassen. Vielleicht haen sie es aber auch getan, weil er, endlich oben angekommen, sowieso feststellen würde, daß die Landefähre nicht mehr gebrauchsfähig war. Oder gar nicht mehr da. Trotzdem fuhr er die vielfach gewundene Straße zur Kuppel, die er von unten gesehen hae, hinauf. Zum Teufel noch mal – er konnte es doch versuchen! Vor ihm befand sich eine Metalltür, genauer gesagt, es waren zwei Türen in die Höhlenwand eingefügt. Zur Rechten lag die Halbkugel und glänzte im abnehmenden Licht des Spätnachmiags. Niemand war zu sehen. Sie fühlten sich so sicher, daß sie nicht einmal Posten aufgestellt haen! Er hielt das Auto an und drückte auf den Ausschaltknopf. Eine Minute saß er lauschend da und ließ seine Blicke umherschweifen, um jeden Eindruck aufzunehmen. Einmal drehte er sich um und schaute zurück. Niemand kam hinter ihm die Straße hoch. Das einzige Fahrzeug in Sichtweite war ein großer Pferdewagen, eine halbe Meile weiter, hochbeladen mit irgend etwas Strohähnlichem. Wahrscheinlich ein Bauer, der eine Fuhre Pflanzen irgendwohin beförderte. | 107 |
Hier oben war es sehr still. Eine leichte Brise, ein nicht ungewöhnlicher Windhauch aus der Klimaanlage dieser gewaltigen Höhle, strich über sein Gesicht. Hier und da funkelten Sonnenstrahlen, brachen sich an weißen Häusern und Vorratskuppeln, in einem Bach oder einem Flüßchen und einmal in einem heigen Blitz wie von einem Spiegel. Ein Rothirsch trabte nahe der Wand aus einem dichten Wald hervor, sah sich um und verschwand wieder unter den Bäumen. Es war alles sehr ruhig und ländlich. Und doch war es eine Zeitbombe, die da tickte – sie konnte auf der Erde explodieren. Vielleicht. Was planten die Marsianer? Orme stieg aus dem Auto und ging zu der Kuppel hinüber. Die großen Fenster waren offen, die Tür stand angelehnt. Kein Geräusch kam aus dem Inneren. Aber als er durch das Fenster schaute, sah er an einem Schreibtisch einen männlichen Krsh sitzen. Er schrieb mit einer Feder. Der Krsh blickte auf, als häe er Orme gehört, obwohl dieser keinerlei Geräusch gemacht hae. »Komm herein, Richard«, sagte Hfathon. »Ich habe auf dich gewartet.«
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it heig klopfendem Herzen trat Orme ein. Er setzte sich auf den Stuhl, den der Krsh ihm zeigte. Hfathon lehnte sich zurück und lächelte ihn über den Schreibtisch hinweg an. Orme fand, er sähe ungemein selbstzufrieden aus. Hfathon deutete mit der Hand auf eine Instrumententafel an der Wand. »Mit diesem Ding öffnet man das Tunneltor. Wahrscheinlich häest du herausgefunden, wie man es bedient. Und dann? Du häest im Gebäude der Zentralregierung und im Tunnelsystem selbst Alarm ausgelöst. Dort sind rund um die Uhr Leute stationiert. Aber auch wenn sie nicht dort wären, könntest du innen ohne ein kodiertes Schallgerät und die Hilfe von zwei menschlichen Wächtern im Regierungsgebäude nie mehr als eine einzige Tür auekommen.« Orme zuckte die Schultern. »Ich mußte es eben versuchen.« »Natürlich. Sehr lobenswert. Es war deine Pflicht, einen Versuch zu unternehmen. Aber ich bin erstaunt und enäuscht, daß deinen Kollegen dein Mut und deine Entschlossenheit fehlen.« »Sie halten eine Flucht für unmöglich. Darum habe ich sie an der Sache nicht beteiligt. Außerdem sind sie von ihren Studien so fasziniert, daß ich gar nicht glaube, daß sie wirklich wegwollen. Obwohl es ihre Pflicht ist, zur Erde zurückzukehren, wenn sie können.« »Dennoch«, sagte Hfathon, »von einer anderen Warte aus solltet ihr eure Pflicht eurem Sta gegenüber gerade nicht erfüllen, wenn sie nämlich bedeutet, daß ihr dem Guten das Böse vorzieht. Es gibt jemanden, der über den Staaten und der ganzen Welt steht. Daran häest du denken sollen. Dann häest du selbst festgestellt, daß man die Söhne des Lichts lieber haben muß als die Söhne der Finsternis. Du häest ihnen Treue geschworen. Besser gesagt, du würdest es tun, wenn du sehen könntest, daß die meisten Erdbewohner zu den Söhnen der Finsternis gehören. Darum ...« »Wieso sollte ich das denken?« fauchte Orme. Hfathon erwiderte ruhig: »Es ist offenkundig. Du und deine | 109 |
Gefährten haben uns eine Menge über die Verhältnisse auf der Erde erzählt. Es ist nicht zu übersehen, daß es dort von Ungerechtigkeit, Elend, Armut, Mord, allen erdenklichen Verbrechen und vor allem auch von Haß und Gemeinheit nur so wimmelt. Ihr habt die Miel, die Erde zu einem Paradies zu machen, aber ihr pervertiert diese Miel.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich gehe natürlich davon aus, daß ihr uns die Wahrheit gesagt habt. Ich wüßte auch keinen Grund, warum ihr absichtlich ein so schwarzes Bild gemalt haben solltet. Sei ehrlich zu mir: Ist es hier nicht bei weitem besser als alles, was du von der Erde kennst?« »Ja«, erwiderte Orme. »Ich gebe zu, daß alles, was ich hier bisher gesehen habe, unvergleichlich viel besser ist. Aber ihr habt auch nur eine kleine Gesellscha hier und unterliegt nicht den vielen Einflüssen der Erde. Ich will damit sagen, daß ihr homogen seid. Ihr habt keine Vielzahl von Rassen, Nationen, Sprachen und untereinander verschiedene Ideologien und Religionen. Ihr habt auch nicht die tausend Traditionen, die dort so hart aufeinanderprallen, und die vielen Konflikte unter den Klassen, Rassen und politischen Systemen. Ihr habt sie ausgemerzt, als ihr euch zu einer einzigen politisch-religiös-wirtschalichen Einheit zusammenschloßt. Ihr habt eine Tradition herausgenommen und sie ohne Einmischung anderer weiterentwickelt. Das habt ihr schon vor langer Zeit getan. Außerdem haet ihr eine überlegene Wissenscha und Technik, die es euch möglich machten, eurem Volk die Vorteile zu bieten, die uns auf der Erde damals noch fehlten.« »Das ist wahr«, sagte Hfathon. »Nun ja ... wir könnten euch an den Fortschrien, die euch jetzt noch fehlen, teilhaben lassen. Aber nicht in Form von Geschenken, die ihr unweigerlich verderben würdet.« »Ich häe gern einen Schluck Wasser.« Hfathon erhob sich mit den Worten: »Laß es mich für dich holen. Ich bin dein Gastgeber, auch wenn ich dich nicht hierher eingeladen haben.« Er ging in den Nebenraum und kam mit einem hohen Glas in | 110 |
der Hand zurück. »Hier. Das ist viel besser für dich als der Wein, von dem du heute so unmäßig getrunken hast.« Orme trank und gab dann das Glas zurück: »Danke. Na gut, ich habe mich betrunken. Der Druck war entsprechend. Und immerhin war ich für kurze Zeit frei – das wollte ich gern feiern.« »Du warst insofern nie frei, als man dich laufend überwachte und du keine Chance zur Flucht haest. Genauso, wie du eigentlich überhaupt nie wirklich frei gewesen bist. Der einzige echte Freie ist der, der sich selbst vom Bösen befreit hat. Der Halbfreie ist der, der noch darum kämp.« »Verschone mich mit diesen Gemeinplätzen.« »Vielleicht hast du recht. Es sind die Beispiele, nicht die Worte, die den besten Erfolg bringen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Komm, wir kehren um. Ich fahre.« Orme folgte ihm und überlegte, wie der Krsh hierhergekommen sein mochte. Es war kein anderes Fahrzeug in Sicht. Entweder hae jemand ihn hergefahren, oder neben dem unterirdischen Güterbeförderungssystem gab es auch eines für Personen. Als das Fahrzeug die Straße hinunterzurollen begann, fragte er: »Ich nehme an, ihr habt alles gesehen?« »Nein«, sagte Hfathon, sah ihn von der Seite an und lächelte. »Wir haben dich nicht gesehen, als du in dem Haus warst. Und wir haben dich auch nicht beobachtet, als du mit dieser Frau, Gulthilo bat-Yishaq, unter dem Baum angehalten hast. Was habt ihr beiden übrigens dort gemacht?« »Das ist unsere Sache«, erwiderte Orme. »Kein Zweifel, sofern euer Gewissen damit fertig wird.« »Wir haben nichts Schlimmes getan«, entgegnete Orme zornig. »Vielleicht nicht aus eurer Sicht. Aber das ist unwichtig – vorläufig. Lassen wir das. Richard, ich weiß, daß du und deine Kameraden beunruhigt sind, weil wir euch nicht erlaubt haben, mit der Erde Kontakt aufzunehmen.« »Beunruhigt? Empört!« »Verständlich. Aber, verstehst du, wir wollten nicht, daß ihr über uns berichtetet, solange der Bericht nicht wirklich umfassend sein konnte. Ihr müßt uns erst richtig verstehen, uns ganz und | 111 |
gar kennengelernt haben, ehe ihr uns schildern dür. Das erfordert Zeit. Wenn ihr jetzt anderen von uns erzähltet, wären das nur halbe Wahrheiten, falsche Eindrücke. Wir möchten aber, daß die Erde genau versteht, wer und was wir sind. Tatsächlich würde man im jetzigen Stadium Botschaen, die ihr sendet, wahrscheinlich gar nicht glauben. Aber wenn ihr in zwölf Tagen euren Bericht abgebt, könnt ihr bestätigen, daß alles wahr ist. Aber nicht nur durch eure Worte allein.« Langsam fragte Orme: »Was ist alles wahr?« »Was ihr in sieben Tagen sehen werdet. Ihr werdet nicht daran zweifeln. Und ich hoffe, euer Volk auf der Erde wird es auch nicht. Dennoch, vielleicht brauchen sie mehr ... nun gut, wir wollen daran nicht denken.« Hfathon machte einen geradezu verzückten Eindruck. Nach einer Weile fing er sogar an, ein Lied zu summen, das Orme schon auf der Straße und einmal von Philemon gehört hae. »Ich freue mich, daß du glücklich bist«, sagte Orme. »Ich meinerseits bin nur verwirrt und weiß nicht, was los ist.« »Das wird sich ändern«, gab Hfathon zurück und lachte. »Zum Besseren, hoffe ich«, erwiderte Orme finster. »Dein Leben hängt davon ab.« Orme fragte ihn nicht, was er damit meinte. Er hae es sa, daß man seinen Fragen immer wieder auswich, woran seine Entführer offenbar so großen Spaß haen. Kurz bevor sie in den inneren Bezirk kamen, summte Hfathons Armbandchronometer. Er sprach hinein und hielt ihn dann ans Ohr. Er runzelte die Stirn, sagte ein paar leise Worte und wandte sich dann Orme zu. »Bei Madeleine Danton hat man eben gerade Leberkrebs entdeckt. « Orme empfand einen Schock. Einen Augenblick blieb ihm die Sprache weg. »Die Untersuchungen, mit denen wir vor zwei Tagen angefangen haen, haben es gerade nachgewiesen«, erklärte der Krsh. »Aber sie war nachweislich völlig gesund, als wir abreisten! Und glaub mir, man hat uns alle mehr als gründlich untersucht.« | 112 |
Hfathon zuckte die Achseln. »Vielleicht war die Geschwulst noch so klein, daß eure Instrumente sie nicht feststellen konnten. Vielleicht hat sie sich auch erst danach gebildet. Jedenfalls ist Danton jetzt in unserem Hauptkrankenhaus. Sie wurde sofort dorthin gebracht, als die Ärzte den Krebs fanden.« »Arme Madeleine«, sagte Orme. Und dann: »Wer häe gedacht, daß man auf dem Mars Krebs bekommen kann?« »Kein Grund zur Sorge«, antwortete der Krsh. »Niemand stirbt heute noch daran.« Weil Orme darauf bestand, fuhr Hfathon mit ihm zum Krankenhaus, einem kleinen, einstöckigen Gebäude in der Nähe des Hauptverwaltungsbaus. Die geringe Größe war jedoch nur äußerer Schein. Es gab zehn unterirdische Etagen; Danton lag in der sechsten. Als Orme an den Fenstern vorbeikam, wurde ihm klar, daß es hier kein Gefühl des Lebendigbegrabenseins für Personal und Patienten gab. Alle Fenster zeigten Darstellungen von ländlicher Schönheit: Bäume, Vögel, Hirsche, die auf Wiesen ästen, Kinder, die in der Ferne spielten. Die Pseudoszenen wirkten vollkommen echt. Er fand Shirazi und Bronski in einem Wartezimmer. Die beiden standen auf, als er eintrat, machten aber keine sonderlich betrübten Gesichter. Shirazi lächelte sogar. »Ich hab’s gerade gehört«, erklärte Orme. »Wie geht es Madeleine?« »Madeleine geht’s prima«, antwortete Nadir. »In ein paar Minuten kommt sie raus. Die Behandlung ist kurz, aber anstrengend, darum muß sie noch ruhen.« »Soll das heißen, daß alles schon vorbei ist? Diagnose und Therapie, alles erledigt? Wie?« Nadir erläuterte: »Ich kann es auch kaum glauben. Aber die Ärzte haben mir versichert, daß sie wieder ganz in Ordnung ist. Außerdem kommt der Krebs nicht wieder.« Bronski sagte: »Mir hat man es an der Universität erzählt. Sie meinten, ich sollte Bescheid wissen, aber sie häen es mir genausogut hinterher sagen können.« »Es hat dich doch nicht gestört, daß du unterbrochen wur| 113 |
dest?« erkundigte sich Orme sarkastisch. »Natürlich nicht. Was ich weniger gut finde, ist, daß sie uns wahrscheinlich alle hierhergeholt haben, um Eindruck auf uns zu machen. Sie wollen uns zeigen, wie überlegen ihre medizinische Forschung ist. Damit wir noch etwas haben, das wir nach der Erde berichten können.« »Moment mal«, sagte Orme. »Hat man dir das auch gesagt? Daß wir in zwölf Tagen Kontakt mit zu Hause aufnehmen können?« »Ja. Trrwangon – das ist meine Mentorin – hat es mir heute erzählt, kurz bevor ich die Sache mit Madeleine erfuhr.« »Der Rat«, erklärte Hfathon, »hat beschlossen, daß ihr euch weniger Sorgen machen würdet, wenn ihr wüßtet, daß ihr nicht mehr lange zu warten braucht. Außerdem könnt ihr schon anfangen, euren Bericht vorzubereiten, zumindest den ersten Teil. Den zweiten Teil werdet ihr nach dem achten Tag, von heute an gerechnet, verfassen. Beide werden dann zusammen gesendet. « »Das ist ja großartig«, sagte Orme. »Hoffentlich jedenfalls. Offen gesagt habe ich den Eindruck, ihr habt irgend etwas vor, das uns gar nicht gefällt.« Hfathon lächelte. Nadir Shirazi bemerkte: »Mir kommt es unmenschlich vor – wenn ich das so sagen darf –, daß diese wunderbaren Heilungen der Erde nicht mitgeteilt werden. Wenn man sie sofort weitergäbe, könnte das die Lebensreung für Millionen bedeuten, und viel Leid würde gelindert.« »Das bezweifle ich«, meinte Hfathon. »Nach dem, was ihr uns erzählt habt, würde es mehrere Jahre dauern, bis eure Regierung die Anwendung unserer Drogen zulassen würde, selbst wenn wir euren Wissenschalern sofort alle Informationen gäben. Zuerst müßten die Daten geprü werden. Dann würde man Tierversuche machen. Dann müßten die Gesetzgeber entscheiden, ob die Medikamente verschrieben werden düren. Natürlich würden sie zum Schluß einwilligen, weil die Menschen es fordern würden. Aber der ganze Prozeß würde mindestens vier bis sechs Jahre in Anspruch nehmen. Habe ich recht?« »Ich fürchte ja«, antwortete Orme. | 114 |
»Und selbst wenn – oder ich sollte besser sagen, falls – wir euch die Formeln und Resultate aus zweitausend Jahren geben würden und die Ergebnisse eindeutig nachwiesen, daß der Heilerfolg konstant bei hundert Prozent liegt: Eure Regierung würde trotzdem eine eigene, unabhängige Nachprüfung verlangen, nicht wahr?« »Richtig.« »Warum eilt es dann so?« »Wir haben nur an all die Leute gedacht, die man reen könnte«, erklärte Shirazi. »Ganz zu schweigen«, fügte Orme hinzu, »von der Langlebigkeitsbehandlung. Je später sie zur Erde gelangt, desto mehr Leute sterben an Altersleiden.« »Auch wahr. Aber es läßt sich nicht ändern. Falls wir euch die altershemmenden Formeln überlassen, tun wir das nur unter gewissen strengen Bedingungen. Die demokratisch-sozialistischen Länder müssen jeden Menschen, ohne Ausnahme, auf Staatskosten behandeln. Es darf nicht vorkommen, daß man das Miel verkau, um Gewinne zu erzielen und es damit nur dem zugänglich macht, der das Geld dazu hat. Die kommunistischen Länder müssen genauso verfahren. Sie dürfen auch keine politischen Gefangenen von der Behandlung ausschließen. Außerdem werden wir, um alles das sicherzustellen, in jedem Land Verwaltungsstellen einrichten. Sie werden so organisiert sein, daß die Regierung sie in keiner Weise beeinflussen kann.« Orme sah Bronski und Shirazi an. Jeder wußte, was der andere dachte. Es war möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß ihre eigenen Länder etwas Derartiges zulassen würden. Sie würden sich zuerst sperren. Wenn aber die Bevölkerung erfuhr, daß es eine solche Behandlung gab, würde sie ungeheuren Druck ausüben. Selbst dann aber würden die Regierungen versuchen, die Sache in irgendeiner Form unter Kontrolle zu halten. Was die kommunistischen Staaten betraf, so würden sie nicht gestaen, daß eine so große Zahl von Fremden, wie die Verwaltung es erforderte, sich im Land auielt. Sie würden sie für Spione halten und fürchten, daß die Bevölkerung bei der Behandlung antikommunistisches Gedankengut aufnehmen könnte. | 115 |
Aber könnten sie sich gegen das Verlangen ihrer Bürger stellen, wenn diese erst herausfanden, daß man ihnen die Verlängerung ihres eigenen Lebens verweigerte? Würde das nicht zu Aufruhr, ja zu Revolutionen führen? So oder so, der Umbruch wäre gewaltig. In keinem Land würden die Dinge so bleiben wie bisher, ganz unabhängig von der Ideologie. Die Marsianer verfügten über eine furchtbare Waffe. Sie konnten in gewisser Weise die Erde in die Lu sprengen, ohne einen einzigen Schuß abzugeben. Tatsächlich würden sie ihren Krieg unter dem Vorwand führen, den Menschen große Wohltaten zu bringen. Die Lebensverlängerung war nur eine Waffe. Die Abschaffung von Krankheiten war eine zweite. Trotzdem hae Orme das Gefühl, daß das noch gar nichts war im Vergleich zu etwas anderem, das die Marsianer ihnen noch gar nicht ganz gezeigt haen. Er hae den Verdacht, daß er bald alles darüber erfahren würde. Als Christ häe er den siebten Tag von heute an in Verzückung erwarten sollen. Sta dessen zierte er vor Angst – Angst, die eine Art Vorahnung von etwas Entsetzlichem war.
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fathon hae ihnen mitgeteilt, sie könnten ein vierstündiges »Programm« zusammenstellen. Es bleibe ihnen überlassen, zu sagen und zu zeigen, was sie wollten. Eine Zensur fände nicht sta, es sei denn, ihre Angaben seien irrig oder direkte Lügen. In solchen Fällen würden ihre »Gastgeber«, wie Hfathon die Marsianer bezeichnete, sie au lären, damit sie die Wahrheit sagen könnten. Herausgeschnien würde jedoch nichts. Die Sache war nicht so leicht, wie die vier geglaubt haen. Es war schwierig, eine ausgeglichene »Sendung« zu erarbeiten, weil jeder von ihnen soviel wie möglich aus seinem persönlichen Spezialgebiet zeigen wollte. Nach eintägiger Diskussion einigten sie sich, wenn auch ungern, darauf, daß jeder den von ihm gestalteten Teil des Programms kürzen mußte. »Was jetzt am wichtigsten ist, sind die Marsianer selbst«, meinte Orme. »Ihre Geschichte, die Herkun der Krsh eingeschlossen. Wie sie es schaen zu überleben und der jetzige Stand ihrer Gesellscha. Das wird unsere Leute am meisten interessieren. Die genauen Einzelheiten ihrer verschiedenen Wissenschaen können später folgen. Außerdem, wenn wir uns diese Sache mal näher betrachten: Wir haben überhaupt keine Informationen über den wirklich wichtigen wissenschalich-technischen Kram. Offensichtlich ist das hier ja auch erst eine Einführung, eine Zusammenfassung unserer Erlebnisse. Und wieviel davon läßt sich in vier Stunden erzählen? Wir müssen derart raffen, dürfen nur die Oberfläche berühren, daß die Leute zu Hause schon dadurch total verwirrt sein werden. Nach den ersten zehn Minuten sind sie so erschlagen, daß sie die restlichen 230 Minuten gar nicht kapieren.« »Außerdem«, ergänzte Madeleine Danton, »wissen wir ja auch nicht, wieviel von dem, was wir jetzt zusammenstellen, wirklich gezeigt werden wird. Wir müssen noch Zeit übrigbehalten für das, was in sechs Tagen passiert.« Sie sah zwar durchaus gesund aus, schlief aber offensichtlich nicht gut. Die plötzliche Entdeckung des Krebses und seine ebenso | 117 |
schnelle wie unerwartete Heilung haen sie erschüert. Orme hae allerdings den Verdacht, daß das nicht der Hauptgrund ihrer Schlaflosigkeit war. Das bevorstehende Ereignis, die Ankun des Messias, verstörte sie zutiefst. Sie konnte einfach nicht glauben, was die Marsianer ihr über ihn erzählt haen. Und trotzdem konnte sie nach dem, was sie hier schon erlebt hae, auch nicht glauben, daß die Marsianer logen. Es war seltsam, dachte Orme, daß ihn die gleiche Angst bedrückte wie sie. Sie war Atheistin, so daß man erwarten konnte, daß ihre Gefühle sich in Aufruhr befanden, vor allem, wenn man berücksichtigte, daß sie eine fromme Erziehung genossen hae. Die in der Kindheit anerzogenen Reflexe drangen durch die dunklen Schichten nach oben. Die religiöse Erziehung hae sich nicht in nichts aufgelöst – so etwas blieb immer. Aber er ... er war in eine Familie baptistischer Fundamentalisten hineingeboren und auch entsprechend erzogen worden. Für sie war alles, was in der Bibel stand, buchstäblich wahr. Orme versuchte sich an alles zu erinnern, was er aus der Bibel über Jesus wußte, Jesus Christus war von einer Jungfrau geboren und am Kreuz gestorben. Er hae für die Sünden der Menschen gebüßt und ihnen Erlösung verheißen, Auferstehung und Unsterblichkeit im Himmel, sofern sie daran glaubten, daß er Goes Sohn war und zugleich Go selbst, sofern sie den Geboten folgten, an bestimmte Dogmen glaubten und spirituell »wiedergeboren« wurden. Trotz gewisser früherer Überzeugungen und Zweifel hae Orme an alles das geglaubt, bis er auf die Oberschule kam. Von da ab haen ihn die überwältigenden Beweise einer Evolution und des Jahrmilliardenalters der Erde sowie eine Menge anderer Dinge dazu gebracht, vom Fundamentalismus Abschied zu nehmen, allerdings nicht vom Glauben an die Gnade Goes. Obwohl er nicht mehr daran glaubte, daß man das Alte Testament wörtlich nehmen mußte, so nahm er doch an, daß die im Neuen Testament dargestellten Ereignisse sich in etwa so abgespielt haen. Seine Eltern waren über diese neue Einstellung entsetzt. Sie glaubten, er käme in die Hölle, wenn er nicht zur Wahr| 118 |
heit zurückkehrte. Obwohl ihm das Kummer bereitete, hielt er sich weiter an sein etwas freieres Christentum. Er glaubte nicht mehr daran, daß er in eine Hölle voller Feuer, Pech und Schwefel, voll von ewiger, körperlicher Pein, kommen würde, wenn er nicht von jedem einzelnen Buchstaben des Alten Testaments überzeugt war. Vielleicht kam er in die Hölle, aber es würde eine geistige Hölle sein – die furchtbare Erkenntnis, für immer von Go getrennt zu sein. Außerdem tat er manches, von dem er wußte, daß es sich nicht gehörte. Gelegentlich trank er zuviel, und er schlief mit Mädchen, bevor er verheiratet war. Aber nachdem er eine Frau genommen hae, blieb er ihr treu, obwohl es nicht einfach war. Die Scheidung war vernichtend für ihn gewesen. Hae Christus nicht gesagt, der einzige Scheidungsgrund sei Untreue? Aber er lebte in einer Gesellscha, in der eine Scheidung fast so einfach war wie eine Hochzeit. Jedenfalls hae er die Scheidung nicht gewollt. Aber Widerstand vor Gericht wäre zwecklos gewesen. Und da war er nun, ein Mensch, der jeden Abend und manchmal auch am Tage zu Go und Goes Sohn betete und der hoe, den Sohn eines Tages von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Wenn man den Marsianern glauben konnte, würde er schon bald dem lebendigen Jesus gegenüberstehen. Warum also diese bebende Unrast, das Herzklopfen, die Magenbeschwerden und der Drang fortzulaufen? Lag es daran, daß er sich würde entscheiden müssen, ob dieser der wahre Christus war oder nicht? Er hielt sich nicht für fähig, ein derartiges Urteil abzugeben, obwohl es in der Bibel bestimmt genügend Hinweise gab, wie man das Echte vom Falschen zu trennen hae. Aber da waren eben die Marsianer, die sagten, Jesus lebe bei ihnen, obwohl er sich meistens in dem Globus auielte, der ihnen die Sonne ersetzte. Sie erklärten, für ihre Behauptungen unwiderlegbare Beweise zu haben. Aber nach dem, was Mahias sagte, der Jesus in Palästina und auf dem Mars gekannt hae, war er nur ein Mensch, obwohl in gewisser Weise mehr als das, denn er war ja der Messias. Mahias hae zu den Purishim, den »Separatisten« der Phari| 119 |
säer, gehört. Jesus hae die Pharisäer und ihre Gegenspieler, die Sadduzäer, verflucht. Aber die Verfluchung der Pharisäer hae nur den Heuchlern unter ihnen gegolten. Anders als ihre Rivalen, die Sadduzäer, glaubten sie an die Auferstehung und die Engel, an die auch Jesus glaubte. Und obwohl sie rigoroser waren als er, räumten auch sie ein, daß die Gesetze Moses sich der Entwicklung anpassen mußten. Sie folgten ihnen nicht blindlings, wenn sie sich gegen Vernun oder Gewissen richteten. Als die Pharisäer Jesus vorwarfen, den Sabbat gebrochen, sich mit Zöllnern und anderen Sündern zum Essen gesetzt oder vor einer Mahlzeit seine Hände nicht gewaschen zu haben, hae er geantwortet: »Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.« Mit diesem Grundsatz häen sich zumindest theoretisch die Pharisäer einverstanden erklären können. Ihre Antwort an Jesus war im Neuen Testament nicht verzeichnet, aber Mahias sagte, im Lauf der Zeit häen viele von denen, die ihn fragten, sich seiner Ansicht über diesen Punkt angeschlossen. Die Pharisäer sorgten sich aber auch sehr um die Erlösung. Nicht allein um die der Juden, sondern die Erlösung der gesamten Menschheit. Eines Tages, so glaubten sie, würden alle Nichtjuden das Gesetz annehmen und nur einen Go haben, nämlich das Gesetz des Moses und den Go Jahweh. Das jüdische Volk würde an erster Stelle stehen, wie ein älterer und weiserer Bruder. Außerdem glaubten die Pharisäer im Unterschied zu den anderen Sekten daran, daß man unbedingt missionieren, und die Heiden zum Judentum bekehren müßte. Jesus, obwohl kein Pharisäer, stimmte mit vielen ihrer Lehren und Bräuche überein. Ein Zeitlang war er, so Mahias, Essener gewesen, hae die Gemeinde beim Qumran aber als zu radikal empfunden. Ihnen fehlte die Menschlichkeit jener, die die Kinder Adams und Evas wahrha liebten. Also hae er sie verlassen. Orme, der Mahias’ Buch nicht so schnell lesen konnte, daß er vor dem bevorstehenden großen Ereignis damit fertig war, hae darauf bestanden, daß Bronski es ihm laut vorlas. Der Franzose hae das auch getan, obwohl er ab und zu innehielt, um schwierige Stellen zu erklären. | 120 |
Als sie am Ende angekommen waren, hae Orme den Kopf geschüelt und gesagt: »Jetzt bin ich völlig durcheinander. Mahias war ein Jünger und Apostel, der Jesus genau kannte und ihn durch ganz Palästina begleitet hat. Was er sagt, müßte eigentlich alles stimmen, weil man an seinem Bericht nichts verändert hat. Er erzählt nichts von der jungfräulichen Geburt und kennt auch die Lehre nicht, daß Christi Tod die Sühne für die Sünden der Menschheit und damit ihr Weg zur Erlösung sei. Er sagt nichts über die Wunder, die die Verfasser der Bibel Christus zuschreiben. Er erwähnt nur, daß er Geschichten von solchen Wundern gehört hat, nachdem Jesus gestorben war. Aber er bestreitet sie, weil er weiß, daß sie nicht wahr sind. Sein Bericht über das Verhör vor Pilatus unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Schilderung in den Evangelien. Und er war dabei! Er sagt, Pilatus habe seine Hände nicht in Unschuld gewaschen ...« »Das war eine Rekonstruktion späterer Autoren«, bemerkte Bronski, »die alle Schuld den Juden auferlegen wollten. Und zwar denjenigen Juden, die sich weigerten, ihn als Messias und als jungfräulich gezeugten Nachkommen von Go und Maria anzuerkennen.« »Ja, ja, ich weiß schon. Keine Wunder, solange Jesus auf der Erde war. Aber als sie gezwungen sind, auf dem Mars zu landen und sich dort einzubuddeln – da erscheint dann Jesus, und Mahias erkennt ihn auch sofort wieder. Und dann vollbringt Jesus ein paar Wunder. Dann ...« »Das«, meinte Bronski, »erklärt, weshalb die Krsh das Judentum annahmen.« »Ohne genau nachprüaren, wissenschalichen Beweis würden sie es nicht getan haben«, erwiderte Orme. »Was soll ich nun davon halten?« »Warte ab und schau, was passiert.« »Du scheinst auf alles gefaßt zu sein«, sagte Shirazi. Sein Ton klang ein wenig verächtlich. Vor drei Wochen hae Bronski aufgehört, sich zu rasieren. Außerdem ließ er sich Schläfenlocken wachsen. Sta zur gleichen Zeit wie Orme schlafen zu gehen, saß er noch lange im Wohnzim| 121 |
mer und las die fünf Bücher Moses in Hebräisch, in einer Ausgabe, die direkt auf das Exemplar zurückging, das Mahias von der Erde mitgebracht hae. Orme hae ihn gefragt, warum er das alles tat. »Hier ist nicht Palästina, und ich bin auch nicht zu den Sien meiner Vorväter zurückgekehrt. Noch nicht. Noch bin ich nichts weiter als ein Agnostiker. Aber ... nun ja ... ich habe so ein merkwürdiges Gefühl – als sei ich nach einer langen, schmerzlichen Reise heimgekehrt. Heim! Auf den Mars! Ich kann es mir selbst noch nicht erklären. Vielleicht werde ich es nie können. Und trotzdem ... es geht mir wie Ruth, die im Korn der Fremden stand – und das Korn sieht gar nicht so fremd aus.« »Paß nur auf, daß du nicht zu sentimental wirst«, sagte Orme. »Du hast recht. Vielleicht ist es mein Stolz, vielleicht bin ich nur nicht bereit, einen Irrtum zuzugeben und mein Bild von mir selbst kapuzumachen – sonst häe ich vielleicht den letzten Schri schon getan. Außerdem, selbst wenn ich zur Synagoge ginge, würde man mich nicht einlassen. Ich müßte zuerst bekennen, daß Yeshua wahrha der Messias ist. Aber das weiß ich eben nicht so genau ... noch nicht.« Shirazi hae alles aufmerksam verfolgt, bisher aber nichts zu Bronski gesagt. Er saß in der gleichen Klemme wie die anderen, vielleicht in einer schlimmeren. Er war Moslem, wenn auch nicht sonderlich fromm. Wie seine drei Gefährten war er entsetzt gewesen, als er entdeckte, daß der Mars eine jüdische Domäne war. Wenn sie überhaupt darüber nachgedacht häen, wer hier wohl leben mochte – auf diese Möglichkeit wären sie ganz bestimmt nicht verfallen. Man häe erwarten können, daß er sich unbehaglich fühlte an einem Ort, an dem er der einzige Moslem unter einer Million Juden war. Aber die Leute hier haen, bevor er kam, von seiner Religion nie etwas gehört. Außerdem war Shirazi ein gebildeter Mann mit guten Manieren, dem es fast immer gelang, sich jeder Gesellscha, in die er geriet, unauffällig anzupassen. Trotzdem hae er in seiner Heimat Schwierigkeiten gehabt, weil er gegen die dortige Politik der Zensur und die Methoden der Polizei protestiert hae. | 122 |
Zudem ähnelten die Sien auf dem Mars in manchen Punkten denen seiner Heimat. Die Männer wurden beschnien; von den Frauen erwartete man, daß sie sich erst einmal der Muerscha widmeten; es gab bestimmte, strenge Speisenverbote. Es gab festgesetzte Zeiten für öffentliche Gebete, und der Sabbat wurde streng eingehalten. Außerdem betrachtete man Jesus hier als Propheten, wenn die Einstellung zu ihm auch anders war als bei den Moslems. Diese achteten Jesus zwar hoch, stellten ihn aber unter Mohammed, während hier Jesus der Letzte und Größte einer Linie war, die mit Abraham begonnen hae. Der Prophet des Islam, Mohammed, war gänzlich unbekannt. Trotz der Unterschiede gab es genügend Ähnlichkeiten, so daß sich der Iraner ein wenig wie zu Hause fühlen konnte. Zum Glück fehlte die Spannung zwischen Moslems und Juden wegen der noch immer andauernden Besetzung Palästinas durch die Juden. Als Shirazi jedoch klar wurde, daß Bronski mit dem Gedanken spielte, »rückfällig zu werden«, wie er sich ausdrückte, nämlich zum orthodoxen Judentum zurückzukehren, wurde er sarkastisch. Er deutete sogar an, Bronski sei ein Opportunist. »Und außerdem«, hae er einmal bei einer hitzigen, aber trotzdem gemäßigten Diskussion zu dem Franzosen gesagt, »würdest du ja gar kein richtiger Jude werden. Du wirst dann Christ.« »Mitnichten«, hae Bronski erwidert. »Ein Christ ist jemand, der glaubt, das Jesus das jungfräulich gezeugte Kind von Go und Maria war, ausgesandt, um die Sünden der Welt zu büßen, der Sündenbock alter hebräischer Sie. Die Marsianer betrachten Jesus als ihren Messias, nicht mehr. Ihr Moslems müßt aber, wenn ihr Mohammed Glauben schenkt, auch von der Jungfrauengeburt Jesu überzeugt sein. Im Koran steht, daß er wahrha von der Jungfrau Maria geboren ist. Obwohl Mohammed auch gesagt hat, Jesus sei nicht wirklich gekreuzigt worden. Er sagt, es sei ein Phantom gewesen, ein gespenstisches Abbild Jesu, das man ans Kreuz nagelte und das dort nur scheinbar starb.« Überraschenderweise hae Shirazi gelacht und damit einen Teil der Spannung aus der Diskussion genommen. | 123 |
»Erstens habe ich viele Christen kennengelernt, die nicht an die Geschichte von der jungfräulichen Geburt glauben. Sie halten sie für einen Mythos und glauben, daß Jesus gezeugt worden ist wie du und ich. Er war nur ein Mensch, wenn auch der größte. Und es gibt viele Moslems, die bestimmte Korangeschichten nur symbolisch oder pädagogisch auffassen. Zu diesen gehöre auch ich. Wenn du also jemanden als Moslem oder als Christen bezeichnest, mußt du zuerst definieren, um welche Sorte Moslem oder Christ es sich handelt. Aber das führt zu weit. Wenn ich dich irgendwie gekränkt habe, tut es mir leid. Aber ich kann einfach nicht begreifen, wie ein hochintelligenter, hochgebildeter Mann in Versuchung kommen kann, auf eine primitive Stufe seiner Religion zurückzufallen.« Bronski hae beide Hände erhoben und das Zimmer verlassen. In der Tür hae er noch gerufen: »Ich befinde mich nicht in Versuchung! Es gibt keine Versuchung! Das hier ist keine primitive Religion!« Als Shirazi nunmehr erklärte, Bronski sei auf alles gefaßt, deutete er damit nochmals an, daß Bronski sich fortwährend seiner Umgebung anglich. Bisher hae er noch nicht ausgesprochen, Bronski sei möglicherweise ein Verräter an der Erde. »Was du offenbar nicht begreifst«, meinte Bronski, »ist, daß Religion keine Entscheidung des Verstandes, sondern des Geistes ist. Mit Geist meine ich das irrationale Wesen eines Menschen. Aber ich gebrauche das Wort ›irrational‹ nicht negativ. Das Irrationale ist derjenige Teil des Menschen, der nach der Unsterblichkeit strebt, obwohl ihm sein Verstand beweist, daß es sie nicht gibt. Es strebt auch nach dem Schöpfer, seinem Vater, für dessen Existenz es viele Beweise gibt. Es bekennt sich zu einer Macht, die hinter allen anderen Mächten steht. Es ist genauso ein eigenes Wesen wie das Gehirn, und ohne das Irrationale ist ein Mensch nicht völlig menschlich. Er mag human sein, aber er ist nicht ganz und gar menschlich. Und zwar deshalb ...« »Hör mal«, sagte Orme, »das reicht nun langsam. Ihr beiden könnt ein andermal weitermachen. Jetzt müssen wir uns um unsere Sendung kümmern. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« | 124 |
»Ich glaube, du bist kurz davor durchzudrehen, Avram«, erklärte Madeleine. »Schluß damit!« rief Orme. »Wir stehen hier alle verdammt im Streß. Ich könnte mir vorstellen, daß man uns auf der Erde für verrückt hält, wenn man uns so sieht. Aber wir müssen melden, was hier vorgeht. Also an die Arbeit.« Weil die Zuschauer auf der Erde wußten, was sich bis zu dem Augenblick ereignet hae, als sich die Tunneltür hinter Orme und Bronski schloß, kam man überein, an diesem Punkt zu beginnen. Die Marsianer haen die beiden fotografiert, als sie bewußtlos in ihr Gefängnis getragen wurden. Sie haen auch von allen folgenden wichtigen Ereignissen Hologramme – Orme vermutete, daß sie von den unwichtigen auch welche haen –, so daß die vier sich aussuchen konnten, was sie zeigen wollten. Nacheinander berichteten sie von den einzelnen Vorgängen, an denen sie zum Teil selbst aktiv mitgewirkt haen. Vielleicht auch weniger aktiv, denn die Marsianer führten sie o nur herum oder erteilten ihnen Unterricht. Als sie mit ihrem Werk fertig waren, haen sie einen ihrer Ansicht nach guten Gesamtüberblick über das Leben auf dem Mars und ihre Erlebnisse zusammengestellt. Natürlich würde man auf der Erde tausend Fragen haben. Sie würden unbeantwortet bleiben, aber was konnte man in vier Stunden schon schaffen? Außerdem würden sie die Antwort auf viele Fragen selbst noch nicht wissen. »Aber morgen kennen wir ein paar mehr davon«, sagte Orme. »Ja, aber daraus ergeben sich dann wieder viele weitere Fragen, die wir nicht beantworten können«, antwortete Bronski. An diesem Abend gingen sie spät schlafen, todmüde, konnten aber doch nicht einschlafen. Alle haen das Gefühl, daß die nahe Zukun ihnen den wichtigsten Tag ihres Lebens bringen würde. Endlich schlief Orme ein. Bronski hae sich beruhigt und schnarchte leise. Aber eine Stunde später erwachte Orme wieder. Er hae das Gefühl, jemand habe neben seinem Be gestanden.
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M
orgen ist der große Tag«, sagte Orme. Die vier Terraner saßen im Wohnzimmer der Shirazis. Nach dem Abendessen haen sie die Kassee – eigentlich ein Würfel von etwa einem Zoll Kantenlänge – in die Öffnung an der Seite des Fernsehapparates gesteckt. Zum vierten Mal haen sie sich die Sendung angesehen, die sie zusammengestellt haen. Wie von den Marsianern versprochen, war kaum etwas zensiert worden. Die letzte halbe Stunde haen die Gastgeber gestaltet. Sie bestand weitgehend aus Filmen über das, was Jesus tat, wenn er sie »besuchte«. Es gab auch ein paar Szenen über das Leben auf der Erde um 50 n. Chr., die die Krsh aufgenommen haen, sowie über den Kampf im Weltraum mit den Söhnen der Finsternis und über die Höhlengrabungen auf dem Mars nach der Bruchlandung des Krsh-Schiffs. Das Programm endete mit Hfathon, der ein paar Worte auf griechisch sagte, ausgenommen sein Schlußwort: »Alles das ist wahr. Wir melden uns in ein paar Tagen wieder. Schalom.« Orme konnte sich den Schock, die Bestürzung, Verwirrung und Frustration auf der Erde vorstellen. Natürlich würden viele die Echtheit des ganzen Programms bestreiten und es einen Schwindel der Marsianer, der eigenen oder irgendeiner fremden Regierung nennen. Aber die zuständigen Stellen würden akzeptieren müssen, daß die Sendung, wie immer ihr Inhalt auch sein mochte, vom Mars stammte. Außerdem hae man das Programm so o wiederholt, daß es bestimmt auf beiden Hälen des Globus empfangen worden war. »Ja, morgen«, sagte Bronski düster. Madeleine Danton lachte. Es klang nicht sehr fröhlich. »Du hast Angst, du wirst an Christus glauben müssen, nicht wahr? Du als Agnostiker! Du wirst sehen, berühren, hören und darum gezwungen sein zu glauben. Ich sage euch, alles Unfug! Ein Theaterstück, das die Marsianer zu ihren eigenen finsteren Zwecken aufführen.« »Du bist zwar Wissenschalerin«, gab Bronski zurück, »aber | 126 |
du denkst nicht als Wissenschalerin. Ich glaube, selbst bei erdrückenden Beweisen, hundertprozentig erhärtet, würdest du immer noch alles bestreiten. Du würdest dich von deiner emotionalen und irrationalen Haltung beherrschen lassen.« »Und du«, erwiderte sie, »wartest nicht einmal, bis die Beweise vorgelegt werden. Du bist jetzt schon bereit zu glauben.« Er schüelte den Kopf. »Das nicht. Aber alles, was bis jetzt passiert ist ... nun ja ... du mußt zugeben, es war völlig unerwartet, phantastisch, und doch ist es geschehen. Glaubst du wirklich immer noch nicht daran, daß Mahias gelebt und Jesus tatsächlich gut gekannt hat? Oder daß jemand namens Jesus in der Sonne da oben wohnt?« Madeleine sagte: »Ich gebe nichts zu. Wie kann ich? Ich habe ja gar nicht die Möglichkeit gehabt, das Beweismaterial wissenschalich zu untersuchen.« »Wie könntest du das auch?« fragte Nadir Shirazi. Er hob beide Hände. »Das ist etwas, für das die Wissenscha nicht gilt.« »Natürlich gilt sie!« erwiderte Madeleine. In diesem Augenblick griff Orme ein. »Es ist zwecklos, sich über Dinge zu streiten, die vielleicht eintreten können. Warum lassen wir diese Spekulationen nicht beiseite, weil wir uns ja doch nur alle darüber aufregen? Ich gehe mir die Feier ansehen. Kommt jemand mit?« Bronski und Shirazi erklärten sich gern bereit. Madeleine lehnte ab. Sie sagte, sie sei zu müde. Offensichtlich wollte sie, daß auch der Iraner dablieb, mochte es aber nicht sagen. Er sah sie nur an und zuckte mit den Achseln. Orme fragte sich nachdenklich, wie lange die beiden es wohl miteinander aushalten würden. Obwohl er nicht gesehen hae, daß sie sich strien, war ihm seit einiger Zeit eine gewisse Kühle zwischen den beiden aufgefallen, untermischt mit unausgetragenen Meinungsverschiedenheiten. »Ich komme bald wieder«, sagte Nadir. Diesmal zuckte sie die Achseln. Er lachte und folgte den beiden anderen nach draußen. Sobald sie das gut isolierte Haus verlassen haen, konnten sie die Musik, das Rufen und das Gelächter über mehrere Straßen | 127 |
hin hören. Sie gingen auf den großen Dorfplatz zu, den Hunderte von Fackeln erleuchteten. Viele Bekannte hielten sie an und boten ihnen Wein und Speisen. Orme trank mehrere Gläser und fing dann an mitzutanzen. Der Tanz war ungemein lebha, mit viel Drehen, Stampfen und Hüpfen. Er erinnerte ihn weit mehr an russische Bauerntänze als an das Tanzen der Israeli, und die Musik war buchstäblich außerirdisch, denn sie stammte ursprünglich von den Krsh. Nach einer Stunde war er erschöp, obwohl die niedrigere Gravitation ihm eigentlich ein längeres Mitmachen häe ermöglichen müssen. Vielleicht lag es an dem vielen Wein, den er trank, denn bei vielen Tänzen mußte man umherspringen, ohne den Wein zu verschüen. In bestimmten Pausen leerten dann alle ihre Becher, und andere Leute liefen herbei, um sie neu zu füllen. Vielleicht lag es auch an der Nervenanspannung der letzten Tage. Er hae nicht gut geschlafen. Alptäume, Visionen des Jüngsten Gerichts oder geheimnisvoller Gestalten ohne Gesicht, die anklagend mit den Fingern auf ihn wiesen, Herumirren im Nebel und plötzliches Sichwiederfinden am Rande eines Abgrunds beherrschten seine Nächte. Und mehr als einmal war er von dem Gefühl wach geworden, jemand stehe an seinem Be. Keuchend entfernte er sich. »Ich habe genug. Ich gehe nach Hause.« Auch die anderen beschlossen zu gehen. Aber als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um und sah in Guithilos blaue Augen. »Was tust du denn hier?« fragte er. Dann: »Entschuldige, daß ich so kurz angebunden bin. Aber du hast mich verblü. Du bist so weit weg von deinem Dorf.« Sie lächelte und trat an ihn heran, so daß er sie durch den Lärm hören konnte. »Ich bin wieder einmal keck und vorwitzig. Ich kam nur hierher, um mit dir zusammenzusein.« »Was sagt deine Familie dazu?« »Ich bin nicht ihr Eigentum. Möchtest du mit mir tanzen?« Orme schaute sich nach seinen Kollegen um, die in der Nähe | 128 |
standen. »Geht schon vor, Jungs«, rief er. »Avram, bleib meinetwegen nicht auf.« Bronski runzelte die Stirn und kam näher. »Richard, mach keinen Ärger. Du kennst das Siengesetz. Sie…« »Ich kann schon auf mich aufpassen«, erwiderte Orme. »Geht nur weiter. Ich komme zurecht.« Bronski, der immer noch bedenklich schaute, ging weiter, sagte etwas zu Shirazi, und die beiden entfernten sich, nicht ohne sich noch einige Male umzudrehen. »Ich bin zu erledigt, um noch zu tanzen«, sagte Orme zu der Frau. »Vielleicht können wir uns einfach hinsetzen und reden.« Gulthilo nahm ihn bei der Hand und zog ihn durch die Menge. Als sie den Platz hinter sich gelassen haen, hielt sie an, setzte sich anmutig in einem Vorgarten unter einem Baum ins Gras und sagte: »Setz dich zu mir.« Er folgte ihr, schaute sich jedoch besorgt um. Ein gutes Dutzend anderer Paare saß oder lag in ihrer Nähe in den Schaen. Nach dem, was er von dem einen Paar erkennen konnte, stellte er sich vor, daß man ihre Hochzeit recht bald bekanntgeben müßte. Sie küßte ihn auf die Wange. Fast häe er einen Satz gemacht. »Sei nicht so nervös, Richard«, flüsterte sie. »Ich verführe dich nicht.« Sie lachte leise. »Nicht daß es mir etwas ausmachen würde, wenn du es tätest.« »Rede nicht so«, antwortete er. »Ich bin sehr verletzlich. Es gehört nicht viel dazu, weißt du. Aber hier, nun ja, hier geht man davon aus, daß ein Mann verliebt ist, der bei einer Frau ... äh ... liegt. Ich finde, du bist sehr schön, sehr araktiv ... aber ... ich bin nicht in dich verliebt.« Sie wandte sich nicht von ihm ab. »Danke, daß du so ehrlich bist. Wie könntest du in mich verliebt sein, wenn wir uns erst einmal ganz kurz gesehen haben? Aber trotzdem ....« Sie hielt inne, zog scharf den Atem ein und sagte: »Ich glaube, ich bin in dich verliebt.« | 129 |
Der Schweiß, der ihm über das Gesicht rann, kam nicht allein vom Tanzen. Auch daß er zierte, lag nicht nur an der Überanstrengung. Er legte den Arm um ihre Schultern, ließ ihn aber nach wenigen Sekunden wieder sinken. »Ich glaube, wir sollten nicht so eng zusammensitzen. Ich brauche Abkühlung, kein Aueizen.« Sie lachte wieder. »Aber wenn wir miteinander schlafen würden, tätest du es aus Leidenscha, aus reiner Lust, nicht wahr?« »Ja ... nein ... ich weiß nicht. Was für einen Unfug reden wir hier eigentlich? Es ist unglaublich. Bist du betrunken?« »Nein. Ich habe in den letzten zwei Stunden nur vier Glas Wein getrunken, und das war in meinem Dorf. Ich habe das Fest dort einfach verlassen, ohne ein Wort, und bin hierhergefahren. Es war keine plötzliche Eingebung. Ich hae den ganzen Tag an dich gedacht. Aber ich mußte erst meinen ganzen Mut zusammennehmen, um das zu tun, was ich wirklich wollte.« Er wollte aufstehen, aber sie zog ihn hinunter. »Sei kein Feigling, mein tapferer Raumfahrer.« »Das ist keine Feigheit, sondern nur ... äh ... einfach der gesunde Menschenverstand. Diskretion. Und ich fürchte, lange habe ich beides nicht mehr. Hör zu, Gulthilo, das ist doch verrückt. Wenn wir auf der Erde wären, würde ich keine Sekunde zögern – wir wüßten beide genau, wo wir stehen. Aber wir sind auf dem Mars, und die Gesellscha hier ist nicht wie unsere. In unserer Gesellscha war bisher fast alles erlaubt, aber selbst dort ändert sich die Einstellung, und man wird strenger. Aber darum geht es nicht. Selbst wenn du bereit wärst, es einfach mal zu probieren ... nur so, aus Leidenscha ... was sage ich da überhaupt? Ich rede wie jemand aus einem viktorianischen Roman! Du weißt schon, was ich meine.« Gulthilo stand auf. Obwohl es dunkel war, genügte das Licht, um ihm zu zeigen, daß sie noch immer lächelte. Wenn sie verletzt war, zeigte sie es nicht. »Du irrst dich, wenn du glaubst, ich würde nur dann bei dir liegen, wenn du in mich verliebt wärst.« Sie machte eine Pause. | 130 |
»Wenigstens glaube ich das.« Er wollte nicht zu ihr aufsehen, darum erhob er sich ebenfalls. Aber trotzdem mußte er den Kopf in den Nacken legen. Sie war so hochgewachsen. »Kleiner, schwarzer Mann, den ich so liebe, ich gehe nun zurück in mein Dorf. Vielleicht sehe ich dich wieder, vielleicht auch nicht. Ich denke, wir werden uns wiedersehen. Ich fände es schön, wenn du zu mir kämst, ansta daß ich dich suche. Aber wenn du kommst, werde ich wissen, daß dir klar ist, daß du mich liebst.« »Du meinst, daß ich dich dann bie, mich zu heiraten?« fragte er heiser. »Natürlich. Du bebst wie eine gezupe Harfensaite. Du bist erschüert, nicht wahr?« Sie streckte die Arme aus, umfing ihn und küßte ihn auf den Mund. Einen Augenblick, als er fühlte, wie diese großen, weichen Brüste sich an ihn drängten und diese großen, weichen Lippen die seinen berührten, wäre er fast schwach geworden. Aber sie ließ ihn los und trat zurück, die Hand auf seiner Schulter. Ihr Griff war sehr fest. »Schalom, Richard. Obwohl ich fast meine, du fühlst dich momentan nicht so übermäßig friedlich.« Leise lachend, mit wiegendem Gang, entfernte sie sich. Orme stieß einen langen, harten Atemzug aus. Was für eine Frau! Eine Löwin! Und in welchem Zustand sie ihn zurückgelassen hae! Seine Lenden schmerzten, er zierte. Auf dem Nachhauseweg wurde er langsam kühler, und seine Gedanken hörten auf zu kochen. Vielleicht – er verfluchte sein eigenes Mißtrauen – arbeitete sie für die Marsregierung. Man hae sie beauragt, ihn zu verführen, damit er sie heiratete. Und wenn er das tat, würde er vielleicht auch seine Bindung an die Erde aufgeben und Marsianer werden. Oder vielleicht sollte sie ihn nur verführen. Wenn er sich dann weigerte, ihre Ehre wieder herzustellen, wie es so schön hieß, konnte man ihn als Verbrecher einsperren. Oder vielleicht ... Zum Teufel mit diesen Spekulationen! Wenn sie eine Verführerin | 131 |
war, dann jedenfalls nicht von der üblichen Sorte. Wenn sie wirklich gewollt häe, häe sie ihn haben können. In der Nähe seiner Wohnung kam er an einem betrunkenen, halb entkleideten Paar unter einem Busch vorbei. Eine bevorstehende Hochzeit mehr. Bronski saß im Vorderzimmer und betrachtete sich das Fest im Fernsehen. Er sah auf, als Orme hereinkam, sagte jedoch nichts. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen,« sagte Orme. »Hier bin ich, und die Tugend der einheimischen Frauen ist unberührt. Die, mit der du mich gesehen hast, ist jedenfalls so keusch wie eh und je.« »Es wäre auch eine große Dummheit gewesen«, meinte Bronski. »Wer war sie?« »Die Frau mit dem gotischen Namen, von der ich dir erzählt habe.« Der Franzose erhob sich. »Ich gehe ins Be. Ich habe mir wirklich Sorgen über dich gemacht. Du häest fürchterlichen Ärger bekommen können.« »Ganz zu schweigen von dem moralischen Schaen, den ich auf dich und die andern geworfen häe«, ergänzte Orme. »Nein, es häe keinen fürchterlichen Ärger gegeben. Ich brauchte sie nur zu heiraten. Und dazu ist sie durchaus bereit.« »Du meinst ...?« »Jawohl. Sie hat mir einen Antrag gemacht.« »Und ...?« »Ich habe ihn abgelehnt, obwohl ich es nicht direkt in Worte gefaßt habe. Ich ... ich habe ihr gesagt, ich liebte sie nicht.« »Und wenn du sie liebtest?« »Ich weiß nicht. Wenn ich sie heirate, muß ich zum Judentum übertreten. Oder zur marsianischen Variante des Christentums oder was es sonst sein mag. Wenn ich das mache, werde ich Marsianer. Damit kündige ich der Erde die Treue auf, jedenfalls sollte es so sein. Könnte ich das tun? Ich meine, Marsianer werden? Es hört sich ein bißchen sehr nach Verräter an.« »Nicht im geringsten«, sagte Bronski. Er lächelte, verstrickt in ein Problem, das ihm wahrscheinlich rabbinisch vorkam. | 132 |
Bronski dozierte: »Erstens einmal gehört deine Treue nicht der Erde, wie du es formuliert hast. Sie gehört deinem Land. Vorrangig also Kanada. In zweiter Linie der Nordamerikanischen Konföderation. Den kommunistischen Ländern schuldest du keinerlei Loyalität. Du stellst dir die Erde als einen einzigen Block vor, als Gegenpol zum Block des Mars. Beim Mars hast du damit recht, bei der Erde nicht. Du solltest dein Denken reorganisieren – ganz zu schweigen von deinen Gefühlen!« »Wo liegt der Unterschied zwischen den beiden?« Bronski runzelte die Stirn und lächelte dann. »Bei den meisten Leuten gibt es keinen. Denk mal darüber nach. Ich gehe jetzt ins Be.« Er bewegte sich in Richtung Schlafzimmer, blieb aber noch einmal stehen. »Hör mal, weißt du – was du da gesagt hast, zeugt von einigem Durchblick.« »Was?« »Über den Unterschied zwischen Denken und Fühlen. Oder besser gesagt, um dich zu zitieren: ›Wo liegt der Unterschied?‹ Ausgezeichnet. « »Warte einen Augenblick«, meinte Orme. »Ich habe doch nur gesagt ... ich weiß nicht, was ich gesagt habe.« »Dein wesentlicher Teil wußte es aber. Gute Nacht, Richard. Du solltest auch zu Be gehen. Morgen ... vielleicht ist es der wichtigste Tag in unserem Leben. Du solltest ausgeruht sein. Du wirst deine ganzen Kräe brauchen, körperlich, geistig, emotional. Wenn es da einen Unterschied gibt.« Orme sagte gute Nacht, aber er ging noch fast zwei Stunden im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken schwankten zwischen Gulthilo und jenem Mann, der in der marsianischen Sonne wohnen sollte. Beide boten ihm, wenigstens schien es so, ein neues Leben. Und trotzdem waren beide in diesem Augenblick für ihn nicht akzeptabel. Und wenn sie es wurden, würden sie ihn vor neue Probleme stellen. Aber jedes neue Leben, wie sehr es dem alten auch überlegen sein mochte, brachte neue Probleme. Glaubte er wirklich an die Echtheit der beiden? Sie konnte | 133 |
eine Agentin sein, die ihn dazu verleiten sollte, Marsianer zu werden. Was den Mann namens Jesus anging: Vielleicht war er ein Schwindler. Oder wenn nicht das, so doch ein anderer, als von den Marsianern behauptet. Was immer er aber auch war, bestimmt nicht das, was Orme erwartet hae. Orme glaubte oder dachte, daß er glaubte: Jesus war Goes eingeborener Sohn, und seine Aufgabe war ihm von jeher bestimmt gewesen, vom Anbeginn aller Zeiten an. Er hae sich selbst geopfert, damit alle Welt erreet würde und für immer im Zustand der Gesegnetheit leben könnte, begeistert, Go von Angesicht zu Angesicht schauen zu dürfen. Eines Tages, an einem Tag, der seit mehr als zweitausend Jahren verheißen war, würde, mit unvorstellbarem Schrecken und vollkommener Freude, das Jüngste Gericht kommen. Die Go zurückgewiesen haen, würden in die Hölle kommen. Die Hölle, das bedeutete das Bewußtsein, daß Go den Verdammten auf ewig versagt blieb. Aber hier war nun Jesus, nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars. Und Jesus war nur ein Mensch, der sich selbst, als er noch auf der Erde lebte, für den Messias gehalten hae – für einen Juden, der gekommen war, das heilige Königreich der Juden wieder zu errichten. Sehr wenig von dem, was im Neuen Testament über ihn geschrieben stand, entsprach der Wahrheit. An sich häe Orme von dieser Enthüllung vernichtet sein müssen. Der Schock war groß gewesen, aber doch nicht so groß, wie man häe erwarten können. Warum? Weil sein Glaube trotz allem nicht so tief und fest verankert gewesen war, wie er angenommen hae. Er hae seiner Religion mehr als nur Lippenbekenntnisse dargebracht, aber in seinem Herzen hae sie keine Wurzeln geschlagen. Er war nicht wirklich überzeugt gewesen. Nicht ganz tief unten, wo die echten, die lebendigen Überzeugungen wohnten und aus der Tiefe zu den Pseudo-Überzeugungen hinauf und durch sie hindurchsahen, durch dieses halbtote Bewußtsein, das in etwas schwamm, das man für das Licht hielt. Das wahre Licht war in der Finsternis. Er ging hinaus ins Freie. Es war ruhig geworden. Jeder war nach Hause gegangen. Die Häuser waren dunkel. Vielleicht streif| 134 |
ten Polizisten durch die Straßen, aber niemand war zu sehen. Überhaupt hae er noch nie einen Polizisten gesehen, obwohl er wußte, daß es welche gab. Soweit er gehört hae, trugen sie keine Uniformen. Es waren auch nur wenige. Das sagte ihm einiges über diese Gesellscha, die einzige ihrer Art im Sonnensystem. Wo konnte man besser leben? Nirgends. Er wanderte hinaus auf die stille Straße und schaute zu dem Globus hinauf, der unter dem höchsten Punkt der Höhle hing. Er leuchtete jetzt mit der Helligkeit des irdischen Vollmonds und trug sogar die gleichen Markierungen, den Mann im Mond für Leute aus dem Westen, den Hasen für die Japaner. Dort oben, in dieser glühenden Kugel, lebte ein Mensch – wenn man den Marsianern glauben konnte. Es sprach nichts dagegen, aber er konnte die Tatsache einfach nicht akzeptieren. Einen Augenblick lang blieb er mit zurückgebogenem Kopf stehen. Und dann hob er beide Hände und rief: »Du da oben! Hast du die Antworten auf meine Fragen?« Es kam keine Antwort. Natürlich nicht.
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er Himmel war ein einziges großes Lichtspiel. Orme schaute aus dem Fenster und sah, daß sich aus dem Blau alle Farben des Regenbogens gebildet haen. Horizontale Streifen von leuchtendem, blitzendem Purpur, in blauen, orangefarbenen, roten, grünen, gelben, weißen und schwarzen Tönen überzogen die Kuppel. Hier und da entstanden Sterne aus Gold, Indigo, Scharlachrot und Silber, die wuchsen und wieder zerplatzten. Wolken in verschiedenen Farben und Formen quollen aus weitverstreuten Punkten des Gewölbes, schwollen an, rasten und wanden sich durch den Himmel. Sternexplosionen stießen kurz zusammen, verschmolzen, glühten, pulsierten und wurden wieder blaß. »He, Avram! Sieh dir das an!« Bronski trat neben ihn und bekam große Augen »Es überläu mich kalt.« »Wie sie das wohl machen?« fragte Orme. »Die ganze Kuppel muß mit Elektronik gespickt sein.« »Das glaube ich nicht einmal. Du vergißt, wie weit sie uns voraus sind. Bestimmt verwenden sie irgendeine Technik, die wir nicht kennen. Übrigens ist das heute ein ganz unwichtiger Punkt. Vergiß, daß du Ingenieur bist, Richard. Wenigstens heute.« Die Menschen strömten aus den Häusern. Sie trugen ihre besten Kleider, beide Geschlechter lange, seidige Gewänder in vielen Farben, Blumen im Haar. Sie lachten und sprangen, viele Hand in Hand. Orme öffnete die Tür und trat hinaus. Aus der Ferne konnte er jetzt auch Musik hören. Zahlreiche Kapellen spielten: Trommelschlag, das Schmeern von Trompeten, schrillende Flöten und Pfeifen, der scharfe Klang der Harfen und das Schmeern der Zimbeln. Plötzlich hörten sie eine Stimme hinter sich. Orme drehte sich um und sah, daß Bronski ihn mit einer Gebärde aufforderte, wieder einzutreten. Vor dem Fernseher empfing ihn das Holographenbild eines lächelnden Hfathon. »Wir erwarten euch in einer Stunde auf dem Platz«, sagte er. | 136 |
»Am besten geht ihr sofort los, denn es wird nicht leicht sein, einen Weg durch die Menge zu finden.« Orme sah auf die Armbanduhr. »Ja, das wissen wir. Könntest du nicht jemanden schicken, der uns hinfährt?« »Heute fährt nur einer – der Messias«, antwortete der Krsh. »Gestern abend sind alle Leute eingetroffen, zu Fuß oder im Wagen, und haben ihre Lager aufgeschlagen oder bei Verwandten und Freunden übernachtet. Vielleicht häe ich euch sagen sollen, daß man von euch erwartete, daß ihr lau. Bie beeilt euch. Möge er euch ein Lächeln schenken. Schalom.« Das Bild verschwand. Orme blickte Bronski an, zuckte die Schultern und sagte: »Man häe gedacht, wir bekämen eine Sonderbehandlung. Schließlich sind wir ihre Gäste. Und ein Teil dieser ganzen Geschichte ist doch für uns bestimmt.« Der Franzose sah zu dem herrlich pulsierenden Himmel auf. »Du glaubst immer noch, daß alles Schwindel ist?« »Nein, das habe ich nicht gesagt«, erklärte Orme. »Ich muß bloß meine Gefühle streng unter Kontrolle halten.« »Nicht nur du«, erwiderte Bronski. »Aber jetzt sollten wir wirklich besser gehen.« Wieder traten sie aus dem Haus. Orme dachte, wie schön es doch war, daß man die Tür nicht zuzuschließen brauchte. Dann fiel ihm ein, wie nebensächlich dieser Gedanke war. Oder nicht? »Den ganzen Morgen habe ich versucht, an unwesentliche Dinge zu denken. Um meine Gedanken abzulenken, abzulenken von ... IHM. Aber es ist, als versuche man, nicht an einen weißen Elefanten zu denken.« Sie gingen auf die Straße, die inzwischen, leer von Marsianern war. Shirazi, der blaß und grimmig aussah, kam gerade aus dem Haus gegenüber. Orme traf in der Straßenmie mit ihm zusammen. »Wo ist Madeleine?« »Sie sagt, sie geht nicht hin. Fühlt sich nicht wohl.« »Hat sie das Hfathon auch gesagt?« Nadir schüelte den Kopf. | 137 |
»Nein. Sie hat ihm kein Wort davon erzählt.« Orme verzog das Gesicht. »Das ist wirklich keine gute Nachricht. Geht es ihr wirklich schlecht?« Shirazi nickte. »Ja, aber ich glaube nicht, daß es körperliche Ursachen hat. Ihre Gefühle sind durcheinander. Sie sagt immer wieder, daß das alles ein Trick ist, ein Riesenschwindel, und warum sollte sie dort hingehen? Ich habe ihr erklärt, sie müßte hingehen, weil die Marsianer sich sonst beleidigt fühlten.« Orme wurde zornig, sagte sich aber, daß er vielleicht nur deshalb so wütend war, weil er so empfand wie sie. Es war Angst, die sie krank machte, Angst, daß die ganze Sache doch wahr war. Aber warum sollte er, ein Christ, so verängstigt sein? Sollte er sich nicht ebenso freuen wie die Marsianer? »Das ist doch Unsinn«, sagte er laut. »Wir holen sie ab ... und wenn wir sie hinschleifen müssen!« Er führte die anderen ins Haus. Er hae erwartet, daß sie wenigstens den Fernseher angeschaltet haben würde, um zu sehen, was vorging. Aber das Gerät war nicht an, und sie lag im Be. Als sie ihn hereinstürmen sah, setzte sie sich auf. »Wenigstens häest du den Anstand besitzen können, anzuklopfen!« »Du hast gewußt, daß wir kommen würden. Los, Madeleine, steh auf und mach dich fertig. Hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen.« Das brachte sie auf die Beine. Mit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht überschüete sie ihn mit einem Schwall französischer Worte. Dann hielt sie inne, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, zierte und sagte auf englisch: »Du hast mich wütend gemacht, damit ich aufstehe, stimmt’s?« Er nickte. »Du mußt hin, Madeleine, es sei denn, du bist ernstlich krank. In diesem Fall hole ich dir einen Arzt.« Er fügte nicht hinzu, daß der Arzt feststellen würde, ob sie wirklich krank war. Sie würde ihm nichts vorspielen können. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht. Es ist ja nur, daß ...« »Daß es dir geht wie mir«, antwortete Orme. »Du hast Angst, es | 138 |
könnte stimmen.« »Was? Aber du ...?« »Darüber reden wir ein anderes Mal.« Sie traten auf die Straße und folgten ihr, bis sie den Rand der Menge erreichten. Keiner der beiden sprach ein Wort. Die beiden anderen redeten ab und zu leise miteinander. Als sie auf dem Platz ankamen, brandete eine Woge von Geräuschen auf sie ein. Alle redeten gleichzeitig, und es schien, als schmeerten hundert Kapellen auf einmal. Die Zahl der Anwesenden schätzte Orme auf mindestens eine Million. Sie standen Schulter an Schulter gepreßt, Brust an Rücken, und bildeten einen gewaltigen Kreis um eine breite, hohe Steinplaform in der Mie des Platzes. Orme hae sie noch nie gesehen, weil ihre Oberfläche bisher mit dem Pflaster eine ebene Fläche gebildet hae. Jetzt hob sie sich langsam aus dem Boden. Oben darauf standen etwa fünfzig Männer und Frauen. »Wie sollen wir hier durchkommen?« brüllte Shirazi. »Es ist hoffnungslos!« »Hfathon muß das doch gewußt haben«, schrie Orme zurück. »Was hat er vor? Er häe sich darum kümmern müssen, daß wir rechtzeitig dort sind!« Er machte einen Satz, als ihn jemand an der Schulter berührte. Als er sich umdrehte, stand vor ihm ein Krsh in grünem Gewand mit einer scharlachroten Schärpe schräg über der Brust. Hinter ihm zeigte sich ein langes, silberschimmerndes Boot. Wenigstens sah es aus wie ein Ruderboot, obwohl es weder Dollen noch Ruder hae. Der Krsh wandte sich ab und entfernte sich, nachdem er Orme mit einer Gebärde aufgefordert hae, ihm zu folgen. Orme machte die anderen aufmerksam und führte sie zu dem Boot. Der Krsh griff in sein Gewand und zog einen kleinen Metallzylinder hervor. Er hielt das eine Ende an die Lippen und sprach. Seine Stimme schmeerte plötzlich: »Bie steigt in das Shrrt.« Die vier sahen einander an, zuckten die Achseln und kleerten hinein. Sie nahmen auf niedrigen, hochlehnigen Stühlen Platz. Der Krsh setzte sich in einen Stuhl am Bug und zog unter der Bug| 139 |
verkleidung ein Kästchen mit verschiedenen Hebeln hervor. Dann drehte er sich zu ihnen um und verkündete durch das Sprachrohr: »Haltet euch fest. Es dauert nur einen Augenblick.« Er betätigte die Hebel irgendwie, und das Boot erhob sich vorsichtig vom Boden. Sechs Meter über der Erde blieb es stehen, drehte sich in Richtung Plaform und beschleunigte langsam dorthin. Ein Antriebsgeräusch war nicht zu hören, möglicherweise ging es im Lärm der Menge unter. Auch sonst spürten die Insassen nicht, daß hier irgendeine Energie eingesetzt wurde. Als das Boot über der Plaform angekommen war, senkte es sich san nach unten, landete, und der Krsh forderte sie mit einer Geste zum Aussteigen auf. Gleich darauf stieg das Boot wieder nach oben und schoß, diesmal schneller, über den Rand der Menge hinaus. Dort landete es wieder, und der Krsh stieg aus. Hfathon sagte: »Ihr häet hierherkommen können, wenn ihr die Leute gebeten häet, euch vorbeizulassen. Man häe euch einen Weg freigemacht. Aber ihr wart schon spät dran, darum habe ich ein Shrrt kommen lassen.« Seine Miene wies darauf hin, daß sie bei irgendeinem Test durchgefallen waren. Wahrscheinlich beim Intelligenztest, dachte Orme. Von Madeleines Widerstand erwähnte er nichts. Trotzdem mußte der Krsh merken, daß etwas mit ihr nicht stimmte. Ihre Haut war beinahe grau, und ihre Augen wanderten von links nach rechts und von rechts nach links, als erwartete sie einen Angriff. Es war gut möglich, daß er auch nicht besser aussah. War er blaß unter seiner dunklen Farbe, sah sein Gesicht angestrengt aus? Weder Bronski noch Shirazi wirkten entspannt. Die Plaform bewegte sich immer noch langsam aufwärts, hielt dann aber, etwa zehn Meter über dem Boden, an. Minuten vergingen. Er hielt die Hand über die Augen und schaute zu dem Globus auf. Er leuchtete hell wie immer. Aus der dichtgedrängten Menge in der Mie des Platzes trat ein Krsh. Sein Gewand war blau und weiß gestrei. Über seinem natürlichen Bart trug er einen falschen, lang, lockig und rot, in der rechten Hand den Scha eines Hirtenstabes aus dunkelblauem Holz. | 140 |
»Rabbi Manasseh ben-Makhir«, flüsterte Hfathon Orme ins Ohr. Der Rabbi erhob den Stab. Das Brausen und die Musik verwandelten sich in völlige Stille, nur von ein paar schreienden Kleinkindern unterbrochen. Eine Frau am Rande der Menge unterhalb der Plaform öffnete ihr Kleid und steckte dem Baby ihre Brustwarze in den Mund, worauf es verstummte. Orme, der die prachtvolle Brust sah, fühlte, wie sich seine Lenden spannten. Eine Sekunde später empfand er Scham. Hier stand er, wartete auf den Messias, der in wenigen Minuten erscheinen würde, und war sexuell erregt. »Herr, vergib mir«, murmelte er. Aber er dachte: »Was häe ich dagegen tun können? Es ist schon lange, lange her, und ich bin kein Heiliger.« Der Rabbi begann mit einem Gesang. Beim drien Satz fiel die Menge ein. Der Text war hebräisch. Orme verstand kein Wort, er sang mit, zunächst mit sinnlosen Klanggebilden, dann zum englischen Vaterunser übergehend. Hfathon stieß ihn leicht an und sagte: »Du brauchst nicht mitzusingen. Es ist besser zu schweigen, als die falschen Worte zu sagen.« Orme spürte, wie sein Gesicht vor Scham brannte. Wieder hob der Rabbi den Stab. Und wieder Stille, bis auf das Kindergeschrei. Aber es schienen nicht mehr so viele zu sein. Orme blickte nicht mehr nach unten. Er wollte sich nicht von bloßen Brüsten ablenken lassen. »Trotzdem«, dachte er, „... er kennt meine Gedanken und weiß Bescheid.« Aber eine Sekunde später hielt er das für Unsinn. Schließlich war nach allem, was man ihm erzählt hae, der Messias nur ein Mensch – wenn auch von Go adoptiert – und kein Telepath. Und dann dachte er: »Ich weiß nicht einmal, ob er das ist, was sie von ihm sagen. Vielleicht hat Danton recht.« Noch einen Augenblick später murmelte er: »O Herr, hilf mir meine Zweifel besiegen. Laß mich die Wahrheit glauben.« Aha, das war es also! Aber sprach da nur das Kind in ihm, das Kind, das alles geglaubt hae, was Vater und Muer ihm erzählten? Dieses Kind, das niemals stirbt? | 141 |
Er merkte, daß, während er in seine Gedanken versunken gewesen war, der Rabbi die Menge in einem anderen Gesang anführte, dieses Mal in Krsh. Diese Worte verstand er, zumindest weitgehend, und fiel ein. Aber der drie Gesang war hebräisch, und er schwieg, denn er bemerkte Hfathons strengen Blick. Der Rabbi erhob seinen Stab, die eine Million Stimmen, die Kleinkinder ausgenommen, verrannen wie Meereswellen im Sand. Langsam starben die glühenden, pulsierenden Lichter, und das klare Blau trat an ihre Stelle. Aber gleich darauf begann die Sonne sich zu verfinstern, und ein langgezogener Aufschrei der Ehrfurcht wurde laut. Schnell trübte sich der blaue Himmel und wurde schwarz. Die Kugel erglühte rot und wurde dann unsichtbar, während Nacht die Höhle erfüllte. Orme konnte nicht einmal Hfathon oder Danton neben sich erkennen. Um ihn und in ihm war nichts als völlige Finsternis, und das einzige Geräusch war das Singen in seinen Ohren, das Blut, das durch seine Gefäße schoß. Selbst die Säuglinge waren jetzt ruhig, obwohl man gerade von ihnen und den kleineren Kindern in diesem Moment Geschrei erwartet häe. Wie lange das dauerte? Er konnte es nicht sagen. Es kam ihm vor wie viele Minuten. Plötzlich ein Aufstampfen. Orme fuhr zusammen. Es war das Ende des Stabs, das der Rabbiner auf den Boden gestoßen hae. Er erhob seine Stimme, und wieder brach die Menge in Gesang aus. Er hae nicht aufgehört, in die Höhe zu blicken, darum bemerkte er, wie das zuerst schwärzlichrote Glühen der Sonne wieder Leben gewann. Langsam wurde sie heller, bis ihr Licht eine Stärke erreichte, die es ihm möglich machte, die neben ihm Stehenden und den inneren Kreis der Menge zu sehen. Aber es war ein geisterhaes Licht, und die Menschen sahen aus wie Gespenster. Wieder sang das Volk, worauf die Sonne ein wenig heller wurde. Wieder stieg der Ruf der Ehrfurcht aus der Menge. Orme erkannte vor dem Hintergrund des orangefarbenen Globus einen schwarzen Punkt. Er bewegte sich abwärts und wurde größer. Die Sonne wurde noch heller, wenn auch nicht so stark, daß er | 142 |
nicht in Abständen von ein oder zwei Sekunden einen Blick auf sie werfen konnte. Was da herunterkam, war nun so nahe, daß man es als winziges Männchen erkennen konnte. Er stöhnte und hielt Dantons Hand fest. Sie war kalt und naß. Hinter ihm furzte jemand ganz laut. Orme kicherte – er konnte sich nicht beherrschen. Er erwartete, daß man den Schuldigen tadeln würde, aber die anderen auf der Plaform brachen in lautes Gelächter aus. Er drehte sich um und erblickte Ya’aqob, grinsend, aber schamrot. Der Rabbi, der die Sache nicht erheiternd fand, obwohl er sicher wußte, daß das Lachen nur ein Lockern der Anspannung bedeutete, stieß seinen Stab auf die Steine und gebot Schweigen. Orme schaute wieder nach oben. Danton sagte: »Deine Zähne klappern, Richard.« Er biß die Zähne zusammen, merkte, daß er bebte wie im Fieber, und erwiderte: »Du siehst auch nicht besonders gut aus, Madeleine. « Ebensowenig schien Shirazi innerlich ruhig zu sein. Seine Haut war blaß, und er biß sich auf die Lippen. Bronskis Lippen waren geöffnet, obwohl er die Zähne zusammengebissen hae, die Hände waren halb vor der Brust verkramp. Ein in ein himmelblaues Gewand gekleideter Mann schwebte herab. Seine Füße waren nackt. Das lange Haar umwehte ihn, Haar, das dunkelrot zu sein schien. Seine Hände und Arme hingen seitlich hinunter, den Kopf hae er in den Nacken geworfen. Der Rabbi rief: »Ya Yeshua’ ha-Meshiakh!«, und die Menge brüllte den Gruß mit: »O Jesus der Messias!« Der Mann, der unter dem Schreien, Rufen und Schluchzen von einer Million Menschen auf der Plaform landete, war etwa einen Meter achtundsiebzig groß. Sein Haar und Bart waren tizianrot. Das Gesicht war das eines gutaussehenden Levantiners. Es hae jedoch nicht die Züge, die das berühmte Turiner Grabtuch wiedergibt. Die Arme waren muskulös, aber nicht massig. Die Hände waren groß, wirkten jedoch durch die langen Finger weniger breit. Die Augen: schwarz, klar, leuchtend. Die Lippen waren, fand Orme, ein wenig zu dick, aber schließlich stand es | 143 |
gerade ihm kaum zu, hier Kritik zu üben. Die Backenknochen waren hoch, die Wangen ein wenig eingefallen, die Nase lang und leicht gebogen. Er hae ein kräiges, wohlgerundetes Kinn mit einem tiefen Grübchen. Die Haut zeigte ein wundervolles Goldbraun. Einen Augenblick stand er dort und sah die Menschen auf der Plaform an. Dann wandte er sich um, hob die rechte Hand und sprach in einem wohltönenden Bariton, mit einer Stimme, in der große Macht lag: »Möge der Geist der Heiligkeit euch weiterhin lächeln, meine Kinder. Er ist wohlzufrieden mit euch, und der Tag der Rückkehr ist nahe.« Minutenlang jubelte ihm die Menge zu. Endlich hob er die Hand und gebot Schweigen. Sofort wurde es still, bis auf die Säuglinge, die wieder weinten. »Die Wiederkun steht nahe bevor, aber wir haben noch viel Arbeit. Morgen werden eure Anführer euch die Einzelheiten mitteilen. In großen Zügen kennt ihr unseren Plan. Darum will ich nicht, wie ich es in der Vergangenheit getan habe, den Tag mit euch verbringen.« Die Menge stöhnte. Er lächelte und fuhr fort: »Aber ich werde nicht so schnell, wie ich es sonst gewöhnt bin, in mein Haus zurückkehren. Dieses Mal werde ich zwei Wochen bei euch sein.« Eine Million jubelte. Hfathon brüllte Orme ins Ohr: »Das ist eine ganz besondere Ehrung für euch vier! Er bleibt bestimmt euretwegen!« Orme hörte ihn kaum. Seine Benommenheit stieg, wenn auch nicht so, daß er sein eigenes Ziern nicht mehr wahrgenommen häe. Er spürte einen heigen, schmerzhaen Harndrang. Die Gestalt Jesu flackerte vor seinen Augen, als würde er sie durch Hitzewellen hindurch sehen. Jesus hob die Hand. Wieder erstarb das Geräusch der Masse, als habe man einen Schalter gedrückt. »Geht nun hin, meine Kinder, in die Synagoge und betet euren Vater an, und danach erfreut euch am Feiern, am Lachen und an | 144 |
der Liebe und an allen den guten Dingen, mit denen euer Vater euch gesegnet hat. Schalom.« Dann drehte sich Jesus um und kam auf die vier zu. Orme fiel auf die Knie und küßte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. »Vergib mir, Herr«, sagte er. »Ich zweifelte. Ich habe Übles getan. Ich ...« Alles um ihn herum drehte sich plötzlich. Das nächste, was er wahrnahm, war, daß er auf dem Rücken lag und in ein bärtiges Gesicht sah. »Was ist passiert?« »Du bist in Ohnmacht gefallen«, erklärte Hfathon. »Madeleine auch.«
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ie vier Terraner saßen im vorderen Zimmer des Hauses der Shirazis. »Es war eine reine Gefühlssache«, erklärte Orme. »Alles konditionierte Reflexe. Mein Kinderglaube hat die Macht übernommen. Jetzt bin ich wieder ganz in Ordnung. Cool, total cool. Ich kann ihn ganz objektiv sehen.« Mit einem schwachen Grinsen fügte er hinzu: »Solange er nicht in der Nähe ist.« Madeleine hae, seit sie die Plaform verlassen hae, kaum etwas gesagt. Gestützt von Nadir, war sie nach Hause gelangt. Orme hielt sie für beschämt und gedemütigt. Kein Wunder. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr war sie überzeugte Atheistin. Sie verachtete offen alle, die glaubten, es könne einen Go geben, und lachte die Leute aus, die behaupteten, Jesus sei Goes Sohn. Richtig war, daß die Marsianer nicht auf der jungfräulichen Geburt beharrten. Tatsächlich lehnten sie sie sogar ab. Der Anblick eines Mannes, der von der Sonne herabschwebte, eines Mannes, von dem die Marsianer nicht nur glaubten, daß er seit mehr als zweitausend Jahren lebte, sondern der diese Tatsache auch beweisen konnte, schließlich die überaus starke Ähnlichkeit dieses Mannes mit den Bildern, die bei ihren Eltern zu Hause, in Kirchen und Kunstgalerien hingen – all dies war nicht zu leugnen und hae sie mit der Gewalt eines Sturmes ergriffen. Der lange begrabene, aber nie wirklich tote Glaube war wieder lebendig geworden. Oder lag es daran, daß sie plötzlich daran gezweifelt hae, recht zu haben? War das Bild, das sie selbst von sich hae, zerstört worden – dieses Bild einer wissenschalich denkenden, skeptischen, durch und durch rationalen Person? Zum Schlimmsten, das einem Menschen passieren konnte, gehörte der Zusammenbruch der eigenen Überzeugungen in kürzester Frist. Dagegen gab es keine Abwehr außer Wahnsinn oder Selbstmord – wenn die auf diese Art überfallene Person nicht große Charakterstärke besaß. Sie war stark, wenigstens hae sie das bisher immer geglaubt. | 146 |
Augenblicklich sah sie freilich aus, als sei sie gerade erst, und auch nur bis zu einem gewissen Grade, von einer langen Krankheit genesen. Avram Bronski brach das lange Schweigen, das Ormes Worten gefolgt war. »Ich bin auch fast ohnmächtig geworden«, sagte er. »Also reg dich deshalb nicht auf, Richard. Es war ein ungeheuerliches Erlebnis. Aber, wie du sagst, wir müssen cool bleiben. Bestimmt gibt es eine Erklärung dafür, daß er ohne sichtbare Hilfen durch die Lu schweben konnte. Sichtbar ist das Wort, auf das es ankommt. Wer weiß, was für eine Vorrichtung er unter seinem Gewand getragen hat? Dieses Luboot, das uns zur Plaform brachte, hae auch keinen erkennbaren Antrieb. Warum sollte es bei ihm nicht ebenso sein?« Das war einleuchtend. Trotzdem glaubte keiner, daß es die richtige Erklärung war. Der Mann namens Jesus strahlte eine Macht aus, die es schwermachte, nicht zu glauben, daß er wirklich der war, für den die Marsianer ihn hielten. Es lag nicht an seinen Worten, in denen nichts Besonderes steckte. Es waren auch weder sein Gesicht noch seine Haltung, die zwar schön und stark und beeindruckend waren, die sie aber bei anderen Menschen, die sie gekannt haen, schon genausogut oder besser gesehen haen. Es war eine Kra, ein Charisma (ein Wort, das heute wenig bedeutete, weil man es zu häufig und zu unangebracht benutzt hae), eine unsichtbare, geballte Energie, die er ausströmte. Die Krsh und die Menschen hier wünschten sich intensiv, ihn zu sehen, zu berühren, bei ihm zu sein, um in diesem Strom seiner Macht zu baden. Dagegen fürchteten sich die Erdmenschen vor ihm und haen Angst davor, ihn wiederzusehen. Gleichzeitig zog sie das menschliche Magnetfeld an, das er ausstrahlte. Aber schon bald mußten sie ihn wieder treffen. Es ließ sich nicht vermeiden. Vielleicht fürchteten sie sich auch gar nicht vor ihm: Sie haen Angst vor sich selbst. Seine Kra war nicht auf den persönlichen, direkten Kontakt beschränkt. Später am gleichen Morgen, als sie das Fernsehen anstellten, sahen sie ihn aus dem Hauptgebäude der Regierung | 147 |
herauskommen, und die Wirkung des Holographenbildes war fast genauso stark wie sein persönliches Erscheinen auf der Plaform. Mien in der Sendung stand Danton auf und schaltete das Gerät ab. Niemand wendete etwas ein. »Ich weiß nicht«, sagte Madeleine und schüelte den Kopf. »Was weißt du nicht?« fragte Nadir. »Ich weiß einfach nicht.« Ohne sich zu entschuldigen, lief sie ins Schlafzimmer. Der Iraner wollte aufstehen und ihr nachgehen, überlegte es sich jedoch anders. Er setzte sich wieder hin und erklärte: »Ich mache mir Sorgen um sie. Ich schaffe es nicht, daß sie mir sagt, was sie quält.« »Das weißt du doch selber«, erwiderte Orme. Shirazi gab keine Antwort. Was nützte es auch. In diesem Augenblick schaltete sich der Fernseher ein, und das sechzig Zentimeter hohe Abbild Hfathons stand vor ihnen. »Schalom«, sagte er. »Ich wollte euch bien, gleich in die Universität zu kommen, damit ihr anfangen könnt, an der nächsten Botscha zur Erde zu arbeiten. Sobald wir sie übertragen haben, wird man euch gestaen, von Zeit zu Zeit mit euren Leuten zu sprechen.« Wenn er damit gerechnet hae, daß sie sich über diese Nachricht freuen würden, wurde er enäuscht. Die drei sahen düster aus und sagten einen Moment gar nichts. Dann antwortete Orme: »Wir kommen gleich, jedenfalls wir drei. Ich weiß nicht, wie es mit Madeleine ist.« Die fedrigen Augenbrauen des Krsh hoben sich. »Sie muß nicht mitkommen, wenn sie nicht will. Ihr müßt allerdings euren Kollegen auf der Erde erklären, warum sie nicht dabei ist. Sonst kommen sie dort auf irgendwelche finsteren Gedanken.« Orme klope an die Tür des Schlafzimmers, da Shirazi keine Anstalten machte, zu ihr zu gehen. Zu seinem Erstaunen antwortete sie, sie käme in einer Minute. Orme kam grinsend in das Vorderzimmer zurück. »Vielleicht machen wir uns zuviel Sorgen um sie. Ich finde, sie hört sich ganz munter an. Schließlich ist sie seelisch so stabil, wie man nur sein kann. Sonst wäre sie ja schließlich nicht hier.« | 148 |
Bronski lächelte schief. »Jeder hat einen Punkt, an dem ihm der Faden reißt, und der Grund dafür können Sachen sein, die beim Psychotest gar nicht hochkommen.« »So ist es recht«, gab Orme zurück, »sei du nur ein Pessimist!« Madeleine war nicht gerade lebha, antwortete jedoch, wenn man sie ansprach. Als sie aber Hfathons Büro betraten, schnappte sie nach Lu und sah aus, als wollte sie davonrennen. Orme nahm es ihr nicht übel. Auch er war verblü. Am Schreibtisch des Krsh saß der Messias. Er stand auf und sagte freundlich: »Schalom, meine Freunde. Ich bin hier, um euch bei den Vorbereitungen zu eurer Sendung zu helfen. Ich kann die Sache wesentlich beschleunigen.« Orme griff, bildlich gesprochen, tief in sein Inneres und zerrte seinen ganzen Mut heraus. Warum sollte er sich fühlen wie ein unartiges Kind, das von einem strengen und mächtigen Erwachsenen bei irgend etwas Schrecklichem erwischt worden war? Er war ein Mann, ein verdammt guter sogar, und es war lächerlich, sich von diesem anderen Mann einschüchtern zu lassen. Jesus hae ihn nicht bedroht. Er wirkte sehr freundlich und durchaus bereit, andere als fast gleichgestellt zu behandeln. Warum konnte er sich also nicht entspannen? Aber das war leichter gesagt als getan. Trotzdem ging er auf Jesus zu, streckte die Hand aus und schae ein schwaches Lächeln. »Schalom, Rabbi.« Jesus sah auf die Hand hinunter und warf Hfathon einen fragenden Blick zu. Der Krsh erläuterte: »Rabbi, auf der Erde ist es üblich, sich zur Begrüßung die Hände zu schüeln.« Zu Orme sagte er: »Aber hier küßt man dem Messias die Hand.« Orme fühlte sich schon etwas besser. Der Messias war nicht allwissend. Jesus sagte: »Sie sind unsere Gäste. Es schadet nichts, einen harmlosen Brauch zu ehren.« Jesus streckte die Hand aus. Der Marsfahrer nahm sie und spürte einen kravollen Druck und ein leichtes Prickeln. Er hae | 149 |
das Gefühl, dieser Mann könnte ihm die Hand zerquetschen, wenn er das wollte. Aber vielleicht ging auch nur seine Phantasie mit ihm durch. Jesus begrüßte nun auch die andern mit Handschlag. Madeleine hae sich offenbar zusammengerissen. Sie schüelte ihm kurz und kräig die Hand und sah ihm direkt in die großen, dunklen Rehaugen. Gute Frau! dachte Orme. Sie ist so zäh wie wir. Trotzdem sah sie ein bißchen blaß aus. Shirazi und Bronski übrigens auch. »Mit eurer Erlaubnis«, sagte Jesus in einem Ton, dem man entnehmen konnte, daß er uneingeschränkte Zustimmung erwartete, »werde ich nun etwas tun, das ich selten tue. Das Volk liebt solche Sachen, obwohl ich o genug gesagt habe, daß sie viel zu sehr an billige, pseudomagische Tricks erinnern. Ich habe auch gesagt, daß sie sie selbst nachmachen sollten und es auch könnten, wenn sie nur genügend an die eigene Kra glauben. Nach dem, was Hfathon und seine Kollegen mir von dem Buch erzählen, das ihr das Neue Testament nennt, soll ich auf der Erde sogenannte Wunder vollbracht haben. Es war nicht so, aber ich häe es tun können, obwohl ich das damals nicht wußte. Selbst der Sohn der Menschheit ist nicht vollkommen, wie ich einst in Palästina erklärt habe. Nur das Göliche Wesen ist vollkommen, und nur Go ist gut. Aber ich bin sein Sohn, den er angenommen hat, und darum kann ich manche Dinge tun, die anderen Sterblichen nicht möglich sind, jedenfalls bisher nicht.« Er trat an einen Tisch und goß Wein in fünf Gläser. »Zuerst wollen wir etwas trinken. Trinkt mit mir, meine Freunde.« Orme nahm das Glas aus seiner Hand. Er dachte an seine Eltern, die sich standha weigerten, irgendein alkoholisches Getränk zu sich zu nehmen, obwohl sie daran glaubten, daß Jesus bei der Hochzeit zu Kana Wein in Wasser verwandelt hae. Wenn sie Jesus jetzt sehen könnten, würde sie zweifellos der Schlag rühren. Sie tranken den Wein und folgten dann dem Messias durch viele Räume in einen gewaltigen Hörsaal. Dort warteten Fernseh| 150 |
teams auf sie, viele Mitarbeiter der Universität und eine große Zahl staatlicher Beamter. Auch einige bevorzugte Studenten und, ohne Zweifel, ein paar Familienangehörige von hochgestellten Persönlichkeiten waren darunter. Die Veernwirtscha existierte hier wie auf der Erde. Sie wurde nur ein wenig zurückhaltender gehandhabt. Jesus ging voraus und sprach mit den Fernsehdirektoren und Produzenten, die ihm alle die Hand küssen mußten. Orme machte das Spaß. Sie waren so respektvoll und demütig. Seine Erlebnisse mit Fernsehleuten auf der Erde haen ihn eher verärgert, sie waren so herablassend gewesen. Vor allem die Beamten in den Fernsehanstalten, die doch ihrerseits sofort bereit waren, ihren Vorgesetzten weiter oben und den Politikern in den Hintern zu kriechen. Er wanderte ein bißchen umher. Die Kameras waren hochinteressante, zigareenpäckchengroße Apparate, die die Kameraleute in einer Hand hielten, während sie durch eine verstellbare Teleskoplinse schauten, die oben an den Kameras befestigt war. Manche haen auch Stirnbänder, an denen Kameras saßen, die an ein Auge angepaßt waren. Man schaute durch ein Loch in der Kamera und konnte mit einem Rädchen an der Seite des Apparates das Bild heranführen oder die Entfernung vergrößern. Es gab an den Kameras weder Drähte noch Kabel. Am einen Ende des riesigen Raums standen Arbeitsgruppen, die die Übertragung überwachten, sie zusammenschnien, das Mischpult bedienten und andere, seltsame Dinge taten, verwirrend für den Laien. Neben ihnen befand sich ein Podium, auf dem ein Orchester saß. Orme, der einen Blick auf die Musiker warf, war erstaunt, als er Gulthilo unter ihnen sah. Sie übte ein paar Takte auf ihrer Flöte. Sofort ging er zu ihr hinauf. »Gulthilo!« Sie unterbrach ihr Spiel und lächelte auf ihn herunter: »Richard Orme! Wie steht es mit deiner Gesundheit?« Das sagten die Marsianer nach zweitausend Jahren immer | 151 |
noch, obwohl kaum jemals einer von ihnen krank wurde. »Es geht mir gut, nur etwas wacklig auf den Beinen bin ich. Es ist nicht leicht, sich an ihn ...« – er machte eine Gebärde zu dem Messias hinüber – „... zu gewöhnen.« Gulthilo sah Jesus anbetend an. »Du wirst dich nie an ihn gewöhnen.« Dann schaute sie ihn an und lächelte. Er hae das Gefühl dahinzuschmelzen. Sie war so schön. »Hast du über unser letztes Zusammentreffen nachgedacht?« »Ich denke immer daran, Tag und Nacht.« Das war eine Lüge, aber er hae wirklich viel an sie gedacht. »Und das Ergebnis?« »Jede Menge Erektionen«, antwortete er und fragte sich, ob der Kodex hier eine so freie Redeweise zuließ. Sie verlor ihr Lächeln, gewann es jedoch schnell zurück. »Ist das alles?« »Nein, nicht alles. Paß auf, Gulthilo. Ich glaube, ich bin in dich verliebt. Aber kenne ich dich wirklich? Kennst du mich wirklich? Wir kommen aus so unterschiedlichen Kulturen. Könnten wir ohne ständige Reibereien miteinander auskommen? Ich meine, unter Eheleuten gibt es immer Differenzen, auch wenn sie aus demselben Kulturkreis stammen. Da gibt es die immer vorhandene Reibung, weil jeder eben anders ist als der andere – und Reibungen, die allein am Unterschied der Geschlechter liegen. Aber in unserer Situation ... es ist ja nicht nur, daß du jüdisch bist. Du bist eine Marsjüdin, und was für eine Welt von Unterschieden das bedeutet! Wenn das nicht wäre ... nun ...« »Aber«, erwiderte sie, »du würdest ja Jude werden. Wir könnten sonst nicht heiraten, und ich würde dich auch nicht heiraten.« Schweigen entstand zwischen ihnen, obwohl es rundherum mehr als laut war. Die Musiker bliesen, fiedelten, tuteten, klirrten und trommelten. Etwas weiter weg brüllten die Fernsehteams, und es gab Gelächter, vielleicht über etwas, was Jesus gesagt hae, weil es aus der Gruppe kam, die um ihn herumstand. »Ich will nicht mit dir diskutieren oder dich darum bien«, erklärte Gulthilo. »Aber ich sehe keinen Grund, warum du zögern | 152 |
solltest. Zu konvertieren, meine ich. Du bist ein intelligenter Mann. Sonst würde ich nicht einmal daran denken, deine Frau zu werden, so araktiv du auch körperlich sein magst. Aber ich weiß, daß wir ein sehr liebevolles Paar wären, mindestens sechzig bis siebzig Jahre lang, vielleicht länger. Ich habe deine physikochemiko-psychischen Unterlagen eingeschickt, und der Bericht ergab, daß wir gut zusammenpassen. Und deine Gene sind durchaus annehmbar, wenn auch eine ererbte Diabetesneigung vorliegt und du mit fünfundfünfzig Jahren Leberkrebs bekommen haben würdest. Aber das ist berichtigt worden. Wir würden schöne, intelligente Kinder haben und sehr glücklich sein. Nicht daß es nicht auch Zeiten mit Streit und Unglücklichsein geben würde. Aber damit kann man fertig werden.« Das Leben auf dem Mars, so schien es ihm, war eine Serie völlig überraschender, geradezu betäubender Eröffnungen. Mindestens eine Minute lang versagte ihm die Zunge. Dann explodierte er: »Jesus Christus!« Gulthilo blickte verständnislos. Er merkte, daß er englisch gesprochen hae. »Soll das heißen«, fragte er in seinem langsamen Krsh, »daß du hingegangen bist und meine genetischen Tabellen – oder wie immer man das hier nennt – eingereicht hast ohne mich zu fragen?« »Warum sollte ich fragen?« »Nun, schließlich bin ich der andere Partner! Häest du mich nicht fragen müssen? Und wenn sich aus den Tabellen eine totale Unvereinbarkeit ergeben häe? Richtet ihr euch ausschließlich danach? Dür ihr denn nicht heiraten, wie ihr es wollt, ganz gleich, was die Tabellen sagen?« »O ja. Wir dürfen. Einige kümmern sich nicht um die Tabellen. Schließlich gibt es ja noch etwas wie Leidenscha, weißt du. Solltest du wissen. Aber über zweitausend Jahre lang haben sich die Tabellen als zu 98,1 Prozent richtig erwiesen, wenn sie eine gute Ehe vorausgesagt haben. Ich habe nicht gesagt, eine himmelhochjauchzende Ehe. So etwas gibt es nicht, abgesehen vielleicht vom ersten Jahr. Gute, solide Ehen mit einer Liebe, die Bestand hat. | 153 |
Aber nach dem, was du mir erzählt hast, haben die Leute auf der Erde nicht den Charakter für diese Art Ehe.« »Vielleicht habe ich ein bißchen übertrieben«, antwortete er. »Also gut. Und was ist mit den 1,9 Prozent?« »Sie haben keine Kinder. Irgendwie sind sie unfruchtbar.« »Ich dachte, eure Wissenschaler könnten alle Leute fruchtbar machen?« »Theoretisch ja. Aber nicht in diesen Fällen.« Sie zögerte, zeigte dann schnell auf etwas hinter ihm und ließ die Hand wieder sinken. »Man hat es nie ausgesprochen, nicht in der Öffentlichkeit. Aber man geht allgemein davon aus, daß er für diese Unfruchtbarkeit verantwortlich ist.« Orme schaute sich um. »Wer? Oh, du meinst ihn?« Gulthilo nickte. Orme blickte sie ungläubig an. »Jetzt hör aber auf! Weißt du, was du da sagst? Er kann eine Empfängnis verhindern ... einfach so ... wie? Durch Denken? Fernverhütung?« »Ich weiß nicht, wie er es macht. Aber es ist so, wenigstens glauben wir es. Wie sollte man es sonst erklären?« »Sehr wahrscheinlich sind eure Wissenschaler dafür verantwortlich. Oder, besser gesagt, eure Regierung.« »Aber nein!« antwortete sie. »Das wäre gegen das Gesetz.« »Also tut er etwas Ungesetzliches?« »Er ist das höhere Gesetz.« Orme seufzte. Sie war naiv, wenn sie glaubte, die Staatsführung täte nichts Unerlaubtes. Oder doch nicht? Immerhin kannte sie ihre Welt besser als er. Und würde die Regierung es überhaupt wagen, etwas Verbrecherisches zu tun? Alle Regierungsmitglieder waren sich ständig der zwei Augen bewußt, die da von der Sonne aus auf sie niederblickten und, jedenfalls theoretisch, alles sahen. »Wir kommen von meiner Frage ab«, sagte sie. Eine Antwort blieb Orme erspart. Ein Krsh trat zu ihm und forderte ihn auf, sich zu den anderen auf die Vorzugsplätze zu setzen. Er sollte schweigen, bis er an die Reihe kam zu reden. Orme berührte den Fuß der blonden Frau und folgte dem Krsh | 154 |
in eine Ecke des Raumes. Dort setzte er sich zu Bronski und Shirazi, die so aussahen, als würden sie gern etwas sagen, sich aber nicht trauten. Ein paar Minuten später begann das Orchester mit einer leisen, langsamen Musik. Hfathon, in helles Licht getaucht, erschien in der Mie des gewaltigen Saals. Ein Dutzend Kameraleute, an verschiedenen Stellen postiert, schaute durch die Linsen der Apparate in ihren Händen. Orme sah nach oben. Auch dort standen auf Baikonen hoch über der Wand zwei Kameramänner. Ein Direktor gab das Zeichen. Die Musik wurde leiser und klagend und endete zuletzt in einem Zimbelschmeern, das Orme entsetzt in die Höhe fahren ließ. Hfathon, lächelnd, begann eine Rede auf griechisch.
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n ungefähr elf Minuten, überlegte Orme, würden die Satelliten-Leitstationen, die oberhalb der Erde kreisten, das alles übertragen. Und in den Sendestationen des ganzen Planeten würden Gelehrte sitzen, Spezialisten für neutestamentarisches Griechisch, die es so schnell wie möglich in ihre Heimatsprachen übersetzten. Manche Worte mußten schwierig für sie sein, denn das bekannte Vokabular war gering. Man würde sich später darüber den Kopf zerbrechen müssen. Hfathon und zehn andere haen bei ihren »Gästen« Englisch gelernt, aber die Lektionen haen nie länger als eine Stunde gedauert und auch nicht jeden Tag stagefunden. Es würde noch ein paar Monate dauern, bis die Schüler fließend sprechen konnten, und ihr Wortschatz würde begrenzt sein. Jedoch verfügten Hfathon und drei von den anderen über eine perfekte StandardToronto-Aussprache und würden von jedem, der Englisch sprach, ganz gleich, wo es war, verstanden werden. Orme hae sich erboten, die gesamten Gespräche zu führen. Man häe damit auf Dolmetscher verzichten können. Aber man hae seinen Vorschlag ohne weitere Erklärung abgelehnt. Er glaubte, daß die Marsianer deshalb auf der Verwendung von Koine bestanden, weil es dazu beitrug, ihre Echtheit zu beweisen. Die Leute auf der Erde konnten nicht daran zweifeln, daß die Marsianer das neutestamentarische Griechisch beherrschten, und zwar besser als die irdischen Gelehrten. Es war ein weiteres Indiz dafür, daß ihre Geschichte wahr war. Zwar konnten die Terraner vielleicht vermuten, Bronski habe die Marsianer in dieser Sprache unterrichtet. Aber er konnte nur fließend lesen. Zudem war es selbst für die extrem Mißtrauischen ein bißchen weit hergeholt, sich vorzustellen, die Marsianer würden sich der großen Mühe unterziehen und Koine lernen, nur um einen dicken Schwindel noch dicker zu machen. Plötzlich hörte Hfathon auf zu reden. Das Orchester spielte ein paar Takte eines Stücks, das ihn an den Anfang der Ouvertüre zu Beethovens Siebenter erinnerte. Yeshua’ ha-Meshiakh, Jesus der | 156 |
Christus – oder jedenfalls eine akzeptable Nachahmung, dachte Orme – trat langsam in die Mie des Raums. Hfathon, der ihm gegenüberstand, schri zurück in die Schaen. Jesus erhob die Hand. Die Musik verstummte. Er fing an, auf griechisch zu reden, mit der tiefen Stimme, die Schauder über Ormes Rücken jagte und seine Kopaut frösteln ließ. Orme sah sich um, stellte fest, daß niemand auf ihn achtete – obwohl vielleicht versteckte Kameras auf ihn gerichtet waren –, und flüsterte Bronski ins Ohr: »Was sagt er?« Bronski wendete den Kopf und legte den Mund ganz nah an Ormes Ohr. Zugleich versuchte er, den Sprecher mit einem Auge zu verfolgen. »Er sagt, er tut es nicht gern, aber er hält es für nötig, seine Macht zu demonstrieren. Er ist sich klar darüber, daß man solche Sachen fälschen kann, aber er hat unter strengsten Laborbedingungen das gleiche getan. Die Filme darüber werden später noch gesendet. Natürlich ist es grundsätzlich möglich, daß seine Leute lügen, was die Ergebnisse angeht. Deshalb sollen wir vier nachher bei einer anderen Vorführung dabeisein und uns selbst und damit die Erde davon überzeugen, daß seine Macht wirklich so groß ist, wie er sagt.« »Schon, aber dann behaupten sie, man häe uns gezwungen, alles zu bestätigen.« »Das sagt er auch gerade. Oh, oh!« »Was? Was?« »Er sagt, wenn auch das nicht genügt, wird er alle überzeugen, sobald er auf die Erde kommt!« »Ya Yeshua’!« riefen die Zuhörer mit leiser, tiefer Stimme. Orme wollte noch etwas sagen, aber etwas Hartes stieß ihn in den Rücken. Er drehte sich um und sah einen riesigen Krsh hinter den Sitzen stehen. In der Hand hae er eine lange Holzstange, mit deren Ende er Orme angestoßen hae. Der Krsh schüelte den Kopf und legte einen Finger auf die Lippen. Orme wandte sich mit einem Gefühl ab, als habe ihn der Küster in der Kirche getadelt. Die Gestalt im blauen Gewand in der Saalmie erhob die Hände über den Kopf. Dann stieg sie etwa drei Meter vom Boden | 157 |
in die Lu und drehte sich langsam um die eigene Achse, die Arme jetzt seitlich ausgebreitet, bis drei Umdrehungen vollendet waren. Das Orchester spielte eine wilde Melodie in einer Molltonart. »Wie eine Zaubervorführung«, murmelte Orme. Aber das hier, davon war er überzeugt, war kein Trick. Welche Reaktion würde Jesu Aussage, daß er zur Erde kommen würde, hervorrufen? Natürlich große Bestürzung. Vor allem unter den Staatsmännern und den Gläubigen aller Art. Es war die aufregendste Nachricht, die die Erde je erreicht hae – mit Auswirkungen, die nicht nur theologischer Art waren. Sie würden sich auf alle Bereiche erstrecken, politische, religiöse, wirtschaliche, psychologische – auf alles nur Erdenkliche. Wie viele Länder würden ihren Bürgern diese Sendung überhaupt zeigen? Die kommunistischen Staaten bestimmt nicht. Die hohen Beamten der kommunistischen Regierung würden sie sehen, den Inhalt aber der Bevölkerung nicht weiterleiten. Dennoch ließ sich so etwas nicht auf Dauer vor den Massen geheimhalten. Bald würden geschmuggelte Kasseen im Umlauf sein, trotz heigster Anstrengungen, sie zu unterdrücken. Und was würden die Regierungen der sozialistischen Demokratien unternehmen? Übertrugen sie das alles für das Volk? Oder überlegten sie gerade qualvoll, was sie damit machen sollten? Viele Gruppen würden mit ungeheurer Wut reagieren, wenn man diese Nachricht ausstrahlte. Die Fundamentalchristen, die Katholiken und die Griechisch-Orthodoxen, möglicherweise die orthodoxen und die reformierten Juden, die Moslems, obwohl sie in Nordamerika keine starke politische Macht darstellten, und wer weiß wieviel andere abseitige Kulte. Die Reaktion der liberaleren Kirchen konnte man nicht voraussagen. Aber alle, einschließlich der Liberalen, würden Vermutungen über einen Punkt anstellen: Was war, wenn das hier wirklich Jesus war und sie sich alle geirrt haen? Was die Hindus betraf, so würden sie versuchen, diesen Jesus vom Mars in ihre Religion zu integrieren, wie sie fast jeden anderen neuen Go assimiliert haen. Aber nein, das ging nicht, weil | 158 |
dieser Jesus bestri, ein Go zu sein. Außerdem würde er die Totalität der Hindureligion ablehnen. Was wiederum die Agnostiker und Atheisten anging, so würden sie sich genauso aufregen und ihm Vorwürfe machen wie die anderen. Es war eine politische Atombombe, die man da den führenden Politikern der Erde in den Schoß gelegt hae. Was würden sie damit anfangen? Ignorieren konnten sie die Angelegenheit nicht. Die Politiker würden schwitzen und Sodbrennen bekommen, die Schlangen vor den Cheoileen würden Minute für Minute wachsen. Orme beendete diese Mutmaßungen, als Jesus san auf dem Boden landete. Er sagte etwas, lächelte und wandte sich dann den Sitzenden zu. Er zeigte direkt auf Orme, jedenfalls sah es so aus. »Er wird ...«, sagte Bronski mit leiser, erregter Stimme. Den Rest hörte Richard Orme nicht mehr. Plötzlich schwebte er in die Höhe, vom Sitz nach oben, und bewegte sich über dem Fußboden in der Lu auf den Mann zu, der mit dem Finger auf ihn deutete. Orme wehrte sich nicht. Schließlich war er an Schwerelosigkeit gewöhnt. Er fühlte sich betäubt, aber nicht so stark, daß er nicht hoe, er sähe weder furchtsam noch lächerlich aus. Wenigstens häe Jesus ihn vorwarnen können. »Fürchte dich nicht!« rief Jesus auf Krsh. »Es geschieht dir nichts!« Er fügte etwas auf griechisch hinzu, wahrscheinlich – nahm Orme an – eine Übersetzung dieser Worte. Orme hae keine Zeit, über solche Nebensächlichkeiten nachzudenken. Er stieg weiter aufwärts, bis sein Kopf fast die Decke berührte. Auf einer Seite und von unten haen die Kameraleute auf den Baikonen ihre Apparate auf ihn gerichtet. Er versuchte zu lächeln, schlug dann aber einen Salto und begann zu sinken, wobei er sich immer weiter drehte, wenn auch nicht so schnell, daß ihm schwindlig wurde. Gut zwei Meter über dem Boden hörte das Herumwirbeln auf, und er verharrte schwebend auf der Stelle. »Ich bie um Entschuldigung, Richard Orme«, sagte Jesus. | 159 |
»Aber das hier ist nötig, weil du der Kapitän der Terraner bist und dein Wort einiges gelten sollte.« Er bog den Finger, und Orme landete leicht auf seinen Füßen. Plötzlich war sein Gewicht wieder da. Er stand da, zwinkerte mit den Augen und lächelte jetzt auch. Allerdings ein etwas törichtes Lächeln. »Jetzt«, sagte der Mann im blauen Gewand, »würde ich mich freuen, wenn du deinen Leuten, natürlich auf englisch, sagen würdest, daß hier kein Trick angewendet wurde.« Die großen Rehaugen schienen ihm zuzuzwinkern. Aber Orme hae das Gefühl, daß ihr Licht sich in Stahl brach. Auch wenn Sterne blinkten, kam ihr Licht von einem Feuer, das einen Menschen in einer Mikrosekunde verbrennen konnte. Orme wollte reden, stellte fest, daß er nach Lu rang, wartete, bis er wieder zu Atem kam, und sagte dann: »Was Jesus sagt, ist wahr. Man hat keine Drähte an mir befestigt, auch kein Antriebsgerät ... nichts. Und es kam für mich völlig überraschend. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber ...« Er häe den Namen Jesus nicht aussprechen sollen. Das würde andeuten, daß er dem Mann glaubte, das zu sein, was er behauptete. Und – glaubte er es denn nicht? »Danke«, sagte Jesus. Orme wandte sich ab und begann auf die Sitze zuzugehen. Er blieb stehen. Er zierte zu sehr, um weiterzulaufen, seine Beine schienen unter ihm nachzugeben. Und dann wurde er hochgehoben und in Richtung Stuhl befördert, in der Lu genau darüber angehalten, umgedreht und vorsichtig hineingesetzt. Die Menge dröhnte: »Ya Yeshua’ ha-Meshiakh!« Jesus erhob die Hand. Alles verstummte. Gleich darauf traten ein Krsh und ein Menschenmann in den Lichtschein. Sie zogen Seile, an denen ein Käfig auf Rädern befestigt war. Darin befand sich ein gewaltiger Widder. Hinter dem Käfig folgte ein Krsh, der in der einen Hand einen kurzen, schlanken Speer mit einer Kugel am unteren Ende trug, in der anderen eine große Axt. Der Widder blökte und stieß mit den Hörnern gegen die Gierstäbe vor dem Käfig. Welches Schicksal ihn auch erwartete, | 160 |
er fürchtete sich nicht. Er war bereit zum Kampf. Die Männer hielten kurz vor Jesus an, verneigten sich vor ihm und öffneten die Käfigtür. Einen Augenblick stand der Widder bewegungslos, wenn auch nicht stumm, dann stürzte er aus seinem Gefängnis, direkt auf den Mann im blauen Gewand zu. Die Menge schnappte nach Lu, manche stießen Rufe aus. Jesus achtete nicht auf sie. Er heete seinen Blick auf den Widder und deutete mit einer Fingerspitze auf das Tier, das ziernd anhielt. Der Krsh, ein Mann mit sichtbar kräigeren Muskeln als die meisten seiner Gefährten, trat vor. Er stellte sich neben das Tier und hob die Axt. Das Licht brach sich im Stahl der Schneide. Jesus sagte etwas, und der Krsh schlug mit der Axt zu. Ihre Schneide ging gla durch das wollige Fell, die schweren Nakkenmuskeln, die Knochen und die Haut. Der Kopf fiel zu Boden; Blut spritzte hervor und durchtränkte den unteren Teil des blauen Gewandes und die nackten Füße darunter. Orme glaubte, er müsse sich erbrechen. Bronski und Danton sagten etwas mit erstickter Stimme. Shirazi rief etwas Persisches. Die Menge jedoch verharrte schweigend. Bronski flüsterte: »Das ist nicht die richtige, koschere Methode, ein Tier zu töten. Ich nehme allerdings an, daß man es nicht essen wird, darum macht es nichts.« Jesus schri durch das Blut, bückte sich, hob den Kopf des Widders auf und hielt ihn hoch. Das Blut lief ihm über Hände und Arme. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, drückte den Kopf an den Rumpf des Widders und stand auf. Er richtete die Augen nach oben. Sein Mund bewegte sich wortlos. Wieder kniete er, strich mit den Fingern über die Schnistellen und erhob sich. Er trat zurück. Der Widder erhob sich taumelnd. Sein Kopf fiel nicht ab. Jesus wies dem Tier mit dem Finger den Weg, und es troete in seinen Käfig. Die Tür wurde geschlossen; der Käfig, die beiden, die ihn gezogen haen, und der Mann mit der Axt verschwanden in den Schaen. »Ya Yeshua’ ha-Meshiakh!« Der Ruf war eine Mischung aus Ehrfurcht und Triumph. | 161 |
Bronski umklammerte Ormes Arm. »Um Goes willen! Das Blut verdamp!« Es stimmte. Die rote Flüssigkeit verkochte. Innerhalb von zwanzig Sekunden waren der Boden, das Gewand und der Mann so sauber wie vor dem blutigen Schauspiel. Jesus hob die Hände und sagte etwas auf hebräisch, wahrscheinlich einen Segen. Dann ging er fort, und Orme sah ihn an diesem Tag nicht wieder. Obwohl Bronski ebenso erschüert war wie sein Gefährte, behielt er immer noch seine rabbinische Neugier. »Ich frage mich«, murmelte er, »ob er sich jetzt rituell reinigen lassen muß, nachdem er total mit Blut bespritzt war? Oder ist alles, was er tut, koscher, weil er der Messias ist? Oder bestand vielleicht gar keine Unreinheit, weil das Blut verdunstet und er körperlich sauber ist? Oder was?«
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in Wächter häe vom Turm der Zentralverwaltung aus bei »Sonnenuntergang« in der ganzen Höhle kein Licht mehr gesehen, außer in den beiden Häusern der Nichtjuden und von dem blassen Globus, der unter dem Höhlendach hing. Dann plötzlich leuchteten in den vorderen Fenstern aller Häuser kleine Lichter auf, als habe Go gesagt: »Es werde Licht«. Es waren die Lampen, die die Männer in den Häusern anzündeten, Lampen mit Brennöl aus dem Fe »reiner« Tiere. Bei ihren Flammen wurden die Abendgebete gesprochen, und die Familien standen am Fenster, während der Vater die Litanei an den Schöpfer rezitierte. Dann wurden die Lampen wieder gelöscht und die elektrische Beleuchtung angeschaltet, die Familien setzten sich gemeinsam zum guten und reichhaltigen Mahl, bei dem die gute Laune floß wie Wein. Das Abendessen im Haus der Shirazis, wo alle vier Terraner aßen, war lebha, aber nicht froh. »Das Schaf könnte ein Roboter gewesen sein«, sagte Madeleine Danton. Sie legte ihre Gabel neben den Teller, auf dem das Essen kalt wurde. »Es muß einfach so gewesen sein. Das ist die einzig vernünige Erklärung, und ich werde auf nichts Unvernüniges mehr hören.« »Du bist selber unvernünig«, sagte ihr Mann. »Könnten wir einen so lebensechten Roboter herstellen?« »Wir vielleicht nicht. Aber diese Leute sind uns technisch auch weit überlegen.« »Vielleicht glaubst du auch, daß Jesus ein Roboter ist oder überhaupt alle Marsianer welche sind?« »Du brauchst nicht so sarkastisch zu sein, Nadir. Ich finde es auch nicht besonders angenehm, wenn du so tust, als ob ich spinne.« »Das glaube ich ja gar nicht«, antwortete Shirazi. »Was ich denke ist, daß du dich nicht benimmst wie eine Wissenschalerin. Du bist zu stur. Nicht nur in dieser Sache, sondern überhaupt.« Er | 163 |
war immer noch zornig, weil Madeleine sich geweigert hae, für sie zu kochen. Sie erklärte, daß das genausowenig ihre Aufgabe sei wie seine. Außerdem konnte sie nicht kochen. »Und du bist Biochemikerin«, hae Nadir angewidert erklärt. Diese Bemerkung hae die Spannung zwischen ihnen nicht gerade vermindert. »Ich bin jedenfalls kein Roboter«, meinte Orme. »Und ich weiß, daß man keine elektrischen oder mechanischen Vorrichtungen benutzt hat, um mich hochzuheben. Wenn diese Leute hier AntiSchwerkra haben, dann haben sie mich trotzdem nicht an irgendwelche Anti-Schwerkra-Maschinen angeschlossen.« Danton nahm ihre Gabel wieder auf, betrachtete das Roastbeef mit Salzkartoffeln und Spargel und legte die Gabel hin. »Vielleicht haben sie eine Art Anziehungsstrahl.« Orme lachte. »Das häe ich sicher gespürt.« Bronski setzte hinzu: »Und was ist mit dem Blut, das da verdunstet ist?« »Irgendeine chemische Zusammensetzung oder Mischung.« »Aber«, fragte Orme, »du hast doch bestimmt auch fühlen können, daß dieses Tier lebendig war?« »Ich habe nichts gefühlt.« »Du fühlst überhaupt nichts«, bemerkte Nadir. »Ich merke es schon eine ganze Weile.« »Wir wollen jetzt nicht persönlich werden«, erwiderte sie kalt. Nadir stand abrupt auf und verließ mit finsterem Gesicht das Haus. Ohne Zweifel häe er gern die Tür zugeknallt, aber eine hydraulische Vorrichtung hinderte ihn daran. Danton sagte: »Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll. Wir würden prima miteinander auskommen, wenn da nicht diese ... diese Sache mit Jesus wäre.« Orme und Bronski schwiegen. Was den Iraner beunruhigte, quälte auch sie. Aber Nadirs Widerstand war noch größer, weil er Moslem war. Bronski war schließlich als orthodoxer Jude aufgewachsen. Für ihn war es leichter, diesen Glauben wieder anzunehmen. Orme war Christ, und wenn er Jude würde, bliebe er trotzdem in gewisser Weise Christ, wenn auch nicht in der Form, wie | 164 |
die meisten Terraner es verstanden. Wenigstens bis jetzt, dachte er trübe. Nadir Shirazi war, wie seine beiden männlichen Kollegen, überwältigt von den Beweisen dafür, daß der Mann, den er als Jesus Christus kannte, mehr war als nur ein Mann. In seiner Religion war Jesus ein großer Prophet, der größte bis zum Erscheinen Mohammeds. Kein frommer Moslem sprach verächtlich über Jesus. Es war nur die götzenanbeterische Haltung der Christen ihm gegenüber, gegen die die Moslems etwas haen. Er war nicht der Sohn Goes als Ergebnis gölichen Geschlechtsverkehrs und auch nicht Go, und es gab keine Heilige Dreieinigkeit. Aber hier war nun ein Mann, der Jesus zu sein schien, und er bestri die eigene Gölichkeit und die jungfräuliche Geburt. Trotzdem war er der Sohn Goes, wenn auch nur ein angenommener Sohn. Er war vom Tod auferweckt worden, aber das heilige Buch der Moslems, der Koran, leugnete, daß er je am Kreuz gestorben war. Das Haupthindernis für einen Übertri zum marsianischen Glauben war, daß er Jude werden mußte. Bei seinen Kämpfen um die Begründung einer neuen Religion war Mohammed von einer Reihe jüdischer Wüstenstämme, die hauptsächlich aus konvertierten Arabern bestanden, verraten worden. Das Vorurteil gegen die Juden war daher schon sehr alt. Und doch hae der Prophet die Juden zu den Völkern des Buchs, des Alten Testaments, gerechnet, das er verehrte. Die toleranteren Moslemherrscher des Vorund Hochmielalters, vor allem in Iberien, haen die Juden ihren Go anbeten lassen, wie es ihnen gefiel, und sie sogar zu Wesiren ihrer Staaten gemacht. Jüdische Philosophen und Gelehrte genossen hohes Ansehen. Aber die palästinensische Frage, der Zionismus und das Entstehen des Staates Israel haen den Konflikt verhärtet und verschär. Er war ebenso politisch, ökonomisch und national wie religiös, aber für die meisten Moslems blieb es eine religiöse Auseinandersetzung. Shirazi war Perser und kein Araber, und sein Land war erst vor kurzem unmielbar in den Krieg gegen Israel verwickelt worden. Trotzdem sympathisierten viele Iraner mit ihren Glaubensgenossen – Moslem zu sein bedeutete, den Juden zu verabscheuen. | 165 |
Shirazi hae keine Schwierigkeiten gehabt, Bronskis Freund zu werden. Er war hochgebildet und stand der buchstäblichen Gültigkeit des Korans skeptisch gegenüber. In Persien war er klug genug gewesen, diese Ansichten für sich zu behalten, außer bei gleichgesinnten Freunden. Trotzdem hae er schließlich aus dem Iran fliehen müssen, weil er die Unterdrückung der Redefreiheit und die Verhaung verschiedener Freunde, die nicht vorsichtig genug gewesen waren, nicht länger ertrug. Shirazi konnte mit einzelnen Juden gut befreundet sein, aber die tiefe Abneigung gegen ihre Religion als solche lebte in ihm weiter. Er gab zu, daß diese Haltung rein emotional war, aber seine anerzogenen Reflexe waren so stark, daß sie den Sieg über seinen Verstand davontrugen. Er wußte es, konnte aber nicht dagegen an. Er war ein Moslem, den man vor unwiderlegbare Beweise gestellt hae, daß das Judentum die wahre Religion war. Es mußte so sein, wenn diese Religion den lebendigen Jesus herbeischaffen konnte, den er, trotz des Korans, für moderndes Gebein in einem Felsengrab gehalten hae, wo er die Auferwekkung aller Toten beim Jüngsten Gericht erwartete. Deshalb blieb Shirazi, obwohl er einräumte, daß Jesus war, was er zu sein behauptete, innerlich zerrissen. Dieser Kampf in ihm war ebenso heig wie bei Danton, obwohl die Elemente des Konflikts andere waren. Orme führte seinen eigenen inneren Kampf. Die Lösung für einen Frieden mit sich selbst schien ihm an sich einfach. Er brauchte nur zum nächsten Rabbi zu gehen und zu erklären, er wolle konvertieren. Rational und emotional wünschte er sich das sogar. Aber irgend etwas in ihm wehrte sich dagegen, eine tiefe, starke Gegenströmung. Was es war, wußte er nicht. Vielleicht alles, was er über den Antichrist gehört hae, den falschen Christus, der in den Tagen vor dem Jüngsten Gericht erscheinen würde. Er hae in der Bibel von ihm gelesen, viele Predigten über ihn gehört, und seine Eltern haen viel von ihm gesprochen. Der Antichrist würde vielen als der wahre Christus erscheinen. War dieser Jesus jener Mann? Orme wußte es nicht und hae auch keine Möglichkeit, die | 166 |
Wahrheit zu beweisen oder zu widerlegen. Er mußte sich auf seinen Glauben oder, anders ausgedrückt, auf seinen Instinkt verlassen. Wenn er ein wirklicher Christ war, müßte er durch die Fassade hindurchschauen und erkennen, ob der echte oder der falsche Jesus dahintersteckte. Vielleicht war das gerade das Problem. Er war kein wahrer Christ. Vielleicht hae er zwar seiner Religion mehr als nur Lippenbekenntnisse dargebracht – aber es war noch nicht genug. Das Schweigen dauerte an. Plötzlich stand er auf. »Ich gehe spazieren. Hier ist es zu sehr wie bei einem Begräbnis. Ich möchte ein paar lebendige Leute sehen.« Auch Bronski erhob sich. »Ich gehe nach Hause. Tut mir leid, Madeleine. Trotzdem danke fürs Abendessen.« »Ich glaube, wir drehen alle durch«, sagte sie. »Und warum nicht? Wir leben in einer irrationalen Umgebung.« Orme bedankte sich für das Abendessen und ging. Bronski folgte ihm bis zur Straßenmie. »Möchtest du mitkommen?« fragte Orme. »Nein. Ich muß nachdenken. Oder nachfühlen. Ich weiß noch nicht, was von beiden. Ganz gleich, was es ist, ich hoffe auf ein Ergebnis.« »Also, wenn wir verwirrt und beunruhigt sind«, meinte Orme, »befinden wir uns in guter Gesellscha. Ich stelle mir vor, daß es auf der Erde Milliarden so geht wie uns.« »So verstört wie wir können die nicht sein. Schließlich haben wir dies alles erlebt, und sie sehen bloß etwas im Fernsehen. Es ist der gleiche Unterschied wie bei einem Schuß, der wirklich auf dich gezielt ist, und einem Filmschauspieler, der den Kugeln ausweicht. « Sie sagten einander gute Nacht, und Orme ging weiter die Straße entlang. Das einzige Licht kam aus den Fenstern der Häuser und von dem »Mond«. Er war allerdings wenigstens um ein Viertel heller als der Vollmond auf der Erde. Ein Splier Dunkelheit faßte den Globus seitlich ein und ahmte so das Abnehmen des Erdsatelliten nach. Als er es zum ersten Mal sah, hae Orme sich gefragt, warum man das überhaupt brauchte. Die Antwort hae | 167 |
gelautet, daß der Globus dem gleichen Phasenablauf folgte wie der Mond, so wie man ihn von Palästina aus sah. Die alten Feste und Feiertage, die einst nach dem wirklichen Mond festgesetzt worden waren, wurden immer noch abgehalten, allerdings mit leichten Änderungen. Es gab hier drei Erntezeiten, und die notwendigen Anpassungen waren vorgenommen worden. Die »Sonne« stand natürlich immer im Miag, so daß von der Erde übernommene Sonnwendfeiern sich danach nicht richten konnten. Aber die Marsianer folgten dem Jahreskalender der Erde, so wie auch ihr Tag dem Erdentag entsprach. Passah und Yom Kippur wurden einmal jährlich abgehalten, das Laubhüenfest dreimal. Er dachte, daß es viel praktischer gewesen wäre, einfach so zu tun, als habe der Mond Phasen. Das würde dem Land mehr Beleuchtung geben. Sha’ul hae erwidert, das sei richtig, aber sie brauchten das Licht nicht. Die meisten Leute blieben nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause, außer bei großen Festen. Wenn sie ausgingen, konnten sie elektrische Laternen oder Taschenlampen benutzen. Als er so durch Straßen ging, die durchaus keine kleinen Nebenstraßen waren, fand er sich so gut wie allein. Einige Radfahrer, ein Paar in einem Einspänner, zwei Fußgänger und eine Gruppe in einem Auto waren alles, was er auf einem einstündigen Spaziergang traf. Er wollte gerade umkehren, als er einen städtischen Parkplatz sah. Warum nicht ein bißchen herumfahren? Er nahm das erste Fahrzeug, das langgezogen gebaut war und drei Sitzreihen hae. Einen Augenblick danach rollte er über die Superlandstraße, die hellen Scheinwerfer vor sich auf dem Weg. Eine weitere Viertelstunde später bog er in eine Straße ein, die direkt auf ein Dorf zuführte. Weil er im Mondlicht gut sehen konnte und nicht schneller als zehn Meilen in der Stunde fuhr, machte er die Scheinwerfer aus. Es war angenehm, wie ein Phantom die Reihen hoher Bäume am Straßenrand entlangzufahren, vorbei an Häusern, aus deren offenen Fenstern Bruchstücke von Liedern drangen, Ausbrüche von Gelächter, lebhae Unterhaltungen. Einmal sah er vor sich eine große Masse und fuhr noch langsamer, aber es war nur | 168 |
eine Kuh, die die Straße überquerte. Irgendein Bauer hae nicht aufgepaßt und das Tor offengelassen. Orme fand das tröstlich. Manchmal hae er nämlich das Gefühl, die Menschen hier seien vollkommen, und seine eigene Unvollkommenheit machte ihn mutlos. Und doch war hier kein Utopia, die Marsianer waren so menschlich wie er, auch wenn sie von der menschlichen Kra zum Guten mehr mitbekommen haen – sie konnten vergeßlich sein oder nachlässig. Wenig später passierte er ein Haus, aus dem laute, zornige Stimmen ertönten. Er sah eine Mann und eine Frau, die am Fenster standen und einander mit den Fingern drohten. Noch ein Indiz dafür, daß sie nicht vollkommen waren, keine Roboter. Der Unterschied lag darin, daß der Streit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in einer Prügelei oder mit Mord enden würde. Wenn es eine ernsthae Auseinandersetzung war, die sie nicht unter sich regeln konnten, würden sie zum Schiedsmann oder zur Schiedsfrau ihrer Nachbarscha gehen, und dieser oder diese würde die Angelegenheit regeln. Der Brauch verlangte es, und man hielt sich daran. Das Gute an den Marsianern war, daß sie gute Bräuche beibehielten und schlechte abschaen. Was funktionierte, war richtig – sofern es nicht gegen die gute Sie verstieß; jedenfalls in der Regel. Aber konnte dieses System auf der Erde überhaupt funktionieren? Hier oben klappte es, weil sie den Mann in der Sonne beziehungsweise den Mann im Mond haen, und er überwachte sie genau, und sie wußten es. In der Praxis, wenn auch nicht in der Theorie, stand ein Go an der Spitze des Staates und der Familie. Die Erde hae keinen Jesus. Zumindest keinen lebendigen. Als er das Dorf hinter sich gelassen hae, erhöhte er die Geschwindigkeit und raste über die Landstraße, soweit man bei fünfunddreißig Meilen pro Stunde von rasen sprechen konnte. Das Mondlicht stand zwischen den Bäumen und bildete ein schwarzweißes Muster. Dunkelheit, Licht, Dunkelheit, Licht. Ein Symbol für sein Leben hier. Und natürlich auch auf der Erde. Würde er am Ende der Straße ein großes, weißes Licht finden, | 169 |
heller als alle anderen Lichter? Tatsächlich. Es war kein blendendes Licht, sondern eines, das angenehm leuchtete, aber es war, vom Mond abgesehen, ganz sicher das hellste Licht, das er seit Beginn seiner Wanderfahrt gesehen hae. Es kam aus einem großen Langhaus, das in einiger Entfernung von der Straße stand und an drei Seiten von mächtigen Bäumen umgeben war. Große Lampen waren unter dem weit überstehenden Dach angebracht und erhellten einen davor liegenden Parkplatz. Dort standen mehr als zwanzig Autos, sechs Fahrräder und zwei Einspänner. Es gab keine Fenster, und die einzige, hohe Tür war geschlossen. Orme stoppte das Auto. Es sah aus, als ob hier gefeiert würde. Sollte er mal hineinschauen? Man hae ihm versichert, er sei überall willkommen, bestimmte Regierungsgebäude ausgenommen. Er hae es plötzlich sa, allein zu sein. Der Spaziergang und die Fahrt haen ihm für sein Problem keine Lösung gebracht. Eigentlich hae er nicht einmal richtig darüber nachgedacht. Er hae es vorgehabt, aber irgend etwas in ihm war zugeklappt wie eine Falltür. Während er noch zögerte, sah er, wie die Tür aufging. Musik und Lachen dröhnten heraus, der Luzug trug ihm den Geruch von Wein und noch Stärkerem zu. Ein Mann zeichnete sich im Türrahmen ab. Hinter ihm befanden sich Tische, an denen Männer und Frauen saßen. Weiter hinten tanzten einige Paare. Der Mann trat hinaus unter die Dachbeleuchtung. Orme rief ihn an. »Philemon?« Der Mann fuhr zusammen und kam dann über den Parkplatz zur Straße herüber. Das Mondlicht fiel auf Ormes schwarzes Gesicht. Philemon blieb stehen und fuhr sich mit der Hand durch das rote Lockenhaar. Er murmelte etwas Unverständliches und sagte dann: »Richard Orme! Wie hast du denn hierhergefunden?« »Zufällig. Ich fuhr einfach so vor mich hin, und als ich die Autos und die Räder sah, dachte ich, vielleicht sei hier etwas los. Ich fühlte mich einsam, und deshalb ...« Philemon ging hinten am Auto vorbei und spähte die Straße auf und ab. | 170 |
»Bist du sicher, daß keiner dich verfolgt?« »Nein. Warum sollte man?« »Egal. Fahr zum Haus und stell das Auto vor der Tür ab.« Der junge Sportler stieg neben Orme ein. Er beugte sich zu ihm hinüber und hauchte Alkohol in Ormes Nasenlöcher. »Ich häe dich schon längst mit hierher genommen, aber du fällst zu sehr auf mit deiner schwarzen Haut und dem Kraushaar. Außerdem wußte ich nicht, wie du reagieren würdest.« Orme fuhr das Auto auf den Parkplatz. »Wovon redest du eigentlich?« »Egal. Komm nur mit.« Orme fragte sich, woher Philemon den Schnaps hae, von dessen Erzeugung hierzulande er nicht einmal etwas geahnt hae. Er betrat das Gebäude, und der junge Mann schloß hinter ihm die Tür. Die Musik dröhnte in seine Ohren, und der Geruch von Wein, Schnaps und schwitzenden Körpern drang ihm in die Nase. Das regte ihn nicht auf – es war wie in einer Disko auf der Erde, nur daß der Zigareenqualm fehlte, und das wiederum fand Orme gut. Als die Leute ihn erblickten, verstummte das Gespräch. Nur die Kapelle schien, bis auf ein kleines Aussetzen im Takt, die Ruhe zu bewahren. Philemon winkte mit der Hand, um anzudeuten, daß alles in Ordnung war, und die Gespräche setzten wieder ein. Orme hae den Verdacht, daß sie sich jetzt überwiegend um ihn drehten. Er folgte dem Athleten an einen kleinen, runden Tisch mit schmalen Stühlen. Drei waren leer. Auf dem vierten saß eine dunkle, hübsche Frau. Philemon setzte sich, forderte Orme auf, Platz zu nehmen und stellte seine Begleiterin vor. »Debhorah batEl’azar. Sie weiß natürlich, wer du bist.« Sie schien nicht weiter überrascht zu sein. Ihre glasigen Augen und der Schnapsgeruch, der sie umgab, wiesen darauf hin, daß es im Augenblick kaum etwas gab, auf das sie reagieren würde. Philemon bemerkte Ormes Gesichtsausdruck und lachte vor sich hin. »Sie hat schon viel zuviel, das ist bei ihr immer so.« Orme hae Schwierigkeiten, sich damit abzufinden, daß es | 171 |
so etwas hier überhaupt geben konnte. Er befand sich in einer Flüsterkneipe wie aus der Prohibitionszeit der dreißiger Jahre. Philemon brüllte dem Barmann eine Bestellung zu, und kurz darauf brachte eine Kellnerin in durchsichtigem Gewand zwei Gläser. Die dunkle Frau beschwerte sich, wenn auch nur schwach und mit undeutlicher Stimme, und verlangte ebenfalls ein Glas. Philemon bedeutete ihr, sie habe genug, und sie versank in einen Zustand der Betäubung. Gleich darauf war sie eingeschlafen, den Kopf auf den Tisch gebeet. Orme probierte den purpurfarbigen Schnaps. Er schmeckte wie Bourbon-Whiskey, vermischt mit Granatapfelsa und einem Schuß Tonic Water. »Woher bekommt ihr das?« fragte er. »Unser verehrter Herbergsvater braut es aus Weizen und verschiedenen anderen Ingredienzen. Trink aus, es ist ein fabelhaes Zeug.« Der erste Schluck schmeckte Orme nicht, aber dann ging ihm der Schnaps leicht hinunter. Sein Magen erwärmte sich, und bald fühlte er sich zugleich taub und sehr vergnügt. »Wow!« »Das ist ein vorzüglicher Ausruf«, erklärte Philemon erfreut. »Wow!« »Ich kapiere das nicht«, sagte Orme und machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Ist das denn nicht verboten?« »Doch, das schon. Aber es ist so, mein kraushaariger Freund von der fernen und frevelhaen Erde. Siehst du, wir fühlen uns ab und zu eingeengt – manche von uns sogar immer – und frustriert, und dann kommen wir hierher – oder an einen ähnlichen Ort, es gibt allein in dieser Höhle ein Dutzend –, und wir betrinken uns und tun noch ein paar andere Dinge, über die unsere älteren Leute die Stirn runzeln würden. Ich fürchte, sie würden sogar noch mehr tun, als nur ein finsteres Gesicht zu machen.« Orme nahm noch einen Schluck und zeigte dann auf ein Paar, das an einem Tisch in einer entfernten Ecke saß. Jeder hae die Hand unter dem Gewand des anderen; Mund war auf Mund | 172 |
gepreßt. »So?« Philemon drehte den Kopf und rollte die Augen wie eine Eule. »So und noch mehr.« Er versuchte, deutlich zu sprechen, obwohl seine Worte nur noch ein undeutliches Nuscheln waren. Orme nahm einen weiteren Schluck und fragte: »Werden diese beiden nun bald heiraten?« »Nicht unne ... unbedingt.« »Das heißt, ihr jungen Rebellen kommt nur hierher, um Dampf abzulassen? Dabei habe ich gedacht, du würdest kaum etwas trinken. Wie bleibst du in Form für deine Weläufe?« Philemon leerte sein Glas und brüllte nach der nächsten Runde. »Der nächste Wekampf findet erst in zwei Monaten sta. Ich komm ... komme nur zur Entspannung her. Zeit genug, um wieder in Form ... Norm ... ich meine Form ... zu kommen.« Orme schüelte den Kopf. »Ich kann’s nicht fassen. Ich bin richtig naiv gewesen. Ich habe tatsächlich geglaubt, hier benimmt sich jeder, wie er soll. Aber das hier ... was passiert, wenn ihr erwischt werdet?« Die Kellnerin stellte zwei neue Gläser hin. Debhorah hob plötzlich den Kopf, stierte stumpfsinnig vor sich hin und griff nach dem einen Glas. Philemon schob ihre Hand weg, und sie schlief wieder ein. Er trank sein Glas in einem Zug halb aus und erklärte: »Öffentliche Demügung ... Demütigung ... für uns alle. Hausch ... verdammt noch mal! ... Hausarrest. Jede Menge g-guter Lehren. Ich düre ein Jahr nicht an Wekämpfen teilnehmen, und wenn ich mich in der Öffentlichkeit zeigen düre, müßte ... ich ein’ Monat lange Eschelsohrn ... Eselsohren tragen. Aber es l-lohnt sich. Sieh dir diese besoffene Deb-Debhorah da an. Jedesmal voll! Wie kann man sich da richtig lieben?« »Aha«, sagte Orme. »Also doch eine Fliege im Balsam von Gilead.« »Weißt du«, antwortete Philemon feierlich, »hab’ noch nie ‘ne Fliege gesehen. Von ihnen gelesen, natürlich. Bilder gesehen. Aber | 173 |
in Wirklichkeit weiß ich nicht, was eine Fielge ... Fliege ... ist.« »Wenn du auf die Erde kommst, wirst du es schon merken. Ich mache euch miteinander bekannt.« Die Hochstimmung ließ nach und machte einer Enäuschung Platz. Er sagte sich selbst, daß das Gefühl falsch war. Die Marsianer waren keine Engel, sondern Menschen. Man konnte nicht erwarten, daß sie alle nach dem hohen silichen Standard lebten, zu dem sie sich bekannten. Trotzdem – wie konnten sie sich derart aufführen, sie, die unmielbar unter den Augen des Messias lebten und wußten, daß er das war, was er zu sein behauptete, die ihn zum Vorbild haen? Wie konnten sie überhaupt den Wunsch nach so etwas haben? Natürlich gab es in jedem Faß mit Äpfeln auch ein paar faule. Obwohl diese Gäste der marsianischen Flüsterkneipe nicht wirklich verdorben waren. Was hier vorging, würde man – ein paar puritanische Bürger vielleicht ausgenommen – auf der Erde als völlig normal ansehen. Es war ja nicht so, daß sie schlecht waren oder lasterha. Was ihn störte, war nur ihre Einstellung, wenn er sie mit der verglich, die er beim größten Teil der Bevölkerung beobachtet hae. Die Musik verstummte. Die wild umherspringenden, sich verrenkenden Tänzer, von denen einige schon umgekippt waren, gingen, stolperten oder krochen von der Tanzfläche. Die Musiker verließen das Podium an der anderen Seite der Bar. Zum ersten Mal sah er auch die Flötenspielerin, die bisher von den anderen Spielern halb verdeckt gewesen war. Er stand so abrupt auf, daß der Tisch kippte. Philemons Glas stürzte um und rutschte auf den Boden. Auch Debhorah fiel um und schlug unsan auf die Tischplae. Orme stierte einen Augenblick hinüber und rief dann: »Gulthilo!«
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ch wollte meinen Augen nicht trauen, als du hereinkamst«, sagte sie. Sie bestellte mit einer Handbewegung etwas zu trinken und setzte sich. Die Kellnerin brachte ihr ein Glas mit dem Schnaps und füllte Ormes Glas neu. Philemon, der entrüstet aussah, erhob sich unsicher und schwankte an die Bar. »Es war reiner Zufall, daß ich angehalten habe«, erläuterte Orme. »Bist du hier Stammgast?« »Nein, aber ich komme gelegentlich her. Natürlich gibt es noch andere Lokale.« »Warum?« fragte er. »Warum es noch andere Lokale gibt?« »Nein. Du weißt, was ich meine.« Sie nahm seine rechte Hand und küßte sie. »Weil wir gern in solche Lokale gehen und uns erniedrigen. Es macht Spaß, sich sinnlos zu betrinken, zu flirten und manchmal mit jemandem zu schlafen. Wir fühlen uns dann besser, zumindest eine Zeitlang. Und ... es gefällt uns, wenn uns ab und zu so ein kleiner Streich gelingt ...« »Kindisch.« »Tatsächlich? Nun, wie Yeshua gesagt hat: ›Gesegnet seien die Kinder.‹« Sie hob ihr Glas. »Ein Hoch auf die Kinder und Verwirrung für ihn.« Orme war entsetzt. »Das meinst du doch nicht wirklich?« »Sieh dich doch an, wie du da sitzt, Krreebrht trinkst und die Gesellscha der Söhne und Töchter der Grauzone genießt. Du siehst nicht so aus, als ob du uns anzeigen wolltest.« »Der Grauzone?« Sie nahm noch einen Schluck, sagte »Auha!« und fächelte ihrem offenen Mund Lu zu. »Oh, wie das brennt! Ja, die Söhne und Töchter der Grauzone. Wir sind nicht die Söhne der Finsternis, weißt du. Wir sind wirklich nicht böse. Wir machen uns bloß ein paar schöne Stunden, obwohl ich viele Leute kenne, die bezweifeln würden, daß sie | 175 |
auch gut sind. Darum, auch wenn wir uns nicht so verhalten wie die Söhne des Lichts, benehmen wir uns doch auch nicht so wie die Söhne der Finsternis. Wir sind die Grauen. Die dazwischen. Jedenfalls, solange wir hier sind. Die übrige Zeit ...« »Könnt ihr kein Wässerchen trüben.« Sie lachte und antwortete: »Das muß ein Ausdruck von der Erde sein. Ja, es stimmt.« Orme seufzte und trank. »Uneinigkeit und Unzufriedenheit im Himmel«, meinte er. Er spürte einen Luzug und drehte sich um. Ein Krsh-Mann und eine Krsh-Frau waren hereingekommen und gingen zu einem der hinteren Ecktische. Offensichtlich haen sie schon unterwegs getrunken. »Die Krsh auch«, sagte er. »Wieso nicht?« fragte Gulthilo. »Sie sind vernunbegabt, also menschlich. Hör zu, wir sind nicht böse, nur ein bißchen schlimm. Unsere Sünden sind unbedeutend. Er wird uns vergeben. Jedenfalls, wenn er uns erwischen sollte.« »Und wenn ihr erwischt werdet? Ihr müßt diese schreckliche Demütigung ertragen.« Sie trank wieder. »Ich glaube, der Unterschied zwischen unseren Sündern und denen auf der Erde liegt darin, daß wir bereit sind, den Preis zu zahlen. Nach dem, was ich gehört habe, seid ihr nicht allzu verantwortungsbewußt.« »Ich habe niemanden über Sünde und Sünder reden hören, seitdem ich mein Elternhaus verließ«, antwortete Orme. »In gewisser Weise ist es erfrischend.« Gulthilo legte ihm die Hand auf den Arm. »Wie steht es nun eigentlich? Hast du dich entschieden?« Ihre Berührung erregte ihn, aber er zog seinen Arm fort. Fast automatisch hob er das Glas, um noch einen Drink zu bestellen, stellte es dann aber wieder hin. Der Schnaps nahm ihm die Hemmungen. Noch ein paar Schlucke, und er würde sie auffordern, draußen mit ihm in die Büsche zu gehen. Und das wäre gleichbedeutend mit einem Heiratsantrag. Aber stimmte das denn überhaupt? Was hae sie da vorhin erzählt – vom Schlafen mit | 176 |
jemandem? »Hör zu«, sagte er wild, »bist du nur keusch geblieben – jedenfalls bei mir –, damit ich dich heirate? Du hast doch nicht etwa in der ganzen Zeit Liebhaber gehabt und dabei mir erzählt, daß du mich liebst und wie gern du mich heiraten möchtest?« Sie lachte und gab zurück: »Ich habe dir gesagt, daß ich keck und vorwitzig bin. Was ich dir nicht sagen werde, ist, ob ich Liebhaber gehabt habe oder nicht. Das hat mit meiner Liebe zu dir nichts zu tun. Außerdem, selbst wenn ich welche gehabt häe, würde ich dir nach der Hochzeit treu bleiben. Aber du bist einer Antwort schon wieder ausgewichen.« Er antwortete nicht. Sie trank wieder, lachte wieder und erklärte: »Du bist eifersüchtig.« »Gut, dann bin ich es eben. Na und?« Sie schwiegen beide lange. Ein großer, braunbärtiger Mann kam an den Tisch. »Die Pause ist gleich vorbei, Gulthilo. Ah’hab sagt, er möchte früh schließen. Noch drei Stücke, und wir hören auf.« »Kommt ihr ohne mich aus?« fragte Gulthilo. »Wir sprechen vom Heiraten.« Der Kapellmeister sah erstaunt aus, nickte aber und ging. »Vielleicht«, begann Gulthilo, »können wir jetzt die Hinderungsgründe, die es deiner Ansicht nach gibt, einmal gründlich erörtern. « »Das haben wir doch schon ...« Er sprach nicht weiter. An einem nahen Tisch standen zwei Männer einander gegenüber und brüllten sich Beleidigungen und Drohungen zu. Der mutmaßliche Grund dieses Stierkampfs, ein vollbusiger Rotschopf, versuchte die beiden zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Plötzlich griff der eine der Männer, breitschultrig, schwarzbärtig und grünäugig, über den Tisch und faßte den anderen am Gewand. Dieser, größer, aber schlanker, blond und blauäugig, schlug den Angreifer ins Gesicht. Die Frau schrie auf und fiel von ihrem Stuhl. Der Tisch kippte um, und die beiden Männer rollten auf dem Boden übereinander. Orme stand auf und machte einen Schri rückwärts. Ein Mann, der einem der Kampähne zu Hilfe kommen oder den Streit | 177 |
beenden wollte, stieß hart gegen ihn, so daß Orme stürzte. Er rollte sich auf die andere Seite und sah gerade noch, wie Gulthilo dem Mann in die Rippen trat. Er flog zur Seite, viel weiter als in Schwerkraverhältnissen wie auf der Erde, und prallte mit dem Barmann zusammen, der gerade über die Theke sprang. Eine dunkelhaarige Frau kreischte und griff Gulthilo mit ihren zu Klauen gekrümmten Händen an. Die Blondine rammte der Brüneen die Faust in den Magen, und die geschlagene Frau erbrach sich voll auf Gulthilo. Eine andere Frau, zweifellos eine Freundin der Brüneen, nahm Guithilos Hals von hinten in die Zange, drückte ihr Knie gegen das Rückgrat der Blonden und bog sie nach hinten. Orme kam vom Boden hoch wie ein Grashüpfer, sprang, landete hinter der Brüneen und griff nach ihr. Sofort schlug ihn jemand mit der Faust an die Kopfseite. Betäubt stürzte er zu Boden, schae es aber noch, die Beine des Angreifers unter ihm wegzutreten. Heulend vor Schmerz versuchte der Mann, wieder auf die Füße zu kommen. Orme trat ihn unter das Kinn, und er war für eine Weile außer Gefecht gesetzt. »Keine Gewalt! Keine Gewalt!« brüllte der Barmann. Seine Nase blutete, das eine Ohr sah aus wie abgekaut. Sein Gegner, genauso blutig wie er, kroch am Boden und schüelte den Kopf. Niemand achtete auf ihn. Es war zweifelha, ob ihn außer Orme überhaupt jemand hörte. Im gesamten Lokal hae eine Massenschlägerei angefangen. Orme stand unsicher auf und sah sich nach Gulthilo um. Es dauerte eine Weite, bis er sie im Getümmel entdeckte. Sie saß rilings auf der Brust der Brüneen und knallte deren Kopf auf den Boden. Orme bewegte sich in ihre Richtung. Eine Frau biß ihn in die Wade. Er gab ihr einen Hieb mit der Handkante oben auf den Kopf, so daß sie den Mund öffnete, dann stieß er sie mit dem Fuß beiseite. Es war nicht leicht, Gulthilo von ihrem milerweile halbbetäubten Opfer wegzuzerren. Sie schrie und wand sich und kratzte nach hinten; sein Gesicht war zerschunden, bevor sie merkte, wer er war. | 178 |
»Raus hier!« rief er und fing an, sie zur Tür zu befördern. »Warum denn?« kreischte sie und wehrte sich. »Das macht Spaß!« »Jemand kann schwer verletzt oder sogar getötet werden!« brüllte er. »Auf sie!« schrillte sie und zog plötzlich einen Mann, der mit einem anderen rang, brutal am Ohr. Der Mann bedeckte sein Ohr mit einer Hand, worauf der andere seinen Vorteil nutzte und ihm mit der Faust gegen die Kehle schlug. Zornig stieß Orme Gulthilo vor sich her. Sie stolperte und stürzte auf die Knie. Zwei fluchende Männer fielen über sie. Sie erwischte den einen bei den Hoden und quetschte. Er schrie auf, krümmte sich und rollte weg. Der andere Mann zeigte keine Dankbarkeit. Er gab ihr einen Schlag ins Gesicht, daß sie seitlich auf dem Boden zusammenbrach. Orme trat ihn gegen das Schienbein. Gulthilo war halb bewußtlos geschlagen, so daß Orme es schae, sie ohne weiteren Protest auf die Füße zu stellen. Er war schon fast an der Tür, als man durch den Aufruhr einen Trompetenstoß hörte, gefolgt von einem schnellen Trommelwirbel. Eine Stimme brüllte: »Auören! Polizei!« Stille außer einigem Stöhnen, Seufzen und Wimmern. Draußen schrillten die Pfeifen. Dann wurde an die Tür gehämmert. »Aufmachen, im Namen des Gesetzes!« Ah’hab, der Barmann, stolperte an die Tür und verrammelte sie mit einem massiven, hölzernen Querriegel. Dann drehte er sich um und schrie: »Alles mir nach! Nehmt die Verletzten mit!« Er rannte zu einer Tür neben dem Musikpodium, blieb in der Öffnung stehen und winkte der Menge, ihm zu folgen. Orme half Gulthilo hoch und stützte sie, bis sie an der Tür waren. Einen Augenblick lang gab es dort einen Stau, weil sich alle gleichzeitig durchzudrängen versuchten. Dann löste sich die Verstopfung auf, und er stand mit ihr in einem breiten, aber nur kurzen Korridor. Der Wirt tat irgend etwas an den Seiten der Wand am andern Ende, und die Wand verschwand nach unten. Jenseits davon befand sich eine schmale Wendeltreppe. Sie führte durch einen in den Stein geschnienen Gang abwärts. | 179 |
Orme half Gulthilo hinunter in einen großen Raum, der an der entgegengesetzten Seite eine Tunnelöffnung hae. Ah’hab war nicht mitgekommen. Oben von der Treppe brüllte er hinunter: »Folgt dem Tunnel, und wenn ihr herauskommt, rennt! Ich bleibe hier. Wahrscheinlich sind sie schon im Haus, so daß ich mich sowieso nicht herausreden kann. Keine Sorge! Ich sage ihnen eure Namen nicht.« Wer noch dazu imstande war, jubelte ihm zu, wenn auch schwach. Die Wand gli wieder nach oben. Der Kapellmeister sagte: »Na gut. Macht, was er sagt. Ich lösche die Lichter aus, wenn ihr draußen seid, und schließe die Tunneltür.« Gulthilo konnte milerweile wieder allein laufen. Sie ging Orme durch den erleuchteten Tunnel voran. Nach etwa hundert Metern führte der Tunnel aufwärts und endete bald darauf an einer Falltür über einer kleinen Treppe. Der große, stämmige Mann, der mit der Prügelei angefangen hae, stemmte seinen Rücken gegen die Falltür. Sie hob sich langsam, Schmutz rieselte von den Rändern auf ihn, dann war sie offen. Orme kam im Schaen eines großen Baums nach oben. Er schien mien in einem Wald zu stehen. In der Nähe, wo das Mondlicht durch die Zweige fiel, schimmerte ein kleines Flüßchen. Eine Eule schrie, und ein kleines Geschöpf rannte aus der Dunkelheit hervor. Die Eule stieß nieder, schlug zu und flog mit dem kleinen Tier in den Klauen auf. »Das sind wir«, flüsterte Gulthilo. »Die Eule ist die Polizei.« »Wie bist du hierhergekommen?« fragte er. »Im Auto oder mit dem Rad?« »Im Auto mit ein paar Freunden. Zum Glück waren wir so vorsichtig, Handschuhe anzuziehen, damit man bei einer Razzia keine Fingerabdrücke finden würde. Aber die Polizei wird feststellen, von welchen Parkplätzen die Autos stammen. Sie werden die ganze Nachbarscha ausfragen.« Orme stöhnte. »Meine Fingerabdrücke sind auf dem Steuerrad meines Autos.« »Sag ihnen einfach, du häest angehalten, um etwas zu essen, | 180 |
und du häest niemanden gekannt. Man wird dich verhören, aber wenn du bei deiner Geschichte bleibst, ist alles in Ordnung. Armer Ah’hab! Er wird einiges zu leiden haben, seine Familie wird sich so furchtbar schämen.« »Er hat gewußt, was passieren konnte.« Die Gruppe, die zuerst eng zusammengedrückt unter dem Baum gestanden hae, begann sich zu zerstreuen. Man hörte die Pfeifen. Die Polizisten verteilten sich und würden bald die Wälder absuchen. Orme und Gulthilo schlugen einen weiten Bogen durch die Bäume und kamen nach einigem Umherirren auf eine Straße. Sie sagte, es sei die Straße, an der die Gastwirtscha lag. Sie folgten ihr, manchmal im Dauerlauf, ständig bereit, zwischen den Bäumen zu verschwinden, falls sie ein Licht sahen. »Hier müssen wir uns verabschieden«, sagte sie. »Ich muß hier links abbiegen. Du gehst weiter gerade aus, bis du auf die Landstraße kommst. Dort hältst du dich links und bist bald wieder dort, wo du dich auskennst.« Sie hielt inne. »Es sei denn, du möchtest mit mir nach Hause kommen.« »Nein. Nicht daß ich nicht wollte. Aber sie haben meine Fingerabdrücke. Wenn sie mich bei dir finden, wissen sie, daß du auch bei Ah’hab warst.« »Und sonst?« Er brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Er nahm sie in die Arme und küßte sie leidenschalich. Dann ließ er sie los und sagte: »Also gut. Wir heiraten.« Sie lächelte, fragte aber: »Du liebst mich?« »Entweder liebe ich dich, oder ich bin verrückt. Ich weiß es noch nicht genau.« »Du bist verrückt vor Liebe.« Sie küßte ihn leicht und sagte: »Das ist ein sehr merkwürdiger Ort und eine sehr merkwürdige Situation für einen Heiratsantrag. Aber ich finde alles großartig. Schalom, Richard.« Sofort wandte er sich ab und begann loszutraben. Nach einer Weile verlangsamte er seinen Schri wieder. Der Mond begann sich zur Sonne zu erhellen. Bei vollem Tageslicht würde man ihn schnell fassen. Laufen hae keinen Sinn, darum sah er sich | 181 |
nach einem Auto um. Nach zehn Minuten entdeckte er vor einem Bauernhaus einen geparkten Wagen. Er kleerte hinein und fuhr hastig los, weil im Haus ein Hund zu bellen begann. Kaum waren weitere zehn Minuten vergangen, als ihn etwas an der rechten Schulter berührte. Der Schreck war so groß, daß er von der Straße abkam und fast gegen einen Baum gefahren wäre. Er sah sich um: Hinter ihm auf dem Sitz saß ein Mann. Orme stieg auf die Bremsen. Der Wagen rutschte nach der Seite und kam mit den Vorderrädern am Rand eines Grabens zum Stehen. »Jesus! Du hast mich vielleicht erschreckt!« Dann: »Wie zum ... She’ol ... bist du in das Auto gekommen?« Der Mann im blauen Gewand kleerte über die Rückenlehne auf den Sitz neben ihm. »Das ist eine dumme Frage. Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, aber es war wirklich komisch.« »Du häest uns beide töten können.« »Mich nicht. Fahr weiter.« Ormes Herz hämmerte, und er bebte am ganzen Körper. Trotzdem fuhr er sicher rückwärts auf die Straße zurück. Nach einer Weile sagte Jesus: »Die Polizei häe euch beide schon längst festnehmen können, aber ich habe sie gebeten, es nicht zu tun.« »Danke«, erwiderte Orme. Er versuchte, das leichthin zu sagen, aber seine Stimme zierte. »Darf ich fragen, warum?« »Du darfst. Niemand wird verhaet werden. Man wird Ah’hab ben-Ram streng verhören und ihn dann freilassen. Vielleicht jagt ihm das so viel Angst ein, daß er sein Lokal schließt oder dafür sorgt, daß dort nichts Ungesetzliches mehr vorgeht. Einige von seinen Gästen werden dann wohl in andere Lokale dieser Art gehen. Die meisten, hoffe ich, werden einsehen, wie töricht sie sich benommen haben, und werden vernünig werden. Du mußt wissen, daß die Polizei diese Lokale kennt, und zwar seitdem es sie überhaupt gibt. Tatsächlich ist in den letzten fünfzehntausend Jahren nie eins unentdeckt geblieben. Aber die Polizei ist sehr tolerant. Diese Orte sind eine Art Sicherheitsventil für die aufsässige | 182 |
Jugend. Sie betrinken sich und erzählen sich gegenseitig ihre rebellischen Ideen. Manchmal planen sie sogar irgend etwas Wildes, aber die Pläne werden selten ausgeführt. Falls doch, macht man sie schnell unschädlich. Die Beteiligten zahlen einen hohen Preis.« »Darf ich fragen, was für ein Preis das ist?« »Du darfst. Die hartnäckigen Übeltäter werden in eine bestimmte Höhle gebracht, in der sie bleiben, bis die Polizei sicher ist, daß sie wirklich bereuen. Ich prüfe diese angeblich Reuigen persönlich. Auf diese Weise scheidet ein Betrug aus.« Der kalte Ton Jesu ließ Orme frösteln. »Und was passiert mit denen, die nicht bereuen?« »Danach fragt man am besten nicht. Jedoch kommt nur ein ganz geringer Prozentsatz unserer Jugendlichen überhaupt dorthin. Du mußt begreifen, Richard, daß es das wahre Böse tatsächlich gibt. Wie ich gehört habe, habt ihr in euren sozialistischen Demokratien die Begriffe Gut und Böse abgescha. Bei euch gibt es nur noch Benachteiligte, schlechte soziale und wirtschaliche Voraussetzungen, schlimme Eltern, falsche Erziehung. Die Kommunisten glauben, daß unrechte Gedanken und Handlungen die Folge falsch angewandter volkswirtschalicher Theorien und falschen politischen Denkens sind. Habe ich recht?« »Es ist wesentlich komplizierter. Aber grundsätzlich hast du recht.« Jesus fuhr fort: »Du weißt, daß es auf dem Mars keine Benachteiligten und auch keine schlechten sozialen, politischen oder wirtschalichen Voraussetzungen gibt. Das Familienleben ist im allgemeinen eine wahre Freude, und harte oder ungerechte Eltern werden von den Verwandten schnell zur Ordnung gerufen. Hil das nicht, grei die Nachbarscha ein. Wir haben diesen Zustand erreichen können, weil wir als sehr kleine Gemeinscha anfingen. Die Menschen, die dazugehörten, kamen aus vielen Rassen und Völkern, aber es dauerte nur drei Generationen, bis eine einzige Rasse daraus wurde. Diese hae dann nur eine Religion und eine Sprache, und natürlich besaßen die Menschen von damals Vorbilder in den schon höherentwickelten Krsh.« Er machte eine Pause. »Und sie haen mich.« | 183 |
Nach einer weiteren Pause: »Schon bald wird auch die Erde mich haben.« Orme sagte: »Wenn ich mir die Bemerkung gestaen darf, Rabbi: Die Erde ist viel größer als der Mars. Du hast nur über eine Million zu wachen. Aber wir zählen zehn Milliarden, und die Erde verfügt über eine immense Vielfalt von Sprachen, Rassen, Völkern, Bräuchen und Gesetzen.« »Du darfst sie dir gestaen. Hör auf, dich so unbehaglich zu fühlen und so demütig zu sein. Entspanne dich.« »Ich kann nicht.« »Weil ich bin, der ich bin. Trotz der großen Macht, die ich besitze, ist es mir nie gelungen, daß jemand sich in meiner Gegenwart völlig entspannt verhält – mit einer Ausnahme. Das ist der Preis, den ich dafür bezahle, daß ich der Messias bin, der angenommene Sohn des Barmherzigen.« Orme nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Darf ich ... wer ist diese Ausnahme.« »Meine Frau. Ah, wir sind da. Mein Haus. Gleich hinter dem Haus mit dem Kuppeldach. Halte davor. Ich könnte aus dem Auto schweben, aber ich schätze solche Tricks in der eigenen Nachbarscha nicht.« Orme war so betroffen, daß er fast an dem bezeichneten Gebäude vorbeigefahren wäre. Sein Fahrgast stieg aus, sagte »Schalom« und ging auf die Haustür zu. Es war ein großes Haus, wenn auch bescheiden für den Messias und Adoptivsohn Goes. Polizei war nicht in Sicht, und es waren vermutlich auch keine Polizisten versteckt. Orme konnte seine Neugier nicht zügeln. Er rief: »Rabbi, wenn es dir nichts ausmacht ... noch eine Frage.« Lächelnd erwiderte Jesus: »Natürlich.« Orme stieg aus dem Auto und rannte ihm auf die Veranda nach. »Du hast mich ganz aus der Fassung gebracht, Rabbi. Ich habe niemals gehört, daß du eine Frau hast. Es ist ... unvorstellbar! Bie sei nicht gekränkt. Aber ...« »Das kommt daher, daß ihr Christen in mir immer nur den gölich gezeugten Sohn des Heiligen Geistes und zugleich ihn | 184 |
selbst gesehen habt. Ihr habt auch die christliche Vorstellung übernommen, daß ich mich verunreinigen würde, wenn ich mit einer Frau fleischlichen Umgang häe. Nach dem, was man mir erzählt hat, geht das vor allem auf den Mann zurück, den ihr den Heiligen Paulus nennt. Es war seine Idee, daß ein Mann nicht heiraten sollte, wenn er nicht, um bei seiner merkwürdigen Formulierung zu bleiben, ›brannte‹ und ohne geschlechtliche Erfüllung einfach nicht auskam. Er dachte, die Wiederkun würde zu seinen Lebzeiten erfolgen, so daß es keinen Sinn mehr häe, zu heiraten und Kinder zu haben. Ich kann ihn wegen dieser Vorstellung nicht tadeln, denn ich war selbst dafür verantwortlich. Auch ich dachte – irrtümlich –, der Tag des höchsten Zornes sei nahe, und ich versprach meinen Jüngern, daß einige von ihnen sein Kommen noch erleben würden. Was nun meine Ehelosigkeit auf der Erde betraf – eine Frau häe mich nur behindert, und sie wäre unglücklich und in großer Gefahr gewesen. Aber obwohl ich der Messias bin, bin ich doch auch ein Mensch und kann mich irren. Ganz zu schweigen von sexuellen Wünschen.« Er öffnete die Tür und sagte: »Warum kommst du nicht herein und frühstückst mit mir? Wir können uns noch ein bißchen unterhalten. Ich hae ohnehin vor, schon bald mit euch vieren über gewisse Dinge zu sprechen. Aber nun kannst du ja die anderen informieren.« Betäubt, mit gesenktem Kopf unter seinen Augenbrauen hervorblickend, trat Orme ein. Das Wohnzimmer war gut eingerichtet, aber keineswegs besser als in anderen Häusern, in denen er gewesen war. Jesus rief: »Miryam?« Gleich darauf kam eine große, dunkle Frau in einem Gewand in Blau und Scharlachrot ins Zimmer. Ihr Gesicht war schön, obwohl Orme schon schönere gesehen hae. Die Gestalt war junonisch: vollbusig, mit schmaler Taille und sehr breiten Hüen. Soweit man nach den Knöcheln urteilen konnte, hae sie dicke Beine und Schenkel. Sie küßte Jesus, der zu ihr sagte: »Miryam, wir haben einen Gast zum Frühstück. Er weiß, wer du bist, und du kannst ihn natürlich auch kaum verwechseln.« | 185 |
»Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte sie. »Möge deine Gesundheit gut sein. Das Frühstück ist in fünf Minuten fertig.« Jesus lachte und meinte: »Du kannst es immer noch nicht fassen. Richard, ich bin ein Mann, und wenn ich auch auf der Erde ehelos – und keusch – sein konnte, weil ich dort nur kurz gelebt habe, so kann ich doch hier zwar keusch, aber nicht ehelos sein. Außerdem würden die guten Frauen meiner Herde mich tadeln – hinter meinem Rücken natürlich –, wenn ich nicht heiratete. Sie sind eben jüdisch. Ein Haus ist nur dann glücklich, wenn eine glückliche Frau unter seinem Dach lebt. Als ich auf der Erde war, hae ich kein Heim. Ich war ein Wanderer und hae nur die Aufgabe, meine Botscha zu verkünden.« »Aber ... Kinder?« »Ich habe darauf verzichtet. Ich bin jeden Monat nur ein paar Tage zu Hause, und Kinder brauchen einen Vater, der jeden Tag bei ihnen ist. Miryam widmet ihre müerlichen Gefühle ihrer Arbeit als Lehrerin in einer Schule. Als wir heirateten, wußte sie, daß wir ohne Nachkommen bleiben würden, und auch, daß ich sie nur von Zeit zu Zeit sehen könnte. Aber sie fand, es lohne sich dennoch. Die Begeisterung in unserer kurzen Zeit zusammen entschädigt sie mehr als ausreichend für meine Abwesenheit. Und ich bin glücklich mit ihr. Und nun wollen wir uns Hände und Gesicht waschen. Es ist nicht gut, sich hinzusetzen und die Gaben des Schöpfers mit schmutzigen Händen zu genießen, auch wenn es Zeiten gibt, in denen das erlaubt ist.« Orme antwortete: »Ja. Ich habe deine Worte darüber gelesen.«
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s war merkwürdig, bei Tisch von Jesus bedient zu werden; aber selbst in diesem Haus ehrte man die alte Sie, daß der Gastgeber seinen Gästen vorlegte. Das Frühstück war reichhaltig und schmeckte gut: eine Moschusmelone, Trauben, Brot, Honig, Hammel- und Rindfleisch, Wein. Obwohl die Marsianer in ihren Kühlgewölben auch Kaffeesträucher auewahrten, die durchaus noch immer keimfähig waren, haen sie nie Kaffee angebaut. Zwar hae Orme mit Hfathon über ihre Nutzung gesprochen, und der Krsh hae geantwortet, er werde sehen, was er tun könne. Aber bisher hae Orme nichts über Fortschrie in dieser Angelegenheit gehört. Miryam nahm an der Mahlzeit teil, bediente sich jedoch selbst. Sie aß schnell und wenig und verließ sie dann, als die Männer ihr Essen erst halb beendet haen, um auf dem Markt einzukaufen. Jesus aß Brot und Honig und sagte: »Ich hae erwartet, ihr würdet alle vier darum bien, in die Gemeinscha der Söhne des Lichts aufgenommen zu werden. Nämlich als Hebräer. Aber bisher habt ihr nicht danach verlangt. Was hält euch zurück? Verstocktheit?« Er kaute, schluckte und fuhr fort: »Oder liegt es daran, daß ihr noch immer nicht wirklich glaubt, daß ich der Messias bin? Daß ihr meine Macht für Schein haltet, genauer gesagt, daß ihr denkt, ich mache euch etwas vor?« Die Nahrung in Ormes Magen schien sich in einen Eisenklumpen zu verwandeln. Nur allzu gern häe er dieses ernsthae Thema vermieden, um sein Essen in Ruhe zu genießen. Aber da gab es keinen Ausweg. Er hae auch nicht den Mut, Jesus zu sagen, er wolle lieber ein anderes Mal davon reden. »Drei von uns sind fest überzeugt, daß alles, was du uns vorgeführt hast, echt war«, antwortete er. »Einer versucht noch, alles rational zu erklären, aber ...« »Das ist die Frau, Madeleine Danton.« Es war keine Frage. »Ja. Darf ich fragen, woher du es weißt?« | 187 |
»Ich kenne eure Seelen.« »Dann«, erklärte Orme todesmutig, »brauchst du auch nicht zu fragen, was uns zurückhält.« »Ich kenne eure Seelen, daß heißt, euren Charakter, aber eure Gedanken kann ich – beziehungsweise will ich – nicht lesen.« »Ich glaube«, sagte Orme langsam, »wir zaudern, weil wir in verschiedenen Religionen aufgewachsen sind. Keine von ihnen hat uns auf das vorbereitet, was wir hier gefunden haben. Vielmehr ist das, was man uns glauben gelehrt hat, der Situation hier derartig entgegengesetzt, daß ... äh ... wir uns schwertun, sie zu akzeptieren. Ich denke, es wäre für uns leichter, etwas anzuerkennen, das unserem Glauben ganz und gar fremdartig erschiene. Aber hier ... manches ist genauso, wie unsere Religionen es vorhergesagt haben. Aber andere Dinge ... es reimt sich nicht zusammen ... wenn du verstehst, was ich sagen will.« »Das sollte nicht sein. Hfathon hat von Bronski gehört, eure Gelehrten wüßten schon längst, daß eure heiligen Schrien voll von späteren Zusätzen sind, ein frommer Betrug nach dem andern, und daß viele eurer Dogmen auf Fehlinterpretationen begründet sind, absichtlichen und anderen. Auch, daß eure heiligen Bücher Widersprüche enthalten, die man nur durch ganz verzweifelte, völlig unlogische Denkkonstruktionen überhaupt auf einen Nenner bringen kann.« »Ja, aber die wenigsten wissen etwas davon oder wollen etwas davon wissen. Ich muß zugeben, ich war auch so einer.« »Und du bist es noch«, erwiderte Jesus. Er nippte an seinem Wein und meinte dann: »Bronski hat auch vom Antichrist erzählt. Vielleicht ist es das, das dich beunruhigt? Ich verstehe die Hinweise nicht alle, darum haben wir eine der Erd-Regierungen – dein Kanada – gebeten, uns den kompleen Wortlaut dieses Buchs, das ihr das Neue Testament nennt, zu übertragen. Natürlich in der griechischen Ursprache.« Was muß das für eine Sensation gewesen sein, dachte Orme. Jesus Christus biet um ein Exemplar der Evangelien! »Wir haben auch darum gebeten, daß der Staat Israel uns den gesamten Text der heiligen Schrien der Juden schickt. Wir | 188 |
werden ihn mit unseren Texten vergleichen.« Eine Katze, rötlich, langbeinig und langohrig, an Gesicht, Beinen und Schwanz getigert, spazierte herein. Sie miaute und sprang dann Jesus auf den Schoß. Er streichelte sie, und das Tier schnurrte und richtete die goldenen Augen auf Orme. Jesus lächelte, als amüsierte er sich heimlich über etwas, und sprach weiter: »Natürlich ist es auch möglich, daß ich nicht das bin, was ich behaupte. Ich könnte dieser Antichrist sein, über den der Johannes der Offenbarung, wie er bei euch heißt, geschrieben hat. Könnte er eigentlich derselbe sein wie Yokhanan, einer von meinen zwölf Jüngern?« Orme räusperte sich. »Man glaubt allgemein, daß er es war. Aber Bronski sagt, es gibt keinen Beweis.« »Es kommt auch nicht darauf an. Nach Bronskis Zitaten zu urteilen, handelt es sich um eine einzigartig poetische, apokalyptische Vision. Offenbar waren das siebenköpfige Untier und die große babylonische Hure für Johannes Symbole des Römerreichs. Und genauso offenkundig erwartete er die Ankun des Messias und das Jüngste Gericht noch zu seinen Lebzeiten. Aber das habe ich ja auch getan. Aber das ist jetzt nebensächlich, wenn auch interessant. Was ist nun los mit diesem Antichrist? Wenn ich er wäre, muß es ja auch noch einen Christus, einen Messias, geben. Glaubst du, daß es wirklich so einen Christus gibt? Oder denkst du im innersten Herzen, er sei auch nur ein Mythos?« »Nein«, erklärte Orme heiser, »das denke ich nicht. Ich glaube an Jesus Christus, meinen Erlöser, den Reer der Menschheit.« »Gut. Also ... könnte ich sein großer Gegenspieler sein.« Jesus lächelte, als bereite ihm dieser Dialog ungeheuren Spaß. »Prüfen wir auch noch andere Möglichkeiten. Ist der Antichrist zugleich auch der Teufel, dieser Satan, von dem – laut Bronski – im Neuen Testament so häufig die Rede ist?« Orme räusperte sich und trank noch etwas Wein, um seine Kehle anzufeuchten. »Nicht, wie ich es verstehe. Der Antichrist wird nur ein Mensch sein, den aber der Teufel lenkt.« »Dieser Teufel ist, wenn ich es richtig sehe, ein gefallener Engel | 189 |
namens Luzifer. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Lichtbringer oder Lichräger. Stimmt das?« »Ja.« »Zu den heiligen Schrien der Hebräer gehört auch das Buch Hiob. Darin ist Luzifer nur einer der Engel, wenn auch ein Fürst unter ihnen, und er ist auch nicht böse. Er ist eine Art Hilfsstaatsanwalt, den man beauragt hat, im Fall Hiob die Gegenargumente zu liefern. Ihr sogenannten Christen seid es, die einen gefallenen Engel aus ihm gemacht haben, ein Wesen mit Hörnern, Hufen und Schwanz.« »Das ist eine alte Legende aus dem Volk«, meinte Orme. »Kein Mensch glaubt heute noch ernstha daran, daß er Hörner und so weiter hat.« »Worauf es ankommt ist, daß ihr Christen eine böse Macht brauchtet, die fast soviel Macht besitzt wie Go. Diese Idee wurde übrigens wahrscheinlich von den Persern übernommen. Auf diese Weise konntet ihr dem Teufel einen Großteil des Bösen in der Welt zur Last legen. Aber es ist ganz eindeutig, daß der Mensch nicht erst von einem Geist beeinflußt werden muß, um böse zu sein. Das Böse in ihm reicht aus. Es gibt Geister, Engel, aber sie sind nicht böse. Nehmen wir aber nun einmal an, ich sei wirklich Satan. Was täte ich dann auf dem Mars? Nun – ich würde eine Streitmacht des Bösen sammeln, um die Erde zu überfallen und gänzlich zu unterwerfen. Damit würde dort das Böse herrschen, meine Feinde wären erschlagen und ich häe ein Weltreich errichtet, in dem allein das Böse angebetet wird. Allerdings bin ich nach dem, was ich von der Erde gehört habe, nicht sicher, ob Satan nicht schon längst dort regiert.« Jesus lachte und erschreckte dadurch die Katze auf seinem Schoß. Er streichelte sie leicht zwischen den Ohren, und sie beruhigte sich wieder. »Sieh dich um. Kannst du wirklich glauben, die Marsianer seien ein böses Volk und ich sei Satan? Natürlich könnte ich trotzdem der Antichrist sein und das Gute hier wäre nur eine Fassade, eine brauchbare Nachahmung. Aber es gibt noch weitere Möglichkeiten. Spielen wir sie doch einmal durch. Wie wäre es mit | 190 |
etwas, das – wissenschalich ausgedrückt – möglicherweise existieren könnte? Nichts Übernatürliches, auch wenn man zur Zeit nicht beweisen kann, daß sich alles im Bereich des Natürlichen bewegt. Als sei der Schöpfer nicht natürlich, auch wenn er zugleich außerhalb der Natur steht! Sagen wir, daß das Raumschiff der Krsh auf seiner Reise durch die Sterne auf einem Planeten landete, der scheinbar ohne Leben war. Er war etwas größer als die Erde und seine Sonne erheblich größer als Sol. Ein blauer Riese. Die Krsh sind wirklich auf einem solchen Planeten gelandet. Sagen wir weiter, daß auf diesem Planeten zwar kein Leben existierte, wie wir es kennen, daß aber die Instrumente der Krsh seltsame elektromagnetische Erscheinungen anzeigten. Sie irrten in scheinbar wahlloser Anordnung über die Planetenoberfläche. In Wirklichkeit wurden sie von Winden bewegt, von den elektromagnetischen Winden des blauen Giganten. Sagen wir, daß die Krsh die wahre Natur dieser Erscheinungen nie erkannten. Sie versuchten, einige davon zu fangen, aber es gelang ihnen nicht. Stellen wir uns nun vor, daß diese elektromagnetischen Erscheinungen in Wirklichkeit denkende Wesen waren. Sie bestanden aus reinen Energiefeldern, im Auau genauso kompliziert wie menschliche Wesen und ebenso intelligent. In mancher Hinsicht waren sie intelligenter. Sie haen kein Staatswesen, wie wir es kennen, aber eine Gesellscha haen sie. Sie kommunizierten untereinander, haen eine Sprache, und ihre Worte waren übertragene Wellenimpulse auf elektromagnetischer Frequenz. Sagen wir, daß eines dieser Wesen von ungeheurer Neugier besessen war. Sta vor den merkwürdigen Lebewesen zu fliehen, die auf seinem Planeten gelandet waren, untersuchte es die Sache. Durch Experimente fand es heraus, daß es den Körper eines dieser Fremden in Besitz nehmen konnte, vielleicht sollte man besser sagen, es konnte mit ihm verschmelzen. Daraus entstand die Fähigkeit, nicht nur mit dem Wirtsmenschen Intellekt und Gefühle zu teilen, sondern im Endeffekt dieser selbst zu werden. Es konnte die Kontrolle über seinen Wirt ausüben, ohne daß dieser es merkte.« Jesus lachte wieder und nippte an seinem Wein. »Interessante Vorstellung, nicht wahr? Also entdeckte das | 191 |
Wesen auch, daß es die eigenen Energiefelder so verändern konnte, daß es genauso aussah wie irgendeiner von den Fremden. Dessen Gefährten konnten keinen Unterschied feststellen. Für sie unterschied sich die Nachahmung nicht von allen anderen, auch verhielt sich der Betroffene in keiner Weise anders als vorher. Natürlich war die Nachahmung – oder der Besessene – gezwungen, sich den gleichen Beschränkungen zu unterwerfen wie alle anderen. Er dure nicht auf dem Wasser wandeln oder durch die Lüe schweben oder mit der bloßen Berührung seines Fingers beschädigte Zellen reparieren. Oder die Toten auferwekken. Dann nämlich häe man angefangen, Fragen zu stellen, Zweifel zu hegen und eine genaue Untersuchung einzuleiten. Die Krsh waren nicht die unwissenden, abergläubischen Menschen deiner damaligen Erde. Sie häen nicht akzeptiert, daß der Schöpfer jemandem plötzlich seltsame Kräe verliehen haben sollte. Vielleicht häen sie die Wahrheit vermutet. In diesem Fall häen sie von ihren hochempfindlichen Instrumenten Gebrauch gemacht und einen verwirrenden Elektromagnetismus gefunden, den kein Krsh ausgestrahlt haben konnte. Aber schon bald lernte der Eindringling das und verstand es, die Strahlung so weit zu reduzieren, daß man ihn nicht entdecken konnte. Warum sollte er sich aber den Krsh nicht zeigen? Würden sie ihm etwas tun? Unwahrscheinlich, denn die Krsh waren ein friedliches Volk. Sie würden ihm gestaen, gelegentlich in dem Atomreaktor zu wohnen, der den Brennstoff für den Schiffsantrieb erzeugte. Denn, weißt du, dieses Energiewesen war wie jedes andere Lebewesen. Es brauchte Nahrung, und die zog es aus der Radioaktivität. Es konnte aufnehmen und verdauen, brauchte aber nichts auszuscheiden. Es verzehrte die aufgenommene Energie zu hundert Prozent.« Orme murmelte: »Die Sonne.« »Du meinst den Globus, der in dieser Höhle schwebt. Ja, er wird über einen Atomreaktor betrieben, obwohl dieser wesentlich effektiver eingesetzt wird als auf eurer Erde. Das wäre eine Erklärung dafür, warum ich soviel Zeit in der Sonne zubringe. Ich erneuere mich auf mehr als eine Art. Das heißt, es wäre eine Erklärung, wenn ich wirklich dieses Wesen wäre. Aber natürlich | 192 |
sind das reine Sandkastenspiele. Ich amüsiere mich damit und hoffentlich dich auch. Sagen wir, daß das Wesen beschloß, sich vorläufig nicht zu erkennen zu geben. Erst mußte es die Fremden sehr viel besser kennen, bevor es ein solches Risiko einging. Also verließ es von Zeit zu Zeit den Wirt, um sich im Schiffsreaktor aufzuhalten. Bevor das Schiff die Erde erreicht hae, war es nach und nach in alle Krsh eingedrungen, in einen nach dem anderen. Nach und nach lernte es seine Wirte in jeder Weise kennen, besser, als sie selbst sich kannten. Eines Tages konnte es auch im Unterbewußtsein der Krsh lesen. So wie ich, wenn ich wirklich dieses Wesen wäre, dein Unterbewußtsein lesen könnte. Wenn ich es aber wäre, würde ich das jetzt nicht tun. Siehst du, indem ich mit meinen Wirten eines wurde, wurde ich auch ein Mensch. Und die Reisen in das Unterbewußtsein sind für mich recht beunruhigend. Scheußlicher Ort, da unten, mein Sohn. Natürlich stelle ich mir das alles nur so vor. Ich rede, als sei ich wirklich jenes angenommene Wesen. Nun zu den Abenteuern dieses Wesens reiner Energie, das ein Mensch wurde. Zum Glück, oder vielleicht auch leider, entwickelte das Wesen ein menschliches Gewissen. Es konnte das nicht vermeiden, eben weil es ein Mensch wurde. Die Krsh standen silich sehr hoch, also wurde auch dieses Wesen silich sehr hochstehend. Moralische Probleme, um die es sich nicht nur niemals gekümmert, sondern von denen es auch noch nie etwas gehört hae, beschäigten nun seine Gedanken. War es silich einwandfrei, den Körper eines anderen, intelligenten Wesens zu besetzen und zu kontrollieren? Die Antwort mußte lauten: nein. War es silich einwandfrei, einfach in einem Wirt zu leben, dem es aber selbst überlassen blieb, nach eigenem Willen zu handeln? Die Antwort war: Ja, es war silich einwandfrei. Aber als Gast im Körper eines anderen war das Wesen ein Schmarotzer und noch dazu einer, der sich ungemein langweilte. Es wollte den Körper beherrschen und so lenken, daß es seinerseits nach eigenem, freien Willen handeln konnte. Das war ihm versagt, denn es wäre böse gewesen. Es beabsichtigte zunächst auch nicht, seine Energie in Materie umzusetzen und die Gestalt eines der Krsh anzunehmen. Sich so zu zeigen, würde überall nur Bestürzung | 193 |
verursachen. Und wenn die Krsh herausfanden, daß es ihren Körper und ihren Verstand übernommen hae, könnten sie es für zu gefährlich halten und, da sie intelligent und wissenschalich hochgebildet waren, auch die Miel finden, um es zu zerstören. Oder, wenn nicht das, es zumindest in den Weltraum hinauszuschleudern und dort zurückzulassen.« Jesus, der noch immer lächelte, unterbrach sich. »Es scheint dir nicht zu schmecken. Miryam ist eine ausgezeichnete Köchin, am Essen kann es also nicht liegen.« »Das Essen ist vorzüglich«, antwortete Orme. »Aber ich war so fasziniert, daß ich es völlig vergessen habe.« Er schni eine Scheibe Hammelfleisch ab und fing an zu kauen. Aber das Fleisch schien seinen Geschmack verloren zu haben. Jesus fuhr fort: »Und dann kam das Schiff auf der Erde an. Du weißt, daß es dort drei Jahre blieb. Das Energiewesen überlegte, ob es auch dort bleiben und die Krsh allein Weiterreisen lassen sollte. Aber tatsächlich fanden die Krsh es auf der Erde alles andere als schön, und ich fand das auch, denn ich war ja jetzt ein Krsh. Die furchtbaren Seuchen: Lepra, Gonorrhoe, Pocken und so fort. Die schrecklichen Bedingungen, unter denen die meisten Menschen lebten. Die Kriege, die Gemetzel, die unsinnigen Gesetze, der Haß, das Elend der Kinder – muß ich noch mehr sagen? Und doch taten sie mir leid, und ich häe ihre Situation gern geändert. Auch die Krsh nahmen sich vor, zurückzukommen und ihre Wissenscha, Technologie und Gesellschasform auf der Erde einzuführen. Aber es gab auch welche unter ihnen, die meinten, es könne nur zu weiteren Schreckenstaten führen, wenn man diesen blutdürstigen Wilden die Möglichkeit gäbe, Waffen herzustellen. Am Ende entschied sich das elektromagnetische Wesen dafür, mit den Krsh zu ihrem Heimatplaneten zurückzukehren. Es würde ein Krsh werden und als solcher unter ihnen leben. Es würde nicht leicht sein, weil die Krsh über jeden Bürger Aufzeichnungen besaßen und das plötzliche Auauchen eines nicht aktenkundigen Mitbürgers eine Untersuchung zur Folge haben würde. Vielleicht konnte es den Körper eines gerade ums Leben gekommenen Krsh finden und beseitigen, eine leichte Aufgabe, um dann | 194 |
den Platz des oder der Verstorbenen einzunehmen. Schließlich verließ das Schiff die Erde. Unter den Menschen an Bord befanden sich Mahias und ein paar andere Hebräer. Sie sprachen viel von einem gewissen Yeshua’, dem Messias, dem Gesalbten des Barmherzigen. Es gelang den Hebräern, die anderen Terraner zu ihrer Religion zu bekehren. Aber bei den Krsh kamen sie damit nicht weit. Da hae das Wesen eine Idee. Es würde einen Körper bilden, der dem toten Jesus in allen Einzelheiten glich. Und als Jesus würde es dann verkünden, daß dieser sich entschlossen habe, die Krsh in ihre Welt zu begleiten und dort zu predigen. Und eines Tages würde er zur Erde zurückkehren, nach Jerusalem selbst, und dort den neuen Staat Zion errichten, so wie es in dem Buch, das du das Alte Testament und das Neue Testament nennst, einigermaßen mehrdeutig vorausgesagt ist.« Orme räusperte sich und sagte: »Vergib mir, Rabbi, aber wäre das nicht unethisch?« Jesus kaute einen Augenblick auf einem Stück Honigbrot herum. »Ja, einerseits schon. Aber das Wesen sah eine Möglichkeit, die Völker der Erde gesund und glücklich zu machen. Also trug die höhere Ethik, das höhere Gesetz, den Sieg davon.« »Das habe ich doch schon mal gehört«, brummelte Orme. »Ach, du meinst, daß böse Menschen von einem höheren Gesetz reden, um so ihre Untaten zu rechtfertigen? Das stimmt. Aber im speziellen Fall gibt es keinen Zweifel, daß diese Überlegung richtig war. Außerdem würde das Wesen, als Jesus, weder Zwang noch Gewalt angewendet haben, um das Gelobte Land auf Erden zu errichten. Denn leider würde daraus nur Krieg entstehen. Andererseits, wie ich selbst einst gesagt habe: ›Ich bringe ein Schwert, nicht Frieden!‹ Der Frieden kommt später.« »Und dann?« fragte Orme. »Ich meine, was passierte dann auf dem Schiff ?« »Das hast du ja gesehen. Die Söhne der Finsternis verfolgten das Krsh-Schiff, und die Krsh mußten sich im Inneren des Mars vergraben. Den Rest kennst du.« »Nicht ganz, Rabbi«, gab Orme zurück. »Es gibt noch viel, was man mir nicht gesagt hat. Vielleicht wurde vieles absichtlich ver| 195 |
schwiegen. Jedenfalls – warum hast du so lange auf das ... äh ... Jahrtausend gewartet? Um auf die Erde zurückzukehren? Sicher häen doch die Krsh schon nach hundert Jahren oder sogar noch früher wieder dorthin reisen können?« »Ja. Aber ihre Zahl war gering. Und die Menschen mußten auch erst einmal mit den Krsh verschmelzen, und der Glaube mußte zu einer festen Institution werden. Zudem häe man bei einer baldigen Rückkehr die Bewohner der Erde in der gleichen Situation vorgefunden wie bei der Abreise der Krsh. Die Krsh meinten jedoch, daß die Terraner sich mit der Zeit weiterentwikkeln würden, sowohl im wissenschalichen Bereich als auch, vielleicht im Hinblick auf menschliche Belange. Sie würden ein Stadium erreichen, in dem sie Wissenscha, Technologie und Gesetze der Marsianer nicht nur leicht begreifen, sondern sich auch selbst aneignen konnten. Außerdem richteten sie sich nach dem Geheiß des Wesens, das sich Jesus nannte. Es sagte, wenn die Zeit zur Rückkehr gekommen wäre, würden sie es erfahren. Dieser Zeitpunkt, wie auch Mahias ihn voraussagte, sei dann gekommen, wenn die Menschen von der Erde auf dem Mars einträfen. Es ist möglich, daß das Wesen namens Jesus Mahias andeutete, was er prophezeien sollte.« Eine Weile herrschte Schweigen. Jesus beendete sein Frühstück und sagte: »Wir wollen dem Schöpfer nun für diese Speisen danken.« Orme hörte dem hebräischen Gebet kaum zu. Wollte dieser Mann ihn an der Nase herumführen? Machte er nur Spaß? Oder? Jesus stand auf und meinte: »Ein Weilchen können wir uns noch unterhalten. Dann muß ich dich bien zu gehen, weil ich noch verschiedene Dinge zu erledigen habe.« Sie gingen in den vorderen Raum. Jesus setzte sich in einen großen, üppig gepolsterten Sessel. Orme nahm auf einem Sofa Platz. Jesus bildete mit den Fingern eine Kirchturmspitze und sagte: »Es gibt noch andere Spekulationen. Nehmen wir zum Beispiel an, daß es kein Energiewesen war, das sich eines Krsh bemächtigte, als die Krsh den Planeten des blauen Sterns betraten. Nehmen wir vielmehr an, daß bei ihrem Besuch auf dem Plane| 196 |
ten der Hominiden ein ganz anderes Wesen in den Körper eines Krsh eindrang, kein Energiewesen, sondern eine merkwürdige, parasitäre Lebensform, eine widerliche Schnecke. Dieses Geschöpf besitzt die Fähigkeit, sich in den Körper eines anderen Lebewesens einzuschmuggeln und in seinem Gewebe zu leben wie ein Wurm. Aber es kann das Gehirn eines intelligenten Wesens übernehmen und so in gewisser Weise selbst Intelligenz erlangen. Und dieses Geschöpf verhielte sich dann ungefähr genauso, wie ich es von dem Energiewesen erzählt habe – allerdings wären seine Absichten vielleicht böse.« »Aber diese Theorie gibt keine Erklärung für seine Macht.« »Ich gehe davon aus, daß dieses Schneckenwesen ebenfalls die Fähigkeit besaß, die Kräe eines Menschen anzuzapfen, Kräe, von denen die Menschen selbst nicht wissen, daß sie sie besitzen, wenigstens vorläufig nicht. Ich sage es ihnen immer wieder, aber sie weigern sich, mir zu glauben.« »Welche von deinen Geschichten stimmt nun, Rabbi?« Jesus, dessen dunkle Augen zu flammen schienen, als wären sie die Fenster eines Hochofens, sprach mit lauter Stimme: »Du hast die Wahrheit gehört, und du hast sie gesehen! Ich sage dir, Menschensohn, daß dieser Menschensohn dir alles offenbart hat, was für dich nötig ist. Du hast nicht viel Zeit, um dich für den Weg zum Heil zu entscheiden.« Orme wich vor dem Feuer und dem Donner zurück. Jesus erhob sich. Die strenge, zwingende Miene wich einem Lächeln. »Du darfst gehen. Mögen sich Friede und der Segen des Barmherzigen über dein Haupt ergießen.« Er streckte die Hand aus. Orme stand auf, ging zu ihm und küßte die Hand. Er konnte fühlen, wie Kra auf ihn überströmte.
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as ich mache?« sagte Bronski. »Ich schreibe eine unautorisierte Jesus-Biographie.« Er schaute über die Papierstöße und Tonbandgeräte auf dem Schreibtisch hinweg seinen Kapitän an. Orme ging im Zimmer auf und ab. »Allerdings wird es nur ein kurzes Buch sein, mehr ein Abriß als eine vollständige Lebensbeschreibung. Aber ich möchte es fertig haben, bevor wir wieder auf der Erde sind. Vielleicht schaffe ich es so früh, daß es noch vor dem Start dorthin übertragen werden kann.« Am Vortag hae man die Marsastronauten informiert, daß sie Passagiere im Schiff der Marsianer sein würden. Es hae sie nicht sonderlich überrascht. Ohnehin haen sie vermutet, daß man sie als Augenzeugen brauchen würde, schon, um zu erhärten, daß sie nicht unter dem Druck ihrer Gastgeber gelogen haen. Orme hae den anderen von seinem Gespräch mit Jesus beim Frühstück berichtet. Madeleine Danton hae sich sofort auf die Geschichte von dem Energiewesen gestürzt – dies sei unbedingt die Wahrheit. »Er spielt mit uns«, hae sie gesagt. »Er erzählt uns die Wahrheit, weil er weiß, daß wir sie nicht glauben.« »Aber du glaubst sie doch«, hae Nadir erwidert. »Meiner Meinung nach bist du allerdings völlig verwirrt und durcheinander. Sonst würdest du nie an so eine phantastische Geschichte glauben. Die reinste Science fiction!« »Ich würde lieber an so etwas glauben als daran, daß er wirklich Jesus Christus ist!« hae sie gerufen. »Warum?« fragte Bronski zurück. Und mien in der hitzigen Diskussion, die hierauf folgte, während sie einander mit immer schrilleren Stimmen immer wieder ins Wort fielen, hae Bronski sie wie mit einer kalten Dusche zum Verstummen gebracht. Er erklärte ihnen, daß er vorhabe zu konvertieren. Der benachbarte Rabbi hae bereits alles arrangiert. Eine Stunde später rief dieser nochmals an. Aufgeregt berichtete er Bronski von wundervollen Neuigkeiten. Der Messias selbst | 198 |
würde die Zeremonie durchführen. »Das ist wirklich Spitze«, hae Orme bemerkt. »Ich bin richtig eifersüchtig.« Dieser Scherz enthielt einen sehr wahren und ernsten Kern. Er war eifersüchtig und haßte sich selbst deswegen. Letzten Abend hae er im Wohnzimmer gebetet, während Bronski schon schlief. »Herr, zeige mir die Wahrheit. Sag mir, ob dieser Mann wirklich Jesus Christus ist, dein Sohn, oder aber der Antichrist. Oder ... könnte er jenes Energiewesen sein? Schenke mir Licht. Laß nicht zu, daß ich den folgenschwersten Irrtum der Welt begehe. Ich gehöre zu deinen Kindern, und gewiß bedeutet es nicht zuviel für dich, mir den rechten Weg zu zeigen. Ich flehe dich an, Vater. Bie. Amen.« Er hae nicht ernstha damit gerechnet, daß ein strahlendes Licht den Raum erfüllen oder eine Donnerstimme sprechen würde. Dennoch war er enäuscht, als nichts geschah. Nicht einmal seine eigene, schwache, innere Stimme ließ sich hören oder sein eigenes, schwaches Licht glühte. Er stand auf, alle Muskeln gespannt, wirbelte herum und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sekundenlang hae er das Gefühl gehabt, jemand stehe hinter ihm. Es war die gleiche Situation wie in den Nächten, in denen er aufgewacht war, überzeugt, jemand habe neben seinem Be gestanden. Wer war es? Was war es? Die Folge überreizter Nerven? Das unklare Bewußtsein von Go selbst? Oder hae der wirkliche Jesus ihn seine Gegenwart spüren lassen, damit er, Orme, begriff, daß er nicht allein war? Aber welcher Jesus war es? Der, von dem er als Kind gehört hae, oder hier dieser Jesus, der lebendige Mann, der Messias der Juden und eines Tages aller Völker? Oder bestand zwischen den beiden überhaupt kein Unterschied? Lebten die Christen tatsächlich im Irrtum? Oder war dieser Jesus in Wirklichkeit das Energiewesen? Wenn Orme es nicht als goeslästerlich empfunden häe, häe er Jesus verflucht, weil er ihm so eine Geschichte erzählt hae. Sie hae ernsthae Zweifel in ihm geweckt, obwohl das nicht in Jesu Absicht gelegen hae. Oder doch? Vielleicht prüe er, ob Orme aufrichtig war. | 199 |
Morgens rang Orme immer noch mit sich. »Gegen sich selbst anzukämpfen«, dachte er, »ist mühsamer als der Ringkampf mit einem Engel. Jakob hae es im Vergleich zu mir leicht.« Er beendete sein auf und ab Gehen und sah aus dem Fenster. »Da kommt Nadir«, sagte er. »Sieht aus, als ob er durchs Fegefeuer gegangen sei.« Gleich darauf trat der Iraner ein. Sein Gesicht war blaß und verzerrt, die Augen schwarz umrändert. Seine Hände zierten. »Madeleine verläßt mich«, sagte er mühsam. »Ich habe ihr heute morgen mitgeteilt, daß ich den Entschluß gefaßt habe, Jude zu werden. Sie hat mich angeschrien, ich sollte mich davonscheren. Ich wollte vernünig mit ihr reden, aber sie war total verrückt. Jede Diskussion war zwecklos, sie hat gedroht, mich umzubringen, wenn ich nicht abhaute, und sie hat mich verhöhnt, weil ich als Moslem Jude werden will.« Orme sah über die Straße zum Haus der Shirazis hinunter, konnte aber durch das Fenster niemanden erkennen. Bronski erklärte: »Das mit Madeleine tut mir wahnsinnig leid. Aber über deine Entscheidung freue ich mich. Vielleicht beruhigt Madeleine sich auch wieder. Ich glaube, sie weiß den richtigen Weg, nur kann sie sich nicht soweit überwinden, ihn auch einzuschlagen.« Auch Orme machte sich Sorgen wegen Danton. Die Neuigkeit, daß der Iraner konvertieren wollte, erschüerte ihn allerdings mehr. Was veranlaßte sie nur, ihre Überzeugung so zu ändern? Und warum konnte er es nicht? »Ich häe mich ohnehin von ihr trennen müssen«, erläuterte Nadir. »Sie ist eine Heidin, und das Volk des Bundes darf keine Heiden heiraten. Wir werden uns scheiden lassen, was übrigens auch so bestimmt gekommen wäre. Es ist unmöglich, mit ihr zusammenzuleben.« Niemand konnte wissen, weshalb Orme in genau diesem Augenblick, bei diesen Worten, seine eigene Entscheidung traf. Kein großes Licht leuchtete auf, keine Trompeten schmeerten. Es geschah so geräuschlos wie die Geburt einer Maus in einem dunklen Schrank. Vor Aufregung bebend sagte er: »Bis nachher. « | 200 |
Sie starrten ihn an. Als er hinausging, hörte er, wie Bronski ihm nachrief: »Wo gehst du hin?« »Ihr werdet es schon merken!« Eine Stunde später, sobald er ausfindig gemacht hae, wo sie sich auielt, stoppte er sein Auto vor der Schule, an der Gulthilo unterrichtete. Alarmiert durch seinen Anruf, wartete sie in einem Büro in der Nähe des Eingangs. Heute trug sie ein Gewand, das mit blauen und roten Blumen bedruckt war. Er konnte ihr Moschusparfüm riechen. Wie ein goldener Wasserfall floß das Haar über ihren Rücken. Die blauen Augen glänzten; ihr Lächeln schien breit genug, ihn zu verschlingen. »Du wolltest nicht sagen, warum ich dich unbedingt sofort treffen sollte«, meinte sie. »Aber ich glaube, ich weiß es. Du möchtest mich heiraten?« »Genau das ist es«, erwiderte er und nahm sie in die Arme. Hinter sich hörte er direkt vor der Tür des Büros ein paar kleine Mädchen kichern. Die Zeremonie seiner Aufnahme in den Glauben war kurz, aber eindrucksvoll. Eine riesige Menge, gut hundertfünfzigtausend Menschen, nahm daran teil. Die Zuschauer waren teils wegen der historischen Bedeutung gekommen, denn es war seit zweitausend Jahren das erste Mal, daß man das Ritual angewendet hae. Die andere Araktion war die Anwesenheit des Messias. Jesus erschien in einem Auto, wahrscheinlich zur großen Enäuschung derer, die geho haen, er würde herniederschweben. Er trug ein himmelblaues Gewand und die Tefillin oder Phylakterien, zwei kleine Lederkästchen, von denen jedes vier Abschnie des Gesetzes enthielt. Man befestigte sie auf der Stirn und dem linken Arm. Außerdem hae er seinen Tallith, den Gebetsschal, um. Nach dem Gesetz mußte ein Jude sich beim Gebet in den Schal hüllen und die Tefillin anlegen, aber als Jesus mit Orme gefrühstückt hae, hae sein Gastgeber beides unterlassen. Als Messias standen ihm natürlich gewisse Freiheiten zu. Aber dieses Mal war er gekleidet, wie es dem obersten Rabbiner geziemte. Auch seine Frau Miryam, die sich nur selten in der Öffentlichkeit | 201 |
zeigte, war anwesend. Sie kam in einem anderen Auto. Als sie ausstieg, um in die Synagoge zu gehen, versuchten die ihr am nächsten Stehenden ihr Gewand zu berühren. Wem das nicht gelang, der berührte andere, die es gescha haen. Es war, als glaubten sie, die Kra sei von ihrem Gaen auf sie übergegangen und selbst aus zweiter Hand noch spürbar. Vielleicht zeigte ihr das Volk auf diese Weise aber auch nur seine Zuneigung. Orme, Bronski und Shirazi warteten auf den Stufen des Beth Kinneseth, der Synagoge. Die Musik eines hundertköpfigen Orchesters schallte heraus. Gulthilo gehörte dazu. Als sie an Orme vorüberkam, hae sie ihm zugezwinkert. Mit dieser Frau wurde man einfach nicht fertig. Mit Trompetengeschmeer und Zimbelschlagen trat Jesus ein, gefolgt von den Bekehrten und den Honoratioren. Orme hae sich während der Gelübde, der symbolischen Beschneidung (die notwendig war, obwohl man ihnen allen schon bei der Geburt die Vorhaut entfernt hae) und während des Essens, das hinterher in einem großen Saal der Universität stafand, wie betäubt gefühlt. Sein Glück war untermischt mit Zweifeln. Tat er wirklich das richtige? Ließ er sich nicht nur von seinen Gefühlen hinreißen? Aber in solchen Sachen diktierte ja doch immer das Herz, nachdem der Verstand nachgegrübelt hae. Am nächsten Tag überstand er eine weitere, beinahe genauso betäubende Zeremonie. Aber bei ihr vergaß er seine Ungewißheit. Jesus selbst traute ihn mit Gulthilo. Die Mistitha oder Hochzeit war feierlich, das Fest danach jedoch äußerst lebha. Mistitha, ein aramäisches Wort, bedeutete ursprünglich »Gelage«, und genau das war es auch. Er vermutete, ohne Jesus wäre es noch wesentlich wilder zugegangen. Niemand würde Witze über Braut und Bräutigam in ihrer Hochzeitsnacht erzählen oder sich sinnlos betrinken, solange er anwesend war. Als er sich jedoch verabschiedet hae, geriet das Fest aus den Fugen. Die Jungvermählten blieben aber nicht mehr lange. Guithilos Muer wollte mit Orme über ihre Tochter sprechen. Gulthilo erklärte: »Er weiß alles über mich, Muer«, küßte sie, und die beiden entflohen. Sie fuhren zu einem kleinen Blockhaus, das am Ufer eines Sees | 202 |
in einer Nachbarhöhle lag, wo sie keine Zeit verloren, sondern sofort ins Be gingen. Morgens um sechs wurde ein erschöper Orme durch das Schrillen des Fernsehers geweckt. Er schleppte sich aus dem Be und stolperte hinüber zu dem Gerät. Nadir Shirazis Bild erschien. Bevor er den Iraner noch hörte, wußte er, daß die Nachrichten schlecht waren. Der Kummer hae noch tiefere Falten in sein Gesicht gekerbt. »Madeleine hat mich vor ungefähr einer Stunde angerufen und gesagt, sie würde sich umbringen. Ich flehte sie an, es nicht zu tun, aber sie schaltete einfach ab. Bevor ich in das Haus eindringen konnte – ich übernachtete nämlich bei Bronski –, hae sie sich ein Messer tief ins Herz gestoßen. Es tut mir leid, daß ich dich so früh am Morgen anrufe, aber ... ich dachte ... du solltest Bescheid wissen.« Er fing an zu weinen. Orme wartete, bis das furchtbare Schluchzen, das ihn schüelte, nachließ. Dann sagte er: »Wir kommen so schnell wie möglich. Aber die Fahrt ist lang ...« »Das macht nichts. Hfathon schickt euch ein Luboot.« Fünfzehn Minuten später kamen Gulthilo und Orme im Krankenhaus an. Bronski, Shirazi, Hfathon und ein Krsh-Arzt, Dawidh ben-Yishaq, standen im Wartezimmer. »Hast du nicht gesagt, sie sei tot?« fragte Orme. »Sie war tot«, erwiderte Nadir. »Aber sie haben die Wunden geschlossen, das Herz wieder zum Schlagen gebracht, und nun lebt sie.« »Aber die Sauerstoffversorgung im Gehirn ... wie lange war sie tot, bevor man sie ins Krankenhaus brachte?« »Zehn Minuten. Und sie war mindestens eine halbe Stunde tot. Aber die Sanitäter legten sie sofort in eine Kältekammer, als sie eintrafen. Und trotzdem ...« Orme dachte, daß sie eine Idiotin sein würde, etwas, das vor sich hin vegetieren würde. Warum die Mühe? Dann fiel ihm Jesus ein. Konnte er nicht Zellen wiederherstellen, wie sie gewesen waren? Er nahm Bronski beiseite und fragte ihn danach. Der Franzose erwiderte: | 203 |
»Man brauchte ihn nicht um sein Kommen zu bien. Erstens wurde alles, was man für die Zellwiederherstellung tun konnte – auch das, was er selbst häe tun können –, sofort getan. Du vergißt, Richard, daß ihre medizinische Wissenscha unserer weit überlegen ist. Was Madeleines Gehirn betri – gewisse, nicht wieder rückgängig zu machende Schäden sind eingetreten. Nicht einmal er konnte ihr helfen. Manches ist verlorengegangen, das nur der Schöpfer selbst ihr wiedergeben könnte.« »Was meinst du?« »Ihr Gedächtnis. Viele der Speicherzellen müssen zerstört worden sein. Man kann sie wiederherstellen, aber ihr Inhalt ist auf ewig dahin. Es werden leere Behälter sein, die darauf warten, daß man sie wieder füllt.« »Ja, aber wie war es denn mit Lazarus? Er war drei Tage tot, und als Jesus ihn wiedererweckte, war er genau wie vorher.« Bronski lächelte traurig. »Du kannst immer noch nicht zwischen dem Jesus der Evangelien und dem historischen Jesus unterscheiden. Niemand kann eine Leiche wiederbeleben, die in diesem heißen Klima drei Tage lang verfault ist. Das ist eine Geschichte, die erst nach Jesu Tod entstand, vielleicht auch noch zu seinen Lebzeiten. Nichts weiter als eine von diesen wilden Geschichten, die sich damals immer um ungewöhnliche Leute bildeten.« Es stimmte. Madeleine blieb tatsächlich am Leben. Ihr Körper war gesund, ihre Intelligenz so hoch wie vorher. Aber als sie erwachte, glaubte sie, sie sei zwölf Jahre alt und befände sich in ihrem Elternhaus in Montreal. Die Ärzte, die auf etwas Derartiges vorbereitet gewesen waren, haen ihr starke Beruhigungsmittel gegeben, um sie über den Schock hinwegzubringen. Es würde lange dauern, bis sie verstehen konnte, was mit ihr geschehen war – wenn sie es überhaupt je begriff.
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as hae Orme über den Mars erfahren? Kaum etwas von dem, was er erwartet hae – und das war ohnehin nicht viel –, und doch viel mehr, als er sich überhaupt hae vorstellen können. Selbst nachdem er herausgefunden hae, daß die Marsianer Juden waren, hae er täglich neue Erlebnisse gehabt, die ihn erstaunten und manchmal beunruhigten. Ein Grund dafür war, daß er eine feste Vorstellung von einem Juden gehabt hae. Je länger er sich aber auf dem Mars auielt, desto klarer wurde ihm, daß er sich zwar etwas darauf eingebildet hae, frei von Vorurteilen zu sein, in Wirklichkeit aber mehr davon mit sich herumschleppte, als er es überhaupt für möglich gehalten häe. Vielleicht war es auch weniger Voreingenommenheit als vielmehr Unwissenheit. Obwohl es schwer war, hier noch einen Unterschied zu machen. Zudem waren die Marsjuden natürlich nicht mit den Juden auf der Erde vergleichbar – sie konnten es gar nicht sein. Allerdings bestand eine Ähnlichkeit in grundsätzlichen Dingen. Vor zweitausend Jahren waren die beiden voneinander getrennt worden. Die auf der Erde Zurückgebliebenen haen engen Kontakt mit vielen Hunderten unterschiedlichen nichtjüdischen Gesellschasformen gehabt. Ihre heidnischen Nachbarn haen auf die unter ihnen lebenden Juden einen kulturellen Einfluß ausgeübt, so sehr sich diese auch angestrengt haen, ihre Eigenständigkeit – im körperlichen, geistigen und geistlichen Sinn – zu bewahren. »Die Juden, die sich vor langer Zeit in China ansiedelten«, dozierte Bronski, »waren im Laufe der Zeit, rein körperlich gesehen, von den mongolischen Goyim nicht mehr zu unterscheiden. Sie verloren auch den größten Teil ihrer jüdischen Erbmasse. Andererseits waren die Juden im römischen Gheo, obwohl sie ihre Religion behielten, in vieler Hinsicht Italiener. Das bedeutet, daß sie nicht umhinkonnten, viele zur dortigen Kultur gehörenden Verhaltensformen anzunehmen. Damit hae man rechnen müssen. Die Juden haben es überall so gehalten, wo sie sich niederließen. Tatsächlich häen sie anders auch nicht überleben können. Aber | 205 |
die Juden im römischen Gheo sahen am Ende auch aus wie Italiener. Verschiedene Juden haben mir schon erläutert, weshalb so viele italienische Juden italienisch aussehen, holländische Juden holländisch, sephardische Juden spanisch oder portugiesisch und die Juden im Jemen arabisch. Sie erklären es als eine Art Schutzfärbung. Das ist eine alberne, unwissenschaliche Deutung. Sie beruht darauf, daß sie sich dagegen wehren einzugestehen, daß trotz aller Mühe, die ›Reinrassigkeit‹ zu erhalten, nichtjüdisches Erbgut eingedrungen ist. Zum Teil können Vergewaltigungen dafür verantwortlich sein, aber die Hauptursache sind Ehebrüche. Natürlich hat auch ein Gen-Austausch nach der anderen Richtung stagefunden – so mancher Antisemit hat einen jüdischen Ahnherrn. Die Juden, vor allem die Frommen unter ihnen, lassen diese Erklärung nicht zu oder wollen es nicht wahrhaben. Ich weiß nicht, warum. Immer wieder im Lauf der Geschichte haben die Propheten gewütet über die Hurerei ihres Volkes mit den Goyim. Oder, um es weniger emotional und exakter zu bezeichnen, über die Rassenvermischung. Du hast die Bibel gelesen. Nun gut. Du weißt also, wovon ich rede.« Immerhin, erklärte Bronski, sei dies keine wirkliche Gefahr für die Erhaltung der jüdischen Identität, die nicht auf der Reinheit der Rasse beruhe, sondern auf der religiösen Reinheit. Jedenfalls würde das Kind einer jüdischen Frau nach jüdischem Gesetz als Jude betrachtet und auch so erzogen. Allerdings mußte es in der Regel Schande und Tadel erdulden und wurde nicht zur Anbetung im Tempel zugelassen. »Das machte weiter nichts aus«, fuhr Bronski fort, »weil es nach dem Jahre 70 n. Chr. ja keinen Tempel mehr gab – und während der babylonischen Gefangenscha auch nicht. Aber ich schweife mal wieder ab. Warum auch nicht? Die Abschweifungen sind genauso interessant wie die Aspekte des Hauphemas.« Alle ethnischen Gruppen unterlagen der kulturellen Anpassung durch den Kontakt mit anderen Gruppen. Aber was die meisten nichtjüdischen Gruppen als kulturelle Angleichung betrachteten, war für orthodoxe Juden ein Rückfall – Ansteckung, Verseuchung, Böses. | 206 |
»Von ihrer Warte aus haen sie völlig recht. Wie konnten sie Juden sein, weiterhin das von Go erwählte Volk, wenn sie auörten, an ihrer Religion festzuhalten, oder eines der Gesetze Moses preisgaben? Von den Grundgeboten auch nur ein Jota aufzugeben oder sie auch nur leicht abzuändern bedeutete, daß die Schlange bereits einen Fuß in der Tür hae.« Er lächelte und sagte: »Soweit eine Schlange Füße hat. Besser gesagt, ihre Nase. Der marsianische Jude dagegen war sowohl von seinen Mitjuden auf der Erde als auch von der Gemeinscha der Nichtjuden isoliert. Er hat nicht die furchtbaren Verfolgungen seiner Verwandten auf der Erde erleiden müssen und kam auch nicht in Versuchung, nichtjüdische Sien anzunehmen, denn er kannte keine Nichtjuden. Die Nuancen, die emotionalen Untertöne des Wortes ›Jude‹, wie nur allzu viele Nichtjuden und ebenso viele Juden selbst es aussprechen, waren ihm gänzlich fremd. Hier aber, nachdem die Krsh und die Terraner ihre kulturellen Differenzen bereinigt haen – was dadurch, daß die Krsh den jüdischen Glauben annahmen, sehr viel schneller ging –, entwickelte sich eine völlig einheitliche Gesellscha, unbeeinflußt durch nichtjüdische Kontakte. Anfänglich gab es in gewissem Umfang Reibereien, aber sie waren nicht gewalätig.« Über zweitausend Jahre hae der Mars keine Kriege erlebt, keine von Angst getriebenen Völkerwanderungen, keine Aufstände. Die einzigen Unruhen im Staat waren gelegentliche, friedliche Demonstrationen gewesen. Einzelne Leute oder kleine Gruppen haen sich gestrien, es waren auch einige Morde vorgekommen. Aber ihre Zahl war so gering, daß Bronski meinte, manchmal denke er darüber nach, ob die Marsianer wirklich Menschen seien. Er fügte dann aber schnell hinzu, er habe, wie Mark Twain, überhaupt ein gewisses Vorurteil gegen die Menschheit. Was die Gesellscha auf dem Mars zeige, sei die menschliche Fähigkeit zur friedlichen Zusammenarbeit. Sie demonstriere außerdem, daß der Homo sapiens (und der Homo krsh) von Natur aus kein Mörder sei. Oder, falls es doch so war, habe die marsianische Gesellscha ohne Zweifel den instinktmäßigen Trieb zu Mord und Krieg ausgemerzt oder doch wesentlich verringert. | 207 |
»Ja«, hae Orme gemeint, »aber denk daran: Jetzt, wo Kontakte mit Fremden stafinden sollen, bereitet sich der Marsianer auf einen Krieg vor.« »Nein. Er erklärt ja nicht den Krieg. Er kämp nicht, solange man ihn nicht angrei. Er wäre auch verrückt oder jedenfalls sehr dumm, wenn er auf einen Krieg nicht vorbereitet wäre. Er kennt die Geschichte der Erde und ihre gegenwärtige Lage. Darum muß er mit einem Angriff rechnen.« »Und die Marsianer wissen ganz genau, daß es dazu kommen wird. Aber der springende Punkt ist, daß wir den Krieg vermeiden könnten, wenn wir auf dem Mars blieben. Oder nicht versuchen würden, auf der Erde Anhänger zu finden. Sie wissen das und wollen trotzdem versuchen, die gesamte Bevölkerung der Erde zu bekehren. Sie wissen auch, daß daraus Krieg entstehen wird. Millionen, vielleicht Milliarden werden sterben oder entsetzliches Leid ertragen müssen. In gewisser Weise sind die Marsianer kriegslüstern und sind auch Aggressoren.« Bronski lächelte schief. »Du sagst immer noch sie, nicht wir. Du vergißt, daß du und ich zu ihnen gehören. Du bist eben noch kein richtiger Marsianer – wenn du je einer sein wirst.« »Und du? Du hast auch von ihnen gesprochen.« Bronski zuckte die Achseln. »Es dauert eben. Ich kann die Erde so wenig vergessen wie die alten Juden in der babylonischen Gefangenscha Jerusalem.« Etwas, über das Bronski unwillkürlich nachgrübeln mußte, war das Talent der Marsianer, Krieg zu führen. »Was wissen sie von den Schrecken des Kriegs? Die Vorstellung ist ihnen völlig fremd, etwas, von dem sie gelesen, das sie aber nie erlebt haben. Zweitausend Jahre Frieden haben eine psychische Atmosphäre erzeugt, die wir von der Erde uns gar nicht vorstellen können. Es ist zwar richtig, daß man jede Generation militärisch ausgebildet hat, aber bisher war das alles nur Spiel. Wie werden sie reagieren, wenn sie töten müssen und getötet werden? Haben zwei Jahrtausende Frieden sie für den Krieg unbrauchbar gemacht?« | 208 |
»Der Affe mit den blutunterlaufenen Augen, der in uns allen schlummert, wird aufwachen und aus seinem Käfig ausbrechen.« »Wenn es in uns ein solches Wesen gibt.« »Aber er sagt, daß es so sein muß, daß es richtig ist«, sagte Orme. »Bei jedem anderem als ihm würde ich das sehr in Frage stellen.« Jeder wußte, daß der andere dem, was ihnen bevorstand, noch nicht uneingeschränkt zustimmte, daß es noch Zweifel gab und Fragen. Aber sie haen sich selbst und einer dem andern die Sache so erklärt, daß sie ihre terranischen, anerzogenen Reflexe noch nicht überwunden haen. Sicher würde eine Zeit kommen, in der sie sich davon freimachen und so marsianisch wie die Einheimischen werden konnten. Inzwischen lien sie aber darunter. Ormes Zustand war schlimmer, als er es Bronski – und die meiste Zeit sogar sich selbst – eingestehen wollte. Ein weiterer Punkt, der die Marsianer von ihren irdischen Religionsgenossen unterschied, war der ursprüngliche Einfluß der Krsh. Zu Anfang haen diese eine ungeheure Wirkung auf die Menschen ausgeübt. Sie waren ihren Gefangenen in Wissenscha und Technik um mindestens zweitausendfünundert Jahre voraus. Die Bevölkerung der Erde haen sie als kulturell rückständig empfunden, und das mit gutem Grund. Tatsächlich häen sie, wenn da nicht Yeshua’ gewesen wäre, dessen Macht unleugbar und unwiderstehlich war, die Terraner oder wenigstens deren Kinder zu Krsh gemacht, zwar nicht körperlich, aber doch innerlich. Sta dessen war das völlig Unvorhersehbare und höchst Unwahrscheinliche eingetreten. Unter den einzigen Umständen, die eine solche Kehrtwendung überhaupt herbeiführen konnten, waren die Krsh bekehrt worden. Obgleich die erste Generation der Krsh das Gesetz mit völliger Überzeugung annahm, blieben sie doch Krsh. Entsprechend schnell kam es zu den unvermeidlichen Änderungen in der Auslegung des Gesetzes und der Lebensweise der menschlichen Juden. Mit Worten, in lebendiger Farbe und dreidimensional war | 209 |
überliefert, daß Mahias und seine libysch-jüdischen Jünger sich gegen viele dieser Veränderungen wehrten. Aber Yeshua’ selbst lehnte sie nicht ab, im Gegenteil, er gab ihnen seinen Segen, so daß niemand mehr Einwände erhob, zumindest nicht offen. Ohnehin waren unterschiedliche Auslegungen und eine ständige Entwicklung hin zum humanitären Inhalt des Gesetzes schon immer eine Eigenscha des Judentums gewesen. Auch der Nachdruck, den man auf die Grundlagen der Religion legte, verringerte sich in keiner Weise. Krsh und Menschen wuchsen völlig zusammen, sie lebten miteinander, die Kinder spielten gemeinsam, sie gingen zusammen zum Goesdienst. Nur darin unterschieden sich die Krsh, daß sie nicht Priester oder Tempeldiener der Priester werden konnten, denn das Blut Aarons oder Levis floß nicht in ihnen. Eine der Änderungen, die einen orthodoxen Juden entsetzt häen, war eine geringfügige Abwandlung des Morgengebetes aller erwachsener Männer. Jahrtausende haen die Männer diese Drei Segnungen gesprochen: »Gesegnet bist du, o Herr, unser Go, König des Universums, der du mich nicht als Heiden erschaffen hast. Gesegnet bist du, o Herr, unser Go, König des Universums, der du mich nicht als Sklaven erschaffen hast. Gesegnet bist du, o Herr, unser Go, König des Universums, der du mich nicht als Frau erschaffen hast.« Auf dem Mars gab es keine Heiden und kaum eine Möglichkeit für einen Juden, Heide zu werden. Aber es gab viele davon auf der Erde, und eines Tages würden die Marsianer auf die Erde kommen und mit ihnen zusammentreffen. Also wurde der erste Absatz beibehalten, obwohl er für die Betenden wenig Sinn hae. Es gab keine Sklaven. Obwohl der Betende gelernt hae, was dieses Wort bedeutete, hae er nie Sklaverei erlien oder auch nur einen Sklaven gesehen, so daß auch dieser Text vom Gefühl her keinen Sinn hae. Aber es hae viele Sklaven auf der Erde gegeben, als das Krsh-Schiff sie verließ, und soweit die Marsianer es wußten, gab es vielleicht immer noch welche. Darum wurde auch dieser Absatz nicht verändert. | 210 |
Zu Lebzeiten der ersten Generation blieb die drie Segnung ebenfalls so, wie sie war. Dann aber, auf das Drängen der Krsh und der von den Ansichten der Krsh angesteckten Menschenfrauen, lautete der drie Absatz so: »Gesegnet bist du, o Herr, unser Go, König des Universums, der du mich nicht als Tier erschaffen hast.« Weil es für eine wachsende Bevölkerung zu wenig Raum gab, mußte das erste Gebot Goes, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, in Grenzen gehalten werden. Jedem Paar wurden nur drei Kinder zugestanden. Mit dem neunzigsten Lebensjahr war es ihnen jedoch erlaubt, sofern sie es wünschten, zwei weitere Kinder zu haben, mit hundertachtzig Jahren nochmals zwei. Sobald die Kinder aus dem Haus waren, konnten die Eltern sich auch scheiden lassen. Allerdings wurde das als gesellschaliches Vergehen betrachtet, gab Anlaß zu Klatsch und zu Vorwürfen der Verwandten. Wenn sich jedoch neue Paare zusammenfanden, wurde dies in der Regel vorher oder kurz danach durch eine Heirat sanktioniert. Einem Juden von der Erde würde die marsianische Gesellscha zuerst fremdartig erscheinen. Es gab vieles, das man gutheißen konnte; aber vieles war auch sehr verwirrend. Nach einer Weile häe dieser Jude, wenn er nicht gerade ultraorthodox war, gut damit leben können. Selbst wenn das Dasein hier exotische oder unerwartete Züge hae, war es doch durch und durch jüdisch. Der Gedanke an Go erfüllte das ganze Volk. Alles nur irgend mögliche beruhte auf der Anbetung Goes. Die Leute lebten in einem Ozean der Gölichkeit. Aber zum Unterschied von den Fischen, die sich des Elements, in dem sie schwimmen, nicht bewußt sind, wurden die Marsianer zu jeder Zeit an ihren Schöpfer und an den alten Bund erinnert, den Go mit ihren Vorfahren und dadurch auch mit ihnen geschlossen hae.
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arst du das, der nachts an meinem Be gestanden und mich betrachtet hat?« fragte Orme. »Ich bin bei allen meiner Herde, Tag und Nacht«, antwortete Jesus und wollte zu diesem Thema nichts Weiteres sagen. Orme war verwirrt und ein wenig zornig. Was war das für eine Antwort? Warum konnte Jesus nicht Ja oder Nein sagen? Diese Antwort glich zu sehr der, die er den Pharisäern gegeben hae, als sie ihn fragten, ob es erlaubt sei, dem Kaiser die Kopfsteuer zu zahlen. Er hae zu ihnen gesagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Go, was Goes ist.« Diesen Satz hae man in den darauffolgenden zwei Jahrtausenden viel zitiert. Er war Grundlage Tausender von Interpretationen der rechten Treue zur eigenen Regierung und zur eigenen Religion gewesen. Aber niemals war man sich ganz darüber einig geworden, was nun des Kaisers war und was Goes. Und dann seine Antwort auf die Frage der Sadduzäer über die Auferweckung der Toten: »Er ist kein Go der Toten, sondern ein Go der Lebendigen.« Zugleich hae Jesus klar darauf hingewiesen, daß es eine Auferstehung geben würde. Aber es würde kein Heiraten und kein Verheiraten mehr geben – die Auferstandenen würden sein wie die Engel im Himmel. Was bedeutete das? Daß es eine totale, sexuelle Freiheit geben würde und Männer und Frauen sich paaren konnten, wann und mit wem sie wollten? Oder hieß es, wie es die Kirchen erklärten, daß Männer und Frauen ohne Geschlecht und darum nicht mehr Männer und Frauen sein würden? Immer, wenn Orme daran gedacht hae, was nicht o der Fall war, hae er ein merkwürdiges Gefühl in seinen Geschlechtsorganen, ein Schrumpfen, als sei ein Kastrator mit einem großen Messer im Begriff, sie ihm abzuschneiden. Orme hae viele Fragen, und als er erfahren hae, daß Jesus lebte und man ihn fragen konnte, hae er geho, nun würde er endlich alle Antworten bekommen. Aber auch dieser Jesus, genau wie der in den Büchern, die er gelesen hae, gab zweideutige Ant| 212 |
worten. Vielleicht wurden sie, wie Bronski meinte, in den vielen Aufzeichnungen über das, was Jesus auf dem Mars gesagt hae, erweitert und verdeutlicht. Aber Orme hae keine Zeit mehr, das alles durchzugehen. Er mußte aurechen, zurück zur Erde. An jenem schicksalhaen Tag standen die drei Terraner auf einer gewaltigen, würfelförmigen Ebene nahe der Planetenoberfläche. Sieben Raumschiffe umgaben sie, sechs davon zylindrisch, das siebte dreimal so groß wie die anderen, eine Halbkugel, aus der sechs lange Röhren hervorragten, die alle an der Spitze einen riesigen Globus trugen. Doppelreihen von Männern bestiegen nacheinander die Schiffe. Sie trugen nicht mehr ihre knöchellangen Gewänder und Sandalen; jetzt waren sie Soldaten, kriegsmäßig uniformiert, auch wenn sie hoen, einen Krieg zu vermeiden. Sie haen wadenhohe blaue Stiefel an, weite, rote Hosen, hülange, weiße Tuniken und runde, randlose, schwarze Plastikhüte. Metallabzeichen der Krsh, die Einsatzbereich und Rang angaben, befanden sich auf Brust, Schultern und Hüten. Viele trugen Gürtel mit Halterungen, in denen pistolenförmige Waffen steckten. Einige davon waren Laser, die auf drei Meilen Entfernung einen Menschen töten und auf einer Distanz von einer halben Meile einen Meter dicken Stahl durchschneiden konnten. Von den zwanzigtausend Mann waren nur vier nicht in Uniform. Jesus trug sein himmelblaues Gewand, und die Männer von der Erde haen ihre IASA-Uniformen an. Der Messias fand, es sei nicht gut für sie, auszusehen wie die Angehörigen der marsianischen Raumfloe. »Ihr seid bei uns und gehört zu uns, und darum lieben wir euch. Aber die Völker der Erde könnten euch als Verräter betrachten. Darum ist es besser, wenn ihr zunächst nur als Bekehrte auftretet. Ihr werdet zum Königreich des gölichen Wesens gehören und darum seine Soldaten sein. Aber die Söhne der Finsternis werden voller Mißtrauen, Furcht und Ziern sein. Sie dürfen nicht erkennen, daß ihr zu uns gehört. Ihr müßt immer noch Terraner sein, keine Marsianer. So werdet ihr eine Brücke zwischen uns bilden, ein Instrument der Kommunikation und der Rückversicherung. Später könnt ihr dann die Gewänder der Söhne | 213 |
des Lichts tragen. Das Königreich des gölichen Wesens kann nicht durch Gewalt errichtet werden. Wir kommen nicht, um zu zerstören und zu töten. Wir werden die Herrscha des Messias anders erreichen, durch unser Beispiel, durch Liebe, durch Gaben. Natürlich kann es Krieg geben, aber wir werden nicht als erste angreifen. Seht ihr«, meinte er lächelnd, »der Mann, den ihr den Heiligen Johannes der Offenbarung nennt, der Verfasser der Apokalypse, war ein Dichter. Er malte die Ankun des Messias in lebhaen Bildern, in Übertreibungen, in flammenden Symbolen. Und er begründete seine Vision auf Übernatürlichem. Aber die Einsetzung des Messias und des gölichen Königreichs und das Legen der Fundamente für das Neue Jerusalem – das alles wird nicht so geschehen, wie er es gesagt hat. Vielleicht wird sich der Himmel aufrollen wie eine Schrirolle, vielleicht werden die vier Reiter reiten, und das siebenköpfige Untier wird aus dem Meer hervorbrechen, aber diese Dinge werden nur symbolisch stafinden. Ein großer Teil der Eroberung wird durch Wissenscha und Technik erfolgen. Sie werden verursachen, was ihr Kulturschock nennt. Zum Beispiel werden wir wahrheitsgemäß bekanntmachen, daß unsere Wissenschaler seit kurzem noch viel weiter fortgeschrien sind und mehr können, als nur den Alterungsprozeß zu verzögern. Wir können den Völkern der Erde heute sagen, daß wir ihnen Unsterblichkeit verleihen können. Ausgenommen davon sind natürlich Mord, Unfall oder Selbstmord.« Orme schnappte nach Lu. Dann fragte er: »Meister, ist das wahr? Nein, vergib mir, ich zweifle nicht an dir. Es ist nur so umwerfend.« Bronski sagte: »Aber wenn nur ganz wenige sterben, wird es auf der Erde bald keinen Platz mehr für Kinder geben.« Hfathon, der danebenstand, sagte leise: »Belästigt den Messias nicht mit Dingen, die selbstverständlich sind.« Aber Jesus bemerkte: »Ich habe nicht gesagt, daß nur wenige sterben werden. Zu Anfang wird es mehr als genug Platz geben. Danach, wenn die Erde wieder voller Menschen ist, wird man sich um die Kinder kümmern.« Orme wurde übel. Es würde Krieg geben, den schrecklichsten, | 214 |
den die Menschheit je erlebt hae. Oder haen Jesu Worte eine andere Bedeutung, die sich erst im Lauf der Zeit herausstellen würde? »Es kommt nicht darauf an«, fuhr Jesus fort. »In der Ewigkeit sind fünundert Jahre so lang und so kurz wie eine Million. Unser Plan braucht Zeit. Wieviel – das ist unerheblich. Wir können so geduldig sein wie eine Muer mit ihren unartigen Kindern. Zu gegebener Zeit werden alle auferweckt werden, die es verdienen. Unsere Wissenschaler sind überzeugt davon, daß wir eines Tages die Toten wieder lebendig machen können. Die Überlieferungen vergangener Dinge existieren in der Keimschicht des Universums weiter, oder, anders formuliert, im Körper des Schöpfers. Die Wissenschaler nennen das Äther, eine Vorstellung, die eure Wissenschaler, soweit mir bekannt ist, ablehnen. Aber sie sind in dieser Hinsicht so unwissend, wie die weisen Männer der alten Erde es in anderen Dingen waren. Zu gegebener Zeit werden die Toten auferstehen. In fünundert Jahren, in tausend Jahren – was macht es denen aus, die schlafen?« »Meister«, fragte Orme, »wird man auch das der Erdbevölkerung verkünden?« »Du wirst es erleben. Denk darüber nach. Es ist der Barmherzige, der alles das tut, aber o bedient er sich zu seiner Arbeit menschlicher Hände. Das gilt sowohl für die Auferstehung der Toten als auch für die Wiederherstellung des Reichs des Messias.« Jesus wandte sich ab, um mit einer Gruppe von Offizieren zu sprechen. Orme ging weiter – er fühlte sich leicht benommen. Bronski bemerkte etwas, aber es konnte nichts Dringendes gewesen sein, denn er sprach leise und wiederholte den Satz nicht. Obwohl Orme sich bereits von Gulthilo verabschiedet hae, ging er noch einmal über die riesige Ebene, bis er an einen Metallzaun kam. Dahinter standen die Familien der Besatzungen, und in der Nähe eines Tores stand seine Frau. Gestern hae sie erfahren, daß sie ein Kind erwartete. Die Nachricht brachte Freude und Betrübnis zugleich, denn er mußte am nächsten Tag fort, und niemand konnte sagen, wann er zurückkehren würde. Auch | 215 |
wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, häe Gulthilo ihn nicht begleiten können. Auf den Schiffen gab es keine Frauen, denn die Möglichkeit eines Krieges war nicht auszuschließen. Später, wenn alles gutgegangen war, würde man auch Frauen als Lehrer und Verwaltungsfachleute zur Erde schicken. Aber auch dann würde sie nicht dabeisein, weil sie ein Kind großzuziehen hae. Als Gulthilo ihn sah, lächelte sie, wenn auch nicht mehr so mutig wie noch vor einer Stunde, als sie einander Lebewohl gesagt haen. »Was ist passiert, Richard?« »Nichts, nur daß ich überwältigt bin. Ich habe gerade gehört, die Wissenschaler häen bekanntgegeben, daß sie irgendwann auch die Toten auferwecken könnten.« Sie steckte die Finger durch das weitmaschige Gier und faßte seine Hand. »Das ist nichts Verwunderliches. Jesus hat immer gesagt, daß es eines Tages soweit sein würde, also haben wir damit gerechnet. Ich habe nicht gewußt, daß die Wissenschaler, die seit tausend Jahren daran arbeiten, jetzt etwas ganz Grundlegendes entdeckt haben. Sie müssen zuversichtlich sein, daß sie es eines Tages doch schaffen. Sonst häe es der Messias euch nicht gesagt. Wahrscheinlich wird man bald im Fernsehen darüber berichten. Es wird ein Anlaß zu großem Jubel sein. Vielleicht richtet man einen neuen Feiertag ein.« »Gib mir noch einen Kuß«, sagte er und drückte seine Lippen auf die ihren. Die Zähne preßten sich in sein Fleisch. Die Berührung mit ihrem Fleisch tröstete ihn und gab ihm das Gefühl, daß diese Welt nicht plötzlich nebelha geworden war, unwirklich, fern. Sie war wieder so fest und warm wie ihr Körper und das Leben in ihrem Leib. »Möge der Schöpfer mit dir sein«, sagte sie leise. »Auch ich werde in Gedanken bei dir sein. Und du wirst zurückkehren, bevor das Kind geboren ist. Wenn es irgend möglich ist, bist du dann bei mir. Das Gesetz sichert es uns zu, und der Messias ist barmherzig. « »Bis dann, Geliebte«, antwortete er und ging. Aber er war nicht so überzeugt wie sie. Nur ein einziger wußte, wie die Söhne der Finsternis die Söhne des Lichts empfangen würden. | 216 |
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u den vielen Dingen, die Orme nicht begriffen hae, gehörte auch, wie eine Raumfloe ohne langes, vorhergehendes Training der Besatzung überhaupt starten konnte. Er erfuhr, daß man seit fünfzig Jahren Simulationsübungen für diesen Tag veranstaltet hae. Darum gab es, als man die Schiffe nun baute, tatsächlich ausgebildete Mannschaen, die sie bedienen konnten. Die Besatzungen haen gefastet und gebetet. Wer sich aus irgendeinem Grund rituell verunreinigt hae, war gereinigt worden. Alles war bereit. Die würfelförmige obere Ebene wurde geräumt, die Eingänge durch massive Metalltüren verschlossen. Auf der einen Seite der Höhle senkte sich langsam die Unterseite eines wahrha riesigen Stöpsels herab, eines Felsblocks aus Granit. Obwohl er eine Viertelmeile hoch war, einen Durchmesser von einer halben Meile hae und über keine sichtbare Auängung verfügte, kam er so leicht herunter wie ein Spielzeugballon, aus dem die Lu entweicht, und sank in eine dafür vorbereitete Höhlung. Zuerst stieg das Flaggschiff, die Maranatha (aramäisch für »Unser Meister, komm!«), durch die Öffnung auf. Nacheinander folgten die anderen. Als letzte kam die gewaltige, halbkugelförmige Zara – oder »Samen« –, die etwa eine Viertelmeile über dem Boden anhielt. Zehn Minuten später hae der obere Teil des Felsstücks das Loch wieder verschlossen. Aus einem der Zylinder mit einem Globus an der Spitze, die aus der Zara herausragten, schoß ein orangefarbener Strahl, und der Fels rund um den Stöpsel verschmolz mit dem Verschlußstück. Kein Beobachtungssatellit von der Erde würde dieses Ereignis aufzeichnen und übertragen können. Die beiden noch intakten waren von den Marsianern ausgeschaltet worden. Und weil es auf dieser Seite des Mars Nacht war, würde die Stelle dann, wenn sie in den Bereich der empfindlichen Instrumente von der Erde kam, abgekühlt sein. Wenn die Zara zurückkehrte, würde sie die dünne Lavakruste auflösen, so daß der Stöpsel wieder herabsinken konnte. | 217 |
Das Flaggschiff beschleunigte mit einer Geschwindigkeit von drei Füneln der Erdanziehungskra pro Sekunde und erhob sich in die dünne Atmosphäre des roten Planeten. Die andern folgten, sozusagen im Gänsemarsch; die Zara bildete die Nachhut. Hfathon stand neben den dreien, die keine Erdenmänner mehr waren, sondern naturalisierte Marsianer, und erklärte: »Der Spitzname der Zara ist ›die Weermacherin‹. Sie kann die Sonnenenergie unmielbar an der Oberfläche anzapfen und in umgewandelter Form zur Erde senden. Sie kann eine Dürre erzeugen oder eine Sintflut, eine arktische Region erwärmen und eine tropische abkühlen. Über weite Strecken hin kann sie innerhalb von fünf Monaten das Klima verändern, indem sie über einen wesentlichen Zeitraum die Temperatur um fünf oder sechs Grad steigen oder fallen läßt. Konzentriert sich die Energie auf ein kleines Gebiet, sind die Auswirkungen schnell festzustellen. Die Zara verfügt aber auch über noch weitere Fähigkeiten. Möge uns der König des Himmels davor bewahren, sie einsetzen zu müssen.« »Allerdings möge er das tun«, erwiderte Orme. Wenn er sich vorstellte, was auf der Erde passieren könnte, wurde er traurig. Aber hae der Messias nicht gesagt, er komme nicht mit dem Frieden, sondern mit einem Schwert? Andererseits hae er auch erklärt, er komme, um den Menschen das Leben zu erhalten und nicht, um sie zu vernichten. Was geschehen würde, würde geschehen. Ganz gleich, wie die Zwischenergebnisse ausfielen, Zweck und Ziel waren gut. Allerdings haen von dieser Philosophie schon allzu viele Menschen Gebrauch gemacht – und haen sie mißbraucht und geschändet –, noch dazu mit solch üblen Mieln, daß sie in Verruf geraten war. Und doch war dies ein heiliger Krieg, von Go befohlen und von seinem Adoptivsohn begonnen. Diesen Krieg zu gewinnen, konnte nur das Beste bedeuten, das Allerbeste für die Menschheit, und das für immer. Warum war dann sein Herz so schwer, warum waren die Tränen seinen Augen so nahe? Bronski und Shirazi schienen glücklich zu sein. Sie haen keine Zweifel. Wie die anderen Männer der Maranatha-Besatzung | 218 |
bewegten sie sich lächelnd, sangen hebräische und Krsh-Lieder, manchmal fröhliche Volkslieder, manchmal fromme Gebete. Bis auf die Stunden nach dem Abendessen hae Orme wenig Zeit, an andere als dienstliche Dinge zu denken. Dauernd war er damit beschäigt, mit den führenden Männern des Staats und den höheren Offizieren der Floe zu konferieren. Gelegentlich nahm Jesus teil, wenn es um die großen Linien des Plans für die Erde ging. Orme sollte Chef der Verwaltung des nordamerikanischen Bereichs werden. Shirazi sollte oberster Berater für die Verhandlungen mit den islamischen Staaten sein, Bronski Leiter der Verbindungsabteilung für westeuropäische und israelische Angelegenheiten. Außerdem sollte er die Abteilung leiten, die für die nichtislamischen, kommunistischen Staaten zuständig sein würde. Zusätzlich nahm Orme Kurzunterricht in Hebräisch, um die Liturgie richtig zu verstehen. Wenn er ins Be ging, war er sehr müde. Aber seine Träume waren lebha. Viel zu lebha, denn er hae furchtbare Alpträume, und mehr als einmal erwachte er schwitzend und stöhnend. Gewöhnlich deutete eine unbestimmte Gestalt in der drohenden Dunkelheit anklagend mit dem Finger auf ihn und gli dann, ohne die Beine zu bewegen, auf ihn zu, bis Orme schon fast ihr Gesicht erkennen konnte. Dann wachte er plötzlich auf, und manchmal riefen ihn Nadir und Avram aus ihren Kojen an und fragten, was er häe. Eines Tages, während der Tagwache, erzählte er es ihnen. Bronski meinte: »Ich glaube, Richard, du bist immer noch nicht richtig bekehrt. Das, wozu dein Mund sich bekannt hat, hast du noch nicht von ganzem Herzen akzeptiert.« »Sag das nicht«, erwiderte Orme. »Natürlich glaube ich, daß er der Messias ist, der wahre Jesus Christus. Wie könnte jemand, der gesehen hat, was ich gesehen habe, etwas anderes glauben?« »Erlaube, daß ich dich an das Gleichnis erinnere, das Jesus einmal von Lazarus und dem reichen Mann erzählt hat«, sagte Bronski. »Erinnerst du dich? Der reiche Mann feierte Feste, während Lazarus, der Beler, vor seinem Tor lag. Lazarus war mit Schwären bedeckt, die die Hunde ihm leckten. Der Reiche | 219 |
kümmerte sich nicht darum, den Beler waschen zu lassen und ihm zu essen zu geben. Er ignorierte ihn völlig. Dann starben beide. Der Beler kam in den Himmel und der Reiche ins höllische Feuer. Der reiche Mann flehte Abraham um Hilfe an, erfuhr jedoch, daß es unmöglich war, ihn aus der Hölle zu befreien oder ihm auch nur Wasser zu bringen, um seine brennende Zunge zu kühlen. Da bat der Reiche, doch Lazarus zu seinen fünf Brüdern zu senden, um sie davor zu warnen, daß auch sie in die Hölle kommen könnten, wenn sie sich nicht besserten. Aber Abraham sprach: ›Wenn sie schon Moses und den Propheten nicht folgen, würde es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten auferstünde.‹ Das gilt genauso für dich. Du hast viel mehr gesehen als nur einen Auferstandenen, und doch zweifelst du noch.« »Du zweifelst nicht?« »Nein. Vielleicht solltest du zu Jesus gehen und ihm sagen, daß du Sorgen hast. Ich bin sicher, daß er dich von deinen Zweifeln heilen kann.« Orme dachte darüber nach. Dann faßte er sich ein Herz und ließ durch Azzur ben-Asa, den obersten Sekretär des Messias, um ein Gespräch bien. Azzur teilte ihm mit, daß der Messias zur Zeit niemanden empfangen könne. »Er ist für drei Tage bei seinem Vater.« Einen Augenblick verstand Orme nicht. Dann fragte er: »Ach – du meinst, er ist im Schiffsreaktor?« »So kann man es ausdrücken«, erwiderte ben-Asa. Orme dankte ihm und schaltete das Intercom ab. Da war es wieder, was so an ihm nagte. Wie konnte irgendein Mensch, selbst Jesus Christus, einen Atombrennofen betreten und unversehrt wieder herauskommen? Und vor allem, warum? Wenn ihm Jesus nur nicht die Geschichte vom Energiewesen erzählt häe! All diese Geschichten waren ja angeblich nur müßige Vorstellungen, Erfindungen des Augenblicks, um Orme zu zeigen, welche absurden Überlegungen von Ungläubigen angestellt wurden. Jesus schien sich dabei amüsiert zu haben. Er war nicht der ewig Ernsthae, für den jemand, der das Evangelium gelesen hae, ihn halten konnte. Aber hae er, im Gewand der | 220 |
Phantasie, Orme nicht vielleicht doch die Wahrheit gesagt? Spielte er die Katze, wenn Orme die Maus war, und hae Spaß daran? Oder prüe er nur, wie tief die Überzeugung seines Jüngers ging? Seine Gedanken kehrten zu dem Reaktor zurück. Jesus hae sich dorthin zurückgezogen, so wie sonst in den tödlichen Brennofen in dem Globus, der in der marsianischen Höhle die Rolle der Sonne spielte. Konnte er, wenn er wirklich nur ein Mensch war, auch nur eine Mikrosekunde darin überleben? Nein. Aber die Marsbewohner betrachteten ihn gleichzeitig sowohl als Menschen, wie sie selbst Menschen waren, als auch als Übermenschen. Er konnte Wunder tun, und das nicht nur in der Überlieferung. Sie bewunderten ehrfürchtig seine Fähigkeit, in ihrem Reaktor zu leben, aber sie hielten sie für ganz natürlich. Für den Menschensohn, der zugleich Goes angenommener Sohn war, gab es nichts Unnatürliches. Und was war natürlicher, als daß Jesus sich an einen Ort begab, den kein anderer betreten konnte, um dort mit Go zu sprechen? Sah Jesus Go überhaupt? Nicht nach Ansicht der Marsianer, die das Alte Testament zitierten. »Niemand hat Go je gesehen.« Das heißt kein Lebender. Aber – verdammt, daß er ihm das erzählt hae! – da war immer noch diese Geschichte vom Energiewesen. Traf Jesus wirklich in diesem Atom-Allerheiligsten mit der Goheit zusammen? Oder regenerierte er seine Lebenskra, indem er sich von den tobenden Strahlungen quasi ernährte? An diesem Tag betete Orme dreimal gemeinsam mit den anderen. Als er in seiner Koje lag und das Atmen seiner beiden Gefährten ihm bestätigte, daß sie schliefen, kleerte er wieder hinaus. Er kniete nieder und betete ganz leise um Erleuchtung. »O Go, laß mich die Wahrheit wissen! Ich bin verzweifelt, in einer Hölle von Ungewißheit. Reinige mich davon. Laß meine Seele fest sein und unerschüerlich, erfüllt mit der Wahrheit. Vater, ich flehe dich an. Amen.« Aber nichts war zu hören als der Hauch von Shirazis und Bronskis Atem, nichts zu sehen außer der Dunkelheit. Wieder in seiner Koje, lag er noch lange wach, bis er in einen unruhigen | 221 |
Schlaf fiel. Im Traum erzählte ihm jemand, Jesus habe vor drei Sorten Menschen gewarnt: dem, der seine Frömmigkeit gerne öffentlich zur Schau stellte, dem, der stets ein Haar in der Suppe fand, und dem falschen Propheten. »Und was für einer ist er?« fragte die tiefe Stimme. »Wer, er?« fragte Orme zurück. »Du weißt es«, antwortete die Stimme. »Nein ... ich weiß es nicht«, sagte Orme und stöhnte. Dann, als die Stimme nicht weitersprach: »Der falsche Prophet?« »Du sagst es.« Orme erwachte aus dem Tiefschlaf. Während er noch gerade unter der Oberfläche des Wachseins schwamm, überkam ihn wieder das vertraute, inzwischen fast tröstliche Bewußtsein, daß jemand an seinem Be stand. Er öffnete die Augen. Ein Mann stand neben ihm, von dem ein helles Licht ausging. Er trug ein schwarzes Gewand. Haar und Bart waren rötlich. Er hae ein Raubvogelgesicht und sah sehr gut aus, obwohl seine Augen ahnen ließen, daß er viel gelien hae. Orme versuchte nicht aufzustehen. Er lag auf dem Rücken und wandte dem Mann den Kopf zu. Sein Herz schlug heig, mit den Händen klammerte er sich an den Beüchern fest. Dieser Mann sah so aus, wie er sich Jesus Christus vorgestellt hae – selbst in seiner Angst dachte er, daß er dem konventionellen Jesusbild ähnlich war, das in seinem Elternhaus an der Wand gehangen hae. Der leuchtende Mann hob die Hand und machte ein Zeichen damit, als wollte er ihn segnen. Dann gli er nach hinten zurück und das Licht begann zu verblassen. Es verschwand, die Gestalt mit ihm. Das Ganze hae vielleicht zehn Sekunden gedauert. Orme dachte, daß dieser Mann nicht der Jesus war, den er zuerst in der Höhle gesehen hae, wie er von der Sonne herabstieg. Das hier war der Mann, der ab und zu an seinem Be gestanden hae, der wahre Jesus Christus. Er hae über ihn gewacht. Und nun, in der Krise und der Verzweiflung seines Jüngers, war er ihm erschienen. Das Licht war gekommen, das Licht, das von ihm ausging. Keine Worte waren nötig gewesen – seine Gegen| 222 |
wart war genug. Wenigstens sollte sie das sein. In früheren Zeiten häe jemand, der etwas Derartiges erblickte, es buchstäblich akzeptiert. Die Gestalt wäre das gewesen, was sie zu sein schien. Es gab keine andere Erklärung. Aber er war in einer weniger naiven, aufgeklärten Zeit geboren. Konnte diese leuchtende Gestalt nur eine jener Erscheinungen gewesen sein, die bei Menschen im Zustand zwischen Schlafen und Wachen gelegentlich auraten? Orme hae noch nie etwas Derartiges erlebt, aber davon gelesen. Er hae einen Mann gekannt, der manchmal solche Visionen hae. Sein Freund hae erzählt, sie erschreckten ihn, sie schienen wirklich zu existieren, und er könnte immer schwören, er sei hellwach gewesen, wenn er sie sah. Aber er gab auch zu, daß er vielleicht immer nur geglaubt hae, bei vollem Bewußtsein gewesen zu sein, und daß die Phänomene wahrscheinlich nur sichtbare Manifestationen waren, projizierte Subjektivitäten, die aus seinem Unterbewußtsein kamen. Wenn Orme daran dachte, mußte er eingestehen, daß die Gestalt, die zu sehen er geglaubt hae, auch so etwas sein konnte. Schließlich war er Ingenieur, hae eine rigorose wissenschaliche Ausbildung genossen und sollte imstande sein, die wahrscheinlichste Erklärung auszuwählen. (Verwenden sie Ockams Rasiermesser. Lassen Sie es schneiden, ganz gleich, wie weh es tut.) Aber es kam ja gar nicht darauf an, ob der wirkliche Jesus erschienen war oder nicht. Was sich ihm hier gezeigt hae, war das, woran er glaubte. »Ich bin der Weg.« Diese Vision war das Tor, durch das er bis in das tiefste Innere seines Verstandes sah. Oder, um es altmodisch, aber trotzdem genauso richtig zu sagen, das Innerste seiner Seele. Getröstet durch diese Offenbarung, häe er nun einschlafen sollen. Aber da waren noch andere Probleme, über die er nachdenken mußte. Und während seine Kabinengefährten schliefen, überlegte er, was er tun sollte und was er tun konnte. Wie gewöhnlich, bestand zwischen dem einen und dem andern ein großer Unterschied. | 223 |
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uf halbem Weg zur Erde begann die Floe, ihre Geschwindigkeit herabzusetzen. Trotzdem schwebte die Besatzung nicht im freien Fall, als die Schiffe ihre Umlauahn um den Planeten aufgenommen haen. Gravitationsgeneratoren sorgten in allen Schiffen für ein Schwerefeld, das dem des Mars entsprach. Die Maranatha ging direkt oberhalb von Jerusalem auf stationären Kurs. Zwei andere Schiffe umkreisten die Erdkugel in Gegenrichtung über die Pole, zwei weitere in Gegenrichtung über dem Äquator. Das sechste schwebte im Winkel von fünfundvierzig Grad zum Äquator schräg über den Globus. Die gigantische Zara, das siebte Schiff, zog in einer Entfernung von zweihunderausend Meilen kreuz und quer über den Planeten und änderte jeden zweiten Tag die Richtung. Um die Nachrichten- und Weer-Satelliten oder die beiden Raumkolonie-Satelliten kümmerten sich die Marsianer nicht. Den »Raumschro« jedoch, Stücke von Satelliten oder vollständige Satelliten, die von ihren Umlauahnen abgekommen waren, löste die Zara in Staub auf. Diese Reinigungsaktion bewirkte zweierlei. Sie stellte sicher, daß nichts von Menschenhand Gefertigtes auf die Erdoberfläche stürzen und vielleicht Menschen töten konnte. Und sie vermielte der Erde einen ungeheuren Eindruck von der Macht der Zara. Am Tag nach diesem Ereignis bat Jesus selbst um Landeerlaubnis für die Maranatha auf einem Feld bei Jerusalem. Das wurde, wenn auch sehr höflich und mit vielen Entschuldigungen, abgelehnt. Das israelische Parlament, die Knesseth, diskutierte noch heig darüber, ob man Jesus in seiner Eigenscha als politischen Führer des Mars-Staates die Landung gestaen sollte oder in seiner Eigenscha als Messias. Da Jesus darauf beharrte, er sei der Messias und das politische Oberhaupt des Staates der Oberste Richter war, ein Krsh namens Eliakim ben-Yoktan, schien das Problem unlösbar. Wirklich schob auch die Knesseth ihre Entscheidung so lange wie möglich hinaus. Ganz Israel war in sich zerstritten, Bruder gegen Bruder, Vater gegen Sohn. Eine winzige, super| 224 |
orthodoxe Gruppe, so reaktionär, daß sie sich noch immer weigerte, Israel als Staat anzuerkennen, weil ihnen dieser Staat nicht religiös genug war, lehnte Jesus als Messias gla ab. Die Orthodoxen waren geteilter Meinung, einige hell begeistert, weil der Messias nun endlich gekommen war, andere wütend, weil er kein echter Jude war, geschweige denn ein Nachkomme Davids, den man den Gesalbten nannte. Ein großer Teil der Bevölkerung bestand aus Agnostikern oder Atheisten oder gehörte zum Reformzweig des Judentums. Viele, die ihren Glauben nicht praktizierten, auch wenn sie sich als Juden bezeichneten, waren von den Ereignissen mitgerissen worden und nun gläubiger als die orthodoxesten der Orthodoxen. Sie forderten die Regierung lauthals auf, Jesus die Landung zu gestaen und damit das messianische Zeitalter einzuleiten. Das ganze Land war wie gelähmt; Geschäe und die weltlichen Pflichten des täglichen Lebens wurden, soweit es nur ging, unbeachtet gelassen. Die Bürger hockten vor ihren Fernsehern oder diskutierten mit Verwandten, Freunden oder Fremden auf der Straße. Die Lu brannte und vibrierte von Zitaten aus den Schriften der Propheten und dem Talmud, die zugleich als Beweis und Gegenbeweis dienten. Dem Aufruhr in Israel entsprach der Tumult in allen anderen Ländern. Trotz größter Anstrengungen in den kommunistischen Staaten, die Einzelheiten von Jesu Botschaen zu unterdrücken, mißlang der Versuch. Über geheime Kanäle und das Radio haen die Neuigkeiten die Bevölkerung erreicht, wenn auch o nur in verstümmelter Form. Auch die sozialistischen Demokratien haen, obwohl bei weitem nicht derart energisch, versucht, einen Teil der Meldungen zu kürzen, Es gab sogar Gruppierungen, die verlangten, die Nachrichten müßten auf ein Minimum zusammengeschnien werden, vor allem aber müßte der gesamte religiöse Inhalt gestrichen werden. In Rom erschien der Papst im Fernsehen und gab bekannt, der Messias sei der Antichrist. Der Patriarch der griechisch-orthodoxen Kirche wiederholte die Beschuldigung eine Stunde später. Der Erzbischof von Canterbury erklärte, daß die Kirche von England | 225 |
sich derzeit weder positiv noch negativ zur Stellung des Bewerbers äußern könne. Zuerst müßten die Botschaen genauer studiert und ein Vergleich zwischen ihnen und der aus der Bibel abgeleiteten Theologie erstellt werden. Das bedeutete allerdings nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen. Selbst ein Laie mit nur oberflächlichen Bibelkenntnissen (mit anderen Worten: die meisten Kirchenmitglieder) konnte sofort erkennen, daß man den Großteil der Lehren der anglikanischen Kirche mit dem, was die Marsianer behaupteten, nicht auf einen Nenner bringen konnte. Die Baptistenkirchen, ob Südliche Baptisten oder andere, haen diesen Jesus bereits offiziell abgelehnt. Aber unter ihren Gemeindemitgliedern waren die Ansichten nicht einheitlich, und es haen sich bereits Spliergruppen mit unterschiedlichen Bezeichnungen gebildet. Die offizielle Führung sowohl der Hindus als auch der Moslems und Buddhisten hae Jesus von sich gewiesen. Aber auch hier waren die Gläubigen geteilter Meinung. Überall fielen bittere Worte, o gefolgt von Gewalaten. Es war zu Massendemonstrationen gekommen, zu Unruhen und in Uganda sogar zu einer Revolution. Am drien Tag der Erdumkreisung durch die Floe schaltete sich diese weltweit in die Rundfunk- und Fernsehprogramme ein. Gleichgültig, auf welchem Kanal, die Sendungen aus der Station auf der Maranatha drangen durch. Als einige Regierungen den Strom abschalteten, damit die Bürger nichts mehr hören konnten, funktionierten die Geräte trotzdem. Die staatlichen Stellen verfielen in Panik. Wie erreichten die Marsianer so etwas? Und wenn sie das schon konnten, wozu waren sie dann noch imstande? Natürlich protestierten sämtliche Staaten. Aber Jesus antwortete, dieses Vorgehen sei nötig und diene den Menschen nur zu ihrem Besten. Vierundzwanzig Stunden lang sendete die Maranatha ununterbrochen. Sie berichtete über die Geschichte der Krsh, bevor diese auf die Erde gekommen waren, zeigte Filme über die Terraner des Jahres 50 n. Chr., Aufnahmen von Gefangenen von der Erde, den Predigten des Mahias und ihrer Wirkung auf Gefangene und Krsh, Bilder von den Bekehrungen und dem | 226 |
ersten Aureten Jesu sowie viele Szenen des Lebens auf dem Mars und der Rolle, die Jesus dabei spielte. Außerdem, für den Fall, daß man sie das erstemal nicht weitergeleitet hae, sendete sie die Programme, bei denen die Marsfahrer mitgewirkt haen. Die verschiedenen Regierungen erhoben zornige Proteste, von vielen kamen verschleierte Drohungen. Aber niemand schickte Atomraketen gegen die Schiffe aus. In einem eineinhalbstündigen Schlußprogramm verkündete Jesus selbst, daß die Marsianer jede Krankheit heilen und ihr nochmaliges Aureten verhindern konnten. Krankheiten würden völlig von der Erde verschwinden, auch die Erkrankungen des Geistes, ob nun genetisch, durch Stoffwechselstörungen oder aber durch Alterserscheinungen bedingt. Außerdem würde man, wenn die Regierungen einwilligten, an verschiedenen Stellen zweihundert kleinere Maschinen landen. Aus diesen würde »Manna« fließen, eine weiche, weiße Substanz, die alle Elemente enthielt, die zur gesunden Ernährung nötig waren, und die außerdem gut schmeckte. Das Manna würde mit einer Geschwindigkeit von drei Kubikmetern pro Stunde und pro Maschine produziert werden. Man konnte es zu den Hungernden der Erde transportieren und es – zumindest vorläufig – kostenlos an sie abgeben. Orme war schockiert, als er davon hörte. Bis Jesus es erwähnte, hae er keine Ahnung gehabt, daß es etwas Derartiges gab. Als er sich von der Verwirrung seiner Gefühle einigermaßen erholt hae, wurden ihm die weitreichenden Folgen dieses Angebots klar. Weigerten sich die Regierungen, die Nahrung zu transportieren, würden schwerwiegende Unruhen entstehen. Und bei der Unterdrückung dieser Aufstände würde es in jedem Fall zu furchtbaren Gemetzeln kommen. »Redet euch nicht mit fehlenden Transportmöglichkeiten oder zu hohen Kosten heraus!« erklärte Jesus. »Und versucht nicht, aus dem Manna Gewinn herauszuschlagen oder es denen vorzuenthalten, die bei eurer Regierung in Ungnade gefallen sind. Wehe dem Mann oder der Frau, die für solche Schlechtigkeit verantwortlich sind, wehe dem, der solche Befehle seiner Vorgesetz| 227 |
ten ausführt! Wehe allen, die so etwas tun! Ihre Strafe ist ihnen sicher!« Weitere Proteste wegen Einmischung in die Rechte selbständiger Staaten. Keine Antwort auf die Proteste. Dann verkündete Jesus das, was für seine Zuhörer das Äußerste zu sein schien, der absolute Höhepunkt: daß sie nämlich die Unsterblichkeit ihres Körpers gewinnen könnten und würden. Nur eine Voraussetzung war erforderlich: Der Empfänger mußte an die wahre Religion und an ihn als Messias glauben. »Aber ich verspreche euch: Wehe den Heuchlern, die nur vorgeben zu glauben, um dieses Geschenk des Lebens zu erlangen! Sie werden durchschaut und in die Finsternis der Hölle geschleudert werden.« Wenn er drohte, verschwand der freundliche Gesichtsausdruck, und im Zorn leuchtete das Licht der Hölle, die er da verhieß, aus seinen Augen. »Ich sage, wehe euch, ihr Oerngezücht! Ho nicht darauf, mich zu täuschen! Ihr werdet erkannt werden! Der Vater hat euch alle guten Dinge des Lebens gegeben, ihr aber habt etwas Schlechtes daraus gemacht! Der Vater gibt, aber er gibt nichts umsonst! Nichts ist umsonst! Ihr müßt geben, um zu bekommen!« Orme, der in seiner Kabine am Fernseher saß, konnte sich vorstellen, welche Wirkung die verheißene körperliche Unsterblichkeit auf die Zuschauer haben würde. Natürlich haen viele schon davon gehört, denn manche Regierungen haen zugelassen, daß es bekannt wurde, als man die ersten Programme übertragen hae. Aber die Mehrheit lebte in Ländern, in denen die Meldung unterdrückt worden war. An dieser Stelle hae der Zuschauer auf der Erde wahrscheinlich das Ende der Sendung vermutet. Was konnte man ihm noch bieten? Nun aber erzählte Jesus von der Hoffnung, auch alle Toten wieder auferwecken zu können. Er versprach nicht, daß es in den nächsten ein- bis zweihundert Jahren der Fall sein würde. Aber die Tatsache selbst stand fest. »Damit scha er es«, dachte Orme. »Sie werden sich danach drängen mitzumachen. Sie tun alles, um unsterblich zu werden, | 228 |
jedenfalls die meisten. Die Neue Welt, das Himmlische Königreich, die Herrscha des Messias hat begonnen. Vielleicht dauert es noch eine Weile, bis alles richtig funktioniert, aber der Anfang ist gemacht, und nichts kann die Sache aualten. Können sie nicht sehen, daß der Teufel ihnen das gleiche versprechen würde? Allerdings – dieser Mann kann seine Versprechungen halten. Obwohl der Teufel es wahrscheinlich auch könnte. Und der Teufel würde sich selbst für einen guten Mann halten. Wer glaubt schon von sich selbst, daß er böse ist? Jeder hält sich für gut. Bestimmt haben Hitler, Stalin und Mao, Napoleon und Alexander der Große, Julius Caesar, Aila der Hunne und Nebukadnezar auch gedacht, sie stünden ganz und gar auf der Seite des Guten. Aber dieses Gute ist heimtückisch und führt unmielbar, wenn auch auf raffinierten Umwegen, zu hinterlistigem Bösen.« Nichts konnte ihn aualten. Es sei denn ... aber wie konnte er, ein einzelner, etwas tun? Am nächsten Tag vollbrachte die Zara eine Tat, die nach Ansicht der meisten Menschen nur segensreich sein konnte. Überall auf der Erde ließ sie die Geschosse und Kanonen mit atomaren Sprengköpfen, die Geschütze mit Atom-Munition zerschmelzen. Wieder wurden Radio- und Fernsehstationen überlagert, und die Nachrichten kamen von der Maranatha. »Natürlich«, sagte Jesus, »wird dieses Ereignis überall großen Jubel hervorrufen, außer bei denen, die die Menschen hassen und den Krieg lieben. Übel häe ich gehandelt, wenn ich nur die Geschosse einzelner Staaten zum Schmelzen gebracht, es bei anderen aber unterlassen häe. Aber ich stehe über den Parteien und erkläre mich für keine Seite, indem ich die eine als böse, die andere als gut bezeichne. Oerngezücht, Brut niederträchtiger Generationen, ihr alle seid schuldig! Darum bereut und lobt den Herrn von ganzem Herzen, denn er hat beschlossen, euch vor euch selbst zu schützen!« Natürlich gab es wieder Proteste, aber keine Antwort darauf. Jesus ersuchte noch einmal um Erlaubnis, in der Nähe von Jerusalem zu landen. Wiederum wurde sie ihm verweigert. Die Knesseth konnte sich nicht entscheiden, und der Staat Israel hae | 229 |
eine Ausgangssperre verhängt. Polizei und Soldaten patrouillierten durch die Straßen, um der Anordnung Nachdruck zu verleihen. Übrigens war Israel nicht das einzige Land, in dem man das Kriegsrecht ausgerufen hae. Am vierten Tag erschien der Morgenhimmel über dem Vorderen Orient blutrot. Die Sonne trübte sich und blieb einige Stunden lang fast schwarz. Der Mond färbte sich rot wie Blut. Bronski, der am Fernseher alles beobachtete, meinte: »Natürlich macht das die Zara. Kannst du dir vorstellen, welche Energie dazu nötig ist oder welche Miel man braucht, um diese Kra zu kontrollieren und zu lenken? Wahrlich, der Go unserer Väter ist bei uns!« Orme sagte nichts. Er fing an, sich zu fragen, ob er sich nicht doch irrte. Dann dachte er an die leuchtende Gestalt an seinem Be und fühlte sich wieder stärker. Am fünen Tag bat Jesus wieder um Landeerlaubnis. »Oh, ihr Kleingeistigen und noch Kleingläubigeren! Warum verhärtet ihr eure Herzen? Was muß ich tun, um euch zu überzeugen, daß ich wirklich der Gesalbte des Himmels bin? Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Und wer mich sieht, der sieht ihn, der mich gesandt hat. Ich bin als ein Licht für die Welt erschienen, auf daß, wer immer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleiben muß. Ihr Kinder der Finsternis könnt Söhne und Töchter des Lichts werden. Aber ihr müßt euren steifen Nacken beugen und eure Herzen schmelzen lassen!« Alle seine Reden waren in englischer Sprache geführt worden, ohne die Spur eines hebräischen oder eines Krsh-Akzents. Die Aussprache war Ormes Toronto-Kanadisch, zweifellos mit Hilfe von Aufzeichnungen gelernt, die man auf dem Mars von seiner Sprechweise angefertigt hae. Millionen von Menschen, die Englisch sprachen, würden ihn verstehen. Für die anderen gab es Untertitel oder wörtliche Übersetzungen in die Sprachen, die Bronski und Shirazi beherrschen: Hebräisch, Arabisch, Hindustani, Mandarinchinesisch, Suaheli, Spanisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Persisch, Russisch, Polnisch, Griechisch und Portugie| 230 |
sisch. Selbst in abgelegenen Dörfern würde es wenigstens einen Bürger geben, der den andern den englischen Text übersetzen konnte. Englisch war noch immer die Lingua Franca der Welt, aber Orme wußte, daß man dieses Werkzeug nur noch vorübergehend nutzen würde. Im Lauf der Zeit würde Krsh die internationale Sprache werden. Eines Tages, nach der unvermeidlichen Periode blutiger Unruhen, würden die Krsh und die Marsmenschen als ältere Brüder Israel, den älteren Bruder der Länder der Erde, anführen und auf diese Weise lehren, verändern, abwandeln und formen. Im Lauf der Zeit würde der ganze Planet dem Mars immer ähnlicher werden, nur daß es noch ethnische, nationale und Rassenunterschiede geben würde. Obwohl Rußland immer noch Rußland sein würde und Nordamerika noch Nordamerika, würde es keine Ländergrenzen mit Zollstationen, Imporarifen und bewaffneten Wächtern mehr geben. Eine Frau würde durch dunkle Straßen gehen können, ohne Angst davor, beraubt, zusammengeschlagen oder vergewaltigt zu werden. Kinder würden sich nicht mehr davor fürchten, mit Fremden zu sprechen. Kanonen und Maschinengewehre würden eingeschmolzen und zu Pflugscharen verarbeitet werden. Ozeane, Flüsse und Bäche würden wieder sauber sein. Und eines Tages würde das himmlische Königreich herrschen, obwohl es auch dann noch Widersprüchlichkeit und einen angeborenen Hang zum Bösen bei manchen Leuten geben würde. Aber wenn die Erde auch kein Utopia sein würde, so würde sie ihm doch soweit ähneln, wie die menschliche Natur es zuließ. Diese Vorstellung von der Zukun war ungemein verlockend. Warum machte sich Orme trotzdem Sorgen? War es, weil man der Erde das Königreich aufzwang und, wenn auch der Zweck durchaus wünschenswert war, die Miel dazu blutige Kämpfe und das Leiden vieler bedeuteten? Die Völker der Erde haen Kampf und Not und gewaltsamen Tod erlebt, seitdem der erste Mensch über das Grasland gegangen oder im Dschungel umhergestrei war. Es schien bisher keine Möglichkeit gegeben zu haben, damit ein Ende zu machen, und ohne Jesus und sein Volk würde es überhaupt nie| 231 |
mals enden. Gewiß heiligte in diesem Fall der Zweck die Miel. Aber wenn dieser Jesus der Antichrist war, würde er ganz andere Ziele haben, als er vorgab. Orme richtete ein stilles Gebet an den wirklichen Jesus. »Hilf mir, Herr. Befreie mich von meiner Schwachheit, stärke mich.« Zwei Stunden später kam Nachricht aus Jerusalem. Eine Menschenmenge hae die Knesseth gestürmt und verlangt, daß dem Messias die Landung erlaubt würde. Darunter befanden sich zahlreiche Polizisten und Soldaten, die die Waffen weggeworfen und sich ihren Mitbürgern angeschlossen haen. Der Ministerpräsident, die Häle seines Kabines und ein Driel des Parlaments waren zurückgetreten. Trotz der Gesetzwidrigkeit des Verfahrens hae der Rest der Knesseth die Einladung ausgesprochen. Allerdings hae man um Aufschub gebeten. Viele führende Politiker wollten dabeisein, wenn das Schiff landete, brauchten aber Zeit, um nach Jerusalem zu fliegen. Außerdem konnte man nicht vor morgen die nötigen Sicherheitsvorkehrungen treffen. War Jesus damit einverstanden? Jesus antwortete gnädig, er werde noch einen Tag warten. »Aber ich werde nicht vergessen, daß viele unter euch sind, die ihre Herzen gegen mich verhärtet haben. Und es gibt auch viele, die sich noch nicht für oder gegen mich erklärt haben. Wer sich aber nicht zu mir bekennt, der ist wider mich. Wehe den Hartherzigen und den Lauen!« In dieser Nacht betete Orme wieder und hoe, daß sein Go sich ihm nochmals zeigen würde. Aber er kam nicht.
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ie Maranatha sollte miags um zwölf Uhr landen. Früh am Morgen jedoch rief Rabbi Ram Weisinger, der kommissarische Ministerpräsident, das Schiff an. Er schwitzte unter seinem schwarzen Hut. »Meister, wir bien dich, noch einen Tag zu warten. Die Massen sind so groß, daß wir weitere Truppen zusammenziehen müssen. Wir können deine Sicherheit sonst nicht garantieren. Viele böse Menschen, Moslems, Christen oder Juden, haben geschworen, dich zu töten. Es gibt keine Möglichkeit, sie alle zu entlarven, obwohl wir schon viele festgenommen haben.« »Macht euch deshalb keine Gedanken«, sagte Jesus. »Ich kann nicht getötet werden.« Weisinger riß die Augen auf und machte ein merkwürdiges Gesicht. Aber er erhob keine weiteren Einwendungen. Um zehn Uhr erhielten die drei Marsastronauten von Hfathon Instruktionen über ihre Rollen im vorgesehenen Tagesablauf nach der Landung. Orme stellte keine Fragen. Nachdem er entlassen war, ging er sofort in seine Kabine. Shirazi und Bronski kamen nicht mit. Um elf Uhr dreißig sollte er sich in dem großen Raum neben der zentralen Steuerbordschleuse einfinden. Die Befehlsausgabe war um zehn Uhr dreißig beendet gewesen, so daß er nicht ganz eine Stunde Zeit hae, das zu tun, wofür er noch den Mut zu finden hoe. Er kniete nieder und betete um Rat und Hilfe. Als er aufstand, klope sein Herz noch immer heig. Sein Magen zog sich zusammen. Er setzte sich auf den Rand seiner Koje, auf den Knien die große Ausgabe einer Krsh-Übersetzung der Heiligen Schrien, die ihm als Schreibtisch diente. Schnell schrieb er einen Brief von drei Seiten, ohne eine Verbesserung. Er unterzeichnete, datierte alle drei Seiten und setzte auf jede die Fingerabdrücke der rechten Hand. Als die Tinte getrocknet war, faltete er den Brief zu einem kompakten Päckchen und steckte ihn in eine Innentasche seiner Uniform. Um zehn Uhr fünfundvierzig verließ er die Kabine. Sta nach | 233 |
dem Hauptaufenthaltsraum des mileren Decks zu gehen, wo sich seine Gefährten und viele dienstfreie Offiziere befanden, wanderte er in Richtung Heck. Gegen zehn Uhr fünfundfünfzig fand er sein Opfer, einen Rekruten, der gerade aus einem Zimmer kam, das er mit neun anderen teilte. Es war leer, der Soldat allein und niemand sonst in Sicht. Orme, mit heigem inneren Widerwillen gegen die Gewalt, die er dem Mann gegenüber anwenden mußte, schlug ihn mit der Faust seitlich gegen den Kopf, boxte ihn, als er zurücktaumelte, in den Bauch und gab ihm dann einen Judohieb über den Nacken. Nachdem er den bewußtlosen Rekruten in den Raum geschlei hae, nahm er ihm die Laserpistole aus dem Gurt. Um elf Uhr fünf verließ er das Zimmer. Der Soldat war noch bewußtlos, er hae ihn geknebelt und ihm den Mund zugeklebt, Beine und Hände mit Klebeband gefesselt. Er lag unter einer Koje auf dem Boden. Sein Unteroffizier würde merken, daß er fehlte, aber es war unwahrscheinlich, daß er jemanden nach ihm schikken würde. Wahrscheinlich würde er den Namen notieren, um den Mann später zu bestrafen. Immerhin sollte man besser sicherstellen, daß ihn niemand suchen würde. Orme, der aus den Abzeichen Namen, Rang und Einheit des Soldaten abgelesen hae, fand über das Intercom auch seinen Unteroffizier. »Rekrut Yokhanan ben-Obed ist mir zugeteilt worden«, erklärte ihm Orme. »Man hat beschlossen, daß ich einen hebräischen Dolmetscher mitnehmen soll, und ich habe ihn dazu ausgewählt.« »Zu Befehl«, antwortete der Unteroffizier. Die Mars-Armee war wie jede andere. Man stellte die Befehle eines Vorgesetzten nicht in Frage. Um elf Uhr fünfzehn betrat Orme das bezeichnete Zimmer. Jesus hae sein blaues mit einem scharlachroten Gewand vertauscht. Weil es das erstemal war, daß Orme ihn in dieser Farbe sah, fragte er sich, warum man diesen Tausch vorgenommen hae. Dann fiel ihm ein, daß die Oberen des Staates Jesus kurz vor seiner Kreuzigung in ein Purpurgewand gekleidet haen. Er mußte diese Farbe gewählt haben, um die Menschen der Erde | 234 |
daran zu erinnern. Er häe auch eine Dornenkrone aufsetzen und einen Stock tragen können, den die römischen Soldaten ihm erst gegeben und dann weggenommen haen, um ihn damit auf den Kopf zu schlagen. Aber das war wohl selbst für diesen dramatischen Mann zu theatralisch. Jesus, der gerade mit einigen Offizieren sprach, warf dem eintretenden Orme einen seltsamen Blick zu. Orme geriet noch mehr ins Schwitzen. Konnte Jesus erkennen, daß sein Jünger nervös war? Oder konnte er sogar alles wissen? Er hae einmal gesagt, er könne Gedanken lesen, obwohl er sich das niemals gestae. Aber hae Jesus in diesem Fall – weil ihm Ormes Gesichtsausdruck aufgefallen war, obwohl Orme sich Mühe gab, auszusehen wie immer, oder weil er vielleicht spürte, was in ihm vorging, vielleicht durch die elektrischen Felder auf Ormes Haut? – seine eigene Regel durchbrochen? Wenn ja, war alles verloren. Aber da Jesus nichts zu ihm oder den Offizieren sagte, mußte er wohl nicht das Gefühl haben, irgend etwas sei ernstlich nicht in Ordnung. Schließlich waren hier, außer dem Messias, alle nervös. Sie waren auch müde, denn man hae das Mars-Schwerkrafeld abgeschaltet, und sie waren dem Schwerefeld der Erde ausgesetzt. Sie würden lange brauchen, sich an ihr erhöhtes Gewicht zu gewöhnten, drei Fünel mehr als auf ihrem Heimatplaneten. Allerdings würden sie bald in Fahrzeugen sitzen, die von einem dem Mars ähnlichen Schwerkrafeld umgeben waren. Zudem trugen außer dem Meister alle einen Gürtel mit einem verstellbaren Schwerkragerät. Wenn die Belastung ihnen zu groß wurde, konnten sie es anstellen. Jedes Gerät allein war hier ein Vermögen wert, dachte Orme und lächelte schief. Selbst in diesem Augenblick konnte er es nicht lassen zu spekulieren, was man aus dem Verkauf marsianischer Produkte für ein Vermögen erzielen könnte. »Ach, Herr, vergib mir.« Die Schleuse öffnete sich. Helles, hartes Sonnenlicht, heiße Lu und das Gebrüll einer Menschenmenge drangen herein. Als erster trat Jesus ins Freie und blieb einen Augenblick stehen. Die hinter ihm Kommenden hielten ebenfalls an. Er hob die Hand und sagte | 235 |
mit lauter Stimme: »Möge der Schöpfer, unser Vater, euch segnen, Kinder der Erde ebenso wie die Kinder des Mars!« Ein Regiment Soldaten erwartete ihn, dazu Polizeischwadronen, eine Ehrengarde, zahlreiche Fernsehteams und vielleicht fünundert Politiker. Rund um das Feld und entlang der Straße waren die niedrigen Hügel und die Dächer der Häuser schwarz von Menschen. Sie brüllten, als er hinaustrat, brüllten so laut, daß sie seinen Gruß nicht gehört haben konnten. Aber die Mikrophone der Fernsehleute haen ihn wohl übertragen. Orme und die anderen folgten jetzt. Eine Weile herrschte große Verwirrung. Jesus mußte die versammelten Staatsoberhäupter begrüßen und ein paar Worte mit ihnen wechseln. Er streckte seine Hand aus, nicht damit man sie ihm schüelte, sondern zum Handkuß. Sheila Pal, die Präsidentin der NAC, zögerte nicht, obwohl sie wissen mußte, daß Millionen ihrer Wähler darüber wütend sein würden. Ebensowenig zauderte der italienische Gesandte, obwohl der Papst dem Messias die Anerkennung verweigert hae und seine Regierung offiziell kommunistisch war. Jesus die Hand zu küssen, würde rein theoretisch sowohl die Mehrheit der Bevölkerung beleidigen, die noch immer fromme Katholiken waren, als auch die nach außen hin atheistischen hohen Staatsbeamten. Aber die Regierung hae bekanntgegeben, daß man den Gesandten nur dorthin beordert hae, um das Oberhaupt eines fremden Staates, des Mars, zu begrüßen. Die Religion des Messias hae mit dem politischen Protokoll nichts zu tun. Die meisten anderen kommunistischen Länder und viele der sozialistischen Demokratien haen diesen Weg beschrien. China und die südöstlichen asiatischen Länder haen keine Vertreter entsandt; Indien jedoch, obwohl kommunistisch, war durch seinen Präsidenten und den Premierminister vertreten. Der sowjetische Gesandte in Israel hae offensichtlich Befehl erhalten, dem Beispiel Italiens zu folgen. Handküsse freilich ausgenommen, denn kein aufrechter, atheistischer Marxist würde diesen kapitalistischen Opium-fürs-Volk-Brauch nachahmen. Aber als Jesus Anatoly Schewtschenko die Hand entgegenstreckte, küßte der Russe | 236 |
sie nicht nur, sondern kniete sogar nieder. In englischer Sprache sagte er: »Meister, verzeih mir. Ich habe gezweifelt, aber nun weiß ich, daß du wahrha der Messias bist und daß es einen Go gibt. Vergib mir meine Sünden, die zahlreich sind, und laß mich bei dir Asyl finden.« Jesus antwortete: »Es ist dir vergeben, und du sollst von nun an meine rechte Hand sein. Auch wenn du nicht aus Abrahams Samen stammst, bist du ein Sohn jener, mit denen der Schöpfer zu Noahs Zeiten einen Bund schloß. Steh auf und beuge dein Knie von nun an nur noch, wenn du zu Go betest.« Orme war genauso erschüert wie die andern, wenn auch nicht in dem Maß, daß er sich nicht vorstellen konnte, welche Wirkung diese unerwartete Bekehrung jenseits des Eisernen Vorhangs haben würde. Oder auch diesseits davon. Jeder Fernsehapparat übertrug dieses Ereignis – was für einen Sensation mußte dies hervorrufen! Gewiß hae der Gesandte, obwohl wahrscheinlich ein Marxist und Atheist der drien Generation, Zweifel gehabt. Vielleicht waren sie ihm so wenig bewußt gewesen wie Paulus, als er die Christen verfolgte. Aber wie Paulus war er ohne Vorwarnung überwältigt worden. Paulus hae seinen Weg nach Damaskus gehabt, der Gesandte den Weg nach Jerusalem. Oder – Orme verfluchte sich selbst wegen seines allgegenwärtigen Mißtrauens – hae seine Regierung den Gesandten instruiert, diese Bekehrung nur vorzutäuschen? Dann könnte er Jesus bespitzeln. Aber die Sowjets würden wissen, was für eine ungeheure Wirkung dieser öffentliche Abfall auf die Welt haben mußte. Würden sie es wagen, das zu riskieren, nur um einen Agenten einzuschleusen? Es war wenig wahrscheinlich. Ormes Zweifel wuchsen. Er fühlte sich körperlich und emotional geschwächt. Dieser Mann, dieses Wesen, sprach und handelte, als habe Go selbst ihm die Macht dazu verliehen. Und doch würde auch der Antichrist den Anschein erwecken, gut zu sein, ja sogar, Christus selbst zu sein. Nur an seinen Früchten konnte man den Baum erkennen. Den Antichrist mußte man nach den Langzeitergebnissen seiner Handlungen beurteilen. Bisher allerdings | 237 |
hae der marsianische Jesus nichts unternommen, was der wirkliche Jesus nicht auch getan haben könnte. Eines Tages würde die Frucht reif sein zur Ernte. Dann konnte jeder, der reinen Herzens war, sehen, wer und was dieser Mann war. Orme überlegte, ob er abwarten und das, was er für diesen Tag geplant hae, noch verschieben sollte. Er hae dem sogenannten Messias nicht genügend Zeit gegeben, das Böse hinter dem scheinbar Guten zu enthüllen. Man mußte den Samen wachsen lassen, bis die Ernte – anstelle von Nahrung – sich als Unkraut erwies. »O Herr«, dachte Orme, »laß mich nicht den Weg zur Rechten oder zur Linken einschlagen. Laß mich auf dem geraden Weg zu deiner geliebten Stadt gehen.« Er sah sich um und erblickte voller Freude ein vertrautes Gesicht. War die Anwesenheit dieses Mannes ein Zeichen Goes? Es war Jack Tarlai, ein bekannter Journalist und Produzent von Fernseh-Dokumentationen. Orme schlenderte zu ihm hinüber. Er wußte, daß zwei Marssoldaten ihn beobachteten. Aber das geschah wohl nur, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Er packte Tarlai bei der Hand und sagte: »Jack, alter Sau umpan, mein Segen und mein Kreuz! Manchmal habe ich geglaubt, ich würde dich nie wiedersehen. Wie geht es dir?« Tarlai, der den klein zusammengefalteten Brief in der Hand fühlte, hörte auf zu lachen. Orme sagte: »Nimm ihn nur mit. Steck ihn in die Tasche, wenn dich keiner sieht. Lies ihn, wenn du wieder im Hotel bist. Der Brief sagt alles. Bie mach, was ich dir sage, Jack. Es ist die tollste Story, die du je haest.« Tarlai, der sich Mühe gab, so breit zu lächeln wie vorher, sagte: »Na klar. Ganz wie du willst. Dick. Wie wär’s jetzt gleich mit einem Interview?« Orme sah sich um. Azzur, der Sekretär Jesu, winkte ihm zu, sofort zu kommen. Offenbar brauchte man ihn zur Begrüßung der Politiker. | 238 |
Orme schlug Tarlai auf die Schulter. »Tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit. Hat mich wirklich gefreut, dich zu sehen, Jack. Muß jetzt laufen.« Als er sich entfernte, hoe er, daß Tarlai seine Neugier bezähmen können würde. Er dure den Brief nicht lesen, bevor getan war, was getan werden mußte. Nach einer Zeit, die Orme unendlich vorkam, waren die Begrüßungen und diplomatischen Komplimente beendet. Jetzt verließen dreißig große, kanuförmige Fahrzeuge die Maranatha. Die Marsianer und eine Anzahl terranischer Ehrengäste nahmen darin Platz. Im ersten Fahrzeug saßen der Fahrer, Jesus, der russische Gesandte, der israelische Ministerpräsident, die drei Marsastronauten, der Admiral der Floe, der Sekretär Jesu und die Präsidenten der NAC, Ugandas und der Bundesrepublik Deutschland. Orme fand die Auswahl der drei letzteren merkwürdig, bezweifelte jedoch nicht, daß Jesus ganz genau wußte, was er tat. Die Prozession begann mit einer Truppe von Polizisten auf Motorrädern. Ein Panzerwagen fuhr voran, gefolgt von einem Auto mit einem Fernsehteam und drei Fahrzeugen mit Männern des israelischen Geheimdienstes. Dann kam der Wagen mit Jesus, zwei weitere Autos mit Sicherheitskräen, die Fahrzeuge der Marsianer, dann die Wagen mit den israelischen Politikern und den Besuchern, danach wiederum Männer vom Geheimdienst, uniformierte Polizisten und Soldaten. Auf beiden Seiten des Zuges sorgten Soldaten dafür, daß die Menge nicht durchbrechen konnte, zumindest versuchten sie es. Die Hitze und der Tumult waren schier überwältigend. Der Lärm war so groß, daß Orme Bronski, der ihm etwas zubrüllte, nicht hören konnte. Es war geplant, daß der Zug zunächst an die Klagemauer führen sollte. Dort wollte Jesus ein paar Minuten beten. Danach würde er die Knesseth besuchen und eine kurze Rede halten, die das Fernsehen übertragen würde. Schließlich würde er sich in das neue King-David-Hotel begeben, in dem nur die Marsianer und mehrere hundert Sicherheitsbeauragte wohnen würden. Orme fühlte den Kolben des Lasers unter seiner weiten Uniform. Wenn sie an der Klagemauer waren und Jesus ausstieg, | 239 |
würde er von der Waffe Gebrauch machen. Die ganze Welt sollte sehen, wie Richard Orme, Kapitän der Marsastronauten, seit kurzem zum Glauben an den Jesus vom Mars bekehrt, den Laser zog und den Strahl auf ihn richtete. Orme erwartete nicht, danach noch lange zu leben. Er war auch nicht davon überzeugt, daß er Jesus verletzen würde. Wenn er wirklich jenes Energiewesen war, würde er die Energie des Laserstrahls einfach absorbieren. War er nicht das Energiewesen, sondern der Antichrist – obwohl das natürlich ein und dasselbe sein konnte –, so war es trotzdem möglich, daß er unverwundbar war. Ein Mann, der in einem Atomreaktor umhergehen konnte, wie Shadrach, Meshach und Abednego im feurigen Ofen, würde selbst vom vernichtenden Feuer eines Lasers nicht berührt werden. Andererseits, wenn er nur ein Mensch war, war er vielleicht gar nicht in dem Reaktor gewesen. Vielleicht hae er nur so getan. Auf jeden Fall würde die ganze Welt, Erde und Mars, sehen, wie Richard Orme den Messias zu töten versuchte. Vielleicht würde sie sogar seine anklagenden Worte hören, obwohl das wenig wahrscheinlich war. Aber Jack Tarlai würde den Brief vorzeigen, und jedermann würde die Wahrheit erfahren. Ob man ihm dann glaubte oder nicht, lag in Goes Hand. Jedenfalls hae er, Richard Orme, dann getan, was Go von ihm erwartete. Er würde als Märtyrer des wahren Glaubens sterben. Die Welt würde sehen, auch wenn sie es erst später ganz begreifen würde, daß ein Mann, der mit diesem Jesus zusammengewesen war und mit ihm geredet hae, trotzdem nicht daran glaubte, daß er der wahre Jesus war. Und der Mann, der daran nicht glaubte, war ein Mensch von der Erde. Daraus würden andere Leute von der Erde vielleicht schließen, daß einer von ihnen die Wahrheit kannte und deshalb handelte, wie sein Gewissen es ihm befahl. Oder würde man seine Tat falsch auslegen? Würde man ihn einen Judas Ischarioth nennen? Ganz gleich. Er mußte tun, was richtig war. Gulthilo würde tief verletzt und beschämt sein, wenn sie es sah. Vielleicht würde man sie und ihr Kind ächten, auch wenn sie keinerlei Schuld traf. Das bekümmerte ihn, aber er mußte trotzdem handeln. Er dachte | 240 |
daran, als das Fahrzeug über eine Bergkuppe fuhr und die weitverstreute Stadt Jerusalem sichtbar wurde. Da ist es, dachte er. Wie anders empfinde ich das doch jetzt! Auf dem Mars verfiel ich in Ekstase, wenn ich mir vorstellte, wie Jesus in die Stadt zurückkehren würde, die ihn einst gekreuzigt hat, Aber damals wußte ich noch nicht, daß der ans Kreuz genagelte Jesus nicht der Jesus war, der zweitausend Jahre später im Triumph zurückkehrte. In diesem Augenblick entstand auf der rechten Seite ein Gedränge; Männer, Frauen und Kinder gerieten in einen Menschenstrudel. Die Soldaten hielten an, der Zug mit ihnen. »Was geht hier vor?« rief Orme in die Gegend. Plötzlich vernahm er Pistolenschüsse. Ein Soldat stolperte und fiel, und ein Mann, groß, mager, bärtig und wild blickend, brach aus dem Getümmel hervor. Mit der linken Hand hob er eine Pistole und zielte damit auf Jesus. Schüsse von mindestens einem Dutzend Soldaten trafen ihn; andere schienen ihn verfehlt zu haben, denn auch vier Zuschauer stürzten zu Boden. Aber dieser Mann vollführte lediglich ein Ablenkungsmanöver. Auf der anderen Straßenseite trat eine Frau vor, die einen kleinen, runden Gegenstand schleuderte. Eine Handgranate! Die Granate beschrieb einen Bogen, erst aufwärts, dann abwärts. Der Endpunkt ihrer Bahn war Jesus, der in seinem Purpurgewand aufrecht im Vorderteil des Fahrzeugs stand und den zweiten Angreifer anscheinend nicht bemerkt hae. Orme brüllte eine Warnung. Er hae keine Zeit mehr, an die Ironie zu denken, die darin lag, daß er den Mann zu warnen versuchte, den er töten wollte. Ebensowenig blieb ihm Zeit, daran zu denken, daß auch er den Tod finden würde, wenn die Handgranate explodierte. Er schnellte vom Sitz auf und sprang aus dem Fahrzeug, wobei er von der Insel des marsianischen Schwerkrafeldes in die irdische Schwerkra fiel. Das Ergebnis war, daß er startete, als wollte er aus dem Stand zehn Meter hoch springen, daß aber der Bogen, den er in der Lu machen wollte, abrupt nach unten abfiel und fast rechtwinklig verlief. Trotzdem griff er mit der linken Hand nach vorn und erwischte tatsächlich den harten Metallgegenstand. | 241 |
Er fiel auf den Boden, die Granate mit beiden Händen an den Bauch gepreßt. Mit Gesicht und Händen rutschte er über das Pflaster. Er hae keine Zeit, über die Ironie dieser Situation nachzudenken. Er würde als Märtyrer sterben, aber nicht für den wahren Jesus, sondern für den falschen.
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ie sich herausstellte, gab es doch noch Zeit für ihn. »Warum habe ich das getan?« murmelte er. Er befand sich mien in einem ungeheuren Brausen. Die heiße Sonne flammte ihm in die Augen. Dann bewegte sich ein Kopf zwischen ihm und dem gleißenden Licht, und er erkannte das lächelnde Gesicht Jesu. »Ist sie nicht explodiert?« fragte Orme. »O doch«, sagte Jesus. »Du bist gestorben. Dein Bauch, deine Geschlechtsorgane und die Beine wurden dir vom Rumpf gerissen. Deine Hände und Unterarme waren Fetzen.« Er beugte sich herab und berührte Orme an der Stirn. Ein großer Teil von Ormes Betäubtheit, dem Gefühl der Unwirklichkeit und seiner Schwäche verflog. »Also – das sollte dir helfen.« Orme setzte sich auf. Sein Körper war unversehrt. Außerdem war er nackt. In der Nähe lagen ein paar Uniformfetzen. Neben dem Fahrzeug, von dem er gesprungen war, lag seine Laserpistole. Wo war das Blut? Von Jesus in alle Winde zerstreut, wie er das Blut des Widders auf dem Mars hae verkochen lassen? Natürlich! Aber ein paar Meter weiter räumten Soldaten blutige Überreste von Fleisch und Knochen in Plastiksäcke. Er dachte, er müsse sich übergeben, aber Jesus berührte ihn wieder, und das Gefühl der Übelkeit schwand. Bronski und Shirazi und der russische Gesandte standen an der Seite, alle so bleich, als häen sie und nicht er als Leiche dagelegen. Die Fernsehteams kurbelten, was das Zeug hielt. Einige Kameras waren auf ihn gerichtet, andere auf Jesus, einige auf die Menge. Ein Krsh-Soldat kam mit einer großen Decke. »Steh auf, Mann, und bedecke deine Blöße«, sagte Jesus. Orme gehorchte und wikkelte sich in die Decke. Jesus drehte sich um, ging zu dem Wagen und hob die Laserpistole auf. Er kam zurück und reichte sie Orme. »Du häest sie in einem Gurt tragen sollen, ansta sie unter | 243 |
der Uniform zu verstecken. Wie wolltest du sie denn so schnell ziehen, wenn du sie gebraucht häest?« Orme schüelte den Kopf. »Ich kann nicht gleichzeitig die Pistole tragen und die Decke festhalten. Außerdem ...« Die großen schwarzen Augen und das ein wenig schiefe Lächeln Jesu zeigten, daß er alles wußte. Er wußte es! Jesus sagte: »Aus dem Nichts schuf ich Fleisch und erneuerte deinen Körper. Es wurde aufgezeichnet, und die ganze Welt hat es jetzt gesehen. Wird es noch immer Ungläubige auf diesem Planeten geben? Ja. Aber Millionen, die noch vor wenigen Augenblikken nicht geglaubt haben, werden es jetzt tun. Die anderen sind noch immer verlorene Schafe.« »Meister«, flüsterte Orme, »hast du mir vergeben?« Jesus deutete auf einen Mann und eine Frau. Der Mann war derjenige, der auf Jesus geschossen und ihn wahrscheinlich getroffen hae, die Frau hae die Granate geworfen. Sie waren unversehrt, aber Löcher in ihrer Kleidung zeigten, wo Kugeln eingedrungen waren. Obwohl von Polizisten umringt, trugen sie keine Handschellen. »Auch ihnen ist vergeben«, sagte Jesus. »Ich habe sie von den Toten auferweckt, damit die ganze Welt weiß, daß ich barmherzig sein kann. Nun werden sie wahrscheinlich zu meinen überzeugtesten Anhängern gehören. Wenn nicht – sind sie zumindest Zeugen.« Jesus näherte seinen Mund Ormes Ohr. »Zweifle nicht mehr. Denn wenn du es tust, verrätst du dich mir, bevor du mich verraten kannst. Ich denke nicht, daß du noch einmal Zweifel haben wirst. Aber ich werde das nächste Mal auch nicht mehr barmherzig sein. Man soll den Heiligen nicht zu o versuchen und den Menschensohn auch nicht. Aber sag mir, weißt du, warum du dich im allerletzten Moment, als du glaubtest, es werde keinen weiteren Augenblick mehr für dich geben, entschieden hast, dein Leben für meine Reung zu opfern, für mich, der keine Reung braucht?« »Ich weiß nicht«, sagte Orme. »Vielleicht weil ich irgendwo ganz tief drinnen dachte, daß | 244 |
es keinen Unterschied machte, ob du dieses Energiewesen warst oder der ursprüngliche Jesus. Unser Vater bedient sich für seine Arbeit vieler Hände, und manchmal sind seine Wege verwickelt und weitläufig. Wenn er ein nichtmenschliches Wesen von einem fernen Planeten zu seinem Messias erwählt, so wie er die Krsh dazu erwählt hat, zu den Völkern seines Bundes zu gehören, dann ... Aber bist du wirklich ...?« Jesus hob die Hand, um anzudeuten, daß Orme schweigen sollte. »Der wahre Messias ist der, den der Vater dazu bestimmt. Komm, wir fahren in die heilige Stadt.« »Aber, Meister, ich habe einem Mann einen Brief gegeben, in dem alles stand, was ich vorhae. Wenn man ihn veröffentlicht, wird uns das sehr schaden.« Jesus küßte Orme auf den Mund und sagte: »Sollen sie ihn ruhig veröffentlichen. Die Welt hat gesehen, was du getan hast. Morgen werden wir uns ausgeruht haben und das Werk des Vaters einen weiteren Schri vorwärtsbringen. Es gilt noch viel Böses zu besiegen. Die Tage werden dunkel sein und die Nächte noch dunkler. Aber am Ende steht das Licht, das alle Kinder des Lichts suchen.«
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